Wellenschläge: Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts 3515098437, 9783515098434

Kulturelle Interferenz ist ein universelles Phänomen, Ostmitteleuropa eines ihrer prominentesten Untersuchungsfelder. In

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German Pages 460 [462] Year 2013

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Inhalt
Danksagung
Einleitung: Die changierenden Muster der Interferenz
Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einführung
Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz
1 Kulturelle Interferenz und ihre Räume: Problemstellungen und Diskussionen
2 Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen Raumes
3 Zeitlosigkeit vs. Historizität
4 Postkoloniale Ansätze und Interferenz
5 Schlussbemerkung
Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der nationalen Abgrenzung in Prag um 1900
1 Multiethnisch oder multikulturell?
2 Aspekte der Imaginierung Prags um 1900
3 Lust auf Unterschiede?
4 Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter, Relativität, Nichtrepräsentativität
5 Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden: Historiographie und Ethik
6 Topik der sozialen Differenz
7 Die Ethnisierung der Sprache
8 Tres faciunt collegium
9 Weitere Typen von Differenz
10 Differenz und Grenzziehung
11 Sprachgrenze als Modell?
12 Die Metapher der Kreuzung
13 Die Tschechen – pragmatische Perspektive –funktionale Grenze
14 Grenzüberschreitung als Interferenzprozess
15 Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess
16 Am Nullpunkt. Schlussbemerkungen
Die Kunst, provinziell zu sein. Siebenbürgische Landeskunde als Wissenschaft und literarische Fiktion
1 Einführung
2 Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen Gesellschaft in der Landeskunde der Aufklärung
3 Der Wilde als soziale Metapher: „Die Ziganiade“
4 Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jahrhundert
5 Von der realen zur symbolischen Verortung: Siebenbürgen als Land des Dracula
6 „Totale Verrücktheit“: Die Erosion der nationalen Taxonomie während des Kommunismus
7 Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen Verortung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen Repräsentation in einem mehrsprachigen Kommunikationsraum
1 Einleitung: Begriffe, Material und Methode
2 Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen Narrativen in der Slowakei
3 Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen aus dem 19. und 20. Jahrhundert
4 Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen Erzählungen in der Slowakei
5 Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen Überlieferung aus dem 20. Jahrhundert
6 Medzev
7 Feldforschung in Medzev
8 Die Stadt als mehrsprachiger Raum
9 Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev
10 Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen Gruppe
11 Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe
12 Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und Mantaken in Medzev
13 Schlussbemerkung
Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findunge nim Kontaktraum Burgenland und Westungarn. Repräsentationen eines Raumes
1 Zur Einführung
2 Auf der anderen Seite
3 Geographische, politische und sozio-kulturelle Verschränkungen einer Grenzregion: Burgenland und Westungarn als Kontaktraum
4 Grenzen verhandeln – Grenzen überschreiten: Theoretische Zugänge
5 Grenzverschränkungen im erzählerischen Raum: Drei Grenzerzählungen
6 Literarische Grenzverhandlungen: Der Kontaktraum als Interferenzraum
Vom klassischen zum plastischen Karst. Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum
1 Karstlandschaft
2 Repräsentation I: Geschichtsschreibung
3 Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst
4 Repräsentation II: Reisetexte
5 Karstuntergrund II: Ciao-fanti-Karst
6 Repräsentation III: fiktionale Literatur
7 Interferenzen-Karst (Fazit)
Neuer Besuch bei alten Nachbarn. Ein Essay über das Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets
1 Einleitung
2 Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte
3 Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung und der unsichtbare Dritte
4 Die Nationalisierung des Stereotyps
5 Exkurs: Gibt es ein visuelles Stereotyp? Die Stereotypisierung von Bildern und Realien
6 Was bleibt – ein Witz? Das Stereotyp als Phänomen der histoire lentement rhythmée
7 Fazit
Bier oder Käse? Transformationen des Karpatenräubers Juraj Jánošík als Symptome kultureller Interferenz
1 Jánošík als transnationaler Erinnerungsort
2 Der westliche Karpatenraum als kultureller Interferenzraum
3 Identitäten, Codes, Interferenzen, Topoi
4 Jánošík historisch
5 Ebenen der Interferenz im Topos Jánošík
6 Legendenbildung – Jánošík als interferenzieller Code in Bild und Wort
7 Der slowakische Jánošík im 19. Jahrhundert. Subversion und Integration – ein Gesetzloser wird zum Volks- und Nationalhelden
8 Der tschechische Jánošík – Aneignung der Slowakei, Exotisierung, ethnische Codierung
9 Tschechisch-slowakischer Jánošík und die Avantgarde. Nationale Codierung in Wort und Bild
10 Popularisierung durch den tschechoslowakischen Film
11 Der polnische Janosik: Die Frauen und das Verderben
12 Spaltungen: Entweder – oder
13 Übersetzung, Transgression: Sowohl – als auch
14 Kooperation – Eine wahre Geschichte
15 Alternation und Interferenz
16 Zusammenfassung: Interferenz als Zeichenprozess
Autorenverzeichnis
Ortsregister
Personenregister
Tafeln
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Wellenschläge: Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts
 3515098437, 9783515098434

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Wellenschläge

Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Ute Raßloff

Franz Steiner Verlag

Wellenschläge

GEISTESWISSENSCHAFTLICHES ZENTRUM GESCHICHTE UND KULTUR OSTMITTELEUROPAS E.Y. AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG Forschungen zur Geschichte und Kultnr des östlichen Mitteleuropa Herausgegeben von Winfried Eberhard Adam Labuda Christian Lübke Heinrich Olschowsky Hannes Siegrist Petr Sommer Stefan Troebst Band 41

Wellenschläge

Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Ute Raßloff

Pranz Steiner Verlag

Gedrucktmit U nterstützllllg des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V. an der Universität Leipzig. Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorliaben wurde mit Mitteln des Bundes­ ministeriums für Bildung und Forscliung unter dem Förderkennzeiclien 01UH0703 gefördert. Die Verantwortung für den Inlialt dieser Veröffentlicliung liegt bei den Autoren. Umschlagabbildung: Franziska Becker: "Interferenzen" (Computergrafik, Leipzig 2010)

Bibliografisclie Information der Deutsclien Nationalbibliotliek: Die Deutsclie Nationalbibliotliek verzeiclinet diese Publikation in der Deutsclien Nationalbibliografie; detaillierte bibliografisclie Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertllllg außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist llllzulässig lllld strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Redäktion: Henryk Degler, Andreas R Hofmann, Daniela Ohr:mann Druck: Laupp & Göbel GmbH, Neliren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09843-4

Inhalt Danksagung

...........................................................................................................

9

Andreas R. Hojmnnn I Ule Raßloff Einleitung: Die changierenden Muster der Interferenz..

11

Winfried Eberhard Langfristige Strukturen Ostrnitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einfühiung ................................... 21

Anna Veronika Wendland Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz .............................................. 51 1

Kulturelle Interferenz und ihre Räume: Problemstellungen und Diskussionen ....................................................................................... 51

1.1

Die Begriffe ................................................................................................ 51

1.2

Galizien ...................................................................................................... 53

1.3

Interferenzräume zwischen Modediskurs, politischer Kontroverse und

1.4

Wer spricht im Interferenzraum - und wer macht ihn?

2

Interferenz, Mobilisierung, Urbanität: Die Rolle des städtischen Raumes. 65

wissenschaftlicher Begründung .................................................................. 55 Das galizische Beispiel ............................................................................... 59 2.1

Interferenz auf dem Land und in der Stadt ................................................. 65

2.2

Die Bedeutung der urbanen Erfahrung: Lemberg im 20. Jaluhundert ....... 66

2.3

Galizien - ein Sonderfall? .......................................................................... 72

3

Zeitlosigkeit vs. Historizität ....................................................................... 73

3.1.

Historische Präfigurationen des Interferenzraums Galizien ....................... 73

3.2

Interferenz und Konflikt - Konflikt als Interferenz .................................... 74

3.3

Interferenz und Segregation in der Zwischenkriegszeit ............................. 76

3.4

Die Transformation der urbanen Raumbilder ............................................ 77

4

Postkoloniale Ansätze und Interferenz ....................................................... 79

4.1

Kulturelle Differenzen und Hierarchien ..................................................... 81

4.2

Macht und Recht ........................................................................................ 84

4.3

Kulturelle Essentialisierung und Selbstindigenisierung vs. ökonomische Integration ...................................................................... 86

4.4

Gewalt ........................................................................................................ 88

5

Schlussbemerkung ...................................................................................... 90

Lenka Rezm1wvd Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der nationalen Abgrenzung in Prag um 1900 ...................................... 99 1

Multiethnisch oder multikulturell? ............................................................. 99

2

Aspekte der Imaginierung Prags um 1900 ............................................... 102

3

Lust auf Unterschiede? ............................................................................. 104

Inhalt

6

4

Das Wesen interethnischer Differenzen: Konstruktionscharakter,

5

Modellbildende Räume der Konstruktion von Unterschieden: Historiographie und Ethik..

111

6

Topik der sozialen Differenz..

116

Relativität, Nichtrepräsentativität ..

107

7

Die Ethnisierung der Sprache .

117

8

Tres faciunt collegium .

122

9

Weitere Typen von Differenz ..

123

10

Differenz und Grenzzi ehung..

125

11

Sprachgrenze als Modell?..

129

12

Die Metapher der Kreuzung..

13

Die Tschechen - pragmatische Perspektive - funktionale Grenze

14

Grenzüberschreitung als lnterferenzprozess..

132 ...........

134 135

15

Entstehung einer neuen Qualität als Interferenzprozess

16

Am Nullpunkt Schlussbemerkungen

..

136 137

.

Borbdla Zmzsanna Török Die Kunst, provinziell

m

sein. Siebenbürgische Landeskunde

als Wissenschaft und literarische Fiktion..

145

1

145

2

Einführung . Die Wilden im eigenen Land: Darstellungen der regionalen Gesellschaft in der Landeskunde der Aufklärung..

150

3

Der Wilde als soziale Metapher: "Die Ziganiade"

4

Die nationale Kartierung Siebenbürgens im 19. Jalarhundert ..

5

Von der realen zur symbolischen Verortung:

6

"Totale Veniicktheit": Die Erosion der nationalen Taxonomie

7

Der Schock des Alten: Neugestaltung der nationalen Verortung

....................................

Siebenbürgen als Land des Dracula..

154 158 162

walarend des Kommunismus..

165

nach dem Zusammenbruch des Kommllllismus .

171

Gabriela Kilidnovd Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen Repräsentation in einem mehrsprachigen Kommrnrikationsrawn .

183

1

Einleitung: Begriffe, Material und Methode..

183

2

Personifikationen des Todes in slowakischen und deutschen Narrativen in der Slowakei .

3

187

Slowakischsprachige Erzählungen mit Todespersonifikationen aus dem 19. und 20. Jalarhundert .

4 5

188

Die Gestalt des Todes in deutschsprachigen Erzählungen in der Slowakei 196 Vergleich der slowakisch- und der deutschsprachigen Überlieferung aus

dem

20. Jahrhundert

...........................................................................

205

.....................................................................................................

206

6

Medzev

7

Feldforschung in Medzev

8

Die Stadt als mehrsprachiger Raum

.........................................................................

........................

................................

208 210

Inhalt

7

9

Die kulturelle Repräsentation der Gestalt des Todes in Medzev

10 11

Die Personifikation des Todes in der slowakischsprachigen Gruppe Die Personifikation des Todes in der deutschsprachigen Gruppe

12

Die kulturelle Repräsentation des Todes bei Slowaken und Mantaken in Medzev

13

..............

212

............

214

.................................................................................................

Schlussbemerkung

211

.......

....................................................................................

217 218

Laura Hegedüs

Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findungen im Kontaktraum Burgenland lllld Westllllgarn. Repräsentationen eines Rawnes 1

Zur Einführung

............................................

223

.........................................................................................

223

2

Auf der anderen Seite

2.1

Nachdenken über Grenzen und Grenzzeichen

2.2

Grenzen - Be-Grenmngen eines Begriffs

3

Geographische, politisclie und sozio-kulturelle Verscliränkungen einer

4

Grenzen verliandeln - Grenzen übersclireiten. Tlieoretisclie Zugänge

4.1

Soziale Räume

...............................................................................

224

................................................

228

Grenzregion: Burgenland und Westungam als Kontaktraum

230 232

..........................................................................................

233

4.2

Semantisclie Räume Erzählte Räume

.................................................................................

234

........................................................................................

235

Das Subjekt als Vermittler zwisclien sozialem, semiotiscliem und erzähltem Raum

5

...................

....

4.3 4.4

224

.........................................

.................................................................................

236

Grenzverschränkungen im erzählerischen Rawn: Drei Grenzerzählllllgen 238

5.1

Helene Röss: Grenzverschiebung und Spracliweclisel...

5.2

Agota Kristof: Grenzverletzung und Verlusterfalirung

..........................

239

............................

242

5.3

Terezia Mora: Grenzübersclireitung und ldentitätsweclisel ..................... 250

6

Literarisclie Grenzverliandlungen: Der Kontaktraum als lnterferenzraum 259

Matteo Colombi Vom klassischen zwn plastischen Karst. Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum

..................................

265

.........................................................................................

265

1

Karstlandscliaft

1.1

Klassisclier Karst

1.2

Plastisclier Karst

......................................................................................

265

.......................................................................................

267

2

Repräsentation I: Geschiclitssclireibung

2.1.

Fokus-Karst

..................................................

268

..............................................................................................

269

2.1.1 Clironologie des Narrativs

........................................................................

269

...............................................................................

275

............................................................................................

278

2.1.2 Struktur des Narrativs 2.2

Kraken-Karst

3

Karstuntergrund I: Interkultureller und transkultureller Karst

4

Repräsentation 11: Reisetexte

4.1

Nebeneinander-Karst

4.2

Gegeneinander-Miteinander-Karst

4.3

Ineinander-Karst?

5

Karstuntergrund 11: Ciao-fanti-Karst

.................

282

...................................................................

289

.......................................................

........................

290

...........................................................

292

....................................................................................

294

........................................................

296

6

Repräsentation III: fiktionale Literatur

6.1

Einzelgänger-Karst

....................................................

300

...................................................................................

301

6.2

Heimat-Karst ............................................................................................ 312

7

Interferenzen-Karst (Fazit) ....................................................................... 319

Andreas R. Hofmann Neuer Besuch bei alten Nachbarn. Ein Essay über das Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets 1

Einleitung

..............................................................

325

................................................................................................

325

2

Das Stereotyp als Material einer deutsch-polnischen Beziehungs-

3

Anfänge der deutsch-polnischen Stereotypisierung

und Verflechtungsgeschichte und der unsichtbare Dritte

....................................................................

........................................................................

4

Die Nationalisierung des Stereotyps

5

Exkurs: Gibt es ein visuelles Stereotyp? Die Stereotypisierung

6

Was bleibt - ein Witz? Das Stereotyp als Phänomen der

von Bildern und Realien

...........................................................................

histoire lentement rhythmee 7

Fazit

........................................................

328 332 339 353

..................................................................... 362

..........................................................................................................

367

Ure Raßloff Bier oder Käse? Transformationen des Karpatenräubers Juraj Janosik als Symptome kultureller Interferenz

................................................................

1

Jänosik als transnationaler Erinnerungsort

2

Der westliche Karpatenraum als kultureller Interferenzraum

..............................................

..................

379 379 380

3

Identitäten, Codes, Interferenzen, Topoi

4

Jänosik historisch

5

Ebenen der Interferenz im Topos Jänosfk

6

Legendenbildung - JänoSfk als interferenzieller Code in Bild und Wort . 389

7

..................................................

382

.....................................................................................

385

................................................

387

Der slowakische Jänosfk im 19. Jaluhundert. Subversion und Integration ein Gesetzloser wird zum Volks- und Nationalhelden

..............................

8

Der tschechische Jänosfk - Aneignung der Slowakei, Exotisierung,

9

Tschechisch-slowakischer Jänosfk und die Avantgarde.

ethnische Codierung

.................................................................................

Nationale Codierung in Wort und Bild

....................................................

10

Popularisierung durch den tschechoslowakischen Film

11

Der polnische Janosik: Die Frauen und das Verderben

12 13

Spaltungen: Entweder - oder Übersetzung, Transgression: Sowohl - als auch

14

Kooperation - Eine walue Geschichte

15

Alternation und Interferenz

16

Zusammenfassung: Interferenz als Zeichenprozess

Autorenverzeichnis Ortsregister

399 403

...........................

408

............................

412

...................................................................

418

......................................

423

.....................................................

425

......................................................................

428

.................................

430

...........................................................................................

