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German Pages [263] Year 2018
Roger Jensen
Weit offene Augen Pilgern gestern und heute
Mit 20 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0843-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: © Roger Jensen
Inhalt
Eine Bewegung ist in der Theologie angekommen . . . . . . . . . .
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Vorwort. Sich auf eine Reise begeben . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Erzählungen. Sechs persönliche Pilgererzählungen . . . . Meine Wanderungen und Reisen – ein Sprungbrett . . . . Die Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela . . . . Die Kathedralen des Caminos . . . . . . . . . . . . . . . Die Wanderung beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinschaft und Gespräche in den Herbergen . . . . . Die Ankunft in Santiago . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wallfahrt zum Grab des Apostels Matthias in Trier . . Pilgern in Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Olavswege in Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . Das Olavserbe als kirchliche Herausforderung . . . . . . Pilgern in Italien (1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pilgerkirchen Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Arbeit der Opera Romana Pellegrinaggi . . . . . . . Pilgerreise nach Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilgern in Italien (2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Fuß nach Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wallfahrt in Kevelaer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilgern heute – ein komplexes und vielfältiges Phänomen
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Inhalt
2. Zum Verständnis des Pilgerwesens. Zentrale Perspektiven der Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Pilgern als Ritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Pilger – Religion in Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Studien zum heutigen Pilgerwesen . . . . . . . . . Norwegische Pilgerstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neueste internationale Studien . . . . . . . . . . . . . . . . Statistische Daten und Idealtypen . . . . . . . . . . . . . . Drei Aspekte des Lebens auf dem Camino . . . . . . . . . Das Pilgern als biographisches Programm . . . . . . . . . Rituelle Aspekte des Pilgerns . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterer Forschungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Pilger in Spätantike und Mittelalter. Wirklichkeitsverständnis, Motive und Praktiken . . . . . . Der Beginn – die Gräber der Märtyrer und die Reisen nach Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ersten Pilgerfahrten nach Palästina . . . . . . . . . . Die ersten Christen und das paulinische Vermächtnis . . Das Pilgerwesen des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . Die Gesellschaft des Mittelalters und die Zweiteilung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buße, Ablass, Fegefeuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die heiligen Stätten und die Reliquien . . . . . . . . . .
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4. Kritik am Pilgerwesen. Martin Luthers kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Pilgertheologie und -praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Pilgerwesen – Theologische Reflexion und Wahrnehmung der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Pilgern – die Arbeit am eigenen Heil . . . . . . . . . . . Erlösung als Geschenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Perspektiven auf das Pilgerwesen . . . . . . . . . . . Die seelsorgerliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Der heilige Ort als »anderer Ort« . . . . . . . . . . . . . . . Das Pilgerziel als »Götze« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Gier und Unmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöser Machtmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . Der Verrat am Nächsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist das Pilgern trotzdem erlaubt? . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu einer »alten« Begründung des Pilgerns?
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5. Auf der Suche nach dem Heiligen. Wenn »das Heilige« unterschiedlich erlebt und erfahren wird . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Ortes für die Verwirklichung des Subjekts . Unterschiedliche Erfahrungen mit heiligen Stätten . . . . . . . . Die heilige Stätte im westlichen Kulturkreis des Mittelalters . Die Reformation – auf der Suche nach einer anderen Rede von Gott und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die lebenden Reliquien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gegenwart Gottes in der Welt – in der Schöpfung und in Wort und Sakrament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heilige und die Erfahrung des religiösen Betrugs . . . . . Das Heilige und die performative Wende . . . . . . . . . . . . . Das Verständnis und der Gebrauch der Bilder . . . . . . . . . Der performative Wende als Deutungsperspektive . . . . . . . Heiliger Raum, heiliger Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Glaube an die Gegenwart Gottes in meinem Alltag . . . . . Die verschiedenen Perspektiven der Suche nach dem Heiligen . Volksschule, Pontoppidan und Zivilgesellschaft . . . . . . . . Pilgerschaft und Spiritualität – ein Memento . . . . . . . . . . 6. Gott und das Pilgern – heute. Auf der Suche nach theologischen Quellen zur Deutung der Pilgererfahrung . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen für die Rede von Gott und einer heutigen Theologie des Pilgerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begegnung mit der eigenen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . Die Begegnung von Tradition und Gegenwart – eine grundlegende dogmatische Untersuchung . . . . . . . . . . . Die Rede von Gott als Entsprechung zum menschlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rede von Gott und die Sinneserfahrung . . . . . . . . .
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Inhalt
Die Rede von Gott als »christliche Rede von Gott« . . . . . . . Die Rede von Gott ist ein Kampf darum, wie die Wirklichkeit zu erfahren und zu erleben sei . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rede von Gott zwischen Sprache und Wirklichkeit, zwischen Theismus und Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . Tradition als theologische Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Luthers Kleiner Katechismus als theologische Quelle für die Gegenwart – ein Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luthers Kleiner Katechismus – ein ökumenischer Text? . . . . . Ein kurzer Abriss des historischen Kontexts, der Form und Methode des Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Lektüre des Katechismus im Blick auf die Pilgererfahrung – vier wiederkehrende Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das erste Hauptmotiv: »fürchten und lieben« . . . . . . . . . Das zweite Hauptmotiv: »vertrauen« . . . . . . . . . . . . . . Das dritte Hauptmotiv: »dass wir« . . . . . . . . . . . . . . . Das vierte Hauptmotiv: »nicht aus eigener Vernunft noch Kraft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nähe und Distanz – zwischen damals und heute . . . . . . . . . . Die Pilgerwanderung als Einübung des Christentums . . . . . . . Katechismus und Lebensdeutung – Versuch einer Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist damit alles gesagt? Der Pilger als Wegbereiter zu einer neuen Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . Primärliteratur . Sekundärliteratur Internetquellen .
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Eine Bewegung ist in der Theologie angekommen
Eine Bewegung ist in der Theologie angekommen: die weltweite spirituelle Suchbewegung der Pilgernden. Sozialwissenschaftler, Ethnologen, Anthropologen und Geographen haben sich des modernen Pilger-Phänomens schon seit einer Weile angenommen, während es in der theologischen Forschung zu Unrecht weitestgehend still geblieben ist.1 Pilgern geht uns an, denn Menschen machen hier für ihr Leben wichtige Erfahrungen. Sind es auch religiöse Erfahrungen? Begegnungen mit dem Unbedingten, mit Gott? An populärer Literatur und vor allem Berichten von Pilgernden fehlt es nicht, hier tut sich ein dankbares Feld für die Forschung auf. Doch besonders spannend ist die Frage, was denn eigentlich von protestantischer und von katholischer Seite theologisch zum Pilgern zu sagen ist, etwa zu der Erkenntnis vieler Pilger, den Weg und seine Erlebnisse geschenkt bekommen zu haben. Andererseits lauern Werkgerechtigkeit und Selbstoptimierung als modernes Ablasswesen auch im Pilgerfach. Und auch Begriffe sind zu bedenken: »Pilgern« meint etwas völlig anderes als unter dem klassischen Begriff der »Wallfahrt« verstanden wird. Der meint ja überwiegend eine klar beschreibbare katholische Praxis. Das vorliegende Buch von Roger Jensen ist ein dankenswerter und notwendiger Beitrag, das Pilgern mit seinen Phänomenen theologisch wahrzunehmen und eingehend zu reflektieren. Es nimmt die Herausforderung an, die Pilgerpraxis systematisch zu beschreiben und den Aspekt der 1 Abgesehen von Detlef Lienaus jüngster Arbeit Religion auf Reisen, das jedoch die Fachgrenzen auch kreuzt. Siehe: Lienau, Detlef. 2015. Religion auf Reisen. Freiburg im Breisgau: Kreuz Verlag.
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Vorwort von Bernd Lohse
Erfahrung in die theologische Reflexion einzuspeisen. Ich schätze besonders den schöpfungstheologischen Aspekt, den Jensen mit seiner Arbeit eröffnet. Der skandinavische Zugang zu einer theologischen Behandlung des Schöpfungsthemas auf der Basis von Luthers Theologie ist uns gerade in Deutschland leider etwas fremd geworden durch die notwendige kontroverse Diskussion um die »Natürliche Theologie«. Hier schlägt die Prägung seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich durch. Einer dadurch entstandenen Blindheit kann Jensens Buch eine Sehhilfe sein. Roger Jensen hat sehr unterschiedliche Pilgertraditionen aufgesucht und, wie seine Fotos zeigen, auch dem Staunen Raum gegeben. Er hat sich auf die Suche nach der Religion hinter der mehr oder weniger religiösen Pilgerpraxis begeben. Pilgern spielt sich weitestgehend in Natur und Landschaft ab. Beides taugt wiederum zum Symbol für die inneren Landschaften eines Menschen. Pilgernde machen wesentliche Erfahrungen und erleben Transformationsprozesse. Sie kommen in Kontakt mit volksfrommen Traditionen, besonders aufgeladenen Orten und bilden eigene Rituale aus (hier ist die Forschung von Christina Kurrat und Patrick Heiser kostbar2). In der Pilgerschaft werden biografische Themen bearbeitet und Kirche wird als Begleiterin auf vielfache Weise nachgefragt. Es ist durchaus zu fragen, auf welche Weise und mit welchen Erwartungen die Bewegung der Pilgernden die Kirchen herausfordert. Dass die Pilgerbewegung ökumenisch ist und auch viele Menschen umfasst, die bisher keine Beziehung zu Kirche hatten, zeigt, wie notwendig eine Theologie des Pilgerns ist. Reizvoll ist auch die Beschäftigung mit Luthers sehr differenzierter Beurteilung des Pilgerns und es ist auch zu überlegen, ob nicht gerade die heute sichtbare und freie Form des Pilgerns sehr viel mehr einer lutherischen Theologie entspricht, die die Dinge dieser Welt ernst nimmt und als Ereignisort von Gottes Anspruch und Zuspruch, von Gottes Anrede sieht. Schließlich wäre auch eine körperfreundliche Theologie, die vielfältige Erfahrungen von Menschen wertschätzen und befragen kann, ein Segen und könnte die Theologie aus der Entkörperlichung holen, sozusagen vom Kopf auf die Füße stellen. Alle diese Fragen klingen in der Arbeit von Roger Jensen an. Man merkt 2 Heiser, Patrick und Kurrat, Christian (Red.). 2012. Pilgern gestern und heute. Soziologtische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. PThK24. Berlin: Lit Verlag.
Eine Bewegung ist in der Theologie angekommen
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diesem Buch an, dass Roger Jensen nicht nur Privatdozent ist, sondern als Pilgerpastor in Oslo auch mit der Pilgerpraxis vertraut ist. Seine Erfahrungen in der Begegnung mit Pilgernden befruchtet seine theologische Forschung. Der selbstverständliche Austausch und die Arbeit in pilgertheologischen Foren Skandinaviens oder Vorträge in deutschen Pilgerforen, etwa auf dem Kirchentag 2017 in Berlin, befruchtet diese Forschung zusätzlich. Das ist eine ideale Kombination. Roger Jensen öffnet mit seiner Arbeit am ersten Glaubens-Artikel in Verbindung mit Luthers Kleinem Katechismus die Augen für die schöpfungstheologische Fragestellung, die angesichts der globalen Herausforderungen für die geistliche Grundlegung modernen Gesellschaften sehr fruchtbar sein kann. Pilgern schärft die Sinne für einen anderen Lebensstil: schöpfungsnah, langsamer, nachhaltig, authentischer und spirituell. Ein Leben, das sich für die Begegnung mit der Fremde und den Fremden öffnet und die Grenze als den Ort sieht, an dem wesentliche Verwandlung geschieht. Ich wünsche diesem Buch starke Beachtung auch in Deutschland und freue mich sehr, dass es bei V&R erschienen ist. Pax et bonum. Bernd Lohse Pilgerpastor der ev. Luth. Kirche in Norddeutschland
Vorwort. Sich auf eine Reise begeben
Es wandern wieder Pilger auf den alten Pilgerwegen Europas. Und es werden mehr und mehr. Wenngleich die alten Wege genutzt werden und die Ziele die gleichen sind wie im Mittelalter, sind die heutigen Pilgerwanderungen dennoch ein neues Phänomen. Dies hat mich am meisten überrascht, als ich begann, mit Pilgern zu arbeiten und selbst zu pilgern, und es überrascht mich noch immer, wenn ich als Pilger unterwegs bin, anderen Pilgern begegne, und wenn ich die heiligen Stätten erreiche, die Kathedralen am Ende der Pilgerpfade. Die Menschen im Mittelalter hatten ihre Beweggründe für das Pilgern, wir haben unsere. Pilgern ist ein historisches Phänomen, das wir aus allen großen Kulturen kennen. Alles kann zum Pilgerziel werden, von »einer einzelnen Wanderung in der Natur oder zu einem Gebäude, zu einer Stadt oder einem ganzen Land. Die ersten Pilgerwanderungen gab es bereits in prähistorischer Zeit, erhielten aber wahrscheinlich im Laufe der Geschichte eine neue Bedeutung; andere gehen auf einen Propheten zurück, eine heilige Person oder eine Kirche, oder darauf, dass sich ein Heiliger oder ein Prophet an einem bestimmten Ort gezeigt haben. Alle großen Weltreligionen haben ihre Pilgerstätten, auch wenn nur der Islam das Pilgern als grundlegende religiöse Pflicht kennt.« So definiert das Große Norwegische Lexikon das Pilgern. Pilgern handelt von Bewegung, vom Reisen. Gleichzeitig kann eine Pilgerreise so vieles sein.
Reisen kann bilden, Reisen kann eine Verwandlung sein. Durch das Reisen kommt man emotional und kognitiv zu neuen Einsichten und neuen Erkenntnissen. Reisen kann auch bedeuten, neue Horizonte zu erforschen,
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Vorwort
Horizonte des Daseins und des eigenen Lebens, zur Vertiefung der eigenen Identität. Reisen birgt auch Überraschungen: Wie ich mein Leben betrachte, wie ich Natur, Kultur, Geschichte und Gemeinschaft erlebe – all dies kommt in Bewegung und kann sich auf eine Weise verändern, auf die ich nicht vorbereitet bin. Durch diese Prozesse gelange ich auch zu einer neuen Selbsterkenntnis, ich begreife mich selbst auf eine neue Weise. Fragen und Sehnsüchte, die üblicherweise meinen Alltag prägen, bekommen eine neue Richtung oder ändern ihren Charakter. So hat T.S. Elliot auf klassische Art und Weise das »Ausforschen« in seinem Gedicht »Little Gidding« aus der Reihe »Four Quartets« aus dem Jahr 1942 beschrieben: »We shall not cease from exploration, and the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time.« Reisen bedeutet nicht automatisch Lernen. Es ist nicht gesagt, dass das Unterwegssein mich tatsächlich verändert. Begegnungen und Erlebnisse unterwegs können wir wie alles andere in unserem Alltag auch bloß konsumieren, mit großer Gier und dem ewigen Wunsch nach mehr. Häufig sind wir als Touristen unterwegs; wir buchen Ferienreisen, besuchen Sehenswürdigkeiten und essen lokale Gerichte, und unsere Reiseversicherung haben wir auch rechtzeitig erneuert. Vielleicht geht es nicht anders in unserem allzu hektischen Leben, vermutet der jüdische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem berühmten Essay »From Pilgrim to Tourist – or a Short History of Identity« aus dem Jahr 1996.1 Denn auch das Reisen wird durch unser Konsumverhalten beeinflusst. Wir schaffen es häufig nicht, uns von der Shopping-Mentalität der Konsumkultur zu befreien. Für Bauman ist der heutige Mensch in der postmodernen Gesellschaft eher ein Flaneur, ein Mensch, der ohne Ziel und Richtung, gefangen von kommerziellen Kräften, durchs Leben geht. Hat etwa der Flaneur den historischen Pilger abgelöst? Meine Erfahrungen als Pilger lassen mich mit einem Jein antworten. Meine eigenen Erlebnisse und die Schilderungen anderer Pilger zeugen von Reisen, die ein größeres Potenzial haben, als es die Konsumkultur bieten kann – auch für den heutigen Menschen. Das Pilgern kann zum Gegenentwurf dieser Konsumkultur werden, es ermöglicht mir Überraschungen, die mein Leben auf unerwartete Weise ändern können. So wird die Reise zu 1 Bauman, Zygmunt. 1996. »From Pilgrim to Tourist – or a Short History of Identity« in: S. Hall und P. Du Gay (Red.) Questions of Cultural Identity. London: Sage, S. 18–35.
Vorwort
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einer Lehre, wenn ich bereit bin, mir die Zeit zu nehmen, die ich brauche, um die Eindrücke auf mich einwirken zu lassen. Gerade das Pilgern kann als Ausdruck für eine andere Art des Reisens und Daseins verstanden werden als für das, das sonst Raum in unserem hektischen Leben beansprucht. Als Pilger zu reisen heisst, offen zu sein für Unterschiede und Aspekte in unserem Dasein zu entdecken, die noch keinen Platz in unserem Leben gefunden haben, offen zu sein für unterschiedliche Menschen, Orte und Erlebnisse. Das Pilgern ermöglicht die Offenheit und den Willen, unterwegs den Blickwinkel zu ändern. Das Pilgern macht das Unterwegssein und das Leben zu einer Entdeckungsreise. Für viele hat diese Entdeckungsreise auch einen religiösen Aspekt: Die Erfahrung der Gegenwart Gottes, die die Welt als mehr und größer erscheinen lässt, eine Erfahrung der Gegenwart des Heiligen. Diese Gegenwart Gottes mag bedrohlich erscheinen, wird aber auch als sakramentale Nähe erlebt: Die Welt, wie ich sie unterwegs erlebe, verschafft einer Nähe zu Gott Raum, die mich bewahrt. Davon zeugen die Kirchen entlang des Weges. Diese Nähe, die größer ist als ich und mich ganz umschließt, eröffnet mir die Welt und macht sie größer und bedeutender, als ich es bin, und bestätigt sie gleichzeitig als den Ort meines Lebens. Die Nähe und das wochenlange Ausgeliefertsein gegenüber den Elementen, die physischen Herausforderungen und die Gemeinschaftserlebnisse in den Herbergen jenseits des Alltags führen bei Pilgern häufig zu einem anderen Bewusstsein für den transformativen Prozeß des Reisens als bei Touristen. Das Pilgern ist weit mehr als eine Innenschau und Suche nach der eigenen Identität in einer fremden Umgebung, und es ist mehr als nur der rein äußerliche Blick auf das Interessante, Spannende oder Nützliche. Pilger kommen mit ihrem ganzen Ich in Bewegung. Sie lassen sich von den Erlebnissen physisch und mental inspirieren, sie halten inne, sie spüren und erkennen die Möglichkeit einer Veränderung und Erneuerung. So ist der Pilger gerade dann zuhause, wenn er unterwegs ist. Pilgern ist Bewegung als Lebensstil – mit oder ohne Wanderstiefeln an den Füßen. Vielen Menschen ist für ihre Unterstützung und ihren Anregungen hier zu danken. Besonders möchte ich meine Kollegen an der Theologischen Fakultät der Universität Oslo wie auch die Pilgerpfarrer und -freunde in Skandinavien und in Hamburg für ihre Kommentare und Vorschläge hervorheben, und nicht zuletzt Reiner Schaufler für die deutsche Übersetzung.
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Vorwort
Ferner danke ich meinen Verlegern im norwegischen Novus-Vorlag und nun bei Vandenhoeck & Ruprecht, die mit grossem Interesse das Buch dem deutschsprachigen Publikum präsentieren. Ein Dank auch an Bernhard Kirchmeier und Marie-Carolin Vondracek. Nicht zuletzt ein großes Dankeschön an meine liebe Birgitte. Die Arbeit mit diesem Buch war auch eine persönliche Reise, in mehr als einer Hinsicht. Birgitte war eine entscheidende Hilfe, ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden. Oslo, 31. Oktober 2017 Roger Jensen
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Erzählungen. Sechs persönliche Pilgererzählungen Drinnen in der großen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel. Wölbung um Wölbung öffnete sich und kein Überblick. Ein paar Kerzenflammen flackerten. Ein Engel ohne Angesicht umarmte mich und flüsterte durch den ganzen Körper: »Schäme Dich nicht, dass du ein Mensch bist: Sei stolz! In Dir öffnet sich Wölbung um Wölbung, unendlich. Du wirst nie vollendet, und so soll es sein.« Die Tränen machten mich blind als ich hinausgeschoben wurde auf die sonnenüberflutete Piazza zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini, und in ihnen öffnete sich Wölbung um Wölbung, unendlich. (Tomas Tranströmer)2
Meine Wanderungen und Reisen – ein Sprungbrett Im Laufe meines Lebens habe ich unzählige heilige Stätten und Orte in Europa besucht. Ich habe die Überreste frühchristlicher Kirchen in Italien, Kroatien und der Türkei erlebt und alte Tempel in Griechenland gesehen. Ich saß in der Offenbarungsgrotte und wanderte durch das Kloster auf Patmos, ich fühlte mich klein im mächtigen Kölner Dom, dem Grab der heiligen drei Könige. Ich habe den Sund über das kleine, aber historisch bedeutsame Selja an der windigen Westküste Norwegens bei starkem Seegang in einem Boot überquert, und ich habe in der kleinen Kirche in Giske geheiratet, wo man immer noch das Kusskreuz der mittelalterlichen Pilger an der Ostwand sehen kann. Ich war an diesen Orten sowohl als Tourist wie auch als Forscher, ich habe ihre Architektur und Kunst studiert, meinen Gefühlen nachgespürt und darüber nachgedacht, was diese Orte und Gebäude mir über die Wahrnehmung der Wirklichkeit vermittelten, oder 2 Tranströmer, Romanska bågar – valv bakom valv. Aus der Gedichtsammlung »För levande och döda« (1989).
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Erzählungen
besser gesagt: Welche Kunde über die Realität sie zu geben versuchten. Oder aber ich habe mich dort für eine stille Andacht oder eine Gottesdienstfeier eingefunden, allein oder häufig mit Freunden und Familie. Den größten Teil meines Berufslebens habe ich mich als Wissenschaftler hauptsächlich mit dem Christentum und der Kirche intellektuell und analytisch auseinandergesetzt und mich als Pfarrer innerhalb der traditionellen kirchlichen Praxis bewegt. Die neuen Frömmigkeitspraktiken wie das Pilgern kannte ich fast ausschließlich aus der Literatur, als ich im Jahr 2010 als Leiter des neu gegründeten Pilgerzentrums in Oslo angestellt wurde. Von nun an sollte ich selbst als Pilger unterwegs sein, sowohl allein als auch als Führer für die Pilger auf ihrem Weg zum Nidarosdom in Trondheim. Meine Wanderungen waren persönliche Reisen, die sich auf das eigene Erleben und Erfahren konzentrierten, gleichzeitig war ich durch meine Arbeit an der Frage interessiert, was das Pilgern für die Menschen heute bedeuten kann. Würde ich meine Ankunft als Pilger auf die gleiche Weise erleben wie bei meinen früheren Besuchen? Was könnte ich bei anderen Pilger beobachten und von ihnen lernen? Wie begegnen die Kirchen den Pilgern auf dem Weg und am Pilgerziel? Und welche Bedeutung würde das Ziel, der heilige Ort am Ende der Reise für meine Wanderung haben? Was würde ich unterwegs erleben und beobachten? Und nicht zuletzt: Welchen Geschichten würde ich begegnen? Ich versuche in diesem Buch, zwischen den Begriffen Erfahrung und Erleben zu unterscheiden. Erfahrung meint mehr als Erleben. Während das Erleben für uns in der Situation unmittelbar wichtig, aber auch flüchtig ist, haben Erfahrungen mehr Substanz und erscheinen mehr solide. Erfahrungen sind reflektierte Erlebnisse, die wir internalisiert haben, von denen wir ein mehr oder weniger artikuliertes Verständnis haben. Wir können aus Erfahrungen weitaus mehr als aus Erlebnissen lernen. Zu starke Erlebnisse können wir nicht artikulieren. Wir können etwas ohne Vorkenntnisse erleben, aber wir können keine Erfahrungen machen ohne Kenntnis – das Wissen ist vielmehr eine Voraussetzung für unsere Erfahrungen. Das Wissen um das Pilgern ist somit eine Voraussetzung für unsere Erfahrungen als Pilger, während die Erlebnisse auf dem Pilgerweg eine wesentliche Grundlage bilden, auf der die Erfahrung aufbauen kann. Soll das Pilgern mehr als ein flüchtiges und unmittelbares Erleben sein, bedarf es des Wissens und der Reflexion, damit diese Erlebnisse zu Erfahrungen werden.
Meine Wanderungen und Reisen – ein Sprungbrett
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Im Folgenden möchte ich einige persönliche Erlebnisse und Erfahrungen von meinen eigenen Wanderungen und Pilgerreisen, die ich stets gemeinsam mit anderen unternahm, teilen. Als ich zum ersten Mal der zeitgenössischen Pilgerpraxis begegnete und ein Teil von ihr wurde, hatte ich noch keine Absicht, meine Erfahrungen zum Gegenstand der Forschung zu machen. Diese Idee kam erst später. Als ich mich nach der Rückkehr von meinen ersten Wanderungen in das Phänomen des Pilgerwesens vertiefte, zeigte sich, dass die Erzählungen der anderen Pilger mit meinen eigenen Erfahrungen zusammenhingen und bereits Gegenstand der Forschung waren. Meine subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen trugen etwas allgemein Wiedererkennbares in sich. Ich begegne der Praxis und der Theorie des Pilgerwesens also sowohl als Pilger, Wissenschaftler und Pfarrer. Obwohl ich in diesem Kapitel streng genommen keine ethnographische Feldforschung präsentiere, sind meine Beobachtungen durch dieses Gebiet inspiriert und wurden im Verlauf des Prozesses zunehmend systematischer. Ich habe meine Teilnahme und meine Beobachtungen im Blick auf meinen eigenen Lernprozess reflektiert und stets schriftlich nachgearbeitet. Diese Arbeit vollzog sich in zunehmend fachlicher Perspektive und bildet auch die Grundlage für weitere Studien. In diesem Buch dient sie indessen mehr als Sprungbrett und Eingangspforte in die Forschung, die ich im Weiteren präsentieren möchte. Obwohl ich hier im Wesentlichen nicht fachlich-analytisch arbeite, sondern meine Erfahrungen teile, orientiere ich mich an den forschungsethischen Richtlinien der Geistes- und Sozialwissenschaften. Über meine eigenen Erzählungen kann ich frei verfügen, die Berichte anderer habe ich soweit anonymisiert, dass die Personen nicht mehr zu identifizieren sind. Meine Beobachtungen machte ich als Pilgerführer im öffentlichen Raum und in Kirchen. In der Begegnung mit Menschen entlang des Weges habe ich nie verborgen, dass ich (auch) als Forscher arbeite, im offiziellen Kontakt mit Personen und Instanzen habe ich dies explizit verdeutlicht. Ich habe keine Materialien und Filme gespeichert oder wiedergegeben, durch die Personen mit bestimmten Aussagen in Verbindung gebracht werden können.3 3 https://www.etikkom.no/Forskningsetikk/Etiske-retningslinjer/Samfunnsvitenskapjus-og-humaniora/.
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Erzählungen
Ich arbeite in einem Bereich, in dem ich mehr und mehr zum aktiven Teilnehmer wurde. Meine konkreten Beiträge zur Forschung auf diesem Feld sind hauptsächlich und in weitem Sinne theologisch. In meiner theologischen Arbeit beziehe ich mich auf aktuelle, allgemeine wie fachspezifische Diskurse sowie auf kulturelle und politischen Debatten im Bereich des Pilgerwesens, der Kirche und der Theologie.4 Dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld, sowohl historisch als auch angesichts der derzeitigen Praktiken. Als Theologe ist man stets auch in irgendeiner Form Teilnehmer an der kirchlichen Praxis. Durch die Arbeit mit diesem Buch wurde ich in meiner Rolle als Pilger und Pilgerforscher immer mehr heimisch. Meine Forschungsarbeit zielt deshalb auch darauf, für alle diejenigen, die in der einen oder anderen Form mit dem Pilgerwesen Kontakt haben oder Verantwortung für die Pilger tragen, in konstruktiver und kreativer Weise zur Weiterentwicklung der Pilgerpraxis beizutragen.
Die Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela Im Herbst 2010 war ich zum ersten Mal nach Santiago de Compostela unterwegs, dem wichtigsten europäischen Pilgerziel der Gegenwart. Die Gelegenheit war günstig, da 2010 ein heiliges Jahr in Santiago war, an dem der Todestag des Apostels Jakob auf einen Sonntag fällt, und deshalb mit einer Verdoppelung der Pilgerzahlen zu rechnen war. Die Statistiken haben dies später bestätigt – mehr als 270 000 Pilger kamen 2010 nach Santiago, im Jahr zuvor waren es 145.000 Menschen, im Jahr darauf fiel die Zahl wieder auf 180.000. Ich hatte fast zwei Wochen zur Verfügung für meine Reise. Ich wollte einerseits die wichtigsten historischen Pilgerziele und Kathedralen im Blick darauf besuchen, ob es dort noch religiöse Praktiken gibt, die bereits seit dem Mittelalter existieren. Darüber hinaus wollte ich die Gedanken und Erfahrungen der heutigen Pilger kennenlernen und nicht zuletzt die Strapazen der Wanderung selbst erleben. Zuerst besuchte ich mit dem Auto die wichtigsten Kathedralen und Pilgerzentren, vor allem die Kathedrale von Ourense an der Via de la Plata, dem Pilgerweg, der sich vom Süden aus nach 4 Vgl. Lerheim, Birgitte. 2009. Vedkjenning og gjenkjenning, S. 20.
Die Pilgerwanderung nach Santiago de Compostela
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Santiago erstreckt. Danach wanderte ich von Sarria aus die letzten 110 Kilometer nach Santiago auf dem Camino Frances, dem sogenannten französischen Weg, auf dem die meisten Pilger nach Santiago unterwegs sind. Fast die Hälfte von ihnen beginnt ihre Wanderung in Sarria.
Die Kathedralen des Caminos Ich interessierte mich besonders für die Jesus-Skulpturen mit dem wachsenden Haar in den Kathedralen von Burgos und Ourense. Lassen sich dort noch Reste der geheimnisvollen Aura oder des »Schauspiels« erleben, das einst hier und in ganz Europa lange Zeit eine lebendige Praxis war? Gab es noch einen Kult oder ein Interesse für diese Skulpturen? In der Kathedrale von Burgos begegnete ich zufällig einer Familie. Die Mutter war Französischlehrerin an einer Universität und wollte gerne einem Pilger helfen, der sich anscheinend nicht auskannte. Besonders einen Gegenstand sollte ich unbedingt sehen: Den so genannten »Christus von Burgos«, ein Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert mit menschlichem Haar und Haut aus Büffelleder5, das sich ursprünglich in einem Augustinerkloster befand, bevor es im 19. Jahrhundert nach einem Brand in die Kathedrale gebracht wurde. Der Legende nach musste das Kruzifix jeden achten Tag rasiert werden. Meine vorsichtige Frage danach, ob sie dies glaubten, wurde bejaht. Gelegentlich verweilten Menschen in stiller Andacht in der kleinen Kapelle, in der sich das Kruzifix befand. Das berühmteste Kruzifix mit wachsenden Haaren befindet sich in Ourense. Im Mittelalter versammelten sich davor Scharen von Pilgern in der Hoffnung auf das Versprechen der Vergebung und Heilung. Auch hier musste ein Barbier wöchentlich Bart und Haare schneiden. Bereits die Herkunft der Skulptur war ein Wunder. Sie wurde im Meer schwimmend aufgefunden und zusammen mit den beiden anderen »Trillingskruzifixen« nach Ourense gebracht. Die anderen befinden sich nun in Burgos und Finisterre (Christus mit dem goldenen Bart, der ebenfalls wuchs). Zusammen mit dem Kruzifix in Muxia, das an heiligen Tagen schwitzte (wie das berühmte Kruzifix im norwegischen Røldal), galten diese Kreuzesfiguren als 5 http://grahamward.blogspot.no/2009/09/blog-post_30.html.
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Bild 1: Menschen in stiller Andacht vor der Jesus-Skulptur mit dem wachsenden Haar in Burgos, »El Christo de Burgos«. Foto: Roger Jensen.
besonders heilig. Jeden Ostersonntag wird das Kruzifix in Finisterre in einer Prozession herumgetragen und der Rosenschmuck Kranken überreicht.6 Für die überwiegende Mehrheit der heutigen Pilger ist dies ein exotisches 6 http://www.audioguiasonline.com/en/audioguia_ourense-en_196.html, http://es.wiki pedia.org/wiki/Santo_Cristo_de_Finisterre.
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Relikt aus einer anderen Zeit. Keiner der Pilger, die ich fragte, hatte von dem Kruzifix in Ourense gehört, obwohl es in einigen Reiseführern erwähnt wird. Die alte Kathedrale von Ourense aus dem Jahre 1220 liegt ziemlich beengt inmitten der heutigen Architektur. Kaum ein Mensch war zu sehen, als ich dort ankam. Die Skulptur aus dem 15. Jahrhundert hängt immer noch dort, wenn auch etwas abseits in der dunklen Kathedrale. Wie das Kruzifix in Burgos ist auch diese Figur sehr naturalistisch dargestellt, mit menschlichem Haar und Blut, das aus den Wunden fließt. Nach der Legende wurde sie von Nikodemus selbst hergestellt und sei den Leiden Christi direkt nachempfunden. Die Henker Jesu wurden bei seinem Anblick so sehr von ihrem Schuldgefühl überwältigt, dass Nikodemus das Kreuz ins Meer warf. Ich fand in der Kathedrale keinerlei Hinweise auf ein Ritual, das mit dem Kruzifix in Verbindung stand, und auch keinerlei Informationen zur Figur. Das Museum der Kathedrale präsentierte allerdings Votivgaben von Pilgern und Einheimischen, die im Lauf der Jahrhunderte der Kirche geschenkt wurden.7 Quellen berichten allerdings von Ritualen im Blick auf Ablass und Fruchtbarkeit, die dort bis in die Gegenwart hinein zelebriert wurden – so wanderten unfruchtbare Frauen zum Kruzifix in der Hoffnung, doch noch schwanger zu werden.8 Eine weitere Figur in der Kathedrale von Ourense, die in den Quellen erwähnt wird, ist eine Skulptur des Apostels Jakobus mit beweglichem Schwert. Sie ist eine moderne Nachbildung einer Skulptur aus dem späten Mittelalter. Während Jakobus häufig als Pilger mit Hut und Muschel dargestellt wird, erscheint er hier als Santiago Matamoros, als »Maurentöter«. Das Schwert ist sein Märtyrersymbol, da er der Legende nach auf Befehl von Herodes Agrippa mit einem Schwert hingerichtet wurde. In seiner Darstellung als Matamoros verweist das Schwert indessen auf seine wundersame Erscheinung während der mythischen Schlacht von Clavijo im Jahr 844, in der ein Heer spanisch-christlicher Soldaten unter Ramiro I. von Asturien die überlegene Armee des muslimischen Emirs von Córdoba geschlagen haben soll. Ob das bewegliche Schwert der Figur in Ourense eine
7 http://amazinggalicia.files.wordpress.com/2013/03/ourense-guide.pdf. 8 Poska, Alyson. M. 1998. Regulating the people: the Catholic Reformation i seventeenth century Spain. Brill: Leiden/Köln/Boston, S. 150.
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besondere rituelle Funktion hatte, ist ungewiss. Die Skulptur steht jedenfalls noch immer am Eingang der Kathedrale und begrüßt die Pilger. Eine Matamoros-Figur aus dem 20. Jahrhundert befindet sich auch in der Kathedrale von Santiago, die die spanischen Herrscher traditionell am letzten Sonntag im Juli besuchen. Im Jahr 2004 sollte die Statue ins Dommuseum verbracht und mit einer Pilgerstatue von Jakobus ersetzt werden, die vom selben Künstler geschaffen wurde.9 Dieser Versuch, den nationalistischen und antimuslimischen Aspekt des Jakobskultes zu dämpfen, scheiterte am Protest zahlreicher Menschen. Die Statue des Maurentöters durfte in der Kathedrale bleiben. Hier zeigt sich die Dualität der Jakobstradition: Der spanische Nationalheld auf dem Schlachtfeld und der demütige, arme Pilger.
Die Wanderung beginnt Ich beginne meine Wanderung in Sarria inmitten einer wogenden und freundlichen Kulturlandschaft. Der Weg führt vorbei an Feldern und Bauernhöfen. Die Menschen hier haben die Erde seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden kultiviert. Ich bin umringt von Menschen, die sich wie ich selbst hier auf den Weg machen, denn Sarria ist der geeignete Startpunkt für die letzten hundert Kilometer nach Santiago, die obligatorisch sind, um das begehrte Pilgerdiplom, die Compostela, zu erhalten. Am Morgen meines Aufbruchs treffe ich ein älteres Ehepaar aus Südamerika in der Herberge. Auch sie beginnen ihre Wanderung hier. Er spricht Englisch, sie nicht. Ich begleite sie die erste Strecke bis zum Kilometerstein 100, dem wahrscheinlich am häufigsten fotografierten Stein auf dem Camino. Der Mann ist beflügelt und in bester Laune, seine Frau wirkt sehr melancholisch und traurig. Mit ihrer Reise nach Spanien und der Pilgerwanderung feiern sie ein Jubiläum. Es scheint, dass ihnen eine intensive Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte bevorsteht. Manchmal habe ich den Eindruck, in einer Schlange zu wandern. Ich begegne vielen Menschen. Zuerst treffe ich eine fröhlich gestimmte Gruppe 9 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/spain/1467621/Public-outcry-for ces-church-to-keep-Moor-Slayers-statue.html.
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Bild 2: Der Kilometerstein 100 markiert die letzten hundert Kilometer nach Santiago. Der Stein ist mit Flaggen, Steinen, Bildern der Jungfrau Maria, privaten Bildern und persönlichen Grüßen dekoriert. Foto: Roger Jensen.
einer koreanischen katholischen Kirche, die aus einer deutschen Großstadt angereist ist. Die Gemeinschaft zwischen den Gruppenmitgliedern ist eng und gut – die Stärkung der Gemeinschaft und die Freude an ihr scheint viele zur Wanderung zu motivieren. Als ich später am Tag die Gruppe wiedersehe, ist es offensichtlich, dass die Wanderung für viele eine Qual gewesen
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ist. Einige wollten schnell gehen, andere langsam, einige wollten Zeit in den Kirchen, an Kulturstätten und Picknickplätzen verbringen, andere wollten das Tempo halten. Ihre Gemeinschaft wird auf die Probe gestellt. Als ich die Gruppe verlasse, denke ich in Sorge daran, wie sie die nächsten Tage verbringen wird. Ich sehe sie nicht wieder. Am Nachmittag, als ich mit zusammen mit den anderen Pilgern meinen Pass an einem unbeaufsichtigten Büro stempeln will, bildet sich eine Warteschlange, weil ein Mann einen großen Stapel mit Pilgerpässen bearbeitet – ein Busfahrer, der die Pässe für seine gesamte Reisegruppe stempelt! Ein Reiseunternehmen besorgt so seinen Kunden schlau und ohne Unannehmlichkeiten das Pilgerdiplom, im Gegensatz zu uns, dem wandernden Fußvolk. Wir schütteln den Kopf, lassen ihn aber gewähren. Tage später begegne ich einer Frau aus der ehemaligen DDR. Sie ist bereits seit zwei Monaten unterwegs und möchte in ein paar Wochen zu ihrem Mann und ihren Kindern zurückkehren. Sie erzählt, dass sie eine Pause zum Durchatmen brauchte, um über ihr weiteres Leben nachzudenken. Sie ist auf einer religiösen Suche, betreibt eine private, alternative Gesundheitspraxis, wurde als eine der wenigen in ihrer Heimat lutherisch getauft, hat aber seither keine Beziehung zur Kirche. Wie alle anderen wählte auch sie die kommunistische Alternative zur kirchlichen Konfirmation. Als ich ihr davon erzähle, dass das Erbe Luthers aus ihrer geografischen Heimat stammt, wird sie still und hört interessiert zu. Im Verlauf des Gesprächs erzählt sie davon, wie sie sich auf ihrer Wanderung verletzte und keine Hilfe bekam. Im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien verstauchte sie ihren Fuß, die Schmerzen waren so stark, dass sie nicht weitergehen konnte und am Wegesrand liegen blieb. Aufgrund der Strecke und der Jahreszeit waren nur wenige Pilger unterwegs. Sie spricht über ihre Freude, als nach Stunden endlich ein Pilger kommt. Ihre Enttäuschung ist umso größer, als er nur vorbei hastet und keine Zeit hat, ihr zu helfen. Auch die beiden nächsten Pilger gehen vorüber. Ihre Geschichte erinnert an die neutestamentliche Erzählung vom barmherzigen Samariter. Für sie waren jene keine »ordentlichen Pilger«, wie sie selbst sagt, sie waren nur mit sich selbst und ihrer Wanderung beschäftigt. Erst der vierte Pilger erbarmt sich ihrer, nach vielen Stunden. Er stützt sie und bringt sie in die nächste Herberge. Die Verletzung ist indessen nicht so schlimm, am nächsten Tag bereits kann sie ihre Wanderung fortsetzen. Als ich in
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Santiago ankomme, sehe ich sie wieder. Sie präsentiert mir ihren Retter, den sie zufällig wieder getroffen hat – einen großen und stämmigen Schweizer. Auf meiner weiteren Wanderung begleite ich ein spanisches Paar. Sie arbeiten beide in der Finanzbranche, wo sie einander auch kennengelernt haben, und sind mit ihrem Leben zufrieden. Als ich vorsichtig nach dem Grund ihrer Reise frage, wird die Frau nachdenklich. Die Wanderung sei für sie eine Art des Dankes. Sie vermeidet religiöse Begriffe, aber es ist deutlich, dass diese Pilgerwanderung für sie eine angemessene Weise darstellt, für ihr gutes Leben, ihre sicheren Arbeitsplätze und ihre beiden gemeinsamen, gesunden Kinder zu danken. Der Mann bleibt wortkarg, er begleitet seine Frau, weil sie dies wünscht.
Gemeinschaft und Gespräche in den Herbergen Ein wichtiger Teil des Pilgerdaseins ist die Gemeinschaft in den Pilgerherbergen. Wir plaudern oft lebhaft beim Abendessen, bevor wir zeitig ins Bett zu gehen und frühmorgens weiterwandern, bevor die Mittagshitze einsetzt. Mich faszinieren die aufwendig gearbeiteten und reich verzierten Reliquienmonstranzen auf den Altären in den Kirchen entlang des Weges. Aber viele der Pilger, mit denen ich darüber in den Herbergen spreche, werden unsicher oder belächeln das Thema. Viele wissen überhaupt nicht, wovon ich spreche und zeigen eine überraschende Unkenntnis und Entfremdung gegenüber diesem einst so wichtigen Aspekt des Pilgerns. Die Nähe und Betrachtung der wichtigen und wunderwirkenden Reliquien war im Mittelalter eines der zentralen Motive, um sich auf die Wanderung zu begeben. Dies scheint für die heutigen Pilger völlig irrelevant zu sein. In den Reliquienmonstranzen und Schreinen werden Körper, Körperteile oder besondere Gegenstände von Verstorbenen aufbewahrt, die nach ihrem Tod als Heilige verehrt wurden. Die Reliquien befinden sich oft auf, unter oder in der Nähe des Altars. In einigen Kathedralen liegen sie in separaten Nischen oder in eigenen Kapellen, gelegentlich hinter einer Glaswand. Die Reliquien waren lange Zeit die zentralen Objekte zur Konstituierung und Definition einer heiligen Stätte: Der Ort war heilig, weil an ihm die Überreste eines oder einer Heiligen aufbewahrt wurden. Die wichtigsten Reliquien hatten direkt oder indirekt mit Jesus oder Maria zu
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tun, wie Jesu Blut, Schweiß, Kreuz, Leichentuch, Schweißtuch, seine Dornenkrone, Windel, oder Vorhaut (er war beschnitten), die Muttermilch Marias, ihr Gewand, ihr Gürtel… Die meisten Relikte in den Kathedralen entlang des Camino stammen heute indessen von weniger bekannten und oft lokalen Heiligen. Die wirklich wertvollen Reliquien werden nur zu besonderen Anlässen oder Jahren präsentiert. Die wichtigste Reliquie des Pilgerwegs nach Santiago ist natürlich das Grab mit den Gebeinen von Jakobus. Die letzte Nacht vor Santiago verbringe ich in einer kleineren privaten Herberge. Dort treffe ich ein französisches Ehepaar im Ruhestand. Sie prahlen ungeniert mit ihren »Leistungen« auf dem Pilgerweg, breiten ihre Sammlung von Pilgerpässen auf dem Tisch aus und erzählen lebhaft. Meiner Geschichte der ersten hundert Kilometer begegnen sie mit einem nachsichtigen Lächeln. Im Schlafsaal der Herberge mit zwanzig Betten übernachten auch drei junge Frauen aus Osteuropa und Südamerika. Mitten in der Nacht weckt uns ein starkes Hämmern an der Tür. Die Gastgeber wohnen im benachbarten Flügel des Hauses, es gibt keine Verbindung zur Herberge. Niemand von uns öffnet, obwohl wir Rufe von außen hören. Niemand überblickt die Situation, die Frauen bekommen Angst. Als jemand vorschlägt, zu öffnen, machen sie uns deutlich, dass sie dies absolut nicht wünschen. Leider haben nicht alle Pilger ehrliche Absichten. Das ist allgemein bekannt. Andererseits können es auch Menschen in Not sein. Als das Klopfen und Rufen nicht aufhört, öffne ich gegen den Willen der anderen die Tür. Ein junges italienisches Paar kommt aus der Dunkelheit auf mich zu. Sie sind sehr dankbar. Ich lasse sie herein, aber sie ziehen es vor, auf dem Boden im Flur zu übernachten, wo sie Zugang zu frischem Wasser und zur Toilette haben. Sie wollen mir keine Schwierigkeiten mit den Inhabern der Herberge bereiten. Da sie die Herberge nicht rechtzeitig erreichten, wollten sie zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit weiter wandern, wurden aber vom schlechten Wetter und der Dunkelheit überrascht. Als ich am Morgen aufstehe, sind sie bereits wieder unterwegs.
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Die Ankunft in Santiago Am letzten Morgen stehe ich bereits sehr früh auf, da ich unbedingt den Gottesdienst in der Kathedrale von Santiago am späten Vormittag erreichen will. Ich möchte erleben, wie das berühmte Weihrauchfass, das von der Decke hängt, durch das gesamte Querschiff der Kirche geschwenkt wird und die Kathedrale mit Weihrauch erfüllt. Um fünf Uhr früh wandere ich gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten los. Zufällig treffen wir ein paar junge spanische Pilger, die den Weg kennen. Ihre Stirnlampen helfen, den Pfad im dichten Morgennebel zu finden. Ich muss mich beeilen, um die Kathedrale rechtzeitig zu erreichen. Während der letzten Stunden auf dem Weg in die Stadt schmerzen mir die Beine. Mein Gepäck lasse ich in einem Hotel am Rande der Stadt zurück, um schneller voranzukommen. Zwanzig Minuten vor dem Gottesdienst erreiche ich die Kathedrale, vor der sich lange Schlangen gebildet haben, aber ich gelange ins Innere, noch bevor die Messe beginnt. Ich bin überwältigt vom Erreichen meines Ziels und der Teilnahme am Gottesdienst. Die Kirchenlieder gehen mir unter die Haut, ich kenne sie, sie berühren mich in meinem Innersten, mit ihnen kann ich meinen Glauben ausdrücken. Ich verstehe den spanischen Text nicht, aber die Melodien sind die gleichen, mit denen ich in der norwegischen Kirche aufgewachsen bin, ich kann sie mitsummen. Ich habe starke Schmerzen in einem Bein, lehne mich gegen die Wand und sinke langsam auf den Boden der dicht besetzten Kathedrale, während ich leise singe und mir die Tränen über die Wangen laufen. Nach dem Gottesdienst treffe ich eine Gruppe Skandinavier vor der Kathedrale, die darüber diskutieren, ob sie in der Schlange der vielen hundert anderen Pilger eine Stunde auf die Besichtigung des Jakobsgrabes warten sollen oder nicht. Sie müssen erst noch herausfinden, was sie nun tun wollen, denn es fehlt ihnen das große Erlebnis der Ankunft am Pilgerziel. Sind sie enttäuscht? Nicht enttäuscht sind indessen die jungen Frauen vom Abend zuvor, die ich wieder treffe. Sie haben ihr Ziel erreicht und Jakobs Grab gesehen. Nun ist die Wanderung vorüber, sie können fröhlich nach Hause zurückkehren. Ein paar katholische Pilger aus Deutschland, die ich ebenfalls nach dem Gottesdienst wiedersehe, reagieren sehr negativ, als ich ihnen erzähle, wie
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Bild 3: Pilger stehen stundenlang in der Schlange, um das Grab des Jakobus zu sehen. Foto: Roger Jensen.
sehr mich die Kirchenlieder bewegten. Für sie war dies der Ausdruck einer Art des Reformkatholizismus, denn sie nicht ertragen konnten: Evangelische Kirchenlieder in einer katholischen Kathedrale! In der Stadt treffe ich und meine Mitwanderer auch meine neuen italienischen Freunde wieder. Das Treffen ist herzlich, sie laden uns zum Essen ein. Sie betonen, wie wichtig es für sie war, dass ich sie in die Herberge ließ, und wollen diese Episode zum Höhepunkt ihres diesjährigen Vortrags machen, mit dem sie in ihrer norditalienischen Heimat umherreisen. Sie waren bereits mehrfach in Santiago und anderen Pilgerzielen. Für das Paar – sie ist aktive Sportlerin, er arbeitet im italienischen Militär – sind die Wanderungen Ferien und Sport. Sie wandern im Schnitt vierzig Kilometer am Tag, fast doppelt so weit wie normale Pilger, die es auf zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer bringen. Nach dieser angenehmen Begegnung hole ich im Pilgerbüro meine Compostela, das Pilgerdiplom für die Wanderung nach Santiago. Große Plakate an den Wänden des Büros versprechen in zahlreichen Sprachen den vollkommenen Ablass. Ich kenne diese Plakate bereits – sie waren in einigen Kirchen entlang des Weges zu sehen. Die offizielle Lehre der römisch-katholische Kirche zum Heiligen Jahr in Santiago verspricht allen, die an diesem Jahr nach Santiago pilgern, ein Vaterunser für den Papst beten und innerhalb einer bestimmten Frist zum Abendmahl und zur Beichte gehen, einen vollkommenen Ablass: die ewige Befreiung aus dem Fegefeuer, nicht nur für die Verstöße (und den zeitlichen Sündenstrafen) des bisherigen Lebens, sondern auch für Vergehen, die erst noch begangen werden. Der Ablass gilt entweder für den Pilger selbst oder einen Verstorbenen, den man
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frei wählen kann. Skandinavische Lutheraner wie ich halten die Vorstellung des Fegefeuers oft für mittelalterlich, aber Fegefeuer und Ablass sind Teil der aktuellen Kirchenlehre, wenn auch in einer etwas anderen Form als im Mittelalter. Mit vielen Eindrücken und Gedanken über die zahlreichen Begegnungen und Gespräche kehre ich zurück nach Hause. Es scheint keine allgemeingültige Antwort auf die Frage zu geben, warum Menschen sich auf den Weg nach Santiago machen. Die Erfahrungen der Natur, Kultur und des eigenen Körpers, mit den Schmerzen in Beinen und Schultern, aber auch der Freude über die Erholungspausen scheinen indessen für die meisten Menschen wichtig. Nicht zuletzt sind die guten Gespräche und das Erleben der Gemeinschaft auf dem Pilgerweg wie auch das Interesse an der Geschichte und Kultur grundlegende Erfahrungen, die uns verbinden. Am meisten überraschte mich die Rolle, die die Kirchen auf dem Weg nach Santiago spielen – oder eben auch nicht spielen. Pilger, die einzeln oder in kleineren Gruppen wanderten, die nicht kirchlich organisiert waren, nutzten die Kirchen lediglich als Stationen zum Stempeln ihrer Pässe und als Museen. Ich war überrascht, dass die Kirchen sich nicht mehr um die Pilger kümmerten und sie als das ernst nahmen, was sie sind: moderne Pilger. Bei der Ankunft in Santiago müssen alle, die das Pilgerdiplom wünschen, im Pilgerbüro die Frage beantworten, ob und inwieweit die Wanderung religiös motiviert war oder nicht, denn die religiöse Begründung ist die Voraussetzung für das Diplom. Da die große Mehrheit diese Frage bejaht, ist es offensichtlich, dass der Begriff religiös hier als eine Sammelkategorie wesentlich weiter greift und weitaus unterschiedlichere Motive vereint als der traditionelle Katholizismus. Die Zeit in Spanien war meine erste Begegnung mit dem Phänomen des modernen Pilgerns, das zahlreiche begeisterte Menschen vereint. Neben vielen guten Erfahrungen blieb in mir allerdings auch ein Gefühl der Ambivalenz zurück: Will die Kirche den modernen Pilgern wirklich mit Begriffen wie Ablass und Fegefeuer begegnen? Der fehlende Zusammenhang zwischen aktueller Pilgerpraxis und kirchlicher Lehre scheint offensichtlich. Ich erlebte nicht nur ein höchst lebendiges, sondern auch ein ökumenisches Phänomen, sogar über die Grenzen der Religionen hinweg. Aber ich traf auch auf eine Theologie des Pilgerns, die kaum mit der tatsächlichen Praxis im Dialog stand.
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Bild 4: Ein Plakat informiert über den vollkommenen Ablass, den ein Pilger während eines Heiligen Jahres erlangen kann. Foto: Roger Jensen.
Die Wallfahrt zum Grab des Apostels Matthias in Trier
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Die Wallfahrt zum Grab des Apostels Matthias in Trier Durch die Pilgerwanderung erkennen wir unsere Menschlichkeit in unseren Mitwanderern, und in den Tagen des gemeinsamen Unterwegsseins werden wir, so weit wir selbst dafür offen sind, auch zu Mitwanderern im Leben der anderen. Dies durfte ich erleben, als ich im Sommer 2011 zum zweiten Mal einige Etappen auf der organisierten Wanderung von Oslo nach Nidaros (Trondheim) leitete. Ich hatte das Vergnügen, mich besonders mit ein paar deutschen Pilgern anzufreunden, die mich danach wiederholt zu Wanderungen nach Deutschland einluden. Im Herbst 2012 nahmen meine Frau und ich an einer Wallfahrt teil, die von der St. Matthias-Bruderschaft10 in Bad Honnef, einer Kleinstadt südlich von Bonn, jedes Frühjahr und jeden Herbst organisiert wird. Wir bereuten es nicht. Im Norwegischen überlappen sich häufig die Begriffe Pilgerwanderung und Wallfahrt, während sie im Deutschen klar unterschieden sind. Eine Wallfahrt ist eine organisierte, kürzere Wanderung, oft nur an einem Tag, die durch Gebete, Lieder und Andachten klar strukturiert ist. Unsere Wallfahrt hatte das Grab des Apostels Matthias in Trier zum Ziel, eine Wanderung von Fluss zu Fluss, vom Rhein bis zur Mosel. Der Apostel Matthias wurde, wie die Apostelgeschichte berichtet, nach Jesu Tod und Auferstehung als Nachfolger des Judas gewählt. Seine Gebeine sollen von Helena, der Mutter des Kaisers Konstantin I., im vierten Jahrhundert gefunden und nach Trier überführt worden sein, da die Stadt unter Konstantin eine Zeit lang die Hauptstadt des römischen Reiches war. Matthias ist der einzige Apostel, dessen Gebeine sich nördlich der Alpen befinden. Die Wallfahrten zu seinem Grab waren zeitweise völlig in Vergessenheit geraten. Nach der Reformation in Deutschland wurden Wallfahrten und Pilgerwanderungen von der katholischen Kirche als Teil der Gegenreformation aktiv gefördert. Im 17. Jahrhundert lebten die MatthiasWallfahrten neu auf, es entwickelten sich eine lebendige Laienfrömmigkeit und viele Wallfahrtsbruderschaften. Deshalb schmückt auch die Jahreszahl 1616 das große Prozessionskreuz, das 1966 zum 350. Jubiläum »unserer« Matthias-Bruderschaft geschaffen wurde. Sie ist eine von 180 Bruderschaften, die bis heute existieren. 10 http://de.wikipedia.org/wiki/Matthiasbruderschaft.
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Wir waren gespannt auf die Wallfahrt und die Gemeinschaft mit uns nicht-katholischen Teilnehmern. Die Gruppe bestand aus etwa zwanzig Pilgern, die jedes Jahr an dieser Wallfahrt teilnehmen. Wir waren die ersten ausländischen Gäste und wurden mit großer Wärme und Zuneigung empfangen und sofort in die Gemeinschaft aufgenommen. Es wurde nur deutsch gesprochen, unsere Sprachkenntnisse waren unentbehrlich. Unsere Wallfahrt führte vier Tage lang durch eine abwechslungsreiche Landschaft. Sie begann mit einer Zugfahrt nach Unkel, wo wir mit dem Boot über den Rhein nach Remagen fuhren und unsere Wanderung durch die deutsche Kulturlandschaft wieder aufnahmen, mit ihren beeindruckenden alten Laubwäldern und den Ruinen der Schlösser und Burgen. Wir kamen indessen nicht durch die zahlreichen Weinberge, die auch diese Landschaft prägen. Da wir selbst keine detaillierten Karten dabei hatten und der Weg nur spärlich markiert war, gaben wir uns der lebendigen Wandertradition der Teilnehmer hin, von denen manche schon zum fünfzigsten Mal hier unterwegs waren. Die Gruppe hatte ein Begleitfahrzeug, mit dem Freiwillige für den Gepäcktransport und die Verpflegung sorgten. Eine dicke Suppe wurde in Feldküchen selbst zubereitet, als Dessert reichte man uns Kuchen und Obst, darunter auch frische Weintrauben direkt aus dem Weinberg. Jede Mahlzeit wurde mit einem Schluck Schnaps aus lokaler Produktion beendet. Wir übernachteten auf Campingplätzen und in verschiedenen kirchlichen Institutionen in Doppel- und Mehrbettzimmern. Die Teilnehmer kannten sich gut, für die meisten war diese Wanderung ein festes Frühlings- und Herbstritual, die Atmosphäre war dementsprechend sehr angenehm. Unsere Begleiter waren sehr an unseren Erzählungen aus Norwegen interessiert, manche hatten auch das Bedürfnis, über ihre Kirche zu sprechen, der sie sehr verbunden waren, die sie aber auch zutiefst frustrierte. Während der Wanderung leitete der Brudermeister, der Vereinspräsident, die Rezitation des Rosenkranzes, während die Frauen für die Andachten verantwortlich waren, die meistens vorgelesen wurden. Zeitweise wanderten wir schweigend, gelegentlich unterhielten wir uns. Der Tagesverlauf hatte einen klaren Rhythmus, mit Gesang, Andachten und den Rezitationen des Vaterunsers und des Rosenkranzes. Es gab allerdings keine Stundengebete, diese mönchische Tradition gehörte für unsere Begleiter nicht zur Wallfahrtspraxis.
Die Wallfahrt zum Grab des Apostels Matthias in Trier
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Bild 5: Oben: Die Schönheit der deutschen Kulturlandschaft. Unten: Ein mit Hingabe geschmücktes Kreuz. Foto: Roger Jensen.
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Der geistliche Inhalt strukturierte so durch die ständige Erinnerung an den christlichen Glauben und eine ständig erneuerte Konzentration darauf unsere Wanderung. Trotz der schriftlich fixierten Gebete und festgefügten Formeln erlebten wir den religiösen Inhalt als volksnah und laienkirchlich, um hier diese norwegischen Typologien zu verwenden. Wir fanden uns in den Laienandachten und Kirchenliedern wieder. Die Gruppe führte zwei Prozessionskreuze mit sich, ein älteres und ein modernes, die von allen Teilnehmern reihum getragen wurden. Das neue, einfache Kreuz wurde unterwegs allmählich mit Blumen geschmückt und bot einen prachtvollen Anblick. Als Pfarrer wurde ich mit dem einzigen Wortgottesdienst auf der Wanderung betraut. Dass ich Lutheraner war, spielte hier kaum eine Rolle, alle Mitglieder der Gruppe, die sich ein ökumenisches Profil wünschte, wurden als gleichberechtigt akzeptiert. Die Benediktiner, die in Trier das Grab des Apostels pflegen, nahmen uns mit großer Freundlichkeit bei sich auf. Während des gemeinsamen Empfangs mehrerer Matthias-Bruderschaften durfte meine Frau Birgitte eines der Prozessionskreuze tragen, während ich selbst tags darauf im Festgottesdienst die große Kerze entzündete, die unsere Gruppe dem Abt als Votivgabe überreichte. Wir erhielten dort auch Medaillen für unsere Wallfahrt. Der Abt bezog sich in seinen Eingangsworten im Sonntagsgottesdienst auf das 2. Vatikanische Konzil und betonte die Ökumene und Brüderlichkeit. Das offizielle Motto der Wallfahrten nach Trier im Jahr 2012, sowohl der Matthias-Wallfahrten11 als auch der größeren Wallfahrt zum Heiligen Rock, lautete: Und führe zusammen, was getrennt ist. Wiederholt wurde für weitere Reformen in der Kirche gebetet. Obwohl wir Lutheraner sind, wurden wir ausdrücklich zur Teilnahme an der Eucharistie eingeladen, an deren Austeilung auch Laien beteiligt waren. Eine Reihe von Ordensbrüdern und -schwestern, drei Priester und zahlreiche Ministranten nahmen am Gottesdienst teil, Männer und Frauen, Junge und Alte. Die Eucharistie wurde in beiderlei Gestalt, mit Brot und Wein empfangen, was in der katholischen Kirche nach wie vor nicht selbstverständlich ist. Aus unserer norwegischen Perspektive erschienen die Mönche als radikale Benediktiner, die auf Reformen in der katholischen Kirche hofften. Nach dem Gottesdienst lud die Gruppe den Pilgerpriester wie üblich zum 11 http://www.abteistmatthias.de.
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Essen am Begleitfahrzeug ein. Er erzählte mir, dass norwegische Pilger bereits 1169 hier waren. Eine der ältesten mittelalterlichen Aufzeichnungen über die Wallfahrt nach Trier berichtet von Norwegern, die auf dem Weg nach Rom die Mosel hinauf segelten. Als sie vom Grab des Apostels Matthias hörten, machten sie ein Abstecher nach Trier. Wir waren also nicht die ersten… Jährlich wandern etwa 7000 Pilger nach Trier, die meisten sind Mitglieder der St. Matthias-Bruderschaften in Deutschland und kommen in der Regel an Christi Himmelfahrt und im Herbst. Ihre Zahl schwankt nur wenig, wie die Statistiken des Pilgerbüros zeigen. Dazu kommen die Besucher, die mit dem Auto oder dem Bus anreisen. Die Netzseite des Pilgerbüros konzentriert sich mehr auf die Aspekte von Gemeinschaft und Geschichte als auf den Ablass. Im Mittelpunkt steht nicht die wunderwirkende Reliquie und die Frage nach ihrer Echtheit, sondern der Glaube an Christus, den die Wallfahrt bezeugt.12 Die Benediktiner kümmern sich wenig um die Authentizität der Apostelgebeine. Als ich vorsichtig danach frage, was sie vom vollkommenen Ablass anlässlich des heiligen Jahres in Santiago de Compostela halten, antwortet einer von ihnen etwas streng: »Damit beschäftigen wir uns hier nicht, das machen nur die Spanier«. Die Benediktinerklöster sind unabhängige Einheiten und können sich eine eigene Meinung erlauben, die von Kloster zu Kloster und von Land zu Land unterschiedlich ausfällt. Eine deutsche theologische Kollegin erwähnte mir gegenüber vor meiner Reise, dass anlässlich des 500. Jubiläums der Wallfahrt zum heiligen Rock nach Trier im Jahr 2012 dort aus ökumenischen Gründen zum ersten Mal kein besonderer Ablass versprochen wurde. Wir fuhren mit dem Zug zurück nach Bad Honnef und verabschiedeten uns mit einer einfachen Andacht in der Kirche, in der unsere Wallfahrt begonnen hatte. Die Gruppe wünschte, dass ich den Segen spreche, zuerst auf Deutsch, dann auf Norwegisch. Wir versprachen, zum Jubiläum der Bruderschaft im Jahr 2016 zurückzukommen, was wir dann auch hielten. 12 Christen haben 800 Jahre lang die »Tunika Christi« in Trier verehrt – als Zeichen für die Gegenwart des Mensch gewordenen Gottes in Jesus von Nazareth. Das steht historisch fest – und diese »spirituelle Echtheit« ist sicher wichtiger als jede Antwort auf die Frage: »Ist er denn eigentlich echt?« http ://www.heilig-rock-wallfahrt.de/wissenswert/ge schichte/kleine-geschichte-der-tunika-christi.html.
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Pilgern in Norwegen Mit der Einführung der Reformation in Skandinavien verschwanden die Pilger. Während die Gebeine von St. Olav, die in einem Schrein auf dem Hochaltar im Oktogon des Nidarosdoms in Trondheim aufbewahrt wurden, vor der Reformation einer der wichtigsten Pilgerziele Skandinaviens darstellten, verbat die Reformation das Pilgern. In den letzten Jahrzehnten haben sich indessen viele Menschen wieder auf den alten Pilgerweg nach Nidaros begeben. Die neue Pilgerbewegung in Norwegen ist als eine Bewegung von unten entstanden, völlig unabhängig von der Kirche oder anderen Institutionen. Die ersten Pilger waren Schweden, die 1958 mit dem Bus anreisten. Erst Jahrzehnte später stiegen die Pilgerzahlen deutlich. Die Pfarrer im Nidarosdom begegneten gegen Ende der 1970er Jahre – theologisch und praktisch völlig unvorbereitet – zum ersten Mal Menschen, die sich selbst als Pilger bezeichneten.13 Die Sache der Pilger wurde in der Folgezeit vor allem durch eine Person in den Blick des öffentlichen Interesses in Norwegen gerückt – Eivind Luthen. Seit den 1980er Jahren arbeitet er mit Vorträgen, Tagungen und Interviews an der wachsenden Bedeutung des Nidarosdoms als Pilgerziel und des Wiederaufbaus des Pilgerwegs von Oslo nach Trondheim.14 Sein Buch Auf den Spuren der Pilger nach Nidaros gilt für viele als die Ursache dafür, dass der norwegische Staat sich seit den 1990er Jahren für das Pilgerwesen engagiert.15 1997 entschied sich das norwegische Umweltministerium zur Förderung des Pilgerns und eröffnete den Pilgerweg nach Trondheim. Zwischen 2007 und 2010 wurde im Rahmen des Pilotprojekts Pilgerweg der Pfad befestigt, gekennzeichnet und neue Herbergen geschaffen. 2010 wurden fünf regionale Pilgerzentren entlang der Strecke gegründet, 2012 öffnete das 13 Andresen, Knut. 2005. Olsok i Nidaros Domkirke, S. 112ff. 14 Mikaelson, Lisbeth. 2008. »Nidarosdomen og pilegrimbølgen«, in: Din 4/2008, S. 42; Vådahl, Øyvind. 2007. Den moderne pilegrimsbevegelsen ved Nidaros domkirke med særlig vekt på pilegrimsprestens rolle. Religionswissenschaftliche Diplomarbeit, Universität Bergen, S. 28–30; Amundsen, Arne B. 2002. »Naturvandring eller indre reise? Moderne norske pilegrimer i et ideologisk dobbeltlys«, in: Historien inn på livet. Anne Eriksen, Jan Garnert, Trorunn Selberg (Red.) Nordic Academic Press, S. 151. 15 Siehe Østang, Øivind (der ehemalige Informationsleiter im Büro des Regierungschefs), 1997, Hjem til Nidaros. Norges nølende vandring siden 1814. Genesis forlag, S. 228.
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Nationale Pilgerzentrum in Trondheim seine Tore, und 2013 wurde ein weiteres regionales Zentrum eingeweiht. Diese staatlich unterstützten Zentren dienen als Informationsbüros und organisieren zahlreiche Pilgerveranstaltungen. Das staatliche Interesse und die öffentliche Unterstützung des Pilgerwesens unterscheidet Norwegen vom übrigen Europa. Auf dem Kontinent verwalten hauptsächlich die Kirchen das Pilgererbe und organisieren die moderne Pilgerbewegung, oft in enger Zusammenarbeit mit Pilgervereinen und öffentlichen Einrichtungen. Sobald die Pilgerzahlen steigen, beteiligen sich auch private Unternehmen am Aufbau des Angebots. In Norwegen, wo der Staat in Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessengruppen wie Kirche und Unternehmen das Pilgerwesen neu belebt, stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung der Geschichte für diese Arbeit. Sowohl bei der Profilierung des Pilgerns als auch bei den organisierten Wanderungen in öffentlicher Regie steht stets die Frage im Raum, inwieweit eine religiöse Praxis Teil des Angebotes sein soll oder nicht. Ist das Pilgern ein öffentliches Angebot, das damit integrierend und weltanschauungsneutral zu sein hat, oder ist es in Theorie und Praxis ein Ausdruck des christlichen Erbes und ein religiöses Angebot für die Menschen heute? In ihrem Strategieplan vom November 2012 betont die norwegische Regierung als übergeordnetes Ziel, dass »die Revitalisierung der Pilgerwanderungen einen Beitrag dazu leisten soll, dass der christliche Glaube und die christliche Tradition weiterhin eine wichtige Quelle der menschlichen Identität und Zugehörigkeit bleiben«. Unter dem Stichpunkt der strategischen Ausrichtung, bei der zwei der vier Schwerpunkte von der Kirche und dem Olavserbe handeln, akzentuiert die Regierung: »Die Erneuerung der Wallfahrtstradition soll weiterhin deutlich kirchlich verankert, gleichzeitig aber auch offen für unterschiedliche Interessen und Motivationen sein.« Der norwegische Staat wünscht also, auf der Basis der historischen Bedeutung des Pilgererbes dieses Erbe für unsere Zeit relevant zu machen, damit das Pilgerwesen dazu beiträgt, dass »der christliche Glaube und die christliche Tradition weiterhin eine wichtige Quelle … bleiben«. Zwar wird keine weltanschauliche Neutralität gefordert, aber die Wiederbelebung des christlichen Pilgererbes in Norwegen soll integrierend wirken und offen sein für andere Interessen und Motivationen.
