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German Pages VIII, 233 [238] Year 1994
DETLEV CLAUSSEN
WAS HEISST RASSISMUS?
WISSENSCHAFTLICHE
BUCHGESELLSCHAFT
DARMSTADT
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgaii. Einbandbilder: Apartheid in Südafrika, Sitzbank „Nur für Weiße" (links). Politisch legitimierte Gewalt gegen Ausländer: Brandruine nach dem Mordanschlag in Solingen am 29. Mai 1993 (rechts). Fotos: SüddeutscherVerlag.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Claussen, Detlev: Was heißt Rassismus?/ Detlev Claussen. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1994 ISBN 3-534-12033-7
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 1994 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany Schrift: Linotype Tim es, 9.5/11
ISBN 3-534-12033- 7
Wir Heimatlosen, ·wirsind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne Menschen", und folglich wenig versucht, an jener verlogenen Rasse-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichendeutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des „historischen Sinns" zwiefach falsch und unanständig anmutet. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1881-1882
Weit davon entfernt, uns fragen zu ,nüssen, ob die Kultur eine Funktion der Rasse ist oder nicht, entdecken wb; daß die Rasse - oder das, was man gemeinhin unter diesem Begriff versteht- eine Funktion der Kultur unter anderen ist. Claude Levi-Strauss, Rasse und Kultur, 1971
Die Kolonisatoren sind häufig zugleich Rassisten, zugegeben, aber die Kolonisierten ebenfalls. Albert Memmi, Rassismus, 1982
INHALT Was heißt Rassismus? Ein Essay von Detlev Claussen
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I. Kommentierte Texte politischer Rassenlehren bis 1945 Der Untergang der Besten Gobineaus Versuch einer Rassentheorie
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(Text: Joseph Arthur Graf Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, Erster Band, 2. Aufl. Stuttgart 1902, S. 29-47) Kommentar
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Gründerjahre des modernen Antisemitismus Dühring als Pionier moderner Massenverfolgung
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(Text: Eugen Dühring, Die Judenfrage als Frage des Racencharakters und seiner Schädlichkeiten für Völkerexistenz, Sitte und Cultur. Mit einer denkerisch freiheitlichen und praktisch abschließenden Antwort, 5.Aufl. Berlin 1901, S.1-20) Kommentar
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Rassenreligion Chamberlains rassistische Erfolgsschriftstellerei
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(Text: Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Das XIX. Jahrhundert, Bd. l, München 1899, s.263-288) Kommentar
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Rassenästhetik „Rasse" als Kern von Hitlers Weltanschauung (Text: Adolf Hitler, Die deutsche Kunst als stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes. Rede, gehalten auf der Kulturtagung des Parteitages 1933, in: Reden des Führers. Politik und Propag~nda Adolf Hit-
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Inhalt
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lers 1922-1945, hrsg. von Erhard Klöss, München: DeutscherTaschenbuch Verlag 1967, S.108-120) Kommentar
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II. Kommentierte Texte der Rassismusdebatte nach 1945 Rassenimperialismus Hannah Arendts veränderter Blickwinkel nach 1945
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(Text: HannahArendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus, II. Imperialismus, III. Totale Herrschaft, München/ Zürich: Piper 1986, S. 267-285) Kommentar
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Eine andere Geschichte Claude Levi-Strauss' Beitrag zur Rassismusdiskussion
136
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(Text: Claude Levi-Strauss, Rasse und Geschichte. Aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 7-81) Kommentar
.
Ein Signal für die Verdammten Frantz Fanons Kritik des kulturellen Rassismus
182
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(Text: Frantz Fanon, Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften, Frankfurt a. M.: März 1972, S.38-52) Kommentar
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Angst vor dem Anderen Albert Memmis Sozialpsychologie der Heterophobie
197
203
(Text: Albert Memmi, Rassismus. Aus dem Französischen übersetzt von Udo Rennert, Frankfurt a. M.: Syndikat/EVA 1987, S. 97-124) Kommentar
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Auswahlbibliographie zum Thema Rassismus
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Register .
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WAS HEISST RASSISMUS? Ein Essay Leo Löwenthal (1900-1993) zur Erinnerung
Das politische Stich- und Schlagwort Rassisn1us ist in aller Munde. Der inflationäre Gebrauch des Wortes Rassismus, das moralische Eindeutigkeit verlangt, verdeckt den politischen Begriff des Rassismus, der bestimmte Praktiken bezeichnet, die ein durch die UNO nach 1945 bestätigter Commonsense der Weltgesellschaft als unmenschlich verurteilt. Unter Rassismus im engeren Sinne läßt sich eine gesellschaftliche Praxis verstehen, in Wort und Tat Menschengruppen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe zu diskrinzinieren. Rassismus wurde nach 1945 weltweit geächtet, nachdem die nationalsozialistischen Verbrechen zu einem international verstandenen Synonym einer Praxis geworden waren, Völker und menschliche Großgruppen für „rassisch minderwertig" zu erklären, sie diskriminierenden Praktiken zu unterwerfen und schließlich auszurotten. Dieser weltgesellschaftliche Konsens in der politisch-moralischen Verurteilung des Rassismus wurde in den späten sechziger Jahren befestigt, als die weltweite Entkolonialisierungsbewegung ihren Höhepunkt erreichte und mit antirassistischen Bewegungen in den Metropolen, vor allem in der meinungsbildenden Einwanderergesellschaft der Welt, den USA, zeitlich zusammenfiel. Mit der Jahreszahl 1989, die das Ende der Systemkonfrontation von Ost und West, die beide Machtblöcke um die politische Gunst der Länder der Dritten Welt konkurrieren ließ, bezeichnet, scheint auch das Ende des institutionalisierten Rassismus - symbolisiert durch den Sturz des Apartheid-Regimes in Südafrika - nicht mehr aufzuhalten zu sein, während zugleich im internationalen Kontext eine Zunahme von diskriminierenden Praktiken sich beobachten läßt. In der öffentlichen Diskussion ist eine kaum auflösbare Konfusion darüber entstanden, was als rassistisch zu bezeichnen ist, was als fremdenfeindlich, was als nationalistisch, als antisemitisch, ethnozentrisch oder xenophob. In den Metropolen Westeuropas kreuzen sich propagandistische Übertreibungen von antirassistischen Aktivisten mit offiziellen Verharmlosungen und Bagatellisierungen von politisch legitimierten