437

........................................................................................................

441

Personenregister Tafeln

394

................................................................................................

445

.................................................................................................................

449

Danksagung Dieser Band entstand als Ergebnis des Projekts "Reflexion kultureller Interferenz­ räume. Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert", das von 2007 bis 2010 am Geisteswis­ senschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universi­ tät Leipzig (GWZO) angesiedelt war. Es wurde durch das Bundesministerium

für

Bildung und Forschung im Rahinen des Programms "Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog" unter dem Themenschwerpunkt "Europa - Kulturelle und soziale Bestimmungen Europas und des Europäischen" gefördert. Die großzügige Finanzienlllg erlaubte llllS die Zusammenstelhlllg einer interna­ tionalen und interdisziplinär arbeitenden Gruppe von Forschern, denen an dieser Stelle für ihr unermüdliches Engagement gedankt sei; insbesondere danke ich Win­ fried Eberhard für das in uns gesetzte große Vertrauen. Dank der Förderinitiative des BMBF hatten wir die Möglichkeit, unsere Ideen nicht nur auf zwei Workshops zu diskutieren, sondern sie auch in der Veranstaltungsreihe "Kulturelle Interferen­ zen" von llllserem Publikwn auf Herz lllld Nieren prüfen zu lassen. Allen llllseren Partuern in dieser Reihe sei herzlich für ihre aufgeschlossene Gastfreundschaft ge­ dankt der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Collegium Hungaricum in Ber­ lin, dem Haus des Buches Leipzig, der Schaubühne Lindenfels, dem Polnischen Institut Leipzig und nicht zuletzt dem Goethe-Institut und der Universität in Triest Für ihre aktive Unterstützung danken wir den Botschaften der Tschechischen und der Slowakischen Republik in Deutschland sowie dem Honorarkonsulat der Slowa­ kischen Republik

für die Freistaaten Sachsen und T hüringen.

Mein ganz besonderer Dank gilt allen, die unserer Einladung folgten - Wissen­ schaftlern ebenso wie Künstlern aus dem In- und Ausland. Ich danke den Histori­ kern und Historikerinnen Stefan Troebst aus Leipzig, Peter Bugge aus Aarhus, Sa­ bine Rutar aus Regensburg, Tomas Glanc aus Prag und Bremen und dem leider schon verstorbenen Hans Lemberg aus Marburg für ihre Diskussionsfreude auf unseren gemeinsamen Podien; es erfullt uns mit Stolz, dass wir die Schriftsteller

und Schriftstellerinnen Bora Cosic aus Zagreb und Berlin, Lisz16 Vegel aus Novi Sad, Veit Reinichen und Marko Sosic aus Triest, Ilma Räkusa aus Zürich, Michal Hvorecky aus Bratislava, Richard Wagner aus Berlin lllld Kevin Vennemann, den Musiker Jillius Fujak aus Nitra mit seiner Band, die Filmemacher Eduard Schreiber aus Wilmershorst und Fedor G:il aus Prag sowie den Fotografen Kurt Käindl aus Salzburg als unsere Gäste empfangen durften. Für entscheidende wissenschaftliche Impulse wahrend der lebhaften Diskussi­ onen anf unseren Workshops danke ich Peter Haslinger aus Marburg, ich danke den damaligen Fachkoordinatoren am GWZO Alfrun Kliems und Robert Born sowie Dietlind Hüchtker

für ihre kritischen und überaus hilfreichen Kommentare zu unse­

ren ersten Entwürfen; lllld ich danke den Literaturwissenschaftlern Peter Zajac aus Berlin und Bratislava, Wolfgang Müller-Funk aus Wien und John Neubauer aus Budapest und Amsterdam ffillllterung.

für die amegenden Gespräche, für Inspiration und Er­

10

Danksagung

Ohne viele Helfer wäre die organisatorische Umsetzllllg llllserer international vernetzten Aktivitäten kawn möglich gewesen. Ich danke llllseren studentischen Hilfskräften Nora Schmidt und Editha Lisson, insbesondere aber Projektassistentin

Ewa Tomicka-Krumrey vom GWZO Leipzig und der Grafikerin Franziska Becker (Leipzig) für ibre Unterstützung bei der Gestaltung unserer Veranstaltungsreihe. Mein Dank gilt darüber hinaus Anja Fritzsche und Antje Schneegaß aus dem Ver­ waltungstearn des GWZO

für die tatkräftige Regelung unserer mitunter komplizier­

ten grenzüberscbreitenden Formalitäten, und nicht zuletzt danke ich Katharina Stü­ demann vom Franz Steiner Verlag Stuttgart

für ihre kompetente Betreuung der

techmschen Fertigstellung unseres Buches, dessen Manuskript Ende 2012 abge­ schlossen vorlag. Leipzig, im Januar 2013 Ute Raßloff

Andreas R. Hofmann I Ute Raßloff Einleitung: Die changierenden Muster der Interferenz

Die Interferenz ist eigentlich die Reduktion der Differenz. Michel Serres, 1972 1

Nicht schon wieder ein neuer turn! Denn merke: Zu schnelle Drehllllgen machen schwindelig. Deshalb liegt uns nichts ferner, als mit diesem Band gleich eine neue ForschllllgSrichtllllg, einen neuen methodologischen Ansatz, ein neues Paradigma ausrufen zu wollen. Denn erstens ist der Gebrauch desAusdrucks Interferenz in den Geistes- und Sozialwissenschaften so neu nicht, lllld zweitens möchten wir ihn in unseren Überlegungen eher als Entwurf, Denkfigur oder Redeweise verstanden wissen, nicht zuletzt als kleinsten gemeinsamen Nenner einer in Material, Frage­ stellungen, Metboden und Wissenschaftstraditionen mit Absicht sehr vielgestalti­ gen Sammlung von Texten. Wir möchten auch keineswegs llllser Konzept an dem naturwissenschaftlichen Begriff der Interferenz gemessen sehen. Vielmehr denken wir, dass der "elegante Unsinn" eines postmodernen "Mißbrauchs" der Naturwissenschaften, wie ihnAlan Sokal und Jean Bricmont monierten? auf einem doppelten Missverständnis beruht. Zwn einen besitzt eine Wissenschaft, die einen Begriff zuerst einführt, kein Mono­ pol zu bestimmen, wie dieser auf alle Zeiten anzuwenden sei. Und zweitens sind es die Naturwissenschaftler selbst, die llllS davon überzeugen, dass Erkenntnisse aus der abstrakten Sprache der Zahlen, Graphen und Formeln in die anschauliche Spra­ che der Bilder und Metaphern übersetzt werden müssen, um sie in die Zirkulation des Wissens einzuspeisen. Dazu beispielsweise Wemer Heisenberg in einer philo­ sophischenAusdeutung der Quantentbeorie: "So erscheint die Welt als komplizier­ tes Gewebe von Vorgängen, in dem sehr verschiedenartige Verknüpfllllgen sich abwechseln, sich überschneiden lllld zusammenwirken lllld auf diese Art lllld in dieser Weise schließlich die Struktur des ganzen Gewebes bestimmen."3 Mittlerweile wird die Universalmetapher des textilen Gewebes oder Netzwerks geradezu inflationär gebraucht - man denke etwa an neuronale Netze, Verkehrs­ netze oder das Internet. Das kann allerdings auch positiv als Beleg der Kapazität dieser Metapher gelten. Längst hat die Vorstellung wechselseitiger Verknüpfungen, Verflechtungen und Durchdringungen die Kulturwissenschaften infiltriert. GiIIes Deleuze und Felix Guattari kontrastieren zur Verbildlichung ihres Text- und Wis­ sensverständnisses das Rhizom, das sich horizontal ausbreitende, zentrumslose Wurzelgeflecht, mit der Pfahlwurzel eines Baums4 Stuarl Hall spricht von einer

2

3 4

SERRES, Hermes 11, 1992, 49. SoKALlBRICMONT, Eleganter Unsinn, 1999. HEISENBERG, Physik, 2007, 155. DELEUZElGUATTARI, Rhizom, 1977.

Andreas R. Hofmann I Ute Raßloff

12

den ganzen Planeten umspannenden Interdependenz und Interpenetration5 Clifford Geertz betrachtet Kultur als das "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe", in das sich der Mensch "verstrickt" 6 Stephen Greenblatt beschreibt Kultur als "Netzwerk von Verhandlungen über denAustausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und Menschen".? Als bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhllllderts der französi­ sche Philosoph Michel Serres seinerseits einen von der Physik inspirierten Interfe­ renzbegriff auf die Wissenschaftsphilosophie übertrug, verband er damit nicht nur die pragmatische Forderung nach Interdisziplinarität Ihn beschaftigte nichts Gerin­ geres als eine neue Erkenntnistheorie, in der die Wissenschaft als Kontinuwn von Bewegungen und Austauschprozessen ein Leitbild lieferte: "Methoden, Modelle, Ergebnisse zirkulieren allenthalben darin, werden unablässig von überallher nach überallhin exportiert und importiert, und dies auf Wegen, die manchinal geregelten und manchinal kapriziösen Balanen folgen - ein Netz im Meer."8 Hierbei sind für Serres die Grenzen der einzelnen Wissenschaftsgebiete weni­ ger wichtig als "die Knotenpunkte, an denen die Linien sich kreuzen"9 Diese Kreu­ zungs-, Knoten-, Verknüpfungs- oder Schinttpunkte, diese Verkehrskreuze, wie er sie abwechselnd benennt, sind Orte der Überschneidungen. Sie sind stemförmige Zentren, Pole oder Gipfelpunkte des Netzes, die ihrerseits selbst wieder ein Netz bilden. Sie sind die eigentlichen Orte kultureller Interferenz. Es sind die Schaltstel­ len der Kommunikation, an denen sich Input, Verwandlung und Output von Iufor­ mationen abspielen. Diese Knoten übernehinen "die Rolle eines Empfängers und Verteilers, sie synthetisieren und analysieren, mischen, klassifizieren, sondern, walilen und senden."l0 Angelehnt an die Etymologie des Wortes - lateinischferre bedeutet "tragen", Interferenz ist also wörtlich das ,,zwischentragen" -, versteht SeITes darunter die "reine Bewegung" der Übersetzung, "die reine Möglichkeit des Austauschs, der Übertragung", beispielsweise von Konzepten, Methoden oder Mo­ dellen, lllld zwar ganz "ohne eine erste oder letzte Referenz".11 Mit seiner Vorstel­ lung einer sich horizontal fortpflanzenden Übertragung von Wissen, Konzepten und Bedeutllllgen lllld der LÖSllllg dieses Vorgangs von seinen Ursprüngen, Wurzeln lllld Referenten ist Serres ein origineller Verfechter des in jüngerer Zeit als traveling theory12 bezeichneten Konzepts. Dessen Anhänger verdammen im Gegensatz zu Sokal und Bricmont das Rottieren der Ideen nicht als Symptom postmoderner Be­ liebigkeit, sondern betrachten das Übersetzen ebenso wie das Entdecken von Paral­ lelen und Analogien als eigenständige Form von Kreativität.

5 6 7 8 9 10 11 12

HALL, Ethnizität, 1999, 89. GEERTZ, Dichte Beschreibung, 1983, 9. GREENBLATT, Kultur, 1995, 55. SERRES, Hermes 11, 1992, 8. Ebd., 13. Ebd., 170. Ebd., 45. SAID, Traveling Theory, 1983. - Mit Bezug auf Ostmitteleuropa aktuell dazu: Überbringen Überformen - Überblenden, 2011.

Einleitung: Die changierenden Muster der Interferenz

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In diesem Sinne möchten wir llllseren Band nicht einfach als Buchbindersyn­ these, vulgo Sammelband verstehen, sondern als kooperative Monographie mit ei­ ner über die gängige Aufsatzanthologie hinausgehenden gedanklichen Verschrän­ kllllg der Einzelbeiträge. Unser Optimismus stützt sich auf die intensiven Diskussi­ onen, die wir in der Projektrunde derAutorinnen lllldAutoren des Bandes sowie bei unseren Workshops mit auswärtigen Gästen zahlreicher Fachrichtungen führten, wie auch auf den regen Gedankenaustausch, den wir während einer langen Schreib­ phase fortsetzten. Denn auf der Metaebene der Fachdisziplinen und Theorien, aber auch der von der je eigenen wissenschaftlichen Sozialisation geprägten Arbeits-, Denk- und Schreib stile sind Interferenzen willkommen. Die verschiedenen, aber stets gleich­ berechtigten Ansätze dienen llllS nicht nur als Korrektiv, sie erschließen llllS viel­ mehr erst die auf den ersten Blick nicht immer erkennbaren Zusammenhänge zwi­ schen den Fallbeispielen. Im Netz der kulturellen Interferenz kooperieren und inter­ agieren llllterschiedliche T hemen lllld Ansätze, die Disziplinen beginnen ineinan­ derzugreifen, ohne gegenseitig ihre Methoden in Frage zu stellen, sich hierarchisch zu ordnen oder gar ein homogenes Ganzes ergeben zu müssen.Anders ausgedrückt und wiederum anknüpfend an SeITes' Überlegungen: Unsere von Interferenz han­ delnden Texte sind keineswegs zufallig selbst Ausdruck, Ergebnis und Beleg von Interferenz. Nochmals taxonomisch gesprochen, stammen die Beiträge aus den Bereichen der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte, der Kultur- und Literaturwissenschaften und der Ethnographie. Zugleich sind sie aber meist dadurch gekennzeichnet, dass sich ihre Autorinnen lllld Autoren mit einem Material befassen lllld daran Fragen richten, die zwnindest bis vor kurzem nicht unbedingt zwn klassischen Kernbe­ stand ihrer jeweiligen Disziplin gehörten. Eine Historikerin, die sich mit belletristi­ schen und wissenschaftlich-enzyklopädischen Texten befasst, um bestimmten As­ pekten von Identitätsfindungen und Nationsbildungsprozessen auf den Grund zu gehen ( Borbala Zsuzsana Török). Eine Ethnologin, die volkstümliche Vorstellun­ gen vom Tod anhand sprachkulturell diversifizierter narrativer Überlieferungen un­ tersucht ( Gabriela Kiliänova). Eine Literaturwissenschaftlerin, die u. a. auf ethno­ graphisches Material wie Volkskostüme oder auch Kino- und Femsehprodnktionen zurückgreift, um die Entwicklung eines kulturellen Topos über dreihundert Jalue nachmzeichnen (Ute Raßloff). Eine Historikerin, die gleichfalls die Belletristik ih­ rer Betrachtungszeit als Quelle benutzt, um Begegnungen in kleinen und mittleren Öffentlichkeiten der nationalpolitisch umstrittenen Stadt Frag zu rekonstruieren (Lenka Reznikova). Ein Historiker, der Ansätze der Linguistik und Psycholinguis­ tik aufgreift, um das sprachlich definierte Stereotyp als hartnäckige Ausdrucksform konfligierender Gruppenbildungen im polnisch-deutschen Kontäktbereich anband eines heterogenen SampIes von Texten und kulturellenArtefäkten zu eruieren (An­ dreas R Hofmann). Eine Kulturwissenschaftlerin, die Aussagen m Grenzüber­ schreitllllgen innerhalb einer Grenzlandliteratur nach ihrem Interferenzcharakter beftagt (Laura Hegedi'is). Ein Literaturwissenschaftler, der neben belletristischen Werken auch solche der Gebrauchsliteratur und die mündliche Kommunikation he­ ranzieht, wn nach Interferenzen in einem sprachkulturell gemischten Gebiet zu su-