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Die Olavswege in Norwegen Seit der offiziellen Eröffnung des Pilgerweges im Jahr 1997 werden fast jedes Jahr lange Wanderungen von Oslo nach Trondheim angeboten. Diese werden seit 2010 von den regionalen Pilgerzentren organisiert. Als einer der Leiter der sechs Zentren bin ich an der Profilierung der Pilgerarbeit und der Durchführung der Wanderungen beteiligt. Bereits kurze Zeit, nachdem ich meine neue Arbeitsstelle angetreten hatte, musste ich die erste Teilstrecke dieser Wanderung als Leiter begleiten. Meine neuen Arbeitskollegen hatten das Meiste bereits organisiert und ein Tagesprogramm mit Stundengebeten vorbereitet, die die Gruppe morgens und abends mit Lesungen aus dem Buch der Psalmen, Gebeten und Liedern feiern sollte. Ich hatte keine Erfahrung mit Stundengebeten, dachte aber, dass dieses Programm einen guten Rahmen für die Tage des gemeinsamen Wanderns geben würde. Nach dem ersten Stundengebet beschwerte sich indessen ein Paar, dass diese Art der religiösen Praxis zu christlich und zu vereinnahmend sei. Sie waren zwar Atheisten, aber sich auch im Klaren darüber, dass eine Pilgerwanderung keine normale Wanderung sei. Deshalb hatten sie nichts Grundsätzliches gegen eine religiöse Praxis auf dem Pilgerweg einzuwenden, die gewählte Form war ihnen indessen zu streng. Ich ließ daraufhin die Stundengebete sein, denn wir konnten kein Program aufrechterhalten, das als einengend erlebt wird und die Gruppe spalten würde. Gleichzeitig wäre es falsch, die religiöse Dimension des Pilgerns aufzugeben oder zu verwässern. Ich entschied mich deshalb für bekannte Kirchenlieder, Textlesungen und das Vaterunser. Es dauerte nicht lange, bis unsere neuen atheistischen Freunde sich bei allem beteiligten, auch beim Beten des Vaterunsers. Hier fanden sie eine kulturelle, integrative Form der religiösen Praxis, an der sie sich beteiligen konnten. Ich habe inzwischen mehrere Wanderungen geleitet und arbeite nach wie vor an der weiteren Verbesserung und Anpassung des Programms. Da die Wanderungen von sechs unabhängigen, regionalen Pilgerzentren organisiert werden und das nationale Zentrum keine Leitlinien dazu gibt, erleben die Teilnehmer sehr unterschiedliche Formen der Pilgerspiritualität auf diesen Wanderungen, wie z. B. traditionelle Morgen- und Abendandachten oder Stundengebete und Gesang. Auf manchen Strecken müssen sich die Pilger selbst darum kümmern und ihre eigene Form finden. Die
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strenge Form der Wallfahrt, wie wir sie oben gesehen haben, mit ihren Rhythmus aus Gebeten, Gesang und Andachten ist in Norwegen unbekannt. Die organisierten Wanderungen begnügen sich meistens mit einem einfachen Gebet und Gesang morgens und abends, eventuell mit einer Andacht im Lauf des Tages. Ansonsten wandert man in der Stille oder führt kürzere oder längere Gespräche mit den anderen Pilgern. Der wesentliche Unterschied zwischen der Pilgerwanderung in Norwegen und Spanien besteht in der Anzahl der Pilger. Das Pilgern in Norwegen ist eine einsame Unternehmung, sofern man nicht mit einer Gruppe unterwegs ist. Wandert man außerhalb der Sommersaison, kann man tagelang unterwegs sein, ohne einen anderen Pilger zu treffen. Die Wanderung erhält dadurch eine andere Qualität. Die Reise ins Innere, die Konzentration auf den Körper und das eigene Leben, aber auch auf die umgebende Natur, Kultur und Geschichte wird wichtiger. Viele Pilger erzählen nach ihrer Rückkehr, dass dies eine herausfordernde, aber auch gute Erfahrung sei. Für viele ist der Kontakt mit der Natur eine größere Erfahrung, als sie erwartet hatten, und sie benutzen bei der Beschreibung oft religiöse Begriffe. Dies gilt in ähnlicher Weise für das Erleben der historischen Gemeinschaft, wenn man auf den gleichen Pfaden wandert, auf denen Menschen bereits seit dem Mittelalter unterwegs waren. Man erlebt sich als Teil einer Gemeinschaft, obwohl man sich in der Einsamkeit bewegt. Viele erzählen auch von der großen Gastfreundschaft in der Begegnung mit den norwegischen Einwohnern entlang des Pilgerwegs jenseits der Städte. Im Vergleich zu Spanien ist ferner das Durchschnittsalter höher, was wohl damit zusammenhängt, dass in Norwegen das Leben wesentlich teurer ist und die Landschaft eine größere Erfahrung erfordert. Auch ist in Norwegen der Anteil der weiblichen Pilger größer.
Das Olavserbe als kirchliche Herausforderung Das Strategiepapier der Regierung betont das Olavserbe als das zentrale, vereinheitlichende Leitbild des öffentlichen Pilgerprojektes. Dieses Erbe wird nicht näher definiert, bezieht sich aber deutlich auf das christliche Erbe der norwegischen Geschichte und Kultur seit der Christianisierung vor einem Jahrtausend, das eng mit St. Olav, seinem Wirken und der nachfol-
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Bild 6: Oben: Die Segnung der Pilger zu Beginn der Pilgerwanderung im Mittelalterpark in der Osloer Altstadt. Foto: Kristin Støylen. Mitte: Auf der Wanderung zur Kirche in Hovin. Foto: Roger Jensen. Unten: Auf dem Pilgerweg kurz vor dem Erreichen des Nidarosdoms in Trondheim und der Nachtwache zu Ehren St. Olavs am 29. Juli. Foto: Roger Jensen.
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genden Tradition verknüpft ist. Während aber Santiago de Compostela als historisches und zeitgenössisches Pilgerziel mit den Gebeinen des Apostel Jakobs verbunden ist, existiert die Olav-Reliquie, einst im Schrein auf dem Hochaltar der Kathedrale in Trondheim aufbewahrt, nicht mehr. Niemand weiß, wo die Gebeine geblieben sind. So scheint auch die norwegische Kirche kein klares Konzept dafür zu haben, wie dieses Erbe für die Pilgerarbeit fruchtbar gemacht werden könnte. Außerdem ist St. Olav eine recht ambivalente Figur: Der Nationalheilige ist sowohl Heiliger als auch Krieger – was, wie wir bereits gesehen haben, auch für St. Jakob als Pilger und Maurentöter zutrifft. Eine weitere Ambivalenz besteht darin, dass die norwegische Kirche als evangelisch-lutherische Kirche einer theologischen Tradition verpflichtet ist, die das Pilgerwesen heftig kritisierte und zeitweise sogar verbot. Heute versucht man nun, eben diesem Pilgerwesen neues Leben einzuhauchen, wobei die Frage nach dem Wie wenig diskutiert wird. Dies gilt im übrigen für alle protestantischen Länder Nordeuropas im Blick auf die Renaissance des Pilgerns. In dem Ort Stiklestad nördlich von Trondheim gibt es den Olavstein, an dem sich der Heilige ausgeruht haben soll, nachdem er in der Schlacht von Stiklestad, die eine wichtige Rolle bei der Christianisierung Norwegens spielt, tödlich verletzt worden war. Nach katholischer Auffassung ist dieser Stein eine Reliquie. Nachdem er mehrmals umgesetzt wurde16, brachte man ihn im Rahmen einer großen Prozession im Jahr 2007 unter der Teilnahme des Bischofs, des Bürgermeisters und einer Reihe von Vertretern der Öffentlichkeit und Kultur in die Kirche in Stiklestad, was von vielen Seiten kritisiert wurde. Das lutherische Bistum von Nidaros musste im Nachhinein klarstellen, dass man damit nicht wieder den Reliquienkult in der norwegischen Kirche einführen, sondern einen Raum schaffen wollte für den Stein als konkretem, greifbaren Symbol des Erbes von St. Olav und der christlichen Tradition in Norwegen.17 Andererseits gab es Versuche, diese Gelegenheit zur Entwicklung einer »lutherischen Reliquienlehre« zu nutzen.18 16 Kjølsvik, Idar. 2012. Olavssteinen på Stiklestad. Kristiansand: Cappelen Damm Høyskoleforlaget. 17 http://www.adressa.no/meninger/article1346688.ece?index=20. 18 Kjølsvik, Idar. 2012.
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Inzwischen haben manche Pfarrer eine eigene religiöse Praxis im Zusammenhang mit dem Stein entwickelt. Einer von ihnen berichtet, wie der Stein ihn mit »Ruhe und Wärme« erfüllte, und wie nervöse Menschen nach der Berührung des Steins Ruhe fanden, es sollen dadurch sogar bereits Krankheiten geheilt worden sein.19 Der Höhepunkt des norwegischen Pilgerwesens sind die jährlichen Olavsfesttage um den 29. Juli, dem Todestag des Heiligen. Dabei wird besonders die traditionelle Olavsnachtwache auf den 29. Juli zelebriert. Teile der nächtlichen Liturgie stammen aus dem Mittelalter und werden seit den 1980er Jahren wieder benutzt. Darin wird auf Lateinisch, aber gelegentlich auch auf Norwegisch folgendes Gebet gesprochen: »Olav, heiliger Märtyrer des Herren, wir bitten Dich: Bitte für uns bei Gott, dass er uns unsere Sünden vergibt um des ewigen Lebens willen.« Im Sommer 2013 wurde das Gebet im norwegischen Textheft zur Mahnwache abgedruckt. Daraufhin entbrannte eine lange und bisweilen scharfe Debatte in der christlichen Tageszeitung Vårt Land über die Verwendung der Olavstradition in der Kirche und der Pilgerarbeit. Der Domdekan von Nidaros meinte dazu: »Ich vertraue darauf, dass die Gottesdienstbesucher zwischen Tradition und Liturgie unterscheiden können«.20
Pilgern in Italien (1) Das Jahr 2000 war das 27. Heilige Jahr in Rom seit dem ersten im Jahr 1300, mit etwa 25 Millionen Pilgern in der Stadt. Nach den Evangelien vertraute Jesus Petrus die »Schlüssel des Himmelreiches« (Matt 16,9) an. Bis zu neun Apostel sind der Tradition zufolge in Rom begraben, mit Paulus und Petrus als den wichtigsten Vertretern. Rom ist trotzdem die Stadt Petri, dessen Schlüsselmacht nach katholischer Auffassung auf dem Heiligen Stuhl ruht und von Papst zu Papst weitergegeben wird. Daher wurde Rom bereits früh zum Zentrum der Christenheit mit einem entsprechenden Strom an Pilgern, 19 http://fritanke.no/index.php?page=vis_nyhet&NyhetID=7846. 20 Die Diskussionsbeiträge finden sich in der Zeitung Vårt Land vom 28. und 31. August, ferner am 3., 5., 9., 11., 12., 16., 23. September und 1. Oktober 2013. Der Verfasser hat selbst an der Diskussion teilgenommen.
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zu deren Pflege zahlreiche Klöster, Herbergen und Krankenhäuser gegründet wurden, die teilweise heute noch ihre mittelalterliche Funktion im Namen tragen. Im Herbst 2011 reiste ich nach Rom, um die sieben Pilgerkirchen zu besuchen, deren Besuch für die Pilger obligatorisch waren. Ich interessierte mich inzwischen durch meine neue Arbeit theologisch und historisch für das Pilgerwesen und wollte sehen, ob dort noch geistliche oder religiöse Praktiken existieren, die im Mittelalter eine zentrale Bedeutung hatten. Außerdem wollte ich mit den Verantwortlichen der katholischen Pilgerarbeit über deren Begegnung mit den heutigen Pilgern sprechen.
Die Pilgerkirchen Roms Rom hat sieben traditionelle Pilgerkirchen. Es sind Basiliken, eine Bezeichnung, die wir in der Regel mit der Architektur verbinden, im römischkatholischen Kirchenrecht indessen eine besondere Beziehung zum Papsttum und entsprechende Privilegien beschreibt, wie z. B. die Ablassverwaltung an bestimmten Feiertagen. Die Tradition der Wallfahrt zu diesen Kirchen stammt, wie in Trier, aus dem 15./16. Jahrhundert und ging aus der sogenannten Oratoriumsbewegung hervor, deren Gründer St. Philipp Neri eine Gruppe von Laien und Klerikern um sich versammelte, um durch geistliche Arbeit und Armenfürsorge für die innere Erneuerung der Kirche zu arbeiten. Am Mittwoch vor Gründonnerstag ging die Gruppe von Kirche zu Kirche, während sie Lieder und kleine Litaneien sang, unterwegs rastete und in den Kirchen katechetisch und liturgisch wirkte.21 Die Tradition wurde so populär, dass sie von Papst Paul IV. im Jahr 1558 verboten wurde, nach seinem Tod wieder aufflammte und seither eine feste Fastentradition in Rom ist. Unter anderem nimmt alle zwei Jahre eine große Gruppe von Pilgern aus Nordamerika daran teil.22 Traditionell werden die Kirchen in folgender Reihenfolge besucht: Santa Maria Maggiore – San Lorenzo fuori le Mura – Santa Croce in
21 http://romanchurches.wikia.com/wiki/Seven_Church_Walk. 22 http://www.zenit.org/en/articles/walking-the-seven-major-basilicas-of-rome.
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Gerusalemme – San Giovanni in Laterano – San Sebastiano fuori le Mura – San Paolo fuori le Mura – San Pietro in Vaticano. Ich besuchte sie in zufälliger Reihenfolge. Da ich weder in der Fastenzeit noch während eines kirchlichen Feiertages dort war, traf ich keine Pilger zwischen den Kirchen und erlebte auch keine Höhepunkte des Kirchenjahres. Im Jahr 2015 hatte ich indessen die Möglichkeit, an den letzten Tagen der einwöchigen Wallfahrt teilzunehmen, die jedes Jahr zu Fastenzeit von The Pontifical College of North America organisiert wird. Abgesehen von den Teilnehmern des Kollegs waren wir nur eine Handvoll Pilger. Die Wallfahrt begann jeden Tag um sechs Uhr morgens und führte uns in hohem Tempo zu einer der sieben Kirchen, ohne eine Gelegenheit, für ein Gebet oder einen Moment der Stille innezuhalten. Nach einer Stunde kamen wir keuchend zur abschließenden Messe. Bei meinem Rom-Besuch 2011 begann ich mit der Kirche Santa Maria Maggiore und der Reliquie der Krippe von Bethlehem, in der einst Jesus als Kind gelegen haben soll. In der Kirche befindet sich auch die Ikone Salus populi Romani, die wichtigste Marienikone in Rom, die vom Evangelisten Lukas selbst gemalt worden sein soll, aber wahrscheinlich im 5. Jahrhundert entstand. Die Ikone soll wunderwirkende Kraft besitzen. Santa Maria del Popolo ist die Kirche der Augustiner in Rom und für Lutheraner vielleicht besonders interessant, weil hier Martin Luther als Augustinerpriester bei seinem Aufenthalt in Rom 1511 eine Messe las. Die Kirche hat viele Kunstschätze, darunter Bilder von Rafael und Caravaggio. Auf dem Altar befinden sich die Reliquien zweier unbekannter Märtyrer, die wahrscheinlich aus den Katakomben stammen. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Kirche San Paolo fuori le Mura sind die Reliquien des heiligen Paulus und die Ketten, in die er geschlagen wurde. Die katholische Kirche betreibt heute keinen Ablasshandel mehr wie im Mittelalter. Luthers Kritik an der Kirche galt zuallererst dieser Praxis. Die Ausübung der Religion und die finanzielle Sphäre sind in diesen Kirchen indessen bis zu einem gewissen Grad auch noch heute miteinander verbunden. So finden sich in allen Kirchen Gebetszettel in verschiedenen Sprachen, die darauf hinweisen, dass die Fürbitte für den Gläubigen in der gemeinsamen Messe (Messa Collettiva) gratis ist, eine individuelle Fürbitte in einer privaten Messe (Messa Individuale) aber 10 Euro kostet. In der Kirche San Sebastiano alle Catacombe wurden ursprünglich die
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Reliquien von Petrus und Paulus aufbewahrt, wodurch sie den Status als Wallfahrtskirche erhielt. Heute noch befindet sich dort ein Stein mit einem Fußabdruck, ein zu früheren Zeiten wichtiges Pilgerziel, da dieser der Legende nach von Christus stammt, als er den aus Rom flüchtenden Petrus traf. Der Apostel fragte Jesus, wohin er gehe (Domine, quo vadis?). Dieser antwortete, dass er nach Rom gehe, um erneut gekreuzigt zu werden. Petrus verstand dies als eine Vision seines eigenen Schicksals. Er kehrte daraufhin nach Rom zurück, um sein Martyrium zu erleiden. Auch die Katakomben direkt neben der Kirche waren ein wichtiges Pilgerziel, vor allem die Callixtus-Katakomben, in der viele Märtyrer und nicht weniger als 16 Päpste begraben sind. Im 9. Jahrhundert wurden viele Gebeine der Märtyrer in wichtige Kirchen gebracht, später geteilt und auf verschiedene Kirchen verteilt, denn viele Gläubige wollten ihnen nahe zu sein und in ihrer Nähe begraben werden. Die großen Ventilationsschächte in den Katakomben zeugen von zahlreichen Pilgern.23 Die Reliquien waren sehr populär, da sie den Pilgern den Zugang zum frühesten, authentischen, eigentlichen Christentum ermöglichten und damit identitätsstiftend wirkten. In San Lorenzo fueri le Mura steht eine Marmorplatte, auf die der römische Diakon Laurentius gelegt wurde, der 258 lebendig verbrannt wurde, da er das Geld der Kirche den Armen gab, statt dem Kaiser Steuern zu zahlen. Er soll unter dem Hochaltar begraben worden sein, zusammen mit dem ersten christlichen Märtyrer Stephanus, wie wir in der Apostelgeschichte lesen. Es existiert allerdings ein zweites Stephanus-Grab in Jerusalem. In der Kirche befindet sich heute auch das Grab und die Kultstätte für Papst Pius IX, der im Jahr 2000 selig gesprochen wurde. Das Verfahren zu seiner Heiligsprechung dauert an. Im Gegensatz zu Laurentius und Stephanus wird für ihn und in seinem Namen täglich gebetet – eine religiöse Praxis im Glauben daran, dass Gott an bestimmten Orten und durch besondere Personen den Menschen nahe ist. Die Basilika San Giovanni in Laterano ist die Kathedrale Roms und der Sitz des Papstes als Bischof von Rom. Hier hängt Giottos Bild von Papst Bonifatius, der im Jahr 1300 das erste Heilige Jahr verkündete. Für einen Pilger besonders interessant ist die Santa Scala, die heilige Treppe, die der 23 http://www.catacombe.roma.it/en/dettaglio.html.
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Legende nach Helena, die Mutter Konstantins I., im Jahr 326 aus Jerusalem mitbrachte. Ihre 28 Stufen musste Jesus zum Prätorium von Pontius Pilatus hinaufsteigen. Die Treppe befindet sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts an ihrem jetzigen Ort. Am oberen Ende der Treppe steht die Sancta Sanctorum, eine wunderwirkende Ikone, die früher nur für die Päpste zugänglich war. Die Treppe darf nur kniend betreten werden, für jede Stufe gibt es eigene Gebete, während man sich langsam nach oben begibt. Hat man zuvor gebeichtet und das Abendmahl empfangen und betet man danach für den Papst ein Vaterunser, erhält man dafür einen teilweisen Ablass. Ein Generalablass, d. h. vollständigen Ablass, wird gewährt, wenn man dies während der Fastenzeit, in der Zeit von Allerheiligen bis acht Tage nach Allerseelen, oder zwischen Weihnachten und Epiphanias, dem Dreikönigstag am 6. Januar tut. Ursprünglich wurde der Ablass und vor allem der Generalablass nach seiner Einführung im Mittelalter nur anlässlich eines Heiligen Jahres gewährt, aber im Laufe der Kirchengeschichte, vor allem in Zeiten sinkender Pilgerzahlen, immer häufiger angeboten. Der Wächter, der bei der Ikone für Ruhe und Respekt unter den Pilgern sorgt, meint, dass die Menschen, die heute die Treppe auf Knien besteigen, keinen Bezug mehr zu Ablass und Fegefeuer hätten, sondern dies als Ausdruck des Glaubens, der Frömmigkeit und der religiösen Hingabe tun. Dies gleicht der Art und Weise, mit der man in Trier von offizieller Seite der Frage der Echtheit der Reliquien begegnet. Menschen pflegen weiterhin eine Praxis der Vergangenheit, aber nicht mehr innerhalb des ursprünglichen theologischen Rahmens, sondern als Zeugnis ihres Glauben. Die Kirche Santa Croce in Gerusalemme ist selbst fast ein Reliquiar. In ihr ist Helenas private Sammlung der Reliquien aus Jerusalem untergebracht, darunter Stücke des Kreuzes Jesu, zwei Dornen aus der Dornenkrone, einer der Nägel, mit denen Jesus gekreuzigt wurde, ein Teil des Stalls, in dem er geboren wurde und ein Teil seiner Grabeshöhle. Auch die Tafel mit der Inschrift von Jesu Kreuz befindet sich hier. Deren Echtheit wurde im Jahre 1496 von Papst Alexander VI. bestätigt. Er entschied dabei auch, dass alle, die die Kirche am letzten Sonntag im Januar besuchen, einen Generalablass erhalten. Und noch eine andere Heilige befindet sich in der Sammlung der Kirche: Antonietta Meo, die 1936 im Alter von sechs Jahren starb und heilig ge-
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Bild 7: Menschen beten kniend auf der Santa Scala. Foto: Roger Jensen.
sprochen wurde. Ihr Brief an den Vater, Sohn und Heiligen Geist und der Jungfrau Maria machte sie zur jüngsten Mystikerin der Kirchengeschichte. Im übrigen weisen alle Informationstafeln der Kirche darauf hin, dass die jeweilige Reliquie »traditionell« dem einen oder anderen der vielen Heiligen
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der Kirche zugeordnet ist, womit man einerseits der bedeutenden Tradition Ausdruck und Respekt verleiht, ohne damit behaupten zu müssen, dass die Authentizität der Reliquie eine historisch oder wissenschaftlich nachprüfbare Tatsache sei.
Die Arbeit der Opera Romana Pellegrinaggi Während meines Besuchs in Rom hatte ich ein Treffen mit den Leitern der Pilgerarbeit des Vatikan vereinbart, Caesar Atuire und Sonia Prosperi. Der Sitz des Opera Romana Pellegrinaggi befindet sich in der Nähe des Pantheon, weitaus bekannter ist ihre Touristeninformation direkt am Petersplatz. Sie arbeiten an der Schnittstelle von Religion und Tourismus, indem sie Besichtigungen der Museen und Kirchen organisieren und für Transport und Unterkunft sorgen. Ich wollte von ihnen erfahren, mit welchen Strategien der Traditionsvermittlung sie in katholischer Perspektive mit dem spätmodernen Pilgerwesen in Kontakt treten, für das die Tradition meistens keine wichtige Rolle mehr spielt. Caesar Atuire war leider verhindert, aber die Begegnung mit den anderen Repräsentanten der Organisation war sehr interessant. Im Verlauf des Gesprächs wurden vor allem zwei zusammenhängende Aspekte wichtig. Der eine Aspekt betrifft die in Westeuropa beliebten langen Pilgerwanderungen, zumeist nach Santiago de Compostela. Wie begegnet die Kirche den Pilgern unterwegs, mit welchen Hilfsmitteln und Texten? Traditionell bezieht sich alles auf das Ziel der Wanderung. Aber wie kann man die Pilger erreichen, die unterwegs sind – für die der Weg das Ziel ist? Das Pilgerbüro des Vatikans organisiert die meisten Reisen als Bus- oder Zugreisen, aber auch Pilgerwanderungen zu Fuß. Die Teilnehmer erhalten schriftliches Material mit praktischen Informationen und Gebeten. Stets ist ein Reiseführer und ein Priester mit dabei: Der Leiter kümmert sich um das Praktische, der Priester leitet die Reise mit Gebeten und Andachten, Beichte und Eucharistie und ist ein Ansprechpartner für Gespräche. Darüber hinaus werden Begegnungen mit örtlichen Priestern organisiert. Das Pilgerbüro war zur Zeit meines Besuchs im Jahr 2011 erst am Beginn der Entwicklung des schriftlichen Materials zur organisatorischen und geistlichen Begleitung der Pilger. Das Büro beschäftigt vier Priester für diese
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Arbeit. Alle Texte werden auf ihre theologische Korrektheit hin geprüft. Die geistlichen Texte und Gebete werden auf der Grundlage der alttestamentlichen Psalmen erarbeitet, die von den Juden auf der jährlichen Wallfahrt zum Tempel in Jerusalem benutzt wurden, und die heute die Pilger in ähnlicher Weise auf ihren Wegen begleiten können. Damit versucht das Büro, die klösterliche Tradition der Stundengebete wieder aufleben zu lassen, in denen die Psalmen ebenfalls eine zentrale Rolle spielten. Das Rosenkranz-Gebet ist nach Ansicht des Büros dazu weniger geeignet, da es für die heutigen Menschen schwierig sei, genug Konzentration aufzubringen, um den ganzen Rosenkranz zu beten. Der zweite Aspekt betrifft die Tradition und ihre Erneuerung im Blick auf die Menschen von heute. Wie weit und auf welche Weise sollte die Kirche ihre Pilgertheologie an die Gegenwart anpassen? Ich spreche die historisch wichtige Bedeutung der Buße und Bußwanderung an. Welche Rolle spielt die Buße für die Pilger heute? Die Buße hat ihrer Erfahrung nach immer noch eine wichtige Funktion, die heute aber stärker an die Beichte gebunden ist. Auf der Reise wird täglich gebeichtet und die Eucharistie empfangen. Zu Beginn nehmen nur wenige Menschen daran teil, nach wenigen Tagen steigt die Teilnahme aber kontinuierlich. Die Pilger werden dazu ermuntert, auf jeder Reise mindestens einen Tag der Buße, der Beichte, des Bekennens und der Versöhnung einzulegen. Die mittelalterliche Bußstrafe des Pilgerns wird heute indessen nicht mehr praktiziert, was auch Folgen für das Verständnis der Reise selbst hat. Die eigentliche Wanderung gerät immer mehr aus dem Blick, da der Aspekt der Sühne durch die körperlichen Belastungen der Wanderung entfallen ist. Außerdem organisiert das Büro Besuche der Reisegruppe bei Gemeinden vor Ort. Die Zahl der Pilger nach Santiago ist hoch, aber sie haben, so meinen meine Gesprächspartner von der Opera Romana Pellegrinaggi, vergessen, was Pilgern bedeutet. Sie sind nicht mehr am geistigen Inhalt, sondern lediglich an der Erfahrung ihrer körperlichen Grenzen interessiert, und damit keine Zielgruppe für die offizielle Pilgerarbeit der katholischen Kirche. Und wie wichtig ist der Ablass für ihre Arbeit? Es sei nach wie vor wichtig, erklären sie, den Pilgern zu erklären, worum es sich dabei handelt und was sie als Pilger davon haben. Während der heiligen Jahre verteilen sie eigene
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kleine Broschüren, um den Menschen die katholische Lehre verständlich zu machen. Auch das Pilgerheft, an dem sie zur Zeit arbeiten, und das sich explizit an die Santiago-Pilger richtet, hat eine katechetische Funktion im Blick auf bestimmte Punkte der katholischen Dogmatik – die Pilger benötigten »Schlüssel« auf dem Weg.
Pilgerreise nach Jerusalem Jerusalem war zweifellos das wichtigste Pilgerziel der europäischen Geschichte. Die längste Zeit des Mittelalters indessen war die Stadt aufgrund der Expansion der Araber für die christliche Welt unerreichbar. Deshalb übernahmen die Wallfahrtsorte auf dem europäischen Kontinent diese Rolle, vor allem Rom als dem neuen Jerusalem, aber auch Santiago de Compostela, Aachen und Trier. Trotzdem behielt Jerusalem seine besondere Stellung in der christlichen Welt als heiliger Ort, an dem die Heilsgeschichte in Jesu Leben und Tod ihren Höhepunkt erreichte, und für viele Christen in der ganzen Welt ist es bis heute wichtig, den Ort zu sehen, »an dem es geschah«. Im Spätherbst des Jahres 2012 war ich als Teilnehmer und Dozent bei einer Exkursion der nordischen theologischen Fakultäten nach Jerusalem dabei. Die Studienreise hatte die heiligen Stätten und die Pilgerwanderungen zum Thema und ermöglichte es mir, die wichtigsten Wallfahrtsorte der Christenheit selbst zu erleben. Besonders die Auferstehungskirche – wie sie in den orthodoxen Kirchen heißt – oder Grabeskirche, wie sie in den westlichen Kirchen genannt wird, ist ein spezielles Erlebnis. Die Kirche ist über dem wichtigsten Schauplatz der Leidensgeschichte Jesu errichtet und enthält Golgatha, der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, den Salbungsstein, auf den Jesus nach der Kreuzesabnahme gelegt wurde, und Jesu Grabeshöhle, in der die Auferstehung stattgefunden haben soll. Die Kirche wurde im Laufe ihrer Geschichte mehrmals zerstört und wieder aufgebaut. Kaiser Konstantin I. ließ in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts den römischen Venus-Tempel abtragen und die erste Kirche errichten. Seit dem 5. Jahrhundert existieren Berichte darüber, dass Helena, Konstantins Mutter, das heilige Kreuz fand, an dem Jesus starb. Andere Texte aus dem Mittelalter beschreiben indessen, wie es
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in einer Höhle unter der Kirche gefunden wurde. Diese reiche und einzigartige Geschichte macht die Grabeskirche in Jerusalem zu einem der bedeutendsten Gebäude des Christentums. Trotz wiederholter Zerstörungen findet man immer noch die Kreuzeszeichen der Kreuzfahrer auf den Wänden und Säulen. Die Auferstehungskirche ist in Zonen unterteilt, für die verschiedene christliche Konfessionen verantwortlich sind. Am Golgathafelsen steht ein Altar mit einem Loch darunter. Die Pilger stehen Schlange, um diese Stelle zu berühren, an dem das Kreuz stand. Unterhalb des Felsens befindet sich ein weiterer Altar, an dem man, glaubt man der Legende, die Leidensgeschichte Jesu hören kann, wenn man das Ohr an den Altar legt. Am Eingang der Kirche findet man den Salbungsstein, auf dem Jesus nach seinem Tod am Kreuz für das Begräbnis vorbereitet wurde. Viele orthodoxe Pilger praktizieren hier ein Ritual, das im westlichen Christentums weitgehend unbekannt ist: Sie legen Taschentücher und Kleidungsstücke, aber auch Tassen, Ikonen und Kerzen auf den Stein, um sie mit der Energie und Anwesenheit des Heiligen aufzuladen, das sie so mit nach Hause nehmen können. Am Grab Jesu wird einmal pro Jahr ein ähnliches Ritual zelebriert. In der Osternacht wird ein Feuer in der Höhle entzündet (es entfacht sich angeblich von selbst), das dann von dort an verschiedene orthodoxe Wallfahrtsorte auf der ganzen Welt gebracht wird. An einem weiteren Licht außerhalb der Höhle, das von diesem heiligen Feuer angefacht wird, entzünden Pilger Bündel mit Kerzen, um sie sogleich wieder zu löschen und mit nach Hause zu nehmen. Als ich mich gegenüber der Grabeshöhle hinsetze, um die Menschen um mich zu beobachten und die Geschichte dieses Ortes in mich aufzunehmen und dabei gedankenverloren die Beine übereinander lege, kommt bereits nach kurzer Zeit ein schwarzgekleideter Wächter direkt auf mich zu, schaut mir in die Augen und ruft mit lauter Stimme »No resting place!« Als ich ihn zuerst nicht verstehe, wiederholt er seinen zornigen Ruf und fordert mich mit Gesten zum Aufstehen auf. Andere Pilger, die neben mir sitzen, schauen mich unsicher an. Er wurde wohl durch meine Sitzposition provoziert, die in seinen Augen dem heiligen Ort nicht genügend Respekt zollte. Es ist interessant zu beobachten, wie die religiösen Rituale, die in ihrer Form an das Mittelalter erinnern, in der Grabeskirche noch existieren. Alle
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Sinne sind beteiligt, man berührt, hört, sieht, und nimmt die heilige Gegenwart in Form aufgeladener Gegenstände mit nach Hause. Auch findet man in Jerusalem eine andere und deutlichere geistliche und religiöse Praxis als an anderen Pilgerzielen, wie z. B. die Kreuzesprozessionen auf der Via Dolorosa. An einigen Stationen stehen sogar Kreuze für eine individuelle Prozession bereit.
Pilgern in Italien (2) Zu Fuß nach Rom Im Herbst 2013 wanderte ich mit meiner Frau Birgitte von Norden kommend nach Rom, einige Tage auf den letzten Etappen entlang der Via Francigena, die im englischen Canterbury beginnt und am Petersdom endet. Ich hatte inzwischen Erfahrungen mit den Wanderungen nach Santiago und Trier und vom norwegischen Olavsweg. Auf dem Weg nach Santiago wanderte ich stellenweise in einer Schlange und hatte auf dem Weg oder in den Herbergen stets Pilger um mich, mit denen ich mich unterhalten konnte. Nach Trier gingen wir mit einer Gruppe, deren Gemeinschaft der Wanderung einen Inhalt gab. Nun sollten wir auf uns allein gestellt auf einem Pilgerweg wandern, der nicht annähernd so populär war wie der Camino nach Santiago. Wir erfuhren bald, dass die Via Francigena dem Pilgerweg nach Nidaros ähnelte – an manchen Tagen trafen wir nicht einen einzigen anderen Pilger. Dieses Mal war ich im Blick auf meine Arbeit als Leiter eines Pilgerzentrums unterwegs: Ich achtete auf die Markierung des Weges, testete die Herbergen und andere Unterkünfte, und verglich die Angebote auf dem Pilgerweg nach Rom mit dem, was den Pilgern von Oslo nach Trondheim geboten wird. Die letzten Etappen bis Rom führen durch eine abwechslungsreiche Landschaft. Wir gingen entlang stark befahrener Straßen, kamen durch eine Haselnussplantage, in der zahllose alte Nussschalen unter den Sohlen der Wanderschuhe knirschten, durch einen uralten Eichenwald, dessen Boden mit leuchtenden, fliederfarbenen Alpenveilchen und Moos bedeckt war. Wir besuchten die Kirchen entlang des Weges, zündeten Kerzen an und hatten Augenblicke der Stille. Unterwegs sahen wir viele Beispiele neuerer
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Bild 8: Oben: Golgatha, Pilger in der Schlange, um die Stelle unter dem Alter zu berühren, an der Jesu Kreuz stand. Mitte: Pilger an dem Stein, auf den Jesus nach der Kreuzigung gelegt wurde. Pilger legen ihr Ohr an den Altar, um zu lauschen. Unten: Kerzen, die gerade entzündet wurden, werden außerhalb der Auferstehungsgrotte wieder gelöscht. Gegenüber der Grabeshöhle – ich mache das Foto sitzend, kurze Zeit später werde ich von einem der Wächter streng zurechtgewiesen. Foto: Roger Jensen.
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katholischer Volksfrömmigkeit mit Bildern und Gegenständen des sagenumwobenen Pater Pio und der Madonna-Erscheinungen in den Orten Medjugorje und Fatima, wohin viele katholische Pfarreien Wallfahrten organisieren. Viele Wanderwege in Europa führen entlang der alten Verkehrsadern, so auch die Via Francigena. Sie folgt im Wesentlichen der Via Cassia, bevor sie auf dem letzten Stück in die Via Trionfale übergeht. Da ein Teil der Via Cassia inzwischen eine Autobahn ist, macht der Pilgerweg gelegentliche Abstecher und Umwege auf kleinere Pfade und Feldwege, was verwirrend sein kann, wenn manchmal mehrere Pfade mit unterschiedlichen Markierungen zur Auswahl stehen. Am späten Nachmittag, auf dem Weg nach Campagnano, einige Kilometer nördlich von Rom, nahmen wir aus Versehen den längsten Umweg und mussten die letzte Strecke auf einer stark befahrenen Straße ohne Straßenbeleuchtung in der Dunkelheit hinter uns bringen. Glücklicherweise erreichten wir das Gästehaus, bevor die Pforten für die Nacht schlossen. Die Markierungen entlang der Via Francigena sind kaum zufriedenstellend und nicht mit Norwegen zu vergleichen. Selbst der Pilgerweg durch das Stadtgebiet Oslos, das die Markierungsarbeit vor große Herausforderungen stellt, ist besser beschildert. Der Weg durch Lazio wurde mehrfach von unterschiedlichen Organisationen markiert, wodurch das System uneinheitlich wurde. Die angebotenen Karten24 haben eine so geringe Auflösung, dass man manchmal nicht erkennen kann, welche Straße man nehmen muss. Es gibt nur wenige Reiseführer für die Via Francigena, der beste stammt aus der Feder von Alison Raju und ist 2014 in einer aktualisierten Auflage erschienen. Wir schliefen ein paar Nächte in gewöhnlichen Hotels, aber die letzte Nacht verbrachten wir bei den Nonnen in Casa Nostra Signora del Sacro Cuore in La Storta, in einer modernen Schul- und Klosteranlage mit Gästehaus, das sich in einem großen und schönen Garten an der Via Cassia befindet. Wir wurden sehr herzlich begrüßt, obwohl die Verständigung schwierig war. Schließlich kam eine Nonne, mit der meine Frau französisch sprechen konnte. Die Zimmer waren groß und komfortabel, mit eigenem 24 Auf dem offiziellen Internetportal der Via Francigena kann man auch eine Karte herunterladen: http://www.viefrancigene.org/en/.
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Bad. Den Gästen wurden einfache, aber gute dreigängige Abendessen mit lokalen Weinen in einem eigenen Speisesaal serviert. Wir waren nicht allein, aber die einzigen Pilger, die über Nacht blieben, und das scheint selten zu sein: Bei der Abreise am nächsten Morgen durften wir das Abendessen nicht bezahlen, sondern waren als Pilger eingeladen. Eine nette Geste! Als Dankeschön schickten wir elektronische Weihnachtsgrüße mit einem Bild von uns selbst auf dem Petersplatz und erhielten eine sehr schöne Antwort auf italienisch, dass sie sich an uns erinnerten. Von dort gingen wir die letzten Kilometer zuerst entlang einer Straße, bevor wir an einem großen Landsitz vorbei die Via Trionfale erreichten. Vom Monte Mario konnten wir schließlich die Kuppel des Petersdoms sehen. Wir eilten die Treppen hinunter in Richtung Vatikan. Obwohl es der Tag von Franz von Assisi war, schienen wir die einzigen Fußpilger zu sein. Als wir mit unserer Wanderausrüstung am Petersdom ankamen, zogen wir einige lange Blicke auf uns. Einerseits erkannten uns die Menschen an der Jakobsmuschel auf dem Rucksack, und Tage später erzählte uns ein Taxifahrer, dass er den Camino nach Santiago gegangen war. Andererseits scheinen Fußpilger in Rom ein eher ungewohnter Anblick zu sein. Was bedeutet es, als Pilger auf einem so einsamen Weg unterwegs zu sein? Auf Facebook gibt es eine Reihe von Pilgerseiten zu verschiedenen Pilgerwegen, auf denen Tipps zur Vorbereitung für eine Wanderung, aber auch Erfahrungen nach der Reise geteilt werden. Nicht selten taucht die Frage auf, was die Reise zu einer Pilgerfahrt macht. Ich gebe hier ein recht typisches Gespräch über das Thema wieder, von einer offenen FacebookSeite zur Via Francigena, vom August 2013: EE: Ich habe vor kurzem darüber nachgedacht, was einen VF [Via Francigena]Pilger von einem VF-Wanderer unterscheidet. Was meinst du dazu? SN: EE Das ist eine interessante Frage. Auf dem Camino habe ich mich immer als Teil einer Jakobspilgergemeinschaft gefühlt, aber auf der VF kam ich mir vor wie ein Rucksacktourist auf dem Weg nach Rom! Vielleicht, weil weder der Weg noch das Ziel die gleiche historische Romantik, Symbolik oder Tradition hat wie der Weg nach Santiago (keine Muscheln oder Ritterkreuze), und weil wir auf dem ganzen Weg nie einen anderen Pilger gesehen haben. Als wir Rom erreichten, hatten wir einen echten Kampf, um Don Bruno zu sehen, und es war nicht das gleiche Gefühl des »Ich bin angekommen« wie in Santiago. XMA: Guter Kommentar SN, danke.
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KG: Für mich war es das genaue Gegenteil. Ich hatte mehr Zeit zum Nachdenken, mehr Zeit zum Fühlen, mehr Zeit, auf der VF spirituell zu sein. Ich wurde nicht ständig bombardiert mit anderen Pilgern, die mir über ihre Gefühle erzählten; Ich hatte mehr Zeit zu reflektieren auf der VF. EE: Es scheint, dass dies eine sehr individuelle Sache ist. Einige von uns werden von der Gemeinschaft mit anderen inspiriert und einige durch die ungestörte Möglichkeit, auf ihre innere Stimme zu hören. Ich war nur auf der VF, und habe keinen Vergleich mit dem Camino. Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass einige der Menschen, die ich auf der VF traf, nur wanderten (was völlig in Ordnung ist), aber andere nach mehr suchten. JD: Das ist eine große Frage! Ich denke, dass das Pilgern, die Pilgerwanderung überall das Gleiche ist, auf der Via Francigena, auf dem Camino nach Santiago, auf dem Weg nach Fatima (Portugal), oder jeder andere der tausendfachen Wege in der Welt! Worin könnte der Unterschied liegen? Der Pilger, und was er fühlt (anderes Gefühl, andere Wanderung), die Umgebung um ihn herum (zu viele Pilger auf dem französischen Weg nach Santiago macht die Leute wahrscheinlich VERRÜCKT!) Und natürlich, was bringt dich dazu, dein wunderbares Bett zu verlassen, um zwischen schnarchenden Fremden zu schlafen, anstatt Urlaub zu machen in Kuba, Brasilien, Hawaii, … in einem großen Resort! Ich habe einmal gehört: Manche Menschen beginnen als Tourist und enden als Pilger! SN: Ich habe lange, einsame Wanderungen gemacht mit jeder Menge Zeit zum Nachdenken und Reflektieren, die keine Pilgerwege waren. Für mich war die VF von der Schweiz nach Rom genau das Gleiche wie jene Wanderungen. Ich habe nicht die gleiche »Pilgeratmosphäre« gefunden, die es auf einigen der Strecken des Camino gibt, die ich gewandert bin. Ich hatte das gleiche Gefühl des Nichtverbundenseins, als ich die Via Turonensis von Paris nach Roncesvalles wanderte. Es war einfach nur eine lange (über 1000 km), einsame Wanderung auf vielen Straßen, ohne Herbergen und ohne Pilger. EE: Das war ziemlich genau meine Erfahrung. Manchmal fühlte ich mich wie ein Wanderer und manchmal wie ein Pilger. Und ich kann auch das nachvollziehen, was andere über das Gefühl des Nichtverbundenseins schrieben. Aber dann gibt es auch ein sehr starkes Gefühl der Verbundenheit. Und ich bin nicht sicher, ob dies wegen meiner Umgebung war. Vielleicht hatte es mehr mit meiner damaligen Gemütsverfassung zu tun. Oder eher mit dem Veränderungsprozess. Weil ich die Veränderung erlebt habe, die durch die Einsamkeit ermöglicht wurde. Klingt das ein wenig wie deine Erfahrung, KG? Ich möchte einmal nach Santiago wandern, vielleicht werde ich die Stimmung erleben, die du erlebt hast, SN! SN: Ich war zweimal in Lourdes. (Ich ging von dort 2009 nach Pamplona). Ich bin kein Christ, aber ich konnte die Kraft des Glaubens im Heiligtum fühlen und fühlte mich verbunden mit den Tausenden von Menschen dort. In Rom habe ich
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das nicht gespürt. Vielleicht sollte ich an einem Mittwoch dort zu sein, wenn der Papst seine wöchentliche Audienz hält! EE: »Als sie auf dem großen Vorplatz eintrafen, wurden sie von der typischen Hektik der Geschäfte im Tempel begrüßt. Geldwechsler waren an ihren Ständen, um die gewöhnlichen römischen Münzen in die Tempelwährung umzutauschen. Diese speziellen Münzen waren für den Kauf makelloser Tiere für die Opferung erforderlich, die an anderen Ständen im Tempel verkauft wurden.« JD: Große Worte, die nicht viele Leute verstehen können! TS: Ich bin völlig einer Meinung mit SN. Ich schrieb sogar eine Postkarte an meinen besten Freund mit dem Text: »Was kann ein fröhlicher Ketzer an einem Ort wie diesem tun? Glücklich sein!« Die Stärke des Glaubens und der Hoffnung in Lourdes (sobald du an allen Jungfrau-Wasserflaschen aus Plastik in den Geschäften auf der anderen Seite des Flusses vorbei bist) ist mit Händen zu greifen. Ich liebe Lourdes. EE: Ja, es gibt Orte, wo man die Gebete und die Meditation buchstäblich fühlen kann, oder auch nur die Anwesenheit der zahlreichen Menschen vergangener Jahrhunderte. Ich fühlte das auch an den heiligen Orten der First Nations in Kanada. Ebenso auf den sehr alten Abschnitten der VF, wie zwischen Altopascio und Galeno. Ich glaube nicht, dass man ein religiöser Mensch sein muss, um dies zu erfahren. JT: Ich habe die VF vor kurzem beendet, die Reise ist der Schlüssel, nicht das Ziel, die Kraft des menschlichen Geistes, an jedem Tag, in irgendeiner Form, erstaunte mich, und spiegelt wieder, dass ich als Wanderer mit einem offenen Geist wegging und als Pilger mit dem Wunsch zurückkehrte, noch so viel mehr zu lernen. Ich bin bereits den Camino gewandert und ein paar Traumpfade hier in Australien. Dank an alle, die mir geholfen haben. SN: Animismus ist eine der ältesten und spirituellsten der »Religionen« der Welt (praktiziert von den Ureinwohnern in Australien). Sie glauben, dass Geister Bäume, Felsen, Flüsse usw. bewohnen und dass wir durch sie beeinflusst werden. Wie in diesem alten chassidischen Sprichwort: »Wenn du mit reinem Geist über die Felder gehst, dann kommen aus allen Steinen und allen wachsenden Dingen und allen Tieren die Funken ihrer Seelen hervor und klammern sich an dich und entfachen ein heiliges Feuer in dir.« EE: Möchte Euch danken, dass Ihr eure Gedanken und Einsichten teilt. Ich fühle mich geehrt und dankbar, ein Teil der VF-Gemeinschaft zu sein. Ihr seid alle so außergewöhnlich! KW: Ich denke, es gibt einen Unterschied in der Intention zwischen Pilger und Wanderer. Ich denke, dass ein Pilger auf seiner Reise Erfahrungen mit dem Heiligen sucht. Ich bin den Camino nach Santiago nicht gewandert, aber ich vermute, dass die heiligen Linien dort stärker sein könnten, weil dort so viele
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Menschen unterwegs sind, anders als auf der VF. Nicht, dass dies den Weg mehr oder weniger heilig macht, oder mehr oder weniger zu einer Pilgerreise. Verschiedene Orte sprechen Menschen auf unterschiedliche Weise an. Ich bin nie den Camino nach Santiago gewandert. Ich bevorzuge die VF, weil dort weniger Menschen wandern. Ich will allein gehen und meinen eigenen Weg finden. Ich erlebe das Heilige viel stärker, wenn ich alleine bin und nicht abgelenkt werde. Für andere mag es anders sein. SN: Wir dachten, das der »unbehauene Pfad« der VF romantisch sein würde, und als Adelaide Trezzini vom AIVF uns »Pioniere« nannte, hatten wir Visionen von einsamen Wegen, verborgenen Pfaden und unentdeckten Dörfern! Es war genau das Gegenteil! Die Probleme auf der VF waren tatsächlich die gleichen wie auf dem Camino vor 30 Jahren. Authentische Wege sind durch die Entwicklung verschwunden. Wir mussten viele Straßen entlang wandern, was störend und laut war, wir mussten oft öffentliche Transportmittel benutzen, um gefährliche Abschnitte zu vermeiden. Das größte Problem, von dem uns die wenigen Pilger berichteten, die den Weg gegangen sind, war die Suche nach Unterkünften, weil es praktisch keine Pilgerherbergen gab, man musste die Hotels im Voraus buchen, manchmal in einer Stadt weit ab von der Strecke. Eines der enttäuschendsten Dinge war, dass fast alle Kirchen geschlossen waren – manche permanent aufgrund des Priestermangels. Und wir bekamen nirgends ein Menu del Peregrino! Es war deshalb teuer. EE: Ihre Worte, KE, hallen sehr nach! EE: SN, ich erinnere mich, was du über die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Unterkunft auf VF etc. gesagt hat. Es ist unglaublich, wie sehr sich dies in den letzten Jahren verändert hat. Ich war sehr beeindruckt von der Art, wie die VF ausgeschildert ist, vor allem in einigen Bereichen, und wie sehr die Pilger an vielen Orten willkommen sind. Ich denke, dass die täglichen Schwierigkeiten dich manchmal vom Hauptzweck der Wanderung abbringen. Im Jahr 2012, als ich die VF wanderte, gab es nicht zu viele und nicht zu wenige Möglichkeiten zum Übernachten und Essen – gerade genug, um das Gefühl von Abenteuer zu bewahren und sich zugleich sicher zu fühlen. Und für mich, wie für KE, bedeuten weniger Menschen auf dem Weg eine stärkere Erfahrung. Aber andererseits, wer weiß, wie es für mich auf dem Camino de Santiago sein würde? JE: Die Frage drehte sich um zwei Personen auf der Via Francigena, den Pilger und Wanderer. Die Pilger wandern mit der Hoffnung in ihren Seelen, während die Wanderer nur auf ihren Sohlen zurechtkommen. SN: JE, dann bin ich ein Wanderer! Obwohl ich das Gefühl habe, dass die Seelen der Pilger durch die Sohlen meiner Schuhe strömen!
Die Wallfahrt in Kevelaer
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Die Wallfahrt in Kevelaer Sommer 2014 hatten wir die Möglichkeit, nach Kevelaer zu reisen, den meistbesuchten Wallfahrtsort in Nordwesteuropa, mit mehr als 800.000 Pilgern pro Jahr. Kevelaer selbst hat nicht mehr als etwa 30 000 Einwohner und liegt im Nordwesten Deutschlands an der Grenze zu den Niederlanden. Die Stadt verdankt ihre Existenz in vielerlei Hinsicht den Pilgern. Die Geschichte der Stadt als Wallfahrtsort reicht in den Dreissigjährigen Krieg zurück, als das Gebiet Schauplatz von Kriegshandlungen und umfangreichen Plünderungen war. Ein frommer holländischer Händler, Hendrik Busman, hielt in der Weihnachtszeit im Jahre 1641 an einer Strassenkreuzung, um an einem Kreuz zu beten – an der Stelle, an der die Maria-Kapelle heute steht. Da spricht ihn eine Stimme vom Kreuz her an: »An dieser Stelle sollst du mir ein Kapellchen bauen!« Er hört die Stimme dreimal. Im folgenden Jahr hatte seine Frau die Vision einer brennenden Kerze und einer Kapelle mit einem Bild des damals bekannten Motivs aus Luxemburg, das Maria als Consolatrix Afflictorum, als Trösterin der Betrübten zeigt. Das Bild war ein Kupferstich, der Busmans Frau einmal zum Ankauf angeboten wurde, aber zu teuer für sie war. Sie beschafften nun die Mittel für den kleinen Stich, errichten eine Kapelle, in der das Bild aufgestellt wurde und die 1642 geweiht wurde. Die Geschichte von Busman und seiner Frau verbreitete sich schnell, der Ort wurde zu einem Wallfahrtsort, der durch Berichte von Wunderheilungen schnell an Bedeutung gewann. Die erste Wallfahrt mit einer Prozession über eine größere Distanz wurde 1643 organisiert. Das Bild wurde als Gnadenbild bekannt. Im Jahre 1654 wurde die heutige Kapelle mit etwa 10 Metern Durchmesser und mit einem separaten Eingang und Ausgang errichtet, damit die Prozession am Altar vorbeiziehen und jeder Teilnehmer vor dem Bild stehen kann. Die Madonna ist in einem goldenen Rahmen gefasst und mit Perlen und Schmuck symmetrisch verziert, aber auch mit Uhren, die Pilger als Votivgaben im Lauf der Zeiten gespendet haben, als Dank für erhörte Gebete und in der Hoffnung auf Hilfe. Die Kapelle hat außerdem eine Öffnung zum Vorplatz mit fest installierten Stühlen, damit das Gnadenbild bei Gottesdiensten und liturgischen Handlungen vor der Kapelle als Altarbild dienen kann. In den Jahren 1643–1645 wurde eine separate Wallfahrtskirche, die Kerzenkapelle, neben der ursprünglichen Kapelle errichtet, in der seitdem
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organisierte Pilgergruppen Schilder mit ihrem Namen und dem Datum der Wallfahrt hinterlassen. Unter der Decke der Kerzenkapelle hängen alte Krücken als Heilungszeugen, Votivtafeln bedecken die Rückwand. Dort können Pilger ihre Gebete und ihren Dank in ein Buch schreiben. Die Themen kreisen häufig um Beziehungen und Persönliches, um Familien, Krankheiten und schwierige Lebenssituationen. Außerhalb der Kerzenkapelle gibt es große Ständer für fast tausend Kerzen. Im Jahr 1864 wurde in Kevelaer die Marienbasilika geweiht, wenige Jahre nach Bernadettes Offenbarung in Südfrankreich und dem Beginn der großen Pilgerströme nach Lourdes. Fürchtete man Konkurrenz für Kevelaer? Sie wäre unbegründet gewesen, denn im Jahr 1884 erhielt Kevelaer von Papst Leo XIII. das Ablassprivileg für die vier großen Feste zu Ehren der Jungfrau Maria.25 Die Zahl der Pilger nach Kevelaer schwankte im Laufe der Geschichte, es gab jedoch noch nie so viele Pilger wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie auf dem Pilgerweg nach Rom findet man auch in Kevelaer eine Mischung aus der Verehrung alter und neuerer Heiliger. Die Besitzerin des Hotels, in dem wir untergebracht sind, erzählt stolz, dass ihre Familie das Hotel seit Generationen führt. Die Zahl der Pilger sei in der letzten Zeit gesunken und die Einheimischen nicht mehr so engagiert wie früher. In ihrer Kindheit stand man andächtig dabei oder nahm an der Prozession teil, die Inhaber kamen aus Respekt aus ihren Läden heraus. Heute ist man mehr Zuschauer, sitzt im Café und isst Eis. Da in den Niederlanden keine Prozessionen erlaubt sind, kommen viele Holländer nach Kevelaer, um hier zu feiern. Die teilnehmenden Gruppen stammen aus örtlichen Kirchengemeinden, aus ganz Deutschland und den BeneluxLändern, es sind Senioren und Kindergruppen, Pilgergruppen mit Kindern der Erstkommunion, Soldaten mit Militärpfarrern, Kevelaer-Bruderschaften, die mit dem Auto, dem Bus, dem Motorrad und Fahrrad anreisen oder zu Fuß unterwegs sind. Die Pilgersaison dauert vom 1. Mai zum 1. November, in dieser Zeit ist die Stadt mit Fahnen in den Vatikan-Farben weiß und gelb geschmückt. Die Pilger beten gewöhnlich zuerst in der Gnadenkapelle, danach besuchen sie einen Gottesdienst in der Marienbasilika, gehen die 14 Stationen des Kreuzwegs entlang, der im Jahr 1892 geweiht wurde und sich innerhalb 25 http://www.blattus.de/kaz/texte/p_kaz/paepstlicher-segen.html.
Die Wallfahrt in Kevelaer
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einer Viertelstunde bewältigen lässt, um dann zum Mittagessen einzukehren. Unsere Wallfahrt stand unter dem Motto »von Kevelaer nach Kevelaer«, war also in erster Linie eine lokale Wallfahrt für die Einwohner der Stadt und führte von der Antoniuskirche zur Marienbasilika. Die Bruderschaften spielen dabei eine wichtige Rolle, sie organisieren ehrenamtlich die Pilgerarbeit und haben liturgische Aufgaben, sie tragen Uniformen während der Prozession und haben ihre eigenen Fahnen, die sie in beiden Kirchen vor den Altären feierlich senken. Die Bruderschaften, die inzwischen auch für Frauen offen sind, tragen wesentlich zum sozialen Umfeld der Prozessionen bei. Durch die Prozession dankt die Stadt Maria für ihre Nähe, man betet für die Pilger zu Fuß, für die Gebetsgemeinschaften in den Bussen und für die Pilger in den Autos und auf den Rädern. Priester führen die Prozession an, hinter ihnen gehen die Bruderschaften mit ihren Fahnen. Danach folgen abwechselnd Musikkapellen und Einheimische. Ein paar Männer begleiten die Prozession mit ihren Prozessionsstäben, mit denen sie durch Anheben die verschiedenen Teile des Rosenkranzes signalisieren, damit die Teilnehmer der Prozession mitbeten können. Zwischen den Gebetsrunden spielen die Kapellen Kirchenlieder. Alle Teilnehmer, zwischen 200 und 300 Personen, hatten ein Programm mit den Texten dabei. Ziel der Prozession war die Gnadenkapelle, bevor man die Marienbasilika für eine abschließende Messe besuchte. Die Gebete in der Gnadenkapelle wurden von Laien gesprochen, darunter auch Kinder und Jugendliche. Die Prozession hatte fast keine Zuschauer, die Menschen zogen sich zurück oder tranken unbeteiligt Kaffee in den Strassencafés. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer war hoch, nur vereinzelt waren jüngere Menschen und Familien mit Kindern zu sehen.
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Bild 9: Oben: Die Wallfahrt »von Kevelaer nach Kevelaer«, angeführt von Tambourmajoren und Ministranten, danach folgen Diakone und Priester, die Bruderschaften mit den Fahnen, zuletzt Musiker und die übrigen Teilnehmer der Wallfahrt, die mehrere hundert Menschen zusammenbringt. Unten: Menschen im Café betrachten unbeteiligt die Prozession. Foto: Roger Jensen.
Pilgern heute – ein komplexes und vielfältiges Phänomen
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Pilgern heute – ein komplexes und vielfältiges Phänomen Mein Gesamteindruck von meinen Wanderungen und Beobachtungen ist, dass die Motive dafür, warum sich Menschen auf die Pilgerschaft begeben, äußerst komplex und uneinheitlich zu sein scheinen: der Wunsch nach Erfahrungen des eigenen Körpers, die Suche nach Herausforderungen, die Bewältigung von Lebens- oder Beziehungskrisen, das Testen der eigenen Grenzen, die Sehnsucht nach einer anderen Form der Gemeinschaft oder die Bestätigung einer bereits bestehenden Gemeinschaft, und nicht zuletzt das Erlebnis einer Gegenwart des Heiligen auf dem Pilgerweg oder am Ziel – alle diese Aspekte scheinen mehr oder weniger und auf verschiedene Weisen die Vielfalt der heutigen Pilgerpraxis auszumachen. Das Verständnis der Pilgerschaft ändert sich und beschränkt sich nicht mehr auf die traditionellen katholischen Wallfahrtsorte und Pilgerziele. Auch evangelische Kirchen und freikirchliche Erweckungsbewegungen haben in den letzten Jahren mit organisierten Ausflügen und Wanderungen begonnen, die sie als Pilgerwanderungen verstehen. Als Beispiel lassen sich die jährlichen Wanderungen und Radtouren anführen, die in Hermannsburg südlich von Hamburg als Pilgerwanderungen zum Gedenken an den Erweckungsprediger Ludwig Harms organisiert werden, der dort eine Missionsorganisation gegründet hat, die noch heute aktiv ist. Den Höhepunkt bildet dabei das große Missionsfest am 24. Juni, dem Johannistag. Auf ihren Wanderungen und Fahrradtouren nach Hermannsburg besuchen die Pilger, die in Gruppen mit bis zu 30 Teilnehmern und eigenen Begleitfahrzeugen organisiert sind, unterwegs Gemeinden, in denen sie privat übernachten. Ich selbst erfahre durch meine Pilgerwanderungen, Wallfahrten und Begegnungen eine mehr sinnliche, körperliche und materielle Spiritualität als durch meine akademische Arbeit und die Gottesdienste in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Norwegens. Der Glaube erhält eine körperliche, konkrete und physische Form und damit neue, andere Aspekte. Vergleichbare sinnliche Erfahrungen sind im traditionellen Protestantismus eher mit der Kirchenmusik, dem Gesang und der Feier der Sakramente verbunden, durch die man den Glauben auf eine andere Weise erleben kann als durch das gesprochene Wort. Meiner Erfahrung nach begegnen die verschiedenen Kirchen den Pilgern
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auf unterschiedliche Weisen. Ich erkenne dabei ansatzweise drei Typologien. Die Kirchen auf den Pilgerwegen nach Santiago und Rom pflegen die Tradition und suchen nach neuen Wegen, diese den heutigen Pilgern nahezubringen, wie sich dies z. B. darin zeigt, wie man den Menschen die Bedeutung und Funktion des Ablasses erklärt. Die Kirchen in Trier und noch mehr in Trondheim sind weitaus kritischer und lehnen eine reine Wiederholung der Tradition ohne den Versuch einer Neudeutung und Weiterentwicklung ab. In Jerusalem dagegen leben die Traditionen in ihren alten Formen noch wesentlich stärker, ohne dass irgendwelche Bestrebungen sichtbar werden, diese für die Menschen heute attraktiver oder verständlicher zu gestalten. Dort zeigt sich aber auch, dass vor allem orthodoxe Pilger aus Osteuropa diese Traditionen als sinnvoll erleben und aktiv nutzen. Als ich begann, Erfahrungen als Pilger zu sammeln, war schnell klar, dass ich damit nicht allein bin und es mehr Wissen bedurfte, um das Phänomen des Pilgerns in verschiedenen Perspektiven diskutieren zu können. Warum gehen die Menschen heute auf Pilgerschaft, welche Bedeutung hatte das Pilgern im Lauf der Geschichte, und wie lässt sich diese auf die heutige Praxis beziehen? Was meinen wir ferner mit Begriffen wie das Heilige und heilige Orte? Und ich möchte behaupten, dass auch die Kirchen intensiver darüber nachdenken müssen, wie sie heute den Pilger zu begegnen wünschen. Es braucht eine neue kirchliche und theologischen Perspektive auf das Pilgerwesen, wenn man nicht lediglich die Tradition mit dem dünnen Firnis einer neuen Sprache überziehen möchte. Die Kirchen benötigen eine neue Pilgertheologie, wenn die Rede von Gott noch in irgendeiner Form für die Erlebnisse und Erfahrungen des spätmodernen westlichen Pilgers relevant sein soll. In den folgenden Kapiteln werden wir uns diesen Herausforderungen stellen.
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Zum Verständnis des Pilgerwesens. Zentrale Perspektiven der Sozialwissenschaften Es saust in den Ohren von Tiefe oder Höhe. Das ist der Druck von der anderen Seite der Wand. Er bringt jede Tatsache zum Schweben und macht den Pinsel fest. Es tut weh, durch Wände zu gehen, man wird davon krank, aber es muß sein. Die Welt ist eins. Aber Wände… Und die Wand ist ein Teil von dir selbst – man weiß es oder weiß es nicht, doch es gilt für alle, nur für kleine Kinder nicht. Für sie keine Wand. Der helle Himmel hat sich schräg zur Wand gestellt. Es ist wie ein Gebet zur Leere. Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu und flüstert: »Ich bin nicht leer, ich bin offen.« (Tomas Tranströmer)26
Wie lässt sich das Phänomen des modernen Pilgers verstehen? Welche Motive liegen den heutigen Pilgerwanderungen zugrunde, welche Erfahrungen machen die Pilger unterwegs und wie weit werden sie dadurch geprägt? Welche Bedeutung hat die Praxis des Pilgerns für die Gemeinschaft der Pilger entlang des Weges und für den sozialen Kontext, aus dem man aufgebrochen ist und in den man nach der Wanderung wieder zurückkehrt? Wie lässt sich das Pilgern als soziales Handeln, als sozialer Ritus verstehen? Im Folgenden präsentieren wir zentrale sozialwissenschaftliche Perspektiven aus der Ritualtheorie und Religionssoziologie, sowohl theoretische Ansätze wie auch neuere empirische Untersuchungen.
26 Tomas Transtro¨ mer, aus dem Gedicht »Vermeer«, aus der Sammlung För levande och döda von 1989.
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Zum Verständnis des Pilgerwesens
Das Pilgern als Ritus Das Pilgerwesen wurde in seiner historischen und modernen Form bereits mehrfach sozialwissenschaftlich untersucht. Neben dem Verständnis des Pilgers als Teil des mittelalterlichen religiösen Lebens stand das Pilgern als sozialer Ritus im Mittelpunkt des Interesses. Die Ritualforschung wird in der jüngsten Zeit durch die Spannung zwischen einem symbolischen und einem performativen Ansatz geprägt. Während der symbolische Ansatz den symbolischen Charakter der Rituale betont, die einen bestimmten Inhalt ausdrücken und damit als »Text« verstanden werden können, konzentriert sich der performative Ansatz auf die Praktiken von Interaktion und Sinnbildung, durch die der Ritus Neues zu schaffen vermag. Die symbolische Ritualforschung beschreibt vor allem die assoziativen und integrativen Aspekte des Rituals, der performative Ansatz hat dagegen die dissoziierende und krisenschaffende Kraft des Ritus im Blick, durch die Veränderungen herbeigeführt werden können. Die performative Ritualforschung wird vor allem durch die schottischen Ethnologen Victor und Edith Turner repräsentiert, deren Arbeiten auf den Forschungsperspektiven des französischen Ethnologen und Volkskundlers Arnold van Gennep beruhen.27 Arnold van Genneps innovatives Buch Rites de Passage aus dem Jahr 1960 beschreibt die sogenannten Übergangsriten. Der Übergang vom Profanen zum Heiligen ist so groß, dass er spezieller Rituale bedarf. Van Gennep denkt dabei an den Wechsel zwischen sozialen Gruppen, z. B. durch Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Ordination oder anderen Aufnahmeritualen, an den Übergang von einer Lebensphase zu einer anderen, wie durch Geburt oder Gebären, wie auch an das Erreichen eines neuen Stadiums.28 Riten lassen sich dabei im Blick auf verschiedene Kriterien wie positivnegativ oder direkt-indirekt klassifizieren. Das menschliche Leben ist durch das Erreichen aufeinander folgender Stufen gekennzeichnet, was mit bestimmten Zeremonien und Ritualen gekennzeichnet wird. Mehr noch: 27 Schützeichel, Rainer. 2012. »Über das Pilgern. Soziologische Analysen einer Handlingskonfiguration«, in: Heise, Patrick und Kurrat, Christian (Red.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, S. 26ff. 28 »So great is the incompatability between the profane and the sacred worlds that a man cannot pass from one to the other without going through an intermediate stage« Gennep, Arnold van. 1960. The Rites of Passage, S. 1.
Das Pilgern als Ritus
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Diese Zeremonien und Rituale ermöglichen erst diesen Übergang von einer bestimmten Phase und in eine andere. Van Gennep versteht den Übergangsritus als eine besondere Kategorie von Riten, die sich wiederum in Trennungsriten (präliminale Riten), Übergangs-, Schwellen- oder Umwandlungsriten (liminale Riten) und Angliederungsriten (postliminale Riten) unterteilen lässt. Übergangsriten können ihrerseits auch andere Riten enthalten. Auf der Grundlage der Arbeiten van Genneps versuchen Victor und Edith Turner, das Pilgern als Übergangsritus zu verstehen, wobei sie dabei zwischen Ritual und Zeremonie unterscheiden – zwei Begriffe, die sich oft umgangssprachlich überlagern. Rituale verändern Personen, Zustände und Bedingungen, während Zeremonien mehr als Indikatoren für diese dienen, ohne sie zu transformieren.29 Victor und Edith Turner beschreiben drei Phasen im Ritus der Pilgerwanderung: 1. Die Trennung vom Alltag, der Beginn der Reise. 2. Die Grenzerfahrung, in der sich der Pilger durch die Reise selbst oder den Aufenthalt am Pilgerziel in einem heiligen Zustand befindet, der es ihm ermöglicht, in ein anderes Stadium zu gelangen – die sogenannte Wellen-, Schweb- oder Verwandlungsphase. Dieser Grenzzustand lässt sich auch im Kontakt mit Kunst wie Theater, Tanz, Musik, Literatur und Malerei erleben. 3. Die Rückkehr, der Wiedereintritt in den Alltag. Während der Pilgerwanderung sind die alltäglichen sozialen Bindungen aufgehoben, symbolisiert durch die andere Kleidung, durch Askese und verschiedene Einschränkungen des Lebensvollzugs. Die aufgehobenen sozialen Bindungen des Alltags werden durch eine starke Gemeinschaft zwischen den Pilgern ersetzt – diese besondere communitas entsteht zwischen Menschen in der liminalen Phase eines Übergangsritus. Dabei steht die eigentliche Grenzerfahrung im Mittelpunkt, als ein Zustand, eine Handlung oder ein Ort, in oder an dem sich eine Person in der Phase des Übergangs für eine bestimmte Zeit aufhalten oder teilnehmen
29 »ceremony indicates, ritual transforms« Turner. 1982. From ritual to theatre: The human seriousness of play, S. 80.
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Zum Verständnis des Pilgerwesens
muss.30 Das liminale Stadium ist dementsprechend durch den Aufbruch, das Aufgeben von etablierten Symbolen und Mehrdeutigkeiten gekennzeichnet. Victor und Edith Turner verstehen die Pilgerwanderung als Antistruktur31 im Sinne einer Alternativ- oder Gegenstruktur. Der Gegensatz von societas, der strukturierten Gesellschaft mit ihren Positionen und Rollen, und communitas als direkter, intersubjektiver Ich-Du-Gemeinschaft steht im Zentrum ihrer Arbeit. Es lassen sich drei Arten von communitas beschreiben: der existenziellen oder spontanen Gemeinschaft ohne Konventionen, gesellschaftlichen Positionen und Unterschieden, der normativen Gemeinschaft auf dem Weg zu einer neuen Selbstorganisation und neuen Rollen, und der ideologischen Gemeinschaft, die utopische Formen des Zusammenlebens sucht. Turner und Turner sehen das Pilgern als Beispiel der normativen Gemeinschaft. Das Pilgern als die Antistruktur in der mittelalterlichen patriarchalischen Feudalgesellschaft übernimmt historisch gesehen die Rolle, die die Initiationsriten der Pubertät in der Stammesgesellschaft innehatten.32 Der performative Charakter des Ritus zeigt sich darin, dass eine Person nach ihrer Rückkehr eine andere Position oder Bedeutung erhält und ihren soziokulturellen Status ändert. Obwohl der Pilger liminale Erfahrungen macht, unterscheidet sich die Pilgerwanderung an einem wichtigen Punkt von anderen Übergangsriten: Während der liminale Ritus ein obligatorischer sozialer Mechanismus darstellt, der den Übergang in einen anderen sozialen Status gewährleisten soll, ist die Wanderung eine freiwillige Handlung. Deshalb bezeichnen Turner und Turner das Pilgern als quasi-
30 Liminalität ist zu verstehen als »the state and process of midtransition in a rite of passage«, der »has frequently been linked to death; to being in the womb; to invisibility, darkness, bisexuality, and the wilderness.« Turner & Turner, 1978: Image and Pilgrimage in Christian Culture. Anthropological Perspectives, S. 249. 31 Gilhus, Ingvild Sælid und Kraft, Siv Ellen (Red.). 2007. Religiøse reiser. Mellom gamle spor og nye mål, S. 14. 32 »I tend to see pilgrimage as that form of institutionalized or symbolic antistructure (or perhaps meta-structure) which succeeds the major initiation rites of puberty in tribal societies as the dominant historical form. It is the ordered anti-structure of patrimonial feudal systems. It is infused with voluntariness though by no means independent of structural obligatoriness.« Turner 1974, Dramas, Fields, and Metaphors, S. 182. Siehe auch: Schützeichel, Rainer, 2012, S. 30ff.