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Gewaltakten gegen Fremde, Ausländer und Asylsuchende. Auch Mißhandlungen von Behinderten gehören in diesen Kontext. Die Weltöffentlichkeit meldet nahezu jede gewalttätige soziale Spannung in den USA, wie zuletzt die Straßenschlachten von Los Angeles 1992, als "race riots", als „Rassenunruhen" - ein Schlagwort, das jede Analyse überflüssig zu machen scheint. Die Auflösung der multinationalen Gesellschaften sowjetischen Typs -des „Vielvölkerstaates" Jugoslawien konfrontiert die Welt mit der Praxis „ethnischer Säuberungen", die Vergleiche mit der nationalsozialistischen Völkermordpraxis herausfordern. Alles Rassismus? Oder nichts von alledem? Wer sich heute des Beiworts „rassistisch" bedient, kann sich der Übertreibung und der Bagatellisierung zugleich schuldig machen. Es bedarf jedoch keiner großen intellektuellen Anstrengung, um rassistische Praktiken zu erkennen. Die Konstruktion von biologischen Menschenrassen, die sich dann kulturell hierarchisieren lassen, läßt sich wissenschaftlich nicht halten. : Aber offensichtlich besteht auch ein tiefes Bedürfnis von Menschen: gruppen, sich von anderen abzugrenzen und die spontane Bevorzugung ' des Eigenen vor dem Fremden oder Anderen zu legitimieren. Dieses Bedürfnis wird im Alltagsleben produziert und durch die Macht der Gewohnheit bestätigt. Die Medien von Information und Konsum greifen die Unterscheidungsbedürfnisse von Menschen auf und verfestigen sie zu sozialem Konformismus - zugleich „so zu sein wie die Anderen"' und doch auch „anders zu sein als die ganz Anderen". Die Medialisierung der Wissenschaften hat dazu geführt, daß die Grenze zwischen Wissenschaft und Populärwissenschaft sich zunehmend verwischt. In den Medien konkurrieren Wissenschaftler mit ihren Interpretationen gesellschaftlicher Erscheinungen. Vage, d. h. vielseitig verwendbare skandalisierende und legitimierende Kategorien sind die Markenzeichen populärer Wissenschaft: Das schillernde Wort „Rasse" emotionalisiert; denn es scheint gemeinverständlich und klingt wissenschaftlich. Die Einhelligkeit der öffentlichen Meinung bei der Verurteilung des Rassismus weicht schnell definitorischen Streitigkeiten, wenn es darum geht, das zu bestimmen, was als rassistisch gelten soll. Eine befriedigende Definition des Begriffs Rassismus gibt es nicht. Der aufklärerischen Literatur nach 1945 schien es auf der Hand zu liegen, daß der Rassismus das Soziale biologisiere. Es ist nicht allgemein präsent, daß der Begriff des Rassismus erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts zur Charakterisierung der „nationalsozialistischen Weltanschauung" entstanden ist. Die angebliche Systematik
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und Geschlossenheit der nationalsozialistischen Ideologie müssen als Artefakte der politisch-pädagogischen Literatur gelten, in der häufig mit der Fiktion einer nationalsozialistischen „Theorie" gearbeitet wird, die dann in Auschwitz in die Praxis umgesetzt worden wäre. Noch populärer ist die durch ernstzunehmende Historiker und Soziologen verbreitete Vorstellung geworden, Hitler habe eine klare Weltanschauung besessen, die er, an die Macht gekommen, systematisch verwirklicht habe. Konstruktionen dieser Art passen mit dem Weltbild des Common sense zusammen, erst existiere ein Gedanke, der dann eine Tat erzeuge. Man müsse nur den Gedanken erkennen, isolieren und widerlegen. um vor der Wiederholung dieser Tat sich zu schützen. Die nationalsozialistische Praxis von „Weltanschauungskrieg", Konzentrations- und Vernichtungslagern stellt jeglichen Sinn von Geschichte und Gesellschaft radikal in Frage; sie ist nicht einfach als Folge der nationalsozialistischen Rassenideologie zu begreifen. In denen, die das Unbegreifliche begreifen wollen, regt sich der humane Wunsch, zumindest eine Logik in der Geschichte des Massenmordes zu erkennen. Mit diesem Bedürfnis nach Sinn wächst die Gefahr, die systematische Fabrikation des Todes nachträglich zu rationalisieren. Die geistesgeschichtliche Zurückführung von Auschwitz auf die Ideenwelt des 19.Jahrhunderts, auf Rassenbiologie und Eugenik, weist ebenso wie die macht- und bevölkerungspolitische Begründung der Massenvernichtung der europäischen Juden in die Irre, weil beide Arten des intellektuellen Zugriffs das irrationale Moment des gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses jenseits jeder Rationalität der Selbsterhaltung verleugnen. Die Einsicht in die Gefahr sollte aber auch vor dem Rückfall in das Gegenteil der Rationalisierung bewahren, nämlich in die intellektuelle Abwehrtechnik der Irrationalisierung, der Mystifizierung des Bösen. Die antirassistische Literatur bietet beides: Rationalisierung und Irrationalisierung. An der Behandlung des Nationalsozialismus läßt sich das exemplarisch ablesen. Der Rassismus im Nationalsozialismus leitet sich von keiner Theorie her, sondern erscheint aus dem politischen Bedürfnis, ein praktisches Programm rücksichtsloser Gewalt- von Unterdrückung, Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und Massenmord-zu legitimieren. In diesem Sinn kann man das nationalsozialistische „Gedankengut" mit Hannah Arendt als Ideologie bezeichnen. Nach Horkheimer und Adorno läßt sich eine „ totalitäre Ideologie" nicht widerlegen; denn sie erhebt nicht wie die traditionellen bürgerlichen Ideologien des „Liberalismus, des Individualismus, der Identität von Geist und Wirklich-