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ehen (Matteo Colombi). Nicht mletzt eine Historikerin, die das etablierte Klischee kultureller Grenzüberschreitungen in einem nationalkulturell gemischten Gebiet zu dekonstruieren sucht, das durchaus dishannonische Potenzial von Interferenzen he­ rausstellt und uns allen eine diskursive Reibeftäche bietet (Anna Veronika Wend­ land). Bei aller Ü berschreitung disziplinärer Grenzen bestimmt der jeweilige Fokus die Ausprägllllg der vorgefundenen Interferenzen. Stehen soziale Milieus im Mit­ telpllllkt, dann sind Interferenzen meist in einem Gefüge von Machthierarchien zu beobachten. Liegt der Fokus hingegen auf den Zeichen selbst, dann lassen sich ihre Bewegungen und Metamorphosen auch losgelöst von ihren Urhebern und ur­ sprünglichen Bedeutungen verfolgen. Dieser Verschiebung der Perspektiven folgt die Reihung der Beiträge in unserem Band. Das Bild von den Netzen und ihren Knotenpunkten scheint uns jedoch die un­ terschiedlichen Facetten von Interferenz, wie sie llllS in llllseren Fallstudien empi­ risch begegnen, noch nicht ganz m erschöpfen. Denn das Netz impliziert in den gleichbleibenden Anordnungen und Abständen seiner Knotenpunkte eine gewisse Starrheit, die dem ständigen Rießen und den unentwegten Veränderungen kulturel­ ler Phänomene in der Zeit nicht ganz gerecht werden kann. "Alles fließt", diese nachträglich Heraklit zugeschriebene Formel, ist jedenfalls schon eine sehr alte Er­ kenntnis. Glücklicherweise liefert wiederum Serres für unsere Zwecke ein alterna­ tives Bild. Seine Metapher von den Wissenschaften, die gleichsam verbundenen Röhren einen "zusammenhängenden Körper ähnlich einem Ozean" bilden, dessen einzelne Meere nur durch einen Akt der willkürlichen Grenzsetzung voneinander zu trennen sind, 13 lässt sich nicht nur auf die wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche anwen­ den, sondern erscheint uns auch sinnfallig, wenn wir Gesellschaften und kulturelle Systeme gerade im Hinblick anf ihre Historizität, also ihre Veränderlichkeit be­ trachten, wie es einige llllserer Beiträge unternehmen. Zugleich lässt der Ozean an ein weiteres Bild eines anderen berühmten Franzosen denken, nämlich an Fernand Braudels langsame, tiefe Meeresströmungen und das rasche Gekräusel der Wellen an der Wasseroberftäche, mit denen er die unterschiedlichen Geschwindigkeiten historischer Beharrung und Ereignisablänfe veranschaulicht.!4 Und schließlich, um

noch einen letzten Augenblick bei der Wassennetaphorik zu verweilen, sind es die konzentrisch verlaufenden Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein in Bewe­ gllllg setzt lllld die, wenn sie auf einen anderen Wellenkreis treffen, mit diesem in eine komplexe Interaktion treten, in der sich Wellenberge überlagern, verstärken lllld auslöschen können - mit anderen Worten, es sind die Erscheinungen der Inter­ ferenz, die hier zu beobachten sind. Die ästhetische Faszination dieser changieren­ den Muster wie auch die Turbulenzen in einem vom Stunn aufgewühlten Meer waren llllS Grund genug, diesen Band "Wellenschläge" zu nennen. Das letztgenannte Bild von den konzentrischen Wellenverlänfen warnt uns m­ gleich davor, es mit den physikalischen Analogien zu weit zu treiben. Denn lnterfe-

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SERRES, Hermes 11, 1992, 8. BRAUDEL, La Mediterranee, 91990, 16-18.

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renzen sind nicht historisch. Sie breiten sich in Milieus wie Gasen oder Rüssigkei­ ten aus, die schließlich wieder in ihren Ausgangszustand zurückfallen. Wenn der Sendevorgang abbricht, bricht alles ab; das Wasser wird wieder schwarz und stumm, die Atmosphäre ruhig. Es bleibt keinerlei Spur zurück. Flüssigkeiten und Gase bewahren keine Spuren, Zeichen, Eindrücke [ . . . ]. Es ist das Wesen des Meeres, daß es sich wie Öl verhält; nur der Wind vermag ihm etwas aufzuprägen. Flüssigkeiten und Gase haben keine Geschichte, weil sie kein Gedächtnis besitzen. Es gibt keinen Bestand an aufbewahrten Zeichen. 15

Die Natur besitzt also die Fähigkeit, alles aufAufang m stellen: Die Interferenz der Wellen löscht den Effekt des Steinwurfs aus, so als sei dieser nie geschehen. In den menschlichen Dingen besteht dam keine Analogie. Hier bleibt kein Ereignis fol­ genlos, und selbst wenn sich an der Oberfläche der Kulturen und Gesellschaften nichts verändert zu haben scheint, so sind die Veränderllllgen in ihren tieferen Strukturen doch unvermeidlich da, allein weil sich das Interferenzereignis ereignet hat. Freilich verfolgen wir die Interferenzen nicht in ihrem Vollzug, sondern wir sind darauf angewiesen, sie aus ihren Spuren zu rekonstruieren. Diese Spuren sind "in einer stillgestellten, gelierten Zeit"16 lesbar. Was wir in llllseren historischen Quellen vorfinden, sind gleichsam gefrorene oder erstarrte Interferenzen. Die Me­ tapher des Netzes verweist auf diesen Charakter der Quellen, es zeigt uns die harten Knotenpunkte und ihre Ausfächerungen in alle Richtungen in einem Zustand der Bewegungslosigkeit. Die Metapher der Welle erinnert uns dagegen daran, dass wir llllS die Interferenz in ihrem Vollzug als dynamischen Vorgang vorstellen müssen, als ständigen und unumkehrbaren Ablauf, der alles Menschliche einem Zwang ständiger Veränderung unterwirft. Geschichte wiederholt sich nicht. So wie jedes kulturelle Interferenzereignis historisch und damit einzigartig ist, so ist das Prinzip der Interferenz als solches llllserer Auffassllllg nach wllversell. Wie die Physiker sich den kleinsten Teilchen zuwenden, um herauszufinden, was die Welt im Innersten msammenhalt, weil sich nicht nur das Kleinste im Großen wiederholt, sondern auch der Ozean in jedem Wassertropfen enthalten ist, schlagen wir mit den Interferenzen einen Weg vor, nach wllversellen Mikroelementen von Kultur zu suchen, die ständig und überall anzutreffen sind. Unser Betrachtungsgebiet ist das östliche Mitteleuropa. Als interferenzielle Knotenpunkte fungieren nationale Metropolen wie Prag ebenso wie das westpolni­ sche Regionalzentrum Posen und die slowakische Kleinstadt Metzenseifen, die Be­ trachtungsorte für Fallstudien dieses Bandes lief ern.Aber die N etzmetapher ermög­ licht uns ebenso, nicht nur auf die Orte der Verdichtung zu schauen, sondern auch deren Ver-Netzllllg in der Räche zu lllltersuchen, nach dem, was sie miteinander verbindet und sie gegebeneufalls msammenhalt. Wir blicken vom einzelnen Ort in die Räche, wo, um bei unserem Bild m bleiben, viele kleine Steine gleichzeitig die Wasseroberftäche ferenz. Beispiele für solche Interferenzräwne sind in unserem Band Siebenbürgen und Galizien. Jedoch müssen kulturelle Interferenzräume nicht deckungsgleich mit 15 16

SERRES, Hermes 11, 1992, 101. Ebd. , 163.

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Gebieten sein, deren Grenzen historisch-politisch, staatlich, administrativ, sprach­ kultureIl oder auch geographisch definiert sind. Gerade solche Regionen, deren Ter­ ritorium Grenzen der vorgenannten Art überschreitet, wie etwa das Einzugsgebiet der Westkarpaten, die Umgebung des Neusiedler Sees oder der zwischen Italien und Slowenien gelegene Karst bieten mannigfaltige Möglichkeiten für die Beob­ achtung kultureller Interferenzen. Ein oder zwei weitere Worte zu Rawn lllld Zeit erscheinen angebracht. Institu­ tionelle Anbindung des Projekts und sprachliche Vita seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben Ostmitteleuropa als Untersuchungsgebiet vor. Schon manche Versuche sind lllltemommen worden, dieses Gebiet als historische Großregion ei­ genen Charakters zu begründen, die durch bestimmte historisch-kulturelle Phäno­ mene der langen und mittleren Dauer definiert sei; in unserem Band äußert sich dazu Winfried Eberhard explizit und ausfululicher 17 Doch die empirischen Unter­ suchllllgen, die seit zwei Jahrzehnten am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Ge­ schichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) betrie­ ben worden sind, haben das großregionale Konzept wahrscheinlich häufiger in Frage gestellt als bestätigt. Gerade unsere Überlegungen zur kulturellen Interfe­ renz, ähnlich damit eng verblllldenen Konzepten wie dem des Kulturtransfers, llll­ terstreichen eher die Durchlässigkeit historisch-politischer Grenzsetzungen. Diese sind llllter unseren Gesichtspunkten beinahe so willkürlich wie Serres' Meeresgren­ zen. Wenn sich unsere Beiträge auf Ostmitteleuropa beziehen, so wie diese Region am GWZO verstanden wird, d. h. unter Einbeziehung des südöstlichen Europa, dann hat das gleichwohl mehr als nur arbeitspragmatische Gründe. Die in Ostmit­ teleuropa wn bis zu drei Generationen später als in anderen Teilen des Kontinents verlaufende modeme Nationsbildung hat dafür gesorgt, dass Fragen der territoria­ len Zugehörigkeit, der subjektiven und kollektiven Identitätsbildung, der Grenzzie­ hllllg lllld Entgrenzllllg bis in die Gegenwart hinein einen wesentlich intensiveren Niederschlag in textlichen und anderen kulturellenArtefakten der Region gefunden haben, als dies in anderen Teilen des europäischen Kontinents zu beobachten ist. Das hat Konsequenzen nicht allein für die Formen des kollektiven Bewusstseins der ostmitteleuropäischen Gesellschaften, ihrer Nationalkulturen und des kulturel­ len Austauschs, sondern auch für alle anderen Ebenen, auf denen wir in diesem Band die kulturelle Interferenz beobachten möchten. Bildhaft gesprochen, müssen wir in Ostmitteleuropa kein langes Schleppnetz auswerfen, um der kulturellen In­ terferenz und ihrer Räume habhaft zu werden. Sehr bewusst haben wir im Untertitel unseres Bandes die auf den ersten Blick vielleicht paradoxe Formulierung ,Janges 20. Jalnhundert" gewählt. Damit wollen wir llllS nicht nur von der allgemein gängig gewordenen Betrachtllllg eines "kurzen 20. Jährhunderts" absetzen, sondern auch den Charakter der kulturellen Interferenz als Phänomen mindestens der "mittleren Dauer" (histoire lentement rythmee, Fer­ nand Braudel) hervorheben. Mit der Internationalisierung und Europäisierung wis17

An einschlägiger Literatur seien als Beispiele außerdem genannt HALECKI, Europa, 1957; ZER­ NACK, Osteuropa, 1977, 33-41; Szücs, Regionen, 1990; CONZE, Ostmitteleuropa, 1992; Studi­ enhandbuch 1999; PUTTKAMER, Ostmitteleuropa, 2010.

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senschaftlicher Forschllllgsprojekte geht mitllllter eine präsentistische Fokussie­ rung einher, die allenfalls einen zeitgeschichtlichen Vorlauf gestattet So war auch im Färderungsralunen unseres Projekts das 20. Jaluhundert als Betrachtungszeit­ rawn vorgesehen. rer Fallstudien nicht ausreichen würde, noch ein großzügig bemessenesfin de siede zur Untersuchllllg zuzulassen. ob sie nun auf einer konkreten sozialen oder einer eher abstrakten Zeichenebene lllltersucht werden, als Kulturphänomene eigentlich erst richtig zu verstehen, wenn sie über längere Zeiträwne zurückverfolgt werden können. zulässig und sogar notwendig, in EinzelfalIen bis in das 18. Jahrhundert und weiter zurückzugreifen. chron statt, sondern auch vertikal oder diachron, also im Austausch der Epochen. Die kulturelle Produktion einer Zeit - im weitesten Sinne des Wortes - interferiert als "Tradition", als "Erbe" und manches Mal auch als historisch-politischer Ballast mit den nachfolgenden Epochen. Richtung des Zeitstralals verlaufender Prozess, wenn wir an die Debatten um das kulturelle und historische Gedächtnis und dessen ständige Arbeit an der Neu- und Umdeutung der Vergangenheit denken. Wie lassen sich nun die Träger und Medien kultureller Interferenz bestimmen, lllld was interferiert überhaupt in welcher Weise miteinander? Eine Annäherllllg an eine Antwort, die zugleich das Spektrum der Medien und Akteure unseres Bandes auffächert, mag ein Blick auf aktuelle Anwendungen des Ausdrucks kulturelle In­ terferenzen geben. relativ llllvorbelastet ist, anders als die nicht unwnstritten gebliebenen Konzepte . 8 von ,,Kulturtransfer" und erst recht "Hybridität"1 Je nach Fachdisziplin und theoretischem Ansatz beziehen sich Interferenzen auf Orte oder Regionen, auf kollektive oder individuelle Akteure, auf Artefakte wie z. B. oder semantische Räume. artige Dichte von Interferenzzonen" hervor, die sie an multikulturellen historischen Landschaften bis hin zu Großregionen Ostmittel- und Osteuropas exemplifiziert.19 Wahrend sie auf die Grenz- und Randlage von Interferenzräumen abhebt, sucht Moritz Csaky kulturelle Interferenzen in den urbanen Milieus Zentraleuropas auf, in Wien ebenso wie in Budapest, Prag, Bratislava oder Triest.2o konzipieren John Neubauer und Marcel Cornis-Pope auch ihr Großprojekt einer Geschichte der literarischen Kulturen Ostmitteleuropas21 Und Peter Zajac ruft gleich "Interferenzialität als mitteleuropäisches Rawnparadigma" aus.22 wollen wir hier jedoch nicht folgen, denn es widerspricht llllserer Überzeugllllg von der Universalität der Interferenzen, die sie per

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se als Definiens für eine essentialis-

Eine kritische Zusammenschau der Hybriditätsdebatte bietet TORO, Jenseits von Postmoderne, 2002. WENDLAND, Randgeschichten, 2008, CJ7. CSÄKY, Kulturelle Interferenzen, 2010. History of the Literary cultures, 2004--2 010. ZAJAC, Interferenzialität, 2009, 133.

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tische Konzeption des Rawns Ostmitteleuropa wie auch jeder anderen Region llll­ geeignet macht Implizit kommt bei den genarmten Beispielen ein linguistisches Verständnis von Interferenz zwn Tragen, wie sie in Sprach- lllld Kulturkontaktzonen durch die Einwirhlllg einzelner Elemente oder ganzer sprachlicher Systeme aufeinander ent­ steht So beschreibt Csaky kulturelle Interferenzen als Polyglossie der Region, der Akteure, aber auch von Artefakten wie z. net sich für ihn an der "Schnittstelle mehrerer Sprachen", dort wo "mehrere Kom­ mrnrikationsräwne aufeinander treffen", zwischen denen sich mehrsprachige Ak­ teure, selbst Knotenpllllkte llllseres interferenziellen Netzes, hin und herbewegen können und sich dadurch "gleichzeitig in unterschiedlichen Räumen vorfinden, die in ihnen zu einem übergreifenden hybriden, perfonnativen Kommwlikationsraum gerinnen". In diesem komplexen Sinn verwenden auch wir den Ausdruck kulturelle Inter­ ferenz, schon deshalb, weil es sich bei Akteuren, Artefakten und übergreifenden Strukturen wie Sprachen oder Codes wn Elemente von Kommwlikationssituatio­ nen handelt, die nur hypothetisch voneinander getrennt werden können, wobei sämtliche Elemente im komplexen Metabereich der sich überlagernden kulturellen Systeme oder Bedeutungsstrukturen eingeschlossen sind. Reckwitz aus der Perspektive der Kultursoziologie, die den Akteur als wichtigsten Knotenpunkt nimmt, kulturelle Interferenzen als "Überlagerungen und Überschnei­ dllllgen von Wissensordnllllgen und ihrer Sinnmuster", in deren Folge Akteure gleichzeitig an mehreren "Sinnprovinzen" teilhaben und dadurch in Deutungs- und Handlllllgskrisen stürzen können. Andererseits können Interferenzen soziokulturelle Veränderllllgen auslösen lllld werden damit

zu

einem dynamisierenden Moment von Kultur.

otik betrachtet das Metaphänomen des Codes losgelöst vom Akteur: "Interferenz findet statt, wenn zwei Kodes gleiche oder ähnliche Wirklichkeitsausschnitte struk­ turieren und wenn sie häufig in derselben Situation gebraucht werden. ist das Übersetzen"2 5 - womit sich der Kreis

zu

Michel Serres schließt.

Versteht man dagegen Kultur nicht generell als Zeichensystem, sondern aus­ drucklich "als Text und als Intertext",2 6 darm ist Intertextualität, wie Renate Lach­ mann sie beschreibt, eine aus dem Text-Text-Kontakt entstehende "Interferenz von Texten", Textelementen oder Perspektiven. Interferenz als Inter-Referenz lesen. alität. in den einzelnen Fachrichtungen beschrieben werden mag, als Überschneidung, Überlagerung, Kreuzung von kulturellen Systemen, Sinnordnungen, symbolischen

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24 25 26 27 28

CSÄKY, Kulturelle Interferenzen, 2010, 289-291. RECKWITZ, Kulturelle Interferenzen, 2000, 629. PoSNER, Kultur als Zeichensystem, 1991, 63. GREBER, Textile Texte, 2002, 7. LAcHMANN, Gedächtnis und Literatur, 1990, 56. SERRES, Hermes 11, 1992, 206.