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liminal, als liminoid.33 Wir kommen im zweiten Teil des Buches darauf zurück, inwieweit sie mit ihrer Einschätzung des Pilgerns als freiwillig Recht haben. Quasi-liminale Grenzerfahrungen können Menschen innerhalb und außerhalb der Gesellschaft machen. Da diese Erfahrungen freiwillig sind, variieren sie in ihrer Bedeutung. Deshalb ist die Liminalität nicht nur als Übergang zu verstehen, sondern auch als Möglichkeit und Potenzial. Die größte Herausforderung der Theorien von Victor und Edith Turner besteht darin, ob es ihnen gelingt, die unterschiedlichen Erfahrungen der Pilger im Lauf der Jahrhunderte umfassend zu beschreiben. Für den Anthropologen Alan Morinis erfordert die Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen und historischen Formen des Pilgertums eine breitere Theoriebildung. Morinis versucht, das Pilgern anhand der Begriffe Ideal und Motiv grundlegend zu beschreiben – ein Ideal oder Motiv, das man im Alltag nicht erreichen oder verwirklichen kann.34 Er versteht die Pilgerwanderung als Reise oder Prozess auf der Basis von sechs verschiedenen Kategorien, Idealen oder Motiven35 : 1. Devotional: die fromme Hingabe an Orte, an denen Heilige oder eine Gottheit lebten oder sich aufhielten, wie Jerusalem oder Mekka 2. Instrumental: das Erreichen eines weltlichen Ziels oder Bedürfnisses, z. B. die Genesung von einer Krankheit 3. Normativ: eine Reise als Teil eines Rituals, das mit Leben und Tod in Verbindung steht, oder als wiederkehrende Handlung, wie die jährliche Wanderung der Juden nach Jerusalem zu Zeiten des Alten Testaments 4. Obligatorisch: eine gläubige Pflicht, wie die Haddsch, die muslimische Pilgerfahrt nach Mekka
33 Turner & Turner. 1978, S. 34f. Der Begriff liminoid wird beschrieben als »the many genres found in modern industrial leisure that have features resembling those of liminality. These genres are akin to the ritually liminal, but not identical with it« (Turner & Turner. 1978, S. 253). 34 »the pilgrimge is a journes undertaken by a person in quest of a place or a state that he or she believes to embody a valued ideal« Morinis, Alan. 1992. Sacred Journeys. The Anthropology of Pilgrimage, S. 2–4. 35 Morinis, Alan. 1992, S. 10–14.
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Zum Verständnis des Pilgerwesens
5. Wanderung: eine Reise ohne geographisches Ziel im Glauben daran, dass Gott selbst den Weg und den Ort weisen wird, wie bei Abraham oder St. Sunniva 6. Initiation: eine Reise mit dem Ziel, die Stellung oder den eigenen Status oder sich selbst zu verändern. Obwohl die Pilger im Lauf der Geschichte unterschiedliche Elemente dieser Kategorien auf sich vereinen, ist ihnen nach Morinis ein Kriterium unabhängig von Religion und Zeit gemeinsam: die Reise selbst, die Bewegung, das Unterwegssein. Die Reise muss dabei nicht immer direkt vom Heimatort zur heiligen Ort und zurück führen, sie kann z. B. auch um Inseln oder Berge herumführen, aber immer bewegt sie sich zwischen dem Vertrauten und dem Anderen, Unbekannten, und verlangt vom Pilger die Überwindung des Abstandes zwischen diesen Polen des Bekannten, das man hinter sich lässt, und des Unbekannten, Verborgenen, Mysteriösen, das man als Pilger zu entdecken, zu erfahren wünscht, oder gar hofft, ein Teil davon zu werden, bevor man zum Vertrauten zurückkehrt.36 Der Anthropologe James J. Preston bietet einen anderen Ansatz. Er versteht das Pilgerwesen und die Pilgerziele auf der Grundlage eines geistigen Magnetismus und einer Anziehungskraft der Ziele auf den Pilger. Der spirituelle Magnetismus geht dabei nicht vom heiligen Ort als solchem aus, sondern von den aus den historischen, geografischen oder sozialen Umständen entstandenen Werten, die sich mit diesem Ort verbanden.37 Prestons Ansatz konzentriert sich so auf das menschliche Interesse und die Neugier, die der geistige Magnetismus des Pilgerzieles erzeugt. Es lassen sich dabei unterscheiden: 1. Wunderheilungen: Heilungen durch göttliche Intervention, zum Beispiel durch Wasser, wobei die geistige Anziehungskraft sowohl in der eigenen Erfahrung der Heilung als auch im Erleben als Augenzeuge bestehen kann.
36 Morinis, Alan. 1992, S. 26. 37 »…human concepts and values, cia historical, geographical, social, and other forces that coalesce in a sacred center« Preston, James J. 1992. »Spiritual Magnetism: An organizing principle for the study of pilgrimage«, S. 33.
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2. übernatürliche Wesen: Orte, an denen göttliche Gestalten oder heilige Personen anwesend waren oder erschienen. Die Pilger fühlen sich durch die Hoffnung auf die erneute Erscheinung von diesem Ort angezogen. 3. die heilige Geographie: Entsprechend gilt dies auch für bestimmte Orte, die als heilig gelten, da sich dort wichtige Ereignisse abgespielt haben, oder aber dramatische und besondere Orte wie Berge, Inseln oder besondere Naturschauspiele. 4. schwer zugängliche Orte: Orte, die sich nur auf sehr anspruchsvollen und gefährlichen Wegen erreichen lassen. Die Überwindung dieser Gefahren hat ihren eigenen Reiz. Weitere Faktoren wie die Zahl der Wunder, der dort aufbewahrten Reliquien oder Aktivitäten können den geistigen Magnetismus eines Ortes noch weiter erhöhen.38 Die hier präsentierten Theorien existieren weitgehend Seite an Seite in der Forschung, wobei der performative Ansatz von Victor und Edith Turner schulbildend gewirkt hat und nach wie vor die Grundlage zahlreicher weiterführender Theoriebildungen und empirischen Studien bildet. Ein anderer Zweig der Sozialwissenschaften, der sich mit dem Pilgerwesen beschäftigt, ist die Religionssoziologie, die das Pilgern als Schlüssel zum Verständnis der modernen Religiosität nutzt.
Der Pilger – Religion in Bewegung Für die französische Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger (2004) ist der Pilger, zusammen mit dem Konvertiten, der wichtigste Ausdruck des zeitgenössischen Umgangs mit der Religion. Für sie steht dabei das Element der Bewegung im Zentrum des Interesses, repräsentiert durch das Pilgern als einer Form der Religion in Bewegung.39 Diese Behauptung bedarf der Klärung und kann in vielerlei Hinsicht diskutiert werden. Umgangs38 Preston, James J. 1992, S. 33–38. 39 Zur Erörterung des Beweglichen in der Ausbildung der heutigen Gesellschaft als Erneuerung und Steuerung, wie auch zur Beurteilung der Folgen für die religiöse Bildung, siehe: Afdal, Geir, 2013, Religion som bevegelse. Læring, kunnskap, mediering.
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sprachlich sind die Begriffe Wallfahrt und Pilgerwanderung oft austauschbar, im akademischen Diskurs wird zwischen beiden differenziert. Wallfahrten sind kirchlich organisierte Wanderungen und Reisen mit einem klar definierten Zweck und Ziel.40 Sie haben »Autoren« mit klaren Absichten.41 Wallfahrten sind ein Ausdruck traditioneller Werte, Glaubenssystemen und sozialpolitischer Interessen und stehen für ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis. Aline Sommer und Marco Saviano unterscheiden zwischen der Wallfahrt als zielgerichtet und der Pilgerwanderung als weg- und prozessorientiert.42 Diese Unterscheidung kann hilfreich sein, das etwas unklare und ambivalente Verhältnis der Kirche zum spätmodernen Pilgern zu erklären, da sowohl die langen Pilgerwanderungen, vor allem nach Santiago de Compostela, die sich ursprünglich vom Erreichen des Ziels her begründeten, wie auch mehr und mehr die kürzeren Wallfahrten ihre integrative Funktion eingebüßt haben. Nach Wolfgang Schieder haben selbst die traditionellen Dorfprozessionen inzwischen viel von ihrer gemeinschaftsstiftenden Kraft verloren und sind immer mehr ein Ausdruck individuellen Glaubens, der sich von autoritativer Religion, Priesterschaft und kirchlicher Dogmatik losgelöst hat. Wir können dies aus eigener Erfahrung mit der sehr traditionell verwurzelten Wallfahrt nach Trier bestätigen. In Kevelaer beobachteten wir, wie immer mehr Menschen nicht mehr an der Prozession teilnahmen, sondern als Zuschauer die Prozession beobachteten. So spricht vieles dafür, dass die heutige Wallfahrtsund Pilgerpraxis sich im Übergang von einer institutionellen, kirchlichen Religiosität zu einer individuellen, autoritätsfreien Religiosität befindet.43 Die zunehmende Distanz der Menschen zu den kirchlichen Dogmen bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie die Kirchen verlassen. Vorbehalte gegenüber der organisierten Religion führen nicht automatisch zu einer Distanzierung von den Riten. Vor allem scheinen die Übergangsriten für Menschen heute noch relevant zu sein, während konfessionelle Unterschiede eine immer geringere Rolle spielen und Elemente aus verschiedenen 40 Korff, Gottfried. 1977. »Formierung der Frömmigkeit«, S. 352. 41 Gengnagel, J; Horstmann, M und Schwedler, G. (Red.). 2008. Prozessionen, Wallfahrten, Aufmärsche: Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter, S. 14. 42 Sommer, Aline und Saviano, Marco. 2007. Spiritueller Tourismus, S. 51. 43 Schieder. 1977. »Religionsgeschichte als Sozialgeschichte«, S. 296.
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religiösen Deutungsuniversen oft miteinander verschmolzen werden.44 Danièle Hervieu-Léger erkennt auf der Grundlage der Theorien von Victor und Edith Turner im spätmodernen Pilgerwesen eine Kombination aus drei Aspekten: das Heraustreten aus dem Alltag verbindet sich mit einem touristischen Element und der Erfahrung, Teil einer überkonfessionellen, ökumenischen Gemeinschaft zu sein.45 So lässt sich auch die Ablehnung organisierter Religion ohne weiteres mit einem Interesse an alten Kirchen und liturgischer Musik als Ausdruck von Schönheit und Geschichte kombinieren.46 Der Sozialwissenschaftler Norbert Puschmann betont, dass eine Verschiebung des Interesses von der Religion im Allgemeinen hin zum konkreten Ritus die Spiritualität und Erfahrung des Heiligen nicht eliminiert, sondern den Ritus aus einem Deutungsmonopol befreit und es ermöglicht, diesen unabhängig von der eigenen Herkunft auf eine persönliche Weise zu erleben.47 Puschmann bezieht sich hier auf Michel Foucaults Konzept des Heterotopos als einem Ort an der Randzone der Gesellschaft, der einerseits als konkreter Ort klar definiert ist, andererseits aber neue Perspektiven bietet und so einen Raum für Phantasie, Zauber, Pausen, Hoffnungen, Träume, Visionen schafft.48 Ausgehend von Foucault und anderen hat der Humangeograph Edward Soja das Konzept des dritten Raumes entwickelt, um die traditionellen binären Typologien in der Forschung und der Stadtplanung zu überwinden.49 In unserem Zusammenhang kann dieses Konzept helfen, die Gegensatzpaare traditioneller Interpretationsmuster wie Pilger/Tourist oder religiös/ 44 Ebertz, Michael N. 1995. »Die Erosion der konfessionellen Biographie«, S. 171. 45 Hervieu-Léger, Danièle. 2004. Pilger und Konvertiten. Religion in Bewegung, S. 66f. Vgl. Puschmann, Norbert. 2012. »Pilgern als Metapher moderner Religiosität«, S. 55. 46 Post, Paul. 2011. »Der moderne Pilger. Die Perspektive aktueller sakraler Felder«, S. 290. 47 Puschmann, Norbert. 2012, S. 64f. 48 Vgl. Post, Paul. 2011, S. 295. 49 »…a knowable and unknowable real and imagined lifeworld of experiences, emotions, events and political choices that is existentially shaped by the generative and problematic interplay between centers and peripheries, the abstract and the concrete, the impassioned spaces of the conceptual and the lived, marked out materially and metaphorically in spatial praxis, the transformation of (spatial) knowledge into (spatial) action in a field of unevenly developed (spatial) power.« Soja, Edward W. 1996. Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Oxford: Basil Blackwell, S. 31.
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areligiös zu überwinden. Allerdings müssen diese Forschungsperspektiven noch weiter entwickelt werden.50 Die Identität des modernen Pilgers erweist sich als komplex, vielfältig und fließend. Sie kann klar kirchlich definiert sein oder aber das Pilgern als eine Art Healing für eine persönliche Krise verstehen, der Pilger kann sich für Kultur interessieren oder die Wanderung als sportliche Leistung verstehen, das Pilgern kann der Konfrontation mit dem eigenen Körper und der eigenen Lebensgeschichte dienen oder auf die Begegnung mit Natur, Geschichte und Kultur zielen. Die Identität des Pilgers kann religiös oder weltlich konnotiert sein. Nach Puschmann gelingt es Hervieu-Léger nicht, diese Komplexität in ihren Arbeiten hinreichend abzubilden, weswegen der spätmoderne Pilger nicht als wichtigster Ausdruck spätmoderner Religiosität verstanden werden kann – das Bild ist facettenreicher.51 Um dieses Bild zu verstehen, bedarf es einer breiteren empirischen Forschungsperspektive. Ich möchte deshalb im Folgenden neuere, vor allem deutsche, empirische Untersuchungen präsentieren.
Empirische Studien zum heutigen Pilgerwesen Welche Motive liegen heutigen Pilgerwanderungen zugrunde? Was sind die Beweggründe der Pilger? Wenn Sie heute in einem Pilgerbüro in Santiago de Compostela ihr Pilger-Diplom entgegennehmen, müssen Sie auf einem Fragebogen den Grund ihrer Wanderung angeben. Es gibt drei Alternativen: religiös, religiös und kulturell oder rein kulturell. Die meisten wählen die ersten beiden Punkte, denn das Pilgerdiplom erhält man nur, wenn man aus religiösen Gründen gewandert ist. Im Jahr 2010 kreuzten 54,8 % die erste, 40,2 % die zweite und 5 % die dritte Alternative an.52 Da die richtige Antwort Voraussetzung für das Diplom ist, ist diese Statistik nahezu wertlos. Am Rande sei vermerkt, dass sich diese Praxis inzwischen geändert 50 Das Konzept des dritten Raums als Deutungsperspektive für das Pilgern ist der Ausgangspunkt eines laufenden Forschungsprojekts, das ich zusammen mit Birgitte Lerheim erarbeite. 51 Puschmann, Norbert. 2012, S. 65ff. 52 Nach der offiziellen Statistik des Pilgerbüros in Santiago de Compostela. Kurrat, Christian. 2012. »Biographische Bedeutung und Rituale des Pilgerns«, S. 161.
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hat und auch die dritte Gruppe ein Diplom erhält, das sich von den anderen allerdings unterscheidet. Es bleibt abzuwarten, wie diese Neuerung sich auf die Statistik niederschlägt. Ebensowenig kann man aus diesen Zahlen Aussagen über die Haltung der Pilger zu kirchlichen Lehren und Dogmen ableiten, dafür sind die Fragen zu allgemein und ungenau gestellt. Dafür eignet sich die fast unüberschaubare neuere Pilgerliteratur weitaus besser, die sowohl das traditionelle laienreligiöse Feld der Pilgerkultur bedient als auch die verschiedenen Quellen zur religiösen, von kirchlicher und konfessioneller Lehre und Praxis unabhängigen Deutung des Pilgerns heranzieht.53
Norwegische Pilgerstudien In Norwegen gab es in den letzten Jahren mehrere empirische Studien zum Verständnis der Pilgerwanderungen nach Nidaros.54 In der neuesten und 53 Vgl. u. a. MacLaine, Shirley. 2000. The Camino: A Pilgrimage of Courage, Dimon & Schuster: London; Coelho, Paulo. 1998. The Pilgrimage: A Contemporary Quest for Ancient Wisdom, Harper Perennial: New York und Kerkeling, Hape. 2006. Ich bin dann mal weg, München: Malik Verlag. 54 Die wichtigsten stammen von Masterkandidaten: Paulsen, Ingvild S. 2005. Pilegrimsleden fra Oslo til Trondheim. Et møte med vandrere, kulturminner, steder og landskap. Paulsen ist archäologisch orientiert und interessiert sich dafür, wie Pilger die Kulturdenkmäler und die Landschaft erleben; Vådahl, Øyvind. 2007. Den moderne pilegrimsbevegelsen ved Nidaros domkirke. Med særlig vekt på pilegrimsprestens rolle. Der Religionswissenschaftler Vådahl studiert die Rolle der Pilgerpfarrer bei der Institutionalisierung der Pilgerbewegung der letzten Jahrzehnte. Leivestad, Hege Høyer. 2007. »No Pain No Glory«. En antropologisk studie av turisme og pilegrimsreiser til Santiago de Compostela. Die Anthropologin Leivestad untersucht, wie die Auffassung von Authentizität für viele Pilger mit der Länge der Wanderung und dem Aushalten von Schmerzen und Widerwärtigkeiten verbunden ist. Løver, Lene Louise. 2008. Turist eller pilegrim? En undersøkelse av nåtidens pilegrimsfenomen. Die Religionshistorikerin Løver studiert die Motivation der modernen Pilger mit dem Schwerpunkt auf den Begriffen Rolle und Identität. Grundetjern, Kristina Røynås. 2010. Veien og målet: en empirisk analyse av en pilegrimsvandring i dagens Norge. Grundetjern arbeitet am Institut für Religion, Philosophie und Geschichte an der Universität in Agder und untersucht die Erlebnisse und Motivation von kirchennahen Pilgern. Kolbjørnsrud, Mari. 2012. Helende vandring? En kvalitativ studie av hvordan pilegrimsvandring kan gi et særegent bidrag til diakonien, drøftet i lys av kristen spiritualitet. Die Diakonin Kolbjørnsrud interessiert sich für das Pilgern als eine Ressource für die diakonale
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umfangreichsten Studie55 analysiert Helge Alfred Olsen das Phänomen qualitativ auf der Grundlage von zehn Interviews. Olsen findet vor allem zwei Aspekte, die er mit den von dem Psychologen Mihaly Csikszentmihalyiu und der oben bereits genannten Danièle Hervieu-Léger übernommenen Begriffen flow und Anamnese beschreibt. Auf der einen Seite erscheint das Pilgern als eine individualisierte Form der Religion mit dem Schwerpunkt auf Langsamkeit, Reflexion und spirituellen Erlebnissen, der zum flow als einem Zustand der Einheit und Ganzheit führen kann – eine tiefe und höchst individuelle Erfahrung. Auf der anderen Seite lassen die Pilgerwanderungen alte Gewohnheiten und Traditionen wieder aufleben und verhindern damit, was Olsen als »kollektiven Gedächtnisschwund der Moderne« bezeichnet. Olsen analysiert beide Aspekte im Blick auf die öffentliche Pilgerarbeit in Norwegen und sieht in der Anamnese das zentrale Anliegen zum Aufbau und der Pflege der individuellen und kollektiven Identität – ein Aspekt, der von den heutigen Pilgern als relevant erlebt wird. Olsen entwickelt mit seiner Studie den theoretischen Rahmen zur Rechtfertigung der öffentlichen Investitionen in die norwegische Pilgerkultur.
Neueste internationale Studien Die neueste und bisher umfangreichste empirische Studie wurde von den religionssoziologischen Fakultäten an drei deutschen Universitäten erarbeitet, wobei Trier und Mainz die quantitativen Analysen beisteuerten, während die Universität Hagen qualitativ arbeitete. Die Forschungsprojekte konzentrierten sich auf die Praktiken und Erfahrungen der Pilger auf ihrem Weg über die letzten 600 Kilometer von Burgos nach Santiago de Compostela. Das empirische Material wurde im Jahr 2010 erhoben und die ArArbeit. Pettersen, Niklas Mintorovitch. 2012. Pilegrimsdiskursen. En kulturhistorisk analyse av moderne pilegrimsvandring til Nidaros med fokus på Nasjonalt Pilegrimssenter. Der Kulturhistoriker Pettersen untersucht die ideologische Rolle des nationalen Pilgerzentrums in Norwegen bei der Pilgerarbeit in Norwegen seit seiner Gründung 2011. 55 Olsen, Helge Alfred. 2011. »Det er på veien det skjer, tror jeg …« En religionsvitenskapelig undersøkelse av moderne pilegrimer til Nidaros. Religionswissenschaftliche Masterarbeit, NTNU, Trondheim.
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beiten im Jahr 2012 veröffentlicht. Die Studien beruhen quantitativ und qualitativ auf mehrsprachlichen Fragebögen, Interviews, teilnehmenden Beobachtungen, Tagebuch-Analysen und Online-Befragungen.56
Statistische Daten und Idealtypen Die umfangreichen Analysen aus Trier und Mainz mit ihren über tausend Befragten präsentieren eine Reihe von überraschenden Ergebnissen und ein hochkomplexes Gesamtbild.57 Knapp die Hälfte (46,8 %) kannten den Camino durch die Medien Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Internet, 16,4 % durch Bücher, jedoch nur 6,4 % durch christliche Einrichtungen und Kirchen. 65 % der Pilger nutzen das Internet während der Wanderung, entweder in den Herbergen oder durch das Mobiltelefon, das 86,3 % mit dabei hatten. Das Internet wird vor allem zur Kommunikation mit Freunden und Familien (43,3 %) genutzt, um sich auf dem Laufenden zu halten, was in der Welt geschieht (18,5 %), und zur Kommunikation mit anderen Pilgern (7,4 %). Das Pilgern ist relativ geschlechtsunabhängig; 54 % sind Männer und 46 % Frauen. Das Durchschnittsalter liegt bei 37 Jahren. 33 % waren zwischen 20 und 29 Jahre alt, 20 % 30 bis 39 Jahre, die Altersgruppen 40–49 und 50–59 waren mit knapp 14 % vertreten. 11,2 % waren älter als 60 Jahre, während 8 % jünger als 19 waren. Dabei ist zu beachten, dass die Studien im Zeitraum Juli bis September durchgeführt wurden, wenn viele im Urlaub sind und die Temperaturen eine besondere Herausforderung darstellen, 56 Der folgenden Präsentation liegen die Studien aus Trier, Mainz und Hagen zugrunde. In Trier und Mainz entstanden die Arbeiten als Teilprojekte im Forschungscluster »Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke«. Siehe: Gamper, Markus und Reuter, Julia. 2012. »Pilgern als spirituelle Selbstfindung oder religiöse Pflicht? Empirische Befunde zur Pilgerpraxis auf dem Jakobsweg« in: Daniel, Anna/Hillebrandt, Frank/Wienold, Hanns (Hrsg.). 2012. Doing Modernity – Doing Religion. Wiesbaden: Springer VS., S. 205–231. Die Religionssoziologen in Hagen gehören zum »Arbeitskreis Religionssoziologie an der Fernuniversität in Hagen«: http://www.fernuni-hagen.de. Die Resultate wurden publiziert in der Antologie: Heiser, Patrick und Kurrat, Christian (Hrsg.), 2012, Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg. 57 Siehe Gamper/Reuter. 2012 und Reuter, Julia und Graf, Veronika, 2012, »Spiritueller Tourismus auf dem Jakobsweg. Zwischen Sinnsuche und Kommerz«, S. 139–160.
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was wiederum die große Zahl der jungen Pilger erklären kann. Den Herbergsbetreibern zufolge verändert sich Altersstruktur im Lauf des Jahres mit mehr älteren Pilgern in den Herbst- und Wintermonaten. Die größte Gruppe der Pilger stammt aus Spanien (33 %), gefolgt von Deutschland (22 %), Italien (14 %), Frankreich (10 %), Österreich und Polen stellen jeweils 2 %, 16 % stammen aus anderen Ländern.58 66 % sind Katholiken, 21 % geben überraschenderweise an, dass sie keine Religionszugehörigkeit haben. 8 % sind Protestanten, während 3 % anderen Konfessionen und Religionen zugehören, wie orthodoxe Christen oder Buddhisten. Die Forscher betonten, dass man aus der Frage der konfessionellen oder religiösen Zugehörigkeit nur sehr bedingt auf die Religiosität einer Person schließen kann. Während Personen ohne konfessionelle Zugehörigkeit sich selbst nur in geringem Umfang als nicht-religiös beschreiben, verstehen sich Personen mit einer konfessionellen Zugehörigkeit nur selten als ausdrücklich religiös. Die Frage, inwieweit sich die Befragten selbst als religiös oder spirituell verstehen – wobei religiös eine eher traditionelle kirchliche Orientierung meint und spirituell eine offenere und suchende Haltung beschreibt – wird wie folgt beantwortet: Überhaupt nicht religiös 14,3 % oder spirituell 5,1 %. Weder religiös 16,9 % noch spirituell 12,9 %. Etwas religiös 32,2 % oder spirituell 26,6 %. Religiös 26,6 % oder spirituell 36,3 %. Sehr religiös 10 % oder spirituell 19,1 %. 70 % gaben an, zum ersten Mal auf einer Pilgerwanderung zu sein. 60,8 % wanderten zusammen mit einer oder mehreren Personen, davon waren 56 % gemeinsam mit einem guten Freund unterwegs, 28 % mit ihrem Lebenspartner, 23 % mit anderen Familienmitgliedern. Nur 8 % wanderten in einer organisierten Reisegruppe. 64,5 % der Pilger hatten eine Hochschulbildung, 11,6 % eine mittlere und 8,9 % eine niedrige Bildung, 15,4 % lagen außerhalb dieser Kategorien. Fast die Hälfte der Pilger, 45,3 %, waren erwerbstätig, 22 % studierten, 10,5 % waren im Ruhestand, 5,6 % rechneten 58 Da das Material im Jahr 2010 gesammelt wurde, wurde die stark wachsende Gruppe der US-Amerikaner nicht mitberücksichtigt, die seit 2011 auf dem Jakobsweg nach Santiago unterwegs sind, wahrscheinlich aufgrund des Films The Way mit Martin Sheen in der Hauptrolle, der im Herbst 2010 Premiere hatte. Die offiziellen Zahlen des Pilgerbüros in Santiago zeigen eine Steigerung von 1,23 % im Jahr 2010 auf 4,7 % 2013 mit 10 125 Pilgern. Vgl.: http ://peregrinossantiago.es/esp/servicios-al-peregrino/infor mes-estadisticos/.
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sich der offenen Kategorie anderer Aktivitäten zu, 5,5 % definierten sich als Schüler, 1,9 % führten den Haushalt, Jugendliche ohne Ausbildung machten 1,5 % der Pilger aus. Im Blick auf die Motive und Gründe für das Pilgern stellten die Forscher 21 verschiedene Antwortmöglichkeiten auf der Grundlage der bisherigen Forschung zusammen, mit einer Skala von 1 für »sehr wichtig« bis 5 für »völlig unwichtig«. Für 51,8 % der Pilger war die Selbstfindung (1) ein sehr wichtiges Motiv. Eine Pause vom Alltag (2) wurde von 40,2 % angegeben, und 39,2 % wollten die Stille genießen (3). Der Kontakt mit der geistigen oder spirituellen Atmosphäre (4) war für 34,6 % wichtig, das Erleben der Natur (5) war für 34,4 % von Bedeutung, und 32,9 % der Pilger wollten den Anblick schöner Landschaften genießen (6). 23,7 % wünschten, Menschen aus anderen Kulturen kennenzulernen (7). Religiöse Gründe (8) waren für 23,4 % wichtig, während 22,4 % andere Religionen kennenlernen (9) wollten. Für 22,2 % war die Zeit mit der Familie (10) wichtig, 20,9 % wollten Abenteuer (11) erleben, 19,1 % wollten ein Teil der Pilgergemeinschaft (12) sein, 17,3 % gaben Sport oder körperliche Bewegung (13) als Grund an, 17,2 % wollten Denkmäler und Sehenswürdigkeiten erleben (14), für 16,6 % war die Buße vor Gott (15) ein sehr wichtiges Thema, die Verarbeitung einer Lebenskrise (16) wurde von 14,2 % angegeben und 12,1 % wollten christliche Orte erleben (17). Kleinere Gruppen von 9,5 % interessierten sich für Tiere und Blumen (18), 7,4 % wollten mit anderen Menschen feiern (19). Für 6,6 % war es wichtig, das Pilgerziel zu erreichen (20), während 5,2 % günstig Urlaub machen wollten (21). Aus den Antworten leiteten die Religionssoziologen fünf Idealtypen des Pilgers ab: 1. Der spirituell suchende Pilger, mit den Motiven 1, 2, 3, 4 und 16. Dies ist mit Abstand die größte Gruppe von Menschen, die nach dem Sinn des Lebens suchen, nach Konzentration und tieferen Erlebnissen, nach einem Wandel. Die Forscher sehen hier auch Parallelen zu den oben besprochenen Übergangsritualen. 2. Der religiöse Pilger, mit den Motiven 4, 8, 12, 15 und 17. Für ihn ist die Wanderung mehr eine Vertiefung in den Glauben als ein Wunsch nach Veränderung, Begegnungen mit Priestern und Kirchen sind wichtig. Diese Gruppe liegt den historischen Pilgermotiven am nächsten.
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3. Der Sport-Pilger, mit den Motiven 13 und 20. Für ihn haben Spiritualität und Religion kaum eine Bedeutung, die Wanderung ist mehr ein Trainingsziel als Ausdruck von Ausdauer und Meisterung. 4. Der Abenteuer- und Erlebnis-Pilger, mit den Motiven 11, 19 und 21. Die Pilgerwanderung ist eine Freizeitbeschäftigung mit dem Ziel, Abenteuer zu erleben. 5. Und schließlich der kulturell und landschaftlich orientierte Ferienpilger, mit den Motiven 5, 6, 7, 9, 10, 14 und 18. Typisch für diese Gruppe ist, dass sie mit der Familie reisen, das Gepäck transportieren lassen und die besseren Übernachtungsmöglichkeiten wählen. Das Ziel ist ein gutes Ferienerlebnis. Die Untersuchung zeigt, dass das Pilgern heute ein heterogenes Phänomen mit mehr säkularisierten Motiven ist als zu früheren Zeiten. Die Ergebnisse stimmen weitgehend mit anderen Untersuchungen59 überein, darunter auch skandinavischen Studien.60 Das heutige Pilgerwesen erweist sich als nations-, kultur- und geschlechtsüberschreitendes und teilweise konfessions- und religionsübergreifendes Phänomen. Dass nur 6,6 % der heutigen Pilger das Erreichen des Ziels als Motiv angeben, unterstreicht, dass für sie der Weg das Ziel ist. Die mit Abstand größte Gruppe besteht aus den spirituell Suchenden, der Pilgerstrom ist trotzdem sehr komplex und vielfältig. Man trifft den einsamen, auf sich selbst konzentrierten Wanderer, man begegnet der Studienreisenden, die das Land und die Menschen kennenlernen möchte, man trifft die Gemeinde auf einer Wanderung mit ihrem örtlichen Priester, man sieht den Sportwanderer oder Radfahrer, der »buen camino« ruft, während er vorbeihuscht, oder den Touristen, der ein er59 Sie verweisen auf: Slavin, Sean. 2003. »Walking as Spiritual Practice: The Pilgrimage to Santiago de Compostela«. in: Body & Society, 9 (3), S. 1–18; Ivakhiv, Adrian J. 2003. »Nature and Self in New Age Pilgrimage«, in: Culture and Religion An interdisciplinary Journal (4), S. 93–118; Specht, Judith. 2009. Fernwandern und Pilgern in Europa. Über die Renaissance der Reise zu Fuß. München: Profil; P.M. Guide. 2008. Pilgerreisen statt Pauschaltourismus. Das neue Sonderheft P.M. Guide zum Thema »Die schönsten Pilgerziele der Welt«. 60 Vgl. die Untersuchungen in Schweden von Anna Davidsson-Bremborg, 2008, 2010, 2013. Im Frühjahr 2018 wird das Norwegian Institute for Nature Research (NINA) eine Studie von Odd Inge Vistad als Teil des Projekts Heritage Routes veröffentlichen, die in die gleiche Richtung weist.
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schwingliches, aber doch besonderes Urlaubserlebnis wünscht, allein oder in mehr oder weniger organisierten Gruppen. Die Ergebnisse der Studien ähneln stark den Beobachtungen, von denen ich im vorigen Kapitel berichtet habe. Die Forscher schließen daraus, dass für einen Großteil der heutigen Pilger die Wanderung eine beliebte Form der spirituellen Suche nach Ganzheit und Authentizität darstellt und der Pilgerweg zum Ort der spirituellen Erfahrung wird. Das heutige Pilgerwesen ist kein Ausdruck für die Säkularisierung und den schwindenden Einfluss der Religion, sondern das Zeichen einer neuen Spiritualität. In religionssoziologischer Perspektive zeigt sich im modernen Pilgerwesen die Verwandlung der Religion und der Prototyp einer neuen Art von Spiritualität in der spätmodernen Gesellschaft, eine Mischung aus religiöser und populärer Kultur, gekennzeichnet durch unverbindliche und freiwillige Teilnahme, durch die Erfahrung der religiösen Selbstbestimmung und durch die Freiheit, die Bedeutung und Tragweite dieser Erfahrung für das eigene Leben selbst zu deuten. Drei Aspekte des Lebens auf dem Camino Zum Verständnis des Lebens auf dem Camino, der Pilgerwanderung nach Santiago, verweist Patrick Heiser von der Universität Hagen auf drei entscheidende Aspekte61: 1. Natur und Körperlichkeit: Das intensive Erleben der Natur und des eigenen Körpers gehört zu den im Positiven wie im Negativen stärksten Erfahrungen der Pilger auf dem Camino, im Blick auf Sonne, Wind und Regen, auf den körperlichen Schmerz und die gelungene Selbstüberwindung. Steife und schmerzende Schultern wegen des schweren Rucksacks, müde Beine und Blasen an den Füßen garantieren ein intensives Natur- und Körpererlebnis, mit dem man als spätmoderner Mensch sonst nicht mehr konfrontiert ist und das einen nahezu archaischen Charakter hat, wenn man mehrere Wochen lang Tag für Tag 20 bis 25 Kilometer wandert. Das Pilgern ist eine sehr individuelle Angelegenheit. 2. Die Herbergen: Der Ort für die soziale Interaktion und Gemeinschaft auf dem Camino sind die Herbergen. Es gibt kirchliche, öffentliche und 61 Heiser, Patrick, 2012, »Lebenswelt Camino. Eine einführende Einordnung«, S. 113–137.
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private Unterkünfte. Die kirchlich bewirtschafteten Herbergen werden von Gemeinden betrieben und ermöglichen es, an der institutionalisierten Religiosität in Form von Gebetstreffen und Gottesdiensten mit Pilgersegnungen teilzunehmen. Die öffentlichen, von den Regionen bewirtschafteten Unterkünfte sind meistens größere anonyme Schlafsäle mit bis zu 50 Betten. Sie sind die preiswertesten Alternativen und vor allem bei den jungen Pilgern beliebt. In der Regel kocht man dort zusammen oder besucht die zahlreichen und günstigen Bars in der Nähe. Die privaten Herbergen servieren ein Abendessen und meistens auch Frühstück. Sie sind kleiner und schöner und bieten in der Regel die Möglichkeit, mit den Gastgebern, den Hospitaleros, in Kontakt zu treten. Die Pilger machen sich bei Sonnenaufgang auf den Weg und erreichen die Herberge am frühen Nachmittag. Den Rest des Tages verbringt man, nachdem man sich an seinem Schlafplatz eingerichtet hat, mit Entspannung, Körperpflege, der Zubereitung des Essens, dem Tagebuch und der Planung der nächsten Etappe. Die Unterkünfte schließen abends, um 22.00 herrscht Nachtruhe. 3. Die Gemeinschaft: Auf dem Camino wird man Teil einer Gemeinschaft. Im Gegensatz zum Alltag, in dem man sich gegenseitig über die sozialen Rollen des Berufslebens und der Familie definiert, wird man als Pilger zuallererst als Mensch wahrgenommen. Die eigene Persönlichkeit erhält einen größeren Raum, jenseits der Gefühle, Erfahrungen und Gedanken im Kontakt mit anderen Pilgern existieren keine weiteren Erwartungen. Gleichzeitig hat die Erfahrung der Gemeinschaft auf dem Camino auch einen wichtigen diachronen Aspekt – man wird Teil einer Gemeinschaft und Kultur, die sich über die Jahrhunderte hinweg spannt. Diese drei wesentlichen Unterschiede zum Alltag charakterisieren das Leben auf Camino. Während der erste Aspekt der Natur und Körperlichkeit in erster Linie das Individuum betrifft, beziehen sich die beiden anderen auf die Gemeinschaft, sowohl die konkrete Gemeinschaft mit den anderen Pilgern auf der Wanderung als auch mit den Menschen, die zu früheren Zeiten gewandert sind oder es nach uns tun werden. Ferner finden sich solche Gemeinschaften auch in den Pilgervereinen und Organisationen und nicht zuletzt in den sozialen Medien, wo man das Wissen und die Erfahrungen mit anderen teilt und diskutiert.
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Heiser weist außerdem auf den von den Pilgern häufig betonten Gegensatz von Peregrinos, den echten Pilgern und den Tourigrinos, den Touristenpilgern hin, wie wir dies bereits im ersten Kapitel gesehen haben. Die Touristenpilger lassen ihr Gepäck transportieren, nehmen den Bus, sind konsumorientiert wie gewöhnliche Touristen, sie fahren mit dem Fahrrad oder gehen nur die letzten 100 Kilometer, um ihr Pilgerdiplom zu erhalten. Sie werden von den »richtigen« Pilgern häufig gemieden, weil jene ihnen den gleichen Erfahrungshorizont absprechen, den sie auf der 800 Kilometer langen Fußwanderung erworben haben. Ferner pflegen vorwiegend die echten Pilger die Pilgerrituale zur Schaffung und Erhaltung der Pilgergemeinschaft durch die Zeiten, indem sie z. B. mitgebrachte Steine auf die alten Steinhaufen entlang des Pilgerwegs zu legen, ein traditionelles Symbol für das Abwerfen einer seelischen Last oder der Überwindung eines Problems. Es können dies auch Bilder, Texte, persönliche Gegenstände oder Kleidungsstücke sein, die man nicht mehr benötigt. Die Studien weisen darauf hin, dass sich viele Pilger besonders an diesen Orten mit den Pilgern früherer Zeiten verbunden fühlen.
Das Pilgern als biographisches Programm Die persönlichen Lebensgeschichten der Pilger sind ebenfalls von großem Interesse, um die tieferen Gründe und Motive des Pilgerns zu verstehen. Studien haben gezeigt, wie kleinere oder größere persönliche Probleme bis hin zu tiefen und akuten geistigen, körperlichen oder religiösen Krisen die Menschen auf die Pilgerwege bringen62, die als »Therapiewege« genutzt werden63, auf denen die Pilger sich intensiv mit ihrer Biographie auseinandersetzen und sie restrukturieren. Die Wanderung als solche lässt sich damit als Übergangsritual verstehen.64 Die Auffassung der Pilgerwanderung als biographisches Programm zur 62 Haab, Barbara. 1998. Weg und Wandlung. Zur Spiritualität heutiger Jakobspilger und -pilgerinnen. Freiburg: Universitätsverlag. 63 Frey, Nancy Louise. 1998. Pilgrim Stories: On and Off the Road to Santiago, Journeys Along an Ancient Way in Modern Spain. Berkley/ Los Angeles/ London: University of California Press. 64 Specht, Judith. 2009. Fernwandern und Pilgern in Europa. Über die Renaissance der Reise zu Fuß. München/ Wien: Profil.
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bewussten oder unbewussten biographischen Neukonstruktion wurde auch von den Religionssoziologen der Universität Hagen übernommen, insbesondere in den qualitativen Studien von Christian Kurrat aus dem Jahr 2012 und seiner Dissertation von 201565, die die Ausgangssituation der Pilger zuhause, ihre Körperlichkeit, ihr bisheriges Leben und die Erfahrungen auf dem Jakobsweg in der Zusammenschau analysieren. Der Arbeit liegen 24 ausführliche Interviews zugrunde, dazu mehrtägige teilnehmende Beobachtungen in einer Reihe von Herbergen, eigene Wanderungen und Beobachtungen an den wichtigsten symbolischen Orten entlang des Jakobswegs (Cruz de Ferro, Santiago de Compostela und Finisterre). Kurrat ist besonders an zwei Faktoren interessiert: am ausschlaggebenden Grund der Entscheidung, sich auf den Pilgerweg zu begeben, und an der Deutung der Erlebnisse auf der Wanderung. Aus dem gesammelten Material erarbeitet er eine Typologie mit sieben idealtypischen Pilgerbiographien. 1. Der biographische Bilanzierung – Kurrat meint damit Pilger, die sich Klarheit über ihr Leben verschaffen wollen. Dies geschieht heute freiwillig, wurde indessen im Mittelalter häufig von der Kirche als Ausdruck der Buße auferlegt. Die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Handlungen und Entscheidungen, die Reflexion des eigenen Lebens in einer neuen Perspektive, die Endlichkeit des Lebens und andere existenzielle Fragen stehen im Mittelpunkt. Die Begegnung mit anderen Pilgern, der Austausch von Gedanken, Erfahrungen oder Erinnerungen ist nebensächlich. Man will alleine wandern und in der kontemplativen Stille der Natur oder der Kirchen nachdenken. Dieser Pilgertyp bezieht die körperlichen Schmerzen der Wanderung oft auf die eigene Biografie und interpretiert sie als Buße für negative Handlungen oder Haltungen im bisherigen Leben. Ebenso sind die Menschen zuhause, das Fotografieren und schriftliche Festhalten der Erfahrungen auf der Wanderung wichtig für die Selbstreflexion und die Erzählungen nach der Rückkehr. 2. Die biographische Krise: Dieser Typus beschreibt die Pilger, die sich aufgrund einer Lebenskrise auf den Weg machen, die oft mit dem Verlust 65 Vor allem Christian Kurrat legt diese These seiner Forschung zugrunde: Kurrat, Christian. 2012. »Biographische Bedeutung und Rituale des Pilgerns«, S. 161–191. In seiner Dissertation von 2015 erweitert er seine Typologie mit zwei weiteren auf insgesamt sieben Typen: Kurrat, Christian. 2015. Renaissance des Pilgertums. Zur biographischen Bedeutung des Pilgerns auf dem Jakobsweg. Berlin: Lit Verlag.
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von Menschen durch Scheidung, Krankheit, Tod in Verbindung steht. Die Wanderung soll helfen, mit dem Schmerz zu leben und die Krise zu überwinden. Die körperlichen Herausforderungen der Wanderung entfalten dabei eine reinigende Wirkung auf Körper und Geist. Die Begegnung mit anderen ist wichtig, man teilt die leidvollen Erfahrungen und findet Trost in den Erzählungen der anderen. Die anderen Pilger erhalten so, im Gegensatz zu den Menschen zuhause, eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung des eigenen Schmerzes und der biographischen Krise auf der Wanderung. 3. Die biographische Auszeit: Dieser Pilgertyp wandert nicht aufgrund besonderer Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte, sondern weil er Abstand braucht und sich entspannen will, weil der Stress und die Ansprüche des Alltags ein Nachdenken über den Sinn des Lebens provoziert und das Bedürfnis nach Freiheit und Abstand weckt. Für diese Pilger steht die bewusste Abschirmung von der Alltagssituation im Mittelpunkt. Man nimmt eine Auszeit und vermeidet den Kontakt mit den Menschen und den Strukturen zuhause. Die Begegnungen während der Wanderung werden zum sinnvollen Ausdruck einer anderen Art von Gemeinschaft als dem Leben zu Hause. Die Reise dient weniger der Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz, sondern als Auszeit für eine andere Art von Leben – und häufig als Flucht aus dem Alltag. 4. Der biographische Übergang: Der vierte Typ des Pilgers befindet sich im Übergang, an der Schwelle zwischen einer abgeschlossenen Phase des Lebens und einem neuen Abschnitt, wie z. B. Studienabschluss oder Wechsel des Arbeitsplatzes, die Kinder, die das Elternhaus verlassen oder der bevorstehende Ruhestand. Durch die Wanderung wird die Vergangenheit bearbeitet, die aktuelle Situation definiert und die Zukunft angedacht. Auch hier sind die Gespräche und der Erfahrungsaustausch mit anderen Pilgern sehr wichtig, allerdings dienen sie nicht der Krisenbewältigung, sondern als Anregung und Ansporn für das zukünftige Leben. Der Pilger schwebt zwischen den zwei Welten des Alten und Neuen, die Pilgerwanderung verdeutlicht und vollzieht den Übergang. 5. Der biographische Neubeginn: Der fünfte Pilgertyp steht vor einem Neuanfang, für den er sich bewusst entschieden hat, um seine Zukunft neu zu gestalten. Damit steht er dem Pilgertyp des biographischen Übergangs nahe, er hat indessen den Bruch bewusst herbeigeführt und
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die Veränderung selbst ausgelöst. Die Wanderung initiiert den Neubeginn, indem die Herausforderungen und die Irritationen des bisherigen Lebens im Gespräch mit anderen Pilgern bearbeitet werden und die neue Zukunft vorbereitet wird. Der Pilger hat einen großen Bedarf an Gesprächen und Gemeinschaft mit anderen Pilgern und es entwickeln sich unterwegs oft vertrauensvolle Beziehungen. 6. Die biographische Stellvertretung: Der sechste Typus wandert nicht aus eigener Entscheidung, sondern für andere, er opfert sich für jemanden. Damit unterscheidet er sich sehr von den anderen Pilgern. Der Pilgerpfad wird zum Instrument einer Opferhandlung. Der Schwerpunkt liegt hier weniger auf der Wanderung als solcher als auf dem Opfer und der Anerkennung. Die anderen Pilger spielen dabei kaum eine Rolle, er distanziert sich von ihnen und sucht die Einsamkeit, während der Kontakt mit den Menschen zuhause, besonders mit der Person, für die er sich opfert, sehr wichtig ist. 7. Die biographische Berufung: Der siebte Pilgertyp begibt sich auf den Weg, um anderen zu helfen, die er unterwegs trifft, um ihnen mit Rat und Fürsorge zur Seite zu stehen. Dies sind vor allem Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten oder gearbeitet haben und das Pilgerleben als Berufung erleben. Die Wanderung ist für sie eine altruistische Handlung, im Mittelpunkt steht der Kontakt mit den Pilgern, die sie unterwegs treffen, während der Kontakt mit den Menschen zuhause nur eine untergeordnete Rolle spielt. Rituelle Aspekte des Pilgerns Kurrat verknüpft diese Typologie durch den Nachweis dezidiert ritueller Aspekte der Pilgerwanderungen mit der Ritualtheorie. 1. Initiations- und Integrationrituale beim Übergang vom Alltag zum Pilgerdasein wie die kirchliche Segnung, die Aussendung, die Familienfeier, Geschenke vor der Abreise und das gemeinsame Abendessen in den Herbergen auf dem Weg. 2. Rituale wie das Ablegen von Steinen, Texten und Bilder an Steinhaufen, die durch die Steine von Zehntausenden Pilgern entlang des Wegs entstanden sind. Damit wird der Pilger Teil der imaginären, zeitübergreifenden Pilgergemeinschaft. Das bekannteste und wichtigste Beispiel ist
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Cruz de Ferro, das Eiserne Kreuz, am höchsten Punkt auf dem Weg nach Santiago. Dieses Ritual ist oft mit dem biographischen Anlass der Wanderung entsprechend der oben skizzierten Typologie verknüpft und wichtiger Teil der Auseinandersetzung der Pilger mit ihren Sünden, Sorgen, Ängsten und Wünschen. 3. Abschieds- und Erneuerungsrituale am Kap Finisterre als Zeichen des Übergangs und der Rückkehr in den Alltag. Etwa 90 Kilometer westlich von Santiago liegt das Kap Finisterre an der Atlantikküste. Das Meer umgrenzt das Kap in drei Richtungen, weshalb dieser Ort in früheren Zeiten als das Ende der Welt (lat. finis terrae) galt, und verdeutlicht damit sinnhaft das Ende der Wanderung. Seit dem Mittelalter wandern viele Pilger nach ihrer Ankunft in Santiago weiter ans Kap, um hier das Ende der Reise rituell zu feiern. Seit damals existiert der Brauch, dort die abgelegte, stinkende Kleidung zu verbrennen, ein Bad im Meer verdeutlicht die spirituelle Reinigung mit Wasser, die in vielen Religionen existiert, und die stille Betrachtung des Sonnenaufgangs auf den Klippen ist der visuelle Ausdruck für den Abschluss der Wanderung. Diese Rituale werden auch durch die Pilgerliteratur tradiert. So verbinden sich Lebensgeschichte und Pilgerwanderung. Die biographische Situation ist mitbestimmend für die Erfahrungen der Pilger. Die Wanderung erlaubt es, aus dem Alltag herauszutreten und die Erfahrungen des eigenen Lebens zu reflektieren, mit anderen Pilgern zu teilen und zu verarbeiten. Sowohl die körperlichen Herausforderungen wie auch die synchrone und diachrone Gemeinschaft der Pilger sind konstitutive Elemente der Pilgerwanderung. Die Beschreibung und Mitteilung der Erfahrungen nach der Rückkehr ermöglicht ihre Integration in die eigene Lebensgeschichte. Die Pilgerwanderung selbst stellt eine Ausnahmesituation dar, die durch rituelle Handlungen eingerahmt wird. Durch Identifikationsund Integrationsrituale wird der Übergang vom Alltag ins Pilgerdasein verdeutlicht, die Abschieds- und Erneuerungsrituale am Kap Finisterre markieren das Ende der Wanderung und die Rückkehr in den Alltag. Das rituelle Ablegen eines Steines am Cruz de Ferro und anderen Orten schafft eine enge Verknüpfung zwischen der Pilgerwanderung und der individuellen Biographie. Die Frage nach der biographischen Funktion der Pilgererfahrungen nach
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der Rückkehr und der Art und dem Umfang der Konsequenzen im späteren Leben liegen jenseits des Forschungshorizonts der der religionssoziologischen Studien der Universitäten Mainz, Trier und Hagen. Auch die Frage nach der Rolle der Pilgergemeinschaft vor, unter und vor allem nach der Wanderung bleibt offen. Weiterer Forschungsbedarf Meine im ersten Kapitel beschriebenen persönlichen Erfahrungen stimmen in vielen wichtigen Punkten mit den Ergebnissen der Studien überein. Die Menschen auf dem Pilgerweg suchen oft eine Gemeinschaft, die soziale, kulturelle und religiöse Grenzen überschreitet. Auf dem Jakobsweg sind wir weder Zimmermann noch Arzt, sondern Pilger, und wir lassen konfessionelle und dogmatische Differenzen hinter uns. Wir wünschen eine Gemeinschaft ohne Vorurteile, wir sind auf dem gleichen Weg und haben das gleiche Ziel, sowohl der geographische Ort des Pilgerziels, als auch im übertragenen Sinne als etwas Größeres, das das konkrete Ziel transzendiert. Die Pilgerwanderung wird in soziologischer Perspektive gewöhnlich als eine Aktivität von Gläubigen und religiösen Traditionalisten betrachtet. Empirische Studien zeigen indessen, dass das zeitgenössische Phänomen des Pilgerns wesentlich breiter verstanden werden muss. Heute sind auch viele Kirchenfremde und religiös heimatlose und suchende Menschen unterwegs, die gelegentlich als »religiöse Wanderer« bezeichnet werden.66 Das heutige Pilgerwesen wird deshalb auch als Ausdruck einer »Populärspiritualität«67 verstanden, da es sich eben nicht mehr notwendig innerhalb des traditionellen kirchlichen oder religiösen Rahmens vollzieht, sondern auch eine Art des Wanderns ohne religiöse Bindung ermöglicht.68 Die oben genannten Ergebnisse bestätigen auch die grundlegenden Forschungsergebnisse von den englischen Religionssoziologen Woodhead und Catto auf der Grundlage der religiösen Entwicklung in England, die sich 66 Vgl. Bochinger, Christoph; Engelbrecht, Martin und Gebhard, Winfried (Red.) 2009. Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion – Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur. 67 Vgl. Knoblauch, Hubert. 2009. Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. 68 Vgl. Reader, Ian und Walter, Tony. 1993. Pilgrimage in Popular Culture.
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als konfessionsüberschreitend beschreiben lässt.69 Das traditionelle Christentum befindet sich seit Jahrzehnten auf dem Rückzug und wird zunehmend durch eine »Spiritualität« ersetzt, die als Sammelbezeichnung ein breites Spektrum an Phänomenen wie Yoga, Tai-Chi, dem Glauben an Engel und verschiedene Arten von »holistischen Aktivitäten« in sich vereint.70 Heelas und Woodhead finden in ihrem Material drei Hauptformen der religiösen Orientierung.71 Die Religion der Unterscheidung betont die Grenzen zwischen der religiösen Gemeinschaft und der Außenwelt und konzentriert sich auf die eigenen Werte und Traditionen. Die Haltung der Kirchen von Rom und Santiago in der Frage des Ablasses und die strenge religiöse Praxis in Jerusalem veranschaulichen diese Position. Die Religion der Humanität ist liberaler und offener gegenüber anderen Meinungen und Werten, sucht eine gemeinsame Basis und ist weniger an Absolutismen interessiert, wie die Begegnungen in Trondheim und Trier veranschaulichen. Die dritte Form der subjektiven Spiritualität steht oft in einem Spannungsverhältnis zum Erbe der Kirche und dem christlichen Denken. Gleichzeitig ist sie oft individualistischer und eher am eigenen Glück interessiert als die Religion der Humanität. Das Pilgerwesen passt gut in dieses Bild. Die unterschiedlichen Pilgerpraktiken spiegeln sich in allen diesen Formen wider, wobei die heutigen Praktiken sich meistens in den letzten beiden Kategorien wiederfinden. Es wäre nach Woodhead indessen falsch, den heutigen Trend zu individuellen Motiven und Inhalten der Pilgerwanderungen als Säkularisierung zu charakterisieren, darin zeigt sich vielmehr eine neue und andere Form der Religionszugehörigkeit. Im Gegensatz zu einer gegebenen konfessionellen 69 Vgl. Woodhead, Linda und Catto, Rebecca. 2012. Religion and Change in Modern Britain, Routledge. 70 Vgl. Woodhead, Linda und Heelas, Paul. 2005. The Spiritual Revolution, Oxford: Blackwell. 71 Vgl. Woodhead, Linda und Heelas, Paul. 2000. Religion in Modern Times. Oxford: Blackwell Publishers. Vgl. v. a. die Studien innerhalb des Projekts »Gud på Sørlandet«, siehe: Repstad, P. und J.O. Henriksen (Red.) 2005. Mykere kristendom. Sørlandsreligion i endring. Bergen: Fagbokforlaget; Henriksen, J.O. und P. Repstad 2005. Tro i sør. Sosiologiske og teologiske blikk på sørlandsk religion. Bergen: Fagbokforlaget. Henriksen und Repstad kritisierten ausserdem mehrfach Woodheads kategorische Typologien auf der Grundlage eigener empirischer Materialen und erweiterten Woodheads Typologie mit hybriden Kategorien.
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Identität früherer Zeiten, in die man hineinwuchs, verhält man sich heute wesentlich selektiver zur Religion: Man gehorcht nicht länger kirchlichen und religiösen Autoritäten und identifiziert sich nicht mehr mit einer einzigen Konfession oder einem bestimmten religiösen Ausdruck, sondern versteht die religiösen Traditionen als eine Grundlage, einen Vorrat, aus dem man frei auswählen kann, was einem sinnvoll erscheint, das man erprobt und eventuell mit etwas anderem ersetzt. Die Religion verschwindet nicht, sondern verändert sich, und das heutige Pilgerwesen ist nur ein Ausdruck dieser anhaltenden Veränderung. Die Analysen von Woodhead und Catto bestätigen damit auch weitgehend die Ergebnisse der deutschen Studien. Der Pilger von heute lässt sich nicht ohne weiteres mit einer Formel beschreiben. Gleichzeitig lassen sich Gemeinsamkeiten im Blick auf die Pilgererfahrungen finden. Zwar sind die Aspekte der Körperlichkeit und Naturerfahrung, des Lebens in den Herbergen und dem Erleben der Gemeinschaft in der oben beschriebenen Zusammensetzung nur für den Jakobsweg nach Santiago de Compostela typisch. Die Wanderung auf dem Olavsweg nach Trondheim oder der Via Francigena nach Rom ist für die meisten im Vergleich dazu eine einsame Unternehmung. Die Zahl der Pilger ist dort weit geringer, die Gemeinschaft in den Herbergen ist nur eingeschränkt zu erleben und fehlt streckenweise völlig. Trotzdem teilen alle modernen Pilger streckenunabhängig Grunderfahrungen von Natur und Körper wie auch der geschichtlichen und kulturellen Gemeinschaft auf dem Weg und an den Pilgerzielen. Sie erleben sich als Teil einer diachronen und synchronen Gemeinschaft mit den Menschen, die gemeinsam mit ihnen wandern, und mit den Pilgern der Vergangenheit und Zukunft. Diese Verknüpfung von Körper, Natur und Gemeinschaft durch Kultur und Geschichte bildet die Rahmenbedingungen, in denen und durch die man als Pilger lebt, und die häufig jenseits der persönlichen Aspekte der Wanderung zum Thema der wichtigen abendlichen Begegnungen in den Herbergen werden. Die sozialwissenschaftlichen Studien zeigen, dass die Natur für die Pilger mehr ist als die Umwelt des Menschen: Sie ist auch sein Ursprung. Der Mensch kann nicht ohne die Natur sein, er ist selbst auch Natur. Zugleich erlebt der Pilger, in kulturelle und historische Zusammenhänge eingebettet zu sein, die weit größer, tiefer und länger sind als das menschliche Leben
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und in dieses eingreifen. Während das Selbstverständnis des modernen Menschen durch die Erfahrung der ständigen Entwicklung, des Fortschritts und der Herrschaft über Natur und Kultur geprägt ist, erkennt der Pilger sein schicksalhaftes Eingebundensein in Natur, Kultur und Geschichte im Guten wie im Schlechten an. Die Wahrnehmung der Zugehörigkeit und Heimat trägt auch mit zu der Entscheidung bei, nicht irgendwo zu wandern, sondern sich auf historische Wege hin zu historischen Pilgerzielen zu begeben, wobei dies nicht nur als positive Bestätigung, sondern auch als Bruch und Entfremdung erfahren werden kann. Viele suchen gerade die performative Wirkung der Wanderung auf das eigene Leben. Während Victor und Edith Turner die Pilgerwanderung als liminoiden Ritus des Übergangs von einem Zustand in einen anderen beschreiben, liegt für viele heutige Pilger der Schwerpunkt auf der Wiederholung des performativen Charakters des Wanderns. Viele machen sich wieder und wieder auf den Weg nach Santiago oder finden neue Pilgerrouten, um sich ihrer Identität zu vergewissern. Die Pilger stellen die philosophische Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht und hinterfragen das moderne Grundparadigma der Unabhängigkeit des Subjekts. Sie suchen durch das Wandern nach neuen Wegen des Selbstverständnisses. Der Mensch verfügt nicht über seinen Ursprung, sein Leben ist nicht unabhängig, sondern anderen ausgeliefert. Das Subjekt ist dialogisch, intersubjektiv, relational konstituiert.72 Die Pilgerwanderung ist ein Protest gegen das alltägliche Leben, das als zu eng, zu wenig offen oder aber als grenzenlos und beliebig erlebt wird. Gegenüber den Erfahrungen auf dem Pilgerweg zeigt sich in beidem die Entfremdung des eigenen Lebens. Viele sehnen sich deshalb danach, bald wieder die Stiefel anzuziehen und »aufzubrechen, um nach Hause zu kommen«, wie es oft ausgedrückt wird.73 Das Phänomen des Pilgerns lässt sich aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten. Bisher haben wir uns bei der Analyse der Riten und Praktiken der Pilger auf die Sozialwissenschaften konzentriert. Im Folgenden werden wir historische, geistesgeschichtliche, philosophische und
72 Siehe: Jensen, Roger. 2004. Subjektkonstitusjon og Gudstale, siehe v. a., S. 13–24. 73 Vgl. Feldweg, Bettina (Hrsg.), 2009, Losgehen, um anzukommen. Die Faszination des Pilgerns, Piper, München.
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theologischen Fragestellungen zur weiteren Analyse des präsentierten Materials heranziehen. Angesichts der Pilgerwege, Reliquien, der Plakate, die völligen Ablass versprechen, stellt sich die Frage, auf welche Weise die Kirche im Lauf der Geschichte zur Entwicklung des Pilgerwesens, der Wanderungen und der Pilgerorte beigetragen hat, welches Gottesbild dieser Beitrag impliziert und welche Vorstellungen in den Köpfen der Pilger geschaffen wurden. Auf welches theologisches Denken gründen sich die Pilgerwanderungen und Pilgerziele? Auch die Tatsache, dass der Protestantismus traditionell das Pilgerwesen ablehnte und pilgernde Protestanten insofern ein neues Phänomen darstellen, lässt die Frage nach dem Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten aufkommen. Worin besteht die reformatorische Kritik an der Praxis und dem Verständnis des Pilgerwesens? Martin Luther war nicht die einzige, aber eine der stärksten kritischen Stimmen gegen die mittelalterliche Pilgertheologie und Pilgerspiritualität. Zwar setzte der Rückgang der Pilgerzahlen bereits vor der Reformation ein, ihre Kritik verstärkte aber diesen Prozess und war einer der Ursachen, dass das Pilgerwesen nach Luthers Tod in der Zeit der Gegenreformation und Konfessionalisierung zu einem Teil der katholischen Identität wurde. Das Pilgerwesen als Kennzeichen des Katholizismus erklärt auch, warum bis heute kaum protestantisch-theologische Untersuchungen über das Phänomen existieren. Wir werden deshalb die historischen Debatten, die das Bild bis heute prägen, genauer untersuchen. Warum stehen manche Menschen stundenlang in einer Schlange, um das Grab des Apostels Jakobus unter dem Hauptaltar der Kathedrale von Santiago de Compostela zu sehen, was als Höhepunkt und eigentliches Ziel der Pilgerwanderung nach Santiago gilt, während dies für andere eher fremd erscheint und die deshalb zögern, an dieser Tradition teilzunehmen? Welche philosophischen und theologischen Reflexionen liegen diesem Unterschied zugrunde? Gibt es »authentische Orte« mit besonderen Eigenschaften, die uns bei einem Besuch dabei helfen, zu dem zu werden, was wir wirklich sind? Die oben präsentierte Forschung deutet darauf hin, dass die moderne Pilgerpraxis, vor allem auf den großen Pilgerwegen, nicht mehr konfessionell gebunden ist. Dies provoziert die theologische Frage, wie sich von Gott in
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einer Weise sprechen lässt, die vom heutigen konfessionslosen Pilger als relevant erlebt wird. Hat die Kirche noch einen Anknüpfungspunkt im Leben des Pilgers und eine Antwort auf seine Sehnsucht? Welche Prämissen gelten für eine solche Rede von Gott, welche theologischen und kirchlichen Quellen sind dabei noch relevant? In den folgenden vier Kapiteln werden deshalb folgende Themen diskutiert: 1. Wann und wie begann das Pilgerwesen? Welche Formen hatte es? Welche Auffassung hatte das Mittelalter von den Pilgern? 2. Worin bestand die Kritik an der Lehre und Praxis des Pilgerwesens? 3. Wie sind die unterschiedlichen Erfahrungen des Heiligen im Allgemeinen und an den Wallfahrtsorten zu verstehen? 4. Wie und wodurch kann man heute sinnvoll vom Pilgern als religiöser Erfahrung sprechen?
3.
Der Pilger in Spätantike und Mittelalter. Wirklichkeitsverständnis, Motive und Praktiken »Aus Liebe zu dieser Heiligen vergibt der Herr den Sündern ihre Vergehen, den Blinden schenkt er das Augenlicht, den Stummen löst er die Zunge; Lahme werden aufgerichtet, Besessene vom Dämon befreit, vielen anderen werden hier unsagbare Wohltaten zuteil.«74
Als Christoph Kolumbus am 14. Februar 1493 aus der Neuen Welt zurückkehrte, geriet sein Schiff in einen Sturm. Die Situation wurde so bedrohlich, dass die Besatzung mit einem Schiffbruch rechnete. Da gelobte Columbus Gott, dass er, falls sie gerettet würden und unversehrt nach Hause kämen, drei Pilger aussenden würde. Einer solle sich auf die Pilgerreise zur Heiligen Maria von Guadalupe begeben und eine fünf Pfund schwere Kerzen opfern. Der zweite würde nach Loreto gehen, und der dritte zum Kloster Santa Clara de Moguer, um dort die heilige Messe lesen zu lassen. Wenn jemand in großer Gefahr Gott um Hilfe bat und diese Hilfe erhielt, musste er als Ausdruck des Dankes etwas Außergewöhnliches tun, etwa sich auf eine Pilgerfahrt zu begeben. Für Columbus war dies ein Teil der Kultur – so dachte er, und so handelte er.75 Die Praxis der heutigen Pilgerschaft ist eine andere als die, die uns in der Erzählung von Christopher Columbus begegnet, auch wenn es im Süden Europas nach wie vor Formen der Frömmigkeit gibt, die Votivgaben und Pilgerwanderungen miteinschließen. Und auch der Blick zurück auf die Geschichte des Pilgerwesens wird noch weitere Motive und Praktiken ans Licht bringen als jene, die wir bei Columbus finden. Im Folgenden möchte ich einen kurzen historischen Überblick über das Phänomen des Pilgerns in Europa geben, von den ersten Quellen aus dem vierten Jahrhundert bis ans Ende des Mittelalters.
74 Ohler, Norbert. 2003. Pilgerstab und Jakobmuschel. Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit, S. 61. 75 Ohler, Norbert. 2003, S. 70ff.
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Der Beginn – die Gräber der Märtyrer und die Reisen nach Palästina Die ersten Quellen sprechen davon, dass sich bereits im vierten Jahrhundert Christen an den Gräbern der Märtyrer versammelten, um dort gemeinsam zu beten. Der Märtyrerkult trug dazu bei, die religiöse Landschaft zu formen, die sich nach und nach zur christlichen Welt entwickelte. Hieronymus (347–420), auf den wir uns im Folgenden konzentrieren, erzählt, wie er zu seiner Zeit als Student in Rom des Jahres 365 an Sonntagen zu den Gräbern der Märtyrer und Apostel ging, um dort mit Freunden zu beten.76 Bereits in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts ist der Märtyrerkult in Rom ein fester Bestandteil des kirchlichen Lebens und der örtlichen Liturgie, der sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch weiter verstärkt.77 Christen, die selbst nicht in der Lage waren, nach Rom zu reisen und an diesem Kult teilzunehmen, wie der Erzbischof von Konstantinopel, Johannes Chrysostomos78, kannten den Umfang des Kultes. Chrysostomos beschreibt ihn als den Ursprung eines endlosen Pilgerstromes und erwähnt, wie sogar Kaiser und Konsuln die Märtyrergräber ehrten, obwohl die Märtyrer selbst nur einfache Fischer oder Zeltmacher waren. Der Märtyrer- und Apostelkult in Rom wurde nicht nur von Einheimischen praktiziert, bald kamen auch christliche Reisende aus anderen Ländern in die Stadt. Chrysostomos erwähnt, dass er selbst gerne die apostolischen Gräber gesehen hätte, vor allem das Grab von Paulus. Er hatte den starken Wunsch, selbst in das Grab hinabzusteigen, um den Staub auf dem Körper des Apostels zu sehen. Nur seine Angst davor, dass seine Gesundheit eine solche Reise nicht überstehen würde, und seine Verpflichtungen gegenüber der Kirche hielten ihn davon ab, selbst nach Rom aufzubrechen. Mit dem Aufkommen des Märtyrerkultes begann auch die Diskussion über die Rolle der Märtyrer im christlichen Glauben. Hieronymus versuchte in der Auseinandersetzung mit Vigilantius zwischen zwei Begriffen zu un76 Als Einführung: Kelly, J.N.D. 1998. Jerome: His life, writings, and controversies, London: Hendrickson Publ. 77 Chadwick, H, 1982, History and Thought of the Early Church, London. Siehe vor allem S. 31–52. 78 Siehe Contra Iudaeos 9.
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terscheiden, die oft im Blick auf Gottesdienst und Anbetung herangezogen wurden:79 anbeten (adorare) und ehren (honorare). Er bestreitet, dass die Christen die Märtyrer an den Gräbern anbeten, wie die Heiden dies an ihren Gräbern tun. Hieronymus betont den Unterschied zwischen Märtyrerkult und Gottesdienst – im Kult werden die Märtyrer geehrt, während man im Gottesdienst zu Gott betet –, obwohl es bei beiden kultische Gemeinsamkeiten gibt wie das Entzünden der Kerzen und nächtliche Gottesdienste (Vigilien) an den Gräbern. Die hier gezogene Trennlinie von Anbetung und Ehrung wird allerdings bereits im 5. Jahrhundert gelegentlich verwischt. Augustin (354–430) indessen betont sie wieder und wieder in seinen Schriften: »Für uns sind die Märtyrer freilich keine Götter, weil wir nur einen Gott kennen, wie die Märtyrer nur den einen gekannt haben. … die Heiden haben ihren Göttern Tempel erbaut und Altäre errichtet, ihnen Priester eingesetzt und Opfer dargebracht; wir dagegen errichten unseren Märtyrern nicht Tempel wie [heidnischen] Göttern, sondern Gedenkstätten für verstorbene Menschen, deren Geister bei Gott leben«.80
Die Ähnlichkeiten zwischen Märtyrerkult und heidnischen Kulten machten es für die frühchristlichen Theologen notwendig, zwischen beiden klar und deutlich zu unterscheiden. Die Ähnlichkeiten blieben lange Zeit ein wichtiges Thema, wobei einige Theologen wie Augustinus diese sehr problematisch fanden, andere indessen, wie Hieronymus, weit weniger.
Die ersten Pilgerfahrten nach Palästina Als Folge der Streitigkeiten in Rom reist Hieronymus im Jahre 385 nach Osten nach Jerusalem, in seine – wie er sie nun nennt – Heimat (patriam meam). In Palästina zeigt er sich als begeisterter Pilger und seine Texte gehören zu den wichtigsten Quellen für die früheste Phase des Pilgerphänomens. Er bietet einen systematischen Überblick über die heiligen Orte, die er besucht, und eine persönliche Beschreibung der Stätten. 79 Hier und im Folgenden: Bitton-Ashkelony, Brouria. 2005. Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity. Siehe vor allem S. 65–105. 80 Augustinus, De civitate Dei 22.10.
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Wie Egeria und der Pilger aus Bordeaux, zwei weitere berühmte Pilger des 4. Jahrhunderts, interessiert sich Hieronymus lebhaft für die im Alten und Neuen Testament erwähnten Orte. Egeria, eine adlige Frau aus Spanien oder Südfrankreich, besucht Palästina und die Heiligen Stätten in den Jahren 381 bis 384. Sie erzählt von den großen Menschenmengen, die an dem großen Fest Encaenia am 14. September teilnehmen, in Erinnerung an den Tag im Jahr 335, an dem das Kreuz Jesu wieder aufgefunden wurde, und von der Einweihung der Grabeskirche in Jerusalem. Egeria berichtet über zahlreiche Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt, sie erwähnt Mesopotamien, Syrien, Ägypten und andere Provinzen. Sie beschreibt ein buntes Treiben und seine Teilnehmer: Männer und Frauen, Mönche, Priester, Laien. Für Egeria sind die heiligen Stätten, an denen sich die Heilsgeschichte entfaltete und die menschliche Geschichte, die Zeit und Geografie für immer veränderte, immer noch mit göttlicher Gegenwart aufgeladen. Es überrascht nicht, dass Christen die in der Bibel erwähnten Orte aufsuchten, trotzdem gibt es nur sehr wenige Reiseberichte aus der Zeit vor dem 4. Jahrhundert, und die wenigen bewahrten Zeugnisse sind keine frommen Reiseschilderungen, sondern gleichen eher dem, was wir heute als Studienreisen bezeichnen würden. Das christliche Pilgerphänomen entfaltet sich erst im 4. Jahrhundert durch das Aufkommen liturgischer Feiern an den heiligen Stätten und durch die Verbreitung der Reiseberichte, die sich bald zu einem eigenen Genre entwickeln sollten. Unter Kaiser Konstantin (272–337), dem ersten christlichen Kaiser des Römischen Reiches, wird die heidnische Provinz Palästina zum Heiligen Land und erhält damit eine besondere Bedeutung für die Christenheit. Der römische Frieden, pax romana, ermöglicht fortan Reisen nach Palästina. Der Besuch von Konstantins Mutter Helena (257–330) im Heiligen Land im Jahr 326 gilt für einige Historiker als der Beginn des Pilgerns als Massenphänomen.81 Ihr Besuch erhielt bald einen legendären Status als eine mythische Erzählung einer Reise zu den heiligen Stätten Palästinas. Die berühmteste Legende darin beschreibt den Fund des Kreuzes Jesu, der als
81 Holum, K. G. 1990. »Hadrian and St. Helena: Imperial Travel and the Origins of Christian Holy Land Pilgrimage« in Ousterhout, R. (Red.), The Blessings of Pilgrimage, Urbana, S. 66–81.