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keit'' den Anspruch autonomer Wahrheit, sondern eine totalitäre Weltanschauung wirkt nur als Herrschaftsmittel, eben in Kombination mit der Gewalt, die sie legitimieren soll. Nicht die Inhalte der Gewaltlegitimation sollte der kritische Wissenschaftler untersuchen, ,sondern „analysieren, auf welche Dispositionen in den Menschen sie !spekulieren, was sie in diesen hervorzurufen trachten, und das ist höllenweit verschieden von den offiziellen Deklamationen" . 1 Die nationalsozialistische Ideologie und auch exemplarisch Hitlers „Weltanschauung" zeichnen sich durch einen konfonnistischen Synkretismus aus, der Autorität, Banalität und Halbwissen kombiniert. In der Rassenlehre des Nationalsozialismus kommen Elemente der Tradition des politischen Rassismus ebenso zusammen wie Tendenzen d~r Wissenschaftsentwicklung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die nationalsozialistische Rassenideologie verwischt systematisch alle Grenzen zugunsten der einen Grenze, die mit definitorischer Willkür gezogen wird: die Grenze der Rasse. Die negative Utopie des Nationalsozialismus heißt rassische Honiogenität. Die Nationalsozialisten vermischen Wissen und Glauben, elitäre Forschungspraktiken aus den geschlossenen Laboren der Erbforscher mit für jedermann anschaulichen Alltagsvorstellungen. In einem Beiblatt des Völkischen Beobachters vom 1. Mai 1930 heißt es um die Sympathien der nichtnationalsozialistischen „Volksgenossen" werbend: „Die Rassenbiologie und die Rassenhygiene ist keine Wissenschaft nur für Gelehrte, sondern muß Gemeingut des Volkes werden, wenn es mit Deutschland wieder aufwärts gehen soll. In einem nationalsozialistischen Staate wird nur derjenige ein Recht auf Nachkommenschaft haben, der körperlich und geistig vollständig gesund ist. Unser ,Rassenfanatismus', wie unsere Bestrebungen die Rasse reinzuhalten von der Judenpresse immer bezeichnet werden, hat sehr wohl eine wissenschaftliche Grundlage. Es ist durchaus erwiesen, daß eine Blutsvermischung zwischen Deutschen und Hebräern oder zwischen Deutschen und Negern für unsere Rasse die größte Gefahr ist. Umgekehrt leitet den Juden sein angeborener Bastardisierungstrieb, wenn er sein begehrliches Auge auf blonde deutsche Mädchen wirft. Vielleicht zugleich auch der Trieb, seine eigene Rasse durch nordisches Blut zu verbessern. Man sollte meinen, daß sich dieser selbstverständlichen Pflicht (gemeint ist, das ,nordische Blut' bewußt reinzuhalten, d. c.) auch kein Nationaldenkender, auch wenn er nicht in unserem Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Soziologische Exkurse, Frankfurt a. M. 1956, S.169f. 1
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Lager steht, entziehen kann. Fernerhin ist jede Ehe oder lose Geschlechtsverbindung mit einem niederrassigen Individuum - sei es nun Jude, Neger oder Farbiger - mit drakonischen Strafen zu belegen. " 2 Die nationalsozialistische Ideologie der „Rassenreinheit" arbeitete mit dem Synkretismus, der Technik des Vermischens, des Verwischens der bestimmten Unterschiede, um einen absoluten Unterschied hervorzubringen. Alle Rassisnien sind Synkretisnien: Sie ( wollen die differentia specifica, den bestimmten Unterschied, durch i den etwas erklärt und begriffen werden kann, gar nicht wissen. Die Wurzeln dieses Prozesses sind im Ende des 19. Jahrhunderts zu suchen. Alltägliche Vorurteilsstruktur und Populärwissenschaft begannen einander zu ergänzen, nachdem durch die Entzauberung des Glaubens und durch politische, wissenschaftliche und industrielle Revolutionen in der westlichen Welt eine rapide Säkularisierung des gesellschaftlichen Lebens eingesetzt hatte. Dieser Prozeß der Verweltlichung, den die Soziologie auch als „Rationalisierung" oder säkulare ,,Modernisierung" gefaßt hat, macht Glauben ohne Begründung unmöglich, nach den Worten Ernest Gellners bringt dieser Prozeß „eine mobile und kulturell homogene Gesellschaft mit egalitären Erwartungen und Hoffnungen hervor, wie sie in der vorhergehenden stabilen, in Schichten untergliederten, dogmatischen und absolutistischen Agrargesellschaft fehlten " 3 • Populäre rassistische Ideologen nach 1850 nahmen die enttäuschten egalitären Erwartungen auf und schufen sektiererische Glaubensformen, die sich durch Berufung auf Wissenschaft legitimierten. Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts - das Land Europas, in dem der Säkularisierungsschub am schnellsten und durchdringendsten verlief - kann als riesiges Laboratorium des gesellschaftlichen Irrationalismus gelten, der sich als Produkt mißglückter Säkularisierung interpretieren läßt. Als Vorläufer der Naziideologie muß man die Varianten des völkischen Antisemitismus ansehen: ,,Die unversöhnlichsten Judenhasser kamen aus den Städten, nicht vom Land; sie waren keine christlichen Eiferer, sondern verhielten sich der Kirche gegenüber gleichgültig, wenn nicht direkt feindlich; fast alle gehörten den ,gebildeten' Schichten an. Die bösartigste Sorte von Antisemitismus Nach Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 378. 3 Emest Gellner, Nationalismus und Modeme, Berliff 1991, S.113. 2