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Einleitung: Die changierenden Muster der Interferenz

Ordnungen, Diskursen, Texten, Sprachen, frei zirkulierenden Signifikantenketten,29 Zeichen oder Codes - obwohl das Modell der Interferenz gegen homogenisierende Kultnrmodelle angeht, besteht die Bedingung

für ihr Gelingen als Übersetzungs­

prozess auch in der Verfügbarkeit von Parallelen, Koinzidenzen, Korrespondenzen oder Invarianten. In dieses Dickicht der Konzepte und Begriffe legt unsere Vorstellung von kul­ tureller Interferenz eine Schneise der Übersichtlichkeit Es sei nochmals betont, dass wir an dieser Stelle nicht den Ehrgeiz haben, eine neue Theorie der Interferenz an die Seite der bereits existierenden zu stellen. kussionsangebot, einen Entwurf, der in SeITes' Sinne Differenz und damit Komple­ xität gerade Studien

m

nicht homogenisierend reduziert. den historisch-politischen und kulturellen Verhaltnissen des östlichen

Europa gezogen haben, wenn wir übersähen, dass darin eine besondere Herausfor­ denmg lllld Chance liegt.

Diskurse sind die der Ab-Grenzung, der Erfindung von Unterschieden, der Vergrö­ ßerung von Komplexität Die Protagonisten der Nationalkulturen behaupten die Würde und das Recht der alteren Herkunft und damit der größeren Geltung. Konzept von kultureller Interferenz setzt dem entgegen: Gleichzeitigkeit, Gleich­ rangigkeit, Wechselseitigkeit

Literaturverzeichnis BRAUDEL, Fernand: La Mediterranee et le monde mediterraneen a I 'epoque de Philippe 11. Bd. 1 . Paris 9 1990 [ 1 1949] BRONFEN, Elisabeth I MARIUS, Benjamin: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multi­ kulturalismusdebatte. Hg. v. DENs. und Therese STEFFEN. Tübingen 1997, 1-29 CONZE, Werner: Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert Hg. v. Klaus ZERNACK. München 1992 CSÄKY, Moritz: Kulturelle Interferenzen. In: DERs.: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflech­ tungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien-Köln-Weimar 2010, 287-292 DELEuzE, Gilles I GUATTARI, Felix: Rhizom. Berlin 1977 (Internationale Marxistische Diskussion 67) [frz. 19761 GEERTZ, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983 GREBER, Erika: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Kö1n-Weimar-Wien 2002 GREENBLATT, Stephen: Kultur. In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hg. v. Moritz BASSLER. Frankfurt am Main 1995, 48-59 HAr.ECKI, Oskar: Europa. Grenzen und Gliederungen seiner Geschichte. Darmstadt 1957 [eng!. 19501 HALL, Stuart: Ethnizität: Identität und Differenz. In: Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader. Hg. v. Jan ENGELMANN. Frankfurt am Main u. a., 1999, 83-98 HEISENBERG, Werner: Physik und Philosophie. Stuttgart 2007 [eng!. 1958]

29 30

BRONFEN/MARIUS, Hybride Kulturen, 1997, 14. ZAJAC, Interferenzialität, 2009, 142.

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History of the Literary Cultures of East-Central Europe. Hg. v. Marcel CbRNIS-PoPE und lohn NEU­ BAUER. Bde. 1-4. Amsterdam-Philadelphia 2004--2 010 LACHMANN, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main 1990 PoSNER, Roland: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kultUIwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Kultur als Lebenswelt und Monument. Hg. v. Aleida ASSMANN und Dietrich HARDT. Frankfurt am Main 1991, 37-74 PUTTKAMER, Joachim von: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 38) RECK\VITZ, Andreas: Vom Homogenitätsmodell der Kultur zum Modell kultureller Interferenzen und interpretativer Unterbestimmtheiten. In: DERs.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000, 617-643 SAID, Edward W.: Traveling Theory. In: DERs.: The World, the Text, and the Critic. Cambridge, Mass. 1983, 226-247 SERRES, Michel: Hermes 11. Interferenz. Berlin 1992 [frz. 1972] SoKAL, Alan I BRICMONT, Jean: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaf­ ten mißbrauchen. München 1999 [eng!. 1998] Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. v. Harald ROTH. Köln-Weimar-Wien 1999 Szücs, Jen6: Die drei historischen Regionen Europas . Frankfurt am Main 1990 [ung. 1983] TORO, Alfonso de: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissen­ schaftskonzept In: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hg. v. Christoph HA MANN und Cornelia SIEBER. Hildesheim-Zürich-New York 2002 (Stauffen­ berg Discussion. Studien zur Inter- und Multikultur I Studies in Inter- and Multiculture 4), 15-52 Überbringen - Überformen - Ü berblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Hg. v. Dietlind HUCHTKER und Alfrun KLIEMS. Köln-Weimar-Wien 2011 WENDLAND, Anna Veronika: Randgeschichten? Osteuropäische Perspektiven auf Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte. In: Osteuropa 3 (2008), 95-1 1 6 ZAJAC, Peter: Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma. In: Kommunikation - Ge­ dächtnis - Raum. KultUIwissenschaften nach dem "Spatial Turn". Hg. v. Moritz CsÄKY und Christoph LEITGEB. Bielefeld 2009, 133-147 ZERNACK, Klaus: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977

Winfried Eberhard Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen. Eine historische Einführung Ostmitteleuropa ist nach heutigem wissenschaftlichen Verständnis eine Geschichts­ region, d. gion Europas mit lang wirkenden gemeinsamen Strukturmerkmalen und -proble­ men. willkürlich oder gar fiktional, ist zunächst zu betonen, dass Geschichtswissenschaft lllld Gescllichtsschreibllllg wie auch andere Wissenschaften in ihren Deutllllgen lllld Ergebnissen immer und erkenntnistbeoretisch unausweichlich (Re-)Konstruktio­ nen darstellen, wie man seit den Auseinandersetzllllgen wn Historismus und Her­ meneutik weiß. truktion. besser gesagt: ein Deutungsmodell. Plädoyer

zu

werden. ist dieses Modell wissenschaftlich sachlich und plausibel zu

begriinden. det aber als wissenschaftliches. durch sachlich belegbare Vergleiche gewonnenes Modell. dass es durch Interessen und Politik vorgegeben und damit manipulierbar wird, wie etwa die mythifizierten Geschichtskonstruktionen der Nationalbewegun­ gen! oder die interessengeleiteten Mitteleuropakonzeptionen2 der ersten Hälfte des 20. Jalnhunderts. Überdies sind es keineswegs geographische Grenzen und auch nicht politische Reichsbildungen und Imperien. sondern eben . .nur" die erwalmten historisch ge­ wachsenen, gemeinsamen Struktwfaktoren mit ihren weitreichenden Konsequen­ zen. die das östliche Mitteleuropa zwischen Ostsee und Adria als Geschichtsregion konstituieren 3 Dieser Ostmitteleuropa-Begriff und dieses strukturale Verständnis sind inzwischen mehrfach begründet und entfaltet worden. gerade auch für das For­ schungsprogramm des GWZ0 4 Entwickelt wurde dieser wissenschaftliche Ostmit­ teleuropabegriff vor allem durch die struktural vergleichenden Analysen und Ent­ würfe von Oskar Halecki, Wemer Conze, Klaus Zemack und Jena Szucs 5 Es geht dabei um eine an konkreten. geschichtlich gewordenen Strukturen beobachtete Ge-

2 3

4 5

ZACH, Balkan, 2004, 327 und 339. Vgl. Anm. 4. LERIDER, Mitteleuropa, 1994, 7; KREN, Das östliche Mitteleuropa, 1996, 6. -Zum Verständnis des Begriffs der Geschichtsregion STROHMEYER, Historische Komparatistik, 1999; TRoEBST, Vom spatial turn zum regional turn?, 2007. EBERHARD, Ostmitteleuropa, 2003, 73-80; DERs. tur Ostmitteleuropas, 1998; BAHLCKE, Ostmitteleuropa, 1999. HALECKI , The Limits and Divisions of European History, 1950; CoNZE, Ostmitteleuropa, 1992; ZERNACK, Osteuropa, 1977; Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, 1990. Diese Ver­ wissenschaftlichung setzte sich dezidiert ab vom politisch instrumentalisierten Verständnis Mit-

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Winfried Eberhard

schichtsregion, nicht um eine abstrakte Modellvorstellung wie etwa das Zentrum­ Peripherie-Modell der Modernisierungstheorie. dass die historischen Strukturen - eben weil sie historisch sind - nicht als essentia­ listisch und unwandelbar betrachtet werden dürfen.

epochenspezifische neue Strukturen und das Zurücktreten von alten zu beachten bei aller Konstanz von anderen 6 Ja, theoretisch und begriffsnotwendig kann eine

Geschichtsregion auch ihr Ende finden. Der vorliegende Band greift mit seinem Thema der kulturellen Interferenzen und Interferenzräume wesentliche Strukturfaktoren Ostrnitteleuropas auf und zielt gleichsam ins Zentrum des Begriffs.

nen, Durchdringungen und Verflechtungen bietet das östliche Mitteleuropa ein her­ ausragendes Untersuchungsfeld7 von - bei allem Wandel einzelner Faktoren - be­ merkenswerter Konstanz vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert Seine Kulturkon­ takte und -transfers richteten sich dabei grundsätzlich in alle Himmelsrichtungen 8

In ihrer Verftechtungsvielfalt und -dichte sowie in deren zeitlicher Kontinuität über­ trifft diese Region die Alpen und Pyrenäen und sogar den Mittelmeerraum. konnte Krista Zach, jedenfalls mit Blick anf den Süden Ostrnitteleuropas, zu Recht feststell en: Keine andere Region in Europa weist seit dem Hochmittelalter und bis heute noch eine ähnli­ che Vielfalt der Kulturalität in Sprache, Ethnikum oder Konfession und der siedlungsbedingten Streuung wie Verschränkung der Kulturen auf. Vielfalt und Verschränkung bilden, historisch betrachtet, die Dominanten in der Kulturgeschichte des östlichen und südöstlichen Europa.9 Anf einige historische Grundlagen von solchen Überlappungen und Verschränkun­ gen sollen sich die folgenden Überlegungen beschränken. Einen der anffalligsten strükturbildenden Faktoren Ostrnitteleuropas, der auch dem Nichthistoriker meist unmittelbar einsichtig ist, bildet sein ethnischer Pluralis­

mus lO

Gerade weil der Begriff des Ethnischen so unmittelbar einleuchtend er­

scheint, ist jedoch gegen Missverständnisse zu betonen, was oben schon zu den historischen Strukturen lllld zur Geschichtsregion gesagt wurde: Er ist nicht essen­ tialistisch anfznfassen, sondern sprachlich-kulturell bestimmt. das Ethnos ein wandelbares Phänomen ist und sich durch Kulturtransferprozesse lllld sprachliche Assimilation verändern kann. ner Bevölkerungsgruppe auch gesellschaftlich geprägt oder verstärkt, so dass sozi-

6 7

S

9 10

teleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 121-147; Mitteleuropa-Konzeptionen, 1995. ZERNACK, Nordosteuropa, 1993 , 2 1 . NIENDJRF, Mehr als eine Addition von Nationalhistoriographien, 2000, 102 f. postuliert als Auf­ gabe des Faches Osteuropäische Geschichte, die vielfältigen Verflechtungen in der Geschichte dieser Region aufzugreifen und zu analysieren, und zwar mit dem Ziel einer Modell- und The­ oriebildung interethnischer Prozesse. Ebd., 9 ("Kontakt- und Durchdringungszone"); DERs., Osteuropa, 1977, 33-41; Westmitteleu­ ropa - Ostmitteleuropa, 1992, 1 5 f. ZACH, Balkan, 2004, 326. NIENDJRF, 2000, 102. - Zu den länderübergreifenden ethnischen Gruppen: Studienhandbuch östliches Europa I, 1999, 449-490.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

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ale Mobilität auch eine etlmische Mobilität (Veränderung) zur Folge haben kann. Überdies ist zu vermeiden, dass Ethnien - wie es seit dem 18. Jalnhundert üblich war - llllter dem Paradigma von Fortschritt lllld Modemisierung nach zivilisatori­ schem Gefalle eingeordnet und gewertet werden. Der ethnische Pluralismus Ostmitteleuropas wurde zunächst" vor allem durch den Prozess des

Landesausbaus

im 13. Jalnhundert grundgelegt, als die Fürsten

und Könige Polens, Böhmens und Ungarns sowie der deutsche Orden zur Ressour­ censteigenmg Siedler lllld Mönche aus dem westlichen Mitteleuropa anwarben, wo die Möglichkeiten der Binnenkolonisation dem demographischen Aufschwung nicht mehr entsprechen konnten. brachten neue Agrar- und Bergbautechniken und neue Verfalnen der Anlage und Organisation von Dorf- und Stadtsiedlungen mit und erhielten als Anreiz neue Frei­ heiten lllld ihr eigenes Recht, das

ius teutonicum13 ,

das aber in der Folge vielfach

auch auf slawische Siedlllllgen übertragen wurde lllld eine gewisse gemeindliche Selbstverwaltung erlaubte. eine rasche Modemisierung östlich von EIbe und Oder, Böhmerwald und Leitha und eine zweite, entscheidende Stufe des kulturellen Ausgleichs mit dem westli­ chen Mitteleuropa14 Zweitens prägte nun nicht nur die ethnische Pluralität (zu­ nächst meist Dualität) die Länder Ostmitteleuropas, sondern darüber hinaus erhiel­ ten manche zuvor kawn besiedelte Regionen, wie die Ränder Böhmens lllld Mäh­ rens oder Teile Schlesiens lllld Siebenbürgens, ein ganz deutschsprachiges Gepräge. So kamen schon seit dem 12. Jalnhundert bäuerliche Siedler aus ÖSterreich in die wenig erschlossenen Regionen Südböhmens lllld Südmährens, oder aus der Oberpfalz und dem Egerland nach Nordwestböhmen. Nordostböhmen und Nordinalnen von der Mark Meißen und der Oberlausitz aus besiedelt, der Böhmerwald aus Bayern und der Oberpfalz und das Egertal aus Fran­ ken und Sachsen. Kuttenberg, um Olmütz und Ungarisch Hradisch (Südostmalnen).

11

Abgesehen von einer gewissen Zuwanderung vonAdeligen und Mönchen schon i m 10./ 1 1 . Jahr­ hundert im Gefolge einer ersten Stufe kultureller Angleichung durch die Integration der Zent­ ralländer Ostmitteleuropas in die lateinische Christenheit um die Jahrtausendwende. 12 Als historische Grundlage des östlichen Mitteleuropa sieht LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26 die mittelalterliche Ostsiedlung. - Zu Landesausbau und Siedlungsbewegung des 12. bis 14. Jahrhunderts CbNZE, Ostmitteleuropa, 1992, 58-104; KUHN, Vergleichende Untersuchungen, 1973; Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters, 1975; dieser Konferenzband signalisierte eine Wende von der Sicht der "deutschen Ostkolonisation" zur vergleichenden Wahrnehmung eines europäischen Landesausbaus. Der heute vorherrschende Begriff "Landesausbau" betont die Initiative der einheimischen Fürsten und Adeligen bei der Besiedlung. - SEIET, Die deutsche Siedlung, 1983; HIGOUNET, Die deutsche Ostsiedlung, 1990; PISKORSKI, Die mittelalterliche Ost­ siedlung, 1997; DERs., The Historiography, 1999. - Die aktuelle Sichtweise vermittelt LUBKE, Das östliche Europa, 2004, 333-364; zur ethnischen Vielfalt in Landesausbau und Besiedlung ebd., 365-376; HARDT, Von der Subsistenzwirtschaft zur marktorientierten Produktion, 2008. - Sehr gute Zusammenfassung der Gesamtentwicklung des Landesausbaus in Ostmitteleuropa bei GUNDISCH, Deutsche, 1999, 456-459. 13 Zum Begriff LUBKE, Das östliche Europa, 2004, 360f. 14 LE RIDER, Mitteleuropa, 1994, 26; Szucs, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 4749; DRALLE, Die Deutschen, 1991, 43-102.