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Beweis für das Recht der Christen galt, über die Stadt Jerusalem zu herrschen und sie in eine christliche Stadt zu verwandeln.
Bild 10: Die Heilige Helena findet das Kreuz Jesu, italienische Buchillustration aus dem Jahr 825. © Wikimedia Commons.
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Egeria erzählt, wie das Kreuz Jesu an Karfreitag unter genauer Aufsicht des Klerus zur Schau gestellt wird. Ein Gläubiger habe dabei Jahre zuvor ein Stück des Kreuzes abgebissen, um es mit nach Hause zu nehmen. Für Egeria und viele anderen Pilger ist auch der Besuch bei den heiligen Männern, die als mönchische Einsiedler in Ägypten, Syrien und Palästina leben, ein wichtiges Reiseziel. Bereits bei den ersten Pilgerwanderungen lässt sich eine starke Verbindung mit dem monastischen Leben erkennen. In den Klöstern, die schon früh eigene Pilgerherbergen eingerichtet hatten, erhalten die Reisenden Unterkunft und Verpflegung. Die Mönche betreuen darüber hinaus die Pilger mit eigenen Liturgien und »Pilgersegnungen« (eulogiae), aber auch mit »Souvenirs«. Die bekanntesten Mitbringsel waren kleine Flaschen aus Glas, Ton oder Metall, die mit Heilsalbe gefüllt und oft mit dem Bild der Auferstehungskirche gestempelt waren. Ähnliche Andenken werden auch heute noch an den Pilgerstätten in Palästina und Europa verkauft. Ansonsten hören wir von vielen, die Andenken von den besuchten Orten mitnahmen, sogenannte memorabilia wie Wasser aus dem Jordan, Öl aus den Lampen der Grabeskirche, getrocknete Blumen von Gethsemane oder einfach nur Staub von den Straßen in Jerusalem – nicht unähnlich dem, was viele Touristen und Pilger heute tun. Wir hören allerdings auch von Pilgern, die Erde oder Ton aus dem heiligen Land mit Wasser mischten und in der Hoffnung auf heilende Kräfte tranken.82 Berichte von frommen Adelsfrauen auf Pilgerreise sind typisch für die Spätantike, pilgernde Frauen als Massenphänomen erscheinen erst wieder im späten Mittelalter. Im frühen Mittelalter war es Mönchen und Nonnen verboten, aufgrund ihres Gelübdes der stabilitas loci, der Ortsgebundenheit, die Klöster zu verlassen. Eine weitere wichtige Quelle aus der gleichen Zeit stammt vom sogenannten Pilger von Bordeaux. Seine Beschreibung einer Pilgerreise im Jahr 333 ist das erste bekannte Beispiel eines Genres, das bald wachsen sollte: die Pilgergeschichte. In ihr erzählt der Pilger von den verschiedenen Strecken und Erlebnissen, welche der bekannten öffentlichen
82 Walker, Peter. 2004. »Pilgrimage in the Early Church« in: Bartholomew, C. og Hughes, F., 2004, Explorations in a Christian Theology of Pilgrimage, Ashgate Publishing Limited, England, S. 73–91.
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Bild 11: Andenken, wie sie in Jerusalem heute zum Verkauf angeboten werden. Foto: Roger Jensen.
Straßen er nutzte (cursus publicus), an welcher Station (mansio) er halt machte und die Pferde wechselte.83 Hieronymus denkt über die Bedeutung des Besuchs der heiligen Stätten nach. So wie ein Besuch Athens das Verständnis der griechischen Geschichte fördere, so verhelfe der Anblick der Ruinen der antiken Städte in Judäa zu einem besseren Verständnis der Heiligen Schrift. Die Nähe zu den heiligen Stätten sei für den Glauben so bedeutend wie das Studium des Griechischen in Griechenland oder des Lateins in Rom. Durch anschauliche Beschreibungen seiner Erfahrungen beim Besuch der heiligen Stätten versucht Hieronymus, ein konkretes Zeugnis über die Ereignisse der Vergangenheit zu geben, wie der Gläubige sie selbst sehen und erleben kann. Er 83 Limor, Ora. 2006. »›Holy Journey‹: Pilgrimage and Christian Sacred Landscape« in: Limor, Ora og Stoumsa, Guy, G. (Red.) Christians and Christianity in the Holy Land, Turnhout: Brepols Publishers n.v., S. 321–353.
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entwickelt so ein neues Ideal der christlichen Frömmigkeit, indem er den Besuch des Grabes Jesu zu einer christlichen Pflicht erheben möchte. Er ist überzeugt davon, dass jeder Christ eine physische und visuelle Bestätigung der Wahrheit des christlichen Glaubens durch den Besuch der heiligen Stätten bedarf. Zwar hat sich dieser Gedanke nicht durchgesetzt, aber die Umwandlung Jerusalems zu einer christlichen Stadt im 4. Jahrhundert und die wachsenden Pilgerströme in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zwangen die christlichen Theologen dazu, den Begriff der heiligen Stadt neu zu überdenken (vgl. Matth. 27,52–53). Gleichzeitig war Hieronymus eine komplexe und streitbare, durch ständige Konflikte geprägte Person. So verändert er seinen Standpunkt nach und nach ins genaue Gegenteil. Ist für ihn bei seinem ersten Besuch in Palästina noch »die Anbetung an dem Ort, den dem die Füße des Herrn einst wandelten, ein Teil des Glaubens«, behauptet er später: »Denke nicht, dass deinem Glaube etwas fehle, auch wenn du Jerusalem nicht gesehen hast«.84 Zehn Jahre nach seiner ersten Ankunft in Jerusalem im Jahre 395 argumentiert Hieronymus nun mit Paulus – worauf ich im nächsten Abschnitt noch näher eingehen werde – und kritisiert die starke Betonung der konkreten heiligen Orte. Anstelle der physischen Nähe zu den heiligen Stätten konzentriert er sich jetzt auf das geistige und moralische Leben. Es sei nicht wichtig, in Jerusalem zu beten, denn Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen dies im Geiste und in der Wahrheit tun (vgl. Joh. 4,23). Die Gläubigen seien selbst der Tempel Gottes, Gott wohne in den Gläubigen (vgl. 1. Kor 3,16). Hieronymus verweist ferner auf die Worte Jesu in Lukas 17,21, dass das Reich Gottes »in euch« sei – dieses Schriftzitat sollte zum theologischen Hauptargument gegen das Pilgerwesen werden. So vermittelt Hieronymus durch sein Leben und seine Texte eine Ambivalenz, die viele christliche Theologen im Blick auf das irdische Jerusalem und das wachsende Pilgerphänomen fühlten.85
84 Bitton-Ashkelony, Brouria. 2005. Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity. Siehe vor allem S. 85ff. 85 Ibid.
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Die ersten Christen und das paulinische Vermächtnis86 Durch seine Betonung des heiligen Ortes unterscheidet sich Hieronymus indessen von anderen Theologen, vor allem von Origenes (185–254), für den nur das himmlische Jerusalem von Bedeutung war. Auch Eusebius (um 260– 340) forderte wie Origenes eine spirituelle Interpretation Jerusalems und des gelobten Landes.87 Gregor von Nyssa (ca. 335–394) lehnte mit dem Hinweis darauf, dass man die Gegenwart Gottes nicht auf bestimmte Orte einschränken könne, das Pilgerwesen ab. Die Kritiker des wachsenden Pilgerphänomens beschrieben das monastische Leben als die wahre Pilgerreise und das Kloster als das wahre Jerusalem. In dieser Debatte über die heiligen Stätten im Allgemeinen und Jerusalem im Speziellen lässt sich ein Echo des Apostels Paulus vernehmen. Für Paulus ist Gott grenzenlos und bedarf keiner Tempel. Gott ist dort, wo man ihn sucht. Gott ist durch den Heiligen Geist unter den Gläubigen in der Kirche anwesend. Für Paulus ist Gottes Verheißung des Heils nicht mehr an das gelobte Land mit seinem Zentrum Jerusalem gebunden, vielmehr knüpft er die Verheißung Gottes an alle, die im Glauben Abrahams Erben sind, die im Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus leben, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Das irdische Jerusalem steht nicht mehr im Zentrum und hat als geographischer Ort seine geistige Bedeutung verloren. Paulus konzentriert sich auf das himmlische Jerusalem. Dies gilt auch für das Gesetz, der Tora. Für Paulus ist Christus »das Ende und Ziel des Gesetzes« (Röm 10,4). Der heilige Ort, der Tempel, ist nicht mehr geografisch zu bestimmen, sondern mit Christus verbunden – fortan ist »die Herrlichkeit Gottes« in Christus sichtbar (2 Kor 4,6). Die Verheißung an Abraham erfüllt sich in Christus (Gal. 3,15–18), und im Glauben an Christus sind auch die Heiden Abrahams Kinder (Gal. 3,29) und haben Teil am Segen Abrahams (Gal 3,14). Wenige Jahrzehnte nach Jesu Kreuzigung, als der Tempel noch steht, 86 Siehe: Lincoln, Andrew T. 2004. »Pilgrimage and the New Testament« in: Bartholomew, C. und Hughes, F. (Red.). 2004. Explorations in a Christian Theology of Pilgrimage, Ashgate Publishing Limited, England, S. 29–49; Motyer, Steve. 2004. »Paul and Pilgrimage« in: ibid., S. 50–72. 87 Siehe: Walker, P. W. L. 1990. Holy City, Holy Places? Christian attitudes to Jerusalem and the Holy Land in the fourth century, Oxford: Clarendon Press, S. 52–92.
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haben das irdische Jerusalem und der Tempel ihre Bedeutung für die Christen verloren, wie auch die jährliche Pilgerschaft nach Jerusalem zu Ostern.88 In der Apostelgeschichte finden wir die folgende programmatische Position in der paulinischen Rede auf dem Areopag: »Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt. Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht. Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.« (Apg. 17, 24–31)
Deshalb sind für Paulus die Gläubigen in den christlichen Gemeinden zu keinem Gehorsam gegenüber Jerusalem verpflichtet oder zu einer Pilgerreise nach Jerusalem als dem Zentrum der Jesus-Bewegung gezwungen. Der Glaube an den auferstandenen Herrn braucht kein geographisches Zentrum mehr in der Welt. Paulus richtet den Blick auf das himmlische Jerusalem, an dem auch die Heiden im Glauben teilhaftig werden, worin Paulus die jüdischen Endzeitprophezeiungen bestätigt sieht, dass alle Menschen am jüngsten Tag nach Jerusalem kommen und dort ihre Rettung finden. Es besteht ein breiter Konsens in der Paulus-Forschung über diese Schwer88 Wright, N.T. 1992. »Jerusalem in the New Testament« in: Walker, P.W.L. (Red.), Jerusalem Past and Present in the Purposes of God, Tyndale House, Cambridge, S. 53–77.
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punktverlagerung vom irdischen zum himmlischen Jerusalem, vom Tempel als dem heiligen Ort hin zur Person Christi, wenn auch vereinzelt darauf hingewiesen wird, dass Paulus zu glauben scheint, dass das historische Jerusalem als der konkrete Ort für Jesu Rückkehr zum endgültigen Gericht über die Welt eine universale heilsgeschichtliche Rolle am Ende der Zeit haben wird. Es ist schwierig, die dramatischen Entscheidungen der ersten Christen in ihrer weitreichenden Bedeutung zu erfassen. Während für das Judentum der Tempel von Jerusalem der eine Ort der Anbetung war, zu dem man jedes Jahr an Ostern pilgerte und ein Opfer darbrachte, brechen die Christen sowohl mit dem Verständnis des heiligen Ortes wie auch des Opfers. Wenn Jerusalem fällt, sehen die Christen dies als durch Jesu Rede über sich selbst, seinen Tod und seine Auferstehung bereits vorhergesagt – »Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen« (Joh 2, 19). Bis ins 4. Jahrhundert gibt es unter den Christen weder den Wunsch noch den Versuch, heilige Stätten zu definieren oder eine heilige Karte der Welt zu zeichnen.89 Aus dem gleichen Jahrhundert existieren aber auch Berichte über christliche Versammlungen an Märtyrergräbern, und aus den Quellen zeigt sich, wie die Gläubigen damit beginnen, zu den historischen heiligen Stätten in Palästina zu strömen. Obwohl sie nicht mehr die jüdische Vorstellung des Tempels als dem einen Ort der Anbetung teilen, reisen sie doch an die biblischen Orte, errichteten dort nach und nach Kirchen und entwickeln Liturgien für das dortige gottesdienstliche Leben. So verbinden sich Geographie und Gottesglaube miteinander, wir sehen einen wachsenden Wunsch nach der geografischen Lokalisierung des kollektiven Gedächtnisses der christlichen Gemeinschaft.90
89 Limor, Ora, 2006, »›Holy Journey‹: Pilgrimage and Christian Sacred Landscape« in: Limor, Ora und Stroumsa, Guy G. (Red.), Christians and Christianity in the Holy Land. From the Origins to the Latin Kingdoms, Brepols Publishers n.v., Turnhout, Belgia. Siehe S. 325ff. 90 Vgl. Bitton-Ashkelony, Brouria. 2005. Encountering the Sacred. The Debate on Christian Pilgrimage in Late Antiquity.
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Das Pilgerwesen des Mittelalters Das Mittelalter91 bezeichnet die Epoche zwischen Antike und Neuzeit vom 5. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, vom Fall des römischen Reiches in Westeuropa bis zur Renaissance und der einsetzenden Reformation. Die historischen Quellen nennen vielfältige Motive für die Pilgerreisen in diesen Jahrhunderten. Es zeigen sich dabei sowohl im heutigen Sprachgebrauch als allgemein zu bezeichnende Motive wie auch explizit religiösen Beweggründe, und oft sind sie ineinander verwoben.92 Als Pilger war es dem Leibeigenen erlaubt zu reisen, was ihm ansonsten nur selten gestattet war. In Norwegen galt dies auch für die leibeigenen Kleinbauern, den sogenannten Hausmännern. Nicht wenige machten sich auch aus Abenteuerlust auf den Weg, um die Welt zu sehen. Die Pilgerschaft erlaubte ein Leben außerhalb der Familie und der Kontrolle der lokalen Gemeinschaft. Auch trieben Gerüchte von Pest, Hunger und Krieg viele auf den Pilgerweg. Und nicht zuletzt ermöglichte das Pilgern, sein Glück »woanders« zu suchen: Ein großer Teil der Pilger kehrte nie zurück. Obwohl sich in den historischen Pilgerberichten auch nichtreligiöse Beweggründe erkennen lassen, war es tabu, Motive wie Abenteuerlust, Handel, Flucht, Unterhaltung oder Neugier als eigentlichen Grund für den Aufbruch anzuführen. Das offizielle Motiv war immer religiöser Art und hatte stets mit Gott zu tun.93 Auf welche Weise hingen also Pilgerschaft und Religion zusammen? Die Pilgerschaft wurde im Laufe des Mittelalters mit dem katholischen Bußverständnis verbunden und damit zu einem Teil der Sündenvergebung. Es gab keine entsprechende Entwicklung in den orthodoxen Ostkirchen. Im 91 Zum folgenden Abschnitt: Jensen, Roger. 2011. »Pilegrimsvandring i middelalderen – om virkelighetsforståelse, motiver, praksiser«, in: Pilegrim i dag Heft 2/2011, Trondheim. Siehe auch: Ohler, Norbert. 2003. Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit, Patmos, Düsseldorf; Herbers, Klaus (Hrsg.). 2008. Der Jakobsweg. Ein Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert, Reclam, Ditzingen; Herbers, Klaus. 2007. Jakobsweg: Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, Beck, München; Herbers, Klaus und Plötz, Robert (Hrsg.). 2004. Die Strass zu Sankt Jakob. Der älteste deutsche Pilgerführer nach Santiago de Compostela, Thorbecke, Ostfildern. 92 Hier und im Folgenden: Ohler, Norbert, 2003, S. 48–81. 93 Ganz-Blättler, Ursula. 1990. Andacht und Abenteuer – Berichte europäischer Jerusalemund Santiago-Pilger (1320–1520). Tübingen: Gunter Narr, S. 2.
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Hochmittelalter wurde das Pilgerwesen darüber hinaus mit der Ablasslehre verknüpft. Es bedurfte bestimmter Handlungen oder Geschenke an die Kirche, um einen Menschen von »zeitlichen Sündenstrafen« zu befreien und damit den Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen. Außerdem erhielt man durch das Sehen, Berühren, Küssen oder Knien vor den Reliquien an den Wallfahrtsorten besondere Segnungen und hoffte auf Gebetserhörungen oder Krankenheilungen. Andere wiederum pilgerten als Ausdruck des Dankes für eine bereits geschehene Heilung oder Erhörung. Nun kann man einwenden, dass eine solche Unterscheidung zwischen allgemeinen und religiösen Gründen für eine Pilgerreise unserem modernen Denken entspringt und für den mittelalterlichen Menschen nicht so offensichtlich gewesen wäre. Häufig waren die Motive vielfältig, getragen von einer laienreligiösen Unterströmung außerhalb der Kontrolle von Kirche und Geistlichkeit. Die Warnungen vor dem Pilgerwesen sind so alt wie das Pilgern selbst, es gab Warnungen vor Überfällen, aber auch vor dem Risiko der Untreue und des moralischen Verfalls. Für einen der führenden Experten für die Geschichte des Pilgerwesens, dem deutschen Historiker Klaus Herbers, lassen die historischen Quellen nur den Schluss zu, dass die Motive für die Pilgerschaft im Mittelalter genauso vielfältig und verwoben waren wie heute: Religiöse Sehnsucht, Krankheiten, Fernweh, die Angst vor dem Fegefeuer, Strafen, und vielerlei mehr. Darüber hinaus pilgerten auch Soldaten, Kaufleute, Wissenschaftler, Handwerker und andere kraft ihrer Position oder ihres Amtes zu den heiligen Stätten. Der Begriff Pilger, vom lateinischen peregrinus, bedeutet demgemäß einfach »fremd« und umfasste alle, die fremd und auf Reisen waren. So ist es auch beim Studium der mittelalterlichen Quellen nicht immer einfach, klar zwischen Pilgererzählungen und Reisebeschreibungen zu unterscheiden. Im Hochmittelalter wurde der Begriff des Pilgerns mehr und mehr gleichbedeutend mit der Wanderung zu einem heiligen Ort (Peregrinatio ad loca sancta), was in der deutschen Pilgerforschung gerne als Verflechtung von Grab und Altar charakterisiert wird.94 Dass diese Verflechtung für den 94 Ebertz, Michael N. 2012. »Der ›alte‹ und der ›neue‹ Pilger«, S. 91ff.; Herbers, Klaus, 2003, »Warum macht man sich auf den Weg? Pilger- und Reisemotive im Mittelalter«, in: Hans Ruh und Klaus Nagorni (Red.): Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden, S. 17, 30ff.; Herbers, Klaus. 2012. »Pilgerformen und -motive im Mittelalter«, S. 75ff.
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Pilgergedanken indessen nicht zwingend war, zeigen die irischen Wandermönche im frühen Mittelalter, deren Pilgerschaft nicht an Grabstätten und heilige Orte gebunden war, sondern eher als eine Lebensform verstanden wurde, als ein Leben im ewigen Exil, in dem Christus die eigentliche Heimat war.95 Im 7. Jahrhundert wurde die Pilgerreise nach Jerusalem aufgrund der vorrückenden Araber immer schwieriger. Die Araber erobern zuerst das Heilige Land, ziehen dann weiter nach Nordafrika, bis schließlich im Jahre 711 der Kommandant Tariq ibn Ziad mit seinen Truppen die Meeresenge von Gibraltar überquert und Südspanien besetzt. Die Situation wird schwierig für das christliche Europa. Die Demarkationslinie zwischen Christen und Muslimen verschiebt sich nach und nach bis in den Norden Spaniens. Um die Jahrtausendwende blüht das Pilgerwesen erneut auf. Mehr und mehr Pilger und Pilgergruppen wandern zu den Wallfahrtsorten in Europa und im Osten. Eine neue geistliche Frömmigkeit mit einer starken Betonung der Schuld breitet sich aus, die Menschen geben ihrer Angst und Unruhe gegenüber ihren Sünden einen neuen Ausdruck. Reue und Buße werden zunehmend betont, Reliquien werden wichtiger. Die Pilgerreisen sind nun vor allem individuelle oder kollektive Bußwanderungen als Strafe für besonders schwere Sünden. Die Reliquien des Ostens, vor allem die Reliquien aus dem Leben und Leiden Jesu hatten schon lange eine zentrale Bedeutung für die Gläubigen, nun aber werden sie fast zu einer Obsession. Kirchen, Klöster und Kapellen werden zu ihrer Ehre errichtet. Da nicht alle in der Lage sind, nach Palästina und seinen heiligen Stätten zu reisen, bringt man diese Orte durch die Reliquien nach Europa. Manche Historiker beschreiben darüber hinaus eine Verlagerung des Schwerpunktes innerhalb des Pilgerwesens – stand früher das Interesse an den heiligen Stätten im Vordergrund, legt man nun größeren Wert auf das Innere, auf die Befragung und Prüfung der eigenen Seele. Anstelle des Blicks auf die Vergangenheit und die historische Verankerung des Glaubens und der Kirche sehnt man sich nun nach der zukünftigen Erlösung. Durch den Besuch des irdischen Jerusalems sucht man das himmlische Jerusalem zu finden.96 95 Ebertz, Michael N. 2012, S. 95. 96 Limor, Ora. 2006, S. 342ff.
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Der folgende Text aus dem Jahr 1100, aus dem französischen Vézelay, wo eine der angeblichen Reliquien der Maria Magdalena aufbewahrt wurde, zeigt, welche besonderen Segnungen mit den Reliquien verbunden waren: »Aus Liebe zu dieser Heiligen vergibt der Herr den Su¨ndern ihre Vergehen, den Blinden schenkt er das Augenlicht, den Stummen löst er die Zunge; Lahme werden aufgerichtet, Besessene vom Dämon befreit, vielen anderen werden hier unsagbare Wohltaten zuteil.«97
Vereinzelt wurden die großen Pilgerströme in der Zeit nach der Jahrtausendwende als Vorläufer der Kreuzzüge gedeutet.98 Im Jahr 1095 ruft Papst Urban II. unter dem Motto Deus lo vult! Gott will es! zur Befreiung Jerusalems und des Heiligen Landes von der muslimischen Herrschaft auf. Der Kreuzzug soll den Pilgern den Zugang zu den Heiligen Stätten wieder ermöglichen. Die Kreuzfahrer wurden dabei als Pilger (peregrini) und ihr Kreuzzug als Pilgerreise (peregrinatio) bezeichnet. Die Motive der Pilger und Kreuzfahrer waren in vielerlei Hinsicht identisch. Beide suchten das Heil, beide wollten in den Fußspuren Jesu wandern und beten, wo Jesus einst betete. Beiden Gruppen wurde eine sichere Durchreise durch christliche Gebiete und Länder zugesichert und beide konnten die Gastfreundschaft der religiösen Institutionen auf dem Weg genießen. Regelmäßiges Beten und Singen war ihnen allen wichtig, wie auch der Gottesdienstbesuch, das Hören der Predigt und das Fasten. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass die Kreuzfahrer Waffen trugen und sich auf den Krieg als Hauptziel ihrer Pilgerschaft vorbereiten. Eine Reihe von Kreuzzügen nach Palästina folgen, bis man 1291 endlich begreift, dass Jerusalem verloren ist und die letzten Kreuzfahrer zurückkehren. Mitte des 12. Jahrhunderts beginnt eine neue Phase der Heiligen- und Reliquienkulte. Im Einklang mit der zeitgenössischen, mehr rationalistisch geprägten Theologie beginnt man, die Reliquien zu hinterfragen, und die Wallfahrtsorte ringen um Beweise für die Echtheit ihrer Reliquien. Herrscher wie Heinrich II. oder Friedrich Barbarossa nehmen an diplomatischen Verhandlungen über die Authentizität wichtiger Reliquien teil. Papst Alexander III. (1159–1181) beschneidet nun das Recht, Reliquien zu ge97 Ohler, Norbert. 2003, S. 61. 98 Riley-Smith, J. 1997. The First Crusaders 1095–1131, Cambridge, S. 31.
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nehmigen und als heilig zu erklären. Für die Kirchen, die das Glück haben, im Besitz »echter« Reliquien zu sein, werden diese angesichts des Bevölkerungswachstums und des steigenden Handels zu einer enormen Bereicherung, sowohl für die Kirche selbst als auch für das Umland. Nun errichtet man prächtige Kathedralen, wie Canterbury in England, und passt die Architektur der Pilgerpraxis an. Das Pilgerwesen als Massenphänomen entwickelt sich im Lauf des 13. Jahrhunderts enorm.99 Nachdem das wichtigste Pilgerziel, Jerusalem, im Jahr 1291 verloren ist, versucht die Kirche, den Pilgerstrom mit dem Versprechen besonderer Gnade und Verdienste auf andere Orte zu lenken. Im Jahr 1300 wird das erste Heilige Jahr verkündet und allen Bürgern Roms besonderer Ablass verheißen, wenn sie im Zeitraum von 30 Tagen täglich beide, Petrus und Paulus geweihte Basiliken besuchen. Für Pilger, die nach Rom kommen, gilt ein Zeitraum von 15 Tagen. Voraussetzt wird bei beiden Gruppen, dass sie mit einem bußbereiten Herzen ihre Sünden beichten. Das Heilige Jahr wird ein großer Erfolg, auch für die Stadt. Weitere Pilgerziele, auf die sich die neue Aufmerksamkeit richtet, sind Santiago de Compostela mit den sterblichen Überresten des Apostels Jakobus, Aachen mit Jesu Lendentuch als wichtigster Reliquie, und Trier mit dem »Heiligen Rock« Jesu und den Gebeinen des Apostels Matthias, der als Nachfolger für Judas gewählt wurde und als einziger Apostel auf dem europäischen Festland nördlich der Alpen begraben ist. Einige Orte feiern nun alle fünfzig Jahre ein Heiliges Jahr, andere alle fünfundzwanzig Jahre. Besuchern und Pilgern werden in diesen Jahren ein besonderer Ablass zugesichert, oft ein »vollkommener Ablass« oder »Plenar-Ablass«, der ewige und vollständige Befreiung vom Fegefeuer gewährt, nicht nur für die Sünden, die man begangen hatte, sondern auch für Übertretungen, die man noch begehen würde. Man muss dies als ein Versuch verstehen, dem Pilgerwesen in einer schwierigen Phase der Kirche neues Leben einzuhauchen. Zuvor wurde nur den Kreuzfahrern ein solcher Ablass gewährt.100 Die führenden Kultorte mit den wichtigsten Reliquien waren auch die 99 Johnson, Paul. 1990. Cathedrals of England, Scotland and Wales. London: Weidenfeld & Nicholson, S. 50–52. 100 Herbers, Klaus. 2003. »Warum macht man sich auf den Weg? Pilger- und Reisemotive im Mittelalter«, in: Hans Ruh und Klaus Nagorni (Red.): Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden, S. 17, 24f.
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größten Pilgerzentren. Oben haben wir versucht, die Vielfalt der Beweggründe für eine Pilgerwanderung anhand der modernen Unterscheidung von religiös und allgemein darzulegen. Ein weiteres wichtiges Begriffspaar zur Differenzierung der Motive ist Freiwilligkeit und Zwang. Freiwillige Pilgerwanderungen waren im Wesentlichen ein Ausdruck des Dankes oder eines Bedürfnisses, in der Regel der Wunsch, von einer Krankheit geheilt zu werden. Es existieren zahlreiche mittelalterliche Berichte über körperliche und geistige Heilungen, die oft auch zusammenhingen, und die sich entweder bereits auf dem Pilgerweg oder am Pilgerziel vollzogen. Der Glaube an Wunder war vor allem im Früh- und Hochmittelalter weit verbreitet und bisweilen so stark, dass man glaubte, mit Gott über die Heilung verhandeln zu können. Durch die Entwicklung des Konzepts und der Praxis des Ablasswesens im Verlauf des 12. Jahrhunderts rückte nach und nach die Hoffnung auf die Vergebung der Sünden und der Strafen im Jenseits als zentrales Pilgermotiv in den Vordergrund, war jedoch selten der einzige Beweggrund,101 wie wir noch sehen werden. Viele wurden auch zur Strafe auf Pilgerschaft geschickt. Die sogenannten Bußpilger wanderten im Grunde unfreiwillig. Bereits im frühen Mittelalter zeugen Berichte von Pilgerschaften, die als Bußwanderungen von der Kirche auferlegt worden waren. Über die Pilgerwanderung hinaus konnten dabei noch zusätzliche Sanktionen als Strafe verhängt werden – man musste mit ausgestreckten Armen wandern, mit Eisenringen an den Lenden, mit Fußfesseln oder an andere Menschen gekettet, oder man durfte kein Geld mitführen und musste sich folglich als Bettler ans Pilgerziel durchschlagen.102 Im Spätmittelalter begannen schließlich auch weltliche Instanzen, Menschen zu Pilgerwanderungen zu verurteilen. Personen, die in einer Stadt oder in einer Gemeinschaft die soziale Ruhe gestört hatten, wurden – um hier einen modernen Begriff zu verwenden – aus sozialhygienischen Gründen eine Pilgerreise auferlegt. Ferner konnte man auch anstelle anderer auf eine Pilgerwanderung geschickt werden. In mittelalterlichen Testamenten findet sich nicht selten der Wunsch, dass für eine Person 101 Herbers, Klaus, 2012, »Pilgerformen und -motive im Mittelalter«, S. 75–90. 102 Carlen, Luis, 1984, »Wallfahrt und Recht« in: Lenz Kriss-Rettenbeck und Gerda Möhler (Hrsg.), Wallfahrt kennt keine Grenzen, München/Zürich: Schnell und Steiner, S. 91ff.
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Mittel bereitzustellen seien, damit diese anstelle des Verstorbenen zu einem Pilgerziel wandere und dort für den Verstorbenen bete, um jenem die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Die deutsche Pilgerforschung bezeichnet dieses Phänomen als Mietpilger.103 Das Pilgerwesen trug im Übrigen auch zur Schaffung neuer ökonomischer Strukturen bei und half auf diese Weise, Europa zu gestalten. Die Wirtschaft entwickelte sich entlang der Pilgerwege. Neue Herbergen, Wirtshäuser und Gaststätten entstanden. Wahrscheinlich wanderten zwischen 1250 und 1500 etwa eine halbe Million Menschen nach Santiago,104 der Anteil der Frauen unter den Pilgern schätzt man heute auf ein Drittel. Auch die Pilger hatten wirtschaftliche Vorteile. Man musste keine Reisesteuer und keinen Zoll entrichten. Allerdings wurde diese Regelung nicht immer eingehalten. Im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts wird der Begriff des Jakobsbruders als Bezeichnung für Pilger zunehmend herablassend gemeint und wird gelegentlich zum Synonym für Bettler. Es gibt auch Geschichten von Zöllnern, die die Pilger verfolgten und sie solange mit Stöcken schlugen, bis sie die geforderte Geldsumme bezahlten. Die mittelalterlichen Pilgerleitfäden warnten vor solchen Orten. Die ältesten bekannten Pilgerherbergen auf dem Weg nach Santiago stammen aus dem 12. Jahrhundert. Nicht nur die Klöster errichteten Herbergen für Pilger. Das Pilgerwesen wurde bereits früh zu einem Wirtschaftsfaktor, denn entgegen des allgemeinen Eindrucks, dass die Pilger alles umsonst bekamen, mussten sie für die Übernachtungen, für Speisen und Getränke, für Kleidung und Schuhe bezahlen. Auch erwarteten die Kirchen- und Klosterherbergen ein Almosen bei der Abreise. Nach und nach begannen die Fürsten, Freibriefe für kostenlose oder ermäßigte Übernachtungen auszustellen. Das war ein großer Vorteil, denn diese Freibriefe waren im Gegensatz zu Bargeld wertlos für Diebe. Im späten Mittelalter begannen die Priester »Empfehlungsschreiben« zu verfassen, die bestätigten, dass der Pilger ein guter Christ sei und jeden ermutigten, ihn gut aufzunehmen, außerdem wurden darin die Reiserouten beschrieben. Nach der Ankunft am Ziel sollte der Pilger die erste Nacht wachend und betend verbringen und an der Vigilie, dem monastischen Frühgebet, teil103 Ibid. 104 Ohler, Norbert. 2003, S. 144–176.
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Bild 12: Pilgerkarte nach Rom, die von Norden nach Süden weist. Kolorierter Holzschnitt von Erhard Etzlaub (1462–1532) anlässlich des Heiligen Jahrs 1500 in Rom. © Public domain.
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nehmen. Außerdem wurde vom Pilger eine Opfergabe, die sogenannte Votivgabe, in Form von Geld, Metall, Wachskerzen, Tieren oder Kleidung, erwartet. An vielen Orten konnte man ferner gestanzte Blei- oder ZinnMarken mit Motiven des jeweiligen Pilgerziels als Zeichen für die erfolgreich abgeschlossene Wanderung erwerben. In Santiago kauften die Pilger indessen eine echte Jakobsmuschel. Die Erlaubnis zum Verkauf dieser Muscheln führte im Lauf des 13. Jahrhunderts zu Streitigkeiten zwischen den Muschelfischern und den Klerikern. Man einigte sich schließlich darauf, dass die Fischer ihre Muscheln selbst verkaufen durften, dafür aber die Kirche am Gewinn beteiligten mussten. Die Muscheln und die Pilgermarken waren wichtige Statussymbole, außerdem glaubte man, dass sie vor Krankheiten, Unfällen oder anderem Unglück schützten, und es war üblich, mit diesen Pilgerzeichen begraben zu werden.105 In einem einzigen Grab auf dem Friedhof des norwegischen Selja-Klosters wurden fünf verschiedene Pilgermarken aus Deutschland, den Niederlanden und Italien gefunden. Ein weitgereister Pilger beendete also sein Leben an dieser Pilgerstätte an der Küste des Nordmeeres.106 Vor einer Pilgerreise sollte die Erlaubnis eines Priesters oder Bischofs eingeholt werden. Seit dem 12. Jahrhundert erlangte die Segnung und Aussendung des Pilgers anhand eines besonderen Rituals durch den örtlichen Priester mehr und mehr an Bedeutung. Es existieren auch eine Reihe von Gebeten, mit denen die Heimatgemeinden göttlichen Schutz auf dem Weg und eine sichere Heimkehr der Pilger erbaten. Dabei wurde oft auch die Pilgerkleidung, Pilgerstab und Tasche gesegnet.107 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts geht die Zahl der Pilger auf allen klassischen Pilgerwegen durch Westeuropa deutlich zurück. Die sich ausbreitende Reformation trägt durch ihre Kritik der religiösen Motive der Pilger mit dazu bei. Die kirchliche Lehre über Fegefeuer und Ablass wird in Frage gestellt und abgelehnt. Der starke Rückgang des Pilgerwesens beginnt aber bereits vor dem Beginn der Reformation und vollzieht sich aufgrund einer 105 Ohler, Norbert. 2003, S. 224ff. 106 http://no.wikipedia.org/wiki/Selje_kloster. 107 Rückert, Peter. 2003. »Auf dem Weg zum heiligen Jakobus. Mittelalterliche Pilgerfahrten und ihre Organisation«, in: Hans Ruh und Klaus Nagorni (Red.): Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden, S. 45ff.
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allgemeinen Veränderung der Kultur auch in den Gebieten, die nicht durch die lutherische Reformation geprägt werden. Im Lauf des 17. Jahrhunderts steigt die Zahl der Pilger wieder, da im sogenannten Zeitalter der Konfessionalisierung die protestantische und katholische Identität sich mehr und mehr voneinander abgrenzen und das Pilgerwesen dabei von katholischer Seite als Teil der eigenen Identität wieder betont und gefördert wird. So entstand auch die im ersten Kapitel beschriebene Wanderung nach Trier als ein Teil dieser neuen historischen Entwicklung.
Bild 13: Die Jakobsbrüder (Iacobitae). Holzschnitt von Jost Amman 1568. © Deutsche Fotothek / Wikimedia Commons / Public domain. Der Holzschnitt zeigt den Urtyp des Pilgers: Der große Hut zum Schutz gegen Sonne und Regen, der weite Mantel als Decke für die Nacht, der Stab als Stütze und Schutz gegen Tiere und Räuber. Die Jakobsmuschel wurde ursprünglich am Mantel getragen, später am Hut. Die Muschel, heute das allgemeine Symbol für Pilger, wurde bei der Ankunft in Santiago gekauft. Einen Pilger zu töten war eine Todsünde.
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Die Gesellschaft des Mittelalters und die Zweiteilung der Gesellschaft Die Gesellschaft des Mittelalters war einerseits sehr homogen, alle Christen waren Teil der christlichen Gemeinschaft, des Corpus Christianum. Andererseits war die Gesellschaft fundamental in zwei getrennte Bereiche geteilt. Die Gruppe der religiosi war für die geistliche Dimension des Lebens verantwortlich. Die Aufgabe der Mönche, Priester und anderer Geistlicher war es, zu beten, die Messe zu feiern und nach den Worten Christi der Bergpredigt, den sogenannten evangelischen Räten zu leben. Der zweite Bereich, die Laien, hatten eine weltliche Arbeit, sei es als Bauer, Handwerker oder Händler, oder aber als Adlige und Fürsten. Beide Bereiche ergänzten einander. Der weltliche Bereich gab den Zehnten des Einkommens in Naturalien oder klingender Münze, die religiosi widmeten sich dem religiösen Leben im Namen aller. Während der erste Bereich ein heiliges Leben materiell ermöglichte, sicherte der zweite das Heil für alle. Die gegenseitige Ergänzung und das wechselseitige Tauschverhältnis prägte die mittelalterliche Wirtschaft. Das monastische Leben im Kloster wurde zum Ideal des heiligen Lebens. Bis zu Kaiser Konstantin, als das Christentum noch marginal war und zeitweise unterdrückt wurde, bestand der höchste Ausdruck des wahren und heiligen christlichen Lebens im Märtyrertod, in der Hingabe des eigenen Lebens für den Glauben als die ideale Form der Imitatio Christi, der Nachfolge Christi. Deshalb versammelten sich die Christen an den Märtyrergräbern im Rom des 4. Jahrhunderts, wie wir oben bei Hieronymus gesehen haben. Nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Konstantin verschwindet das Martyrium. Diejenigen, die nach dem Ideal der Nachfolge Christi streben, werden nun Mönche und Nonnen.108 Die Nachfolge Christi verwandelt sich im Kontakt mit einer neuen gesellschaftlichen Realität. Das höchste Ideal besteht fortan im Rückzug aus dem weltlichen Leben in die Abgeschiedenheit und Armut. Eine der wichtigsten identitätsstiftenden Gestalten der monastischen Bewegung ist Antonius der Große, der zwischen dem 3. und 4. Jahrhundert in Ägypten gelebt haben soll. Antonius, ein reicher Mann, hört eines Tages in der Kirche die Geschichte 108 Ozment, Steven. 1980. The Age of reform, 1250–1550: an intellectual and religious history of late medieval and reformation Europe, S. 114f.
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von Lazarus und dem reichen Mann. Auf dem Heimweg von der Kirche hört er die Stimme Gottes, die ihn zum Aufbruch in ein Leben für Christus ruft. Fortan lebt er als Einsiedler in der Wüste und verwirklicht das neue christliche Ideal des heiligen Lebens durch Askese, Gebet und Keuschheit in der Einsamkeit. Wie konnten aber Laien ihre Religion oder Frömmigkeit leben?109 Sie konnten es auf ihre Weise und im Rahmen ihrer Möglichkeiten. An sie wurden nicht die gleichen Anforderungen gestellt wie an Ordensleute und Priester, trotzdem galt auch ihnen das monastische Leben als Ideal und Richtschnur. Wir kennen Berichte aus dem Hochmittelalter, in denen Eheleute sich für eine gewisse Zeit zur sexuellen Enthaltsamkeit entscheiden, um sich mehr dem Gebet und religiösen Lebens eines Mönches widmen zu können. Andere Laien gaben ihren Besitz den Armen oder den Klöstern und lebten in Gebet und Buße. Neben dem Streben nach dem Mönchsideal wurde auch die Inanspruchnahme der geistlichen Dienste der Kirche wichtig, die man heute als eine Art »unabhängige« religiöse Praxis charakterisieren könnte. Die kirchlichen Dienste waren erforderlich, damit die Menschen Teil an der Erlösung haben konnten. Taufe und gewöhnliche Gottesdienste waren grundsätzlich als »billige Gnade« gratis. Privatmessen dagegen kosteten Geld und vor allem die Seelenmessen, die für einen Toten zelebriert wurden, um dessen Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen, wurden eine wichtige Einkommensquelle für die Kirche. Dies erklärt auch die vielen Altäre in den Kirchen: An ihnen wurden ständig Messen gefeiert – bis zu zwanzig Messen pro Stunde an einem einzigen Altar, wie manche Quellen berichten. Entsprechend konnte auch die gewöhnliche Buße ökonomische Konsequenzen haben. Der Bau der großen Kathedralen Europas war unter anderem auch deshalb zu finanzieren, weil die Kirche für Seelenmessen und andere private Messen Geld verlangte. Auch vermachten wohlhabende Menschen ihren Besitz und Reichtum der Kirche, um sich für das jenseitige Leben Fürsorge durch die Seelenmessen zu sichern. Andere Kontaktpunkte zwischen den Laien und dem Klerus waren Predigt und Unterricht. Darüber hinaus gab es eigene, unabhängige Formen der laienreligiösen Praxis während der Kreuzzüge, wobei die Motive der 109 Siehe Rasmussen, Tarald, und Thomassen, Einar. 2002. Kristendommen. En historisk innføring, Universitetsforlaget, Oslo, S. 221–244.
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Teilnehmer eine Kombination aus Abenteuerlust, dem Versprechen der Sündenvergebung oder Buße sein konnte. Und es gab die Pilgerwanderung. Damit sind die drei Arten der religiösen Praxis der Laien im Mittelalter beschrieben: Die Nachfolge Christi und der Heiligen in einer halbklösterlichen Form, die Teilnahme am oder die Nähe zum kirchlichen Leben, und die unabhängige Ausübung der Religion. Gemeinsam ist diesen drei Formen, dass ihr Schwerpunkt auf dem täglichen Leben liegt und nicht auf der abstrakten, dogmatischen Kenntnis des Glaubens.
Buße, Ablass, Fegefeuer110 Mit der Buße versuchte man in der frühen Kirche der Tatsache zu begegnen, dass die Menschen auch nach ihrer Taufe sündigen. Die theologische Grundlegung der Bußpraxis entwickelte sich indessen erst nach und nach. Zu Beginn war es üblich, dass man als Bußhandlung lang und streng fastete oder für eine gewisse Zeit aus der Gemeinschaft des Abendmahls oder der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Die unterschiedlichen lokalen Bußpraktiken der Alten Kirche versuchte man im frühen Mittelalter zu standardisieren und genauer zu definieren, für welche Sünden man auf welche Weise und wie lange zu büßen hatte. Insbesondere ging es dabei um sexuelle Sünden, Mord und Götzendienst. Die Regeln waren nicht für alle gleich, sondern im Blick auf den Klerus strenger. Für einen Mord musste ein Priester zehn Jahre büßen, ein Laie drei Jahre. Der Diebstahl eines Ochsen bedeutete ein Jahr Buße für einen Priester, aber nur dreimal vierzig Tage bei Brot und Wasser für einen Laien. Stotterte der Priester beim Konsekrationsgebet während der Eucharistie, musste er mit 50 Schlägen büßen. Die Bußbestimmungen wurden in speziellen Bußbüchern, den libri poenitentiales gesammelt, deren älteste bekannten Exemplare von den britischen Inseln aus dem 5. Jahrhundert stammen. Durch diesen Prozess entwickelt sich die Kirche zu einer juristischen Institution. Sünde führt zu Schuld, die gebeichtet werden muss und zu einer irdischen Strafe, die abzuleisten ist. Die Strafe kann durch Bußhandlungen 110 Siehe Jensen, Roger. 2004, S. 134–147. Für eine umfassende Übersicht siehe Öberg, Ingmar. 1970. Himmelrikets nycklar och kyrklig bot.
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vergolten werden, die zum Ablass qualifizieren, dem Erlass der irdischen Strafen oder der Zeit im Fegefeuer. Die Buße erhält damit eine juristische und berechnende Prägung: Befolgt der einzelne nicht die auferlegten Strafen der Kirche, droht die Ächtung bis hin zur Exkommunikation aus der Kirche und kraft dieser der Ausschluss aus der gesamten Zivilgesellschaft. Damit galten die Gesetze und Vorschriften der Gesellschaft nicht mehr im Umgang mit dem Geächteten und deren Nichtbeachtung hatte keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr, da der Geächtete nicht mehr als Teil der Gesellschaft angesehen wurde. Eine schlimmere Drohung war nicht denkbar. Die Entwicklung der Bußbücher seit dem frühen Mittelalter führt zu einer fortschreitenden Differenzierung der Sünden und entsprechenden Bußhandlungen. Dadurch steigt zwangsläufig die Zahl der Sünden und der Strafen. Als Reaktion darauf entsteht im Hochmittelalter die Idee des »Kirchenschatzes« (thesaurus ecclesiae), wonach die Heiligen mehr gute Taten vollbracht haben, als sie selbst zur Buße ihrer Sünden benötigten. Diese überschüssigen Verdienste der Heiligen bilden einen Schatz, den die Kirche unbeschränkt zum Nutzen einzelner Bedürftiger durch den Ablass verwaltet. Die neue Lehre bedeutet konkret, dass durch den Ablass von z. B. hundert Tagen eine irdische Sündenstrafe von hundert Tagen erlassen wird und sich darüber hinaus der Aufenthalt im Fegefeuer um die entsprechende Zeitspanne verkürze. Das theologische Konzept von Ablass und Kirchenschatz verdeutlicht die wachsende Problematik einer massiv ausdifferenzierten kirchlichen Bußlehre. Im Spätmittelalter war es schließlich möglich, Ablassbriefe zu kaufen, die beweisen sollten, dass der Besitzer sich vom Fegefeuer freigekauft habe. Die kirchliche Lehre und Praxis von Buße und Ablass wurde bald stark kritisiert, einer der führenden Kritiker war Martin Luther. Neben der Hoffnung auf ein Heilungswunder durch die Reliquien am Pilgerziel111 wurde der versprochene Ablass für viele Menschen des Mittelalters die entscheidende Motivation für eine Pilgerwanderung. Man konnte auch Ablässe für die Verstorbenen erwerben, um ihre Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Es gab lokalen und universellen Ablass. Während der 111 Vgl. Sumption, Jonathan. 1975. Pilgrimage. An Image of Mediaeval Religion. London: Faber, S. 56ff.
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universelle Ablass ortsunabhängig gewährt wurde, musste man sich für lokale Ablässe an bestimmte Kirchen und Altäre begeben. So sind die im ersten Kapitel genannten sieben Pilgerkirchen in Rom häufig an besonderen Tagen wie dem Todestag eines Heiligen, dem Kirchenjubiläum oder zu bestimmten Zeiten während des liturgischen Jahres, z. B. an Ostern geöffnet. Nur der Papst und die Bischöfe hatten das Privileg zur Gewährung des Ablasses. Im Jahr 1215 begrenzte Papst Innozenz III. das Ablassprivileg der Bischöfe auf ein Jahr nach der Weihe einer Kirche und auf vierzig Tage bei besonderen Anlässen wie die erwähnten Kirchenjubiläen und Heiligengedenktage.112 Zwischen 1290 und 1371 wurde an wichtigen Kirchen im norwegischen Erzbistum Nidaros wie Sankt Svithun in Stavanger, der Apostelkirche und den Kreuzkirchen in Bergen und der St. Olavskirche in Trondheim Ablässe von maximal einem Jahr und vierzig Tagen gewährt. Im Zeitraum von 1275 und 1466 gab es im gleichen Erzbistum Ablässe für 20 bis 40 Tage.113
Die heiligen Stätten und die Reliquien114 Die Reliquien waren Gegenstände göttlicher Macht, deren Wunderkräfte sich durch Berührung oder Betrachtung auf den Menschen übertragen konnten. Der Ursprung der Reliquien und heiligen Stätten waren die Märtyrergräber. Im Hochmittelalter wurde es üblich, sie zu öffnen, die Leichen aufzuteilen, die Körperteile zu kochen, um das Fleisch von den Knochen zu entfernen und die gereinigten Teile des Skeletts in den oft aufwendig gearbeiteten Reliquienschreinen in oder unter den Altären neuer Kirchen aufzubewahren. Dadurch entstanden neue Ziele für Wallfahrten 112 Kent, W. H. 1910. »Indulgences« in: The Catholic Encyclopedia. Vol. VII. Übersetzt von Sweeney, Charles S. J. Robert Appleton Company: Online Edition by Knight, Kevin: http://www.newadvent.org/cathen/07783a.htm: Indulgences. Gedruckte Ausgabe S. 1–10. New York, 1999. 113 Siehe: Søiland, Margareth Buer. 2004. Perspectives of the Cult of St Magnus, PhD University of Glasgow, S. 162ff. Für eine Übersicht über einige der Kirchen und den dort zu erhaltenden Ablass siehe ibid S. 244ff. 114 Siehe: Herbers, Klaus. 2007. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München: C.H. Beck.
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Bild 14: Holzschnitt aus Nu¨ rnberg von 1487. Bürger und Pilger versammeln sich, um die präsentierten Reliquienschätze und Reichskleinodien zu sehen. © Wikimedia / Public domain. Der Vater der Buchdruckerkunst, Johannes Gutenberg, hatte große Pläne für die Wallfahrt 1438 in Aachen: Er wollte kleine Metallspiegel gießen und sie den Pilgern verkaufen, die glaubten, dass man die Kraft der Reliquien in solchen Spiegeln auffangen und speichern konnte. Solche Spiegel, die konvex waren, um ein möglichst großes Spiegelbild einzufangen, wurden bei einer früheren Wallfahrt für einen halben Gulden verkauft (Childress, Diana. 2008. Johannes Gutenberg and the Printing Press, S. 35). Leider wurde die Wallfahrt aufgrund einer aufkommenden Pestepidemie abgesagt, Gutenberg und andere Spiegelproduzenten verloren viel Geld (Ress, Fran. 2006. Johannes Gutenberg. Inventor of the Printing Press, S. 44).
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und Pilgerwanderungen. Die wichtigsten Reliquien standen in Verbindung mit Leib und Leben Jesu, so Jesu Blut, Schweiß, Kreuz, Leinentuch, Schweißtuch, Windel, Dornenkrone, die Vorhaut des als Juden beschnittenen Jesus, Marias Milch, Gewand, Gürtel usw. Wie der oben erwähnte Text von Vezelay zeigt, konnte man sich nichts Größeres vorstellen als in ihrer Nähe zu sein, sie zu betrachten und durch die Berührung ihrer Wunderkraft teilhaftig zu werden. Es lassen sich drei Arten von Reliquien unterscheiden: Primärreliquien stammten von den Körpern der Heiligen, Sekundärreliquien waren ihre Kleidung oder Gegenstände und Tertiärreliquien waren Objekte, die von den Heiligen berührt worden waren. Der Reliquienhandel wurde ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Kaiser Karl der Große, der um 800 regierte und 1165 heilig gesprochen wurde, vermachte der Kathedrale in Aachen vier Reliquien: Das Tuch, in das Jesus als Kind gewickelt wurde, Jesu Lendentuch, Marias Gewand und das Tuch, in das der Kopf von Johannes dem Täufer nach der Enthauptung gewickelt wurde. Diese Gegenstände wurden von Jerusalem zur Einweihung der Kathedrale in Aachen in 799 geschickt und später im Mariaschrein aufbewahrt. Dieser im 13. Jahrhundert entstandene Schrein gehört zusammen mit dem Karlsschrein am gleichen Ort zu den schönsten und bedeutendsten Goldschmiedearbeiten des Mittelalters. Man nimmt an, dass im Jahre 1496 142.000 Menschen nach Aachen pilgerten, um den Schrein zu sehen, seit 1349 wurde er alle sieben Jahre der Öffentlichkeit präsentiert. Aachen, damals eine Stadt mit 10 000 Einwohnern, war der wichtigste Wallfahrtsort Deutschlands. Als die Pilger während der Heiligen Jahre in die Städte strömten, stellte man Gerüste auf, um ihnen einen Blick auf die Reliquien zu ermöglichen, die unter freiem Himmel auf den Balkonen der Kirche ausgestellt wurden. Es gibt Berichte darüber, wie Hausdächer für eine bessere Sicht abgetragen wurden, aber auch von Häusern, die unter dem Gewicht der schaulustigen Pilger zusammengebrochen waren. Philipp von Vigneulles erzählt aus dem Jahr 1510, als er als Pilger von Metz nach Aachen kam, dass man dort einen guten Aussichtspunkt auf die Reliquien mieten konnte – für 26 Gulden.115 Das Pilgerwesen wurde seit der Spätantike bis ins Mittelalter ständig 115 Herbers, Klaus. 2010. »Wirtschaftsfaktor Seelenheil« in: Epoc: Pilgern im Mittelalter, Nr. 2, S. 22–27.
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kritisiert. Die Reformation nahm diese Kritik auf und verstärkte sie derart, dass das Pilgerwesen in den protestantischen Gebieten Mittel- und Nordeuropas völlig verschwand – bis zur Renaissance dieses Phänomens gegen Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts. Im Folgenden sollen diese kritischen Stimmen zu Wort kommen.
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Kritik am Pilgerwesen. Martin Luthers kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Pilgertheologie und -praxis »Was zum Teufel habe ich in Santiago zu schaffen? Soll ich meinen Nächsten in Rom suchen? Meine Nächsten habe ich genug um mich – meine Frau, meine Kinder und arme Leute« (Martin Luther)116
Das Pilgern war, wie wir oben gesehen haben, ein weit verbreitetes Phänomen im Mittelalter. Die Kirche entwickelte parallel dazu nach und nach eine Theologie des Pilgerwesens, die sich zuerst auf die Buße und die guten Werke konzentrierte und im weiteren Verlauf die Konzepte von Fegefeuer und Ablass theologisch entwickelte. Die historische Entwicklung des Pilgerwesens und seine theologische Durchdringung wurden indessen von Anfang an von kritischen Stimmen begleitet.117 Bereits der Kirchenvater Gregor von Nyssa (331–394/5) konnte zur Zeit der Entstehung des Pilgerwesens betonen: »Bist du voller böser Gedanken, bist du weit von Christus entfernt, auch wenn du nach Golgatha pilgerst.« Die treffende Sentenz von Augustinus (354–430) – ad Christum amando venitur, non navigando (zu Christus gelangt man durch die Liebe, nicht durch das Segeln) wurde im Mittelalter häufig zitiert. Hieronymus (347– 420) verfolgte aufmerksam die Schattenseiten der Pilgerwanderungen und setzte sich für ein Pilgerverbot vor allem für Frauen und explizit für Nonnen ein, das er vor allem durch die sexuelle Gewalt entlang der Pilgerwege und den häufigen Ehebruch der Pilger begründete, die sich auf der Wanderung 116 »Was zum Teufel hab ich zu S. Jacob zu schaffen? sol ich meinen nechsten zu Rom suchen? Es sind nechste gnug bey und umb mich als weib, kinder und andere arme leute« WA 37, 530, 6–8 (Predigten 1533/34, Dominica XIII. post Trinitatis). 117 Zu den im Folgenden präsentierten kritischen Stimmen siehe: Herbers, Klaus. 2011. Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, C.H. Beck, München, S. 79–90; Davies, J.G. 1988. Pilgrimage Yesterdag and Today. Why? Where? How? SMCPress, London; Bartholomew, Craig und Hughes, Fred (Red.). 2004. Explorations in a Christian Theology of Pilgrimage, Hants, Ashgate.
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außerhalb der Kontrolle durch die Familie und die Gesellschaft bewegten. Seine Kritik richtete sich also vor allem gegen den moralischen Verfall der Pilgerwanderungen. Im 13. Jahrhundert betont Berthold von Regensburg (1220–1272), einer der berühmtesten Bußprediger des Mittelalters, dass man »mehr Gnade in der Messe finde als darin, hin und her nach Compostela zu eilen«. Thomas von Kempen (1380–1471) war ein Vertreter der mittelalterlichen kirchlichen Erneuerungsbewegung der Devotio Moderna (Die neue Frömmigkeit) und wahrscheinlich der Autor von De imitatione Christi (Über die Nachfolge Christi), eines der wichtigsten Bücher des Christentums und nach der Bibel in die meisten Sprachen übersetzt. Dort schreibt er: »Wer oft pilgert, wird selten heilig« (qui multum peregrinantur, raro sanctificantur). Die wachsende Kritik des Pilgerwesens erhält besonders in der deutschen Mystik seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts eine gewichtige Stimme, mit berühmten Namen wie Meister Eckhart (1260–1328) und Johannes Tauler (1300–1361), die den inneren Menschen mit seinen Gedanken und Gefühlen anstelle des Besuchs heiliger Stätten als das Entscheidende betonen. Martin Luther und die Reformation werden diesen Gedanken aufnehmen und weiter entwickeln. In diesem Kapitel werden wir uns auf die lutherische und reformatorische Kritik konzentrieren, die besonders für Mittel– und Nordeuropa Konsequenzen haben sollte. Zuvor skizzieren wir kurz die weitere Entwicklung des Pilgerwesens. Die Pilgerströme schrumpfen bereits im späten Mittelalter hauptsächlich aufgrund der geäußerten Kritik und des Aufkommens eines neuen Frömmigkeitsideals. Mit der Einführung der Reformation kommen die Pilgerreisen in den protestantischen Gebieten praktisch zum Erliegen. In der Zeit nach Luthers Tod, im sogenannten Zeitalter der Konfessionalisierung ab der zweiten Hälfte des 16. und während des 17. Jahrhunderts, ändert sich die Situation. Der protestantische Norden und der katholische Süden versuchen nun, ihre eigene Identität in gegenseitiger Abgrenzung zu finden und zu stärken. In der Gegenreformation, die mit dem Konzil von Trient (1545– 1563) beginnt, wird das Pilgerwesen erneut zu einem wichtigen Teil römisch-katholischer Glaubenspraxis. Die bereits genannte Wallfahrt nach Trier, die 1616 zum ersten Mal organisiert wurde, wie auch die Entstehung des Wallfahrtsorts Kevelaer sind als Teil der Strategie der katholischen Gegenreformation zu verstehen.
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Während der katholischen Aufklärung zwischen 1741 bis 1790 fiel das Pilgerwesen erneut in Ungnade. Man verstand das Christentum nun mehr und mehr als Morallehre und lehnte die Laienfrömmigkeit mit ihrem Glauben an Reliquien und Wunderheilungen an den Wallfahrtsorten ab. Der römisch-deutsche Kaiser Joseph II. verbot 1775 und 1776 Wallfahrten im gesamten Reich. Das Pilgerwesen wurde als kirchliches Unkraut abgelehnt, da es sich nicht durch den Klerus kontrollieren ließ. Mit der Französischen Revolution und der anschließenden Säkularisierung hörten die Pilgerwanderungen zu den wichtigen europäischen Pilgerzentren fast vollständig auf. Die konfessionellen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts erneuerten das katholische Interesse an der Jungfrau Maria. Maria rückt nun ins Zentrum des Glaubens, neue Lehrsätze entwickeln sich und die Zahl der Marienerscheinungen nimmt stark zu. Die Orte der Erscheinungen werden zu stark frequentierten Wallfahrtszielen, vor allem Lourdes in Frankreich ab 1858 und später Fatima in Portugal ab 1917. Auch ältere Orte wie Kevelaer rücken wieder in den Blick der Pilger. Bald werden im großen Maßstab Wallfahrten und Pilgerwanderungen dorthin organisiert. Die Folkloristin Anne Eriksen und die Religionshistorikerin Anne Stenvold, beide aus Norwegen, argumentieren überzeugend für ihre Sicht, den Marienkult und die Heiligenverehrung als ein Phänomen der Moderne zu verstehen. Obwohl diese Entwicklungen durch Laienfrömmigkeit und Praxisorientierung geprägt sind, werden sie zügig von der kirchlichen Macht vereinnahmt und zentral gesteuert, durch moderne Massenmedien und Kommunikationsmittel vermarktet und erhalten eine politische Bedeutung.118 Die langen Pilgerwanderungen durch Europa, die wir vor allem aus mittelalterlichen Erzählungen kennen, erleben ihre Renaissance indessen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders die Pilgerwanderungen nach Santiago de Compostela nehmen wieder stark zu. Die dortigen Ausgrabungen in den Jahren nach 1870 lokalisieren das vermeintliche Jakobsgrab und machen es für Besucher zugänglich. 1884 erklärt Papst Leo XIII den Ort zum tatsächlichen Apostelgrab und die sterblichen Überreste zu den Gebeinen des Jakobus, was indessen zunächst keinen Einfluss auf die 118 Eriksen, Anne und Stensvold, Anne. 2002. Mariakult og helgendyrkelse i moderne katolisisme. Oslo: Pax.
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Zahl der Pilger hat. Erst als die Diktator Francos (1939–1975) den Apostel Jakobus als spanischen Nationalheiligen und Identitätsstifter propagiert und in der Zeit danach regionale Institutionen, Unternehmer und kirchlichen Kräfte den Pilgerweg nach Santiago neu etablieren, nimmt der Pilgerstrom wieder zu. Im protestantischen Skandinavien, vor allem in Schweden und Norwegen, lebt das Interesse an den Heiligen wohl vor allem aufgrund des Geschichtsinteresses der Romantik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder auf. Ingemar Lindaräng, der in seinen Studien die zunehmende Beschäftigung mit den skandinavischen Heiligen St. Olav und der Heiligen Birgitta und ihren Legenden, Riten und Orten zwischen 1891 und 2005 untersuchte, erkennt darin eine identitäts- und sinnstiftende Rolle für den Einzelnen, die örtliche Gemeinschaft und die Nation.119 Die gleiche Erfahrung scheint wohl auch der Öffnung des Pilgerwegs nach Trondheim und mehrerer Pilgerbüros in Norwegen gegen Ende des 20. Jahrhunderts zugrunde zu liegen, die sich hauptsächlich der Initiative des öffentlichen Kultursektors verdankt. Federführende norwegische Historiker wie Arne Bugge Amundsen stimmen in ihrer Analyse des Phänomens weitgehend mit ihren schwedischen Kollegen überein120, wie auch mit dem von Helge Alfred Olsen eingeführten, im zweiten Kapitel erörterten Begriff der Anamnese als dem Versuch der Bewahrung einer kollektiven Identität. Die Revitalisierung des Pilgerns in den skandinavischen Ländern wirft aus kirchlicher und theologischer Sicht Fragen auf, denn das Pilgerwesen verschwand im Zuge der Reformation und war in manchen Gebieten sogar verboten. Die historische und aktuelle Auseinandersetzung mit dem protestantischen Erbe wird bei der Wiedereinführung der Pilgertradition kaum thematisiert. Für den deutschen Kirchengeschichtler Peter Zimmerling121 ist der Pil-
119 Lindaräng, Ingemar. 2007. Helgonbruk i moderniseringstider: Bruket av Birgitta- och Olavstraditionerna i samband med minnesfirande i Sverige och Norge 1891–2005. Linköpings universitet: Linköping Studies in Art and Science No. 395. 120 Amundsen, Arne Bugge. 2002. »Naturvandring eller indre reise? Moderne norske pilegrimer i et ideologisk dobbeltlys«, in: Anne Eriksen, Jan Garnert, Torunn Selberg (Red.), Historien inn på livet, Nordic Academic Press, S. 158ff. 121 Zimmerling, Peter. 2005. »Hat das Pilgern ein Heimatrecht in der lutherischen Spi-
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gergedanke in seiner Praxis und Theologie dem Luthertum fremd. Er führt dafür zwei wesentliche Gründe an. Für ihn konzentriert sich die lutherische Spiritualität auf vier Aspekte: auf Jesus Christus, auf eine schriftbezogene Frömmigkeit, auf die Betonung der Rechtfertigung allein aus Glauben und auf ein individuelles Glaubensverständnis. Diese Aspekte entfalten sich einerseits in der Familie durch die elterliche Verantwortung für die spirituelle Erziehung der Kinder, wie ja auch Luthers kleiner Katechismus für den familiären Gebrauch konzipiert ist. Außerdem steht im Luthertum die Berufung im Zentrum, die sich in weltlichen Berufen und Aufgaben, die als gottgewollt verstanden werden, konkretisiert. Dadurch erhält die weltliche Arbeit eine religiöse Bedeutung und die Gesellschaft einen anderen Status, nämlich als der Ort, an dem sich das Leben nach dem Willen Gottes vollzieht. Für Zimmerling zeigt sich darin einer der Fortschritte der Reformation, die die Spiritualität aus der exklusiven Verantwortung der religiösen Eliten befreit und die Grenze zwischen der sakralen und profanen Welt in Frage stellt. Diese Veränderungen ermöglichten später auch die großen Freiheitsbewegungen in Europa. Innerhalb dieser emanzipatorischen Entwicklung der lutherischen Spiritualität sieht Zimmerling keinen Raum für den Pilgergedanken.122 Im Folgenden werden wir uns weiter in das Thema vertiefen und versuchen, die kritische Auseinandersetzung Luthers und der Reformation mit dem Pilgerwesen im Gesamt ihrer zeitgenössischen Entfaltung zu verstehen. Wir werden untersuchen, wie die Praxis und Theologie des Pilgerns ineinander verwoben waren und wie die Veränderung eines Aspekts einen direkten Einfluss auf den anderen hatte. Als neuer Beitrag zur Forschung analysieren wir darüber hinaus Luthers breites Interesse und Kritik am Pilgerwesen genauer, um die Frage beantworten zu können, inwieweit Zimmerling mit seiner Behauptung recht hat.
ritualität?« in: Ueberschär, Ellen (Red.), Pilgerschritte. Neue Spiritualität auf uralten Wegen, Loccumer Protokolle 2/05. 122 »Aufgrund dieser Skizzierung der lutherischen Spiritualität lässt sich die erste Frage kurz und bündig beantworten: Pilgern hat in der traditionellen lutherischen Spiritualität kein Heimatrecht.« Ibid, S. 54.
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Das Pilgerwesen – Theologische Reflexion und Wahrnehmung der Realität Da das Pilgern im Zeitalter der Konfessionalisierung zu einem Identitätsmerkmal der römisch-katholischen Kirche wurde, gegen die sich der Protestantismus abgrenzte, gibt es bis heute keine nennenswerte protestantische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Luthers Auffassung und Kritik des Pilgerns. Sie wird in der Lutherforschung als einer von mehreren Bereichen behandelt, in denen Luther mit der mittelalterlichen Kirche und Theologie bricht, nicht jedoch als eigenständiges Thema erarbeitet. Wir werden dies im Folgenden versuchen. Der entscheidende Punkt für Luther und die Reformation bestand theologisch in der Frage, was die Beziehung des Menschen zu Gott bestimmt. Es wäre indessen falsch anzunehmen, dass dies eine rein religiöse Fragestellung war, unabhängig vom allgemein weltlichen Bereich. Im Mittelalter sind diese Aspekte noch vereint, Religion und Welt hängen unmittelbar zusammen. Was mit modernen Augen als eine theologische oder religiöse Frage erscheint, ist ebenso eine allgemeine, weltliche Frage. In einer allgemeinen Perspektive ist die Frage der Beziehung des Menschen zu Gott zugleich eine Frage danach, wie das Leben gelebt werden soll, worin ein ganzheitliches und wahrhaftiges Leben besteht, was wir tun sollen, welche Kriterien wir unseren Entscheidungen zugrundelegen, was wir mit Identität und Zugehörigkeit meinen, wer wir sind. Luther war einen Großteil seines Lebens auch Pfarrer in Wittenberg. Durch eigene Erfahrungen und die Nöte und Leiden seiner Gemeindeglieder wird er allmählich zu einem Kritiker der religiösen Praxis und Lehren der Kirche und entwickelt nach und nach seine eigene Theologie. Wir skizzieren hier zunächst einige der wichtigsten Momente des mittelalterlichen Pilgerwesens, bevor wir auf Luthers Kritik näher eingehen.
Das Pilgern – die Arbeit am eigenen Heil Im Mittelalter ging man davon aus, dass einem Menschen, der kraft der Taufe im Gnadenstand lebt und der sein Bestes tut, um nach dem Willen
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Gottes zu leben, »Gott die Gnade nicht verweigert« (facientibus quod in se est Deus non denegat gratiam). Diese Auffassung wurde im Hochmittelalter noch weiter entwickelt. Alle theologischen Schulen der Zeit mit ihren wichtigsten Vertretern Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und William Ockham, vertraten trotz aller Unterschiede ähnliche Versionen der gleichen Lehre: Die Erlösung ist abhängig von der Zusammenarbeit zwischen Gott und Mensch, zwischen der Gnade Gottes und der menschlichen Leistung. Augustin prägte mit seinem Verständnis der Lebensaufgabe des Menschen, das er besonders an die Taufe knüpfte, die mittelalterliche Auffassung entscheidend mit. Vereinfacht dargestellt empfängt der Mensch durch die Taufe die Gnade Gottes (infusio gratiae), der nun versuchen muss, die restliche Sünde (fomes), die sich als böse körperliche Begierde (mala concupiscentia) noch in ihm befindet, zu überwinden. Dies ist möglich, weil der Mensch in der Taufe die Gnade erhalten hat und dadurch verwandelt wurde. Gleichzeitig bleibt diese Aufgabe ein Lebensprojekt, da sie sich bis zum Tod nicht völlig lösen lässt. Thomas von Aquin kann demnach sagen, dass die menschliche Aufgabe darin bestehe, »mit der Gnade zusammenzuarbeiten«, indem man gute Werke für seine Erlösung sammelt. Thomas versteht die Gnade in diesem Zusammenhang auch als »Lohn«. Die Zusammenarbeit zwischen Gott und dem Menschen ermöglicht das menschliche Wachstum hin zu Erlösung und Seligkeit. Deshalb spielt auch die Buße eine wichtige Rolle in der mittelalterlichen Frömmigkeit, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben.