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verbreiteten Lehrer, Studenten, Industrie- und Handelsangestellte, untere Beamte, Freiberufler und Anhänger der verschiedensten Sekten: Mitglieder der Lebensreformbewegungen, Roggenbrot-Enthusiasten, ,Zurück-zur-Natur'-Schwärmer und Gegner der Vivisektion. " 4 Die synkretistische Leistung der Nationalsozialisten bestand darin, die unterschiedlichsten völkischen Strömungen mit dem Mainstream der deutschen Kultur zu vereinen. Um eine derart „reine" deutsche Kultur zu erhalten, mußte man sie erst einmal als „rein deutsche" etablieren, damit eine Identifikation von „Rasse" und „Deutscher" möglich wurde. Um das Bild einer völkisch homogenen deutschen Kultur zu entwerfen, in der sich die enttäuschten wie die ehrgeizigen Deutschen nach dem Zusammenbruch von 1918 aufgehoben fühlen konnten, mußten die Nazis einen rassischen Antisemitismus zum politischen Zentrum ihrer „Weltanschauung" machen. Hitler hat sein Konzept eines „Antisemitismus der Vernunft" sehr früh artikuliert: ,,Zunächst ist das Judentum unbedingt Rasse und nicht Religionsgenossenschaft. Und der Jude selber bezeichnet sich nie als jüdischen Deutschen, jüdischen Polen oder etwa als jüdischen Amerikaner, sondern stets als deutschen, polnischen oder amerikanischen Juden. Noch nie hat der Jude von fremden Völkern, in deren Mitte er lebt, viel mehr angenommen als die Sprache. Und so wenig ein Deutscher, der in Frankreich gezwungen ist, sich der französischen Sprache zu bedienen, in Italien der italienischen und in China der chinesischen, dadurch zum Franzosen, Italiener oder Chinesen wird, so wenig kann man einen Juden, der nunmal unter uns lebt, und dadurch gezwungen, sich der deutschen Sprache bedient, deshalb einen Deutschen nennen. Und selbst der mosaische Glaube kann, so groß seine Bedeutung auch für die Erhaltung dieser Rasse sein mag, nicht als ausschließlich bestimmend für die Frage, ob Jude oder Nichtjude, gelten. " 5 Für die Praxis der „Endlösung der Judenfrage" entschied dann aber doch kein rassebiologisches Kriterium, sondern die Religionszugehörigkeit der Großeltern, ob jemand als Voll-, Halb- oder Vierteljude klassifiziert wurde. Die Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten folgte ihrer Logik absoluter Macht, die als Grenzen der Verbrechen nicht einmal die Logik der Selbsterhaltung akzeptierte. Auschwitz, Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1959, S. 96. 5 Nach Detlev Claussen, Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt und Neuwied 1987, S.190. 4
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das als Synonym für das Universum der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager gelten soll, resultierte nicht aus einer quantitativen Steigerung des Antisemitismus oder gar des Rassenhasses, wie es noch jüngste Arbeiten mit guter pädagogischer Absicht unterstellen. Auschwitz kann interpretiert werden als nationalsozialistische Reaktion auf den mißglückten deutschen Griff nach der Weltmacht, für den die Ideologie des nationalsozialistischen „Rassenimperialismus" die Legitimation abgab. Der „Mythos der Rasse" sollte die deutsche Weltherrschaft begründen, die man durchaus jenseits aller rassistischer Ideologie mit den gelben, asiatischen Japanern pragmatisch zu teilen bereit war. Ideologisch aber, wie Franz Neumann treffend in seinem >Behemoth< analysiert hat, handeH es sich um einen Imperialismus der „Habenichtse", eine Ideologie der imperialistischen „Spätlinge". 6 Auf den Angriffskrieg, seine ökonomische Fundierung und politische Absicherung, bereitete man sich genau vor. Die Vorstellung aber, die Nazis hätten bereits vor ihrer „Machtergreifung" einen fertigen Plan für den Massenmord an den Juden besessen, den sie dann nach 1933 konsequent in die Praxis umgesetzt hätten, muß in den Bereich der Fiktion verwiesen werden. Aus der diffusen nationalsozialistischen Ideologie lassen sich kaum Hinweise auf die spätere Realität des Vernichtungslageruniversums finden. Die Naziideologie schuf einen Code der Radikalität, der keineswegs auf theoretische Stringenz angelegt war, sondern mit dem sich testen ließ, ,,was den Menschen nicht alles zugemutet werden kann, solange sie nur hinter den Phrasen die Drohung vernehmen oder die Versprechung, daß von der Beute etwas für sie abfällt" 7• Die gängige publizistische Praxis, eine Art Urheberrecht des rassistischen Antisemitismus den Rassebiologen zuzuschreiben, die dann als wissenschaftliche Schreibtischtäter gelten müßten und deren praktische Werkzeuge die SS-Leute gewesen seien, produziert die verkehrte Ansicht, für den Nationalsozialismus sei in letzter Instanz die rassistische Wissenschaft, eine Art radikalisierter Aufklärung, verantwortlich. Die nationalsozialistische Ver-: nichtungspraxis wird von sich als postmodern verstehenden Autoren nicht als ein Resultat der von Horkheimer und Adorno analysierten „Dialektik der Aufklärunt' begriffen, sondern als direkte Folge der Moderne dargestellt. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt a. M. 1977, S. 250ff. 7 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Soziologische Exkurse, S. 169. 6
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Übrig bleibt ein konventionelles, mit der personalisierenden Praxis der Massenmedien konvergierendes Weltbild von einem großen bösen Urheber, der die Verbrechen einer totalitären Moderne ins Werk setzt. Diese sozialwissenschaftliche Modeerscheinung, antimoderne Affekte im Gewand nachtotalitärer Beliebigkeit zu präsentieren, korrespondiert mit einer politisch sich als links verstehenden Theorietendenz, Wissenschaft in toto als Teil eines rassistischen euroamerikanischen Diskurses zu verdammen. Am weitesten fortgeschritten unter dem Anspruch einer Erneue!rung des Marxismus mit der expliziten Absicht, die „ weitere Verwendung des Begriffs ,Rassismus' in der soziologischen Analyse exempla- . risch zu verteidigen" 8 , sind die Autoren Stuart Hall l_lndRobert Mile.s. / Sie versuchen, ohne die ideologiekritischen Arbeiten Horkheimers i und Adornos zu berücksichtigen, einen marxistischen Ideologiebe' griff für die Analyse des Rassismus weiterzuentwickeln. Der Begriff ; der „Ideologie", wie er in diesen Arbeiten gebraucht wird, rationalii siert in antirassistischer Absicht Geschichte, Gesellschaft und Wissenschaft des kapitalistischen Weltsystems, also die gesamte Moderne, als rassistisches System. Die intellektuellen Folgen kann man nur als verheerend bezeichnen: Wenn man den nationalsozialistischen Rassenimperialismus als im marxistischen Sinne „notwendig falsches Bewußtsein" einer weltumspannenden Praxis von universalisierter Ausbeutung und Völkermord begreift, übertreibt man die Bedeutung der Ideologie für den gesellschaftsgeschichtlichen Verlauf und gibt zugleich die intellektuellen Werkzeuge aus der Hand, mit denen sich die Widerspruchsstruktur der gegenwärtigen Gesellschaft begreifen läßt. Rassistische Vorurteile und Auschwitz werden als unumstößlich letzte Beweise eines mindestens fünfhundertjährigen Irrweges westlicher Zivilisation seit Kolumbus' Ankunft in Amerika 1492 genommen. Die intellektuelle Kritik des kapitalistischen Systems hat sich unterderhand fundamentalisiert. Nicht die Kenntnis über den Rassismus ist gewachsen, sondern M oralisierungstechniken werden im gesellschaftlichen, nicht nur akademischen, Verteilungskampf benützt. Zum Teil berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Mißständen, Benachteiligungen und Diskriminierungen werden von intellektuellen Opinionleadem moralisch-propagandistisch einer Öffentlichkeit verkauft, die idiosynkratisch auf politische Reizwörter wie Rassismus und Diskriminierung anspringt. 1