Winfried Eberhard

24

lllld der Ausbau von Städten lllld deren Umorganisation zu neuem Recht

(ius teuto­ nicum) förderte in Böhmen insbesondere König Pl'emysl Ottokar TI. durch Werbung

und Privilegierung von Siedlern aus der deutschen Nachbarschaft.1 Kaufmannsiedlung in Prag war bereits im 12. Jahrhundert von Herzog Sobeslav mit eigenen Freiheiten ausgestattet worden lllld wurde nach weiterem deutschem Zuzug maßgeblich für die Stadtwerdung Prags. In Polen wurde die ländliche Besiedlung durch deutsche Zuwanderer vor allem im Westen organisiert, in Schlesien lllld Großpolen. - Deutsche, Hamen, Italiener - insbesondere an der Neuaruage lllld -organisation von Städten beteiligt17 In das Reicli der Steplianskrone war Siebenbürgen bereits in der ersten Halfte des 11. Jahrliunderts einbezogen. dann seit dem 12. Jahrliundert zur militärisclien Siclierung "liospites" (Gastsiedler)

angesiedelt l 8 - so vor allem. neben den Szeklern ("scliwarze Ungarn"). Deutsclie.

die sogenannten Saclisen. die 1224 von König Andreas in einer Goldenen Bulle bedeutende Selbstverwaltungsprivilegien erliielten. ten nacli dem Abzug der Mongolen im 13. Jahrliundert. so dass die entstelienden handels- lllld gewerbestarken Städte, die sich in einem Blllld zusammenschlossen, im Wesentliclien deutscli geprägt waren. und den Gebieten und Stadten der Saclisen entstand in Siebenbürgen so eine spezi­ fische ethnische Gemengelage, die überdies topographisch ganz unübersichtlich verscliränkt war19 Eine politisclie Überlagerung und Überlappung ergab sicli au­ ßerdem aus der Notwendigkeit des Zusammenliandelns der im 15. Jalirliundert ge­ bildeten "Universitas" der drei genannten "Nationen"2 0, etwa zur TÜfkenabwehr oder in den Konfessionskonftikten. geliörten mm etlmisclien Ensemble Siebenbürgens aucli die (orthodoxen) rumäni­ sclien (walachisclien) Hirten und Bauern, die jedocli politiscli niclit repräsentiert waren und erst um 1700 durcli eine Union mit Rom teilweise m gesellscliaftliclier Anerkermung und sozialem Aufstieg gelangten21 In der Epoclie des mittelalterliclien Landesausbaus war den ungärisclien Köni­ gen insbesondere am Ausbau und an der Förderung des Stadtewesens gelegen. entwickelten aucli in Oberungarn und der Zips, der lieutigen Slowakei, deutsclie ,,hospites" - zur Grenzsichenmg im Nordosten des Reiches angesiedelt - seit dem

15 16 17 18 19

20 21

HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 98-102; SEIET, Die deutsche Ostsiedlung, 1983; ScHLE­ SINGER, Die böhmischen Länder, 1963. LUEKE, Das östliche Europa, 2004, 366; LEDVINKA/PESEK, Praha, 2000, 80-82. BCCOCKA, Das alte Polen, 1983, 47; HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 42-45; LUEKE, Das östliche Europa, 2004, 362-364. ZSOLDJS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 68f.; zu Siebenbürgen LUEKE, Das östliche Europa, 2004. 375. Zur Entwicklung Siebenbürgens ROTH, Siebenbürgen, 1999; DERs., Kleine Geschichte, 1999; GUNDISCH, Siebenbürgen, 1998; BAUMJARTNER, Welt im Aufbruch, 2008. - Zu den Städten GUN­ DISCH, Das Patriziat, 1993; ROTH, Hermannstadt, 2006. ZACH, Nation und Konfession, 2004, 21 und 30--33. - Zur politischen Situation in der Friihneu­ zeit DIES., Fürst, Landtag und Stände, 2004, 49-69. GYÄRFAS, Die Union, 2007, 137-156; BITAY, Die Rumänen, 2007.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

25

12. Jahrhundert ein dichtes Städtenetz und den Bergbau. hlllldert auch Slowaken in diesen, älmlich wie in Siebenbürgen, mit weitreichenden Selbstverwaltungsprivilegien ausgestatteten Städten Aufnahme fanden, blieb das Stadtbürgertum doch deutsch geprägt, die Landbevölkerung weitgehend slowa­ kisch, in der Zips auch deutsch - neben dem ungarischen Adel, dem sich der slowa­ kische assimiliert hatte.22 vergleichbare Überlagerung der ethnischen und gesellschaftlichen Gruppierung. Dies vor dem 19. Jahrhundert als nationalen Gegensatz begreifen

m

wollen, wäre

jedoch verfehlt; Sprache diente hier wie sonst in Ostmitteleuropa als Ausdruck ständischer Unterschiede; oder anders; Die Sprache trennte gesellschaftliche Grup­ pen, hier den ungarischen Adel vom deutschen Bürgertum und den slowakischen Bauern. Im Hinblick auf die etlmisch-sozialen Überschichtungen und Probleme in der weiteren Geschichte Ostmitteleuropas vor allem auch im 19.120. Jahrhundert ist aber schließlich vor allem auf die gesellschaftliche Bedeutung der neuen Siedler in der Epoche des Landesausbaus hinzuweisen. infolge ihres technisch-organisatorischen Erfahnmgswissens lllld ihrer besonderen Freiheiten nicht nur in dörflichen Bereichen, sondern auch in den neugegründeten oder

zu

neuem Recht wnorganisierten Städten, in denen sie meist den Handel oder

den Bergbau beherrschten, vielfach zur gesellschaftlichen Oberschicht - wie etwa in Prag, Brtmn, Olmütz, Lemberg, Posen, Krakau, Buda und anderen ungarischen königlichen Freistädten, in den Städten Oberungarns und Siebenbürgens oder in und um die mahrische Bergbaustadt Iglau2 4 Diese ethnisch-soziale Grenze führte in den Städten bereits im Spätmittelalter teilweise zu gesellschaftlichen Spannun­ gen und verschob sich schon damals, aber auch im 16. Jahrhundert allmalilich nach oben, indem die slawische Bevölkerung aus sozialem Aufstieg auch

m

politischer

Partizipation gelangte.2 in akuten Konflikten aus, wie im hussitischen revolutionären Prag 1419120, sondern auch in Assimilationsprozessen wie etwa in der Polonisierllllg der Deutschen in Krakau und anderen Städten im 15.116. Jahrhundert.2

22 PurrKAMER, Slowakei/Oberungarn, 1999, 379f. 23 HELMEDACH, Slowenien, 1999, 389. 24 Zur ethnischen Vielfalt in Polen-Litauen um 1500, zumal auch in den Städten, und ihrer Verän­ derung grundlegend SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995. - In Krakau durften im 13. Jahrhundert keine Polen als Bürger aufgenommen werden, um die ländliche Siedlung nicht zu schwächen: LUBKE, Das östliche Europa, 2004, 362-364. 25 Zu den Konflikten SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 10 und 13; LUBKE, Das östliche Europa, 2004, 370-374. - Ein deutliches Beispiel für den sozialen Aufstieg der slawischen Stadtbevölkerung in Konkurrenz zur deutschen Führungsschicht bildet Prag im 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts: MEZNfK, Praha, 1990, 49-174. - Zu den Begegnungen von Sla­ wen und Deutschen durch den Landesausbau, zu dessen Wirkungen sowie zu den Fragen der ethnischen Integration und Segregation bietet WUNSCH, Deutsche und Slawen, 2008, 54-64, 91-101, 1 1 5-117 und 124-128 einen sehr guten aktuellen und interpretierenden Forschungs­ überblick. 26 SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 14f.; DERs., Gesellschaftliche Pluralität, 2000; BEL­ ZYT, Krakau und Prag, 2003, 59-80 und 106-118.

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26

die ethnische Pluralität in Ostmitteleuropa grundsätzlich prägend bis ins 20. Jahr­ hlllldert. als sozialer, gelegentlich auch als konfessioneller Unterschied empfunden. der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts steigerte sich unter den modemen Vorzei­ chen nationaler Loyalitäts- und Identitätsforderungen ethnische Pluralität oder Du­ alität zum dauerhaften KonftiktverhältnisP Ethnische Vielfalt war jedoch nicht nur ein Ergebnis der Siedlerwerbung im Landesausbau, sondern auch der

mittelalterlichen Expansion

der ostmitteleuropäi­

schen Königreiche, so vor allem Ungarns lllld Polens, aber auch der österreichi­ schen Länder. so mit dem Zuzug fremder Siedler verbunden. In das Reich der Stephanskrone wurden - nach Siebenbürgen in der ersten Halfte des 11. Jahrhunderts - bereits im 12. Jahrhundert Slawonien, Kroatien und Dalmatien einbezogen (bis 1918), womit das slawische Ethnicum des Reiches ne­ ben den Slowaken Oberungarns bedeutend verstärkt wurde2 8 Auch im heutigen Slowenien lllld in Istrien waren es Expansionsprozesse, die seit der slawischen Einwanderung um 600 in mehreren Stnfen die Region ethnisch pluralisierten. kenreich eingegliedert, das seine Südostgrenze durch von außen eingesetzte Grafen kontrollieren ließ und unter den Ottonen durch Marken sicherte (Mark Krain, Win­ disehe Mark). schen Reiches, siedelten sich in Istrien in der Folge weitere Slawen aus den frän­ kisch-bayrisch beherrschten Nachbarregionen an. sche Mark kamen im 13. Jahrhundert an die Grafen von Görz, im 14. Jahrhundert dann msammen mit Kärnten anf Dauer an die Habsburger, die ihre Herrschaft bis an die Adria erweiterten (Grafschaft Duino) und allrnahlieh, 1518 auch endgültig, Görz einbezogen. schon 1382 unterstellt. - mit Ausnahme der Gebiete Venedigs - zum Habsburgerreich. Jahrhunderts war die Mark Krain als slowenisches Bauemland nur in der Herr­ schaftsschicht des (teilweise assimilierten) Adels und der hohen Geistlichkeit (große bischöfliche Herrschaften von Freising und Brixen) deutschsprachig. Seit der ersten Halfte des 13. Jahrhunderts jedoch entstanden im Zuge des damaligen Landesausbaus auch neugegrÜIldete Städte mit deutschem Bürgertum, wie etwa in der Hauptstadt Laibach. Jahrhundert als zusammenhängende Region nur in der Gottschee. terlich slawischen Kärnten verschob sich durch den - auch bäuerlichen - Lan­ desausbau die deutsch-slowenische Sprachgrenze weit nach Süden; jenseits dieser

27

HROCH, Das Europa der Nationen, 2005; ZERNACK, Problem der nationalen Identität, 1994; DRALLE, Die Deutschen, 1991, 177-219; Loyalitäten, 2004, hier insbesondere die Beiträge von Martin SCHULZE WESSEL, 1-22 über "Loyalität" als geschichtlichen Grundbegriff, von Peter HASLINGER, 45-60, über Loyalität in Grenzregionen am Beispiel der Südslowakei sowie von Sabine BAMBERGER-STEMMANN, 69-86, über nationale Minderheiten und ihr Loyalitätsproblem; Juden zwischen Deutschen und Tschechen, 2006; KTIN, Konfliktgemeinschaft, 1996. 28 ZSOLDJS, Le Royaume de Hongrie, 2003, 46f. (Karpatenbecken), 61-68 (Kroatien).

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

27

Grenze sprachen nur der Adel und das im Landesausbau entstandene Stadtbürger­ tum deutsch 29 Diese Sprachgrenze blieb bis ins 19. Jahrhundert bestehen und wurde durch deutschen Neuzumg im Laufe der Industrialisierung noch verstärkt - In Istrien lagen die Städte und ihre Selbstverwaltung seit dem Frühmittelalter, gesteigert noch durch die Expansion Venedigs im Westen und Süden Istriens, in der Hand der romanischen ( italienischen) Bevölkerung, wahrend die Dorfgemeinden ähnlich wie in Krain von Slawen geprägt waren. Diese ethnisch-soziale Trennung zwischen Stadt und Land begründete im 1 9./20. Jahrhundert spezifische nationale Konftik infolge langfristiger historischer Prozesse durch eine komplexe ethnische und eth­ nisch-soziale Gemengelage charakterisiert Überdies war sie in habsburgischer Zeit auch in der Länder- und Verwaltungsgliederung zerteilt; und seit Kaiser Karl VI. Triest zum Freihafen erhoben hatte, um das Habsburgerreich an den Seehandel an­ zuschließen, und sich hier die "Orientalische Kompanie" niedergelassen hatte, er­ hielt diese Stadt ein noch stärkeres, ökonomisch-kommerziell bedingtes, multieth­ nisches Gepräge etwa durch Griechen lllld andere Levantiner. Nach der deutschen Siedlungsmigration im Zuge des Landesausbaus der polni­ schen Herzogtümer im 13. Jahrhundert entfaltete eine spätere Welle polnischer Ost­ siedlung im 14.-16. Jahrhundert ihre besondere, langfristige Wirkung für die ethni­ sche Pluralisierung und Durchinischung. Auch sie ging von Expansion aus, nach­ dem Kasimir der Große zwischen 1340 und 1366 Rotreußen ( Ruthenien) erobert hatte, das ,,regnum Galiciae et Lodomeriae" (Land Halicz-WolhynienlV ladimir). Mit den Ruthenen und dem westlichen Rest des ehemaligen Kiever Reiches wurde eine ostslawische orthodoxe Bevölkerllllg in das Königreich Polen inkorporiert. Damit sowie mit der bald folgenden polnisch-litauischen Union wurde die spätere jagiellonische Konzeption eines ethnisch und konfessionell gemischten Reiches grundgelegt, die mit der piastischen, nach Westen gerichteten Politik eines national und konfessionell einheitlichen Staates brach, aber anf Integration des multiethni­ schen Mosaiks unter einem starken Königtum zielte.31 Schon im 13. Jahrhundert war überdies Bevölkerung aus dem Westen angesiedelt und das Städtenetz ausge­ baut worden 32 Im 14. Jahrhundert initiierten die polnischen Könige nun einen neuen Landesausbau durch eine polnische Ostsiedlung, die bis ins 16. Jahrhundert anhielt 33 Es kamen Polen aus Kleinpolen, Deutsche aus Schlesien, dam Italiener ( Genuesen), Armenier und Juden, und mit dem Magdeburger Recht wurden Städte neuen Typs gegründet ( Lern berg 1352)34, überdies katholische Klöster, und am Sitz 29 30 31

HELMEDACH, Slowenien, 1999, 388f. FERLUGA, Istrien, 1991, 703. HOENSCH, Geschichte Polens, 1990, 55 und 57f.; BCCUCKA, Das alte Polen, 1983, 89; BOMEL­ BURG, Das polnische Geschichtsdenken, 2002; zu der an einem multiethnischen und multikon­ fessionellen Reichsdenken ausgerichteten modernen ..Jagiellonenidee" DERS., Zwischen impe­ rialer Geschichte und Ostmitteleuropa, 2007. 32 WUNSCH, Galizien, 1999, 165. 33 WUNSCH, Ostsiedlung, 1999; LUBKE, ,.Germania Slavica", 2007; JANECZEK, Ethnische Gruppen­ bildungen, 2003, hier auch zum königlichen Preußen und allgemein zur ethnischen Pluralisie­ rung Polens. 34 In Lemberg lebten aber bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts neben Ruthenen auch

28

Winfried Eberhard

des orthodoxen Metropoliten Halicz auch ein katholisches Erzbistum

( 1414 nach

Lemberg verlegt). So entstand eine ethnisch und konfessionell sehr starke Gemen­ gelage und Vernetzung. Der ruthenische orthodoxe Adel, dem polnischen katholi­ schen seit

1430 rechtlich gleichgestellt, vollzog seit dem 15. Jaluhundert eine ra­

sche Akkulturation durch vor allem gesellschaftlich motivierte und von der seit Ende des

14. Jahrhunderts organisierten Mission unterstützte Übertritte zur katho­

lischen Kirche sowie durch eine sprachlich-kulturelle Polonisierung.35 Ruthenisch und orthodox blieben die Bauern und wenige Städter. Zumal die Städte um

1500

äußerst multiethnisch geprägt waren: Deutsche und Italiener stellten die Führungs­ schicht, und außer Ruthenen und Polen lebten hier in privilegierten Rechtsberei­ chen vor allem die im Handel engagierten Armenier und Juden. Zwischen den Pri­ vilegierten und den Ruthenen entstanden schon damals sozial-ethnische Konftik­ te.36 Die Verschränkllllgen etlmisch-sprachlicher,

sozialer lllld konfessioneller

Gruppierungen und Prägungen wurden dann jedoch erst im

20. Jaluhundert zum

Anlass von dauerhafteren und vor allem wechselnden Konflikten, nicht zuletzt in­ folge der polnischen Assimilationspolitik der Zwischenkriegszeit37 Eine weitere ethnische Pluralisierung durch Ostexpansion erführ das polnische Reich in der erwalanten Union mit Litauen