Erlösung als Geschenk Luther bestreitet bekanntlich diese Verbindung zwischen menschlichen Verdiensten und der Erlösung des Menschen. Die Rechtfertigung gegenüber Gott ist kein gemeinsames Projekt von Gott und Mensch durch das unaufhörliche menschliche Wachsen hin zur Erlösung. Das christliche Leben dreht sich für Luther nicht um ein Streben nach Vollkommenheit, weder in der Erkenntnis noch in der Ethik oder Moral, sondern um die Reise des Lebens in den Tod. Luther wählt damit die entgegengesetzte Position: Die menschlichen Handlungen tragen nicht zur Erlösung bei. Gottes Gerech-
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tigkeit ist ein Geschenk Gottes (donum Dei) an den Menschen, völlig unabhängig von jeder menschlichen Beteiligung durch gute Werke. Die menschliche Gerechtigkeit ist das Verdienst, das »fremde Werk« Christi (opus alienum), an dem der Mensch durch den Glauben teil hat. Entscheidend ist hier nun, dass das Pilgern, gegen das sich Luther wendet, Teil des mittelalterlichen Verständnisses von Gerechtigkeit und wahrem Leben ist. Er lehnt es ab, die Wanderung zu einem Pilgerziel als ein gutes Werk, als eine meritorische Tat zu akzeptieren. Seine eigene Lebenserfahrung wie auch der Kontakt als Priester mit seinen Gemeindegliedern bestätigt Luther in seiner Auffassung, dass das Pilgern die Menschen unfrei macht, weil sie glauben, es um ihrer eigenen Seligkeit und für Gott tun zu müssen. Dadurch gerät in der Frage nach dem guten Werk und wahrhaftigen Leben der Alltag als sekundär, nachgeordnet, unwichtig aus dem Blick. Das Pilgern hält den Menschen in der Frage nach Gerechtigkeit und Erlösung, in der Frage nach sich selbst, nach Zukunft und Ewigkeit in seiner Unsicherheit und Angst gefangen, denn als mittelalterlicher Christ musste man durch das Sammeln guter Werke versuchen, seine zeitlichen Sündenstrafen zu verkürzen, die durch die schrecklichsten Qualen im Fegefeuer verbüßt werden mussten. Die Angst vor dem Fegefeuer ist bekanntlich einer der wichtigsten Gründe für den Bau von Europas Kathedralen und dem Reichtum der Kirchenschätze. Durch den Ablasskauf oder die testamentarische Schenkung von Grundbesitz oder anderem Nachlass sicherte man sich nach dem Tod private Seelenmessen zur Verkürzung der Zeit im Fegefeuer. Die Kirche erhielt dadurch große Summen von Geld und Sachleistungen – in Norwegen besaß sie gegen Ende des Mittelalters wahrscheinlich fast die Hälfte des gesamten Grundbesitzes.123 In der Vorrede zu seinen gesammelten Werken in lateinischer Sprache aus dem Jahre 1546 betont Luther die Kritik an der Buße als den Ausgangspunkt seiner theologischen Arbeit, die, wie wir heute wissen, zur Reformation führte. Zu Luthers Zeit spielte der Ablass eine zentrale Rolle für das Verständnis und die Erfahrung der Buße. Am 31. Oktober 1517 richtet sich Luther mit seinen berühmten 95 Thesen an der Kirchentür in Wittenberg, die als Schwarzes Brett der Universität dient, zum ersten Mal an
123 https://snl.no/Norge_i_høy-_og_senmiddelalderen_1130-1537.
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die Öffentlichkeit,124 um zu einer klärenden theologischen Diskussion über den Ablass aufzurufen.125 Luther will mit seinen Thesen nicht den Ablass verwerfen (These 47, 48, 69 und 71) oder gar dem Papst die Autorität verweigern (These 6, 7, 25, 38). Vielmehr unterstellt er dem Papst die besten Absichten (These 50, 51, 91) und sein eigenes Verständnis vom Wert des Evangeliums (These 53, 55, 78), der weit höher sei als der des Ablasses (These 42, 73, 74). Luther möchte mit seinen Thesen nur betonen, dass wahre christliche Buße mehr ist als das Sakrament der Buße, nämlich eine lebenslange Buße (These 1 und 4), indem das Leben in den Dienst und die Fürsorge für die Mitmenschen gestellt wird. Für Luther erwirkt der Ablass keinerlei Vergebung der Schuld vor Gott (These 76), ebenso wenig kann der Ablass den Aufenthalt im Fegefeuer verkürzen (These 8–13). Damit ist für Luther der Ablass nicht notwendig (These 47), und die Ablasspredigt gefährlich (These 24, 32, 39, 49, 52). Außerdem schwächt der Ablass die guten Liebestaten (These 41–46), weil der Mensch sich nicht auf den Dienst an seinen Mitmenschen konzentriert, sondern auf den Dienst an Gott. Damit kommt der Stein ins Rollen. Luther zweifelt durch diese Fragen faktisch die Autorität des Papstes an und wird bald darauf exkommuniziert, Westeuropa zerfällt in der Folge religiös in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden. Die hier beschriebenen historischen Bedingungen und Entwicklungen lassen sich nicht mehr ohne weiteres auf unsere Zeit übertragen. Die römisch-katholische Kirche hat sich seit der Reformation in einer Reihe von Punkten mit der eigenen Praxis und Theologie des Mittelalters kritisch auseinandergesetzt. Um unsere Gegenwart zu verstehen, müssen wir indessen die Geschichte und die historischen Tatsachen kennen. Dies gilt auch für das Pilgerwesen.
124 WA 1; 233–238. Ob es sich tatsächlich um einen Aushang handelte oder aber um einen Traktat, der verteilt wurde, ist in der Forschung etwas umstritten. Vgl. u. a. die Arbeiten von Erwin Iserloh, Martin Treu und Volker Leppin. 125 Benrath, Gustav Adolf. 1977. »Ablass«, S. 353ff.
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Kritik am Pilgerwesen
Kritische Perspektiven auf das Pilgerwesen Luther rührt mit seinen bekannten Formeln des allein durch die Gnade und allein durch den Glauben an den Grundfesten des Wirklichkeitsverständnisses, wie das menschliche Leben ganz und wahrhaft zu leben sei. Luthers Kritik wirkt sich in vielen Richtungen aus, auch auf das Pilgerwesen. Zu Beginn stand die kirchliche Lehre und Praxis von Buße und Ablass im Zentrum, wie seine oben beschriebenen 95 Thesen belegen126. Im Folgenden werden wir uns mit einigen der wichtigsten pilgerbezogenen theologischen Schriften und Predigten Luthers beschäftigen.
Die seelsorgerliche Perspektive In seelsorgerlicher Perspektive bietet die Pilgerwanderung nur eine vorübergehende Hilfe, betont Luther. Nach der Ankunft am Pilgerziel und damit – in der Interpretation der Kirche – der Vollendung eines guten Werks bleibt die Unsicherheit über die Erlösung und die eigene Identität bestehen, denn man leistet nie genug gute, verdienstvolle, satisfaktorische Werke. Für Luther ist es höchst problematisch, dass die Pilgerwanderung theologisch als Ausdruck der Buße oder als Einlösung eines gegebenen Versprechens als ein gutes Werk verstanden wird127, was für viele ja gerade der entscheidende Grund war, sich auf eine Pilgerreise zu begeben. In der Weihnachtspostille von 1522 stellt Luther die rhetorische Frage: »…wenn du sie fragst: Wie tut man recht, dass man Gott gefalle und selig werde?, so antwortet sie: du musst Kirchen bauen, Glocken gießen, Messen stiften, Vigilien halten lassen, Kelch, Monstranz, Bild, Kleinod machen, Kerzen brennen, viel beten, fasten, Priester oder Mönch werden, nach Rom und Santiago laufen, ein einfaches
126 Siehe Jensen, Roger, 2004, S. 134–147. 127 »Nu sich, yn der menschen leben, es seyn yhr vill, die Fasten, Beeten, Wallen, und der gleychen ubung haben, mit wilchen sie nur vill vordienst zusamlen vormeynen und hochzusitzen ym hymell, leren aber nymmer mehr yhr boeße untugent toedten.« WA 2, 734, 34–37. Ein Sermon von dem heiligen hochwiirdigen Sakrament der Taufe. 1519.
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Hemd tragen, dich peitschen und dergleichen, das sind gute Werke, rechte Wege und Stände zur Seligkeit.«128
Für Luther sind die Pilger in ihrem Tun derart von der von ihm so charakterisierten »Werkgerechtigkeit« durchdrungen, dass es ihm besser scheint, die Institution des Pilgerwesens komplett aufzugeben. Nur die Glaubensgerechtigkeit, die Auffassung der Erlösung als Geschenk, ist im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit in der Lage, ein sicheres und freies Gewissen zu schaffen. Nur der im Vertrauen auf Gott lebende Mensch ist mit ihm eins und erfährt Freiheit und Freude: »Also ein Christenmensch, der in dieser Zuversicht gegen Gott lebt, weiß alle Dinge, vermag alle Dinge, weiß, was zu tun ist, und tut alles fröhlich und frei, nicht um viele gute Verdienste und Werke zu sammeln, sondern weil es ihm eine Lust ist, Gott wohl zu gefallen, und gerne umsonst Gott dienet, sich daran begnüget, dass es Gott gefällt. Wiederum der mit Gott nicht eins ist oder daran zweifelt, der hebt an, sucht und sorget, wie er doch genug tun wolle und mit vielen Werken Gott bewegen. Er läuft nach Santiago, Rom, Jerusalem hier und her, bittet die heilige Brigitte, gibt dies und das, fastet diesen und jenen Tag, beichtet hier und beichtet da…«129
Die massive Unterstützung, die die Reformation erhielt, zeigt, dass sich viele in Luthers seelsorgerlich begründeter Kritik der zeitgenössischen Pilgerpraxis und Theologie wiedererkannten.
128 »… wenn du sie fragist: Wie thutt man recht, das man gott gefalle unnd selig werde?, ßo antwort sie: Ey, du must kirchen bawen, glocken giessen, meß stifften, vigilien lassen halten, kilch, monstrantz, bild, kleynod machen, kertzen brynnen, ßo vil beten, Sanct Katarin fasten, Eyn priester oder munch werden, tzu Rom und S. Jacob lauffen, herend hembd tragen, dich peytschen und dergleychen, das sind gutte werck, rechte wege und stend tzur selickeyt.« WA 10.1. 532, 1–6. Weihnachtspostille 1522. 129 »Alszo einn Christe(n) mensch / der in diser zuuorsicht gegen got lebt / weisz alle ding / vormag alle dingk / vormisset sich aller ding / was zu thun ist / vn(d) thuts alles frolich vnd frey / nit vmb vil guter vordinst vnnd werck zusamlen / szondern das yhm eine lust ist / got alszo wolgefallen / vnd leuterlich vmb sunst got dienet / daran benuget / das es got gefellet. Widderumb der mit got nit einsz ist odder tzweyffelt dran / der hebt an / sucht vnd sorget / wie er doch wolle gnugthun / vnd mit vil wercken got bewegen. Er leufft zu sanct Jacob / Rom / Hierusalem / hier vnd dar / bettet sanct Brigitte(n) gebet / ditz vnd das / fastet den vnd dissen tag / beicht hie / beichte da /…« StA 2, 21, 9–18.
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Der heilige Ort als »anderer Ort« Die Orte des Lebens Jesu sind die ursprünglichen Ziele der Pilger. Nachdem das Heilige Land unter arabische Kontrolle gerät, versuchen mehrere Kreuzzüge das Land zurückzuerobern. Der eigens dafür gegründete Orden der Tempelritter soll die Pilger im Heiligen Land schützen. Im Jahr 1291 ist Jerusalem jedoch endgültig verloren, weitere Vorstöße werden aufgegeben und die Kirche versucht, den Pilgerfluss in andere Regionen umzuleiten. Im Jahr 1300 ruft Papst Bonifatius VIII das erste heilige Jahr in Rom aus. In der darauffolgenden Zeit werden die europäischen Pilgerziele als Ersatz für die klassischen heiligen Stätten in Palästina empfohlen und die bereits etablierten Pilgerziele wie Santiago, Aachen und Trier genießen nun noch größere Popularität als vorher. Aber wo findet man Gott? Lässt er sich besser an den Pilgerzentren, in den großen Kathedralen und den dortigen Reliquien finden als zuhause? Luther macht geltend, dass die Konzentration der Pilgerströme auf die Wallfahrtskirchen die Ortskirchen, in denen das Evangelium verkündet und die Sakramente verwaltet werden, abwertet. Das Pilgerwesen macht die Menschen unzufrieden mit ihren Kirchen am Heimatort und lässt sie dauernd nach etwas mehr, nach etwas anderem suchen. Man glaubt, man müsse nach Rom oder Santiago, um Gott zu finden, um ihm näher sein können, wo der Himmel offener sei, als ob man Gott nicht ebenso in der örtlichen Kirche finden könne. Luther lehnt die Notwendigkeit ab, an spezielle heilige Orten aufbrechen zu müssen, um Gott und Gottes Gnade zu finden, und verweist auf die Ortskirchen, wo Gott in seinem Wort anwesend ist. Man kann zu Gott an allen Orten des Lebens beten – »man soll nun an allen Orten, wo einer jetzt nur ist, Gott anbeten und sein Herz und Augen richten auf den Glauben an die Person Christi«.130 130 »Hie were nu viel zusagen von des Bapsts, item, der Orden und Bruederschafften Bueberey, die uns gen Rom, Compostel und Hierusalem geleckert haben und eine Walfart uber die ander erdacht, dahin das Volck lauffen und beten solte, gleich als koendten wir Gott nicht finden daheim in unserm hause, in unser Schlaffkamer oder, wo wir sonst sein moechten. Denn Gott ist nicht mehr angebunden an eine stete als jenes mal, da er zu Hierusalem wonen wolte, ehe denn der rechte Tempel, der Herr Christus, kam, wie Joannis am iiij. Capitel auch gesagt wird: ›Sihe, es koemet die zeit, das weder zu Hierusalem noch auff diesem Berge man wird anbeten, sondern die
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Das heisst – worauf wir im nächsten Kapitel kommen werden – für Luther indessen nicht, dass Gott nur in der Kirche gegenwärtig ist. Für ihn ist das Wort weit mehr als das gesprochene Wort oder das Evangelium, das in der Sonntagspredigt verkündigt wird. Das Wort ist Gottes Weg, sich dem Menschen zu nähern und mit ihm zu kommunizieren, durch Kultur und Natur. In der Konfrontation mit Armut und Elend ruft Gott den Menschen zu Verantwortung und Bewahrung. »Willst du aber das rechte Heiligtum finden, so bleib daheim im Haus, du seist Vater oder Kind, brauchst nicht nach Santiago laufen, gen Rom, gen Aachen, zu unserer Frau, zum heiligen Blut, ins Kloster. Seh Vater und Mutter an, das wird dich das Wort Gottes lehren…«131
Gott spricht ferner durch die menschlichen Beziehungen und durch die Natur zu uns, durch das Wachsen des Korns und die Vielfalt der Tierwelt – all dies zeugt von der Größe Gottes und seiner Fürsorge für die Schöpfung. In Natur und Kultur, die Luther als »Gottes Masken« (larva dei) bezeichnet, ist die Stimme Gottes indessen aufgrund der Sünde für die menschliche Erfahrung nur undeutlich zu erkennen. Deshalb hat Gott bestimmte Orte gewählt, an denen er zu finden ist, an denen sein Wille »klar und rein« zum Ausdruck kommt: In der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente findet man Gott auch und gerade in der Kirche vor Ort. Deren Bedeutung wird aber durch die Pilgerziele untergraben, weil die warhafftigen Anbeter werden den Vater im Geist und in der Warheit anbeten.‹ Es hat der Tempel zu Hierusalem auffgehoert, und man sol nu an allen oertern, wo einer jtzt nur ist, Gott anbeten und sein hertz und augen richten auff den Glauben an die Person Christi … Wir haben im Bapsthum diese herrliche wort nicht verstanden, auch nicht darnach gethan, denn so Christus sitzet zur rechten hand seines Vaters, worumb suchen wir jn denn zu Rom, zu Compastel und zu Ach oder zur Eichen? du wirst jn alda nicht finden, sondern den leidigen Teufel, denn er wil sich nicht nach unserm willen und wolgefallen finden lassen.« WA 46, 762a, 1–21. Reihenpredigten über Johannes 1–2, 1537/38. 131 »Wiltu aber das rechte heiligthum finden, so bleib daheym ym haus, du seyst vater oder kind, darffest nicht zu S. Jacob lauffen, gen Rom, gen Ach, zu unser frawen, zum heiligen blut, yns kloster, Sihe vater und mutter an, da wirt dich das wort gottes leren, Wenn du Vatter und Mutter ehrest, das du nicht fleisch und blut, sondern GOTT selber ehrest, der wort auff sie gelegt hat. Und yhr Eltern stehet yhr ewern kinder wol fur, so thut yhr Gott einen gros gefallen dran«. WA 16, 492d, 17–23. Reihenpredigten über 2. Mose, 1524/27.
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Pilger nicht erkennen, dass sie alles, was sie suchen und benötigen, in ihrer heimatlichen Kirche finden.132
Das Pilgerziel als »Götze« Luther kritisiert weiter, dass das Pilgerwesen die Pilgerziele zu Götzen mache, da sie mit ihren kostbaren Reliquien selbst zu Objekten des menschlichen Hoffens und Sehnens nach Erlösung werden, was im Blick auf die Pilgermotive im zweiten Kapitel bereits anklang. »Wenn man aber also zum heiligen Grabe gehet, das man durch solch Wallfahren Ablass und Vergebung der Sünde bei Gott erwerben will, Wie im Papsttum bisher geschehen ist und noch geschieht, Da gehören viele Tagesreisen, große Unkosten und Zehrung dazu, Und man richtet doch nicht mehr aus, denn dass man aus dem Grabe ein Abgott machet.…«133
132 »…die newen walfarten hyn gahen, Welsznacht, Sternberg, Trier, das Grymtal und itzt Regenspurg, unnd der antzal viel mehr. O wie schwer, elend rechenschafft werden die Bischoff mussen geben, die solchs teuffels gespenst zulassen und geniesz davon empfangen! sie solten die erstenn sein, dasselb zuweeren, szo meynen sie, es sey gotlich, heylig ding, sehen nit, das der teuffel solchs treybt, denn geytz zustercken, falsche, ertichte glaubenn aufftzurichten, pfarr kirchen zuschwechen, tabernenn und hurerey zumehren, unnutz gelt und erbeyt vorlieren, und nur das arm volck mit der naszen umb furen.« WA 6, 447, 18–26. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520; »Auch szo geschicht der pfarkirchen nachteil dran, das sie weniger geehret werden. Summa summarum, Es sein zeychen einis grossen unglaubens ym volck, dan wo sie recht gleubtenn, hetten sie alle ding in yhren eygen kirchen, da yhn hynn gepotten ist zugehen.« WA 6, 448, 6–10 (ibid.) 133 »Wird auch aus des HErrn Grabe kein Abgott gemacht. Wenn man aber also zum heiligen Grabe gehet, das man durch soelch Wallen Ablas und Vergebung der Suende bey Gott erwerben wil, Wie im Bapstum bisher geschehen ist und noch geschicht, Da gehoeren viel Tagreisen, grosse Unkost und Zehrung zu, Und man richtet doch nicht mehr aus, denn das man aus dem Grabe ein Abgott machet. S. Hieronymus hat sein Ampt zu Rom verlassen und ist gen Jerusalem gezogen das heilig Grab zu sehen, Und hette viel besser und seliger daheim bey seinem Ampt zum heiligen Grabe Wallen koennen. So gewaltig hat die Abgoetterey eingerissen auch mit des HErrn Grabe. Jch moechte es auch wol sehen, Aber nicht auff die Weise, das mir das heilig Grab zum Abgott wuerde. Wenn Gott meines Rats beduerffte und ich Jm rathen soelte, So woelte ich Jm geraten haben, Er soelte das heilig Grab an der Welt ende gebracht haben, das niemand dahin komen kuende. So were viel Abgoetterey nachblieben.« WA 28, 421d,
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Götzen sind indessen betrügerische Götter. Luther geht in seinem Großen Katechismus näher auf diese Problematik ein, worauf wir später noch zurückkommen werden. Der Götzendienst verhindert, dass die Menschen den Gott erfahren, der sich in Jesus zu erkennen gibt. So vertrauen sie anstelle der Verheißung des Heils und der Bewahrung auf einen geographischen Ort und irdische Reliquien, die auf vielerlei Art missbraucht werden können.
Gier und Unmoral Luther kritisiert ferner die Gier und Unmoral während der Pilgerreise. An mehreren Stellen in seinen Texten kommt er auf seine eigene Reise nach Rom als junger Mönch zurück und wie enttäuscht er vom Zentrum der Christenheit war – eine durch die Gier geprägte Stadt, in der es schwer war, gute Vorbilder zu finden.134 In seiner Schrift an den christlichen Adel polemisiert er, dass das Pilgerwesen zu nichts anderem gut sei als den gierigen Bischöfen die Kassen zu füllen.135 1537 wird Luther noch deutlicher: Der Glaube wird unter dem Papsttum durch den Verkauf von Freibriefen, der Gründung von Gemeinschaften, durch die Pilgerwanderungen und die Öffnung von Läden jeglicher Art (Luther denkt hier wahrscheinlich an den Verkauf von Amuletten oder Pilgerurkunden an den Pilgerzielen) wie auch den Verkauf von Messen wirtschaftlich erpresst. Das Pilgerwesen dreht sich aus kirchlicher Sicht explizit oder implizit um das Geld.136 Außerdem macht 34–422d, 5. Reihenpredigten über Matthäus 11–15, Johannes 16–20 und 5. Mose, 1528/ 29). 134 WA 6, 437, 1–12. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520. 135 WA 6, 446, 27–447, 16. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520. 136 »Aber wenns also zugehet, wie hie gesaget wird, das alle Sacrament in der Kirchen sind verkaufft worden umb Ochsen und Schaf etc., wie sie denn predigten: du must opffern, da stehets ubel, denn das heist gekaufft und verkaufft, das ist lauter Kauffmansschafft, sie solten also gesagt haben: Lieber Mensch, ich zwinge dich nicht, wilt du was geben, so stehets in deinem wilkoer. Also solte der Bapst auch thun und nicht Ablas, Mess und andere geuckelwerck umbs gelt verkeuffen… Es ist ein lauter schinderey draus gemacht, da hat man Butter brieff geschrieben, Bruederschafft und Gesellschafft, Walfart und mehr jarmarck angericht, welchs alles viel Geldes getragen hat…« WA 46, 728b, 27–729b, 21. Reihenpredigten über Johannes 1–2, 1537/38.
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sich Luther die weit verbreitete Kritik zu eigen, dass die Pilger ihre Freiheit auf der Wanderung sexuell ausnutzen, um »zusammenzukommen«.137
Religiöser Machtmissbrauch Luther wendet sich außerdem dagegen, dass das Papsttum das Pilgerwesen dazu missbrauche, die eigene religiöse Stellung zu stärken und damit auch weltliche Macht zu gewinnen. Die gesamte Reliquien- und Ablasslehre entbehrt für Luther jeglicher biblischen Grundlage und ist somit hinfällig. Ferner ist die Behauptung des Papsts anmaßend, er befehle den Engeln, während der Pilgerwanderung nach Rom während eines Heiligen Jahres verstorbene Pilger direkt ins Paradies zu bringen. Luther kommt in den Jahren um 1530 mehrmals darauf zurück und führt diese Behauptung während der Verhandlungen über das Augsburger Bekenntnis als Beispiel dafür an, wie der Papst sich an Gottes Stelle setzt, sich selbst zu Gott macht. Am Pilgerwesen zeige sich, wie die Papstkirche ihr Mandat als Kirche eklatant überschreitet.138
Der Verrat am Nächsten139 Neben der genannten seelsorgerlich orientierten Kritik widmet sich Luther eingehend der wichtigen ethischen Dimension des Pilgerwesens. 137 Siehe z. B. WA TR 5435. 138 »Weiter, wenn der Bapst den Engeln gebeut, das sie der pilger seelen, so auff der Romfart ym gulden iar sterben, gen himel furen mussen, Jsts auch gewis? Weil Christus die schluessel gibt allein auff erden zu binˆ den, Vnd die Engel doch nicht auff erden sind, Jsts sache, das Gott die Engel heisst, was der Bapst gebeut, So ists gewis. Wie weis ich aber, das Gott die Engel solchs heisset? Da las ich dich fur sorgen.« WA 30, II, 448, 4–9. Von den Schlüsseln, 1529/30; »Das sie dadurch den Bapst zum Gott ym himel setzen, der den engeln gebieten kundte, der pilger seelen so aüff der Romfart sturben, gen himel zü füren.« WA 30, II, 282a,3. Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg, Anno 1530). Jf. også: WA 30, III, 316b, 15. Warnung an seine lieben Deutschen, 1531. 139 Zu diesem Abschnitt siehe besonders: Jensen, Roger. 2004, S. 91–266; Tomlin, Graham. 2004. »Protestants and Pilgrimage« in: Explorations in a Christian Theology of
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Die ethische Herausforderung zeigt sich in der Frage nach den »guten Werken«. Was ist ein gutes Werk? Auf welche wichtigen guten Werke sollen wir uns konzentrieren, um wahrhaftig und richtig zu leben? Der oben zitierte Text Luthers zur Frage nach dem rechten, gottgefälligen Tun wird hier noch einmal relevant: »…wenn du sie fragst: Wie tut man recht, dass man Gott gefalle und selig werde?, so antwortet sie: du musst Kirchen bauen, Glocken gießen, Messen stiften, Vigilien halten lassen, Kelch, Monstranz, Bild, Kleinod machen, Kerzen brennen, viel beten, fasten, Priester oder Mönch werden, nach Rom und Santiago laufen, ein einfaches Hemd tragen, dich peitschen und dergleichen, das sind gute Werke, rechte Wege und Stände zur Seligkeit..«140
Ist die Pilgerwanderung ein gutes Werk oder nicht eher eine Flucht vor den guten Werken? Nach Luther flüchtet man als Pilger vor seinem eigenen täglichen Leben und seinen Verpflichtungen. Es wäre weitaus besser, die für die Wanderung aufgewandte Geldsumme und Zeit in den Dienst an seinem Nächsten, an bedürftigen Menschen oder der eigenen Familie zu stellen. Luther schreibt über einen reuigen Sünder, der von seinem Pfarrer auf eine kostspielige Bußwanderung nach Rom geschickt wird. Trifft dieser Sünder auf dem Heimweg von der Beichte seinen Nachbarn in Leid und Not, so ist Luthers Rat klar und eindeutig: Diene mit deiner Zeit und deinem Geld deinem Nächsten statt sinnlos barfuß zu pilgern!141 In einer späteren Predigt schimpft Luther: »Was zum Teufel habe ich in Santiago zu schaffen? Soll ich meinen Nächsten in Rom suchen? Meine Nächsten habe ich genug um mich – meine Frau, meine Kinder und arme Leute!«142 Wir dürfen hier nicht vergessen, dass das Spätmittelalter wieder Wert auf Frömmigkeit, ein gottesfürchtiges Leben und fromme Werke legt, was viel Zeit, Mühe und Geld in Anspruch nimmt. Das Laienideal ist die Nachahmung der Heiligen durch verschiedene Formen eines klosterähnlichen LePilgrimage, S. 110–125; Gerrish, B.A. 1982. »By Faith Alone: Medium and Messiage in Luther’s Gospel« in: The Old Protestantism and the New: Essays on the Refomation Heritage. Edinburgh: T&T Clark, S. 69–89. 140 WA 10.1. 532, 1–6. Weihnachtspostille 1522. 141 WA 10 III, 34ff. 142 »Was zum Teufel hab ich zu S. Jacob zu schaffen? sol ich meinen nechsten zu Rom suchen? Es sind nechste gnug bey und umb mich als weib, kinder und andere arme leute« WA 37, 530, 6–8. Predigten 1533/34 (Dominica XIII. post Trinitatis).
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bens, wie wir im zweiten Kapitel bereits gesehen haben. Keuschheit und Pilgerwanderungen werden als »große« Gelübde und gute Werke angesehen.143 Diese Laienfrömmigkeit wird bis zur Reformation praktiziert, bis Luther diese Auffassung der »guten Werke« wieder und wieder mit unterschiedlichen Akzentuierungen kritisiert144 und dabei die Argumentation auf den Kopf stellt: »Tust Du ein gutes Werk für Dich, für Gott oder seine Heiligen, so wisse, dass dieses Werk nicht gut ist…«145 143 »Ihr habt solchs vom Bapst gekernt, der nympt auch ditz gepott gottis: [Ps. 76, 12] Vouete et reddite unnd tzeucht es, wofernn er will. Alle gelubd will er abthun, on keuscheyt und wallen tzu Rom, Sanct Jacob und Hierusalem, und soll gottis gepott nu eyn solch vorstand gewynnen: Gelobt keuscheyt und wallen tzu Sanct Jacob, Rom und Hierusalem, das halltet; was yhr ßonst gelobt, durfft yhr nitt hallten. Sihe, alßo soll gottis gepott ynn seyner macht stehen, was tzu hallten odder nitt tzu hallten sey. O du vorfluchte Abominatio, wie frech, freuel ist deyn ubirmutt widder deynen gott! Was hatt er aber fur grund und ursach datzu? keyn ander, denn das keuscheytt unnd wallfartt eyn groß ding ist, aber die andernn stucke sind kleyn. Sihe da, der unsynnig narr unnd gottislesterer, der gottis gepott auffloßet, wenn es kleyn ding gepeutt, und halten leret, wenn es groß ding gepeutt, gleych [Matth. 5, 19] star, stracks widder Christum Matthei. 5: Wer eyniß auß den kleynisten gepotten auffloßet und alßo leret die menschen, der soll der kleynist seyn ym hymell, wie der Bapst; was kleyn ding ist, soll du nit hallten, und wyr loßen auff das gepott: Vouete et reddite ynn allen kleynen dingen. Alßo thun die geystlichen, seyne kinder, wie sie yhr vater leret, sprechen: Vouete et reddite die drey unbeweglichen gelubd. Aber vouete et non reddite die beweglichen gelubd. Da sihe, ob nit geystlicher stand des teuffels eygen regiment und weßen ist, mit eyttell lugen und gottis lesterung gegrundt.« WA 10, I, 1, 698, 10–699, 3. Weihnachtspostille 1522. 144 Siehe z. B.: »Nitt mehr fodder ich von euch. Sage nit, das yhr mir kirchen bawen, wallen, fasten, singen, munch, diszen odder den stand annhemen solt, szondernn da thut yhr meynen willen unnd dienst, wenn yhr euch unternander woll thutt, unnd niemant auff sich selb, szondernn auff den andern acht habt, da ligts gar unnd allisz ynnen«. Evangelium von den zehn Aussätzigen. 1521. WA 8, 361, 13–18. Ibid 366, 3–8. Se tilsvarende: WA 10. I. 33, 4–7. 1. Band, Weihnachtspostille 1522; Ibid. 38, 15–19. 145 »Findistu eyn werck an dyr, das du gott odder seynen heyligen oder dyr tzu gutt thuest und nit alleyn deynem nehisten, ßo wisse, das das werck nit gutt ist. Alßo soll eyn man seynem weyb und kind, das weyb dem man, die kinder den eltern, die knecht den herrn, die herrn den knechten, die ubirkeyt den unterthan, die unterthan der ubirkeyt, und eyn iglicher dem andern, auch den feynden, zu lieb und dienst, leben, reden, thun, horen, leyden und sterben, das ymmer eyniß des andern hand, mund, auge, fuß, ia hertz und mutt sey; das heyssen recht Christlich, naturlich gutte werck, die on unterlaß, alle tzeytt, an allen ortten, gegen allen personen geschehen mugen und sollen. Daher sihestu, das die werck der Papisten ynn orgelln, singenn, kleyden, leutten,
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Hat sich das Wirklichkeitsverständnis erst einmal geändert, ist das Erreichen der Gerechtigkeit Gottes nicht mehr eine Lebensaufgabe, sondern Gottes freie Gabe an den Menschen, ist die Unsicherheit und Angst vor den zeitlichen Sündenstrafen und dem Fegefeuer verflogen, versklavt Gott den Menschen nicht mehr, sondern macht ihn frei, dann kann der Mensch, wie Luther es in der bekanntesten reformatorischen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen beschreibt, seine Zeit und Energie seinem Nächsten vor Ort widmen. Der Nächste ist das Ziel an sich. Wie Christus uns dient, sollen wir einander dienen – wir sollen »Christus für einander sein«. Die Pilgerwanderungen sind für Luther dagegen eine von zahlreichen religiösen »guten Werken«, die Geld und Zeit von den wirklichen guten Werken, nämlich dem Dienst am Nächsten, stehlen und damit vom wahrhaften christlichen Leben ablenken. Nach Luther müsse man nicht einmal wissen, worin die guten Werke bestehen, man solle einfach tun, was »sich ergibt«, was in der Situation notwendig ist, denn der Glaube lässt sich nicht an bestimmte, vorgeschriebene Werke binden.146 Die guten Werke sind »zur Hand«147, sie haben »keinen Namen«148. Leider lassen die Menschen oft die wichtigsten und bedeutungsvollsten Werke liegen, um sich mit den unwichtigsten Werken zu schmücken, weil sie glauben, dadurch selig zu werden.149 An anderer Stelle veranschaulicht Luther das »zur Hand sein« der guten Werke mit den notwendigen Aufgaben auf einem Bauernhof wie das
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reuchen, sprengen, wallen, fasten &c.. sind wol schone, grosse, viele, lange, breytte unnd dicke werck, aber es ist keyn gutt und nutzlich odder hulfflich werck drunder…« WA 10. I. 2. 41, 5–17. 2. Band, Adventspostille 1522; Roths Sommerpostille 1526. »Darausz dann weiter folget / das einn Christen mensch in diessem glauben lebend / nit darff eines lerers guter werck / sondern was ym furkumpt / das thut er / vnd ist alles wolgethan / wie S(ankt) Samuel sprach zu Saul / du wirst ein ander mensch werden / wen der geist in dich kumpt / dan szo thu was dir vorkumpt / got ist bey dir. … Auch sanct Paul saget / wo der geist Christi ist / da ist es alles frey / Dan der glaub lesset sich an kein werck binde(n) / szo lesset ehr yhm auch keinsz nit nehme(n). Sundern wie der erst psalm saget / Er gibt sein frucht wensz zeit ist. das ist wie kumpt vnd ghet.« StA 2, 20, 22–33. StA 2, 40. 15–24. WA 10, I, 2. 38, 7–16. Wartburgpostille. »Alle menschen sein falsch / liegen vnd triegen. dan die rechten heubt gutte werck / lassen sie anstehen / schmucken vnd ferben sich mit den geringisten / vnd wollen from sein / mit stiller ruge gen hymel farenn.« StA 2, 40, 29–32.
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Misten im Stall oder das Führen eines Esels.150 Die guten Werke bestehen in der Bewahrung des Lebens und den Aufgaben der Lebensbewältigung. Luther klagt darüber, wie viele Gläubige einfach dem Beispiel der Heiligen folgen, sich auf die befohlene Wallfahrt machen und dabei Frau und Kinder allein lassen. Sie wandern nach Santiago de Compostela oder zu einem anderen Pilgerziel, sehen aber nicht, dass ihre Berufung und ihr Handeln nichts mit der Berufung der Heiligen zu tun hat, denen sie nachzufolgen wünschen. Dementsprechend hart urteilt Luther über die religiösen Ideale seiner Zeit – sie seien das Gegenteil dessen, was sie zu sein scheinen, sie kehren Christi Ruf und Auftrag den Rücken zu.151 Hätte man auch vier Köpfe und zehn Hände, so wären sie doch zu wenig, um Zeit für eine Pilgerreise und ein einziges derartiges »gutes Werk« übrig zu haben: »So magst du sprechen: Wie aber, wenn ich nicht berufen bin, was soll ich dann tun? Antwort: wie ists möglich, das du nicht berufen seist? du wirst in einem Stand sein, du bist ein Ehemann oder Weib oder Kind oder Tochter oder Knecht oder Magd. Nimm den geringsten Stand für dich, bist du ein Ehemann, meinst du, du hast nicht genug zu schaffen in demselben Stand? Zu regieren dein Weib, Kind, Gesinde und Hof, das es alles gehe in Gottes Gehorsam und tust niemand unrecht? Ja, wenn du vier Köpfe und zehn Hände hättest, du wärest ihm dennoch zu wenig, das du weder wallfahrten noch irgend ein heiliges Werk dürftest für dich nehmen!«152 150 »…thu darnach, was dyr furkompt, ßo ists allis wolthun, wenß gleych nicht mehr were, denn mist laden odder esell treyben.« 151 »Sihe, alßo sindt man viel leutt, die allerley thun, on was yhn befolhen ist. Mancher horett, das ettlich heyligen haben wallen gangen, dauon sie gelobt sind, ßo feret der narr tzu, lest weyb unnd kyn sitzen, die yhm von gott befolhen sind, leufft auch tzu S. Jacob odder hyr und dar, sihet nit an, wie seyn beruff und befelh viell eyn anderer ist, denn des heyligen, dem er folgt. Alßo thun sie auch mitt stifften, fasten, kleydung, feyr, pfafferey, muncherey, nonnerey, es ist eyttel hynder sich sehen nach den iungern, die Christus lieb hatt, und den rucken keren tzu dem befelh und beruffen der folge Christi, sprechen darnach: es sey wolthun, haben den heyligen folgett.« WA 10, I, 1, 307, 13ff. 152 »Szo mochstu sprechen: Wie aber, wenn ich nit beruffen bynn, was soll ich denne thun? Anttwortt: wie ists muglich, das du nit beruffen seyest? du wirst yhe ynn eynem stand seyn, du bist yhe eyn ehlich man odder weyb odder kind odder tochter odder knecht odder magt. Nym den geringsten stand fur dich, bistu en ehlich man, meynstu, du habst nicht gnug tzu schaffen ynn demselbenn standt? tzu regirn deyn weyb, kind, gesind unnd gutter, das es alles gehe ynn gottis gehorsam und thuest niemand unrecht? Ja, wenn du vier kopff unnd tzehen hend hettist, du werist yhm dennoch tzu wenig, das du wider wallen noch yrgen eyn heyligen werck durffst fur dich nhemen. …
Ist das Pilgern trotzdem erlaubt?
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So wird nach Luther Gott am letzten Tag nicht danach fragen, wie viel man gebetet, gefastet, gepilgert oder das eine oder andere getan hat, sondern einzig und allein danach, wieviel man für die Geringsten getan hat.153
Ist das Pilgern trotzdem erlaubt? Mit seiner Kritik an der kirchlichen Lehre berührt Luther das grundlegende Welt- und Selbstverständnis der Menschen seiner Zeit wie auch die Frage nach dem richtigen und wahrhaftigen Leben, wie wir dies am Beispiel des Pilgerwesens dargestellt haben. Seine Kritik hat indessen Konsequenzen in viele Richtungen. Luthers Kritik richtet sich gegen die Lehre und die daraus folgende Praxis des Pilgerns. Trotzdem ist seine Kritik nicht einseitig und lehnt das Pilgerwesen vollständig ab. Die Pilgerzentren können durchaus eine wichtige Aufgabe erfüllen. Bereits 1520, im Jahr seiner reformatorischen Hauptschriften, betont Luther in An den christlichen Adel, dass das Pilgern an und für sich nicht falsch, aber als Folge der Kirchenlehre »übel geraten«154sei, worauf bereits Item: bistu eyn furst, herr, geystlich odder weltlich, wer hatt mehr tzu thun denn du?« WA 10, I, 1, 308, 6ff. Siehe entsprechend ibid: 309, 15–20. 153 »Sihe da wo seinn die mussigen / die nit wissen wie sie gutte werck thun sollen? wo sein sie / die zu Rom / S(ankt) Jocob / hyr vnd dar lauffen? Nym ditz einige werck der Messen fur dich / sich an deines nehsten sund vnnd fal / erbarm dich seinn / lasz dichs iamernn / klags got vnnd bit dafur / desselben thw vor alle ander nodt der Christennheit / besondern der vbrickeit /… Thustu das mit fleysz / szo bisz gewisz / du bist der beste(n) streyter vn(d) hertzog eyner / nit allein widder die turcke(n) / sondern auch widder die teuffel vn(d) hellissche(n) gewalt. Thustu es aber nit / was hulff dichs das du alle wunder tzeichen aller heiligen thetist / vnd alle Turcken erwurgktist / vnnd doch schuldig erfunden wurdist / als der seines nehstenn nodturfft nit geacht hette / vnnd dadurch widder die liebe gesundiget. Dan Christ(us) wirt am iungsten tag nit frage(n) wieuil du fur dich gebeten / gefastet / gewallet / disz odder das than hast / sondern / wieuil du den andern den allergeringstenn / wol than hast.« StA 2, 55, 6–20. 154 »Zum zwelfften, das man die walfarten gen Rom abethet, odder niemant von eygener furwitz odder andacht wallen liesse, er wurd dan zuvor von seinem pfarrer, stad odder ubirhern erkant gnugsam und redlich ursach haben. Das sag ich nit darumb, das walfarten bosze seyn, szondern das sie zu disser zeit ubel geratten, dan sie zu Rom kein gut exempel, szondern eytel ergernisz sehen, unnd wie sie selb ein sprichwort gemacht haben ›Yhe nehr Rom, yhe erger Christen‹, bringen sie mit sich vorachtung gottis und
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Kritik am Pilgerwesen
andere Luther-Forscher hingewiesen haben,155 und veranschaulicht dies am Beispiel des ethisch fragwürdigen Aufwands von Zeit und Geld. Gleichzeitig räumt er aber ein: »Sollte jemand aus Neugier pilgern, um andere Länder und Städte zu sehen, so lasse man ihm besser seinen Willen«.156 Neugier und Abenteuerlust sind für ihn, im Gegensatz zu den theologischen Begründungen, ein legitimer Grund für die Wanderschaft. 1522 argumentiert Luther ähnlich im Blick auf verschiedene Bußhandlungen. Das Essen von Fisch anstelle von Fleisch, das Begehen besonderer Feiertage und das Pilgern sei erlaubt und unproblematisch, sofern es aus freiem Willen geschehe, nicht aus dem Zwang und der Angst heraus, dass das Unterlassen dieser Bußübungen eine Todsünde sei. Man darf pilgern, sofern man es nicht um der eigenen Erlösung willen tut.157 gottis geboten. Man sagt: wer das erste mal gen Rom gaht, der sucht einen schalck, zum andern mal fynd er yhn, zum dritten bringt er yhn mit erausz. Aber sie sein nw szo geschickt wordenn, das sie die drey reysz auff ein mal auszrichten, unnd haben furwar uns solch stucklin ausz Rom bracht, es were besser, Rom nie gesehen noch erkandt.« WA 6, 437, 1–12. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 1520. 155 Vgl. z. B.: Tomlin, Graham, »Protestants and Pilgrimage« in: Explorations in a Christian Theology of Pilgrimage, S. 110–125. Der deutsche Kirchenhistoriker Peter Zimmerling hat diesen Punkt und das Zitat ebenfalls hervorgehoben, um zu verdeutlichen, dass sich bei Luther mehr finden lässt als eine bloße Ablehnung des Pilgerwesens. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Zimmerling keine anderen LutherTexte oder Verweise bietet, um diesen Aspekt zu vertiefen, was ich an im Weiteren tue. Zimmerling, Peter. 2005. »Hat das Pilgern ein Heimatrecht in der lutherrischen Spiritualität?« in: Ueberschär, Ellen (Red.), Pilgerschritte. Neue Spiritualität auf uralten Wegen, Loccumer Protokolle 2/05. 156 »Wer nu wolt wallen odder wallen geloben, solt vorhyn seinem Pfarrer odder ubirhern die ursach antzeygen. Fund sichs, das ersz thet umb guttis werckis willenn, das das selb gelubt unnd werck durch den pfarrer odder ubirhern nur frisch mit fussen tretten wurd als ein teuffelisch gespenst, und yhm antzeygt, das gelt unnd die erbeyt, szo tzur walffart gehoret, an gottis gebot unnd tausentmal besser werck antzulegenn, das ist an die seinen odder seine nehste armenn. Wo ersz aber ausz furwitz thet, land unnd stedt zubesehenn, mag man yhm seynen willen lassenn.« WA 6, 437, 38–438. 7. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 1520. 157 »War ist, das ich gesagt habe, Es sey gu˚t ding umb beichten. Item ich were nicht fasten, wallen, fisch essen, feyren &c. Aber doch also, das solichs frey geschehe, und niemand der keins thu˚, als mu˚ß erß thu˚n bey seim gewissen und bey ainer todsünde, wie der Bapst mit seinen blindenleytern tobet. Das gewissen woellen und sollen wir frey haben in allen wercken, die nicht zum glauben oder der liebe des nechsten dienen. Beichte nur getrost, Faste froelich so du wilt, aber dencke nicht, es mu˚sse sein, und thu˚est
Ist das Pilgern trotzdem erlaubt?
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In den Psalmenvorlesungen 1529–1532 erwähnt Luther sogar, dass er selbst gerne auf Pilgerfahrt gehen und die Wallfahrtsorte sehen wolle, wenn er könnte. Aber es ist nicht notwendig, denn wir haben Zugang zu den rechten Pilgerzielen durch die Wallfahrt im Herzen, Verstand und Geist auf der Grundlage des Evangeliums: »Ich wünschte aber, das solch und der gleichen Büchlein [Die Heilige Schrift] euch wohl gefallen, und dass euer Herz eine bessere, selige Wallfahrt darinnen finde, denn diejenige, so ihr zu Jerusalem etwa getan habt. Nicht, das ich solch Wallfahren verachte, Denn ich möchte selbst solche Reise gern tun, und nun ich nicht mehr kann [aufgrund des Banns], höre und lese ich doch gern davon, wie ich denn euch auch neulich mit Lust so gern und fleißig zuhöret, Sondern das wir solch Wallfahren nicht feiner Meinung getan haben, Gleich wie mir geschah zu Rom, [Luthers Reise nach Rom 1510–11], da ich auch so ein toller Heiliger war, lief durch alle Kirchen und Klüfte [die Krypten mit den Reliquien], glaubte alles, was daselbst erlogen und erstunken ist, Ich hab auch wohl eine Messe oder zehn zu Rom gehalten, und war mir dazumal schier leid, das mein Vater und Mutter noch lebten, Denn ich hätte sie gern aus dem Fegefeuer erlöset mit meinen Messen und anderer mehr trefflicher Werke und Gebete. Es ist zu Rom ein Spruch: ›Selig ist die Mutter, deren Sohn am Sonnabend zu Sankt Johannes eine Messe hält‹, Wie gern hätte ich da meine Mutter selig gemacht? Aber es war zu eng und ich konnte nicht dahin kommen und aß einen geräucherten Hering dafür. Wohlan, so haben wir getan, wir wussten es nicht besser, Und der Römische Stuhl strafte nicht solch ungehobelten Lügen, Nun aber, Gott gelobt, haben wir die Evangelien, Psalmen und andere heiligen Schriften, darinnen wir wallfahren mögen mit Nutz und Seligkeit und das rechte gelobte Land, das rechte Jerusalem, Ja, das rechte Paradies und Himmelreich beschauen und besuchen und nicht durch Gräber und leiblichen Stätten der Heiligen, sondern durch ihre Herzen, Gedanken und Geist spazieren.«158 sünde, so du es lessest, oder woellest für Got damit versuenen deine sünde, dann mit der meinung felstu vom glauben und bist nu nymmer ein Christen.« WA 12, 157, 23– 158,3. Reihenpredigt über 1. Petrus 1522; Predigten 1522/23; Schriften 1523. 158 »Jch wuendsche aber, das solch und der gleichen buchlin euch wol gefallen, und das ewr hertz eine besser, seliger walfart drinnen finde, denn die jhenige, so jr zu Jerusalem etwa gethan habt, Nicht, das ich solch wallen verachte, Denn ich moecht selbs solche reise gern thun, und nu ich nicht mehr kan, hoere und lese ich doch gern davon, wie ich denn euch auch newlich mit lust so gern und vleissig zu hoeret, Sondern das wir solch wallen nicht feiner meinung gethan haben, Gleich wie mir geschach zu Rom, da ich auch so ein toller heilige war, lieff durch alle kirchen und klufften (die Krypten mit den Reliquien), gleubt alles, was daselbs erlogen und erstuncken ist, Jch hab auch wol eine Messe odder zehen zu Rom gehalten, und war mir dazumal schier (fast) leid, das
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Kritik am Pilgerwesen
In einer Predigt um 1528 erzählt Luther, dass er gern Jesu Grab in Jerusalem besuchen wolle, aber nicht um des Ablasses und der Sündenvergebung willen, da dies das Grab zu einem Götzen machen würde.159 Die rechte Wallfahrt ist für ihn die Wallfahrt im Geiste, um Jesu Grab im Glauben zu küssen.160
mein vater und mutter noch lebeten, Denn ich hette sie gern aus dem fegfeur erloeset mit meinen Messen und ander mehr trefflichen wercken und gebeten. Es ist zu Rom ein spruch: ›Selig ist die mutter, der son am Sonnabent zu Sanct Johans eine Messe helt‹, Wie gern hette ich da meine mutter selig gemacht? Aber es war zu drange und kundte nicht zu komen und ass einen rustigen (derb geräuchert) hering dafur. Wolan, so haben wir gethan, wir wustens nicht besser, Und der Roemische stuel straffte nicht solch ungeschwungen luegen, Nu aber, Gott gelobt, haben wir die Euangelia, Psalmen und ander heilige schrifft, darinnen wir wallen muegen mit nutz und seligkeit und das rechte gelobte land, das rechte Jerusalem, Ja, das rechte Paradis und himelreich beschawen und besuchen und nicht durch greber und leibliche stete der heiligen, sondern durch jhre hertzen, gedancken und geist spacieren.« WA 31. I. 225b,30–226b, 24. Psalmenauslegungen 1529/32. 159 „Wird auch aus des HErrn Grabe kein Abgott gemacht. Wenn man aber also zum heiligen Grabe gehet, das man durch soelch Wallen Ablas und Vergebung der Suende bey Gott erwerben wil, Wie im Bapstum bisher geschehen ist und noch geschicht, Da gehoeren viel Tagreisen, grosse Unkost und Zehrung zu, Und man richtet doch nicht mehr aus, denn das man aus dem Grabe ein Abgott machet. S. Hieronymus hat sein Ampt zu Rom verlassen und ist gen Jerusalem gezogen das heilig Grab zu sehen, Und hette viel besser und seliger daheim bey seinem Ampt zum heiligen Grabe Wallen koennen. So gewaltig hat die Abgoetterey eingerissen auch mit des HErrn Grabe. Jch moechte es auch wol sehen, Aber nicht auff die Weise, das mir das heilig Grab zum Abgott wuerde. Wenn Gott meines Rats beduerffte und ich Jm rathen soelte, So woelte ich Jm geraten haben, Er soelte das heilig Grab an der Welt ende gebracht haben, das niemand dahin komen kuende. So were viel Abgoetterey nachblieben.“ WA 28, 421d, 34–422d,5. Reihenpredigten über Matthäus 11–15, Johannes 16–20 und 5. Mose 1528/ 29. 160 »Auff das wir recht und Christlich zum heiligen Grab wallen und dasselb kuessen, Nicht eusserlich und leiblich, wie im Bapsthum mit grosser Kost, Muehe und Erbeit geschehen ist, Sondern im Geist und Warheit, Das wir in Creutz, Truebsal, Leiden und Aufechtung durch den Glauben zu Christo komen und uns seines Tods und Grabs troesten und Jm fuer solche Wolthat und Erloesung von Hertzen dancken. Solche Ubung des Glaubens und Dancksagung ist die rechte Walfart und der rechte Kuß.« WA 28, 424d, 36–42. Reihenpredigten über Matthäus 11–15, Johannes 16–20 und 5. Mose 1528/29.
Ist das Pilgern trotzdem erlaubt?
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Bild 15: Christus und die Emmauspilger, Holzschnitt aus der Werkstatt von Albrecht Du¨ rer (1471–1528). Die Darstellung der Emmaus-Jünger als Pilger ist ein bekanntes Motiv der Kunstgeschichte. © The Metropolitan Museum of Art. Der Holzschnitt ist eine testamentarische Gabe von Harry G. Friedman, 1965. Du¨ rer, bereits anerkannter Künstler, nahm 1518 als Repräsentant der Stadt Nu¨ rnberg am Reichstag zu Augsburg teil. Er kam dort mit den Schriften Luthers in Kontakt und schuf sich daraufhin seine eigene Luther-Bibliothek. In einem Brief, den er 1520 an Spalatin nach Wittenberg schreibt, wünscht er Luther zu treffen und zu portraitieren. Luther sei ein Christ, der ihm »aus großer Angst geholfen« habe.
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Kritik am Pilgerwesen
Auf dem Weg zu einer »alten« Begründung des Pilgerns? In Luthers Texten finden wir eine komplexe Kritik der mittelalterlichen Theorie und Praxis des Pilgerwesens, vor allem des damit verbundenen religiösen und wirtschaftlichen Machtmissbrauchs. Es ist ihm wichtig, den ethischen Aspekt des guten Werkes auf den Mitmenschen hin auszurichten. Luthers Kritik gipfelt in dem Vorschlag, das Pilgerwesen insgesamt zu beseitigen, um alle damit verbundenen Probleme zu überwinden. Der zu Beginn des Kapitels zitierten Behauptung des Kirchengeschichtlers Peter Zimmerling, dass der Pilgergedanke der traditionellen lutherischen Spiritualität fremd sei, ist in gewissem Sinne recht zu geben. Innerhalb der sich im Zeitalter des Konfessionalismus entwickelnden lutherischen Tradition hatte das Pilgern keinen Platz, war sogar teilweise verboten. Im Blick auf Luthers vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Pilgerwesen, die leider in der Entwicklung des Luthertums verlorenging, erscheint Zimmerlings Analyse indessen zu schmal. Dies gilt im übrigen auch für die Arbeit des schwedischen Bischofs Carl Axel Aurelius, dessen Darstellung der Kritik Luthers am Pilgertum es nicht gelingt, der oben beschriebenen Komplexität gerecht zu werden.161 Für Luther ist nicht das Erleben eines Wallfahrtsortes an sich problematisch, aber der rechte Wallfahrtsort befindet sich in der heimatlichen Kirche und im Alltag. Zu kritisieren ist die in der Praxis des Pilgerns postulierte Bindung der Gegenwart Gottes an einen bestimmten Ort. Damit argumentiert er ähnlich wie Paulus in seiner Rede auf dem Areopag. Zugleich räumt Luther ein, dass er die Orte des Lebens Jesu und der Heilsgeschichte gerne selbst sehen und erleben würde. Gegenüber anderen Pilgerzielen wie Santiago de Compostela ist er weitaus kritischer – man könne nicht wissen, ob dort tatsächlich der Apostel Jakobus begraben seien oder aber die Gebeine eines toten Hundes.162 Entscheidend für Luther ist, dass der Besuch eines Wallfahrtsortes nicht zur Bedingung für die Seligkeit und das Heil gemacht wird. Damit hebt er die mittelalterliche theologische Verbindung zwischen heiligem Ort und 161 Aurelius, Carl Axel. 2014. Siehe besonders S. 73–81. 162 Solche Aussagen finden wir bei Luther an mehreren Stellen, siehe z. B.: WA 50, 208b, 17–209b, 2.
Ist das Pilgern trotzdem erlaubt?
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Reliquie und der dadurch zur erlangenden Seligkeit auf. Dabei stellt vor allem die kirchliche Bußtheologie eine besondere Hürde dar. Luther gibt dem Verständnis der Buße einen neuen Inhalt: Die wahre Buße besteht nicht in bestimmten, konkreten Taten und guten Werken wie dem Pilgern, sondern in einem Leben im Dienst am Nächsten. Er scheint damit zu einer von der zeitgenössischen Theologie unabhängigen Pilgerpraxis zurückzukehren zu wollen, die dem antiken Pilgerwesen gleicht. Luthers eigener Wunsch, die Stätten von Jesu Leben und Wirken zu sehen, ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Ideal von Egeria und den ersten Pilgern, die wichtigsten Stätten des Christentums selbst zu erleben, wie auch Luthers Kritik viele Elemente früherer kritischer Stimmen aufnimmt, die wir in der Einleitung des Kapitels skizziert haben. Das Pilgern ist für Luther eine Frage des rechten Gebrauchs. Er lehnt die zeitgenössische Praxis und Lehre ab, weil sie die Menschen unfrei mache, billigt aber die Pilgerschaft auf der Grundlage von Abenteuerlust, Neugierde, einem historischen Interesse und dem Wunsch, die Orte der Heilsgeschichte selbst zu erleben. Die differenzierte Haltung Luthers im Blick auf das Pilgerwesen, die wir in diesem Kapitel skizziert haben, ging im Zuge der Konfessionalisierung des Protestantismus verloren und wurde von der Lutherforschung weitgehend vernachlässigt. In der Zeit nach Luther internalisierte der Protestantismus nach und nach das Pilgerideal. Das bekannteste Beispiel ist die weit verbreitete, 1678 verfasste Pilgerreise zur seligen Ewigkeit von John Bunyan (The Pilgrim’s Progress from This World to That Which Is to Come; Delivered under the Similitude of a Dream), eine allegorische Darstellung des christlichen Lebens, die für den Pietismus prägend wurde. Die Pilgerwanderung wird hier als der Weg des Gläubigen durch das Leben verstanden, mit dessen ständigen Versuchungen und Prüfungen, aber auch dem Heilsversprechen am Ende der Reise. Die Wanderung vollzieht sich nicht mehr als konkrete Wallfahrt durch die Welt, sondern wird zum Bild der Glaubensentwicklung des inneren Menschen. Diese allmähliche Entwicklung des Protestantismus können wir hier allerdings nicht weiter verfolgen.163
163 Zum Verständnis, wie das Ziel der Pilgerwanderung sich sowohl auf katholischer als auch protestantischer Seite in Richtung auf die Glaubensentwicklung des inneren
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Kritik am Pilgerwesen
Der hier skizzierte historische Abriss der Kritik am Pilgerwesen mit dem Schwerpunkt auf Luther wirft eine Reihe interessanter Fragen auf, unter anderem im Blick auf das Verständnis des Heiligen: Wie kann man angesichts der nuancierten Auseinandersetzung Luthers mit dem Pilgerwesen das Konzept des »Heiligen« und des Pilgerns konstruktiv weiterdenken? Wie, wenn überhaupt, lässt sich »das Heilige« vom Allgemeinen, vom Profanen unterscheiden? Wir werden diesen Fragen im Folgenden nachgehen.
Menschen ändert, siehe: Aurelius, Carl Axel. 2014. På helig mark – pilegrimen i historia och nutid. Skellefteå: Artos & Norma.
5.
Auf der Suche nach dem Heiligen. Wenn »das Heilige« unterschiedlich erlebt und erfahren wird »A work of art is more than an object and can do more to its audience than a commodity« (Daniel Birnbaum)164
Das eigentliche Ziel der Pilgerfahrt, der heilige Ort, wirft auch philosophische und theologische Fragen im Blick auf den Begriff »Ort« auf. Gibt es authentische Orte, d. h. Orte oder Objekte an Orten mit besonderen Eigenschaften, die, wenn wir uns an diesem Ort aufhalten oder für den Ort oder das Objekt dort offen sind, dabei helfen, uns zu dem zu machen, was wir »wirklich« sind? Gibt es Orte, die entscheidende Voraussetzungen für unsere Selbstverwirklichung haben? Haben Orte kraft ihrer selbst oder ihrem »Eigengewicht« eine transformative Energie? Im Mittelalter hatten die heiligen Stätten für viele eben jene verändernde Kraft, durch die Gott in besonderer Weise zur Heilung von Körper und Seele nahe war. In der Kathedrale war der Himmel am nächsten, die Wirklichkeit am wahrsten, und an keinem anderen Ort war der Mensch Gott näher. Mit dem Aufkommen des neuzeitlichen Weltbilds verloren die Kathedralen viel von ihrer transformativen Energie. Es stellt sich die Frage, ob es solche authentischen Orte gibt, unabhängig vom Glauben, unabhängig von den Personen, die den Ort besuchen, unabhängig vom Subjekt, oder ob die Existenz authentischer Orte an ein bestimmtes Weltbild gebunden ist.
164 Daniel Birnbaum (Kurator der 53. Biennale in Venedig), Fare Mondi Making Worlds. Exhibition. La Biennale di Venezia, 53. Esposizione Internationale d’Arte, Venezia 2009, S. 187.
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Auf der Suche nach dem Heiligen
Die Bedeutung des Ortes für die Verwirklichung des Subjekts Für den Philosophen und Ethiker Jeff Malpas gibt es keine solche Orte. Die spätmoderne Erkenntnis zeigt, dass sich kein Ort von einem anderen Ort oder vom Subjekt abgrenzen lässt, jeder Ort ist mit anderen Orten verbunden. Ebenso wenig, wie ein Subjekt isoliert gedacht werden kann, gibt es isolierte Orte. Die Selbstverwirklichung des Subjekts muss daher durch Offenheit und Sensibilität (mit Charles Guignon: releasement165) für die Umgebung geschehen. Selbstverwirklichung vollzieht sich durch die Spannweite verschiedener Begegnungen, und, im weiteren Sinne, durch die dialogischen Prozesse, die durch diese Begegnungen initiiert und teilweise repräsentiert werden. Ein möglicher Aspekt der Selbstverwirklichung besteht in der Offenheit und Sensibilität für den Ort. Malpas lehnt die Existenz authentischer Orte ab, gleichwohl ist für ihn jeder gegebene Ort auf andere Orte bezogen und mit ihnen verbunden. Damit reformuliert er die vielen alltäglichen Erfahrungen mit Begegnungen und Orten, durch die und an denen sich die Selbstverwirklichung vollzieht.166 Malpas Denken beruht auf der spätmodernen Kritik der Moderne und des in sich selbst ruhenden Subjekts, die das Subjekt nicht als autark, sondern dialogisch versteht. Die Selbstverwirklichung geschieht für sie nicht auf der Grundlage innerer Quellen, einer authentischen Seinsweise oder durch das Aufsuchen authentischer Orte im Glauben daran, dass diese das Subjekt zu sich selbst bringen können, sondern durch das Offensein für und das Sicheinbindenlassen in die Umgebung, wozu auch die konkreten Orte des Alltags gehören. Es stellt sich hier die Frage, ob die menschliche Erfahrung des Heiligen und der heiligen Stätte damit umfassend beschrieben ist. Oder gibt es spezielle Orte, die kraft ihrer selbst einen Charakter oder eine Würde besitzen, die in der Lage sind, uns eine Richtung zu geben, die uns erzählen können, wer wir sind und wie wir unser Leben führen sollen? Gibt es einen 165 Guignon, Charles. 2004. On Being Authentic, Routledge, London und New York. 166 »Our being given over to place – our being released to it – is not a being given over to the exceptional, to the utopic, to the secret, or to the subterranean, but to the ordinary and everyday world that is, as Wordsworth puts it, ›the world / Of all of us‹.« S. 17: http://jeffmalpas.com/wp-content/uploads/2013/03/From-Authenticity-to-Release ment-Place-Authenticity-and-the-Self.pdf.
Unterschiedliche Erfahrungen mit heiligen Stätten
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Ort, der den Alltag und das gewohnte Allerlei transzendieren kann? Existieren die heiligen Orte der Tradition auch für den spätmodernen Menschen? Das komplexe und facettenreiche Phänomen des spätmodernen Pilgerns provoziert so die Frage nach dem Verständnis des Heiligen.
Unterschiedliche Erfahrungen mit heiligen Stätten Was ist Wirklichkeit? Worin unterscheiden sich profane und heilige Orte, profane und heilige Gegenstände? Was meinen wir mit heilig, abgesehen von der Transzendierung des Profanen? »Das Heilige« kann als der höchste und wahrste Ausdruck der Wirklichkeit verstanden werden, in dem eine göttliche Präsenz den Alltag überstrahlt und verwandelt. Das Erleben des Heiligen erschüttert mich, erweckt Ehrfurcht in mir, die Erfahrung des Heiligen ist eine verwandelnde Erfahrung und oft, wenn auch nicht notwendigerweise, an einen Ort oder Gegenstand gebunden. Oder aber ich erfahre das Heilige leise und demütig, als eine mich durchströmende göttliche Gegenwart, die mehr und größer ist als ich und die gesamte erfahrbare Welt: In und durch diese Erfahrung des Heiligen erkenne ich klar, wenn auch nur stückweise und flüchtig, wer ich bin und wo ich hingehöre, und ich sehe und erahne einen größeren Sinn für mein Leben. Oder ich erfahre das Heilige in der Stille, die mein Leben bestätigt und meine Existenz und Wirklichkeit als göttliches Geschenk deutet. Wir sehen: Es gibt viele Erzählungen und Modelle, wie Menschen das Heilige verstehen. Das eigentliche Ziel der Pilgerwanderung ist seit je her die heilige Stätte, die Kathedrale am Ende der Pilgerreise, in der die heiligen Reliquien aufbewahrt werden. Gleichzeitig wird, wie in den vorangehenden Erzählungen im ersten Kapitel beschrieben wurde, das Heilige und der heilige Ort im Blick auf das Besondere der Pilgerwanderung und der Ankunft unterschiedlich erlebt. Erfahrungen mit dem Heiligen und der Glaube an eine heilige oder göttliche Gegenwart in Menschen, Objekten und an bestimmten Orten finden wir in allen Kulturen und Religionen. In der Warteschlange zur Reliquie in der Kathedrale von Santiago de Compostela oder zum Stein, auf den Jesus nach seinem Tod in der Grabeskirche in Jerusalem gelegt wurde, sind vor allem Süd- und Osteuropäer stark vertreten. Die verschie-
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Auf der Suche nach dem Heiligen
denen Formen der Begegnung mit dem Heiligen der Menschen aus dem Norden und aus Süd- und vor allem Osteuropa wird oft mit der unterschiedlichen Säkularisierung dieser Gebiete erklärt. Im Folgenden möchte ich theologisch nachweisen, dass das Argument der Säkularisierung im besten Fall nur an der Oberfläche kratzt. Im zweiten Kapitel haben wir entsprechende Argumente aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive gesehen, wonach die heutige Suche und religiöse Entfaltung als Ausdruck einer Religion im Wandel und einer neuen Spiritualität verstanden werden kann. Ich möchte mich hier um ein tieferes Verständnis der oben beschriebenen Unterschiede bemühen und dafür argumentieren, dass diese sich auch durch unterschiedliche Konzeptionen des Erlebens der Wirklichkeit und Heiligkeit erklären lassen.
Die heilige Stätte im westlichen Kulturkreis des Mittelalters167 Im westlichen Kulturkreis wurde der heilige Ort bis in die Neuzeit hinein entscheidend durch heilige Gegenstände und Artefakte, durch Reliquien, konstituiert. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, spielten Reliquien und Reliquienkulte eine sehr wichtige Rolle in der mittelalterlichen Frömmigkeit, vor allem der Volksfrömmigkeit. Der christliche Reliquienkult des Mittelalters hatte seinen Ursprung in den toten Körpern der Märtyrer und deren Gräber, die sich oft in oder unter den Altären der Kirchen befanden. Seit dem 4. Jahrhundert wurde es – zuerst in den orientalischen Kirchen, dann auch in den Westkirchen – üblich, die Körper der Märtyrer aufzuteilen, damit die ihnen innewohnende Kraft (dynamis/charis) auf mehrere Stätten verteilt und mehr Menschen zugänglich gemacht werden konnte. Später 167 Vgl. Hirvonen, Vesa. 2004. »Luther ja pyhäinjäännökset« in: Teologinen aikakauskirja 109. Nr 4, S. 376–385; ibid. 2013. »Relikvii v teologii Martina Lyutera« in: Verbum 15, S. 55–68. Bentley, James. 1985. Restless Bones. The Story of Relics. London: Constable; Kühne, Hartmut. 2000. Ostensio reliquiarum. Undersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum. Arbeiten zur Kirchengeschichte 75. Berlin, New York: Walter de Gruyter; Os, Henk van. 2001. The way to heaven. Relic veneration in the Middle Ages. Baarn: de Prom.
Unterschiedliche Erfahrungen mit heiligen Stätten
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entstand daraus die allgemeine Praxis, die Reliquien in die Altäre einzumauern, damit das Abendmahl, die Eucharistie, buchstäblich über den Reliquien gefeiert werden konnte. Außerdem wurden die Reliquien häufig in Reliquienschreinen auf oder neben den Altären aufbewahrt, nicht selten in eigenen Seitenaltären, wie wir in den Erzählungen des ersten Kapitels gesehen haben. So ist es bis heute. Die Reliquien wurden zum Gegenstand der Hoffnung auf Krankenheilungen, sie wurden in Prozessionen durch die Stadt getragen, um Katastrophen zu vermeiden, es gab Flurprozessionen mit der Bitte um eine gute Ernte, reiche und mächtige Personen hatte ihre eigenen Reliquienschätze und Sammlungen, mit ihnen wurde gehandelt, um sie wurden Kriege geführt, und sie waren wichtig für den Ablass, der Vergebung zeitlicher Sündenstrafen. Die wichtigsten Reliquien schufen die größten und bedeutendsten Wallfahrtsorte, sie wurden an besonderen Festtagen oder in bestimmten heiligen Jahren ausgestellt und verehrt. Das kirchliche Verständnis der Reliquien und die durch die Kirche beeinflusste Reliquienpraxis der Volksfrömmigkeit stimmten indessen nicht immer überein. Oft waren es gerade diese Praktiken, die Anlass zu einer kritischen theologischen Reflexion und Lehrentwicklung gaben. Thomas von Aquin scheint den Einfluss der Reliquien auf die mittelalterliche Frömmigkeit reduzieren zu wollen, wenn er betont, dass Gott in Gegenwart der Reliquien (in earum praesentia) Wunder tut. Man sollte weiterhin die Reliquien aufsuchen, auch wenn die Wunder und Heilungen nicht durch die Reliquien selbst geschehen.168 Ihnen komme nur eine »relative Ehre« zu. Das Konzil von Trient (Session XXV, 1563) scheint demgegenüber eher das Reliquienverständnis der Volksfrömmigkeit zu bestätigen: Die Heiligen waren zu Lebzeiten lebende Glieder Christi und Tempel des Heiligen Geistes und sollen deshalb von allen Gläubigen verehrt werden, außerdem wolle Gott durch die toten Körper der Heiligen (per quae) den Gläubigen viele Wohltaten schenken.169 168 Thomas Aquinas, Summa III:25. Hierbei sind die Positionen der Kirchengeschichtler Hauck und Kattenbusch wie auch die Debatte über Thomas und das hochmittelalterliche Verständnis der Reliquien in The Catholic Encyclopedia interessant, vgl. »Doctrine regarding relics« in The Catholic Encyclopedia, vol 12: Philip II-Reuss. Siehe: http://www.ccel.org/ccel/herbermann/cathen12.txt. 169 »die hl. Leiber der hl. Märtyrer und anderer mit Christus Lebender, die lebendige Glieder Christi und ein Tempel des hl. Geistes waren und die von ihm zum ewigen
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Auf der Suche nach dem Heiligen
Im Hochmittelalter zeigt sich eine neue Konzentration auf das Abendmahl, es entwickelt sich die Lehre der Transsubstantiation. Die verwandelten Elemente des Abendmahls spielen von nun an eine entscheidende Rolle im Hinblick auf das Verständnis der göttlichen Gegenwart. Im 13. Jahrhundert beginnt die Praxis des Glockenläutens während der Feier der Messe. Das Klingen der Glocke soll signalisieren, wann sich die Verwandlung von Brot und Wein, der Elemente des Abendmahls, die Transformation der Natur, die Transsubstantiation vollzieht. Das verwandelte Brot, die Hostie, wird nach der Messe in einem eigenen Schrein, dem Tabernakel, aufbewahrt, der verwandelte Wein wird getrunken. Nach und nach beginnt die Tradition des roten Lichts, das allen Besuchern der Kirche die göttliche Gegenwart in der im Tabernakel aufbewahrten Hostie vergegenwärtigen soll. Darin zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen den geweihten Kommunionselementen und den Reliquien: während nach kirchlicher Lehre Gott durch die Transsubstantiation in den Elementen gegenwärtig ist und diese deshalb heilig sind, gibt es keine entsprechende Transformationslehre für die Reliquien. Während die Westkirche im Mittelalter die »Welt« durch das religiöse Oberhaupt des Papstes als eine Welt zusammenhielt, teilt die Reformation Westeuropa in Nord und Süd. Im Norden wird Heiligkeit nun auf eine andere Weise erfahren und verstanden. Durch die Entwicklung des wissenschaftlichen Weltbilds der Neuzeit wird der Finger einer toten Person nun eher mit der Natur, mit Tod und Verfall assoziiert denn als ein Gegenstand verstanden, der als Ausdruck des Heiligen Ehrfurcht einflößen und einen religiösen Kult schaffen kann.