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Robert Miles, Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg 1989, S. 7. 8
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Die gegenwärtig weltweit zu beobachtende Inflationierung des Rassismusbegriffs folgt auf die Inflationierung der Schlagwörter Faschismus und Antisemitismus, die um 1968 begann. Die Verstrickung der demokratischen Weltmacht USA in den Vietnamkrieg, der sich nicht mehr glaubwürdig mit den Formeln des Kalten Krieges legitimieren ließ, in dem beide Systeme politisch um das Erbe der AntiHitler-Koalition unter dem Stichwort der „Lehren aus dem Faschismus" konkurrierten, führte zu einer Reaktualisierung der Thematiken aus der unmittelbaren Nachkriegsperiode. Die unerfüllten Versprechen des antifaschistischen Kampfes hatten in der sogenannten Dritten Welt die letzte Stunde des Kolonialsystems eingeläutet. Autoren wie f Frantz Fanon und Albert Memmi, deren Werke die Zweideutigkeiten f des Entkolonisierungsprozesses thematisieren, stellten für eine grö-i ßere westliche Öffentlichkeit einen Zusammenhang zwischen Ras-1 sismus, Erfahrung und kritischer theoretischer Anstrengung her./ Doch die massenmediale und akademische Kommunikationsweise hat die Resultate ihrer intellektuellen Arbeiten inzwischen wieder verdrängt, weil der emanzipatorische Impuls antikolonialer Befreiung schon fast ebenso in Vergessenheit geraten ist wie der emanzipatorische Kern der europäischen Aufklärung des 18. und der demokratischen und sozialistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Unter der „Chiffre 68" 9 werden noch ein Vierteljahrhundert danach in der westlichen Öffentlichkeit Verteilungskämpfe der geistigen Arbeit ausgetragen, die zur allgemeinen Zerstörung des bestimmten Sinns der Begriffe führt. Das trifft auf den Begriff „Rassismus" besonders zu, weil er der letzte gemeinsame Negativwert ist, der nicht nur von der westlichen Öffentlichkeit, sondern von der Weltöffentlichkeit geteilt wird. Doch hat das, was man unter „Rassismus'" versteht, seine Bedeutung verändert - der Begriff des Rassismus steht nicht ein für allemal fest, sondern hat ebenso wie der Begriff „Rasse" seine Geschichte. Beide Begriffe gehören zur Alltagssprache - ein flexibles Medium, das sich in ständiger Bewegung befindet. Als Gegenstände der theoretischen Analyse gehören „Rasse" und „Rassismus"' in den Bereich der Wis_senschaft, als Kategorien der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in die Politik. Die Massenmedien konfundieren in ihrer Kommunikationsweise Alltagsdimension, Wissenschaft und Politik. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der späten sechziger Jahre, die in der westlichen Welt wesentlich massenmedial verDetlev Claussen, Chiffre 68, in: Dietrich Harth, Jan Assmann (Hrsg.), Revolution und Mythos, Frankfurt a. M. 1992, S. 219-228. 9
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mittelt wurden, kündigten die behauptete Identität zwischen den sogenannten westlichen Werten und der weltgesellschaftlichen Realität auf. Die vor allen Augen sich vollziehende Dekolonisierung machte auf den über den Nationalsozialismus hinaus fortexistierenden Rassismus innerhalb und außerhalb des Westens aufmerksam. Den geschichtlichen wie räumlichen Zusammenhang der Welt, den überwältigenden Schein der Gleichzeitigkeit stellten um 1968 die Massenmedien her, in denen man in einer einzigen Sendung den Kriegsschauplatz Vietnam, Rassenunruhen in den USA, Massaker in Biafra, Panzer in Prag, Rote Garden in Peking, Barrikadenkämpfe in Paris und Straßenschlachten von Berlin bis Berkeley anschauen konnte. Die Orientierungssuche nach einem gemeinsamen Nenner gehörte selbst zum Thema der öffentlichen Auseinandersetzung. Bisher wenig anerkannte Theorien konkurrierten mit politischen Ideologien, unter denen sich dann das gesamte Spektrum der Alten und Neuen Linken voneinander unterschied und zum Teil untereinander erbittert bekämpfte. In den USA, -dem für die westliche Kultur und Politik wichtigsten Medienmarkt, spaltete gerade die Auseinandersetzung um den politischen Begriff des Rassismus die Anti-Establishment-Bewegung. Aus dem schwarzen Teil der Studentenbewegung entwickelten sich politische Avantgardegruppen, die sich als Vorkämpfer eines „schwarzen Nationalismus" begriffen. Das Schlagwort „R:assismus" ließ sie sich an der Seite der sich vom Imperialismus befreienden Völker der Dritten Welt fühlen. Diese Gruppen stellten die Assimilationsfähigkeit des Melting-Pot-Kapitalismus in Frage. ,,Rasse" wurde zum Schlüsselbegriff einer Umwertung der Werte, der „Rassismus" Legitimationsgrundlage eines sich ethnisch deklarierenden Gruppeninteresses. Hannah Arendt hat schon 1969 auf den apologetischen Gebrauch des Rassismusbegriffs für soziale Interessen aufmerksam gemacht. 10 Unübersehbar leiteten sich diskriminierende Benachteiligungen für die schwarzen Amerikaner von der mißglückten Emanzipation aus der Sklaverei her, die als integraler Bestandteil der amerikanischen Geschichte gelten muß. Martin Luther King formulierte die Lage der schwarzen Amerikaner als Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Situation der Schwarzen und dem utopischen Versprechen des American Dream, der es jedem Amerikaner gestattet, in diesem Land sein Glück zu machen: Pursuit of Happiness. Als gesellschaftlichen Weg zur Verfolgung des Glücks hatte die ame10
Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1975, S. 76.