( 1385) nach der Tanfe von dessen Fürs­

ten Wladyslaw Jagiello . Durch Aufnahme in die Wappenverbände polnischer Adelsgeschlechter, durch Zugang zu den Staatsämtern und Gleichstellung des Adels - auch des orthodoxen ruthenischen - mit dem polnischen, mit dem er frei­

1563 wirklich gleichberechtigt war,38 assimilierte sich der litauische Adel bis ins 16. Jaluhundert allmalilich an die polnische Sprache und Kultur 39 Die Union wurde 1569 sogar staatsrechtlich intensiviert. Aber im 19. Jahrhundert "er­ wachten" die ethnischen Litauer und erstrebten schließlich im 20. Jaluhundert eine lich erst seit

eigene Nation - in Ablehnung der Konzeption eines plurinationalen Staates der Litauer, Polen lllld Weißrussen.40 Eine vor allem ökonomisch und kommerziell gewichtige Expansion gelang Po­ len schließlich

1454, als sich das westliche Deutschordensland mit seinen bedeu­

tenden Städten der Krone Polen als "Königliches Preußen" inkorporierte. Neben adeligen und bäuerlichen Polen anf dem Land sowie bürgerlichen

am

Rand der

Städte waren diese politisch und gesellschaftlich ganz deutsch geprägt 4! Konflikte entstanden hier wie in Großpolen ( ,Provinz Posen") - im preußischen Teilungsge­ ' biet Polens - erst mit der aggressiven Assimilations- und Besiedlungspolitik Preu­ ßens im

19. Jaluhundert und in der Zwischenkriegszeit des 20. Jaluhunderts 42

Polen, Deutsche und Juden: LUEKE, Das östliche Europa, 2004, 367f. 35 LUBKE, "Germania Slavica", 2007, 188. 36 SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 7, 9f. und 13. 37 BARDACH, De la nation politique a la nation ethnique, 1995, 26-28. 38 Die Gleichberechtigung mit der polnischen Szlachta galt aber in der Realität nur für Konvertiten: LUBKE, "Gerrnania Slavica", 2007, 187f. 39 BARDACH, De la nation politique a la nation ethnique, 1995, 23. 4() Ebd., 23-25. 41 SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 7-9. 42 GUNDISCH, Deutsche, 1999, 460f.

29

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

Neben den deutschen Neusiedlern bildeten vor allem die Juden seit der Epoche des Landesausbaus einen weiteren Faktor der ethnischen Pluralisienmg Ostmittel­ europas.43 Bereits zuvor hatten zwar die Juden in ostmitteleuropäischen Städten wie Prag oder Breslau oder als

hospites

in Ungarn ihre besonderen Siedhlllgen.

Aber erst der Landesausbau nach den Mongoleneinfallen motivierte auch die ge­ zielte Anwerbung von Juden für die neuen oder erweiterten Städte. So suchten vor allem die österreichischen, ungarischen, böhmischen und polnischen Herrscher sie seit dem

13. Jalnhundert mit dem Angebot größerer Freiheit und Absicherung an­

zulocken. Und sie fanden dort, dauerhaft vor allem in Polen, seit der Diskriminie­ rung in Frankreich und den Verfolgungen und Vertreibungen in deutschen Reichs­

14. Jalnhundert bessere Lebensmöglichkeiten. Die (1254), Bola IV. von Ungarn (1291), Bo­ leslav der Fromme ( 1264) und insbesondere Kasimir der Große von Polen ( 1334, 1367 fttr Rotreußen, 1388 fttr Litauen) erteilten den Juden Schutz- und Selbstver­ städten und Territorien seit dem

Könige Premysl Ottokar IL von Böhmen

waltungsprivilegien; in Polen erhielten sie auch Handelsfreiheit sowie eine eigene Stadt (Kazimierz) an der Königsresidenz Krakau. In Polen-Litauen konnten sich die Juden am kontinuierlichsten entfalten. Zu­ mal auch in die neu erschlossenen Länder Litauen und Rotreußen zogen zahlreiche Juden aus deutschen Regionen und beherrschten dort nun im

15. Jalnhundert in den

städtischen Zentren den Handel nach Polen. Der Zuzug vermehrte die Judenge­ meinden in Polen-Litauen in diesem Jalnhundert enorm . Daher sind gerade damals soziale Spannungen, mehrfache Rechtseinschränkungen und partielle Vertreibun­

16. Jalnhunderts erfuhren die polnischen und litau­ 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Im 16. Jalnhundert kulminierte auch die Entwicklung der jüdischen Selbstverwaltung im Kahal, einem obersten, fttr das gen zu beobachten. Anfang des

ischen Judengemeinden jedoch erneuten Zuzug durch sephardische Juden, die

ganze Krongebiet zuständigen Judenrat als Interessenvertretung gegenüber den Ob­ rigkeiten und als innerjüdische Regelungsinstanz in religiösen, sozialen und wirt­ schaftlichen Fragen. Die aus den deutschen Ländern Zugewanderten assimilierten sich sprachlich nicht an das Polnische, sondern entwickelten als Umgangssprache das Jiddische. Sie lebten in Polen-Litauen nicht nur in den Städten, sondern auch anf dem Land als Handwerker, Gasthaus- und Mühlenpächter und Verwalter von Adelsgütern . Konflikte mit den Bauern blieben dabei nicht aus . Einen erheblichen Einbruch erfuhr die Rechtssicherheit und Prosperität der Juden Mitte des

17. Jahr­

hunderts durch schwere Pogrome im Zusammenhang mit den Kosakenanfständen. Erst danach und als Reaktion daranf entstand das neue "Os�udentum" mit seiner religiösen Hinwendung zu Kabbala, Messianismus und Chassidismus und der Aus­ bildung des "Schtetl" als Kleinhandelszentrum mit Hausierern und Schänkwirt­ schaften. In Böhmen, wo Karl IV. die Juden noch besonders gefördert hatte, ihre Position aber danach bis Anfang des

16. Jahrhunderts durch gelegentliche Pogrome und

Vertreibungen aus den Städten immer wieder gefalndet war, blieb die Stellung

43

SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 1Of.; PETERSEN, Judengemeinde, 2003; LUBKE, Das östliche Europa, 2004, 368f.; PUTTKAMER, Slowakei, 1999, 380; BOECKHiGLASS{fOCHTENHAGEN, Juden, 1999.

30

Winfried Eberhard

Prags als Zentrum der böhmischen Juden dennoch ganz herausragend. Um

1600

lebte hier noch etwa die Halfte aller böhmischen Juden. Aber auch in böhmischen und mährischen Kleinstädten und Dörfern hatten sich - wohl durch die genannten Vertreibungen - Judengemeinden gebildet, die hier unter der Protektion des Adels vor allem vom Kleinhandel mit Textilien lebten. Durch Rüchtlinge aus Polen und

17. Jahi­ 11. ( 1781/82)

aus Wien erhielten die böhmischen und mährischen Judengemeinden im hundert noch Verstärkung. Bis zum Toleranzpatent Kaiser Josephs

mussten sie unter Karl VI. und Maria Theresia allerdings zunehmende rechtliche und wirtschaftliche Einschränkungen hinnehmen. In Ungarn bildeten sich im Mittelalter Judengemeinden wie anderswo ebenfalls in den Städten, wo sie auch gelegentlich unter Vertreibungen zu leiden hatten. Aber das Wachstum der jüdischen Bevölkerung ist hier vor allem im

16. Jahihundert zu

beobachten. Am sichersten war ihr Status in Siebenbürgen lllld im osmanischen Ungarn, wo die neu zugewanderten Sepharden in Buda eine bedeutende Gemeinde bildeten. Außerdem bestand in Preßburg eine große jüdische Gemeinde. Weitere Einwanderungen erfolgten im

17.118. Jahrhundert aus Mahien und Polen, seit den

Teilungen Polens dann insbesondere aus Galizien, zwnal auch in die überwiegend deutschen Städte Oberungarns. Als bereits im Mittelalter relevante ethnische Gruppe sind schließlich noch die Armenier zu erwähnen. Sie bildeten als reiche Kaufleute vor allem für den Orient­ handel autonome Gemeinden sowohl in den Städten des ruthenischen Landes Ha­ licz (Galizien) - hervormheben ist hier Lemberg - als auch seit dem

17. Jahihun­

dert in Siebenbürgen. Die städtischen Obrigkeiten waren ihnen in Polen zwar nicht gerade wohlgesonnen. Dennoch wurden ihre Gemeinden zahlreicher und dehnten sich bis nach Kleinpolen aus.44 Die Grundlegung der e1hnischen Pluralität Ostmitteleuropas ist ganz deutlich aus den Interessen des mittelalterlichen Landesausbaus zu erklären. Für die Nach­ haltigkeit und Prägekraft dieser Pluralität als ostmitteleuropaische Struktur der longue duree45 bis in die Konflikte des 20. Jahrhunderts hinein, damit ebenso den Emanzipationsdiuck gegen herrschende E1hnien seit dem auch

für 19. Jahihundert, aber

für die Erinnerungskultur der ostmitteleuropaischen Nationen sind jedoch

zwei weitere Momente von entscheidender Bedeutllllg: Erstens folgten dem Lan­ desausbau des Mittelalters weitere

Migrationswellen in der Frühneuzeit.

Sie stei­

gerten und verstetigten die Multie1hnizität oder eine bereits vorhandene e1hnische Gruppe, so etwa die Deutschen in Ungarn oder Böhmen,46 aber auch die Juden, auf deren Zuwanderungen in der Frülmeuzeit bereits hingewiesen wurde. Zweitens ver­ stärkten die Expansionen lllld Grenzverschiebllllgen der Imperien ganz wesentlich

44

45

46

SAMSONOWICZ, La diversite ethnique, 1995, 12; ROTH, Armenier, 1999; LESNIAK, Armenier, 2004. Im französischen geschichtswissenschaftlichen Strukturalismus gehören zur Grundstruktur der "langen Dauer" nur sehr langfristige die Geschichte bestimmende Faktoren wie Landschaft und Klima. Daher ist darauf hinzuweisen, dass auch die ostmitteleuropäische Multiethnizität - obwohl sich verändernd wie Landschaft und Klima - eine solche langfristige Struktur ausge­ bildet hat, die darin zumindest mit der des Klimas und seinen Wechseln vergleichbar ist GUNDISCH, Deutsche, 1999, 459f.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

31

die ethnische Durchmischung, nicht zuletzt auch als Auslöser für die genarmten neuen Migrationswellen. Insbesondere das Habsburgerreich spielte hierbei schon frühzeitig für viele Regionen eine ganz herausragende Rolle. Auf das Osmanische Reich, das für die ethnische Pluralität eine besondere Behandlung verdienen würde, soll hier aber nicht eingegangen werden, da die in diesem Band behandelten Regi­ onen nicht unter seine Herrschaft fielen . Die Rolle der Imperien (ein spezielles Strukturproblem Ostmitteleuropas), die - neben der Belastung für die Identitätsbildung und -kontinuität ihrer Teilländer oder deren kolonialer Provinzialisierung - den Ralnnen und die Bedingungen aus­ formten für eine Verstärkung, Verlagerung und Überschichtung der ethnischen Plu­ ralität, soll hier zunächst skizziert werden 47 Durch die imperiale Expansion wurden die zusammengesetzten Monarchien komplexer, und ethnische Pluralität und Interferenzen wurden gesteigert. Neben und noch vor der Begünstigung von etlmokulturellen Überlagerungen durch wei­ tere Migrationen wirkte nämlich bereits die schiere Ausbildllllg lllld Expansion von Im perien für die Überwindung alter sprachlicher und kulturell er Grenzen und damit für Kulturkontakte und gegenseitige Beeinflussung , zumal auch in Grenzgebieten (etwa zwischen Ungarn und Österreich oder zwischen Oberungarn und Ruthenien! Ukraine) . In den letzten Jahren wurden Forschungen zu Grenzregionen verstärkt" und dabei Einflüsse, Anpassungsprozesse und Überlagerungen bis hinab in den Di­ alektbereich festgestellt (etwa zwischen dem südinährischen und süd- bis westböh­ mischen Tschechisch einerseits, dem Österreichischen lllld Bayerischen anderer­ seits49). Für kulturelle Interferenzen sind Grenzräwne eines der ertragreichsten Untersuchungsfelder. Der Fall, bei dem frülmeuzeitliche Imperienbildungen durch neue Grenzen alte Kontaktlinien kappten (wie die preußische Eroberung Schlesi­ ens), war dagegen eher selten. Dies war den Nationalstaatsbildungen und den Welt­ kriegen des

20. Jahrhunderts, aber auch dem Sowjetimperium vorbehalten, als

Grenzen aus Grenzräwnen zu Trennlinien wurden.5o Weil es daher heute reizvoll ist, die einstigen ethnisch-kulturellen Überlagerungen und Verschräukungen gleich­ sam archäologisch auszugraben, karm die Langfristigkeit der allmählichen Formie­ rung dieser Verschränkllllgen, wie sie immer noch im Gedächtnis der ostmitteleuro­ paischen Länder und Nationen präsent ist, nicht genug betont werden. Die ethnisch­ kulturellen Überlagerungen dürfen freilich nicht romantisiert werden, sondern ihr Konfliktpotential ist stets mitzuberücksichtigen. Abgesehen von der Überlagerung alter Grenzen ist bei der Rolle der Imperien für die etlmische Pluralisierung zu bedeuken, dass die imperiale Zusammeufassung

47 Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa, 2007, zeigt die historiographische Ent­ wicklung in der Bewertung imperialer Erfahrungen; so etwa zur kulturellen Pluralität in der neuen Habsburg-Forschung (236-238), aber auch zur Wahrnehmung von Beherrschung und Unterdrückung (238 und 263); neuerdings findet sich aber etwa in der slowakischen Historio­ graphie auch eine positive Wertung der kulturellen Pluralität des Habsburgerreiches (271-273). 48 HLAVACEK, Der böhmisch-sächsische Grenzraum, 2007; Grenze im Kopf, 1999 (mit Lit); Gren­ zen in Ostmitteleuropa, 2000; FOHLOVÄ, Das ,.Grenzgebiet", 2008. 49 SRÄMEK, Zur Stabilität der deutschen Mundarten, 2006; DERs., Spezifika des tschechisch-deut­ schen Sprachkontaktes, 2003; DERs., Zur Wortgeographie, 1998. 50 WUNSCH, Grenzen, 1999, 1 5 f.

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ganz unterschiedlicher historischer Länder vor allem auch der horizontalen lllld vertikalen Mobilität neue Möglichkeiten und Impulse bot Dabei ist Zllllächst auf die Mobilität von Standeseliten hinzuweisen, die von außen kamen. Trotz ihrer quantitativen Begrenzung stellten sie keineswegs eine

quantite negligeable dar,

sondern gehörten zur Führungsschicht und bestimmten so

die ethnische und sprachlich-kulturelle Orientierung entscheidend mit Dies war bereits bei der Expansion Polens nach Rotreußen oder bei der Union Polens mit Litauen zu beobachten gewesen. Das gilt ebenso etwa für den neuen Adel in den böhmischen Ländern, der nach 1620 auf Grund der Konfiskationen im Zuge der Rekatholisierung aus ÖSterreich, dem Reich, Italien, Spanien und den Niederlanden nach Böhinen und Maluen kam, hier ansässig wurde und zu umfangreichem Güter­ besitz gelangte. Noch erheblich gesteigert wurde dieser Zuzug fremder Adelsfami­

lien nach den gegen Wallenstein und seine Anhänger 1634 verhängten Strafkonfis­ kationen, die zu einer zweiten Welle der Um verteilung von Grund und Boden fühi­ ten. Auch Heiratsverbindungen mit ausländischem Hochadel trugen zur Europäi­ sierung der böhinischen und mährischen Adelsfamilien bei.51 Neben den Adel tra­ ten als multiethnische Standeselite in den meisten Ländern, zumal in den habsbur­ gischen, die hohe Geistlichkeit und die zahlreichen Niederlassungen der neuen Orden in der Epoche der Rekatholisierung, die vielfach mit Deutschen, Niederlän­ dern, Schotten, Italienern und Spaniern besiedelt wurden. Dazu kamen die

für die

Imperien und ihre Mobilitätsangebote wichtigen Funktionseliten der Universitäts­

gelehrten, Kaufleute und Bergbauexperten. Das Heer von Verwaltungsbeamten und Militärs, Geistlichen und Intellektuellen, die vom Zentrum etwa des Habsburgerrei­ ches in die peripheren Länder kamen oder entsandt wurden, war ein weiteres Reser­ voir der Mobilität, in den böhinischen Ländern schon im 17. Jährhundert, danach die Lehrer im Zuge der habsburgischen Schulreformen des 18. Jaluhunderts. Ein breiteres Phänomen in der imperialen Länderzusammenfassllllg bildeten die Migrationen

aus ökonomischen Gründen.