Leben auferweckt und verherrlicht werden, von den Gläubigen verehrt werden müssen, und daß durch sie (per quae) viele Wohltaten von Gott den Menschen geschenkt werden« DZ 985.
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Bild 16: Ein Pilgerblatt von 1615. Das Plakat zeigt die wichtigsten Reliquien der Kathedrale zu Aachen, die die Pilger aufsuchen konnten. Foto: Roger Jensen.
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Auf der Suche nach dem Heiligen
Die Reformation – auf der Suche nach einer anderen Rede von Gott und Welt Die Reformation kritisiert die mittelalterliche Theologie und religiösen Praktiken im Blick auf die Reliquien, heiligen Stätten und Pilgerfahrten. Luther zielt auf eine Reformation der Kirche, nicht auf die Gründung einer evangelischen Kirche. Im Streit um die Reformation weichen indessen die theologischen Fragen und Debatten bald dem Machtkampf um die Vorherrschaft und Autorität in der Kirche. Die Fronten verhärten. Der Wunsch nach Gespräch, Debatte und Reform endet in der Aufteilung Westeuropas in einen protestantischen Norden und ein katholisches Südeuropa.
Die lebenden Reliquien170 Luthers Kurfürst Friedrich der Weise besaß 1520 eine Sammlung von fast 19.000 Reliquien in der Schlosskirche in Wittenberg. Jede Reliquie konnte einen Ablass für hundert Tage erwirken – zusammen also eine Erlassung von fast zwei Millionen Jahren Fegefeuer. Unter den Reliquien befanden sich ein Stumpf von Aarons Stab, ein Stück des brennenden Dornbuschs, in dem Gott sich Moses offenbarte, ein Tropfen Milch von Marias Brust und die Gesichtshaut des Apostels Bartholomäus.171 Luther versuchte sogar selbst vor seiner Zeit als Reformator, dem Kurfürst bei der Vergrößerung der Reliquiensammlung zu helfen. Im Jahr 1516 half er bei dem Versuch, die Reliquien der 11.000 christlichen Jungfrauen, die sich in Köln befanden, nach Wittenberg zu bringen. Der Legende nach wurden die Jungfrauen bei der Rückkehr von einer Pilgerreise nach Rom auf dem Weg nach Köln getötet.172 Zur gleichen Zeit betonte Luther noch tra170 Zu diesem Kapitel siehe besonders Vesa Hirvonen. 171 Kühne, Hartmut. 2000, S. 410. 172 Kalkoff, 1907, S. 69. WA Br 1,77–79. Die Legende von den 11000 Jungfrauen ist verknüpft mit der Geschichte von Ursula, der Tochter eines christlichen Königs in England. Zusammen mit den 11000 Jungfrauen begab sie sich auf eine Pilgerreise nach Rom. Auf dem Rückweg wurde sie zusammen mit den Jungfrauen von den Hunnen überfallen und ermordet. Es ist ungewiss, ob die Legende auf historischen Fakten beruht. Die Zahl 11000 geht vermutlich auf einen Lesefehler zurück: Das M nach der
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ditionell theologisch, dass die Reliquien selbst heilig seien, unabhängig davon, ob die Menschen sie respektierten oder nicht.173 Noch im gleichen Jahr beginnt sich sein Reliquienverständnis allerdings zu verändern: Zwar hält Luther an der Heiligkeit des Kreuzes Jesu, an der Kreuzreliquie, fest, meint aber nun auch, dass die von den Christen durch Unrecht, Verfolgungen und Hass erduldeten Leiden die wichtigsten Reliquien seien (Sanctissimae sunt reliquiae).174 1518 lässt sich eine weitere Verschiebung erkennen. Luther spricht nun von den inneren Reliquien, auf die wir uns anstelle der äußeren konzentrieren sollten. Allerdings seien die äußeren Reliquien für die einfacheren Seelen oder derjenigen, die am Beginn ihrer »irdischen Pilgerschaft« stehen, weiterhin wichtig.175 Diese Veränderung zeigt sich auch in Luthers berühmten 95 Thesen zum Ablass, die er 1517 zur akademischen Debatte an Allerheiligen an die Wittenberger Kirchentür heftet, gerade an dem Tag, an dem Wittenberg voller Pilger war, die jedes Jahr die Stadt besuchten, um die kurfürstliche Reliquiensammlung zu sehen. Luther verurteilt in seinen Thesen nicht die Pilgerfahrten zu den Reliquien, die wahren, eigentlichen Reliquien sind aber die von den Märtyrern erlittenen Leiden und Opfer, die die Körper der Märtyrer erst zu Reliquien machen. Diese eigentlichen Reliquien sind so wertvoll, dass sie nicht in Gold, Silber, Edelsteinen oder Seide, sondern nur in den menschlichen Herzen aufbewahrt werden können.176 Luther verlagert das Interesse von den einzelnen Objekten hin zum gelebten Leben. Es stehen nicht länger die von Christus berührten Objekte oder andere Reliquien im Zentrum des Interesses, obwohl er in der Anfangsphase deren Heiligkeit nicht leugnet, nun aber sind es die Leiden, die
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römischen Zahl XI kann sowohl 1000 bedeuten als auch eine Abkürzung für Märtyrerin sein. Die Legenden von Ursula und den Jungfrauen spielte eine wichtige Rolle in der Kirchengeschichte. WA 1, 90, 29–30. WA Br 1, 38, 18–24. »…ist das innerlich Heilthum, das solten wir suchen, und nicht das auswendig ist. Wiewol der Heiligen bein sol man in silber sassen. Es ist auch gut und wol gethan. Man mag auch der Milchseugling wegen viel zulassen, das Bilde und ergleichen, die man einem andern verbieten mus. Darumb die da eines hohen grades sind, sollen die ding gering achten und die augen hoeher auff heben, denn Christus wird inen ein bessers fuer die thuer bringen, das sie in aller welt finden moegen.« WA 1,271, 7–13. WA 1, 613, 23–30, 33–37; 614, 5–9. Vgl.: WA 1,424, 11–24.
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die Menschen zu Christus gebracht haben und die durch Christus vorgelebte Lebensform, die als innere Reliquien in den menschlichen Herzen aufbewahrt werden sollen.177 In den Jahren nach 1520 lehnt Luther die Reliquien immer mehr ab. Dabei spielt insbesondere die Ethik eine Rolle: Die Konzentration auf die Reliquien führt zum Vergessen oder der Vernachlässigung der Leiden anderer Menschen. Nach Luther ist die Hilfe für unseren Nächsten ein göttliches Gebot (mandatum dei), während die Reliquienverehrung nur eine menschliche Verordnung (merum studium hominum) darstellt.178 In einem Brief an Spalatin von 1521 äußert er seine große Unzufriedenheit mit den kurfürstlichen Reliquien, das starke Interesse des Kurfürsten an dieser Sammlung führe dazu, dass er die Armen in Wittenberg übersieht und vergisst.179 In einer Predigt anlässlich der Kreuzmesse 1522 betont Luther, dass er nichts gegen das Fest des Kreuzes Christi einzuwenden hätte, dass es aber auf eine falsche Weise gefeiert werde, wenn man darüber den leidenden Nächsten, den er als lebende Reliquie (»das lebendige hayltumb«) bezeichnet, vergesse:180 Christus trägt sein Kreuz, und wir sollen unser Kreuz tragen. Weil die toten Reliquien die lebenden Reliquien überschatten, wünscht Luther, dass alle Reliquien aus den Kirchen entfernt werden sollen.181 Neben seiner ethischen Argumentation, die er in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt, hebt Luther nun hervor, dass die Reliquien im Gegensatz zum Wort Gottes keine heiligende Kraft besitzen. Das heiligende Wort Gottes ist für ihn die eigentliche Reliquie, das Evangelium überstrahle alle anderen Reliquien. Wären wir im Besitz aller Gebeine Petri, würden diese doch nicht eine einzige Person, Kirche oder einen Tag heiligen. Lägen alle Gebeine der Heiligen auf einem Haufen, würden sie mich doch nicht heiligen. In dem Augenblick jedoch, an dem man über das Wort Gottes 177 178 179 180 181
WA 6, 118, 38–119,6. WA 7, 735, 27–736,7 (1521). WA Br 2, 405, 14–19. WA 10/3, 332–341. »Darumb solt man die ergernus alle auss dem weg thun und allein den blossen glauben leren, darum wolt ich das man alle creüz umbstürzt, die also gschwizt haben und geblut, damit dann die walfarten und das gepler aufkommen ist, das da solchen grosen jrtumb und missbreüch gemacht hat.« WA 10/3, 335, 17–20.
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nachdenkt, wird man geheiligt – nicht so sehr aufgrund der Handlung selbst, sondern aufgrund des Wortes. Die Heiligkeit des Wortes heiligt auch den Ort und die Zeit des Nachdenkens (»die stell und stunde auch heilig sein«).182 Luther führt also vor allem zwei Argumente gegen die Reliquien an. Auf der Grundlage seiner Ethik kritisiert er, dass durch den Reliquienkult der Nächste in seinem Leid vergessen wird, und er lehnt den zu seiner Zeit weit verbreiteten Glauben an die heiligende Kraft der Reliquien ab. In den Jahren nach 1520 nimmt der Reliquienkult in der Schlosskirche in Wittenberg mehr und mehr ab. Um 1537/1538 wendet sich Luther erneut gegen die Reliquien, da sie oft auf einem Betrug beruhen: Unter den Knochen der Heiligen finden sich auch viele Reste von Hunden und Pferden. Schließlich richtet er sich gegen die Reliquienverehrung, die die Kirche als verdienstvolles Werk zum Heil der Menschen versteht und für den Ablass instrumentalisiert, was für Luther das Schlimmste des gesamten Reliquienwesens ist.183 1539 beschreibt er den Reliquienkult als eine List des Papstes, um an das Geld der Leute zu kommen.184 Luthers Ablehnung der Reliquien gleicht hier sehr seiner Kritik am Pilgerwesen, die im vierten Kapitel erörtert wurde. Im Kontakt mit der zeitgenössischen Reliquienpraxis verändert sich allmählich auch Luthers Verständnis des Heiligen. Er wendet sich vom Gedanken ab, dass bestimmte Gegenstände Träger einer besonderen, transformierenden Kraft seien oder dass Gott durch diese in besonderer Weise wirke, und konzentriert sich auf das Leben und Leiden der Gläubigen in der Welt: Von nun an versteht er das Kreuz, das alle Gläubigen auf sich 182 »Verbum ergo dei ist des heiligen tags heiligthum. Euangelium excellit omnes reliquias. Si omnia ossa Petri haberemus, tamen nemo ex illis sanctificaretur, Nec ecclesia nec dies, den es sind tod bein. Si omnium Sanctorum ossa in uno acervo iacerent, non facerent me sanctum. Sic quando meditaris verbum dei, tum illa hora etc. est sancta, non tantum propter opus, sed verbum, weil das heilig ist, so mus die stell und stunde auch heilig sein.« WA 30/1, 32, 32–33,1. Vgl.: ibid 145, 16–20. 183 »Zum fuenfften, Das Heiligthum, darinn so manche offentliche luegen und narren werck ersunden, von Hunds und Ross knochen, das auch umb solcher bueberey willen, des der Teufel gelacht hat, lengst solt verdampt worden sein, wenn gleich etwas gutes dran were. Dazu auch on Gottes wort, weder geboten noch greaten, ganz unnoetig und unnuez ding ist. Aber das ergest, das es auch hat muessen Ablas und Vergebung der sunden wircken als ein gut wreck und Gottesdienst wie die Messe etc.« WA 50, 208, 17–209, 2. 184 WA 50, 642, 22–27.
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nehmen müssen, als das richtige, heilige Leben. Der konkrete, leidende Nächste ist für ihn eine lebende Reliquie, er unterstreicht die heiligende Kraft des Evangeliums, des Wortes Gottes im Gegensatz zu einem Glauben an tote Gebeine. Schließlich heiligt für Luther das Nachdenken über das Evangelium als das Wort Gottes den Ort und die Zeit, an dem und in der dies geschieht. Luthers Verständnis des an Person, Zeitpunkt und Ort gebundenen Heiligen wurde indessen im Luthertum nicht weiter entwickelt. Als Beispiel für die wenigen Ausnahmen kann Peder Palladius gelten, der erste evangelisch-lutherische Superintendent oder Bischof von Sjælland nach der Einführung der Reformation in Dänemark-Norwegen im Jahr 1537. Palladius kritisiert die Reliquienverehrung und die Pilgerschaft mit den gleichen ethischen Argumenten wie Luther. Um 1540 besucht er alle Kirchen in seinem Stift und unterrichtet seine Stiftskinder in der neuen evangelischen Lehre und dem frommen, gottesfürchtigen Leben. Sein Visitationsbuch ist eine der wichtigsten volkskundlichen Quellen für das Dänemark des 16. Jahrhunderts. Er unterscheidet darin zwischen dem, was er als Helligdomsgang (den Gang zum Heiligtum) bezeichnet, d. h. den nun gewünschten Besuch der örtlichen Kirche, und den Pilgrimgsgang, den Besuch ferner Pilgerziele, den er als teuflisch verwirft. Interessant ist dabei seine Betonung der ethischen Seite des christlichen Glaubens: Der Helligdomsgang hat eine Dimension, die über den Besuch des Gottesdienstes in der Kirche vor Ort hinausreicht, denn für Palladius hat der Gottesdienst einen gewissen sozialethischen Aspekt der Begegnung mit lebenden Menschen anstelle der Toten (d. h. Reliquien): »Ich kann zu den lebenden Heiligen gehen anstatt zu den Toten: all die Armen und Kranken, die dort hilflos liegen…« Palladius fordert die Kirchgänger konkret auf, Brot, Butter und Käse mitzubringen.185 Sein Verständnis der Armen, Kranken und Hilflosen als die lebenden Heiligen, die man anstelle der Reliquien der toten Heiligen aufsuchen solle, gleicht Luthers Unterscheidung.
185 Palladius, Peder. 2003. En visitatsbog. Utgiven på nudansk med indledning og noter af Martin Schwarz Lausten. Anis: København, S. 141ff.
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Die Gegenwart Gottes in der Welt – in der Schöpfung und in Wort und Sakrament186 Beim Blick auf das Abendmahl entfaltet sich das veränderte Verständnis von Heiligkeit weiter. Die Reformation lehnt die Konzeption des Heiligen auf der Grundlage von Substanz und Verwandlung, die wir bei Thomas von Aquin finden, ab. Für die Reformatoren lässt sich der Heilige Geist, Gottes heilswirkende Gegenwart in der Welt, nicht an ein Zeichen oder einen Gegenstand binden. Was bedeutet dies für das Verständnis der Reliquien oder heiligen Stätten? Zur Verdeutlichung und Konkretisierung von Luthers Auffassung des Heiligen und der Gegenwart Gottes in den Sakramenten verweise ich im Folgenden auf zwei Texte. Der erste Text aus Luthers Kleinem Katechismus beschreibt in der Auslegung des ersten Glaubensartikels den reformatorischen Schöpfungsglauben an die Gegenwart Gottes in der Welt im Allgemeinen und speziell im Alltag: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erha¨lt; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Gu¨ter; mit allem, was not tut fu¨r Leib und Leben, mich reichlich und ta¨glich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem U¨ bel behu¨tet und bewahrt; und das alles aus lauter va¨terlicher, go¨ttlicher Gu¨te und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Wu¨rdigkeit: fu¨r all das ich ihm zu danken und zu loben und dafu¨r zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.«
Hier sind Natur und Kultur, die den Rahmen für den sozialen Raum und die menschliche Lebenswelt bilden, ein Ausdruck von Gottes schöpferischer Arbeit und Gegenwart in der Welt. Buchstäblich und konkret sind beispielsweise auch meine Schuhe ein Ausdruck für Gottes schaffendes Wirken in der Welt. Die Welt muss nicht verwandelt werden als Vorbedingung für die Anwesenheit Gott. Das heißt indessen nicht, dass die Welt insgesamt und alles in ihr als heilig zu verstehen sei. Der zweite Text, der das Sakrament zum Thema hat, unterscheidet zwischen der Gegenwart Gottes in 186 Siehe Jensen, Roger. 2004; Wingren, Gustaf. 41993; die Studien von Oswald Bayer, besonders seine Arbeiten: Bayer, Oswald. 1971; 1990; 1992.
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seinem schöpferischen Wirken in meinem Alltag und seiner heiligen Gegenwart für mich im Sakrament: »Es ist ein Unterschied zwischen seiner Gegenwärtigkeit und deinem Greifen … Es ist ein anders, wenn Gott da ist, und wenn er dir da ist. Denn er ist dir da, wenn er sein Wort dazu tut und sich daran bindet und spricht: Hier sollst du mich finden. Wenn du nun das Wort hast, so kannst du ihn gewisslich greifen und haben, und sagen: Hier hab ich dich…«187
Im gleichen Abschnitt, unmittelbar vor diesem Zitat, verwendet Luther die Sonne als ein Beispiel für die Gegenwart Gottes in der Welt: Man spürt die Sonne, sie scheint und ist uns so nah, dass sie uns in den Augen sticht und auf der Haut brennt. Aber man kann die Sonne nicht fassen und sie in eine Kiste stecken, sagt Luther, auch wenn man es immer wieder versucht. Man kann sie daran hindern, durch das Fenster zu scheinen, aber sie lässt sich nicht greifen und einfangen. Die Sonne scheint, ermöglicht das Leben, wir können ihre Wärme spüren, wir können aber auch die Vorhänge vor die Fenster ziehen und sie so weder sehen noch fühlen. Ebenso ist es mit der Gegenwart Christi in der Welt, in der Schöpfung. Gott ist anwesend, aber man kann ihn nicht fassen und fangen. Nur wenn Gott sein Wort hinzufügt und sich an den Gegenstand bindet, wie es im Sakrament geschieht, und mir explizit gesagt wird, dass Gott hier gerade für mich anwesend ist, dann kann ich durch das konkrete Erleben Gott greifen und im Ergriffensein durch Gott Gewissheit erfahren. 187 »Droben habe ich gesagt, Das die rechte Gotts an allen enden ist, aber dennoch zugleich auch nirgent vnd vnbegreifflich ist, vber vnd ausser allen Creaturn … Es ist ein vnterscheid vnter seiner gegenwertickeit vnd deinem greiffen Er ist frey vnd vngebunden allenthalben, wo er ist, vnd mus nicht da stehen, als ein bube am pranger odder hals eisen geschmidet, Sihe die glentze der sonnen sind dir so nahe das sie dich gleich ynn die augen odder auff die haut stechen, das du es fülest Aber doch vermagestus nicht, das du sie ergreiffest vnd ynn ein kestlin legest wenn du gleich ewiglich darnach tappest, Hindern kanstu sie wol, das sie nicht scheinen zum fenster ein, aber tappen vnd greiffen kanstu sie nicht, Also auch Christus ob er gleich allenthalben da ist, lesst er sich nicht so greiffen vnd tappen Er kan sich wol aus schelen, das du die schale dauon kriegest vnd den kerne nicht ergreiffest, Warumb das? Darumb das ein anders ist, wenn Gott da ist, vnd wenn er dir da ist, Denn aber ist er dir da, wenn er sein wort dazu thut vnd bindet sich damit an vnd spricht, hie soltu mich finden, Wenn du nu das wort hast, so kanstu yhn gewislich greiffen vnd haben, vnd sagen, hie hab ich dich…« WA 23, 150, 3–17 (Daß diese Worte Christi »Das ist mein Leib« noch fest stehen.)
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Luther beschreibt somit zwei Formen der Gegenwart Gottes in der Welt: Eine Präsenz in der Schöpfung, im Dasein, die der Schöpfung und ihrer fortdauernden Bewahrung zugrunde liegt. Die Welt muss nicht verwandelt werden als Vorbedingung für die Anwesenheit Gott – wenn Gott nicht schon anwesend wäre, gäbe es die Welt nicht. Wir sehen hier einen stark panentheistischen Zug188 in Luthers Theologie, der Gottes Gegenwart im konkreten Alltag der Menschen betont und auf unterschiedliche Weise konkretisiert, wie das oben angesprochene Beispiel der Schuhe im Kleinen Katechismus zeigt. Mensch zu sein bedeutet für Luther, durch die Natur und Kultur angesprochen zu sein. Es ist im Grunde Gott selbst, der uns dadurch anspricht und mit uns kommuniziert. Gott »spricht« zu uns durch die zwischenmenschlichen Beziehungen, im Angesicht von Armut und Not ruft Gott uns zur Verantwortung und Bewahrung. Gott wendet sich durch die Natur an den Menschen, durch das Wachsen des Kornes und die Vielfalt der Tierwelt. Alles um uns zeugt von der Größe Gottes und seiner Fürsorge für die Schöpfung. Luther bleibt in seiner Sprache konkret und erzählt vom Wespennest, vom Fingerhut, den Blättern an den Bäumen, den Windeln des Kindes – alles spricht zu uns. In einem Brief an einen ehemaligen Priester, der Seelenqualen erleidet angesichts der Frage, ob er nun heiraten dürfe, während um 1525 der Zölibat heftig diskutiert wird, beruft sich Luther auf das Wort: es sei gerade das Wort und die Anrede Gottes, die dem Samen die Kraft verleiht, die Frauen zu schwängern, und die Lust des Mannes schafft und erhält.189 Deshalb kann man freimütig den Zölibat brechen und heiraten. Ein entsprechend weites Verständnis des Wortes Gottes finden wir auch in Luthers Genesis-Kommentar. Darin betont er, wie Gott in der Welt schaffend anwesend ist und dadurch kontinuierlich zur Schöpfung spricht, indem die Geschöpfe selbst als »Gottes Wort« zu verstehen sind. Diese 188 Panentheismus ist der Glaube oder die Behauptung, dass Gott in allem anwesend ist und alles durchdringt, gleichzeitig aber nicht damit identisch ist oder darauf reduziert werden kann, da Gott immer noch mehr und transzendent ist. 189 Martin Luther, »Christliche Schrift an W. Reizenbusch, sich in den ehelichen Stand zu begeben« (1525), WA 18, 275: »Und dies ist das Wort Gottes, durch wilchs krafft ynn des menschen leib samen zur frucht, and die bruenstige, natuerliche neigung zum weib geschaffen und erhaelten werden.«
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»Worte Gottes« sind allerdings keine Worte einer menschlichen Sprache, sondern lautlose Worte, durch die Gott alle Geschöpfe und Beziehungen entstehen lässt, wie Luther in seinem Kommentar zu Genesis 1,5 schreibt: »Sonne, Mond, Himmel, Erde, Petrus, Paulus, ich du, usw… wir sind alle Gottes Worte, wenn wir auch nur eine Silbe oder ein Buchstabe sind im Vergleich mit der ganzen Schöpfung«.190 An anderer Stelle charakterisiert Luther Gottes Schaffen als voller Brunst, als brennender Backofen, voller Liebe.191 Gleichzeitig betont Luther, dass Gottes Anrede durch die Natur und Kultur ambivalent und unklar sei – in unserem täglichen Leben begegnen wir sowohl lebensspendenden als auch destruktiven Kräften. Den Gott, den wir im Evangelium von Jesus Christus erkennen, in der Stimme des Evangeliums hören, können wir nicht ohne weiteres in Natur und Kultur wiederfinden. Für Luther gibt es indessen noch eine weitere Form der göttlichen Anrede und Anwesenheit in der Welt, die über die göttliche Präsenz in meinem alltäglichen Leben hinausgeht und mehr ist als nur ein Ausdruck von Gottes Schöpfungsakt in Natur und Kultur. Luther bezieht sich hier auf ein Erlebnis der Transformation, bei der die als – recht verstanden – von der schaffenden Gegenwart Gottes erfüllte alltägliche Welt nun als selbst als heilig erfahren wird: Eine Erfahrung der göttlichen Gegenwart, die mich allzeit beschützend umgibt, Gottes errettende und bewahrende Gegenwart für mich. Die Aufgabe der gottesdienstlichen Predigt ist für Luther die Mitteilung des göttlichen Heilswillens auf eine Weise, die keinen Zweifel an Gottes gutem Willen, wie wir ihn aus dem Evangelium kennen, aufkommen lässt. Die Sakramente teilen diesen Willen auf eine physische Weise als körper190 »Sed monendum hic etiam illud est: Illa verba ›Fiat lux‹ Dei, non Mosi verba esse, hoc est, esse res. Deus enim vocat ea, quae non sunt, ut sint, et loquitur non grammatica vocabula, sed veras et subsistentes res, Ut quod aput nos vox sonat, id apud Deum res est. Sic Sol, Luna, Coelum, terra, Petrus, Paulus, Ego, tu, etc. sumus vocabula Dei, Imo una syllaba vel litera comparatione totius creaturae.« WA 17b, 15–22 (GenesisKommentar 1535/38). 191 »Denn die Liebe thut und ubet eben die selben werck, die Gott selbs thut, Was thut aber Gott? Er gibt erstlich der gantzen wellt das leben, einem jglichen seinen leib und alle gliedmas, gesundheit, liecht, lufft, wasser, feur, essen, trincken und alle notdurfft, das einem jglichen himel und erden dienen mus, Was ist nu das alles denn eitel brunst und ein glueender backofen voller liebe?« WA, 36, 425.
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liches Wort mit.192 Im Vertrauen auf das gesprochene und körperliche Wort wird der Alltag überschritten und meine Existenz verwandelt. »Glaubst du es, so hast du es, glaubst du es nicht, so hast du es nicht«, schreibt Luther in seiner Denkschrift über die Freiheit eines Christenmenschen.193 Die Erfahrung des Heiligen ist an das Gottesvertrauen gebunden, in dem das Leben und die Existenz nun als Gottes gute Gabe erfahren wird – eine befreiende Erfahrung, durch die ich meine Würde und meine Identität als Teil dieses Geschenks wahrnehme, nicht als ein Produkt meiner eigenen Bemühungen, sondern als Gabe, die mich davon befreit, mich durch meine Leistungen zu definieren. Luther unterscheidet also zwischen der lebensbewahrenden Gegenwart Gottes in der Welt und Gottes heilender Gegenwart für mich.194 In Luthers eigenem Bild: Obwohl die Sonne scheint, wärmt und Leben spendet, würde ich sie hinter geschlossenen Vorhängen nicht erkennen. Erst wenn ich den Vorhang meines mangelnden Glaubens öffne, erkenne ich, dass auch Gott für mich da ist. Beide Formen der Gegenwart Gottes sind ein Ausdruck für seine mannigfaltige Hinwendung zum Menschen und beide Arten der Anrede können nach Luther als »Gottes Wort« verstanden werden. Dieses Wirklichkeitsverständnis liegt auch der reformatorischen Dreiständelehre des status oeconomicus, status politicus und status ecclesisasticus zugrunde.195 Der Kern dieses Gesellschaftsverständnisses bestand nicht in der konkreten Dreiteilung und Typisierung der Gesellschaft, sondern darin, dass alle Stände eine eigenständige und gleichberechtigte Aufgabe in der Welt als Gottes Schöpfung haben. Damit konnten die Reformatoren den status ecclesiasticus entscheidend in seine Schranken weisen: Die in der mittelalterlichen Theologie und Kirche stark angewachsene Herrschaft des geistlichen Standes gegenüber den beiden weltlichen Ständen wurde so theologisch überwunden. Gleichzeitig erhielt der status oeconomicus, der Nährstand, eine eigenständige Aufgabe in der weltlichen Gesellschaft. Er 192 Zu diesem Sakramentsverständnis siehe: Bayer, Oswald. 1971 et 1992. 193 »…galubstu so hastu / glaubstu nit / so hastu nit.« StA 2, 271, 36–273, 2. 194 Zur weiteren Entfaltung und Problematisierung dieser Perspektiven siehe: Jensen, Roger. 2003, S. 247–266. 195 Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung (Tu¨ bingen: Mohr-Siebeck, 2003), 110–139; Martin Honecker, »Von der Dreiständelehre zur Bereichsethik. Zu den Grundlagen der Sozialethik« in ZEE (1999), 262–276.)
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sollte nicht den Einfluss der Kirche in die Gesellschaft hinein projizieren, sondern wurde als ein eigenständiger Ausdruck für die unsichtbare Gegenwart Gottes in der Welt verstanden. Das gleiche galt für den status politicus. Beide weltlichen Stände erhielten einen eigenständigen theologischen Wert. Damit überwanden die Reformatoren den Gedanken einer speziellen religiösen Sphäre zugunsten einer komplex verstandenen Wirklichkeit und Gegenwart Gottes in der Welt, die sich auch im reformatorischen Schöpfungsglauben und Sakramentsverständnis widerspiegelt, wie wir in diesem Kapitel gesehen haben. Durch dieses komplexe Erleben und Erfahren der Gegenwart Gottes in der Welt werden das Heilige und die Heiligkeit in besonderer Weise geformt. Der Protestantismus war maßgeblich an der Gestaltung von Kirche und Gesellschaft in Nordeuropa beteiligt und hat die Einstellung der Menschen zur Arbeit, Natur und Kultur geprägt. Die Erfahrung des Heiligen wurde mehr und mehr von der kirchlichen Sphäre und der religiösen Praxis in den Alltag hinein verlagert. Wie wir oben gesehen haben, kritisierte man nun radikal die Suche nach Gott und dem Heiligen durch Pilgerwanderungen zu den Reliquien an den heiligen Stätten, denn genau dies sei ein falsches Tun, das Gott nicht wolle, weil es Zeit, Kraft und Geld von den Alltagspflichten stiehlt.196 Der Gläubige findet stattdessen Gottes Willen für das menschliche Leben in den zahlreichen konkreten Herausforderungen und Aufgaben des Alltags. Hier soll das Leben im Dienst füreinander gelebt werden, durch die kleinen und großen, bewussten und unbewussten Werke 196 »Was zum Teufel hab ich zu S. Jacob zu schaffen? sol ich meinen nechsten zu Rom suchen? Es sind nechste gnug bey und umb mich als weib, kinder und andere arme leute« WA 37, 530, 6–8 (Predigten 1533/34, Dominica XIII. post Trinitatis). »Findistu eyn werck an dyr, das du gott odder seynen heyligen oder dyr tzu gutt thuest und nit alleyn deynem nehisten, ßo wisse, das das werck nit gutt ist. Alßo soll eyn man seynem weyb und kind, das weyb dem man, die kinder den eltern, die knecht den herrn, die herrn den knechten, die ubirkeyt den unterthan, die unterthan der ubirkeyt, und eyn iglicher dem andern, auch den feynden, zu lieb und dienst, leben, reden, thun, horen, leyden und sterben, das ymmer eyniß des andern hand, mund, auge, fuß, ia hertz und mutt sey; das heyssen recht Christlich, naturlich gutte werck, die on unterlaß, alle tzeytt, an allen ortten, gegen allen personen geschehen mugen und sollen. Daher sihestu, das die werck der Papisten ynn orgelln, singenn, kleyden, leutten, reuchen, sprengen, wallen, fasten &c.. sind wol schone, grosse, viele, lange, breytte unnd dicke werck, aber es ist keyn gutt und nutzlich odder hulfflich werck drunder…« WA 10. I. 2. 41, 5–17. 2. Band, Adventspostille 1522; Roths Sommerpostille 1526.
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der Menschen, die unser Leben ermöglichen. Der Alltag wird überschritten und dadurch mehr als der bloße Gegensatz zum heiligen Leben, vielmehr findet der Mensch im Vertrauen auf den Gott des Evangeliums Gottes Gegenwart und Ruf im Alltag: Der Alltag selbst wird nun als das heilige Leben wahrgenommen und erlebt. So heisst es auch treffend in einem berühmten norwegischen Kirchenlied: So ist mein Dienst groß für Gott, und das Heim ist meine Kirche, wo meine Arbeitskleider das Priestergewand sind meines ehrlichen Berufs. In der heimischen Stube herrscht Frieden, zu all meiner Arbeit steigen Engel herab, sie haben den Segen Gottes mit dabei, und der Tag ist meine Kraft.197
So nimmt die Verkündigung des Evangeliums, die befreiende Anrede in der Predigt und den Sakramenten eine Schlüsselposition im Erbe Luthers ein. Die befreiende Botschaft des Evangeliums macht meine Erfahrung des täglichen Lebens zu mehr als nur Pflichten und Plagen, sie öffnet und zeigt die Welt als Gottes Geschenk für das Leben und das Heil. In der entstehenden protestantischen Kultur Nordeuropas bildet sich ein neues Bild der Arbeit: Gerade in der täglichen ehrlichen Arbeit und Mühe lebe ich ein heiliges Leben nach dem Willen Gottes, nicht durch außergewöhnliche Handlungen wie Wallfahrten oder Pilgerwanderungen, die mich vom Ruf Gottes in meinem Alltag eher entfernen. Gleichzeitig ist die befreiende Rede des Evangeliums für Luther nicht ohne Vorbedingungen. Das Evangelium knüpft an die konkrete Alltagserfahrung der Pflichten und Mühen an, die sich im Spannungsfeld von Verrat und Benachteiligung im Kontakt mit den Bedürfnissen meines Nächsten einerseits und der Güte, Liebe und Fürsorge andererseits bewegt. Luther bezieht die negative Erfahrung des Verrats und der Benachteiligung auf Gottes schaffendes Tun, was er das »Gesetz« nennt. Die guten Erfahrungen im Alltag versteht er als Voraussetzung für den Glauben an Gott. Wie 197 Aus dem Kirchenlied Kvardagskristen vil eg vera, Text von Matias Orheim, 1909, in: Norsk salmebok Nr. 751/Ny Norsk salmebok (2013) Nr. 667.
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könnte ich an Gott glauben, wenn ich nicht daran glaubte, dass Gott mir wohl wolle, fragt Luther. Die positive Verbundenheit mit der Welt, konkreter: die Erfahrung der Liebe, bildet für Luther die Voraussetzung für den Glauben an den Gott, der sich im Evangelium offenbart198, worauf wir im nächsten Kapitel zurückkommen. Auf diese Weise denkt Luther Göttliches und Körperlichkeit zusammen, sowohl vor als auch nach dem befreienden Wort des Evangeliums – der Gläubige erfährt und erlebt die eine Welt als Gottes gute Welt, die mir im Vertrauen auf das Evangelium zum Heil gereicht wird. Paradigmatisch findet dies seinen Ausdruck im Sakrament, wie auch die physische Wirklichkeit des Sakraments sich in meinem physischen Alltag widerspiegelt: Das Heil erhält einen Körper, den die Schöpfungstheologie veranschaulicht. So ist für Luther Gottes Schaffen mehr denn eine reine Aufrechterhaltung dessen, was bereits ist. Gottes Schaffen geschieht unablässig und zielt immer auf die Neuschöpfung – erschaffen heisst, etwas Neues zu schaffen (»creare est semper novum facere«).199
198 »Nu ist droben gesagt / das solch zuuorsicht vnd glaub / bringt mit sich lieb vnd hoffnung. Ja wan wirs recht ansehn / szo ist die lieb das erst / odder yhe zu gleich / mit dem glaube(n). Dan ich mocht gotte nit trawen / wen ich nit gedecht er wolle mir gunstig vnd holt sein.« StA 2, 23, 31–24,2 (Von den Guten Werken). Zu dieser Thematik siehe: Jensen, Roger. 2004, S. 149ff. 199 WA 1, 563, 8 (Disputation über den Ablass, aus der Auslegung der 18. These, 1518). – Die Frage nach der Rolle der Erfahrung bei der Heiligung ist eine der großen Debatten der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts. Während die lutherische Theologie den entscheidenden Zusammenhang von Mensch und Gott bereits vor der Heiligung betont, wie dies programmatisch im Begriff Gesetz und Evangelium deutlich wird, lehnt der reformierte Theologe Karl Barth einen jeglichen Kontaktpunkt zwischen Gott und der Welt vor der Christus-Offenbarung scharf ab und kehrt die traditionelle lutherische Reihenfolge von Gesetz und Evangelium um: Erst Evangelium, dann Gesetz. Nur durch das Evangelium haben wir einen wahren Zugang zur Welt. Entgegen der lutherischen Zuspitzung finitum capax est infiniti (das Endliche vermag das Unendliche zu enthalten) setzt die reformierte Theologie die Formel finitum infiniti non capax (die Endlichkeit kann nichts Unendliches enthalten). Die reformierte Theologie versteht deshalb das Abendmahl rein symbolisch, Brot und Wein verweisen nur als reine Zeichen auf das Göttliche. Gott ist Geist und lässt sich in keinerlei materiellen, innerweltlichen Dingen lokalisieren. Vgl. Barth, Karl, 1946, Rechtfertigung und Recht, Christengemeinde und Bürgergemeinde.
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Das Heilige und die Erfahrung des religiösen Betrugs Die Wirren der Reformation deckten auch verschiedene Formen des religiösen Betrugs auf, die die theologische Kritik zu bestätigen schien und zu einer weiteren Beschleunigung der reformatorischen Praxis führten. In Karup lag der wichtigste Maria-Wallfahrtsort des spätmittelalterlichen Dänemarks. Der berühmte Text, um 1524 entstanden und in neuerer Zeit als Peder Smed, eine dänische Weise aus der Reformationszeit200 bekannt geworden, verspottet die mit dem Gnadenbild in Karup verbundene MariaFrömmigkeit. Die Erzählung, die explizit auf Luther verweist, behauptet, dass Marias Tränen an der Statue nur ein Betrug (der Priester) sind: Maria weint tatsächlich gar nicht, jemand lässt vielmehr zur Täuschung der Zuschauer gewöhnliches Wasser aus ihren Augen rinnen. Entsprechende Entlarvungen religiöser und kirchlicher Betrügereien führen zur gleichen Zeit in anderen Teilen Europas zu Aufruhr und teilweise sogar zu großen Unruhen. Mechanische oder »lebende« Statuen und Bilder werden als genau das entlarvt, was sie sind: als mechanisch. Die Forschung interessiert sich seit Neuerem mehr und mehr für diese Bilder als Ausdruck einer mechanischen Kultur, die ihre Blütezeit im Mittelalter hatte. Die Kirche war der wichtigste Auftraggeber für diese Bilder, die entweder fest installiert waren oder zu besonderen Festen in den Kirchen aufgestellt wurden. In England gibt es sogar Beispiele dafür, wie sie selbst als Pilgerziel dienten und große Pilgergruppen anzogen. Heinrich VIII. verbot bei der Einführung der Reformation mechanische Bilder und Statuen in englischen Kirchen. Besonders häufig waren Darstellungen von Maria, Jesus und Engeln. Im Spätmittelalter repräsentierten Maschinen etwas Lebendiges und Göttliches. Diese Eigenschaften verschwanden während Übergangs zur Neuzeit aus dem allgemeinen Bewusstsein, wie sich auch die kirchliche Praxis nach und nach
200 Das Buch Peder Smid lerer och underuiser Atzer bonde i denne Bog existiert in unterschiedlichen Ausgaben. Bis 1890 waren nur zwei Exemplare der Ausgabe von Mads Vingaard in von 1577 in Kopenhagen bekannt, das besterhaltene Exemplar wurde 1879 gefunden. 1890 wurde eine ältere Ausgabe aus Hamburg entdeckt, aus dem Jahr 1559.
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änderte. Das Konzil von Trient 1563 verbot »ungewöhnliche Bilder«, sofern sie nicht durch einen Bischof genehmigt waren.201 Luther erzählt an einer Stelle von einem solchen Bild mit Maria und Jesus, das er selbst gesehen hatte. Wenn ein reicher Mann vor der Skulptur kniend betete, richtete das Jesuskind seinen Blick auf Maria, als ob es den Mann nicht sehen wollte, so dass er Maria um Hilfe bitten musste. Hatte der Mann indessen dem Kloster eine grössere Summe Geld versprochen, wendete sich das Jesuskind ihm zu, und bei einer stattlichen Summe konnte das Jesuskind sogar den Arm ausstrecken und ihn mit einem Kreuzeszeichen segnen. Gab man jedoch wenig oder nichts, wandte sich Jesus ab. Luther lüftet indessen das Geheimnis: Eine Person sass im Inneren der Figur und steuerte sie mithilfe von Schnüren. Luther erzählt weiter, dass der König von England ein solches Gnadenbild öffentlich zur Schau stellen ließ, um zu zeigen, wie die Kirche die Menschen betrog.202 Luther selbst unterstützt 201 Siehe: Waterworth, James (Red.). 1848. The Canons and Decrees of the Sacred and Oecumenical Council of Trent, London: Dolman (bes. die 25. Session des Konzils, 235– 36). Für eine Einführung mit dem Schwerpunkt auf England siehe: Riskin, Jessica. »Machines in the Garden.« Republics of Letters: A Journal for the Study of Knowledge, Politics, and the Arts 1, no. 2. Siehe: http://rofl.stanford.edu/node/59. Es existiert ferner eine reichhaltige historische Dokumentation über die sogenannten »lebenden Bilder«. Das Gebiet ist auch kunsthistorisch sehr interessant. Ich verweise hier auf Johannes Tripps (Heidelberg) als einer der führenden Experten: Tripps, Johannes. 2000. Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin; Tripps, Johannes. 2011. »The Priest assisted by Automatons. Medieval Altars and Altarpieces with Mechanical Figures«, in Hartmann, Andreas et al. (Red.), Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln. Festschrift für Ruth E. Mohrmann, Münster – New York – München – Berlin, S. 339– 347; Tripps, Johannes. 2012. »The mechanical presentations of Marian statues in the late Gothic period«, Vortrag: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/ 2012/2106/; Franke, Birgit. 2002. »Mittelalterliche Wallfahrten in Sachsen, ein Arbeitsbericht«, in Arbeits- und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 44. 202 TR 6848 »Der Papisten Trügerei. Der Kurfürst zu Sachsen, Herzog Johanns Friederich,« sagte D. M., »hat ein Bilde im Bauern Aufruhr 1525 bekommen, welchs er noch hat. Das hab ich gesehen, nämlich Maria mit ihrem Kinde. Wenn ein Reicher dahin ist kommen, und dafür gebetet, so hat sich das Kind zur Mutter gewandt, als wollt es den Sünder nicht ansehen, drüm sollt er Fürbitte und Hülfe bei der Mutter Maria suchen. Hat er aber viel ins Kloster verheißen, so hat sichs zu ihm wieder gewandt; hat er aber noch mehr verheißen, so hat sich das Kind freundlich erzeigt und mit ausgestrackten
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diese aufklärerische Haltung, was erklären könnte, warum sich eine bewegliche Maria-Statue noch lange Zeit im protestantischen Lübeck befand und erst 1696 abgebaut wurde. Lebende Bilder dieser Art sind in Norwegen kaum dokumentiert, es gibt aber Beispiele von schwitzenden oder blutenden Kruzifixen. Am bekanntesten ist das Kruzifix in Røldal, bei dessen Flüssigkeitsabsonderung es sich allerdings nicht um einen vorsätzlichen Betrug, sondern wohl um Kondensation der Luftfeuchtigkeit bei vollbesetzter Kirche handelt. Die Objekte, denen die Menschen Geld opferten, vor denen sie knieten und beteten, durch die sie Gegenwart Gottes bei ihnen und für sie erfahren konnten, wurden nun als Konstruktionen zur Ermöglichung und Sicherung kirchlicher Finanzen, Macht und Position kritisiert. Handlungen, die jemand angesichts eines Bildes, einer Figur, eines Überrests einer verstorbenen heiligen Person oder eines Objekts, das einmal einem Heiligen gehört oder mit ihm Kontakt hatte, also angesichts einer Reliquie verrichtet, um dadurch Gottes Hilfe erwirken zu können, wurden nun abgelehnt. Die Schenkung von Geld oder das Knien oder Berühren bestimmter Objekte garantierte nicht länger die Seligkeit des Gläubigen oder die Erlassung zeitlicher Strafen im Fegefeuer, wie auch das Fegefeuer selbst als kirchliche Erfindung abgetan wurde.
Arm ein Creuz uber ihn gemacht. Es ist aber wohl gewest innwendig, und mit Schlossen und Schnüren also zugericht. Dahinter ist allzeit ein Schalk gewest, der die Schnure hat gezogen, und die Leute vexirt und betrogen, daß sie ihm sein Liedlin haben müssen singen. Wollten aber die Pfaffen, daß sich das Kindlin sollte gegen einem ungnädig erzeigen, so kehrets einem gar den Rücken zu. Ein solch Bild hat der König von Engeland auch gefunden und dem Volk geweist, und darnach zubrochen. Es wäre aber gut, dass man solch Ding aufhübe, damit unser Nachkommen könnten sehen, was die Papisten für Leute sind gewest, denn sie wollen kein Wasser betrübt haben, sie damit zu uberweisen. Dies Bilde hat Fürst Wolf von Anhalt in der Bauern Aufruhr bekommen und dem Kurfürsten zu Sachsen geschankt.« Vgl Zeunert, Susanne. 2006. Luther und die Bilder. Martin Luthers Stellung zu Kult- und Wallfahrtsbildern unter besonderer Berücksichtigung seiner Tischreden, S. 40. Magisterarbeit an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Philosophische Fakultät, Institut für Europäische Kunstgeschichte. Mentor Johannes Tripps, Heidelberg.
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Bild 17: Das Kruzifix in der Stabkirche im norwegischen Røldal. In jeder Mittsommernacht zeigten sich Schweißtropfen auf Jesu Stirn. Das Kruzifix wurde abgehängt, damit die Pilger die heilwirksamen Tropen mit einem Leinentuch auffangen konnten. Hatte man kein eigenes Tuch, konnte man eines von der Kirche leihen. Diese Tradition bestand, zuletzt heimlich, bis sie 1835 endgültig verboten wurde. Exemplare dieser Tücher befinden sich im Museum in Bergen. Foto: Arne S. Nataas.
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Das Heilige und die performative Wende Ist nun also alles in der kritischen Perspektive Luthers und der Reformation nur noch gewöhnlicher, grauer Alltag? Wenn skandinavische Pilger nicht recht wissen, ob sie in der Schlange stehen sollen, um unter den Altar in Santiago de Compostela zu gelangen, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, ist dies dann ein Ausdruck dafür, dass diese Menschen den Zugang zum Heiligen als etwas Konkretem verloren haben? Ist das Verständnis von Heiligkeit, wie wir es bei Luther gesehen haben und das Nordeuropa geprägt hat, im Konflikt mit einer Frömmigkeit, die aktiv und bewusst nach einem physischen und ästhetischen Ausdruck sucht und darin Gewissheit findet? Steht das reformatorische Verständnis des Heiligen im Widerspruch zum Pilgern und der Suche nach dem Heiligen?
Das Verständnis und der Gebrauch der Bilder Luthers Begriff des Bildes ist komplex und hat viele Facetten, wie dies heute auch generell für die deutsche Sprache gilt. Für Luther beinhaltet das Wort Bild zwei- und dreidimensionale Bilder, Abbildungen wie auch Skulpturen, aber auch mentale Bilder und Vorstellungen. Nicht zuletzt konnte Luther biblische Ereignisse und Lehrinhalte wie z. B. die Sakramente als Bilder bezeichnen.203 Das physische und konkrete Verständnis des Wortes Gottes, das wir oben im Zusammenhang mit dem Schöpfungsglauben beschrieben haben, steht auch, vor allem beim späten Luther, in Verbindung mit der Kunst. Für ihn kann man ohne Bilder weder denken noch verstehen, man muss das Wort sehen, um es recht verstehen zu können. Luther wird hier sehr konkret und spricht vom Akt des Malens oder einem Gemälde als Ausdruck für das Wort.204 Auch macht er sich die aristotelische Erkenntnislehre zu eigen: 203 Zu dieser Thematik siehe: Michael, Angelika. 2012. »Luther und die Bilder: Von Bilder, die man sieht, und solchen, die man nicht sieht« in Lutherjahrbuch 2012, S. 101–137. 204 »…ja müssen gedancken und bilde fassen des, das uns jnn worten fürgetragen wird, und nichts on bilde dencken noch verstehen können, So ists fein und recht, das mans dem wort nach ansehe, wie mans malet.« WA 37; 63, 25–27.
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Denken setzt Sinneseindrücke voraus.205 In einer Predigt von 1533 über den Glaubensartikel des Hinabsteigens Jesu in das Reich des Todes nach seinem Tod am Kreuz hebt Luther hervor, dass gerade die bildlichen Darstellungen der Gemälde die Erkenntnis und den Glauben ermöglichen – was der Gedanke nicht begreifen kann, lässt sich in einem Bild sehen.206 In der gleichen Predigt betont er, dass man geistliche Wahrheiten nur durch Bilder begreifen kann, dass die geistlichen Wahrheiten in ein Tuch gewickelt werden müssen (»Man mus so geistliche ding inn windelein legen«), weil sie nur in vermittelter Form, hier explizit durch die Kunst, zugänglich sind.207 Luthers Reflexionen haben Parallelen in der modernen soziokulturellen Lerntheorie. Für Luther hat der Mensch allerdings keinen Zugang zum Evangelium, zur Wahrheit und zu Gott allein durch das, was er in der Welt sehen und erkennen kann. Das Evangelium des geoffenbarten Christus vermittelt sich durch das verkündigte Wort – durch das Ohr und nicht das Auge.208 Durch das, was die Augen sehen können, lässt sich indessen darstellen, was das Wort nicht oder nicht hinreichend veranschaulichen kann. So gibt das Evangelium dem Menschen nicht nur eine neue Sprache zur Deutung der Welt209, sondern auch eine neue Art des Schauens, die es ermöglicht, die Welt »mit weit geöffneten Augen« (»oculos weiter auffsperren«) zu sehen.210 205 Die Ablehnung von Aristoteles und aristotelischer Anthropologie war wichtig für den Kampf um die Glaubensgerechtigkeit. Indessen setzt sich bei Luther ab 1530 eine neue Rezeption der aristotelischen Erkenntnislehre durch, wie Angelika Michael nachweist: Michael, Angelika. 2012. 123ff. In den Vorlesungen von 1532–34 argumentiert Luther mit dem Grundsatz von Aristoteles (oudepote noei anev fantasmatos e psyche), dass Vernunfterkenntnis Sinneseindrücke voraussetzt, als Modell zur Begründung seiner theologischen »Erkenntnislehre«, siehe WA 25; 337, 24–30 (Vorlesung über Jesaja, 1532/34). 206 Luthers Osterpredigten über das Hinabsteigen in das Reich des Todes aus den Jahren 1532, 1533 und 1538 sind hier sehr interessant. Für Luther darf das Hinabsteigen nicht körperlich verstanden werden, denn es ist »doch nicht mit gedancken zu Erlangen noch zu ergrunden« (WA 37; 63, 12.17f), man kann es indessen »jnn ein bild fassen« (ibid 65, 22), Osterpredigt über die Höllenfahrt Christi 1533. 207 »Man kan die geistlichen sachen nicht begreiffen, nisi in bilder fasse. Man mus so geistliche ding inn windelein legen.« WA 46; 308, 8f. 18f. ( Predigt 1538). 208 »Und ist Christi Reich ein hör Reich, nicht ein sehe Reich. Denn die augen leiten und füren uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die ohren müssen das thun.« WA 51; 11, 29–32 (Predigt 1545). 209 Siehe: Ebeling, Gerhard. 1995. »Des Todes Tod. Luthers Theologie der Konfrontation
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Die persönliche Erfahrung Luthers war indessen, dass der physische und ästhetische Ausdruck des Heiligen dazu benutzt wurde, die Menschen abhängig zu machen, indem Gottes Gnade an eine bestimmte religiöse Praxis in Bezug auf diese Ausdrucksformen gebunden wurde und sie gleichzeitig so stark von deren Nächsten ablenkte, dass sie für sein Leiden und Tod mitverantwortlich waren.211 Mit den gleichen Argumenten lehnt Luther auch die Reliquien ab, wie wir bereits gesehen haben. Auch Karlstadt, der die sogenannte reformatorische Linke repräsentierte und mit den »Bilderstürmern« sympathisierte, die die gesamte Ausschmückung der Kirchen entfernen wollten, führte dafür soziale Gründe an. Luther, der sich für die menschliche Beziehung zu diesen materiellen Ausdrucksformen interessiert, was er ihren »Gebrauch« (usus) nennt, wollte die Reliquien entfernen, nicht jedoch die Bilder. Kruzifixe und Heiligenbilder waren für ihn weiterhin wichtig, er kämpfte nur gegen deren »Missbrauch«. Luther differenziert zwischen verschiedenen Verwendungsformen, die er als Gnadenbilder, Spiegelbilder, erzählende Bilder und nützliche Bilder bezeichnet.212 Seine Kritik richtet sich dabei allein gegen die Gnadenbilder: Man soll sein Herz nicht an sie binden, sondern an Gott, dabei sollen die Bilder eine Hilfe sein. Die Bilder sollten nicht aus den Kirchen entfernt werden, meint Luther, sondern aus den Herzen der Menschen.213
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mit dem Tode«, in Wort und Glaube B. 4, S. 632; Beutel, Albrecht. 2006. Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, 159–161. »Ideo oportet oculos weiter auffsperren« WA 36; 643, 10 (Predigt vom 22. Dezember 1532 über 1.Kor. 15). »Denn wer ein byld in die kirche stelt, der meynet er habe gotte eynen guten dienst und gut werck erzeygt welchs dann rechte abgötterey ist … Man thet auch got kein dienst noch wolgefallen darinnen wenn wir jm ein bilde lassen machen und theten besser wann sie einem armen menschen einen gulden geben dann gotte ein gulden bilde« WA 10, 3, 31. Hier und im Folgenden: Zeunert, Susanne. 2010. »Bilderfrage«, unveröffentlichter Vortrag anlässlich eines Seminars der Luthergesellschaft in Bonn mit dem Thema Luther und die Kunst, Mai 2010. »Denn wir haben bisher unser Frawen, Sant Annen, Cruzifix und der gleichen bilder gemacht und die meynung darzu gehabt, das besser weren denn ander holtz und steyn, ja das wir daran Gott einen gros gefallen theten, wenn wir sie ehereten, haben also ein zuversicht darzu gehabt. Da brachten sie uns denn nicht allein umbs gelt, sondern auch umb die seel. Nu mus man solchen bildern nicht arm und beyn brechen, sie zu schlagen, denn das hertz bliebe gleich wol unrein, sondern man mus das volck mit dem wort dahyn bringen, das sie kein zuversicht haben zun bildern, als konden sie yhn
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Luther kritisiert also nicht die Herstellung der Bilder, sondern die religiöse Praxis der Bilderanbetung, die die Bilder an Gottes Stelle rückt214 und man dadurch zu glauben beginnt, dass Gott um der Bilder willen hilft (»wenn man meinet, Gott helffe umb des Bildes willen«).215 Kruzifix und Heiligenbilder sollten jedoch nicht verboten werden216, weil sie uns dabei helfen können, Gottes Heilswerk ins Gedächtnis zu rufen. Sie erinnern uns daran, Gott in unserem Herzen zu bewahren. Dieses Bildverständnis liegt auch dem Bildergebrauch in Luthers Betbüchlein ab 1522 wie auch den Darstellungen des Lebens Jesu (Passional) zugrunde, wobei er traditionsgemäß betont, dass gerade die Verwendung von Bildern diese Bücher zu einer Laienbibel mache.217 Dementsprechend setzt sich Luther für den Ge-
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helffen odder als wolten sie Gott einen besondern dienst damit thun, denn das hertz mus wissen, das yhm nichts fromet noch hilfft denn Gottes gnade und güte allein, das die bildstürmer aber solchs lereten, lassen sie wol anstehen, faren viel lieber zu und reitzen das volck, das sie die bilder stürmen, da bleibt denn das hertz vol vol Abegötterey, meynet nicht anders denn es thue wol dran und Gott ein gefallen, das die bilder stürme, und feret zu, richtet die andern, die es nicht thun … Wo aber das volck unterweisset würde, das für Gott nichts helfe, denn sein gnade und barmhertzigckeit, so würden die bilden von yhn selber wol fallen und ynn verachtung komen.« WA 16, 440, 14–31. »Das erst gebot dringt dahyn. Wir sollen alleyne einen got anbetten un keyn bilde wie es auch hernach volget: Du solt sie nit anbetten und sprechen das das anbetten ist verbotten und nicht das machen« WA 10, 3, 27, vgl. WA 28. 677, 22–34. »Wo aber bilde odder seulen gemacht warden on abgötterey, da ist solchs machen nicht verbotten« WA 18; 69, 26–28; »…sofern ichs nicht anbete, sondern eyn gedechtnis habe« ibid 70, 25f. »Darumb welche Bilder auffgericht sind oder dazu gebraucht werden, das man darauff bawe und einen Gottesdienst anrichten will, die reisse weg. Das erste Gebot wirffet sie zuvor hernider. Als wenn man meinet, Gott helffe umb des Bildes willen, wie zur Eiche, da ist ein kleines Marienbild auff ein Papir gemalet gewesen, da ist das vertrawen auff gerichtet, Maria hülffe in dem Bilde, und haben in dem Bilde Mariam und nicht GOTT angeruffen, das heisset ein Abgöttisch Bilde. Der gleichen Marien Bild ist auch gewesen im Grimmetal, Item zu Regensburg. Aber die andern Bilder, da man allein sich drinne ersihet vergangener Geschicht und Sachen halben als in einem Spiegel, Das sind Spiegel Bilde, die verwerffen wir nicht, denn es sind nicht Bilder des Aberglaubens…« WA 28, 677, 22–34. »Eyn crucifix aber odder sonst eyns heyligen bilde ist nicht verbotten zu haben.« WA 18, 68, 19–20. »Dann ich’s nicht für böse achte, So man solche geschichte auch ynn Stuben und ynn kamern mit den sprüchen malete, damit man Gottes werck ubet und wort an allen enden ymer fur augen hette, und dran furcht und glauben gegen Gott ubet. Und was
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brauch von Bildern in privaten und öffentlichen Räumen, in Büchern und in Kirchen ein – und sogar auf Friedhöfen, wie er in seiner Pestschrift von 1527 schreibt. Luther betont also einerseits die Bedeutung der Bilder und möchte sie zwar aus den Herzen der Menschen, nicht aber aus den Kirchen entfernen, andererseits setzt er sich für die Erhaltung von mechanischen Bildern ein, die den Betrug der Kirche dokumentieren, um die Menschen über diesen Missbrauch aufzuklären. Ferner bemüht er sich um die Entfernung und Zerstörung bestimmter Heiligenbilder in den berühmten Wallfahrtszielen Eich, Grimmtal, Birnbaum und Regensburg, die große Pilgerströme anzogen: Der Mensch solle durch die Verkündigung zum Glauben kommen, nicht durch Bilder. Deren Entfernung solle indessen in geordneten Bahnen verlaufen (»ordentlicher weyse werde abgethan, Nicht mit schwärmen und stürmen«).218
Der performative Wende als Deutungsperspektive Im Zeitalter der Konfessionalisierung wurde das Luthertum zum Exponenten einer Kunstauffassung, die die Kunst weitgehend als Illustration von Glaubenswahrheiten verstand. Auf der Grundlage dieser Auffassung gab es in der jüngsten norwegischen Debatte kritische Stimmen, die Luthers Theologie und Kunstverständnis als direkten oder indirekten Ausdruck von
solts schaden, ob ymand alle furnemliche geschichte der gantzen Biblia also lies nacheinander malen yn ein büchlin, das ein solch büchlin ein leyen Bibel were und hiesse? Fur war man kan dem gemeinen man die wort und werck Gottes nicht zu viel odder zu offt furhalten. Wenn man gleich davon singet und saget, klinget und predigt, schreibt und lieset, malet und zeichent« WA 10, 2, 458, 24–33. 218 »Also man die bilder zur Eychen, ym Grimmetal, zum Birnbaum, und wo solchs geleuffte mehr zu den bilden ist (wilchs denn rechte abgöttische bilder sind und des teuffels herberge) zu breche und zu störete, ist löblich und gut. Aber das die drumb sundigen sollten, die sie nicht ab brechen, ist zuviel geleret und die Christen zu weyt getrieben. Wilche damit genug thun, das sie dawidder mit dem wort Gottes fechten und streytten … . Setze eynen prediger hyn, der die leutte ab weyse odder schaffe, das mit ordentlicher weyse werde abgethan, nicht mit schwärmen und stürmen.« WA 18, 74, 21–75, 10.
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Ikonoklasmus und Bilderfeindlichkeit deuteten, was, wie wir nun gesehen haben, nicht haltbar ist.219 Die Entwicklung in der Kunst während der letzten Jahrzehnte kann uns indessen helfen, das Bild- und Kunstverständnis Luthers und der lutherischen Reformation besser zu verstehen. Vor allem die performative Wende (performative turn) in der Kunst unserer Zeit scheint der Auffassung Luthers und der Reformation zu entsprechen, worauf besonders Prof. Thomas Erne hingewiesen hat.220 Die Konzentration der zeitgenössischen Kunst auf Prozess, Interaktion, Experiment und auf den Effekt und die Konsequenzen beim Betrachter stehen in einem unmittelbaren Dialog mit der evangelischen Religionspraxis in Luthers Theologie. Die Reformation entwickelte keine neuen Zeichen oder Formen, sondern eine neue Auffassung von Zeichen und Formen, die sich am besten als hermeneutisch-pragmatisch beschreiben lässt: Was ein Bild ist, was es ausdrückt und bedeutet, wird durch den Betrachter bestimmt. Das Kunstwerk vollendet sich im Betrachter. Diese Auffassung der performativen Wende finden wir auch bei Luther.221 Kunst ist weder gut noch schlecht in Luthers Augen, sondern ein Objekt, das man besitzen kann oder nicht.222 Das Verständnis der Bilder verschiebt sich in ihre Funktion. Anstelle des Glaubens, dass Bilder eine reale göttliche, heilige Gegenwart repräsentieren, tritt nun die Auffassung, dass Bilder für mich eine Bedeutung haben können. Anstelle der Konzentration auf die künstlerische Ausführung interessiert 219 Für den norwegischen Kirchengeschichtler Geir Hellemo ist Luthers Theologie der Ausdruck für einen »konsequenten Ikonoklasmus«, für den »die Welt der Sinne eine störende Rolle bei der theologischen Vermittlung spielt«. Hellemo, Geir. 2011. Øyet som ser. Historiske perspektiv på kunst, estetikk og teologi, Oslo: Solum Forlag. 220 Thomas Erne ist Professor für Praktische Theologie in Marburg. Siehe besonders Erne, Thomas. 2011. »Ikonische Performanz«, in Luther 1/2011. Ferner: Korsch, Dietrich. 2009. »Theologische Hermeneutik populärer Kultur – fundamentaltheologisch«, in Kunstmann, Joachim und Reuter, Ingo (Hrsg.), Sinnspiegel, Theologische Hermeneutik Populärer Kultur, Paderborn, S. 37–46. 221 »Was ein Bild ist, was es aussagt, was es bedeutet, entscheidet sich im Betrachter. Das Kunstwerk wird zu einem Angebot, das sich im Rezipienten vollendet, wenn nicht überhaupt erst konstituiert… Alles das hat mit Luther begonnen.« Hofmann, Wernes. 1983. Luther und die Folgen für die Kunst, München, S. 46. 222 »Nun das wir zu den byldern komen: umb die bilder ist es auch so getan, das sie unnöttig sonder frey sein wir mugen sie haben oder nicht haben wie wol es besser were wir hetten sie gar nicht. Ich bin jn auch nit holt.« WA 10:3, 26 (Invocavit-Predigt).
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man sich nun für den Gebrauch und die Funktion der Bilder. Dadurch öffnen sich die Kunstobjekte im Hinblick auf den Sinn und die Bedeutung.223 Aus religiöser Sicht wird die Verwendung des Kunstobjekts wichtig, inwieweit sie auf sinnvolle Weise »das Unendliche«224 für den Betrachter erschließt und damit eine religiöse Funktion für ihn erfüllt oder nicht – auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Für Luther handelt der rechte Gebrauch der Objekte oder Bilder davon, inwieweit sie zum Gegenstand von Hoffnung, Sehnsucht und Glauben werden. Erwecken sie das Vertrauen des Herzens und werden sie zu Götzen, dann verliert der Mensch seine Freiheit. Luther lehnt sie aber nicht grundsätzlich ab, da sie bei richtiger Handhabung nützlich sein und der menschlichen Seligkeit dienen können.225 Der rechte Gebrauch besteht für ihn im Festhalten der göttlichen Gegenwart (Realpräsenz) im Werk bei gleichzeitiger Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und der Gottheit. Dadurch verschiebt sich das Interesse am Kunstwerk an sich auf den Ausdruck religiösen Erlebens und Erfahrens: auf den Gebrauch (usus) und dessen Wirkung und Konsequenzen für mich (pro me).
Heiliger Raum, heiliger Ort Das Verstehen dessen, was einen Raum zu einem Kirchenraum, Kunst zu religiöser Kunst und ein Bild zu einem heiligen Bild macht, entspricht der Frage nach dem Gebrauch (usus)226 und Zweck, ob es ein Medium für religiöse Erfahrungen ist oder nicht. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage nach dem Gebrauchscharakter der Zeichen. 223 Lentes, Thomas. 2007. »Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation«, in Hoeps, Reinhard (Hrsg.), Handbuch der Bildtheologie, B. 1: BildKonflikte, Paderborn, S. 213–240. 224 Vgl. Gräb, Wilhelm. 2002. Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh. 225 »Misbrauch und falsche zuuersicht an bilden habe ich alle zeit verdampt… Was aber nicht misbrauch ist, habe ich ymer lassen og heissen bleiben und halten, also das mans zu nützlichem und seligem brauch bringe.« WA 10/II, 459, 5–8 (Ein betbüchlein mit eym Calender und Passional hübsch zu gericht, 1529). 226 Weimer, Christoph. 1999. Luther, Cranach und die Bilder. Gesetz und Evangelium – Schlüssel zum reformatorischen Bildgebrauch, Stuttgart, S. 30ff.
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Die Deutungsperspektive der performativen Wende hilft auch bei der Frage nach den Kriterien, mit denen man heute einen heiligen Ort definieren könnte. Die Frage wird konkret im Blick auf eine Kirche mitten in der Woche. Ist eine evangelische Kirche ein heiliger Ort an einem gewöhnlichen Wochentag, an dem keine gottesdienstlichen Aktivitäten stattfinden? In der Perspektive der performativen Wende entscheidet die spezielle Verwendung (in usus) über die Heiligkeit des Ortes. Was ist die Kirche aber in der übrigen Zeit, jenseits des aktuellen Gebrauchs (extra usus)? Eine naheliegende Interpretation wäre, dass ein Gegenstand, ein Ort oder ein Gebäude der materielle Ausdruck einer früheren grenzüberschreitenden Erfahrung des Heiligen sein kann. Eine Kirche wird auch außerhalb des religiösen Gebrauchs immer noch als heiliger Raum erlebt, da in diesem Taufbecken meine Kinder getauft wurden, ich in diesem Raum konfirmiert wurde oder geheiratet habe, meine Eltern begraben wurden, wo wir jeden Heiligabend den Gottesdienst feiern. Diese Prägung durch frühere Grenzerfahrungen hat auch einen kollektiven Aspekt. Der Ort, der Raum, der Gegenstand erhält durch mein Wissen, dass er mit den Transzendenzerfahrungen anderer verknüpft ist, auch für mich, wenn auch auf eine andere und weniger intensive Art und Weise, den Charakter des Heiligen, weil ich diese Erfahrungen auf mein eigenes Leben beziehen und den Wert und die Funktion dieser Erfahrungen für andere Menschen beobachten kann. Der Raum ist heilig, weil er ein physischer Ausdruck oder ein Abbild und Echo früherer Grenzerfahrungen ist. Der Gebrauch schafft ein solches Abbild, was die Praktischen Theologen Klaus Raschzok und Manfred Josuttis Gebrauchsspuren und Atmosphären nennen.227 Ich kann auch Aspekte der Grenzerfahrungen aus dem Leben und den Erzählungen anderer in meiner eigenen Geschichte wiedererkennen und damit das Heilige an unerwarteten Orten finden. Gerade die Betonung des Gebrauchs, des Effekts, der Wirkung, der Konsequenzen, die phänomenologisch auf verschiedene Weise mit meinem Leben verbunden sind, lässt mich ein Objekt oder ein Gebäude als heilig wahrnehmen und erleben. Dementsprechend fühle ich mich betroffen, wenn eine Kirche nicht respektvoll behandelt wird. Dementspre227 Klaus Raschzok ist Professor für Praktische Theologie in Neuendettelsau, Bayern. Manfred Josuttis war Professor für Praktische Theologie in Göttingen. Vgl. Zimmerlings kurze Darlegung in: Zimmerling, Peter. 2005.
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chend springt die örtliche Gemeinschaft ein, wenn eine Kirche beschädigt oder in irgendeiner Weise bedroht wird, und baut eine neue Kirche, wenn die alte bei einem Brand zerstört wurde. Lutherische Kirchen waren seit der Reformation mit Bildern und Skulpturen ausgestattet. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat dokumentiert, wie im 16. Jahrhundert Bilder und Skulpturen als unverzichtbare Bestandteile lutherischer Kirchen angesehen wurden. Im Streit mit dem reformierten Lager, das ein Bilderverbot durchsetzen wollte, verteidigte und empfahl man auf lutherischen Seite den Gebrauch von Kirchenkunst.228 Noch immer beherbergt die Stadtkirche in Wittenberg, die Maria-Kirche, in der Luther wirkte, Teile der vorreformatorischen sakralen Kunst, während gleichzeitig das neue, reformatorische Bilderprogramm sehr präsent ist. Diese pragmatische Verbindung von alt und neu war in den lutherischen Kirchen in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert selbstverständlich. Zahlreiche Schätze vorreformatorischer Kirchenkunst waren in den lutherischen Kirchen bis ins 17. Jahrhundert präsent, bis die Kriegshandlungen und Plünderungen der Soldaten während des Dreißigjährigen Krieges, wie auch Diebstahl, Brände, neue künstlerische Ideale, rationalistische Nüchternheit, die konfessionell begründeten Bilderstürmer im 19. Jahrhundert, bei denen man alles, was dem vermeintlich sachgemäßen konfessionellen Ausdruck zuwiderlief, entfernen wollte, diese Kunstschätze radikal dezimierten.229 In Südnorwegen wurde die besten Stücke kirchlicher Kunst, soweit sie nicht zerstört wurden, in das königliche Schloss in Kopenhagen gebracht,während in den nördlichen Gebieten des Landes ein Teil der vorreformatorischen Kirchenkunst bis heute erhalten blieb. Das Luthertum wollte die kirchliche Kunst des Mittelalters in den protestantischen Gebieten programmatisch erhalten, betont Kaufmann.230 Einen prägnanten Ausdruck dafür bietet die Skulptur des »Engelsgrußes« von Veit Stoß im Chor der evangelischen Kirche St. Lorenz in Nürnberg, eine der wichtigsten 228 Kaufmann, Thomas. 2002. »Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum«, in Peter Blickle et al. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München. P. 411. 229 Wandersleb, Martin. 1970. Luthertum und Bilderfrage im Fürstentum BraunschweigWolfenbüttel und in der Stadt Braunschweig im Reformationsjahrhundert, Göttingen, S. 172ff. 230 Kaufmann, Thomas, 2002, 407–451.
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evangelischen Kirchen in Bayern. Die Skulptur wurde dort noch vor der Reformation um 1517/1518 aufgehängt und ist ein symbolischer Ausdruck des Grußes des Engels Gabriel an Maria (»Gegrüßet seist Du Maria«), in Form eines monumentalen Rosenkranzes mit Figuren in Lebensgröße. Die Kunst des Mittelalters erhält so eine neue Nutzung als Andachtsbild.231 Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass den Bildern in evangelischen Kirchen gern eine illustrative Funktion zuerkannt wurde und weiterhin zuerkannt wird – bei gleichzeitiger Vernachlässigung oder gar Unterdrückung der performativen Dimension des Bildes als Energieträger mit formgebender Kraft, was sich wohl durch den Mangel an Theoriebildung auf diesem Feld erklären lässt.232 Ebenso darf man nicht vergessen, dass in Dänemark-Norwegen gegen Ende des 16. Jahrhunderts viele Kunstwerke aufgrund der gewünschten Verdeutlichung des Übergangs vom Katholizismus zum Protestantismus und nachfolgender Vereinheitlichungsbestrebungen entfernt oder zerstört und alte Bilder mit Texten aus der Schrift oder dem Katechismus (den sogenannten Katechismustafeln) übermalt wurden. Die Behauptung aber, dass Luthers Bilderverständnis die Grundlage dieser Handlungen sei, ist, wie wir gesehen haben, falsch.