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rikanische Gesellschaft den Aufstieg in die Mittelklasse angeboten, der für Schwarze mit dem Ende des Wachstumskapitalismus immer schwieriger zu erreichen war. Ende der sechziger Jahre machte sich untergründig bemerkbar - damals erst von wenigen klugen Analytikern geahnt-, was heute soziologisches Gemeinwissen ist. Das absehbare Ende ökonomischen Wachstums nach den industriellen Produktions- und Marktmechanismen des industriellen Hochkapitalismus läßt die moderne Gesellschaft ihr universales Integrationsmittel einbüßen: das System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Die egalitären Lebenserwartungen, die utopischen Momente des liberalen Kapitalismus, hängen ohne Möglichkeit und Hoffnung, im System der Arbeitsteilung einen Platz zu finden, in der Luft. Die Anschauung eines perspektivlosen Ghettolebens brachte die schwarzen Aktivisten von Black Power dazu, den Zugang zum System über den Weg der gewaltsamen Revolte zu suchen. Wenigen, aber doch einigen gelang auf diese Weise der Einstieg in die Mittelklasse. Die kulturellen Programme der "affirmative action", die über die militant vorgetragene Anklage des Rassismus erzwungen wurden, verbreiterten diesen schmalen Weg in die Mittelklasse. Die inzwischen bevorzugte Selbstbezeichnung "African Americans" vollzieht die Selbstlegitimierung als ethnisch spezifische Immigrantengruppe nur noch nach. Die Selbstidentifikation als „Rasse", die von Teilen der schwarzen amerikanischen Mittelklasse seit Ende der sechziger Jahre vorgenommen wurde, stürzt viele antirassistische Ideologen in Europa in terminologische Probleme, weil der sich selbst als antirassistisch legitimierende „Diskurs" gerade seit den siebziger Jahren versucht, den Begriff der „Rasse" als integralen Bestandteil rassistischer Ideologie nachzuweisen. ,,Rasse" als Selbstidentifikation steht im Widerspruch zur Bedeutung der „Rasse" vor allem im deutschen Sprachgebrauch. ·Die Black-Power-Aktivisten konstituierten sich als gesellschaftliche Gruppe nach dem amerikanischen Community-Modell, der christlichen Gemeinde, zu der alle gehören, die sich subjektiv zu ihr bekennen. Die African Americans definieren sich als ein Ethnos, das zweifellos zum US-amerikanischen Demos gehört. 11 Der Anspruch, amerikanischer Staatsbürger zu sein, steht nicht in Frage. Für das ethnische Bewußtsein zählt nur das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Herkunft, die als Partizipation an einer gemeinsamen Kultur begriffen wird. Die Selbstkonstitution der amerikanischen Nation wieNach Emerich Francis, Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965. 11
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derholt sich in der Definition der Black Nation: Jeder gehört dazu, der sich zu ihr bekennt. ,,Rasse" und „Kultur" werden als subjektive Kategorien gehandhabt. Das widerspricht aber besonders der deutschen Tradition - und begründet zahllose Mißverständnisse zwischen deutschen Rassismuskritikern und schwarzen Aktivisten aus den USA. Die Selbstdefinition der African Americans steht in der Tradition · des revolutionären Nationalismus, nicht des Rassismus. Die Ideologie der Black Nation läßt sich als Reaktion auf die nachlassende Integrationskraft des amerikanischen Gesellschaftssystems verstehen. Nur noch in einer Kultur, deren Protagonisten versuchen, sie als „MultiKultur" umzudefinieren, findet sich ein Platz zur gesellschaftlichen Partizipation. Paradoxerweise handelt es sich bei der kulturellen Ideologie der Salad Bowl, die den Melting Pot abgelöst hat, um eine Kultur, die als unübersichtlicher gewordener American Way of Life weltweite zielsetzende Anziehungskraft für Immigranten besitzt. Die Metropole Los Angeles kann als Modell einer Immigranten-WeltStadt gelten. Die Unruhen, die im April 1992 ausbrachen, wurden von _denMassenmedien nach dem Modell der Ghettoaufstände der 60er Jahre als ,,Rassenunruhenu interpretiert, in denen sich damals der schwarze Nationalismus konstituiert hatte. Die verzerrende Einheit von Zeit und Raum wird durch die Kategorie race riots hergestellt, die global über die Massenmedien kommuniziert wird. Historisch nannte man race riots Gewalttätigkeiten von Weißen gegen befreite Sklaven, die als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wie als neue Nachbarn gefürchtet wurden - erste Rassenunruhen entstanden im Zusammenhang des amerikanischen Bürgerkriegs 1863 in New York und 1866 in New Orleans. Bei den Ghettoaufständen der sechziger Jahre hingegen ging die Gewalt von Schwarzen aus, die „Rassismus'' als Legitimation benutzten, um das schlechte Gewissen des weißen Liberalismus für ihre sozialen Forderungen nach einem Platz im System einer multiethnisch sich konstituierenden Gesellschaft zu mobilisieren. Massenmedien benutzen Etikette, nicht Begriffe. Insofern treffen die Analysen von Hall etwas Reales, wenn er in der geschwollenen Sprache des akademischen Marxismus von einer „Rassisierung" durch den „Diskurs" der Medien spricht. 12 Die Aufstände in South Central Los Angeles kombinierten eine Stuart Ha11, Die Konstruktion von „Rasse" in den Medien, in: Ausgewählte Schriften, Hamburg 1989, S.150-171. . 12