Eine die vorhandene ethnische Plura­

lität verstärkende Rolle spielte im werdenden Habsburgerreich schon die neue deut­ sche Zuwanderung in Nord- und Westböhinen im Zuge des Anfang des 16. Jährhun­ derts aufblühenden Silberbergbaus und der sich besonders seit der zweiten Jaluhun­ derthalfte ausbreitenden Leinen-, Tuch- und Glasproduktion52, die Ende des 17. und Anfang des 18. Jaluhunderts zur Entstehung von Manufakturen und des Ver­ lagswesens führte.53 Diese Gewerbeentwicklung in den Grenzlandschaften Böh­ mens (Böhinerwald, Erz- und Riesengebirge) löste seit dem 16. Jaluhundert einen neuen Zuzug von Deutschen aus. Ein Zehntel aller vor 1 945 bestehenden Siedlun­ gen in Böhinen wurde zwischen 1650 und 1750 gegründet 54 Dies dürfte ganz über­ wiegend anf die deutsche Zuwanderung in die Gewerbeentwicklungsgebiete zu­ rückznführen sein. In Nord- und Westböhinen verschob sich so in der Frülmeuzeit

51 52 53 54

RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 353-361; HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 232f. KASPAruHoRÄK, Schlikove, 2009; PITTROFF, Böhmisches Glas, 1987; WOSTRY, Das Deutschtum Böhmens, 1939, 333-344. RICHTER, Die böhmischen Länder, 1974, 332-334. Ebd., 357.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

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die deutsche Sprachgrenze allmählich, so dass sie in etwa wieder den Stand aus der Zeit vor den Hussitenkriegen erreichte. 55 In Ungarn erhielt - nach der Zurückdrängung der Osmanen - die Anwerbung von Neusiedlern für die "Neoaquistica", die rückeroberten Gebiete, im 18. Jalnhun­ dert bis in die Zeit Maria Theresias besondere Bedeutung. Zllllächst waren es Ser­ ben, aber auch Böhinen, dann vor allem Deutsche ("Donauschwaben"), die auf Gütern von Magnaten lllld Bischöfen sowie durch die Monarchie insbesondere in den Gebieten der Militärgrenze Südungarns, im ungarischen Mittelgebirge, in Sla­ wonien lllld Syrmien, in der Batschka lllld im Banat angesiedelt wurden.56 Eben­ falls llllter Maria Theresia erhöhten die "Transmigrationen" (Ausweisllllg von Pro­ testanten aus Innerösterreich) die Zähl der lutherischen Deutschen in Siebenbürgen. Schon im 17. Jalnhundert waren in Siebenbürgen auch Armenier in die Gründung neuer Handelsstädte integriert worden.57 Nach der Annexion Galiziens (Halicz-Wolhyniens und Podoliens) samt Te­ schen und Teilen Kleinpolens durch die Habsburgerrnonarchie ergaben sich

für die

Politik der "Peuplierung" neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten.58 Mit dem Ziel der Modernisierllllg wurden zllllächst llllter Maria Theresia vorzugsweise deut­ sche katholische Kauft.eute, Handwerker und Fabrikanten , aber auch annenische Händler mit gewissen VergÜIlstigllllgen lllld Steuerfreiheiten zur Niederlassllllg in der neuen Provinz angeworben. Erst durch Joseph 11. wurde die Ansiedlungspolitik auch auf Bauern erweitert, um gemäß den physiokratischen Prinzipien in der Land­ wirtschaft einen Innovationsschub anzustoßen. Entsprechend der Toleranzpolitik des Kaisers konnten sich nun auch Nichtkatholiken frei ansiedeln. Neben deutschen Siedlern wanderten Polen, Ruthenen lllld Juden aus dem russischen Teilllllgsgebiet sowie Polen aus dem polnischen Reststaat ein. Andererseits zogen nllll anne "Ost­ juden" aus Galizien - infolge der Mobilitätsmöglichkeiten im Imperium - sowohl nach Oberungarn als auch und vor allem nach Wien. Die Besiedlungspolitik wurde auch auf die Bukowina ausgedehnt, zielte hier aber vorwiegend auf Kolonisten aus der Moldau. Obwohl die "Peuplierung" spätestens Anfang des 19. Jalnhunderts beendet wurde und in absoluten Zählen nur eine kleine Minderheit erfasst hatte,59 veränderte sie doch qualitativ die Bevölkerungsstruktur Galiziens und der Buko­ wina sowohl in den Städten als auch auf dem Land . Einen spezifischen Akzent er­ hielt diese Veränderung durch die Einrichtung des Volksschulwesens mit deutscher Unterrichtssprache und die Durchsetmng von Deutsch als interner Amtssprache. Auch das Zarenreich und Preußen initiierten ethnische Veränderungen in ihren Teil­ gebieten Polens und im Baltikum durch russische Zuwanderung sowie durch die

55 56

ScHLESINGER, Die böhmischen Länder, 1963, 47. GUNDISCH, Deutsche, 1999, 459 f. - Zum Prozess der Neubesiedlung demnächst die exemplari­ sche Tiefenanalyse durch Norbert SPANNENBERGER: Migration im Habsburgerreich im 18. Jahr­ hundert Deutsche Siedler in den süd-transdanubischen Dominien der Fürstenfamilie Ester­ hazy. Habilitationsschrift Leipzig 2011. 57 ROTH, Siebenbürgen, 1999, 372. 58 WUNSCH, Galizien, 1999, 167f.; MANER, Galizien, 2007, 49-53. 59 Im 19. Jahrhundert (um 1870) wurde die Zahl der Deutschen unter den etwa 3,5 Millionen Einwohnern auf 100.000 geschätzt. Sie lebten in 220 Siedlungen, davon fast die Hälfte in selb­ ständigen deutschen Gemeinden. MANER, Galizien, 2007, 52 und 146.

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Begünstigung zusätzlicher Ansiedlung von Deutschen in Westpreußen und in Groß­ polen. Insgesamt zeigt also die Frülmeuzeit eine bemerkenswerte Verstärkung der multi ethnischen Struktur vieler Regionen Ostmitteleuropas. Gleichzeitig beein­ flusste die imperiale Macht aber auch die soziale Hierarchie in den multiethnischen Landschaften. So erhob das habsburgische Imperium unwillkürlich oder gezielt die Deutschen zur Elite und das Deutsche

zur

Leitkultur.

Unter den strukturbildenden Faktoren Ostmitteleuropas ist - neben der ethni­ schen Pluralität und der Rolle der Imperien - auch die

konfessionelle Pluralität für

unser Thema von Bedeutung. Sieht man nur auf Polen und die ehemaligen habsbur­ gischen Länder, wo die Rekatholisierung seit dem 17. Jahrhundert nachhaltige Er­ gebnisse zeitigte, so kann die lang dauernde Prägekraft koufessioneller Vielfalt Ost­ mitteleuropas leicht aus dem Blick geraten. Bedenkt man jedoch die lange Koexis­ tenz der römisch-katholischen, griechisch-katholischen (unierten) und orthodoxen Kirchen im Südosten des historischen Polen-Litauen (heute West-Ukraine) sowie dasselbe konfessionelle Zusammenleben einschließlich des Protestantismus im südlichen Ostmitteleuropa (Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien, ehemaliges Jugosla­ wien), so kann deutlich werden, dass hier nicht nur die ethnische, sondern auch die koufessionelle Vielfalt und Verschränkung die Gesarntgeschichte mitbestimmt, ja, die Konfession zum Teil heute noch oder wieder als nationales Identitätsmerkmal fungiert 60 Das Fhänomen der koufessionellen Pluralität der historischen polnischen, böh­ mischen lllld llllgarischen Länder sowie der konfessionellen Dualität in den öster­ reichischen Ländern, die sich gegen katholische Könige durchsetzte, beruht zum einen auf der politischen, frühparlarnentarischen Partizipationsstärke des Adels und dessen ökonomischer Selbständigkeit aufgrund von Eigengütern ohne Lehensbin­ dung - zum anderen auf seiner darauf aufbauenden Vorstellung und Durchsetzung individueller adeliger Freiheit Die freie Koufessionswahl des Adels, die auch von den andersgläubigen Ständesgenossen nicht angezweifelt wurde, fularte in der Adelsrepublik Polen-Litauen zu vier reformatorischen Konfessionen. Sie wiesen jedoch weniger ethnische als eher regionale Schwerpunkte auf 61 Das Luthertum konsolidierte sich vorwiegend im königlichen Preußen, aber auch beim Adel Groß­ polens, der auch die Böhinische Brüderunität aufnahm und protegierte. Den Calvi­ nismus wählten insbesondere die Adeligen Litauens sowie Kleinpolens, wo sich auch die vom Calvinismus abgespaltenen Unitarier (Antitrinitarier) etablieren konnten. Etlmische lllld konfessionelle Gruppienmgen überkreuzten sich somit vor all em im Luthertum. Walnend durch Rekatholisierung und adelig-sarmatische Barockkultut>2 der Protestäntismus in Polen-Litauen bis ins 18. Jalnhundert bekanntlich fast ver­ schwand, blieb in Rotreußen (Galizien) die orthodoxe Kirche nicht nur erhalten,

60

ZACH, Der Balkan, 2004, 332 f. ; ROTH, Religion und Konfession, 1999, 47; Nationalisierung der Religion, 2006. 61 ScHRAMM, Der polnische Adel, 1965; ScHMIDT, Auf Felsen gesät, 2000. 62 BCCOCKA, Das alte Polen, 1983, 160 und 178--194; DIES., World of the "Sarmatians", 1996; TAZBIR, Sarmaci, 2001.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

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sondern stärkte die ethnische Identität der Ruthenen und akzentuierte deren Ab­ grenzung zu den Polen und anderen Ethnien bis ins

20. Jahrhundert, mmal die or­

thodoxe Kirche - anders als der orthodoxe Adel - auch nach der Union von Lublin nicht mit der katholischen gleichberechtigt wurde 63 Die Hoffnung auf diese Gleich­ berechtigllllg zwn einen, die Gegenreformation zum anderen flirrten d3Illl zur Union von Brest ( 1 596) zwischen orthodoxer und katholischer Kirche. Allerdings erfüllte sich die damit verbundene Erwartung eines Integrationsimpülses nicht, son­ dern es entstand dabei nur eine weitere konfessionelle Gruppierllllg, da einige or­ thodoxe Bischöfe ihre Zustimmllllg verweigerten lllld viele Ruthenen diese "Latini­ sierung" ablehnten. Künftig galt die tolerante Politik der Regierung aber nur noch den Unierten, die nichtunierten Orfhodoxen wurden alleufalls geduldet 64 Die At­ traktivität der Union wurde auf diese Weise dennoch nicht gefördert, sondern im Gegenteil dadurch vermindert, dass die erhoffte und versprochene Gleichstellung der unierten (griechisch-katholischen) Bischöfe mit den lateinischen ausblieb. So­ wohl in der religiösen Praxis der Gläubigen als auch in der Architektur und Ausstat­ tung der Kirchen sind allerdings in der Frtilmeuzeit manche Synkretismen und In­ te:rferenzen zwischen Katholiken einerseits und Unierten oder Orthodoxen anderer­ seits zu beobachten.65 Die Union zeigte im Ergebnis ambivalente Konsequenzen: Einerseits nahin die religiöse Kultur der Ruthenen durch die Vermittlung der Unier­ ten Einflüsse des lateinischen Westens auf, andererseits entwickelte sich die grie­ chisch-katholische Kirche zum Kern eines eigenen ruthenischen Selbstbewusst­ seins und damit einer allmählichen Nationalisierllllg, während die nichtllllierten Orthodoxen zwn Tor für russische Einwirkllllgen wurden.66 Die Abgrenzllllg zu den Polen, in deren Händen die Verwaltung der Provinz weitgehend lag, verband die Formierung einer ruthenischen Nationalität jedoch im 19. Jahrhundert auch mit ei­ ner besonderen Loyalität gegenüber der österreichischen Monarchie.67 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass langfristige ethnisch-konfessionelle Übereinstimmungen, aber auch Interferenzen (ruthenisch-orthodox/ruthenisch-uniert) in Polen-Litauen neben den orthodoxen Regionen des litauischen Reichsteils vor allem in Rotreußen! Galizien zu verfolgen sind. Anders als in Polen folgten in Ungarn die koufessionellen Gruppierungen weit­ gehend den ethnischen. Wahrend der ungarische Adel mit seinen Gütern überwie­ gend für den Calvinismus optierte, nahmen die Deutschen in Siebenbürgen und den oberungarischen Städten durch die Verbindung ihrer Geistlichen mit Wittenberg das Luthertwn an.68 Mit der Koexistenzordnllllg der "Vier rezipierten Religionen" der Katholiken (Großteil der Szekler) , Calvinisten, Lutheraner und Unitarier ("An-

63 LUBKE, "Gerrnania Slavica", 2007, 188f. 64 WUNSCH, Die religiöse Dimension, 2004, 67. 65 Ebd.; KERYK, Artists, 2010, 147-155. 66 WUNSCH, Galizien, 1999, 167f.; TURIJ, Die griechisch-katholische Kirche, 2007; VULPIUS, Feind und Opfer, 2007; zu den Konsequenzen der Union auch TAZBIR, Polen, 2000, 89-93. - Zur jüngsten Entwicklung der griechisch-katholischen Kirche im 20. Jahrhundert Churches In­ between, 2008. 67 WUNSCH, Galizien, 1999, 169. 68 TÖTH, La Reforme, 2003, 260; FATA, Ungarn, 2000, 68-73, 98, 101 und 104.