Der Glaube an die Gegenwart Gottes in meinem Alltag Wir haben oben gesehen, dass Luthers Denken allmählich von einem grundlegenden panentheistischen Glauben geprägt wurde, wonach Gott seiner Schöpfung gegenüber nicht fremd ist, sondern konkret und stets präsent die Welt aufrechterhält. Im Kontakt mit der Natur und seinen Mitmenschen erfährt der Gläubige das Leben selbst als heilig, im Ruf hört und sieht der Gläubige Gott selbst. Deshalb unterstreicht er traditionsgemäß Gottes Präsenz vor Ort, im Gegenstand, in den Artefakten und Bildern, betont aber gleichzeitig, dass das Göttliche sich nie vollständig und letzt231 Vgl. Fritz, Johann Michael (Red.). 1997. Die bewahrende Kraft des Luthertums, Mittelalterliche Kunstwerke in lutherischen Kirchen, Regensburg. 232 Vgl. Stoellger, Philipp. 2008. »Das Bild als unbewegter Beweger? Zur effektiven und affektiven Dimension des Bildes als Performanz seiner ikonischen Energie«, in: Boehm, Gottfried/ Mersmann, Birgit/ Spies Christian (Hrsg.) Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, Paderborn/ München, S. 182–221.
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Bild 18: Foto: Engelsgruß (1517/18) von Veit Stoß in der Lorenzkirche in Nu¨ rnberg. © Andreas Praefcke, Wikimedia Commons/Public domain.
gültig in einem Bild fassen lässt. Es ist, wie oben gezeigt, ein Unterschied, ob Gott präsent ist oder für mich präsent ist. Gott ist für mich anwesend, wenn diese Präsenz eindeutig als Freiheit und Seligkeit wahrgenommen und erlebt wird. Ein Bild wirkt nicht unabhängig vom Subjekt des Betrachters. Ein sakrales Kunstwerk ist kein authentisches Artefakt (vgl. Malpas), das das Heil magisch-realistisch, unabhängig vom Glauben des Betrachters vermittelt.233
233 »…das Heil nicht mehr auf magisch-reale Weise vermitteln, nicht mehr unabhängig
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Dabei ist allerdings nicht von einem klassisch modernen, autonomen Subjekt die Rede, vielmehr wird es relational, erst im Kontakt mit dem Objekt konstituiert.234 Gott ist in der Welt auf eine offene Weise präsent. Gottes Gegenwart zeigt sich in konkreten Zeichen, Bildern oder Objekten, aber in einer transzendierenden Weise, die stets ein Mehr bedeutet, um das Göttliche wahrhaftig ausdrücken zu können. In Luthers Perspektive ist Gott letztgültig und vollständig nur dort in der Welt gegenwärtig, wo Wort und Gegenstand vereint sind, wo die Präsenz Gottes unmissverständlich als Gegenwart für mein Heil ausgesprochen wird, durch eine befreiende und aufrichtende Zusage, die mir zur Gnade und Seligkeit gereicht. Dies geschieht paradigmatisch in der körperlichen Zuwendung, im physischen Wort des Sakraments. Wir sehen hier ein Verständnis der göttlichen Gegenwart, die für eine physische Spiritualität (und für die Kunst) einen offenen Prozess der andauernden Formgebung und Formüberschreitung impliziert, der den Idealen der performativen Wende in der zeitgenössischen Kunst nahekommt. Für den Glauben ist die Transzendenz ein Prozess, der sich von Zeichen zu Zeichen fortbewegt, sich aber auch in den institutionellen Formen der Kirche widerspiegelt, als ein »parler sans fini« (Rede ohne Ende) in einer »ecclesia semper reformanda« (eine Kirche, die sich stetig zu verändern wagt), wie Thomas Erne es beschreibt.235 Der Unterschied zwischen einer ästhetischen und spirituellen Transzendenzerfahrung in der Begegnung mit einem Kunstwerk besteht in der spirituellen Überschreitung der bloßen Ausdrucksform des Objekts durch einen Gottesbezug als externem Referenzpunkt und transsubjektiver Wirklichkeit. Während die ästhetische Transzendenz jeglichen Außenbezug verneint, hat die religiöse Kunst eine referentielle Bindung und trägt gleichzeitig zur Schaffung dieses Bezugs bei.236 Für sie ist die materielle Ausdrucksform eines Kunstobjekts nicht nur
vom Glauben, vom Subjekt des Glaubens, seinem Verstehen seiner Deutung«. Gräb, Wilhelm, Sinn fürs Unendliche, 2002, S. 126. 234 Für eine breitere Diskussion des Subjektverständnisses Luthers im Blick auf das moderne und spätmoderne Verständnis siehe Jensen, Roger. 2004. 235 Erne, Thomas, »Ikonische Performanz«, in Luther 1/2011, S. 9. 236 Vgl. Jung, Matthias. 1999. Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-
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ein Zeichen mit Hinweischarakter, die physische Form wird darüber hinaus als Ausdruck von Gottes Gegenwart verstanden, die allerdings den rein materiellen Ausdruck transzendiert. Das Verhältnis zwischen der ästhetischen und spirituellen Transzendenzerfahrung ist, wie wir sehen, sehr spannungsgeladen.237 In theologischer Perspektive besteht der rechte Gebrauch des materiellen Ausdrucks eines Kunstwerks darin, dass sich die Person, die fühlt, berührt, sieht, hört oder eine bestimmte Praxis an diesen Ausdruck bindet, sich nicht auf diesen physischen Ausdruck begrenzt, sondern sich durch ihn auf Christus selbst bezieht. Religiöse Kunst ist aus lutherischer Sicht, richtig verstanden, religiöse Gebrauchskunst. So wie erst die Verwendung einen gewöhnlichen Gegenstand von einem Kunstobjekt trennt, so unterscheidet der Gebrauch ein profanes Objekt oder einen profanen Raum von einem heiligen Objekt oder einem heiligen Raum: »Ein Kunstwerk ist mehr als ein Objekt und kann mehr auf sein Publikum einwirken als eine Ware«.238 Kunstobjekte können erst dann eine subjektive, religiöse Aneignung bewirken oder unterstützen, wenn sie nicht kultisch, sondern pragmatisch gelesen werden, wenn sie vom »Abbild« zu »Kunst« transformiert werden und dadurch eine individuelle Artikulation religiöser Erfahrungen ermöglichen.239 Die Vorstellung von authentischen Orten, die unabhängig davon, wer ich bin, mich beeinflussen und mich kraft ihrer selbst zu dem machen, der ich wirklich bin, ist seit Luther obsolet. Damit ist aber der heilige Ort als solcher nicht verschwunden, sondern entsteht durch individuelle und kollektive Interaktion von physischem Raum und menschlicher Subjektivität, Reflexion und Praxis. In dem Prozess, in der sich der Mensch durch Offenheit und Sensibilität selbst verwirklicht und befreit, kann ein Ort für mich und pragmatischen Religionsphilosophie, München, S. 385f; Erne, Thomas, »Ikonische Performanz«, in Luther 1/2011. 237 Vgl. Schwebel, Horst. 2002. Die Kunst und das Christentum. Geschichte eines Konflikts, München. 238 Daniel Birnbaum (Kurator der 53. Biennale in Venedig), Fare Mondi Making Worlds. Exhibition. La Biennale di Venezia, 53. Esposizione Internationale d’Arte, Venezia 2009, S. 187. 239 Vgl. Belting, Hans. 1990. Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München, S. 26.
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für uns zu einem heiligen Ort werden. In der Offenheit und Sensibilität des Glaubens können alle Bilder und Objekte entlang des Pilgerweges, wie auch Kultur und Natur als heilig und Ausdruck für Gottes Gegenwart und seiner mich beschützenden Nähe erfahren werden. Diese Erfahrung ermöglicht Emotionalität und Sensibilität in einer Vielzahl von Formen und Ausdrucksweisen. Das Heilige lässt sich mit »Körper und Seele« erleben.
Die verschiedenen Perspektiven der Suche nach dem Heiligen Der Protestantismus prägte Nordeuropa durch ein anderes Verständnis und einen anderen Blick auf das Heilige als das Mittelalter. Mit der Einführung der Reformation versuchte man, frühere religiöse Praktiken wie Pilgerwanderungen abzuschaffen. Reliquien wurden entfernt oder zerstört. Manche erlebten dies als Verlust, für andere war dies eine Befreiung. Man konzentrierte sich von nun an auf den Alltag und den Beruf als Berufung zum Dienst am anderen. Das alltägliche Leben in Heim und Gesellschaft wurde nun als der Ort der erschaffenden und bewahrenden Gegenwart Gottes verstanden, an dem die Menschen in und durch ihre Berufung ein heiliges Leben führen. An Sonntagen versammelte man sich, um die Verkündigung des Evangeliums zu hören und das Sakrament zu empfangen, das ein stets neues Licht auf den Alltag warf. Die Entwicklung der Kirchenmusik spielte eine zentrale Rolle im protestantischen kirchlichen Leben. Gottes Gegenwart in der Welt wurde als schaffende und heilende Fürsorge erlebt.
Volksschule, Pontoppidan und Zivilgesellschaft Die Gründung allgemeiner Schulen geschah in den protestantischen Gebieten früher als in anderen Gegenden. In Norwegen wurde die Volksschule Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt, obwohl die Kirchenordinanz von 1537, die die evangelisch-lutherische Kirche in Dänemark-Norwegen einführte, allen Handelszentren die Gründung von Schulen auferlegte. Der Unterricht konzentrierte sich auf Christenlehre und Lesen, damit alle die Heilige Schrift und Luthers Kleinen Katechismus lesen konnten, der da-
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durch neben der Bibel jahrhundertelang der meistgelesene Text Nordeuropas war. Das Katechismuswissen war in allen protestantischen Ländern entscheidend für die Konfirmation. In Dänemark-Norwegen erhielt der Katechismusunterricht eine besondere Form, als der Pfarrer Pontoppidan im Auftrag des dänischen Königs im Jahre 1737 die Schrift Sannhet til gudfryktighet (Anweisung zur Erkenntnis der Wahrheit zur Gottseligkeit) verfasste, besser bekannt als Pontoppidans Erklärung über Luthers Katechismus, die 759 thematisch gegliederte Fragen und Antworten zum Katechismus enthielt. In Norwegen wurde »Pontoppidan« bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein verwendet. Die Konfirmation und »Pontoppidan« war das Kriterium für die bürgerliche Mündigkeit, ohne Konfirmation konnte man nicht heiraten, keinen Besitz erwerben, vor Gericht aussagen oder vollen Lohn erhalten. Die Konfirmation war das entscheidende Kriterium für die Teilnahme an der Zivilgesellschaft. Für Luther stand das Auswendiglernen des gesamten Katechismus nie zur Debatte. Nur die Hauptstücke, die auf eine Seite passen, sollte man sich merken. Trotzdem wurde der Katechismus im Zeitalter des Konfessionalismus eine der wichtigsten Kennzeichen des religiösen Lernens und Wissens, das Auswendiglernen stand für einen stark kognitiven Zugang zur Religion. Es lässt sich daher behaupten, dass der Katechismus während seines jahrhundertelangen Gebrauchs im Guten wie im Schlechten die entscheidende mentalitätsprägende Macht in den protestantischen Gebieten war. Zweifelsohne sind auch die Unterschiede im Umgang mit den heiligen Stätten (vgl. die Erzählungen von Santiago und Jerusalem im ersten Kapitel) auf dieses protestantische Erbe und seiner divergenten Erfahrung der Heiligkeit zurückzuführen. Gerade auch die häufig wiederkehrende Debatte darüber, ob »der Weg oder das Ziel« der Zweck der Pilgerwanderung sei, scheint das unterschiedliche religiöse Erbe widerzuspiegeln. Während heute Pilger aus traditionell protestantischen Gebieten sich mehr auf den Weg konzentrieren, ist im Süden das Ziel wichtiger. Dass man im hohen Norden eine besondere Beziehung zur Natur hat, ist nichts Neues. In der großen Umfrage Die norwegische Wanderkultur von 1993 antworteten knapp die Hälfte der Befragten, dass es für sie wichtig sei, »die Pracht der Schöpfung Gottes zu erleben« oder »mit der Seele und Mystik der Natur in Kontakt zu
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treten«.240 Es zeigen sich hier alte, aber lebendige Traditionen in der norwegischen »Volksseele«: Die Natur als Ausdruck der göttlichen Gegenwart, wie dies auch jahrhundertelang durch den Katechismusunterricht vermittelt wurde. Auf der anderen Seite lässt sich im Blick auf den modernen Pilgern danach fragen, ob der Katechismus für die Menschen von heute immer noch eine Interpretationshilfe bieten kann, besonders für diejenigen, die durch das protestantische Erbe geprägt sind. Wir werden dieser Frage im nächsten Kapitel nachgehen.
Pilgerschaft und Spiritualität – ein Memento Die Erlebnisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit Heiligkeit, die sich unter dem Begriff der Spiritualität subsumieren lassen, sind zahlreich und mannigfaltig. Einer der führenden Forscher zum Thema Spiritualität, Bernard McGinn, verweist auf mindestens 35 verschiedene Definitionen des Begriffs »Spiritualität«.241 Ein christlich-theologisches Verständnis von Spiritualität kann, wie es Philip Sheldrake formuliert, »das ganze Leben einer vom Glauben erfüllten Person oder Gemeinde im Sinne einer Beziehung zu Gott und einer Praxis der Nachfolge« beinhalten.242 Eine wissenschaftliche Untersuchung der Spiritualität darf sich deshalb nicht nur mit schriftlichen Texten befassen, sondern muss auch Tradition und Praxis mit in den Blick nehmen. In diesem Buch untersuche ich die Praxis des modernen Pilgerns anhand eigener Erfahrungen und aktueller empirischer Forschung. Darüber hinaus untersuche ich historische Pilgertraditionen sowie deren Praxis und Praxistheorie. Ferner hat die Spiritualitätsforschung für Sheldrake sowohl mit der Suche nach Information wie auch nach dem Transformativen zu tun: Wir 240 Während 46 % die erste Alternative ankreuzen, entscheiden sich 41 % für die zweite. Vgl. Den norske turkulturen, 1993. 241 McGinn, Bernard. 2005. »The Letter and the Spirit: Spirituality as an Academic Discipline« S. 29. 242 Sheldrake, Philip. 2003. »Spirituality and Theology« in: Halvårsskrift for praktisk teologi, Nr. 2.
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wollen etwas lernen und wir sind offen dafür, dass das Gelernte etwas mit uns tut, deshalb setzen wir uns einer Veränderung aus. Gleichzeitig wird unsere Praxis auch Einfluss darauf nehmen, welche Fragen wir an die Texte und Traditionen stellen – und welche nicht. Theologisch gesehen findet nach Sheldrake die Untersuchung der Spiritualitätsformen auf zwei verschiedenen Ebenen statt.243 Die erste betrifft die »Kriterien der Eignung« – wie verhält sich die Spiritualität zu den grundlegenden Anforderungen des modernen Wissens? Hier kann man zum Beispiel danach fragen, ob die kulturanalytische Untersuchung einer Spiritualitätsform die Kriterien von Objektivität, Überprüfbarkeit und kritischer Distanz erfüllt, wie z. B. Malpas’ Argumentation gegen die Existenz heiliger Orte. Der zweite Ebene betrifft die »Kriterien der Angemessenheit« – wie verhält sich die Spiritualität zum Evangelium und dessen Konsequenzen? Wir sahen dies deutlich an Luthers historischer Kritik der zeitgenössischen Pilgerpraxis: Entspricht diese Praxis der durch das Evangelium geschaffenen, wahren Beziehung zwischen Gott und dem Menschen? Und im Blick auf Luthers ethische Kritik: Ist es angesichts der Armut und des Hungers der Menschen richtig, Geld für Pilgerwanderungen auszugeben? Diese Beispiele verdeutlichen die Relevanz der von Sheldrake beschriebenen zwei Ebenen auch für eine theologische Bewertung des modernen Pilgerns. Anhand dieser Erkenntnisse werde ich im abschließenden Kapitel diskutieren, wie die Kirche auf der Grundlage der Erlebnisse und Erfahrungen heutiger Pilger von Gott sprechen kann, und ich werde dabei die Möglichkeiten und Begrenzungen der traditionellen Rede kritisch beleuchten: Die historische Bedeutung des Kleinen Katechismus macht diesen meines Erachtens zu einem geeigneten Ausgangspunkt für mögliche Perspektiven lutherischer Theologie auf eine moderne Theologie des Pilgerns.
243 Sheldrake, Philip. 2003. »Research and Christian Spirituality« in: Tidsskrift for teologi og kirke, Nr 4.
6.
Gott und das Pilgern – heute. Auf der Suche nach theologischen Quellen zur Deutung der Pilgererfahrung Mitten im Wald liegt eine unerwartete Lichtung, die nur von dem gefunden werden kann, der sich verlaufen hat. Die Lichtung ist umschlossen von einem Wald, der sich selbst erstickt. Schwarze Stämme mit den aschgrauen Bartstoppeln der Flechten. Die dicht zusammengeschraubten Bäume sind tot sogar in den Wipfeln oben, wo einige vereinzelte grüne Zweige das Licht berühren. Darunter: Schatten, der über Schatten brütet, das Moor, das wächst. Doch auf dem offenen Platz ist das Gras sonderbar grün und lebendig. Hier liegen große Steine, wie geordnet. Es müssen die Grundsteine eines Hauses sein, vielleicht irre ich mich… (Tomas Tranströmer)244
Wir haben oben gesehen, wie die Zahl der Pilger heute wieder wächst. Aber obwohl sie die alten Pilgerwege nutzen und die Pilgerziele die gleichen sind wie im Mittelalter, ist die heutige Pilgerschaft doch ein neues Phänomen. Die Menschen des Mittelalters hatten ihre Motive für das Pilgern, die Menschen unserer spätmodernen Welt haben die ihren.
Voraussetzungen für die Rede von Gott und einer heutigen Theologie des Pilgerns Begegnung mit der eigenen Gegenwart Die Pilgererfahrungen des ersten Kapitels decken sich mit den Analysen und Erkenntnissen der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die ich im zweiten Kapitel dargestellt habe. Heutige Pilgerschaft erweist sich als ein komplexes und differenziertes Phänomen. Wie wir gesehen haben, stellt 244 Tomas Tranströmer: »Gläntan« (Die Lichtung), aus der Gedichtsammlung »Sanningsbarriären« (1978), zitiert aus: Sämtliche Gedichte, übersetzt von Hanns Grössel, 1997 Carl Hanser Verlag München Wien.
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diese Vielfalt an sich nichts Neues dar – die Pilgerwanderung war schon immer ein komplexes Geschehen, wenn auch auf andere Weise als heute. Für die Religionssoziologen Heels und Woodhead befinden sich die traditionellen Formen von Religion und Christentum auf dem Rückzug, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, und werden durch etwas ersetzt, das sie mit dem Sammelbegriff Spiritualität charakterisieren. Wendet man ihre Typologien auf das gesichtete historische Material und die Erzählungen der Gegenwart an, erscheint die Pilgerschaft als religiöse Orientierung oder Praxis in Teilen der Geschichte als Ausdruck einer Religion der Unterscheidung. Die religiöse Praxis des Pilgerns zog eine Grenze zwischen der religiösen Gemeinschaft und der Außenwelt, um damit eigene Werte und Traditionen zu stärken. Heute dagegen zeigt sich die Pilgerschaft weitaus mehr als eine Religion der Humanität, als eine liberale Offenheit für die Einschätzungen und Werte anderer, die nach Gemeinsamkeiten sucht, oder als eine subjektive Religion, in der sich die Menschen zunehmend selbst zur geistlichen Autorität ihres eigenen Leben machen und sich selektiv gegenüber religiösen Traditionen verhalten. Allerdings haben wir auch in den Erzählungen des ersten Kapitels gesehen, dass das Pilgern in kirchlichen Kreisen teilweise immer noch als religiöse Praxis einer Unterscheidungsreligion verstanden wird, die großen Wert auf Ablass und Bekenntnis legt. Und im Versuch der »Superpilger«, zwischen »echten« und »Touristenpilgern« zu trennen, lässt sich eine Art Unterscheidungsspiritualität erahnen: Obwohl die »Superpilger« sich von dem kirchlichen Versuch der unterscheidungsreligiösen Handhabung der Pilgerschaft gelöst haben können, verwenden sie in ihrer eigenen Praxis weiterhin Unterscheidungen und Kategorisierungen. Die jüngsten empirischen Studien, vor allem die im zweiten Kapitel besprochenen Analysen von Patrick Heiser und Christian Kurrat, weisen auf drei spezifische Aspekte der Pilgererfahrung und deren Wirken auf das Leben der Pilger hin. Diese Aspekte beziehen auf den Körper und die Natur, auf das Leben in den Herbergen und das Erleben der Gemeinschaft. Ich meine allerdings, dass der Aspekt im Blick auf die Herbergen vor allem für den Pilgerweg nach Santiago gilt. Die Wanderung auf dem Olavsweg nach Nidaros oder auf der Via Francigena nach Rom ist im Vergleich mit dem camino eine eher einsame Erfahrung, sofern man dort nicht mit einer or-
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ganisierten Gruppe unterwegs ist.245 Die Pilgerschaft im Sinne einer Wallfahrt, z. B. die kürzere Wanderung nach Trier, oder eine Reise an heilige Orte oder Stätten wie Jerusalem oder Rom lassen sich nicht ohne weiteres diesen Aspekten zuordnen. Für den Pilger auf einer langen Wanderschaft bilden das Erleben und die Erfahrung des Körpers, der Natur, der Kultur und Geschichte, der Beziehungen, Begegnungen und der Gemeinschaft die Grundlage des Verständnisses der modernen Pilgerschaft, auch wenn die Gewichtung dieser Aspekte von Pilgerweg zu Pilgerweg variieren wird. Für unsere spätmoderne oder postmoderne Kultur ist es typisch, weniger nach intellektuell überprüfbarem Wissen im Blick auf Sinn und Spiritualität als nach einer sinnhaften und spirituellen Praxis zu fragen. Die gegenwärtige kulturelle Situation ist gerade durch die kritische Verurteilung der Art von Sinnproduktion und Meinungsbildung gekennzeichnet, die die klassische Moderne charakterisiert, wie z. B. die Katechismustradition im Zeitalter der Konfessionalisierung.246 Viele Menschen suchen heute ihren Lebenssinn durch die Praxis – die Praxis selbst ist der eigentliche Sinn. Wir tun mehr und meinen weniger. Inzwischen scheint auch das Bedürfnis nach allgemeiner Anerkennung überprüfbarer Vorraussetzungen für unsere Meinungen weniger wichtig zu sein. Oft ist es schwer zu erklären, warum wir tun, was wir tun. Oft ist die Praxis selbst das Ziel, und nicht eine Schlussfolgerung, die man intellektuell durch Abstraktion erarbeitet oder übernommen hat. Die Motive für unsere Praxis lassen sich nicht ohne weiteres erklären. Die Hinterfragung einer Meinung wird von vielen als Missverständnis oder gar Kritik aufgefasst. In unserer spätmodernen Zeit scheint es deshalb unnötig, die Rede von Gott durch theologisch-kritische Reflexion zu hinterfragen – dies gilt besonders für eine Bewegung von unten, die den Sinn mehr durch Praxis denn durch Reflexion zu finden hofft und die im Laufe der Geschichte als Unkraut verstanden wurde und für Theologen und kirchliche Hierarchien nicht zu greifen war. So scheint es angemessen zu sein, diese wachsende Bewegung 245 Zur theologischen Interpretation der Pilgererfahrungen, besonders auf den norwegischen Olavswegen, auf denen die Herbergen nur eine untergeordnete Rolle spielen, siehe: Jensen, Roger. 2013. »Katekismen som pilegrimsteologi«. 246 Toulmin, Stephen. 1990. Cosmopolis, The hidden agenda of modernity, New York; Jensen, Roger. 2004, S. 33–58.
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genau dies tun zu lassen: zu wachsen, unabhängig von theologischer Interpretation und Reflexion. Interpretation und Reflexion ist indessen sowohl notwendig als auch unvermeidlich, um das Erleben und die Erfahrungen des Pilgerns in religiöser Sprache zu artikulieren und im Lichte des kirchlichen Erbes diskutieren zu können. Die Fragestellung im Folgenden besteht insofern hauptsächlich darin, inwieweit das kirchliche und theologische Erbe als Deutungs- und Reflexionshilfe für das heutige Pilgern fruchtbar gemacht werden kann. Bietet dieses Erbe einen Schlüssel zum Verständnis und zur positiven Deutung der Pilgererfahrung?
Die Begegnung von Tradition und Gegenwart – eine grundlegende dogmatische Untersuchung Eine der ersten Fragen, die sich im Kontakt mit dem kirchlichen und theologischen Erbe aufdrängt, zielt auf die Leistung dieses Erbes im Blick auf die Rede von Gott. Auf welche theologisch sachgemäße Basis einer Rede von Gott könnte man die Interpretation und Reflexion der Pilgererfahrung gründen? Die Gottesebenbildlichkeit ist eine Grundvoraussetzung jeder christlichen Rede von Gott und dem Menschen. In ihrem Zentrum steht der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Ist Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, wie der Glaube an die Inkarnation behauptet, ist er gleichzeitig Gottes Ebenbild und die Verwirklichung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Ist der Mensch als Gottes Ebenbild erschaffen, folgt daraus, dass zu einer wahren Rede vom Menschen die Rede von Gott mit dazugehört, dass also jede Rede vom Menschen Gott mit im Blick haben muss. Die Grundaussage der christlichen Tradition lautet: Es kann nicht wahr über den Menschen gesprochen werden jenseits seiner Beziehung zu Gott. Folglich muss man ebenso über den Pilger sprechen: Der Glaube an Jesus Christus impliziert, dass man nicht grundlegend wahr über die Pilgerschaft sprechen kann, ohne auf die Gottesbeziehung des Pilgers einzugehen.
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Die Rede von Gott als Entsprechung zum menschlichen Leben In der modernen Theologie besteht der Prüfstein für die Rede von Gott in der Frage, inwieweit diese Rede Sinnvolles zur Auslegung und Interpretation des menschlichen Lebens beiträgt oder nicht. Ein solches Kriterium ist nicht selbstverständlich, und es ist genauso wenig selbstverständlich, dass eine solche Rede sinnvoll ist. Wie wir bereits in Kapitel 3 und 4 gesehen haben, hatten viele in den Zeiten des Spätmittelalters und der Reformation das Gefühl, dass die Rede von Gott im Blick auf die Praxis des Pilgerns und die Pilgererfahrung nichts Sinnvolles beizutragen hatte. Man mag kirchenkritisch einwenden, dass die Gefahr, dass das kirchliche Gottesbild dem Bild entspringt, das Mensch von sich selbst hat, zu allen Zeiten überaus groß gewesen ist. Die Herausforderung besteht also darin, wahr vom Menschen und wahr von Gott zu reden und dieses gleichzeitig zu tun. Die Gleichzeitigkeit als Bedingung einer angemessenen theologischen Rede entspringt der christlichen Grundaussage, dass Christus vere Deus et vere homo ist, wahrer Gott und wahrer Mensch, wie dies im Konzil von Chalcedon 451 formuliert und von allen christlichen Konfessionen übernommen und bewahrt wurde. Im Bekenntnis zu Christus ist die wahre Rede vom Menschen und von Gott ineinander verwoben. Jede wahre Rede vom Menschen als Pilger muss mit dem Blick auf Gott hin geschehen. Theologie braucht nicht auf die Erfahrung bezogen werden, sie kann heilige Texte und »ewige Wahrheiten« oder eine erstarrte Praxis ohne Relevanz für das gelebte Leben abstrakt reflektieren. Wenn im heutigen Santiago de Compostela Plakate den völligen Ablass versprechen, geschieht dies in meiner kritischen Perspektive auf der Grundlage der Metaphysik einer vergangenen Zeit, wie sie z. B. auch durch die Trierer Benediktiner im ersten Kapitel kritisiert wird: als völlig losgelöst sowohl von der allgemeinen Forderung der Überprüfbarkeit als auch von jedem Bezug auf den heutigen Alltag. In der protestantisch-theologischen Tradition sollte in dieser Frage Einigkeit bestehen. Luthers wiederholtes Beharren darauf, dass die Rede von Gott für mich (pro me) und für uns (pro nobis) sein muss, formuliert ein theologisches Erbe, das eine abstrakte Theologie oder eine sich wiederholende religiöse Praxis ablehnt, die auf ein unkritisches Festhalten an einer bestimmten Lehrautorität oder Weltanschauung zielt, unabhängig davon,
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ob es sich dabei um römisch-katholische oder evangelische Lehrdekrete oder Praktiken handelt. Die Wahrheit der Rede von Gott erweist sich in der menschlichen Erfahrungswelt: Die Rede von Gott muss sich auf etwas Grundlegendes im Leben des Menschen beziehen, um als wahr erfahren zu werden. Dass dies theologisch so sein muss, lässt sich christologisch begründen. Die Rede von Gott und die Sinneserfahrung Die Theologie des 20. Jahrhunderts hat in besonderer Weise die Existenzerfahrung als den Ort der Rede von Gott thematisiert. Die Existenztheologie247 betonte eine Rede von Gott und dem Menschen, der es einerseits gelang, die Rede von Gott für das Leben der Menschen relevant zu vermitteln, andererseits aber im Blick auf Gott, auf die Welt und den Menschen als reduktionistisch kritisiert wurde. Es wurde dabei vor allem eine stärkere Betonung des menschlichen Eingebundenseins in die Natur und das Universum eingefordert. Körperliche und ästhetische Sinneserfahrungen wurden – vor allem in der protestantischen Theologie – durch die Konzentration auf das Existentielle verdrängt. Manche existenztheologischen Ansätze folgten darin dem Pietismus sowohl protestantischer als auch katholischer Provenienz (Jansenismus), der die Schöpfung aus dem Auge verlor. Die starke Konzentration auf das mündlich gesprochene Wort als die eine Instanz, die die Gerechtigkeit Gottes durch die Verkündigung vermittelt, widerspiegelte implizit den linguistic turn in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Die Sprache, das gesprochene, verkündende Wort, das »schafft, was es ausspricht«, bestimmt die Wirklichkeit, die nur durch die Sprache zugänglich ist. Die Sprache konstruiert und reproduziert Wirklichkeit und nimmt so eine ontologisch privilegierte Position gegenüber der erlebten und erfahrenen Realität ein.248 Die »Wort-Gottes«-Theologie bzw. 247 Zu nennen sind hier vor allem Schleiermacher, Herrmann, Otto, im 20. Jahrhundert Gogarten, Bultmann, Tillich, Ebeling, auf katholischer Seite Rahner. 248 Dazu besonders die historische und systematisch-theologische Kritik von Christine Helmer: Helmer, Christine. 2011. »Transformations of Luther’s Theology in View of Schleiermacher« in: Helmer, Christine und Holm, Bo Kristian. 2011. Transformations in Luther′s Theology: historical and contemporary reflections, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, S. 104–121. Zu einer vertiefenden, epistemologischen Kritik des Ver-
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dialektische Theologie wurde zu Recht für ihre neukantianische Erkenntnistheorie kritisiert. Dies gilt vor allem für den Protestantismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts und dessen sehr enges Verständnis des »Wortes« im Vergleich zu Luther, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben. Als Kritik auf diese in erster Linie kontinentale Theologie erhoben sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts skandinavische Stimmen, die später als skandinavische Schöpfungstheologie subsumiert wurden.249 Als die wichtigsten Vertreter sind K.E. Løgstrup und Regin Prenter in Dänemark und Gustaf Wingren in Schweden, und die Norweger Inge Lønning und besonders Svein Aage Christoffersen zu nennen. Besonders wichtig war hierbei ein breitere Konzentration auf Luther und dessen Schöpfungstheologie, deren positive Einstellung zum alltäglichen Leben und zur Schöpfung als Korrektiv und wesentliche Ergänzung zur Betonung der Existenzerfahrung herangezogen wurde – was Wingren als die doppelte phänomenologische Orientierung der Theologie bezeichnet hat.250 Sie betont den Eigenwert und die Sinnhaftigkeit der Schöpfung, die damit nicht länger nur als Ausgangspunkt und Grundlage für die Rede von der Erlösung des Menschen gilt. Die Schönheit der Natur ist ein Ausdruck von Gottes Güte und Fürsorge, die sich über den Menschen hinaus auf die gesamte Schöpfung erstreckt. Die skandinavische Schöpfungstheologie kritisiert damit die fehlende positive Konzentration auf Wahrnehmung und Schöpfung der dialektischen Theologie. Die skandinavische Theologie untersucht die Rede von Gott daraufhin, ob und wieweit sie Sinnvolles zur Deutung des menschlichen Lebens in seiner ganzen Fülle beizutragen hat. Eine sachgerechte Rede von Gott benötigt eine breite Perspektive, um das gesamte Erfahrungsspektrum der oben skizzierten Erzählungen und sozialwissenschaftlichen Studien mitberücksichtigen zu können. Luthers sehr weitgefasstes Verständnis des Wortes, das gerade auch Natur und Alltag, Sinneserfahrungen in allen Faständnisses von Wort und Schöpfung bei Oswald Bayer, siehe: Jensen, Roger. 2004, S. 247–266. 249 Als Einführung in die skandinavische Schöpfungstheologie, siehe: Gregersen, Uggla, Wyller. 2017. Reformation Theology for a Post-Secular Age: Løgstrup, Prenter, Wingren, and the Future of Scandinavian Creation Theology. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 250 Wingren, Gustaf. 1958. Theology in conflict, S. 161; ibid. 1961. Creation and Law, S. 189.
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cetten mit einbezieht und sich als Schöpfungstheologie und theologische Philosophie der Sinne charakterisieren lässt, ermöglicht eine solche Rede. Demgegenüber erscheint eine Rede von Gott auf der Grundlage neukantianischen Denkens mit einer eindimensionalen Betonung des gesprochenen Wortes als einengend und reduktionistisch. Ich habe in einer früheren Arbeit dafür plädiert, die schöpfungstheologischen Konzepte des 20. Jahrhundert im Lichte der sozialen Bedingungen zu verstehen, in denen sie entstanden sind.251 Der soziale Raum prägte die Fragen, die Theologie und Kirche zu beantworten suchten, und die theologischen Perspektiven der Zeit, womit sich auch das unterschiedliche Verständnis von Schöpfung und Ethik im Deutschland nach dem ersten Weltkrieg und Skandinavien erklären lassen. Während Deutschland von sozialen Unruhen und einer schwachen demokratischen Kultur geprägt war, die im Chaos und den Zerstörungen im Nationalsozialismus endete, entwickelten sich die skandinavischen Länder zu gut funktionierenden sozialdemokratischen Demokratien. Die skandinavische Schöpfungstheologie ist von egalitären und demokratischen Idealen durchdrungen, die den Alltag in Arbeit und Heim, in dem sich die Gesellschaft entwickelt und das Leben gefördert wird, als den konkreten Ort der Gegenwart Gottes interpretieren. In diesem Umfeld entwickelte vor allem der schwedische Theologe Gustaf Wingren eine starke, sogenannte berufungsethische Position. Der dänische Theologe Knud E. Løgstrup versuchte die gleichen Anliegen mithilfe der Phänomenologie als modernem philosophischen Werkzeug in seiner Konzeption der Interdependenz und der spontanen Daseinsäußerungen zum Ausdruck zu bringen. In jüngster Zeit greift der norwegische Theologe Svein Aage Christoffersen auf den alten Begriff der »Schöpfungsgnade« zurück, die die menschliche Erfahrung der Gnade des geschaffenen Lebens beschreibt, an die Gottes Gnade in Jesus Christus anknüpft.252 Das heutige Pilgern als zeitgenössisches Phänomen entwickelt indessen eine neue Form der Sinnsuche – nicht mehr im Kontext von Arbeitsplatz 251 Jensen, Roger. 2003. Modernisering av Lutherdommen … ? Oslo: Det praktisk-teologiske seminars skriftserie nr. 9. 252 Vgl. Christoffersen, Svein Aage. 2011. »Skapelsesnåde. Om den sansbare verdens erfaringsform«, in: Norsk Teologisk Tidsskrift, Vol. 112, Nr. 3–4, S. 261–277.
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und Zuhause, sondern durch eine moderne spirituelle Praxis auf der Grundlage historischer Vorformen. Wie sieht nun die skandinavische Schöpfungstheologie unter den Bedingungen einer vielfältigen, spätmodernen Gesellschaft aus, in der die Menschen den Lebenssinn durch eine spirituelle Praxis als Pilger zu finden hoffen? In welchem Grad vermag sie, die Erfahrungen zu reflektieren, die die Pilger als Ausdruck von Gottes Gegenwart, von Gottes Wirklichkeit mitten im ihrem Leben verstehen? Sie kann dabei nicht den Weg gehen, den vereinzelt reformierte oder römischkatholische Theologen wählen, indem sie den Erlebnissen und Erfahrungen der Pilger keinen eigenständigen Wert zugestehen, sondern diese Erfahrungen in einem eschatologischen Horizont deuten: Das Pilgern sei erst dann sinnvoll, wenn es zur Erkenntnis führe, dass das Ziel des Lebens der Himmel sei.253 Dies ist die Herausforderung im Folgenden. In einem der reformatorischen Haupttexte (Von den guten Werken, 1520), argumentiert Luther zuerst traditionell theologisch, wie die Liebe aus dem Glauben fließt, wie der Glaube die Liebe gebiert.254 Unmittelbar darauf 253 Vgl. der reformierte Theologe Detlef Lienau: »Ich gehe davon aus, dass der Pilgerweg zum Symbol des Lebensweges werden soll. Er stellt ihn dar, gibt ihm anschaulich Ausdruck, macht ihn verständlich und prägt sich im Vollzug ein. Darum wird im Folgenden das Verhältnis von Weg und Ziel bestimmt. Wie ist das konkrete Pilgerziel zu verstehen, damit es der Ausrichtung auf das eschatologische Pilgerziel Reich Gottes entspricht? Wenn der Sinn des Lebens- und Pilgerweges das Erreichen des Ziels ist, dann hat der Weg keinen Eigenwert, sondern zieht seinen Sinn und Wert daraus, dass er zum Erreichen des Zieles verhilft. Er ist also relativ, bezogen auf etwas anderes – und das darf nicht durch ein Verharren im bloßen Unterwegssein verloren gehen. Als Mittel zum Zweck bezieht der Weg gerade aus dem, worauf er zielt und wozu er verhilft, seine Dignität. Diese Wu¨ rdigung des Unterwegsseins ist abgeleitet…« Lienau, Detlef. 2009. Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Ostfildern: MatthiasGrünewald-Verlag, S. 160. Entsprechend betont Pater Anselm Grün OSB in seiner Pilgertheologie: »Der Mensch ist nicht bei sich zu Hause, sondern er ist auf dem Weg nach Hause. Und er wird dort nur ankommen, wenn er aus sich selbst auszieht und sich auf den Weg zu Gott macht … [bis er] bei Gott selbst ankommt und bei ihm für ewig daheim ist. Im Wandern übt er sich in die Bestimmung seiner Existenz ein.« Grün, Anselm. 2008. Auf dem Wege. Zu einer Theologie des Wanderns. Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag. 254 »Nu ist droben gesagt / das solch zuuorsicht vnd glaub / bringt mit sich lieb vnd hoffnung. Ja wan wirs recht ansehn / szo ist die lieb das erst / odder yhe zu gleich / mit dem glaube(n). Dan ich mocht gotte nit trawen / wen ich nit gedecht er wolle mir gunstig vnd holt sein.« StA 2, 23, 31–24, 2. Siehe Jensen, Roger. 2003, besonders S. 149ff.
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dreht er die Argumentation elegant um und spricht nun davon, dass wir ohne die Liebe nicht glauben können. Die Liebe ist für Luther die Voraussetzung für den Glauben, sie gehe dem Glauben voraus oder sei gleichzeitig mit ihm. So eröffnet Luther einen schöpfungstheologischen Horizont für die Rede von Gott, deren Ausgangspunkt und Möglichkeitsbedingung menschliches Erleben und Erfahren ist. Diese induktive, epistemologische Bedingung für die Rede von Gott ist für eine heutige Theologie des Pilgerns relevant. Die Erlebnisse und Erfahrungen des Pilgers bilden die Grundlage für die Rede von Gott. Die Wirklichkeit Gottes in den konkreten Erlebnissen der Pilger muss bewahrt bleiben, diese Erfahrungen dürfen nicht auf einen Ausdruck oder eine Analogie für eine andere, größere göttliche Wirklichkeit reduziert werden. Die Rede von Gott als »christliche Rede von Gott« Gleichzeitig ist es nach wie vor entscheidend, die Rede von Gott als christliche Rede zu qualifizieren, wenn sie mit Jesus von Nazareth übereinstimmt und dem, was Gott durch Jesu Leben, Tod und Auferstehung sagt. Der Glaube an die Menschwerdung Gottes verhindert die Verabsolutierung menschlicher Erfahrungen als alleiniges Kriterium für die Rede von Gott. Der Mensch und die Menschlichkeit, die sich in Jesus von Nazareth zeigt, ist der sich selbst hingebende Mensch, der sich dem Tod anheim gibt, um Leben zu spenden, wie es das Gleichnis vom Weizenkorn beschreibt. Auf diese Weise ist die Frage nach einer sinnvollen Rede von Gott mit der Frage nach einer wahren Rede von Gott verwoben. Auch hier bildet der Satz von Christus als vere Deus et vere homo die Grundlage. Das Festhalten an der historischen Einmaligkeit und Radikalität der Christus-Offenbarung auf dieser Basis impliziert indessen ein epistemologisches Primat der Mitteilung der Offenbarung, denn die Einmaligkeit und Radikalität erschließt sich nicht durch eine Schlussfolgerung oder empirische Analyse unabhängig von dieser Mitteilung, da diese immer den Offenbarungscharakter beibehält. Die Offenbarung lässt sich nur als eine radikale Hinwendung und Anrede mitteilen, die als gute Nachricht, als Evangelium, als Wunder und Überschreitung in das Leben des einzelnen Menschen tritt (vgl. die Rede über das Heilige in Kapitel 5). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Wort der Wirklichkeit ontologisch vorgeordnet
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wird, wie es in postliberalen und radikal-orthodoxen Positionen geschieht, in denen Erfahrung und Wahrnehmung nachgeordnet sind.255 Die Offenbarung ist vielmehr radikale Anrede, die – entsprechend der Verwendung des Begriffs im vorigen Kapitel – »weit geöffnete Augen« schafft, durch die man das Evangelium mittels hellwacher Sinne auch in der Natur und im Alltag erlebt und erkennt, als etwas, das im menschlichen Leben und Alltag bereits existiert.256 Damit geben wir den Sinneserfahrungen einen Primärstatus in der Rede von Gott und den Menschen und halten gleichzeitig an der christlichen Grundaussage fest, dass wir im historischen Jesus wahre Menschlichkeit als auch wahre Göttlichkeit erkennen. Wir beharren somit darauf, dass Erleben und Erfahren der Sprache und Anrede vorausgehen, und gleichzeitig darauf, dass Sprache und Anrede reale und konkrete Implikationen für die menschliche Erfahrung der Wirklichkeit haben. Die traditionelle Spannung zwischen Sprache und Wirklichkeit in der Theologie scheint heute passé, die Herausforderung besteht nunmehr im Verstehen, wie diese ineinander verwoben sind. So erscheint auch der menschliche Weg hin zu dem Gott, dem wir in Jesus Christus begegnen, vielschichtig und komplex, da er der die alltäglichen menschlichen Erfahrungen gleichzeitig sowohl kritisch herausfordert als auch positiv bestätigt – was sich als via negationis et affirmationis charakterisieren lässt: Sowohl als positive Bestätigung als auch eine Kritik der natürlichen menschlichen Beziehung zur Welt. Der Gottesglaube bejaht einerseits die menschliche Wirklichkeit als Ausdruck der Wirklichkeit Gottes und bestätigt andererseits den Glauben an die Inkarnation – dass Gott Mensch geworden ist, um die wahre Menschlichkeit des Menschen wieder aufzurichten.257 Damit wird nicht ausgeschlossen, dass ein verborgenes Christuszeugnis auch in anderen Religionen oder Weltanschauungen existieren kann, ganz 255 Aktuell versuchen vor allem zwei Strömungen, der heutigen, postmodernen Weltanschauung durch traditionelle theologische Dogmatik und kirchliche Praxis entgegenzutreten: Die radical orthodoxy im angelsächsischen Raum (u. a. John Millbank, Graham Ward und Cathrine Pickstock) sowie die postliberal theology (auch als narrative theology bekannt) in den USA (Hans Frei, George Lindbeck und Stanley Hauerwas). 256 Damit wird nicht ausgeschlossen, dass diese Erfahrung außerhalb des Glaubens nicht auch den Charakter der Gnade haben kann, siehe dazu: Christoffersen, Svein Aage. 2011. »Skapelsesnåde. Om den sansbare verdens erfaringsform«, NTT 3–4, S. 261–277. 257 Jensen, Roger. 2004., S. 262ff.
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im Gegenteil. Dieser Gedanke ist allerdings zu vielschichtig, als dass er hier in der gebotenen Kürze weiter verfolgt werden könnte. Die Rede von Gott ist ein Kampf darum, wie die Wirklichkeit zu erfahren und zu erleben sei Überprüft man die Rede von Gott im Blick darauf, ob sie Sinnvolles zur Deutung des menschlichen Lebens beiträgt, kann die daraus resultierende Rede von der Welt nicht der allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt widersprechen. Kein Wissen über die Welt ist dem Glauben prinzipiell fremd. Die Rede von Gott ist ein Kampf um das Wirklichkeitsverständnis, wie die Menschen die Realität erfahren und erleben, ein Kampf mit allen -ismen und Ideologien über das, was die Wirklichkeit ist, aber kein Kampf gegen die Erkenntnisse, die wir durch die Wissenschaft über den Menschen und die Welt erworben haben. Das aus dem Glauben an Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch sich ergebende Menschen- und Weltverständnis steht nicht im Konflikt mit allgemeinen Erkenntnissen. Die Rede von Gott in Christus enthält indessen immer ein Mehr über den Menschen und die Welt. Über beide gibt es mehr zu sagen als das Wissen, das wir durch wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen haben. Insofern steht das christliche Welt- und Menschenverständnis immer dann im Konflikt mit einem allgemeinen Weltverständnis, wenn dieses sich selbst als letztgültige Wahrheit über die Wirklichkeit versteht. Das Evangelium ist zu jeder Zeit eine gute Nachricht für die Menschen inmitten ihres Lebens und ihrer Wirklichkeit. Das Evangelium ist keine Botschaft, die zuerst ein anderes Leben oder eine andere Realität fordert, um zur guten Nachricht zu werden. Das Evangelium ist eine gute Nachricht inmitten der faktischen Wirklichkeit und des alltäglichen Lebens der Menschen, wie es sich in der Zeit entfaltet, und damit auch in der Begegnung mit den Erlebnissen und Erfahrungen der Pilger.
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Bild 19: Staunen. Eine Touristin – oder Pilgerin? – in der La Sagrada Família, Barcelona. Foto: Roger Jensen.
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Die Rede von Gott zwischen Sprache und Wirklichkeit, zwischen Theismus und Pantheismus Die empirische Forschung unterstreicht die Bedeutung der Sinneserfahrung des eigenen Körpers wie auch der Natur und Gemeinschaft für den Pilger. Gleichzeitig betonen prominente Stimmen in der Religionssoziologie die Spiritualität und die Entstehung der sogenannten subjektiven Religion als die heute am schnellste wachsende Form der Religiosität: Eine subjektive Form der Religion, die nicht endgültige Antworten in kirchlichen Institutionen, in der Tradition oder Lehre sucht, sondern Tradition und Geschichte auf der Suche nach subjektiven Erfahrungen und Erlebnissen heuristisch verwendet. Durch die entscheidende Rolle der unmittelbaren Wahrnehmung und körperlichen Erfahrung für den modernen Pilger spielen kulturelle Produkte wie Bilder, Texte, Liturgien und Architektur, die Wissen und Deutungskompetenz erfordern, mehr und mehr eine untergeordnete Rolle, da sie nicht unmittelbar zugänglich und nicht allein durch die Wahrnehmung zu verstehen sind. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass die kulturellen Produkte entlang der Pilgerwege, die für die Pilger des Mittelalters unmittelbar zugänglich und verständlich waren, dem heutigen Pilger fremd, wenn nicht gar entfremdend erscheinen. Weil sie nicht durch Erfahrung und Wahrnehmung unmittelbar zugänglich sind, funktionieren sie nicht mehr als Garanten von Sicherheit oder Gewissheit. Erst wenn Texte, Bilder und Bauwerke mit den Erfahrungen der Pilger verknüpft werden, erschließen sie sich und erlangen Bedeutung. Die Spätmoderne knüpft Kriterien der Wahrheit an subjektive Erlebnisse und Sinneserfahrungen. Was nicht erlebt werden kann, taugt für viele Menschen nicht mehr als Basis für Wahrheit. Einerseits weist diese Gewichtung der Erfahrung Ähnlichkeiten mit mittelalterlichen Pilgern auf, andererseits ist der Pilger von heute durch die Moderne und ihrem Arsenal an Kritik gegenüber der Kirche und kirchlichen Behörden geprägt, was auf den mittelalterlichen Pilger in weit geringerem Umfang zutrifft, der darüber hinaus diese Kritik auch nicht offen hätte äußern können. Dieser Unterschied zeigt, wie die religiöse Praxis des mittelalterlichen Pilgerns – im Gegensatz zur heutigen Pilgerschaft – Ausdruck einer Religion der Unterscheidung war. Die Rede von Gott, nach der wir hier suchen, überschreitet die Dicho-
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tomie der traditionellen Positionen des Theismus und Pantheismus.258 Ich frage nach einer Rede von Gott, die nicht nur Gott entweder als transzendent, außerhalb der Welt seiend versteht (Theismus), oder die Welt als göttlich erkennt, womit der Unterschied zwischen Gott und der Welt aufgehoben ist (Pantheismus). Die christliche Rede von Gott bewahrt den theistischen Aspekt, dass Gott stets mehr ist als die durch unsere Sinne erfahrbare Wirklichkeit und sich nicht auf sie reduzieren lässt. Gleichzeitig behält eine an Sinneserfahrungen gebundene Rede von Gott den pantheistischen Aspekt bei, dass die Gegenwart Gottes nicht getrennt von der Welt unserer Sinneserfahrungen gedacht werden kann. Somit scheint heute nicht nur der traditionelle Gegensatz zwischen Sprache und Wirklichkeit, sondern auch zwischen Theismus und Pantheismus überwunden zu sein. Die Herausforderung besteht nun in der Entwicklung einer Rede von Gott, die diese Spannungen überschreitet und damit den Weg hin zu einer Spiritualität ebnet, die sich der Pilgererfahrung annähert. Tradition als theologische Quelle Inwieweit können traditionelle theologische Texte zur Überwindung der oben skizzierten Spannungen und den daraus resultierenden Herausforderungen für die heutige Rede von Gott beitragen? Wie finden wir zu einer Rede von Gott, zu einer Theologie, die auf die Erlebnisse und Erfahrungen der heutigen Pilger eingeht? Inwieweit können wir uns dabei auf die Tradition berufen und sie auf eine neue, andere Art und Weise verstehen, die mehr ist als eine bloße Wiederholung gestriger Antworten auf die Fragen von heute? Das Phänomen zeitgenössischer Pilgerschaft entzieht sich einer einfachen Klassifizierung aufgrund seiner Hybridität: Es setzt sich aus verschiedenen Kategorien und Motiven zusammen, die nicht ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Die Begegnung mit dem modernen Pilgern 258 Die Unterscheidung von Theismus und Pantheismus ist in der Religionswissenschaft üblich. Siehe dazu Religionsmonitor, eine der größeren internationalen, empirischen Studien zur Änderung in Religion und Religiosität. Sie vereint Perspektiven der Religionswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und Theologie: www.religionsmonitor.de.
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erfordert Demut. Hegemoniale Interpretationen und Beschreibungen, die darauf aus sind, das Gesamtphänomen mit eindeutigen Theorien und Kategorien zu fassen, übersehen die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Geschehens. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Aspekte des Phänomens zu verstehen und zu interpretieren. Die Theologie muss sich dem heutigen Pilgern mit besonderer Vorsicht nähern. Die Ambivalenz, mit der moderne Pilger sich mit der Kirche und dem kulturellen Erbe der Kirche auseinandersetzen, muss sich in der Behutsamkeit der theologischen Arbeit bei ihrem Versuch widerspiegeln, die moderne Pilgererfahrung im Licht des Evangeliums zu deuten. In den alten Antworten auf den Glauben und die Sehnsucht der Menschen, die dogmatisch möglichst präzise formulieren und für die die Katechismen pädagogische Einführungen bieten, finden sich die heutigen Menschen weniger und weniger wieder. Die religiösen und kulturellen Verluste durch die Moderne und fortschreitende Säkularisierung sind zu groß. Die Begegnung mit dem kulturellen Erbe der Kirche erscheint für viele Menschen heute als Entdeckerfahrt in einer fremden Landschaft. Die Pilger bilden dabei keine Ausnahme. Der Zusammenhang zwischen Leben und Erfahrung auf der einen Seite und dem Evangelium und der kirchlichen Tradition auf der anderen Seite wie auch die Annahme einer Relevanz des Evangeliums für das moderne Leben ist heute längst nicht mehr selbstverständlich. Die Beweislast für einen solchen Zusammenhang obliegt der Tradition.
Martin Luthers Kleiner Katechismus als theologische Quelle für die Gegenwart – ein Entwurf Der Katechismus, historisch gesehen der wichtigste Ausdruck für die Aneignung des Glaubens in unserem Kulturkreis, ist für viele Menschen heute ein Relikt aus der Vergangenheit, die sich nicht wiederherstellen lässt. Der Traditionsverlust ist eine Realität. Die Frage ist, ob der Reichtum der kirchlichen Traditionen in Form von Kirchenarchitektur, Texten, Gebeten, Ritualen und Gottesdiensten, auf die der Pilger von heute auf seiner Wanderung trifft, das Potential hat, Sinn, Lebensdeutung und Hilfe bei der
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Lebensbewältigung bieten zu können. Ferner müssen wir uns fragen, wie sich ein solcher Bedeutungsinhalt adäquat ausdrücken lässt. Im Folgenden versuchen wir, einige zentrale Motive aus Martin Luthers Kleinem Katechismus als theologische Quelle für die heutige Rede von Gott im Blick auf die Erfahrungen der Pilger zu nutzen. Wie bereits erwähnt, hatte der Kleine Katechismus seit Jahrhunderten und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Sonderstellung und Schlüsselfunktion in der Vermittlung der christlichen Lebensdeutung und Lebenspraxis im protestantischen Nordeuropa. Das Katechismus-Wissen war eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ein Kriterium für das Erwachsensein. Der Katechismus wurde außerdem zu einem der wichtigsten Ausdrucksformen für eine Religion der Unterscheidung. Das Zeitalter des Konfessionalismus und Staatspietismus war durch den Versuch geprägt, nationale und konfessionelle Identität eng miteinander zu verweben, und der Kleine Katechismus hat bis heute den Status einer Bekenntnisschrift in allen lutherischen Kirchen Europas. Heute ist die Situation eine andere. Die Katechese als solche setzt bereits ein Vorwissen darüber, was man durch sie lernen soll, und eine religiöse Sozialisation voraus. In unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft ist ein solches Vorwissen nicht mehr selbstverständlich. Der Katechismus ist für alle, die nicht in und mit der christlichen Tradition aufgewachsen sind, eine inzwischen völlig unbekannte und irrelevante Größe. Dies gilt für mehr und mehr Menschen, worauf Heels und Woodhead, wie wir oben gesehen haben, hindeuten. So wenig wie die Katechismustradition heute noch existiert, so abwegig wäre das Projekt, die historische Stellung und die Rolle des Katechismus wieder aufzurichten. Für den Katechismus gilt das gleiche wie für die Pilgerwanderungen: Sie hatten ihre Blütezeit bereits vor Jahrhunderten. Da aber der Katechismus als der neben der Bibel wichtigste und am meisten gelesene Text, den viele Generationen auswendig lernten, lange Zeit eine wesentliche kulturformende Kraft in Nordeuropa war, möchte ich im Folgenden prüfen, ob zentrale Motive des Katechismus als Quelle und Ort einer sinnvollen Deutung der heutigen Pilgererfahrung – in einem nordeuropäischen kulturellen Kontext – dienen können. In den ersten beiden Kapiteln habe ich wesentliche Aspekte der heutigen Pilgererfahrung skizziert, die sich auf den Körper und die Natur, Kultur und
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Geschichte, das Leben in den Herbergen und die synchrone und diachrone Gemeinschaft beziehen und deren Einfluss auf das Selbstverständnis des Pilgers. Im Folgenden möchte ich versuchen, zentrale Motive des Katechismus als theologische Quelle für eine heutige Theologie des Pilgerns fruchtbar zu machen und werde mich ihm dabei auf eine neue, unkonventionelle Art und Weise nähern.
Luthers Kleiner Katechismus – ein ökumenischer Text? Die folgende Diskussion des Katechismus als theologische Quelle muss sich darüber hinaus auch einer ökumenischen Hinterfragung stellen: Führt die Quellenfunktion eines konfessionellen, aus dem evangelisch-lutherischen Kontext entstammenden Textes nicht zu einer explizit konfessionellen Interpretation des Pilgerns? Ist die Verwendung von Luthers Kleinem Katechismus nicht gerade in Anbetracht der heutigen Pilgerschaft als überkonfessionellem Phänomen problematisch? Doch es gibt positive Stimmen. Kardinal Karl Lehmann, der ehemalige katholische Bischof von Mainz, hebt die ökumenische Bedeutung der Katechismen Luthers, vor allem des Kleinen Katechismus hervor.259 Für ihn knüpft Luthers Katechismus in besonderer und positiver Weise an die Tradition der Kirche an. Kirchengeschichtlich sind Luthers Katechismen an sich nichts Neues, denn aufgrund ihrer strukturellen und inhaltlichen Konzeption wurden die Katechismen bereits in der frühen Kirche und im Mittelalter zu einem festen Bestandteil der klassischen theologischen Tradition. Lehmann charakterisiert Luther in seinen Katechismen als rechtmäßigen »Lehrer des Glaubens« und zeigt sich überrascht und verwundert darüber, dass die Katechismen in den ökumenischen Gesprächen und Bemühungen keine Rolle gespielt haben, denn er erkennt in diesen Texten ein enormes Potenzial für neue ökumenische Ansätze.260 Wenn es also gelänge, Luthers Kleinen Katechismus als ökumenischen 259 Lehmann, Karl. 1998. »Luther als Lehrer des Glaubens? Die ökumenische Bedeutung seiner Katechismen« in: Lutherische Kirche in der Welt. Jahrbuch des Martin-LutherBundes. Folge 454, S. 131–146. 260 Ibid. 142.
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Text zu erschließen, würde dies eine ökumenische Pilgertheologie ermöglichen, die sich auf das konfessionelle Erbe stützt und gleichzeitig die traditionellen konfessionellen Grenzen überwindet.
Ein kurzer Abriss des historischen Kontexts, der Form und Methode des Katechismus Der Katechismus ist Luthers Versuch, eine Notsituation der Unwissenheit und Ignoranz zu überwinden, die er beim Besuch der Gemeinden in Sachsen um 1525 erlebt. In Predigt und Unterricht konzentriert sich Luther auf die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und die Sakramente. Gleichzeitig mit seiner Arbeit am Großen Katechismus im Dezember 1528 beginnt er mit der Niederschrift des Kleinen Katechismus. Er wurde zuerst als illustriertes Plakat für Schul- und Kirchenwände gedruckt und im Mai 1529 in Buchform verlegt. Er ist der Form nach nicht polemisch und zielt auf den häuslichen Gebrauch, indem er die Grundlagen des christlichen Glaubens für Laien darlegt. Interessanterweise findet sich die damalige dogmatische Zentral- und Konfliktformel »der Glaube allein« nicht im Kleinen Katechismus: Für Luther geht es hier allein um die Substanz des evangelischen Glaubens und nicht um deren dogmatisch korrekte Formulierung. Gerade hier lässt sich das Potential des Katechismus als ökumenisch zu lesender Text erkennen. Es wurde ferner behauptet, dass Luther in seinem Katechismus die durch die mittelalterliche Katechismustradition geprägte Gemeindefrömmigkeit aufnimmt und sie mit der klösterlichen Meditationsfrömmigkeit kombiniert, um sie in einer Theologie zu entfalten, in deren Zentrum die Seelsorge steht.261 In einem Tischgespräch beschreibt Luther den Katechismus als Muttermilch für den Christen, dementsprechend soll der Pfarrer auf der Kanzel Katechese betreiben, seine Kinder mit Muttermilch füttern und schwierige Lehrsätze und »theologische Grüblereien« für sich selbst behalten.262 Mit der Konzentration auf die Zehn Gebote, dem Apostolischen Glaubensbe261 Bayer, Oswald, 1994, Handbuch Systematischer Theologie, Band 1, Gütersloh, S. 106– 114. 262 TR 3, 3421, 3579.
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kenntnis und Vaterunser wendet sich Luther gegen die traditionelle Aufteilung der Katechismen. Sein Katechismus für Laien unterscheidet sich durch seine Methodik des Fragens und Antwortens, weil »die Kinder die Worte nicht nur auswendig lernen und sie aufsagen können sollen, was sie bisher getan haben, sondern dass man sie fragen soll, was jedes Stück bedeutet und wie sie sie verstehen«263. Im Vorwort zur Deutschen Messe von 1526 beschreibt Luther sein Ziel, dass der Inhalt der Worte sich »in ihre Herzen schreiben« soll, er skizziert dort Fragen und Antworten, mögliche Formulierungen, sagt aber auch, dass man »selbst andere formulieren kann«264. An anderer Stelle unterscheidet Luther entsprechend zwischen »Lebeworten« und »Leseworten«: Die Worte des Katechismus sollen Worte sein, nach denen man leben kann, und nicht nur auswendig zu lernendes Wissen.265 Obwohl der Katechismus in einfacher Form für den Laien geschrieben ist, betont Luther seine unerschöpfliche theologische Tiefe. In einem Tischgespräch im Herbst 1531, nach dem Erscheinen der zweiten Auflage, erhalten wir einen Einblick in die religiöse Praxis in Luthers Heim. Luther erzählt, wie er den beiden ältesten Kindern täglich aus dem Katechismus vorliest, und gesteht, dass er ihn genauso lernen muss wie sie.266 In den Antworten zum Dekalog und dem Vaterunser verwendet Luther die Wir-Form, im Credo das »ich«. Die Intention ist in beiden Fällen die gleiche: Es dreht sich hier um uns und mich, um unser und mein Leben. Außerdem lässt sich eine Zuspitzung in der Frageform beobachten: Während Luther in einem früheren Entwurf die Fragen mit »was ist«, »was bedeutet« und »was ist gemeint« beginnt, entscheidet er sich im Katechismus für die einfachste Frageform auch bei schwierigsten Fragen, als ob ein Kind fragt: »Was ist das?«267 (in der aktuellen norwegischen Übersetzung:
263 WA 19,76 (1526). 264 WA 19, 76–78 (1526). 265 WA 31: I, 67; 36, 131b, 21. Vgl. Bayer, Oswald. 1988. »Oratio, Meditatio. Tentatio. Eine Besinnung auf Luthers Theologieverständnis« in: Lutherjahrbuch 55, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 266 TR 1, 122. 267 Die norwegische Ausgabe des Konkordienbuches, redigiert von Jens Olav Mæland 1985, benutzt diese dem Deutschen mehr angeglichene Form.
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»Was will das sagen?«268), was in der Auslegung des Vaterunsers zur Frage führt: »Wie geschieht das?«269. Diese pädagogische Vorgehensweise bezeichnete der amerikanische Luther-Forscher Timothy Wengert als Luthers kleines Juwel (»Luther’s little gem«).270 Luther will durch den Katechismus konkrete und nahe Worte vermitteln, kein dogmatisches Wissen verbreiten.271
Eine Lektüre des Katechismus im Blick auf die Pilgererfahrung – vier wiederkehrende Motive Luther wünscht mit seinem Kleinen Katechismus eine konkrete und lebensnahe Auslegung des christlichen Glaubens. Der Inhalt erschließt sich unmittelbar – bereits in der Erklärung des ersten Gebots legt Luther die Struktur seines Katechismusunterrichts offen: Das erste Gebot Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Was ist das? Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.
Die Erklärung enthält zwei Motive. Das erste Motiv besteht im scheinbaren Widerspruch zwischen »fürchten und lieben«, das zweite Thema ist »vertrauen«. Darüber hinaus zeigt sich ein wiederkehrendes drittes Motiv in den Erklärungen zu den anderen Geboten des Dekalogs, das implizit oder explizit auch in den anderen Teilen des Katechismus erscheint: »dass wir«. 268 Die Übersetzung des Kleinen Katechismus von Sigurd Hjelde aus dem Jahr 2001 orientiert sich mehr am modernen Norwegisch: »Hva vil det si?« Vgl. Luther, Martin. 2001. Lille og store katekisme, Bokklubbens kulturbibliotek, De norske Bokklubbene. 269 Stolt, Birgit. 2005. »›Muttermilch‹ und ›Lebeworte‹. Zu Luthers ›Rhetorik des Herzens‹ im Kleinen Katechismus« in: Norbert Dennerlein, Klaus Grünwaldt, Martin Rothgangel (Hrsg.) Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Martin Luthers. Gütersloher Verlagshaus. 270 Wengert, Timothy J. 2002. »The Rhetorical key to the Lutheran confessions for faith and life in today’s church« in: Seminary Ridge Review, B. Schramm (Hrsg.), 4:2, Lutheran Theological Seminary at Gettysburg, S. 45–51. 271 Für eine breitere Darstellung siehe: Stolt, Birgit. 1994. Martin Luther, människohjärtat och Bibeln; ibid. 2004. Luther själv. Hjärtats och glädjens teolog, besonders S. 202–215.
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Das zweite Gebot Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen … Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir …
Wie ich zeigen werde, beruhen diese ersten drei Motive auf der Erfahrung, dass das Leben und alle Lebensbedingungen dem Menschen grundlegend gegeben sind. Auch im Katechismus muss die menschliche Identität und das Selbstverständnis als gegeben erlebt und erfahren werden, wenn der Mensch sein Leben in ganzer Fülle leben soll. Dazu gesellt sich ein viertes Motiv: Die menschliche Identität entsteht im Grunde passiv, nicht durch Wissen, Einsicht, Fähigkeiten oder rechte Praxis. In seinem Kommentar zum dritten Glaubensartikel Von der Heiligung (»Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige, christliche Kirche …«), schreibt er: Was ist das? Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann.
Die vier Motive des »fürchten und lieben«, des »vertrauen«, des »dass wir« und des »nicht aus eigener Vernunft noch Kraft« prägen den gesamten Katechismus und bilden die Grundlage des christlichen Glaubens, die Luther in den traditionellen Teilen des Katechismus erklärt. Im Folgenden interpretiere ich diese Hauptmotive durch einzelne Konkretisierungen und Untermotive und analysiere sie im Blick auf die Pilgererfahrungen. Das erste Hauptmotiv: »fürchten und lieben« Die persönlichen Pilgerberichte aus dem ersten Kapitel wie auch die Daten und Schlussfolgerungen aus den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des zweiten Kapitels beschreiben die Erlebnisse und Erfahrungen von Natur und Landschaft, von Begegnungen mit Menschen und Gemeinschaften, mit Gott und dem Heiligen, als grenzüberschreitend. Diese Begegnungen sind nicht notwendigerweise ausschließlich positiv, sie können Widerstand wecken, es können Aspekte der Natur, Kultur und Geschichte sein, von denen man sich distanzieren, wenn nicht gar gegen sie rebellieren möchte. Aber es sind ebenso Erfahrungen der Zugehörigkeit und Abhängigkeit, auf die die Pilger in unterschiedlicher Weise ihr Leben beziehen, die als Ori-
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entierungspunkte dem Pilger helfen können, »sich selbst zu finden«. Die Pilgerwanderung ermöglicht intensive Begegnungen mit dem eigenen Körper und der Natur, die der Mensch heute nur noch selten erlebt, Begegnungen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, das Identifikation ermöglicht oder fremd bleibt, und intensive Erlebnisse, die die alltäglichen Erfahrungen überbieten und bei der Deutung des eigenen Lebens helfen. Allein das Wissen um die Möglichkeit dieser Erfahrungen und Erlebnisse erweckt in vielen Pilger nach der Rückkehr die Sehnsucht danach, die Wanderschuhe bald wieder anzuziehen. Ihre Erzählungen wie auch die Forschungsergebnisse sprechen von durchgehend grundlegend positiven und respektvollen Erfahrungen von Zugehörigkeit und der physischen und kulturellen Teilhabe an Natur, Kultur, Geschichte und konkreten und integrativen Gemeinschaften. Luther erklärt die Zehn Gebote in seinem Katechismus auf der Grundlage einer expliziten Perspektive auf das Leben und auf Gott. Das erste der vier Motive verdeutlicht diesen Blick und ist der Ausgangspunkt für seine Erklärung der Gebote und der Entwicklung seiner Ethik. Alle Erklärungen beginnen mit der gleichen Formel: »Wir sollen Gott fürchten und lieben«. Für den Leser von heute ist dieses Begriffspaar »fürchten und lieben« sehr fremd. Angst und Liebe sind für uns gegensätzliche Größen. Kann man etwas gleichzeitig fürchten und lieben? Der Theologe und Religionshistoriker Rudolf Otto gründet seinen Versuch, die Begegnung mit dem, was er als das Numinose charakterisiert, auf Luthers Begriffspaar fürchten und lieben.272 Das Numinose versteht Otto als das Heilige, im Gegensatz zum Profanen. Das Heilige ist durch sein Anderssein gekennzeichnet, es weckt sowohl Angst als auch Faszination und lässt sich an bestimmten Orten erleben. Dies sind die grundlegenden Merkmale aller religiösen Erfahrung in Ottos klassischem Werk Das Heilige von 1917. Die drei Aspekte des Numinosen fasst er in seinem berühmten Satz des »mysterium tremendum et fascinans« zusammen: Die Erfahrung des Heiligen als das ganz Andere (mysterium) ruft Furcht und Angst hervor (tremendum), ist aber gleichzeitig anziehend und faszinierend (fascinans). Im Kapitel über das Heilige haben wir uns dem Verständnis des Heiligen in Luthers Texten auf eine völlig andere Weise genähert als Otto. Wir haben 272 Otto, Rudolf. 1926. Das Heilige. 14. Auflage, Gotha: Klotz, S. 126ff.