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multiethnische Armutsrebellion mit einer lumpenproletarischen Organisation, die sich im Gebiet der Gangland beobachten ließ. In den sechziger Jahren·, fanden junge Aktivisten in Kirchen zusammen oder organisierten sich direkt in politischen Gruppen. Der endemische Drogenkonsum hat es mit sich gebracht, daß für militante Jugendliebe die streetgang zur beherrschenden Organisationsform geworden ist. Die im Drogengeschäft engagierten jugendlichen Banden rivalisieren mit dem regulären Mittelstand der shopkeeper um die Konsumenten. Im Riot von 1992 kam es zum Zusammenstoß zwischen diesen Rivalen, den streetgangs und den vorwiegend koreanischen, aber auch indopakistanischen und schwarzen Ladenbesitzern. Im Mai 1992 schlossen die Straßenbanden mit der ihnen eigenen ökonomischen Rationalität einen Friedensvertrag nach dem Muster von Camp David untereinander und kamen mit der Organisation amerikanisch-korea.nischer Lebensmittelhändler zu einer Übereinkunft, gemeinsam den zerstörten Stadtteil South Central wiederaufzubauen. Auch hier stehen die spezifischen Probleme einer Immigrationsgesellschaft im Vordergrund, die durch Beschreibung in Kategorien des Rassismus eher verzerrt wird. Der französische Soziologe Dubet hat das Paradox einer Gesellschaft wie dieser auf den Begriff gebracht: Der politisch-kulturellen Assimilation steht keine angemessene ökonomische Integration gegenüber. 13 Die Gangs verschafften sich Zugang zum System auf amerikanische Art: mit Gewalt. So schließt sich der Kreis zum schwarzen Aktivismus der sechziger Jahre. Rap Brown formulierte damals die Maxime "Violence is as American as apple pie", um die Aufstandsgewalt zu legitimieren, aus der sich dann soziale Vorteile für die eigene Gruppe ableiten ließen. Die amerikanische Soziologie hat schon in den frühen siebziger Jahren der mangelnden Kohäsion der amerikanischen Gesellschaft Rechnung zu tragen versucht und begonnen, den Begriff der „Ethnizität" zu etablieren. Europäische Rassismuskritiker haben darin eine „Desozialisierung des Sozialen" 14 beobachten wollen. Hinter einem akademischen Wortschwall scheint der wirkliche Konflikt zu verschwinden. In einer Gesellschaft, in der das einFrarn;:oisDubet, Integration, Assimilation, Partizipation. Die Krise des industriellen und republikanischen Modells in Frankreich, in: Friedrich Balke u. a. (Hrsg.), Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, S. 103ff. 14 Eckhard Dittrich, Frank-Olaf Radtke, Einleitung, zu dies. (Hrsg.), Ethnizität, Opladen 1990, S. 20. 13
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zige bisher bekannte Medium von Assimilation und Integration zur Mangelware wird - gesellschaftlich anerkannte Arbeit-, erscheint das Egalitätshoffnungen weckende Versprechen einer liberalen Leistungsgesellschaft "You can get it if you really want" als hohl. Wenn die Gegenwart wenig Chancen für die Zukunft gibt, muß man um seine Ansprüche kämpfen. In allen westlichen Ländern hat sich in den achziger Jahren eine Neue Rechte herausgebildet, die Kampfund Argumentationstechniken der Neuen Linken atis dem Ende der sechziger Jahre sich zu eigen gemacht hat und sich als genuine Interessenvertreter des historischen Staatsvolkes etablieren will. Das Auftreten dieser Neuen Rechten wird von Militanten des linksalternativen Spektrums als „Neorassismus" attackiert. Dies hat in den Massenmedien wiederum einen Typ des Anti-Anti-Rassismus hervorgebracht, der das Unbehagen der normalen Gesellschaftsmitglieder ausbeutet, die weder Rassisten noch Antirassisten sein wollen. Auf diese Weise entsteht eine allgemeine Konfusion aus Militanz, Expertenkultur und generell begriffsfeindlicher Interview- und Talkshowtechnik, in der die Einzelnen ebenso wie jede gesellschaftliche Gruppe um ihre Medienpräsenz bangen müssen. Die gegenwärtige Inflationierung des ,,Rassismus" muß vor allem als ein Medienereignis gesehen werden, dem ein Showcharakter nicht abzusprechen ist. Medienaufmerksamkeit - so heißt die zentrale Lehre von „68" - läßt sich nur mit Schock, Tabubruch und Provokation erzielen. Der rechte Populismus, der als bekannteste Exponenten Le Pen in Frankreich und in Deutschland Schönhuber hervorgebracht hat, begann auf seine Weise mit „begrenzten Regelverletzungen" - man spielte auf die Heucheleien des antifaschistischen Nachkriegskonsenses an, ohne als Neofaschist aufzutreten. Als die weltweite Nachkriegsordnung 1989 zusammenbrach und die etablierten demokratischen Parteien von den in letzter Instanz gesellschaftlichen Katego' rien in die Sprache nationaler Interessen zurückfielen, konnten die \Rhetoriker der Neuen Rechten sich bestätigt fühlen. In der Substanz 1spielen sie mit einem ethnisch aufgeladenen Nationalismus, der in 1einem Westeuropa, das auf Massenimmigration nicht vorbereitet ist, als Xenophobie sich artikuliert. Linke Kritiker trugen zu Anfang der neuen Konstellation noch andeutungsweise Rechnung, wenn sie wie lEtienne Balibarvon „Neorassismus" sprachen. Während die populistische Rechte mit Untergangsvorstellungen des Abendlandes, mit der Angst moderner, traditionsloser Menschen vor der Endlichkeit spielt, hat sich als Antwort auf den Zusammenbruch der vertrauten Welt des Kalten Krieges, in der westliche Linke einen moralisch gesicherten 1
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antiimperialistischen Platz gefunden hatten, als Rettungsanker eine antirassistische Ideologie angeboten, die nicht die gesellschaftlichen Widersprüche des alternativlos gewordenen, aber veränderten Kapitalismus analysiert, sondern als Fahne und Erkennungssignal für die „Trotz alledem!"-Aufrechten funktioniert. Antirassisnius kann man als Künune1fonn von Gesellschaftskritik bezeichnen. Die allgemeine Konfusion der Kategorien kommt zustande, weil antirassistische Ideologen - unter Verzicht auf Autonomie und theoretischen Wahrheitsanspruch - der massenmedialen Kommunikation ,,Rassismus" in Ideologie und Praxis als etikettierendes Interpretationsmuster gesellschaftlicher Konflikte anbieten. Das Anwachsen populistischer Wählerpotentiale seit den achtziger Jahren in der westlichen Welt wie die Gewalttaten gegen Ausländer, die im vereinigten Deutschland nach 1989 sprunghaft angestiegen sind, finden auf diese Weise eine identische Erklärung: Rassismus. Verloren geht, was von einer rationalen Gesellschaftskritik verlangt werden muß: das Erkennen und Benennen des bestimmten Unterschieds. Die antirassisti- :, sehe Ideologie ontologisiert und fundamentalisiert die Gesellschaftskritik: ,,Was für andere Gesellschaften, wie