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titrinitarier") etablierten sich seit 1571 in Siebenbürgen zwar auf politischer Ebene Konsenszwang und ständische Toleranz. Für die Siebenbürger Sachsen wurde aber - durch den entschiedenen konfessionellen Gegensatz zwn Calvinismus - das Lu­ thertum zu einem besonderen ldentitäts- und Integrationsfaktor in Abgrenmng zum magyarischen Adel und m den orthodoxen Walachen - bis hin zur Nationalisierung der Koufession in Verbindung zum Deutschen Reich im 20. Jalnhundert 69 Die rumänischen Orthodoxen in Siebenbürgen, die den Metropoliten der Mol­ dau lllld der Walachei llllterstanden, zählten nicht

zu

den "rezipierten Religionen"

und erfuhien im 16. Jalnhundert insbesondere von Seiten der Calvinisten einen deutlichen Konversionsdruck, der jedoch letztlich erfolglos blieb. Die rumänisch­ orfbodoxe Kirche konnte sich im Gegenteil Anfang des 17. Jahrhunderts wieder stabilisieren, lllld ihre Priester erhielten größere Freiheiten, wenn auch keine Gleichberechtigllllg.7o Auch die ostungarischen Komitate umfassten eine ortho­ doxe Bevölkerung - zum Großteil aus Ruthenen -, die nach dem ,Jangen Türken­ krieg" infolge Neubesiedlung durch Rumänen und Serben noch verstärkt wurde 7! Die soziale und rechtliche Gleichstellung erreichten hier die orthodoxen Geistli­ chen, die sich seit 1646 mehrheitlich einer Union mit Rom anschlossen.72 Auch in dem 1691 der Habsburgermonarchie eingegliederten Siebenbürgen fand sich eine orfbodoxe Synode zur Union bereit, die zwischen 1 697 und 1701 dann auch vollzo­ gen wurde und die den Geistlichen nun die gesellschaftliche Gleichberechtigung brachte, obwohl sie sich letztlich der Oberaufsicht des Erzbischofs von Gran nicht entziehen konnten 73 Neben der so entstandenen griechisch-katholischen Kirche der Ruthenen und der Rumänen blieb in Ungarn wie in Polen freilich die grie­ chisch-orfbodoxe Kirche erhalten, so dass durch die Unionen der konfessionelle Pluralismus - nun auch innerhalb der ethnischen Gruppen - sich noch steigerte. Die griechischen Katholiken der Rumänen und Ruthenen spielten auch hier wie in Ga­ lizien eine bedeutende Rolle bei der Entstehung ihrer Nationalkulturen, nicht m­ letzt wegen des höheren Bildungsstandes des Klerus im Vergleich mit dem orfbodo­ xen. Im Rumänien der Zwischenkriegszeit fand sich allerdings die griechisch-ka­ tholische Kirche in einer prekären nationalen Konkurrenz zu der sich als Staatskir­ che betrachtenden orthodoxen Kirche 74 Anders als in Siebenbürgen übergriff das Luthertum in Oberungarn die ethni­ schen Grenzen, da es in den Städten des mittleren Oberungarn und der Zips auch von Slowaken angenommen wurde, während wngekehrt deutsche Bauern großen-

69 70 71 72

ZACH, Nation und Konfession, 2004; FATA, Ungarn, 2000, 97-118. FATA, Ungarn, 2000, 115-118 und 251-253. Ebd., 228. Ebd., 228-23 1. 73 Ebd., 280-283; im Einzelnen GYÄRFÄS, Union, 2007. -Zu den Spannungen zwischen den grie­ chisch-katholischen und den ihre Jurisdiktion betonenden römisch-katholischen Bischöfen im 18. Jahrhundert samt ihren nationalen Implikationen BAHLCKE, Ungarischer Episkopat, 2005, 298-308. 74 MANER, Multikonfessionalität, 2007. - Im Übrigen zu den Entwicklungen der Position der griechisch-katholischen Kirchen im Zusammenhang mit den Nationsbildungsprozessen die Beiträge in dem Band Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

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teils katholisch blieben 75 Die slowakischen Protestanten - ähnlich wie die tsche­ chischen und auch in Verbindung mit diesen - wurden dann im 19. Jahihundert m wichtigen Akteuren der Nationalbewegung 76 Die konfessionelle Gemeinsamkeit mit den Deutschen Oberungarns blieb also ethnokulturell und national gesehen un­ erheblich. Trotz der Gegenreformation, die der katholischen Kirche in Ungarn wieder ei­ nen Bevölkerungsanteil von fast 50 % verschaffte, blieb im gesamten historischen Ungarn und in besonderem Maße in Siebenbürgen die multikonfessionelle Struktur - im Unterschied zu Polen und Böhmen-Mahien - bis ins 20. Jahihundert erhalten, infolge mehrerer sowohl landespatriotisch als auch konfessionell motivierter Adels­ anfstände vom Anfang des 17. bis Anfang des 18. Jahihunderts 77 Die Reformierten (Calvinisten) empfinden sich daher bis heute als besondere Repräsentanten der ma­ gyarischen Nation 78 Eine etlmische Stärkung brachte die Reformation in Ansätzen auch für die Slo­ wenen durch Gottesdienst und Predigt in der Volkssprache und durch Bibelüberset­ zungen, Katechismus und Grammatik und damit die Grundlegung der Schriftspra­ che. Insbesondere der Refonnator der Südslawen Primus Truber wirkte hierfür, in­ dem er zwischen 1550 und 1582 protestantische Katechismen und Übersetzungen des Neuen Testaments in slowenischer Sprache anfertigte, die durchweg im Her­ zogtum Württemberg gedruckt wurden. Als Superintendent im Herzogtum Krain verfasste er auch eine slowenische Kirchenordnung. Ein entscheidender Einfluss anf die Entwicklung der slowenischen Schriftsprache kommt aber vor allem der ersten ÜbersetZllllg der gesamten Bibel zu, die von einem Truber-Schüler angefer­ tigt, von den innerösterreichischen Ständen finanziert und 1584 in Wittenberg ge­ druckt wurde. Von der Reformation wurden in Kärnten und Krainj edoch vor allem der Adel und das Stadtbürgertum erfasst, die slowenischen Bauern allenfalls am Rande. Die Gegenrefonnation, die Erzherzog Ferdinand von Innerösterreich wn

1600 ganz entschlossen durchznführen begann, setzte sich bis 1628 in allen inner­ österreichischen Ländern durch, am raschesten lllld erfolgreichsten im Herzogtwn Krain.79 Im Ergebnis konnte sich die ethnische Identität und Abgrenzung der Slowenen somit nicht anf die Konfession stützen, obgleich der sprachliche Entwicklungs­ schub durch die Reformation nicht unterschätzt werden darf. In Böhinen und Mahien hatte sich der konfessionelle Pluralismus infolge der hussitischen Revolution schon seit dem 15. Jahihundert entwickelt80 und wurde im

16. Jährhundert noch ausgeweitet durch die Rezeption des Luthertums in den

75 PUTTKAMER, Slowakei/Oberungarn, 1999, 380f.; FATA, Ungarn, 2000, 68f. und 80f. 76 HOENSCH, Die Entwicklung der Slowakei, 1995, 1 1 8 f. und 123. 77 TÖTH, L'histoire du XVlle siec1e, 2003. 78 SPANNENBERGER, Ein Phänomen im Grenzraum, 2007, 1 54; BRANDT, Konfessionelle und natio­ nale Identität, 2002. 79 Katholische Reform, 1994; WINKELBAUER, Ständefreiheit, 2003, 11, 43-55; STROHMEYER, Kon­ fessionszugehörigkeit, 2006. 80 EBERHARD, Konfessionsbildung und Stände, 1981.

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deutschsprachigen Regionen und Städten. SI Der zuvor bestehende Gegensatz zwi­ schen katholischen Deutschen und mehrheitlich hussitischen Tschechen war damit aufgelöst Die protestantischen Ständeaufstände von 1547 und vor allem 1618-

1620 wurden vom deutschen ebenso wie vom tschechischen böhmischen Adel ge­ tragen. Iufolge der Niederlage des Aufstands am Weißen Berg 1620 konnte jedoch die Gegenreformation nach innerösterreichischem Vorbild das Land koufessionell vereinheitlichen, obwohl in manchen Grenzregionen zu Schlesien und Ungarn ein gewisser Kryptoprotestantismus bis ins 18. Jahrhundert erhalten blieb. Für die Re­ katholisierung und katholische Barockkultur spielte im Übrigen auch der internati­ onale Adel eine bedeutende Rolle, der - wie erwähnt - die konfiszierten Güter der Protestänten und der Wallenstein-Anhänger aufkaufte. Obwohl Böhinen und Mahren auch im 19. Jahrhundert fast ganz katholisch blieben, erreichte die protestantische Vergangenheit durch das historische Gedächt­ nis der tschechischen Nationalbewegung - eine longue duree eigener Art - eine neue Wirkung. Der Prozess der nationalen Identitätsfindung wurde nämlich in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts vor allem auch von Protestanten angefnhrt und von der Geschichtskonstruktion Frantisek Palackys inspiriert. So fand die Nations­ bildung in der als nationale Blütezeit gedeuteten Epoche von Hussitismus, Refor­ mation und Ständestaat ihre spezifische ideologische Grundlage der historischen Legitimation.82 Trotz neuer evangelischer Kirchen nach Josephs 11. Toleranzpatent und trotz Gründung einer neuen hussitischen Nationalkirche 1 9 1 9 bedeutete dies jedoch keine wirkliche Renaissance des Protestantismus. In Abgrenzllllg zur habs­ burgischen katholischen Staatskirche - insbesondere in der Zeit des Neoabsolutis­ mus des 19. Jahrhunderts - wurden die antiklerikalen nationalen Tschechen eher nichtkatholisch als protestäntisch. Die als Nationalkirche gedachte Tschechoslowa­ kische Hussitische Kirche blieb bis heute eine kleine Minderheit, ebenso die Kirche der Böhinischen Brüder. In unterschiedlicher Weise hat sich die koufessionelle Pluralität, die sich durch imperiale Expansion Polens im 14.115. Jahrhundert und der Habsburgermonarchie im 16.-18. Jahrhundert noch erweitert hatte, in den Ländern Ostmitteleuropas so­ mit als kulturelle Struktur der longue duree ausgewirkt: als Überschichtung der ethnischen Gruppierungen oder als deren zusätzliche kulturelle Akzentuierung bis in die Nationalbewegungen hinein. Die Komplexität der koufessionellen Situation entfaltet teilweise bis heute ihre Wirkungen, insbesondere bei der Koexistenz von Orthodoxie und lateinischem sowie griechischem Katholizismus in der Ukraine lllld in Rumänien.83

81 EBERHARD, Die deutsche Reformation, 1992. 82 FrantiSek Palacky, 1 999; Spor 0 smysl ceskych dejin, 1 997 (eine historiographischeAnthologie der am Thema beteiligten Autoren.) - Zur Geschichtskonstruktion gehörte vor allem, dass durch die Niederlage der protestantischen Stände am Weißen Berg 1620 die tschechische Na­ tion in eine Zeit der Finsternis geraten sei, aus der sie erst jetzt durch die nationale Bewusst­ seinsbildung neu eIWache: MAMATEY, The Battle of White Mountain, 1981; PE1"R.A:N", Na tema mytu, 1993; HOJOA, Näbozenska persekuce, 1998. 83 Konfessionelle Identität und Nationsbildung, 2007; ROTH, Religionen und Konfessionen, 1999, 47-49.

Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen

39

Neben der ethnischen und der konfessionellen Pluralität Ostmitteleuropas ins­ gesamt wie auch seiner einzelnen Länder lllld Regionen bestimmte ein dritter, vom Westen differenter Strukturfaktor die Entwicklung bis ins 19.120. Jalnhundert: die

Relation zwischen Adel und Bürgertum.

Im Hoch- und auch noch im Spätmittelalter

hatte sich aus den Gefolgschaften der Herrscher, aus der Koukurrenz um Anhänger

bei den häufigen dynastischen Thronrivalitäten, aus den zahlreichen Abwehrkämp­ fen (etwa gegen das römisch-deutsche Reich, gegen Tataren und Osmanen) mit ih­ rem Kriegerbedarf lllld den dadurch motivierten Landschenkllllgen eine enorme Zunalun e adeliger freier Landbesitzer ergeben. Der hohe Anteil des Adels an der

Bevölkerung unterschied Ostmitteleuropa signifikant vom Westen 84 Da das diffe­ renzierende Lehenssystem fehlte, blieb diese große Masse des Adels zudem relativ amorph; sie war weder nach Lehensabhängigkeiten noch in Ständekorporationen (außer in den Böhmischen Ländern seit dem 15. Jalnhundert) gegliedert, sondern bildete in ihrem Selbstbewusstsein eine Gemeinschaft von prinzipiell Gleichen. Überdies stieg die breite Adelsschicht der kleinen Landbesitzer vom 13. bis 15. Jalnhundert in das adelige

corpus politicum anf,

das heißt zur politischen Partizipa­

tion in Reichs- und Landtagen, und beherrschte schließlich die regionalen Ebenen der Komitate bzw. Woj ewodschaften oder Kreise. Die Urbanisierung im Zuge des Landesausbaus des 13. Jalnhunderts und die politische ebenso wie die ökonomische Potenz der Städte verloren demgegenüber im Spätmittelalter an durchdringender Kraft Die durchschmttliche Größe der

Städte blieb geringer als im Westen. Anders als die flandrischen und italienischen Städte, Nürnberg, Köln oder Lyon erreichten sie in Gewerbe und Handel nie die Rolle von Expor1produktionsmärkten. Im Übrigen gab es vergleichsweise zu we­ nige lllld zu wenig bedeutende autonome Städte, so dass sie von dem die Land- lllld Reichstage beherrschenden Adel aus der politischen Mitbestimmung in der commu­

nitas regni

wieder verdrängt werden konnten. Die "politische Nation" blieb somit

anf den Adel - inklusive der adeligen hohen Geistlichkeit - begrenzt, neben dem auch keine bürgerliche

noblesse de robe aufkam.

Dies stellt die Kehrseite der ade­

ligen absolutismusresistenten Libertät dar, die sich seit dem 13. Jalnhundert in der Formierung von Landesgemeinden oder Reichsgemeinschaften

(communitas regni terrae) als Gegenüber wm Herrscher entwickelt hatte, um 1500 voll ausgebil­ det war und in ihrer Partizipationsstärke ein spezifisches Strukturmerkmal Ostmit­

oder

teleuropas bildete, das in seiner langen Dauer am ehesten mit England und Schwe­ den-Finnland zu vergleichen ist Aus dieser Libertät folgten auch der konfessionelle Pluralismus der ostmitteleuropäischen Reformationen und die ihm entsprechenden konfessionellen Koexistenz- lllld Toleranzlösllllgen.85 In den größten Reichen Ostmitteleuropas ist somit um 1500 gegenüber dem Westen eine wngekehrte quantitative, ökonomische lllld politische Relation zwi­ schen Adel und Stadtbürgertum zu beobachten: z. B. 4-5 % Adel in Ungarn, 7-8 % in Polen-Litauen gegenüber 1 % in Westeuropa; 2 % freie Bürger in Ungarn, 10 % in Frankreich. Infolge der Nachfrage nach Agrarprodukten durch den urbanisierten

84 85

Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 50--53. Ständefreiheit, 1996; Konfessionalisierung, 1999; TAZBIR, Toleranz, 1977; EBERHARD, Toleranz, 2010.

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Winfried Eberhard

Westen Europas und infolge des dementsprechenden und durch die Schwäche der Städte geförderten Desinteresses an Merkantilismus und Mannfaktur - außer in Böhmen86 - wurde Ostmitteleuropa in der Frühneuzeit zur Agrarperipherie des westlichen Europa. Der Adel, der auf die exportorientierteA grarwirtschaft anf sei­ nen Großgütern ausgerichtet war, die er sich im Spätmittelalter überdies noch viel­ fach aus dem Krongut angeeignet hatte, bedurfte der am Ausgang des Mittelalters einsetzenden Schollenbindllllg seiner Bauern. Die Konsequenz waren die verbrei­ tete "ostelbische" Gutswirtschaft und die bäuerliche Leibeigenschaft87 Die frühneuzeitliche Konzentration anf die Landwirtschaft und die ländliche Welt von Adel und Bauern sowie die Zurückdrängung des Stadtbürgertums zeitig­ ten ihre langfristigen Folgen in der Verspätung der Industrialisierung und geringen Ausbildung von Kapitalbürgertum und schließlich - in Zusammenhang damit - in den nationalen Selbstfindungsprozessen, in denen danach zu fragen war, wer die erstrangigen Repräsentanten der Nation und ihrer Werte seien. Ob die Länder Ost­ mitteleuropas im Dorf oder in der modemen Metropole, im Bauer oder im Bürger ihren nationalen Typus fänden, darüber gab es in den Debatten über nationale Selbstbilder und Modernisierung bis ins 20. Jalarhundert hinein ganz unterschiedli­ che Antworten. So war das tschechische Volk für die Literaten der ersten Halfte des

19. Jalarhunderts durch die bäuerliche Volkskultur geprägt, der Bauernstand wurde zur Basis der Nation und die "böhmische Hütte" (tsch.

chalupa, chaloupka)

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Metapher des Tschechentum s.88 Und die Frager Landesausstellung Böhmens von

1891 inszenierte in einem speziellen Pavillon die "böhmische Hütte" und die bäu­ erliche Volkskultur, die dann auch von der Kunstgewerbebewegung am Anfang des

20. Jalarhunderts rezipiert und akzentuiert wurde.89 Eine ähnliche Idealisierung des bäuerlichen Volkstums wurde auch für die Slowaken typisch, die noch im Ersten Weltkrieg m über drei Fünftel im Agrarsektor tätig waren.90 Wie die Slowaken stützten sich generell die sogenannten nichthistorischen Nationen - wie etwa die Ruthenen, Litauer oder Slowenen - in der Nationsbildung anf ihre bäuerliche Grundlage, da ihnen der eigene Adel als Träger der historischen Kontinuität und als "politische Nation" entweder fehlte wie bei den Slowenen oder durch Polonisie­ nmg , Magyarisienlllg oder Germanisienmg als Akteur der neuen ethnischen, an der Sprache orientierten Nation ausfiel, ja gegen den sich diese wenden musste.91 Aller­ dings wurde der Adel auch aus der tschechischen Nationalbewegung verdrängt, aus sprachlichen ebenso wie aus sozialen Gründen.92 Im Unterschied zu den Tschechen lllld den genannten nichthistorischen Nationen entwickelte sich dagegen in Polen und Ungarn die modeme ethnisch-kulturelle Nation aus der vormodemen politi­ schen Nation des Adels heraus, der hier in der Nationalbewegung die Initiative und

86 HOENSCH, Geschichte Böhmens, 1992, 283-286. 87 Szücs, Die drei historischen Regionen Europas, 1990, 6Of. 88 HROCH, Na prahu ll