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gesehen, wie Luther mit seiner Schöpfungstheologie die Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen auf eine Art herausfordert, die die traditionellen Kategorien von heilig und profan unterläuft. Im folgenden wird sich zeigen, wie Luther auch das Begriffspaar von Angst und Liebe mit neuem Inhalt füllt. Luther gibt uns einen Einblick in sein Verständnis einer Vaterbeziehung, als er um 1530 über die Spannung zwischen Gottesliebe und Gottesfurcht nachdenkt. Er tut es hier im Verhältnis zu seinem eigenen Sohn, als er gerade an Psalm 2,11 arbeitet: Dienet dem Herrn mit Furcht und freuet euch mit Zittern: Das reim mir einer zusammen: fröhlich sein und fürchten! Mein Hans kann es tun gegen mir; aber ich kann es nicht tun gegen Gott. Mein Hans, wenn ich schreib oder tu etwas, so singt er mir ein Liedchen daher; und wenn er mirs zu laut will machen, so fahr ich ihn ein wenig an: so singt er gleichwohl fort, machts aber heimlicher, mit einer Art Ehrfurcht und Bekümmernis. Eben das will Gott: wir sollen stets fröhlich sein, jedoch mit Ehrfurcht.273
Luther erklärt den scheinbaren Widerspruch zwischen »fürchten und lieben« durch eine alltägliche Situation, in der sein Sohn Hans in seinem Arbeitszimmer spielt. Er bittet seinen Sohn, ruhig zu spielen und ihn nicht zu stören, und für eine gewisse Zeit verbleibt er ruhig, so dass Luther weiterarbeiten kann. Nach einer Weile stört Hans erneut und Luther muss seinen Sohn wiederum ermahnen, nicht zu stören – eine Situation, in der die meisten Eltern sich wiedererkennen, auch wenn wir heute nicht mehr in einem patriarchalischen Familiensystem leben.274 Der Respekt und die 273 TR 1, 148. 274 An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf die Entwicklung des Schulwesens interessant. Die Reformation in Deutschland war nicht nur ein Kampf um Theologie und Kirche, sondern auch um die Art der Pädagogik an kirchlichen und öffentlichen Schulen. Im Spätmittelalter wurden neben den bereits seit langem existierenden Kathedral- und Klosterschulen Grammatikschulen unterschiedlicher Prägung etabliert, sowie weiterführende Schulen außerhalb der Universitäten für praktische und technische Fächer. Während des 15. Jahrhunderts setzen sich allmählich neue pädagogische Ideen durch: Durch das Studium der antiken Klassiker, durch Sprache und Rhetorik wie auch durch moralische und religiöse Bildung sollte die Persönlichkeit der Schüler geformt werden. Der Humanismus der italienischen Renaissance setzte sich bald auch in Deutschland durch, wo die Reformation die weitere Entwicklung v. a. des niederen Schulwesens durch Martin Luther und Philipp Melanchthon, dem Praeceptor Ger-
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Liebe, die Hans hier seinem Vater entgegenbringt, zeigt Luther, wie das scheinbar widersprüchliche Begriffspaar verknüpft sein könnte. Beziehungserfahrungen aus Luthers eigenem Familienleben spiegeln sich in seiner Theologie wider: Die Liebe Luthers für seine Kinder und sein Nachdenken über diese Liebe hat Folgen für seine Interpretation des Bibeltextes und die Reflexion der Gottesbeziehung des Menschen.275 Der Begriff der Gottesfurcht wird in der Alltagssprache nicht mehr verwendet, und es fragt sich, inwieweit wir heute in der Lage sind, das Numinose so zu erleben, wie Otto es beschrieb. Wir gebrauchen indessen einen ähnlichen Begriff – Ehrfurcht.276 Die Gottesfurcht/Ehrfurcht, die Luther durch seine familiären Beziehungen beschreibt, ist eng mit der geistlichen oder spirituellen Erfahrung des Pilgerns in der Begegnung mit der Natur, Geschichte, Kultur oder Gemeinschaft verbunden: die Erfahrung von Zugehörigkeit, des Eingebettetseins in einen grösseren Zusammenhang, der weit über das Individuelle hinausgeht und von dem das Individuum abhängt. Wir begegnen einer unbekannten Natur, die in uns das Unbehagen hervorrufen kann, dass man trotz Smartphone und GPS vom Weg abkommen kann, was einige durchaus maniae (»Lehrmeister Deutschlands«) entscheidend prägte. Vgl. Verger, J. 1995, S. 1582–1586; Rupp, Horst F. 1999., S. 597–600. Luther lehnt die traditionellen pädagogischen Mittel der kirchlichen Schulen wie körperliche Züchtigung und eintöniges Beugen von Substantiven und Verben ab und lobt den neuen humanistischen Geist, der die Schulen nicht mehr zu »der Hölle und dem Fegefeuer« macht, die er aus seiner eigenen Schulzeit kannte: Statt Schlägen, Zittern, Angst und Weinen sind Lust und Freude entscheidend für das erfolgreiche Lernen. Vgl. Luther, Martin, 1524, An die Ratsherren…, S. 51f. (vgl. Cl. 2, 457, 32–458, 4). 275 Auf die gleiche Entwicklung verweist Birgit Stolt in ihrer Erklärung des ersten Satzes des Vaterunsers (»Vater unser, der du bist im Himmel«) der zweiten Auflage des Katechismus von 1531. Vgl. Stolt, Birgit. 2004, S. 207ff. Die erste Auflage hatte noch keinen Kommentar zum ersten Satz. Die Erklärung der zweiten Auflage, die in den Bekenntnisschriften aufgenommen wurde, beruht auf den Erfahrungen einer nahen Vater-Kind-Beziehung. Sie macht damit eine alltägliche Erfahrung zum Interpretationsschlüssel für das Verständnis von Gottes Liebe zu den Menschen: »Vater unser, der du bist im Himmel! Was ist das? Gott will damit uns locken, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf dass wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.« 276 Der norwegische Theologe Kjetil Hafstad hat in Gesprächen darauf hingewiesen, wie der Begriff der Ehrfurcht die Erfahrung, die Luther beschreibt, heute adäquat ausdrücken kann.
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davon abhält, sich überhaupt auf eine Wanderung zu begeben. Trotzdem ist diese Begegnung für den Pilger eine Erfahrung der Freude und des Respekts – der Ehrfurcht. Im Rückbezug auf den Katechismus lässt sich die Pilgererfahrung der Ehrfurcht als die wahre Perspektive auf das Leben beschreiben. Es ist eine Erfahrung des Ausgeliefertsein, der Zugehörigkeit und der Abhängigkeit, eine Erfahrung dessen, die Welt zurückzuerhalten. Dies wird nach der Rückkehr leider allzu schnell wieder in der Hektik des Alltags verdrängt. Diese Perspektive auf das Leben bleibt indessen als Sehnsucht bestehen und führt zu dem inständigen Wunsch, die Wanderschuhe möglichst bald wieder anzuziehen, um dem eigentlichen Leben nahe zu sein. Das zweite Hauptmotiv: »vertrauen« Pilgern und »persönliche Krise« hängen für viele zusammen. Die oben zitierte Forschung weist darauf hin, dass viele sich gerade als Folge einer Lebenskrise aufgrund von Scheidung, Krankheit oder Tod auf die Wanderung begeben, oder weil sie sich im Übergang von einer Lebensphase zu einer anderen befinden – eine Krise in der Beziehung, der Familie oder im Berufsleben, der Übergang vom Studium in das Arbeitsleben, eine Änderung in der Karriere oder im Familienstand, Beginn der Elternschaft oder des Ruhestands, oder eine dringend benötigte Auszeit von der alltäglichen Hektik. Krisen und Übergänge sind in vielerlei Hinsicht dadurch gekennzeichnet, dass das, worauf man vorher vertraute, sei es die Partnerschaft oder der Beruf, auf dem man sein Leben und seinen Alltag aufgebaut und seine Zukunft geplant hat, sich als nicht tragfähig im Blick auf die bewusst oder unbewusst erhoffte Zukunft erweist. Die Krise problematisiert und fordert Selbstbild und Identität heraus. Pilgerschaft und »Krise« hängen für viele aber auch in einer anderen Weise zusammen. Das wochenlange Pilgern kann auch selbst eine Krise hervorrufen, weil es auch eine innere Wanderung ist, auf der der Pilger allmählich und unweigerlich sich in sich selbst vertieft und geistig in sein eigenes Leben »abtaucht«, was die Hektik des Alltags nur in weitaus geringerem Umfang zulässt. Durch die innere Wanderung gewinnt man ein höheres Maß an Klarheit in der Frage nach dem, was man für sein Leben wünscht, man zieht Bilanz über das Gewesene und wird sich bewusst, was wichtig ist und auf was man sich in der Zukunft konzentrieren möchte.
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Fragen und Unsicherheiten, von denen man nicht ahnte, dass man sie hatte, tauchen auf, gewinnen Form und lassen sich schrittweise artikulieren. Nicht zuletzt kann das Pilgerwandern auch eine Krise im Blick auf den eigenen Körper auslösen: dass der eigene Körper die Wanderung nicht meistert, dass die Schmerzen in den Beinen oder im Rücken zu stark werden, oder aber dass die Einsamkeit während der Wanderung unerträglich wird. Alle diese krisenhaften Ereignisse fordern Selbstbild und Identität noch weiter heraus. Das Verständnis der menschlichen Gottesbeziehung enthält indessen eine größere Tiefe und Komplexität als das »fürchten und lieben« des ersten Motivs.277 Diese Tiefe, auf die das zweite Motiv des »Vertrauens« hinweist, knüpft an die Pilgererfahrungen der Krise an. Im Folgenden wollen wir dies mithilfe der Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus näher untersuchen. Im Großen Katechismus vertieft Luther das erste Gebot in Bezug auf den Gottesbegriff. Er problematisiert den Gottesglauben, indem er die Gottesfrage allgemein diskutiert und sich dadurch dem Glauben auf eine ziemlich überraschende, moderne Art nähert. Im Weiteren legt er einen allgemeinen Gottesbegriff als eine Grundvoraussetzung für das Leben und die Existenz des Menschen aus. Er fragt: Was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott? Antwort: ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also dass einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Trauen und Glauben des Herzens beide macht, Gott und Abgott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.278
277 In einem Tischgespräch sagt Luther: »Deshalb ist dieses Wort das schwierigste aller Worte in der Heiligen Schrift »Dein« oder »Unser«, wie im ersten Gebot ›Ich bin dein Gott‹«. TR 1,81. 278 Zitiert nach Sigurd Hjeldes Übersetzung in Martin Luther. Verker i utvalg, Bd. 5, S. 245.
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Hier bezieht Luther die Gottesfrage auf das menschliche Vertrauen und er tut es in einer Weise, die allgemein gemeint ist.279 In der weiteren Auslegung ist die Gottesbeziehung des Menschen nicht an einen metaphysischen Gott oder Gottesbegriff bezogen, stattdessen beschreibt er, wie der Mensch viele Götter hat. Die wahren und falschen Götter, Gott und die Götzen, unterscheiden sich dadurch, dass der wahre Gott in der Not nicht versagt. Zwar können die falschen Götter wie »Waren und Gold« oder »Wissen, Klugheit, Macht, Beliebtheit, Freundschaft und Ehre« auch Sicherheit und Hoffnung geben, doch ist diese Sicherheit und diese Hoffnung begrenzt, nicht unbegrenzt, fest und unerschütterlich. Der Glaube schafft daher sowohl Gott als auch den Götzen, behauptet Luther weiter. Weil die Menschen nicht zugeben wollen, dass sich ihre Existenz auf etwas außerhalb ihrer selbst gründet und sie im eigentlichen Sinne nicht Herr ihres eigenen Lebens sind, da sie in grundlegender Abhängigkeit leben, erschaffen sie sich bewusst oder unbewusst alle Götter, denen sie vertrauen. Die vielfältigen religiösen (!) und weltlichen Formen und Ausdrucksweisen des Götzendienstes, wie Objekte oder Praktiken zur Sicherung der Existenz sind nach Luther Symptome der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Luther versteht den Glauben, die Gottesbeziehung des Menschen als eine Existenzform. Die Erfahrung des Ausgeliefertseins und Lebens in Abhängigkeit, eingebettet in einem Netz von Beziehungen, entspricht wesenhaft der Pilgererfahrung, eingebunden zu sein und getragen zu werden von Natur, Geschichte, Kultur und der Gemeinschaft, deren Teil man ist – eine Eingebundenheit, die mir vorausgeht und grösser ist als ich, deren Teil ich aber gleichzeitig auch bin. Dies ist sowohl eine Erfahrung des Wiedererkennens der eigenen Menschlichkeit als auch der Befreiung von all den kleinen und großen Dingen und Beziehungen im Alltag, all die »Götzen«, an die man ansonsten gebunden ist. Das Leben erweist sich als ein Mehr. Allein auf Gott zu vertrauen, wie wir ihn in Jesus Christus kennen, heisst, sich hinzugeben. Alle Kirchen und sakrale Kunst, die Gottesdienste mit ihren Liturgien, Gebeten und Kirchenliedern entlang der Pilgerwege zeugen von einer größeren Realität. Sich so selbst hinzugeben heisst, sein ganzes 279 Siehe Jørgensen, Theodor. 1995. Vgl. auch Jensen. Roger, 2003, wo die gleiche Thematik im Blick auf Schleiermacher diskutiert wird.
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Herz und Vertrauen auf Gott allein hin auszurichten, und nicht auf jemand oder etwas anderes. Was die Vernunft nicht kann, kann das Herz. So hat der Mensch nicht länger Gott, sondern Gott hat den Menschen: Jesu Christi Wirken und Werk zielt auf das »Ich werde sein eigen sein« (aus der Auslegung des zweiten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus). Vertrauen auf Gott heisst, das Jetzt, den Augenblick, auf die Zukunft hin zu öffnen. Auf Gott zu vertrauen heisst, mit und in der Hoffnung auf die Zukunft Gottes zu leben. Nicht auf den Gott, den wir in Christus kennen, zu vertrauen, heisst zu versuchen, sich in seiner eigenen Gegenwart festzuhalten und nicht in der Zukunft Gottes zu leben. Unsere eigene Gegenwart und Gottes Zukunft gehören zusammen, sie sind durch den Glauben verbunden. Ihre Verbundenheit ist Gnade und Geschenk. Sie in seinem eigenen Leben zu erfahren ist ein Wunder, etwas, das »ich nicht aus eigener Vernunft oder Kraft glauben kann« (siehe unten). Die Begegnung zwischen Gott und Mensch ist eine besondere Begegnung, die nicht in der Macht des Menschen liegt, und in der der Heilige Geist den Glauben schafft, die Gott zu Gott und den Menschen zum Menschen macht und die sowohl Konflikt als auch Versöhnung ist. Diese Begegnung birgt einen Konflikt, weil der Mensch sein Selbstverständnis als in sich selbst gegründetes Wesen aufgeben muss, und ihr wohnt Versöhnung inne, weil Gott sich als die Grundlage zeigt, auf der der Mensch in Abhängigkeit leben darf. Durch diesen Konflikt erweisen sich alle eigenen Vorstellungen über Gott und die Welt als falsch, durch die Versöhnung füllt Gott, wie wir ihn in Jesus Christus kennen, unsere Vorstellungen mit neuem Inhalt. Dies darf nicht als Verneinung oder Ablehnung dessen, was der Mensch in die Begegnung mit Gott selbst einbringt, oder als negative Anthropologie verstanden werden, in ihr steckt vielmehr die Anerkennung der Menschlichkeit des Menschen, die darin besteht, dass der Mensch seine eigene Menschlichkeit in der Begegnung mit Jesu Christi findet. Auch dies ist ein Aspekt des Glaubens an Christus als vere Deus et vere homo. Die Pilgererfahrung der Zugehörigkeit und Freiheit kann religiös oder profan gedeutet werden. Unabhängig davon ist die Erfahrung der Natur, Kultur, Geschichte und Gemeinschaft eine Anrede. Sie ist positiv und bestätigend, kann aber auch als Herausforderung erlebt werden im Blick auf Verantwortung und Bewahrung. Sie schafft Respekt und Ehrfurcht.
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Das dritte Hauptmotiv: »dass wir« Warum handeln wir, wie wir handeln, was liegt den Entscheidungen und Prioritäten in unserem täglichen Leben zugrunde? Was prägt uns als ethische Individuen? Für Luther gibt es einen unverzichtbaren Zusammenhang in der menschlichen Beziehung zu Gott oder seinen Göttern, der oben im Blick auf »fürchten und lieben« und »vertrauen« und die Art und Weise, wie der Mensch in der Welt lebt, erläutert wurde. Luther repräsentiert hier ein Verständnis, das häufig als relationale Anthropologie beschrieben wird, in der eine Beziehung andere Beziehungen prägt und das menschliche Leben ein Netz aus verschiedenen Beziehungen darstellt, die in unterschiedlicher Weise zusammen wirken.280 Dieser Beziehungsaspekt kommt im Katechismus durch die Wendung »dass wir« in den Erläuterungen zu allen Geboten explizit zum Ausdruck: »Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir …« Im Katechismus als seelsorgerlicher Schrift wird dieses Motiv theologisch nicht weiter erklärt, vielmehr konkretisiert es diesen für Luther so unverzichtbaren Zusammenhang. Die Stelle im Katechismus, an der Luther sich der Art des theologischen Diskurses am meisten nähert, dem wir in anderen Schriften begegnen, findet sich in der Exposition der fünften Bitte des Vaterunsers: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Was ist das? Antwort: … So wollen wir wiederum auch herzlich vergeben und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen.
Wie Gott sich für uns einsetzt, so sollen und werden wir uns für unseren Nächsten einsetzen. Theologisch wird diese Relationalität vor allem in Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520, der meistgelesenen und verbreiteten Schrift der Reformation, reflektiert, in der Luther beschreibt, wie einerseits meine Beziehung zu Gott sich auf meine Beziehung zu meinem Nächsten auswirkt und andererseits meine Beziehung zu meinem Nächsten meine Gottesbeziehung beeinflusst (was in der theologischen Tradition als Frucht des Glaubens und zweiter Gebrauch des Gesetzes bezeichnet wird).281 Luthers Wirklichkeitsverständnis und Anthropologie ist 280 Jf. Jensen, Roger. 2004. 281 Dieses Verständnis finden wird paradigmatisch im bekannten Zitat: »Gute gerechte
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grundsätzlich relational oder dialogisch: Das Sein des Menschen wird durch die menschlichen Beziehungen bestimmt – und dementsprechend auch die menschliche Wirklichkeit. Der Glaube oder Unglaube im Blick auf Gottes Anrede ist so gesehen ein Kampf um die Wirklichkeit, um die eigentliche Wirklichkeit, ein Kampf zwischen Gott und Götzen, zwischen den Dingen, auf die die Menschen vertrauen, wie wir oben gesehen haben. Was hier geschieht, ist für Luther mehr als ein bloßer Ausdruck der Selbsterkenntnis oder Abstraktion – es ist auch der Ausdruck einer Prägung: Wir werden in und durch die Beziehungen geprägt, in denen wir leben, wobei alle Beziehungen sich gegenseitig beeinflussen. Dies gilt für alle Bereiche des Lebens, wie dies auch in vielfältiger Weise durch die verschiedenen Gebote und in der Ethik interpretiert wird. Luthers Ethik verdeutlicht eine neue Wertschätzung des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens, wie wir sie bereits bei Luthers Ständelehre gesehen haben. Die Welt muss nicht christianisiert oder kirchlichen Autoritäten unterworfen werden, um sie ihrer durch den Schöpfer gegebenen Bestimmung zuzuführen.282 Vielmehr versteht Luther den alltäglichen Dienst am Werke machen niemals einen guten gerechten Menschen, sondern ein guter gerechter Mensch tut gute gerechte Werke. Schlechte Werke machen niemals einen schlechten Menschen, sondern ein schlechter Mensch tut schlechte Werke. Daher muss stets die Person zuvor gut und gerecht sein vor allen Werken und es müssen gute und gerechte Werke folgen und ausgehen von der gerechten guten Person.« (Von der Freiheit eines Christenmenschen, aus der 23. These). 282 Vgl. Jensen, Roger. 2004, bes. Kap. 4; ibid. 2003, Modernisering av Lutherdommen…? Der Dekalog steht im Zentrum des Katechismus. Gleichzeitig ist Luthers Neuformulierung des Dekalogs vielsagend – er gibt freimütig zu, dass er ihn zum Teil stark verändert hat, um ihm eine allgemeine Geltung zu geben, besonders im Blick auf das Bilderverbot und das Sabbatsgebot. Luther versteht den Dekalog als Ausdruck des natürlichen Gesetzes, das »allen Menschen ins Herz geschrieben« und gleichbedeutend ist mit der Liebe. Folglich ist der Dekalog als Vorbild zu verstehen, als Ausdruck eines »positiven Gesetzes«, das im Gegensatz zum »natürlichen Gesetz« nicht absolut bindend ist. Der Dekalog ist das Gesetz der Juden, wie der Sachsenspiegel das Gesetz der Sachsen ist. Ein positives Gesetz ist an eine bestimmte Zeit, an ein bestimmtes Volk und an bestimmte Verhältnisse gebunden. So kann Luther einerseits daran festhalten, dass man dem Dekalog Gehorsam schuldet und die Erfüllung des Dekalogs das Ziel der Heiligung ist (WA 30 I, 46, 5. Katechismuspredigt vom 22/9/1528. Vgl. Harbsmeier, Eberhard. 2001, S. 34.), andererseits kann er damit den Dekalog in seiner Gültigkeit begrenzen: er gilt nur, so weit er mit dem natürlichen Gesetz übereinstimmt (Nilsson, Kjell Ove. 1966. Simul; Jensen, Roger. 2004. Kap. 6.2.3.)
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Nächsten als heiliges Leben, vom Wechseln der Windeln bis zum Pflügen des Ackers. Im gewöhnlichen Alltag realisiert sich die göttliche Berufung als lebensspendender Dienst. Diese Denkweise entfaltet der späte Luther durch die Betonung der Schöpfungstheologie, vor allem in der so genannten lutherischen Berufsethik, auf die sich wiederum die skandinavische Schöpfungstheologie bezieht. Die Berufsethik konzentriert sich auf die Verhältnisse und Beziehungen, unter und in denen der Mensch zusammen mit anderen Menschen lebt und die mehr oder weniger stark sein Leben prägen. Solche Beziehungen sind für Luther ein Ausdruck für Gottes Stimme und Gottes Ruf. In den Beziehungen, in denen wir leben, und den Bedürfnissen, denen wir begegnen, ruft Gott uns in den Dienst am Nächsten. Zwar könnte Gott die Welt und das Leben im zwischenmenschlichen Bereich ohne die Mithilfe des Menschen erhalten, argumentiert Luther, aber Gott hat sich dafür entschieden, den Menschen als sein Werkzeug zu verwenden, als seinen Mitarbeiter (cooperator), der zu einer Maske wird, hinter der sich Gott bei seinem Schaffen in der Welt verbirgt (larva Dei). Wenn wir ganz konkret durch unser Handeln im Großen und Kleinen unserem Nächsten dienen und ihm so das Leben ermöglichen, dann wirkt und kleidet sich Gott durch uns. Es ist also nicht die kirchliche Lehre, nicht der Priester, der Abt oder die Schrift, die mir vorschreibt, wie ich zu leben, wie ich mich anzupassen und wie ich gegenüber meinen Mitmenschen zu handeln habe. In der Entscheidung, wie wir unser Leben leben, sollen wir unsere eigene Erfahrung, Vernunft und unser Urteilsvermögen nutzen – und das der Generationen vor uns. In der Frage danach, wie wir gegenüber unseren Mitmenschen zu handeln haben, sollen die konkreten Bedürfnisse und Nöte meines Nächsten entscheiden. Ich bin dazu aufgerufen, der Diener meines Nächsten zu sein. Gottes Ruf ist daher nicht ein Ruf aus der Welt, aus dem weltlichen Leben, aus den Beziehungen zu den Eltern oder aus der Ehe und Familie heraus. Gottes Ruf sind die Nöte und konkreten Bedürfnisse meines Nächsten mitten in meinem Alltag, ein Aufruf, in die Welt hinein zu gehen. Der Ruf Gottes gilt nicht den wenigen Auserwählten, sondern allen Menschen. Gott ruft den Einzelnen mitten im Alltag, durch seinen Dienst am Nächsten Gottes Maske und Mitarbeiter bei der Schaffung und Erhaltung der Welt zu sein. So spielen die Beziehungen bei der Konstituierung des Menschen
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zusammen, und das Entscheidende ist: Diese Beziehungen haben eine prägende Kraft.283 Luthers Theologie lässt sich unter diesem Blickwinkel als ein Kampf darum verstehen, was die guten Werke/die Früchte ermöglicht. Erst wenn die menschliche Identität als ein bedingungsloses »Geschenk« erfahren wird (vgl. Kapitel 4 über die Gnade, Erlösung, Liebe), ermöglicht dies, dem »Beispiel« (dem Dienst und dem Opfer für den Nächsten) zu folgen. Dienst und Opfer sind keine Vorbedingung für das Geschenk der Erlösung. In der Sprache der Reformation ist diese Unterscheidung zwischen »Geschenk« und »Beispiel« entscheidend: Das Leben als Geschenk ermöglicht die Nachfolge Christi. »Das Kernstück des Evangeliums ist, dass du Christus, bevor du ihn zum Exempel fasst, ihn aufnimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen sei«284. In der Wartburgpostille von 1522, einer Sammlung von erbaulichen Schriftauslegungen, die Luther in seinem Versteck auf der Wartburg im Jahr nach dem Wormser Reichstag über die Feste des Kirchenjahres schreibt, finden wir dies paradigmatisch beschrieben: Das Geschenk, das der Mensch durch den Glauben empfängt, wird an den Nächsten weitergegeben. Was wir in Christus empfangen, sollen wir selbst weitergeben. Luther versinnbildlicht das menschliche Leben als einen Ort zwischen Gott und der Welt: »Die christliche Gerechtigkeit erhalten wir von oben und geben sie nach
283 Gottes Wirken hat indessen noch einen weiteren zentralen Aspekt über die Bewahrung des Lebens hinaus. Denn in der Begegnung mit Gottes Ruf, meinem konkreten Nächsten zu dienen, erkenne ich, dass ich ihn im Stich lasse, mich von ihm abwende und mich gegenüber Gott taub stelle. Je mehr ich meinen Nächsten ernst nehme, desto mehr erkenne ich meine Feigheit, desto größer wird mein schlechtes Gewissen, desto unfreier erlebe ich meinen »inneren Menschen«, wie Luther es ausdrückt. Das Verhältnis zwischen der Bewahrung und der Erfahrung der Untreue nennt er den »ersten und zweiten Gebrauch des Gesetzes«. Gottes Hinwendung zum Menschen ist Gottes Anrede und »Gesetz«, durch das er den Menschen sowohl bewahrt als auch richtet. – Für die neueste und weiteste Analyse der Berufungsethik Luthers und seiner relationalen Anthropologie in historischer und aktueller Perspektive siehe Jensen, Roger. 2004. Subjektkonstitusjon og Gudstale. Drøftelse av konstitusjonen av det etiske subjekt i moderniteten med særlig vekt på Martin Luthers antropologi og etikk. 284 »Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck, das dyr von gott geben und deyn eygen sey.« WA 10, I, 1, 11, 1–15.
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unten weiter.«285 Luther benutzt auch das Bild vom Menschen als einem »Mittel«, »ein Kanal oder ein Rohr« für die Liebe Gottes in der Welt, die er durch seine Geschöpfe fließen lässt. So kann er auch die gesamte christliche Lehre in zwei Teilen zusammenfassen: Glaube und Liebe, die im Originaltext in Großbuchstaben geschrieben werden286, um diese Kernaussage visuell zu verdeutlichen. Oder, wie Luther im Freiheitstraktat schreibt: Wir sollen Christus für einander sein.287 Aber wie gleichsam die guten Werke durch die Angleichung des glaubenden Menschen an Christus geboren werden, soll diese Angleichung durch menschliche Anstrengungen angestrebt werden – die beiden Strukturen sind so zusammengehalten. »Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und im Nächsten. In Christus lebt er im Glauben, im Nächsten in der Liebe … aber immer in Gott und in der göttlichen Liebe … Dies ist die rechte geistliche, christliche Freiheit, die alle andere Freiheit im Himmel und auf der Erde übertrifft.«288 So kann Luther auch behaupten, dass der Dienst am Nächsten, die guten Werke, spontan geschehen, ganz natürlich als Folge der Beziehungen, in denen man lebt, und den Bedürfnissen, denen man in den Beziehungen begegnet.289 Die reformatorische Grundfrage nach der Reihenfolge von Geschenk und Beispiel ist für uns in den meisten Bereichen des zwischenmenschlichen Lebens selbstverständlich geworden, wenn auch in säkularisierter Form. Dies ist heute zum Beispiel in der kindlichen Entwicklung grundlegend: Durch die Erfahrung der Liebe und Akzeptanz kann das Kind sich zu einem selbständigen, verantwortlichen und reifen Individuum entwickeln, nicht jedoch durch Drohungen, brutalen Forderungen, eiserne Disziplin, oder gar durch Schläge und Prügel. Was wir heute als eine allgemeine Erfahrung des zwischenmenschlichen Zusammenspiels und der Prägung erfahren, drückt Luther hier in einer Rede vom inneren und äußeren Menschen aus, wie der Mensch durch die Vielfalt der Beziehungen geprägt wird, in denen er lebt. Die Erfahrung der Fürsorge machen auch viele bei der Vorbereitung der 285 »…die Christliche gerechtickeytt, die von oben empfehet und von unden außgehet.« WA 10, I, 1, 292, 24–293, 1. 286 WA 10, I, 1, 100, 8–13. 287 StA 2, 298, 37–38. Vgl. Jensen, Roger. 2004, S. 180ff. 288 StA 2, 305, 12–21. 289 StA 2, 296, 3–6. Vgl. Jensen, Roger. 2004, S. 177ff.
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Reise. Die Pilgerreise kann oft erst deshalb angetreten werden, weil jemand zuhause mithilft und während meiner Abwesenheit einspringt. Eine gelungene Wanderung erfordert auch gute Ausrüstung. Jemand hat die Schuhe hergestellt, die meine Füße auf der Wanderung beschützen. Jemand hat die Karten gezeichnet, die GPS-Daten gespeichert und den Weg so markiert, dass ich mich orientieren kann. Jemand hat gebaut und andere kümmern sich um meinen Schlafplatz. Jemand teilt wohlwollend seine Erfahrungen in den Pilgergruppen im Internet, wenn ich um Hilfe bitte. Ich wandere nicht in einem Vakuum. Ein Pilger, der mich auf einer langen Wanderung begleitet hat, drückte es zum Beginn der Reise treffend aus, als wir uns in einer Runde einander vorstellten und von den Gründen unserer Wanderung erzählten: »Heute möchte ich an die Daheimgebliebenen denken, die meine Reise ermöglicht haben und sie weiterhin ermöglichen.« Für die Pilger ist die konkrete Fürsorge entlang des Weges und in den Herbergen wichtig, aber auch die Erfahrung guter Begegnungen und der Gemeinschaft mit anderen Pilgern, der gemeinsamen Fürsorge und dem Interesse der anderen Mitwanderer unterwegs bis hin zur Tischgemeinschaft in den Herbergen. Das Pilgern kann tiefe Freundschaften stiften. Bisweilen kann die Gemeinschaft entlang des Wegs durch ihren flüchtigen, vergänglichen Charakter allerdings auch als unsicher und gefährdet erlebt werden. Darüber hinaus erlebt der Pilger auch konkrete Fürsorge in der Begegnung mit anderen Pilgern, die entlang des Weges oder in Herbergen am Nachmittag eine Rast einlegen und Pflaster und gute Ratschläge für schmerzhafte Wunden und Blasen an den Füßen bereithalten. Solche Erfahrungen, die den einzelnen prägen und ihm neuen Lebensmut schenken können, werden durch Pilger infrage gestellt, die vorbei hasten, sich nur mit ihren eigenen Dingen beschäftigen und um sich selbst kreisen, sich nicht um andere kümmern, nicht teilen wollen und keine Verantwortung für gemeinsame Aufgaben oder Herausforderungen übernehmen. Im Glauben an Christus wird der Pilger indessen darin bestätigt, dass die Erfahrungen, die Gemeinschaft stiften und offene Räume schaffen, die flüchtig und bedroht sein können, die aber dem Leben und der Bewahrung dienen, die eigentlichen und beständigen Erfahrungen sind, die der Pilger freimütig wählen soll.
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Das vierte Hauptmotiv: »nicht aus eigener Vernunft noch Kraft« Wie oben bereits beschrieben, versteht der Katechismus das physische Leben mit all seinen Voraussetzungen als Geschenk, wie wir dies im Schöpferglauben formuliert finden. Aber auch der Mensch selbst, die Person, die menschliche Identität ist als Geschenk zu betrachten. Die Befreiung, die diese Gewissheit schafft, ist für Luther die Voraussetzung dafür, mit allen Mitteln in Freiheit anderen Menschen dienen zu können. So gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Person und Lebensentfaltung. Wenn Luther im Katechismus den Nutzen des Abendmahls erklären soll, kann er deshalb betonen: »Wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit.« Nur derjenige, der davon befreit ist, seine Worte und Handlungen zum Selbstschutz oder der Begründung des eigenen Rechts der Wertschätzung benutzen zu müssen, kann sich im Einsatz für andere verwirklichen. Darin liegt auch eine Perspektive auf die Gemeinschaft, auf die wir uns im Weiteren konzentrieren wollen. Das Erleben der eigenen Identität als ein Geschenk, die freimachende Gewissheit, die eine Lebensentfaltung im Dienst an anderen ermöglicht, bezieht Luther im Katechismus mit der Rede vom Heiligen Geist und beschreibt dies als »Heiligung«. Denn genau so, wie die geschaffene Welt, in der ich lebe, Gottes gute Gabe ist, (vgl. die Auslegung des ersten Glaubensartikels oben), so ist auch meine Person Gottes gute Gabe: Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen Was ist das? Antwort: Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann …
Die Kirche ist die Gemeinschaft, in der Gott »die ganze Christenheit auf Erden … sammelt, erleuchtet und heiligt«. Die Erfahrung der eigenen Person und Identität als Geschenk erhält ihre kollektive Entsprechung in der Rede von der Gemeinschaft, die durch diesen Glauben lebt: die Kirche. Sie ist die Grundlage dafür, dass ich dieses Geschenk annehmen kann, denn in der Gemeinschaft höre ich und nehme ich das Wort Gottes an: »in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tag mich und alle Toten auferwecken wird und
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mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewisslich wahr.« In der Pilgergemeinschaft in den Herbergen oder entlang des Weges gelangen viele Pilger zu einem tieferen Verständnis ihrer selbst. Man ist dort nicht aufgrund sozialer Funktionen oder kraft materieller oder mentaler Möglichkeiten. Man ist als Pilger zusammen, nicht durch das, was man im zivilen Leben geleistet hat. Wenn man sich unterwegs und um den Essenstisch in der Herberge begegnet, teilt man die Erlebnisse und Erfahrungen von gestern und heute und erzählt von der persönlichen Motivation der Wanderung. Man wird Teil der Pilgergemeinschaft durch die reine Anwesenheit auf dem Weg oder in der Herberge. Vom Erleben dieser integrierenden Gemeinschaft, in der man sich selbst sein kann mitsamt all den physischen Herausforderungen schmerzender Schultern und Blasen an den Füßen und den gebrochenen Lebensgeschichten, berichteten bereits die ersten beiden Kapitel des Buches. Das Wort des Evangeliums über das, was es bedeutet, Mensch zu sein, kann ich als Pilger in der Pilgergemeinschaft erfahren, nicht durch die »eigene Vernunft oder Kraft«, sondern durch das Sein, kraft der Anwesenheit jenseits der Grenzen von Alter, Geschlecht, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Das Erleben der Zugehörigkeit und Würde enthält, um mit dem Katechismus zu sprechen, die letztgültige Wahrheit darüber, was der Mensch ist. Die Pilgererfahrung gibt neuen Glauben an das Leben und einen erneuerten Willen zum Leben. Allerdings gibt es auch die, die zwischen Peregrinos und Tourigrinos oder religiösen und nicht-religiösen Pilgern unterscheiden. Mit allen denkbaren Kategorisierungen des Hintergrunds, der Beweggründe, der Kapazität und der Art der Fortbewegung sortieren sie die Pilger in eine erste und zweite Wahl, womit die eigentliche Pilgergemeinschaft und meine eigene Identität bedroht wird. Im besten Fall verdeutlicht die Pilgergemeinschaft, was Menschenwürde konkret meint, unabhängig von allen Unterschieden im menschlichen Leistungsvermögen und dessen Schwankungen im Laufe des Lebens. Es ist dieses konstante, unsichtbare und undefinierbare gemeinsame Erkennungsmerkmal, die Menschlichkeit des Menschen selbst, die so viele For-
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men hat, wie es Menschen gibt, die vereint und die eigentliche Identität des Pilgers schafft.290
Nähe und Distanz – zwischen damals und heute Als Luther mit viel praktischer Erfahrung als Kirchenreformator den Kleinen Katechismus verfasst, denkt er nicht eine Einführung, sondern zielt auf eine Einübung in den Glauben, eine Einübung in eine Kultur, mit denen Kinder und Jugendliche bereits vertraut sind. So gesehen setzt der Kleine Katechismus voraus, dass man in einer gemeinsamen christlichen Welt, im Corpus Christianum lebt. Beim Vergleich mit Augustins Entwurf einer Katechese im fünften Jahrhundert fehlt bei Luther besonders ein Element: die narrative Einführung in die Heilsgeschichte anhand der biblischen Geschichten über Gottes Handeln von der Schöpfung bis zur Vollendung. Für Luther obliegt die narrative Einführung der Predigt – insofern könnte man sagen, dass diesen Teil der katechetischen Arbeit ist, zu der auch die Predigt gehört.291 Luther setzt im Kleinen Katechismus die Kenntnis der Heilsgeschichte voraus, auch wenn er ihr anhand textbegleitender Illustrationen Raum gewährt. Luthers Unterschied zu Augustin an diesem Punkt wurde als Ausdruck der unterschiedlichen sozialen Realitäten interpretiert. Die multiethnische und multireligiöse Gesellschaft zur Zeit Augustins war Luther unbekannt.292 Bei Augustin sehen wir einen fast programmatischen Bedarf und Wunsch nach einem flexiblen, individuell gestalteten Unterricht in der Begegnung mit den unterschiedlichen Zuhörern seiner Zeit293 : Für die Menschen ohne Vorkenntnisse legte er Wert auf die Erzählung der Heilsgeschichte, während 290 Der norwegische Theologe Inge Lønning hat diese Perspektive wie kein zweiter in der norwegischen Theologie und Kirche sichtbar gemacht und diese Einsichten in der Politik verankert. Siehe v. a.: Lønning, Inge, 2008, »Kristen etikk« in: Christoffersen et al. Menneskeverd. Festskrift til Inge Lønning, S. 383ff. 291 Eine Einführung, wie Luther die Predigt auch als katechetisches Hilfsmittel zur Vermittlung der Heilsgeschichte nutzt, findet sich bei: Jensen, Oddvar Johan. 2013: »Trosopplæringen – arven og utfordringene«. 292 Jørgensen, Ninna. 2001, S. 22ff. 293 Christopher, J. O. (Red.). 1926. De catechizandis rudibus. The First Cathecetical Instruction.
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Täuflinge und Neugetaufte Formeln und Grundtexte wie den Dekalog, das Credo und die sieben heiligen Gaben des Heiligen Geistes auswendig lernen mussten, die »reifen« Christen sollten sich auf die Einübung der drei »theologischen Tugenden« Glaube, Hoffnung und Liebe konzentrieren.294 Für Augustin war es wichtig, dass die Täuflinge wissen, zu wem sie beten, er betonte den kognitiven Inhalt des Glaubens.295 Es gibt christliches Wissen, die Aneignung grundlegender Wahrheiten, die wiederum die Voraussetzung für ein christliches Leben, für Gebet und Nachfolge, für die christliche Praxis sind. Während Augustin individuelle Entwicklung und Wachstum, einen Weg zur Reifung, Einsicht und höherer Erkenntnis betont, zeigt Luther, wie ich verdeutlicht habe, wie der Katechismus als Text uns ein Leben lang herausfordert. In Luthers katechetischer Arbeit finden wir also keine Einführung in den christlichen Glauben, die sich an interessierte Außenstehende wendet, sondern eine Einübung für die Gläubigen. Wie der Freiheitstraktat zeigt, zielt diese Einübung auf Frömmigkeit, auf den gerechten, freien Menschen gegenüber Gott und den unfreien Knecht und Diener gegenüber dem Nächsten. Hier wird auch der Abstand zu unserer Zeit deutlich. Was im Kleinen Katechismus vorausgesetzt wird, ist heute nicht mehr selbstverständlich. Nicht zuletzt deswegen gelingt es dem Katechismus als Text nur noch ansatzweise, heutige Leser anzusprechen. Der Abstand zeigt sich zum einen in der Frage nach der Ontologie, dem Wirklichkeitsverständnis des Katechismus, das in hohem Maße seiner Zeit verhaftet bleibt, in der der Gottesgedanke noch eine obligatorische, nicht kritisch zu hinterfragende Voraussetzung für die weitere Reflexion war. Zweitens bezieht sich dieser Gottesbegriff noch selbstverständlich auf den christlichen Gott, wie wir ihn in Jesus Christus erkennen. Und nicht zuletzt wird die Autorität der Schrift unausgesprochen vorausgesetzt. Der kleine Katechismus zielt auf Einübung, nicht auf eine Einführung. Ungeachtet dieses Abstands meine ich, dass die oben anhand von vier Motiven untersuchte Lebensdeutung des Katechismus auch uns heute noch Wesentliches vermitteln kann. Wie bereits dargestellt bezieht Luther im 294 Barbel, Joseph (Hrsg.). 1968. Enchiridion. De fide, spe et caritate. Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe. 295 Scheel, O. (Hrsg.). 1903. Augustins Enchiridion.
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Großen Katechismus die Gottesfrage auf die menschlichen Vertrauensbeziehungen (vgl. das zweite Hauptthema »vertrauen«) in allgemeingültiger Weise:296 Im Großen Katechismus ist die Gottesbeziehung eben nicht an einen metaphysischen Gottesbegriff gebunden, Luther verweist dagegen auf die unterschiedlichen Götter des Menschen, wie Reichtum, Wissen, gute Werke, etc. Ferner lassen sich die wahren und falschen Götter, Gott und die Götzen dadurch unterscheiden: Nur der wahre Gott verrät den Menschen nicht, sondern steht ihm in seinen Nöten bei. Luther argumentiert hier mit einer gewissermaßen allgemeinen Ontologie, die keiner Ontologie des Glaubens bedarf, sondern auch außerhalb dieser Sinn macht. Legt man diese Perspektive des Großen Katechismus der Interpretation des Gottesbildes im Kleinen Katechismus zugrunde, öffnet dies den Weg zu einer heute noch relevanten Interpretation des Lebens außerhalb einer Ontologie des Glaubens, die keine notwendige Voraussetzung für den heutigen Dialog mit der Lebensdeutung des kleinen Katechismus ist. Der Pilger findet vielmehr einen Widerklang seiner Erfahrungen in den zentralen Motiven des Katechismus.
Die Pilgerwanderung als Einübung des Christentums Katechismus und Lebensdeutung – Versuch einer Konkretisierung Die Abhängigkeit von anderen Menschen wird für den Pilger durch sein Bedürfnis nach Essen, Trinken, Unterkunft und Gemeinschaft zu einer eindringlichen Erfahrung. Man wird dankbar für die einfachsten Dinge: dass die Schuhe die Wanderung durchhalten, dass der Rucksack nicht am Rücken reibt, dass die Schmerzen in den Beinen auszuhalten sind, dass die Sonne zwischen den Wolken erscheint, dass die Kleidung nach dem Regen wieder trocknet. Reichtum definiert sich neu und anders, losgelöst von der Kultur des Materialismus. Man erfährt das Leben als ein Geschenk, man sieht sich darin bestätigt, dass das Leben mehr ist als die Lebensweise und 296 Siehe Jørgensen, Theodor. 1995. »Sand og falsk guddom. Om kriterierne for at tale om Gud«. Vgl. auch Jensen, Roger. 2003. »Teologiens enhet«, wo die gleiche Thematik im Blick auf Schleiermacher diskutiert wird.
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die Kultur der modernen Gesellschaft. All die Herausforderungen und Probleme des Alltags zuhause werden in einer neuen Perspektive in ihren Dimensionen zurechtgerückt, was neue Hoffnung und Lebensfreude schenkt. Die Erfahrung einer Lebensform, die nicht mehr benötigt als das, was der Mensch wirklich braucht, befreit. Die vier Motive des Katechismus können bei der Deutung der Pilgererfahrungen helfen. Sie können den mutigen Gedanken, dass letztlich Gottes Gegenwart der Pilgererfahrung zugrunde liegt, dem modernen Pilger sinnvoll und konkret vermitteln: Die Anrede, die der Pilger in der Begegnung mit der Natur, Kultur und Geschichte auf komplexe Weise erfährt, ist Gottes realer und konkreter Zuspruch. Das Pilgern ermöglicht in besonderer Weise eine religiöse Deutung der Erfahrung von Abhängigkeit und Zugehörigkeit. Das Erbe des Katechismus hilft dem modernen Pilger, sinnvoll und konkret auf Gott zu vertrauen und damit alle Götzen des Alltags zu entlarven – all die wichtigen Faktoren und Elemente des alltäglichen Lebens werden im Lichte der Pilgererfahrung klein und unbedeutend. Alle Kirchen entlang des Weges zeugen unablässig vom Evangelium Christi, die heiligen Stätten bezeugen die kirchlichen Handlungen als mannigfaltige materielle Ausdrucksformen der Orte, an denen ich (oder Menschen, die mir nahestehen) getauft oder konfirmiert wurde, vielleicht geheiratet habe, und wo ich eines Tages beigesetzt werde. Es sind heilige Stätten kraft des Gnadenwortes, das mir gesagt wurde und mir dort immer wieder gereicht wird. So zeugen die Kirchen entlang des Weges vom Licht des Evangeliums in meinem Leben. Auf diese Weise ist eine religiöse und christliche Deutung der Pilgererfahrung zwar nicht zwingend, aber möglich, naheliegend und umsichtig. Der Pilger ist ein Teil der Kultur und Geschichte. Der heutige Pilger ist aber auch ein spätmodernes Individuum, je auf seine Weise unterwegs, wenn auch in der gleichen geistlichen und geographischen Landschaft, eingebunden in Natur, Kultur und Geschichte. Für Augustin, der im frühen Mittelalter lebte, in dem sich das Christentum zu einer allgemein bekannten und bald staatstragenden Religion entwickelte, ist die Reihenfolge klar: Die Aneignung von Wissen über das Christentum ist die Voraussetzung für das christliche Leben, für Gebet, Nachfolge und die Einübung christlicher Lebenspraxis. In diesem Kapitel
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habe ich dafür plädiert, dass sowohl der Katechismus als auch die Pilgerwanderung als eine Einübung des Christentums verstanden werden kann. Grundlage dafür ist die Lebensdeutung des Katechismus, der als historischer Text seiner Zeit und der Ontologie des Glaubens verhaftet ist, aber kraft dieser oben beschriebenen Deutung mit dem Menschen von heute noch in Kontakt treten kann, da sie nicht auf einer bestimmten Weltsicht beruht oder eine besondere Ontologie oder Glauben voraussetzt. Die Lebensdeutung der Pilgerschaft findet so ihre Erwiderung im christlichen Glauben, wie ihn der kleine Katechismus deutet. Damit überbietet der christliche Glaube die Pilgererfahrung als allgemeine Lebensdeutung, wobei diese religiöse Interpretation die allgemeine Deutung nicht abweist, sondern vielmehr bestätigt und die Erfahrungen, die die allgemeine Deutung zugrundelegt, zu etwas Größerem transformiert, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben: Die Erfahrungen und Erlebnisse werden heilig. Wie bereits angesprochen besteht in unserer spätmodernen oder postmodernen kulturellen Situation weniger Nachfrage nach Sinn als intellektuellem Wissen denn nach Sinn als Praxis. Ein Kennzeichen dafür ist der kritische Abstand zu heutiger Sinnproduktion und Sinnsystemen.297 Viele Menschen suchen heute Sinn durch Praxis, wobei die Praxis selbst der Sinn ist – wir tun mehr und meinen weniger. Oft ist es schwer zu erklären, warum man tut, was man tut, warum man eine bestimmte Praxis wählt. Die Bewegründe dafür lassen sich selten artikulieren. Genau aus diesem Grund kann die Pilgerschaft heute eine Einübung ins Christentum sein. Das intellektuelle Wissen, das für Augustinus so wichtig war, steht nicht am Anfang. Pilgerschaft bedeutet nicht, sich einem bestimmten Standpunkt anzuschließen oder einer Lehre zuzustimmen, was für viele heute keinen Sinn mehr macht. Das Wort »Glaube« funktioniert weniger als Subjekt, im Sinne von einen Glauben an etwas zu haben oder eine Behauptung zu akzeptieren, sondern lebt und pulsiert vielmehr als Verb, als eine von Vertrauen und Hoffnung getragene Lebenspraxis. Vereinzelt wird dieser Unterschied mit dem Begriffspaar transitiver und intransitiver Glaube charakterisiert, wobei transitiver Glaube an ein bestimmtes Objekt glaubt, während sich intransitiver Glaube auf kein be-
297 Jf. Toulmin, Stephen. 1990. Cosmopolis.
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sonderes Objekt richtet.298 Dieser Unterschied ermöglicht ein anderes Verständnis oder eine andere Nutzung des Glaubensinhalts: Aus dem Ausgangspunkt oder Gegenstand des Glaubens kann ein Mittel zum Glauben werden. So können die auf den eigenen Körper, auf Natur, Kultur, Geschichte und Gemeinschaft bezogenen Pilgererfahrungen – vom Erleben der Natur und Kulturlandschaft entlang des Weges, der kulturgeschichtlichen Orte und Bauten bis hin zu der einladenden Gemeinschaft, zu den Kirchen, der Kunst und schließlich der Kathedrale am Ende des Weges – zusammenwirken und damit Hoffnung, Vertrauen und Glauben schaffen. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und modernen Phänomen des Pilgerns. Der Pilger des Mittelalters machte sich wegen bestimmter Anlässe auf den Weg. Trotz der auch damals existierenden individuellen Unterschiede wanderten die Pilger mit dem Blick auf das gleiche, klar beschriebene Ziel: der Reliquie am heiligen Ort. Die Reliquie wiederum bezog sich auf die kirchliche Lehre über Buße, Ablass und dem Versprechen der Heilung von Leiden und Krankheit. Der Glaube bezog sich auf die deutlichen Objekte dieser Kausalkette. Wir haben auch andere Begründungszusammenhänge gesehen, die von allgemeinen Motiven ausgingen: dem Wunsch nach einem anderen Leben an einem anderen Ort, oder den Wunsch, die Welt zu sehen. Und in der Regel waren die Motive ineinander verwoben. Während aber der mittelalterliche Mensch seine Pilgerreise auf den Glauben an bestimmte Glaubenswahrheiten oder Objekte gründete, können für den heutigen Pilger die auf den Körper, die Natur oder die Gemeinschaft entlang des Weges oder in den Herbergen bezogenen Sinneserfahrungen wie auch die Begegnung mit den Glaubenswahrheiten und Objekten in Form von Kunst, Architektur oder religiöser Praktiken Mittel zum Glauben sein, den Glauben vermitteln. Heute stehen Interaktion und Prozesse im Mittelpunkt des Interesses: Der durch den Pilgerpfad repräsentierte Erfahrungsraum eröffnet und ermöglicht dem Pilger den Kontakt mit »dem Unendlichen«. So gesehen geht es um die Frage, auf welche Weise der Einzelne den Pilgerpfad als Erfahrungsraum nutzt. 298 Hammarström, Matz. 2012. »Tro uten objekt« in: Svensson, Thord u. a. (Hrsg.), Tillvarons utmaningar. Religionsfilosofiska studier i erfarenhet, tro och mening, S. 161–178. Hammarström verweist u. a. auf Martin Buber als ein zentraler Vertreter dieser Denkweise.
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Die moderne Pilgerpraxis ist nicht mehr oder in geringerem Maße auf einen Gegenstand, auf eine Reliquie bezogen. Die heutige Praxis ist sich selbst ihr Objekt, bezieht sich auf die Subjektivität des einzelnen. Meine eigene Praxis des Pilgerns wird erst dann für mich sinnvoll, wenn ich sie sinnstiftend oder sinnerneuernd in meinem Leben einsetze. Die Wanderung kann so der Ausdruck einer Suche nach einer größeren Tiefe und einem Zusammenhang in meinem Leben sein, die Suche nach etwas, das mich unbedingt angeht und mich in meinem täglichen Leben stützt. Aus religiöser Sicht zielt die moderne Pilgerschaft als sinnstiftende oder sinnaktualisierende Praxis über sich selbst als Praxis hinaus. Sie ist Ausdruck einer Suche nach Quellen außerhalb ihrer selbst, die den Alltag mit all seinen Selbstverständlichkeiten transzendieren, und von denen das Selbst abhängt, ein Teil davon ist und sich gleichzeitig danach sehnt. Die Nähe und die Gemeinschaft mit diesem Urgrund zu erleben heisst, das Heilige zu erleben, in dem das Alltägliche, Profane sich als der Ort der Gegenwart Gottes, der Ort des Heiligen erweist. Die Welt und der profane Alltag müssen nicht überwunden werden, um Gottes Gegenwart zu ermöglichen, vielmehr wird die Welt zum Ausdruck der Gegenwart Gottes, wenn auch nur bruchstückhaft, flüchtig und bedroht – trotzdem ist es unsere Wirklichkeit, die sich als die Wirklichkeit Gottes erweist. Das ist, was der Pilger erkennt, wenn er die Welt nun mit »offenen Augen« sieht. Die Transzendenz wird dadurch nicht zur Immanenz reduziert, die Immanenz hat vielmehr ihre Bedeutung als Gegensatz zur Transzendenz verloren, die Transzendenz erfüllt die Immanenz – und die Spannung zwischen Theismus und Pantheismus wird überwunden.299 Pilger zu sein heisst Gott zu suchen. Als Pilger entlang der alten christlichen Pilgerwege zu wandern, auf denen Geschichte und Kultur vom christlichen Glauben zeugen, ist eine Einübung ins Christentum. Die Pilgerschaft als Praxis kann Lebensmut spenden – und den Mut zu sterben. Das spätmoderne Pilgern ist etwas anderes als die mittelalterliche Pilgerschaft. Der Pilger ist nicht »zurück«. Peregrinus bedeutet »fremd« und der 299 Zu dieser Diskussion siehe u. a. Cox, Harvey. 2009. The Future of Faith, New York: Harper Collins.
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mittelalterliche Pilger ist ein Fremder auf der Erde. Nur an besonderen Orten fühlte er sich im eigentlichen Sinne »zuhause«, in der Nähe seines Schöpfers, in der Nähe Gottes: In der Kathedrale, wo der Himmel am nächsten ist und Gott versprochen hat, durch die aufbewahrten Reliquien zu handeln. Hier ist das Göttliche am stärksten anwesend und der Pilger erlebt einen flüchtigen Blick in seine eigentliche, himmlische Heimat. Der spätmoderne Pilger zieht seine Wanderschuhe nicht deshalb an, weil er sich als ein Fremder in der Welt fühlt und seine Heimat an einem anderen Ort sucht, sondern weil er bereits in der Welt zuhause ist und ständig eine Bestätigung dafür sucht, dass die Erde seine Heimat ist.300 In theologischer Perspektive wird damit der eschatologische Horizont des Lebens nicht aus den Augen verloren oder gar abgelehnt, vielmehr wird die Welt, die wir als Wirklichkeit erfahren, als eigenständiger Ausdruck der Wirklichkeit Gottes bestätigt – während gleichzeitig das im Glauben zu erfahrende Reich Gottes mitten unter uns ist (Lukas 17,21).
300 So verfehlt K.E. Løgstrup Kritik an der von ihm genannten »pilger-mystischen Deutung des Christentums« das heutige Pilgerphänomen, ist aber nach wie vor treffend im Blick auf die Pilger des Mittelalters: »Das Christentum ist die Botschaft vom ewigen Schicksal des Einzelnen, aber der christliche Gedanke der ewigen Errettung nimmt dem zeitlichen und diesseitigen Leben nicht jeglichen Sinn. Mit seinem Heil dementiert Gott nicht seine Schöpfung, wie dies die pilger-mystischen Deutung des Christentums annimmt. Pilgermystisch verstanden ist der Christ im kommenden und ewigen Leben zuhause, und alles, was ihm auf der Wanderung im zeitlichen Leben widerfährt, ist nur vorläufig, Sorgen und Freuden prellen an ihm ab, die alltäglichen Pflichten erfüllen ihn mit frommer Ablenkung. Leiblich anwesend ist er geistlich abwesend, sein Herz weilt weit weg in der ewigen Heimstatt, während er als Fremder durch diese Welt wandelt… Das Christentum gibt den Christen zurück an das diesseitige Leben, um sich mit seinen diesseitigen Aufgaben zu beschäftigen und unter den bereits gegebenen und geschaffenen Bedingungen des Diesseits zu leben.« Løgstrup, K.E. 1970. Lumen 38, S. 59–76. Zu weiteren kritischen Stimmen in der skandinavischen Theologie siehe: Aurelius, Carl Axel. 2014. På helig mark – pilegrimen i historia och nutid. Skellefteå: Artos & Norma, S. 125–133.
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Ist damit alles gesagt? Der Pilger als Wegbereiter zu einer neuen Spiritualität Steht diese phänomenologische Sprechweise, die die Kraft der Subjektivität und ihre sinnstiftenden Aktivitäten betont, nicht im Konflikt mit dem Evangelium und der Kirche als Ort der Wahrheit? Widerspricht die Rede vom intransitiven Glauben nicht dem Christentum, wie wir es kennen? Repräsentiert diese Denkweise nicht einen streng post-metaphysischen, undogmatischen und nicht-objektivistischen Gottesbegriff, in dem gerade das, was der Pilger sucht und aufsucht, nämlich die heiligen Orte, vollständig seine Bedeutung verloren hat?301 Nein. Wie wir oben gesehen haben, unterscheidet sich der heutige Pilger auf seiner Wanderung in vielerlei Hinsicht vom mittelalterlichen Pilger. Es ist lange her, dass die Pilgerschaft die wichtigste Art des Reisens war. Heute reisen die Menschen zur Arbeit und in die Freizeit und tun dies im Wesentlichen ohne jeglichen Bezug zur Kirche. Das Reisen ist eine säkularisierte Angelegenheit. Auch bedarf die heutige Pilgerschaft keiner Erlaubnis einer kirchlichen Autorität, einem lokalen Priester oder Bischof, und die religiösen Institutionen und Amtsinhaber unserer Tage haben keine Autorität mehr, eine Pilgerschaft verbieten oder auferlegen zu können. Das Pilgern ist nicht mehr an kirchliche Gemeinden gebunden, die den Pilger aussenden oder aufnehmen, sondern ist im Wesentlichen ein individualisiertes, privatisiertes und kommerzialisiertes Geschehen. Der einzelne Pilger entscheidet selbst, auch wenn er sich in kirchlichen Rahmen bewegt. Allerdings hat der heutige Pilger auch ökonomische und praktische Privilegien verloren, die nicht mehr oder nur noch stark reduziert existieren. Wie wir oben dargestellt haben, bezeichnet der Begriff Spiritualität häufig eine spätmoderne religiöse Suche, die nicht notwendigerweise mit einer traditionellen religiösen Frömmigkeit verbunden ist, wobei der Begriff selbst auch in herkömmlichen religiösen Rahmen verwendet wird.302 Spiritualität
301 Zu religionsphilosophischen Positionen, die die Säkularisierung begrüßen, siehe z. B. Vattimo, Gianni. 1999. Belief, Cambridge: Polity Press; Gargani, Aldo. 2004. »Den religiösa upplevelse som händelse och tolkning« in: Derrida und Vattimo (Red.), Religionen, Göteborg: Daidalos. 302 Der konservative katholische Dogmatiker Hans Urs von Balthasar bezeichnet damit die subjektive Seite der Dogmatik, also die persönliche Aneignung oder die religiöse
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meint heute gern eine allgemeine Offenheit dafür, dass das Leben mehr ist als das, was ein streng rationaler Zugang zur Wirklichkeit erlaubt, und bezieht sich häufig, wie wir bei Woodhead und Heelas gesehen haben, auf eine höhere Macht.303 Der Begriff hat seine traditionelle Verankerung in der christlichen Tradition und seine institutionelle Verankerung in der Kirche wie auch sein zugrundeliegendes, klar definiertes christliches Gottesbild verloren. Er drückt er heute eine Offenheit für die Transzendenz aus, die weder eine Dogmatik, eine institutionelle Zugehörigkeit oder ein individuelles oder kollektives Bekenntnis erfordert, sondern durch eine anhaltende Offenheit und eine ständige Suche nach Erkenntnis seiner selbst, seiner Mitmenschen und der Welt, in der wir leben, gekennzeichnet ist. Die Frage stellt sich, ob wir uns heute eine christliche Theologie denken können, die Raum für Bewegung und Veränderung gibt und auch über die Grenzen der Tradition und Kirche hinaus ständig auf der Suche bleibt. Die skandinavisch geprägte Schöpfungstheologie ermöglicht es, beide Pole, sowohl die menschliche Erfahrung als auch den Zuspruch des Evangeliums, zu bewahren und theologisch gleichberechtigt zu verbinden. In unserer post-säkularen Gegenwart ist es nicht die Aufgabe von Theologie und Kirche, das Religiöse gegen das Säkulare zu verteidigen, wie wir dies von der radikalen Orthodoxie und der postliberalen Theologie her kennen. Wir sollten uns demgegenüber darum bemühen, die Trennung zwischen Religion und säkularer Welt im Blick auf ein postsäkulares kulturelles Klima durchlässiger zu gestalten, in dem eine wissenschaftliche Auffassung der Welt nicht mehr notwendigerweise im Gegensatz zu einer religiösen Denkweise steht, sondern der Glaube den Blick auf die Welt, die der Mensch bereits kennt, erweitert: Die Welt selbst wird größer, und es geht darum, sie mit weit offenen Augen zu sehen. Ein kirchengeschichtliches Beispiel für den Versuch einer Verbindung von Tradition und Erneuerung finden wir im Vorwort zu Luthers »Die deutsche Messe«, auf die wir bereits weiter oben Bezug genommen haben. Luther denkt hier darüber nach, wie der einzelne Gläubige in die Lage Praxis in Verlängerung der rechten Lehre der Kirche. Balthasar, Hans Urs. 1960. Verbum caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln: Johannes Verlag, S. 226ff. 303 Die Spiritualitätsforschung ist ein größeres Forschungsgebiet, hier und im Folgenden siehe besonders den Soziologen Michael N. Ebertz, v. a.: Ebertz, Michael N. 2012, »Der ›alte‹ und der ›neue‹ Pilger«.
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versetzt werden kann, die gesamte Schrift selbst zusammenzufassen und so seinen Glauben zu erneuern. Er benutzt dafür das Bild von vier Geldbeuteln: Eltern können Gold- und Silbermünzen in die Beutel legen, wenn ihre Kinder je und je zu verstehen lernen, was ein Schriftzitat bedeutet und wohin es gehört. Die beiden Goldbeutel handeln von der Sünde und Erlösung, der Dialektik des Glaubens, von Gesetz und Evangelium. Die beiden Silberbeutel stehen für den Dienst am Nächsten und die Sanftmut. Die Beutel sollen benutzt werden, aber die eigentliche Aufgabe für den Menschen besteht darin, selbst neue Beutel herzustellen.304 Ähnlich argumentiert Luther in der Vorrede zum Kleinen Katechismus, dass man den Wortlaut des Vaterunsers, des Glaubensbekenntnisses und der Zehn Gebote lernen solle, aber um »den Sinn zu verstehen und die Bedeutung zu erfassen« soll man »eine Erklärung dieser Textstücke oder eine andere kurze, bestimmte Erklärung oder welche man immer auch will« zur Hand nehmen. Luther wünscht einen lebendigen Gebrauch und eine mündige Weiterentwicklung der katechetischen Tradition. Grundlage für die religiöse Mündigkeit ist für Luther das allgemeine Priestertum, sie lässt sich indessen theologisch und konfessionell unabhängig auch anders begründen: Das Ziel ist stets nicht nur die Weitergabe der Tradition, sondern auch ihre Erneuerung – eine Kirche, die unermüdlich versucht, die Wahrheit neu zu artikulieren und die Bewegung und Erneuerung wagt: eine Pilgerkirche. Die Spannung zwischen Überlieferung und Erneuerung prägt den Pilger von heute, der »aufbricht, um nach Hause zu kommen«, nicht nur mit dem Denken oder dem Gefühl, sondern mit ganzem Herzen.305 Damit kann gerade der Pilger unserer Zeit dazu beitragen, die strikte Trennung von Religion und säkularer Welt zu überwinden.
304 Jf. WA 19, 78. Siehe: Salomonsen, Jone und Jensen, Roger. 2005. »Trosopplæring og konfirmasjon« in: Prismet Nr. 4, 2005, S. 283–290. 305 »In toto corde meo non dimidio, ut qui solum velut philosophi intellectus exquirunt sine affectu, exquisivi«. WA 4, 282,8–9, aus der ersten Psalmenvorlesung 1513–16.
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Möge die Straße uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein. Sanft falle Regen auf deine Felder und warm auf dein Gesicht der Sonnenschein. Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand.
Bild 20: »Möge die Straße« ist ein alter irischer Reisesegen. Er wird oft bei organisierten norwegischen Pilgerwanderungen gesprochen, wenn einzelne Pilger die Gruppe verlassen oder neue Pilger hinzukommen, wie hier beim Abschied bei den Schwesterkirchen in Granavollen nördlich von Oslo im Sommer 2014. Foto: Birgitte Lerheim.
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Afdal, Geir 73 Amundsen, Arne Bugge 38, 130 Andresen, Knut 38 Aurelius, Carl Axel 152, 154, 241 Balthasar, Hans Urs 242f. Barbel, Joseph 235 Bartholomew, Craig 102, 105, 127 Bauman, Zygmunt 14 Bayer, Oswald 167, 171, 203, 215f. Belting, Hans 191 Benrath, Gustav Adolf 135 Bentley, James 158 Beutel, Albrecht 181 Birnbaum, Daniel 155, 183, 191 Bitton-Ashkelony, Brouria 99, 104, 107 Bochinger, Christoph 90 Bremborg, Anna Davidsson 82 Bunyan, John 153 Carlen, Luis 113 Catto, Rebecca 90–92 Chadwick, H. 98 Childress, Diana 123 Christoffersen, Svein Aage 203f., 207, 234 Christopher, J. O. 97, 234
Coelho, Paulo 77 Cox, Harvey 240 Davies, J. G. 127 Dennerlein, Norbert
217
Ebeling, Gerhard 180, 202 Ebertz, Michael N. 75, 109f., 243 Engelbrecht, Martin 90 Eriksen, Anne 38, 129f. Erne, Thomas 184, 190f. Feldweg, Bettina 93 Franke, Birgit 176 Frey, Nancy Louise 85 Fritz, Johann Michael 188 Gamper, Markus 79 Ganz-Blättler, Ursula 108 Gargani, Aldo 242 Gebhard, Winfried 90 Gengnagel, J. 74 Gennep, Arnold van 68f. Gerrish, B.A. 143 Gilhus, Ingvild Sælid 70 Goehm, Gottfried 188 Gräb, Wilhelm 98, 149, 158, 185, 190
260
Personenregister
Graf, Veronika 79 Gregersen, Niels Henrik 203 Grün, Anselm 205 Grundetjern, Kristina Røynås 77 Grünwaldt, Klaus 217 Guignon, Charles 156 Haab, Barbara 85 Hammarström, Matz 239 Harbsmeier, Eberhard 227 Hartmann, Andreas 176 Heelas, Paul 91, 243 Heiser, Patrick 10, 79, 83, 85, 198 Hellemo, Geir 184 Helmer, Christine 202 Henriksen, J.O. 91 Herbers, Klaus 108f., 112f., 122, 124, 127 Hervieu-Léger, Danièle 73, 75f., 78 Hirvonen, Vesa 158, 162 Hofmann, Wernes 184 Holum, K. G. 100 Honecker, Martin 171 Horstmann, M. 74 Hughes, Fred 102, 105, 127 Ivakhiv, Adrian J.
82
Jensen, Oddvar Johan 234 Jensen, Roger 9–11, 16, 22, 25, 30, 32, 35, 42, 49, 55, 64, 93, 103, 108, 120, 136, 142, 161, 167, 171, 174, 190, 199, 203–205, 207, 209, 224, 226f., 229f., 234, 236, 244 Johnson, Paul 112 Jørgensen, Ninna 234 Jørgensen, Theodor 224, 236 Jung, Matthias 36, 190 Kaufmann, Thomas
187
Kelly, J.N.D. 98 Kent, W. H. 122 Kjølsvik, Idar 43 Knoblauch, Hubert 90 Kolbjørnsrud, Mari 77 Korff, Gottfried 74 Korsch, Dietrich 184 Kraft, Siv Ellen 70 Kühne, Hartmut 158, 162 Kurrat, Christian 10, 68, 76, 79, 86, 88, 198 Lehmann, Karl 214 Leivestad, Hege Høyer 77 Lentes, Thomas 185 Lerheim, Birgitte 20, 76, 245 Lienau, Detlef 9, 205 Limor, Ora 103, 107, 110 Lincoln, Andrew T. 105 Lindaräng, Ingemar 130 Løgstrup, K.E. 203f., 241 Løver, Lene Louise 77 Luthen, Eivind 38 MacLaine, Shirley 77 McGinn, Bernard 194 Mersmann, Birgit 188 Michael, Angelika 179f. Mikaelson, Lisbeth 38 Morinis, Alan 71f. Motyer, Steve 105 Nagorni, Klaus 109, 112, 116 Nilsson, Kjell Ove 227 Öberg, Ingmar 120 Ohler, Norbert 97, 108, 111, 114, 116 Olsen, Helge Alfred 78, 130 Os, Henk van 158 Østang, Øivind 38
261
Personenregister
Ousterhout, R. 100 Ozment, Steven 118 P.M. Guide 82 Palladius, Peder 166 Paulsen, Ingvild S. 77 Pettersen, Niklas Mintorovitch Plötz, Robert 108 Poska, Alyson M. 23 Post, Paul 75, 203 Preston, James J. 72f. Puschmann, Norbert 75f. Raju, Alison 56 Rasmussen, Tarald 119 Reader, Ian 90 Repstad, P. 91 Ress, Fran 123 Reuter, Julia 79, 184 Riley-Smith, J. 111 Riskin, Jessica 176 Rothgangel, Martin 217 Rückert, Peter 116 Ruh, Hans 109, 112, 116 Rupp, Horst F. 221 Salomonsen, Jone 244 Saviano, Marco 74 Scheel, O. 235 Schieder, Wolfgang 74 Schützeichel, Rainer 68, 70 Schwebel, Horst 191 Schwedler, G. 74 Sheldrake, Philip 194f. Slavin, Sean 82 Søiland, Margareth Buer 122 Soja, Edward W. 75 Sommer, Aline 74
78
Specht, Judith 82, 85 Spies Christiann 188 Stensvold, Anne 129 Stoellger, Philipp 188 Stolt, Birgit 217, 221 Stoumsa, G. 103 Sumption, Jonathan 121 Thomassen, Einar 119 Tomlin, Graham 142, 148 Toulmin, Stehpen 199, 238 Tranströmer, Tomas 17, 67, 197 Tripps, Johannes 176f. Turner, Edith 68–71, 73, 75, 93 Turner, Victor 68–71, 73, 75, 93 Uggla, Bengt Kristensson
203
Vådahl, Øyvind 38, 77 Vattimo, Gianni 242 Verger, J. 221 Vistad, Odd Inge 82 Walker, P.W.L. 105f. Walker, Peter 102 Walter, Tony 90, 158 Wandersleb, Martin 187 Waterworth, James 176 Weimer, Christoph 185 Wengert, Timothy J. 217 Wingren, Gustaf 167, 203f. Woodhead, Linda 90–92, 198, 213, 243 Wright, N.T. 106 Wyller, Trygve 203 Zeunert, Susanne 177, 181 Zimmerling, Peter 130f., 148, 152, 186