z.B. die amerikanische offenkundig ist, trifft in Wirklichkeit auch für uns zu: der Rassismus ist in materiellen (auch psychischen und sozio-politischen) Strukturen angelegt, die seit langem existieren und einen Teil der sogenannten nationalen Identität bilden. Unterliegt er auch Schwankungen und Tendenzwenden, so verschwindet er doch niemals von der Bühne, es ändern sich höchstens die Kulissen. " 15 Diese unterstellte epochale raumzeitliche Identität des kapitalistischen Weltsystems spiegelt den , Verlust der Hoffnungen auf Gesellschaftsveränderung in der europäischen Linken - eine Ohnmacht, die im Gefühl moralischer Überlegenheit kompensiert werden soll. Die antirassistische Ideologie erfüllt : eine sozialpsychologische Funktion. Ein allgemein verbreitetes Gefühl gesellschaftlicher Ohmnacht ist die sozialpsychologische Substanz, die von populistischen Politikern, jugendlichen Gewalttätern und Antirassisten als Legitimations- und Rationalisierungsstoff ausgebeutet wird. ,,Rassismus" eignet sich besonders gut zur Rechtfertigung von Gewalt und Aggression; denn er war nie etwas anderes als ein Legitimationsniuster von wunittelbaren Gewaltverhältnissen. Der Rassismus hat nie, wie von den Antirassisten unterstellt, die Validität einer konsistenten Theorie besessen, sonEtienne Balibar, Rassismus und Krise, in: ders., Immanuel Wallerstein, Rasse Klasse Nation. AmbirnkntL' Identitäten, Hambusg 1990, S. 262. 15
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Autorität und Familie< entwickelt haben und die auch der >Dialektik der Aufklärung< von Max Horkheirner und Theodor W. Adorno zugrunde liegt. Meine Studie >Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus< (Frankfurt a. M. 1987) versucht diese Konzeption · für die Analyse des Antisemitismus fruchtbar zu machen. 19
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schung und Ausbeutung wird. Bis in das moderne >Bürgerliche Gesetzbuch< hinein verwischt der Begriff „Ausbeutung" Lohnarbeit und Prostitution. Die gesellschaftlich gemilderten Formen des Arbeitszwanges in der freien Lohnarbeit scheinen dem bürgerlichen Menschen jederzeit kündbar, so daß er selbst in körperlicher Unmittelbarkeit wieder zum Zwangsobjekt werden kann. Die Schrecken des 20.Jahrhunderts zeigen auch dem Durchschnittseuropäer an, daß „Vernichtung durch Arbeit" oder gesellschaftliche Konsumtion von Lagerarbeit ohne Rücksicht auf den Rohstoff der Ware Arbeitskraft zu seiner Welt gehört und sinnloses Elend gesellschaftlicher Existenz nicht nur in fernen Kontinenten zu beobachten und zu erfahren ist. Um so bereiter ist das einzelne Gesellschaftsmitglied, Gewalt zu verinnerlichen, aus Angst, sonst zu den.Anderen gehören zu müssen, die der gesellschaftlichen Gewalt schutzlos preisgegeben sind. Das Individuum unterwirft sich der gesellschaftlichen Autorität, um Schutz zu finden. Die schwarze Haut erinnert speziell an die Unterwerfung und herrschaftliche Verfügungsgewalt. Schwarze Körper ziehen auch an, weil in der eingebildeten Wildheit die Ahnung von der Unbezähmbarkeit der eigenen Triebimpulse fortzuleben scheint. In der Hautfarbe des Anderen kann der Andere oder der Fremde sichtbar werden. Wahrnehmung von Andersfarbigen thematisiert Xenophobie und Ethnozentrismus, die sich als unflexible Reaktionsmuster jedoch intellektuell durchschauen lassen. Zum Rassismus gehört eine andere Leistung: Man muß die Differenz zum Schlüssel der Erklärungen und seines Verhaltens machen. ,,Der Rassismus beginnt erst mit der Interpretation der Unterschiede", sagt Memmi treffend. 20 Für die Alltagsreligion zählt nicht, ob die rassistische Begründung aus der Biologie oder aus den Geisteswissenschaften kommt. Auf machtvolle Evidenz gegründet fragt die Alltagsangst vor dem Fremden nicht nach Stichhaltigkeit. Sie fragt nach der Autorität, die für den Unterschied bürgt. Die Autorität kann die Wissenschaft sein, die Politik, der Staat oder die massenmediale Öffentlichkeit. So gut wie nichts in der modernen Welt geschieht aus Rassismus, aber vieles im gesellschaftlichen Leben läßt sich als Rassismus klassifizieren und mit Rassismus begründen, besonders wenn er zur anthropologischen Konstante gemacht wird. Da Rassismus eines der wenigen Tabus ist, die weltweit akzeptiert werden, schwingt beim Stichwort Rassismus immer auch der Geist von Rebellion mit. Die Durchschnittsbürger wollen überprüfen, ob die Unterwerfung sich auch gelohnt hat, ob der Staat oder 20
Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 37.
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die anderen Autoritäten sich an ihre Versprechen halten. Die populistischen Revolten mit dem Stimmzettel oder die gewalttätigen Attacken gegen Ausländer und Asylanten tragen den Stempel der konform.istischen Rebellion. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen - stimmen die Kategorien, wenn diese Ortsnamen von vielen als Synonyme für Rassismus im nach 1989 vereinigten Deutschland empfunden werden? Zweifellos geht man fehl in der Annahme, daß das Gros der jeweiligen Täter sich nur im geringsten mit Differenzierungen und Pseudodifferenzierungen aus den ideologischen Produktionsstätten der Neuen Rechten munitioniert hätte. Die rhetorische Figur „Vom Wort zurTat" trifft sicher nicht den Sachverhalt. Die ideologischen Spielereien der Neuen Rechten können selber als konformistische Rebellion sui generis gelten, weil sie auf die Ambivalenz der offiziellen Denkweisen spekulieren. Wer möchte sich schon den „Diskurs über nationale Identität" aus der Hand nehmen lassen? Diese intellektuellen Provokationen treffen das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich einerseits wie eine Art effektiver Betrieb präsentieren möchte und andererseits wie eine familiale Abstammungsgemeinschaft. Wer gehört dazu? Die Unsicherheit über die gesellschaftliche Zukunft wird ausgebeutet und sie wird in Termini der Ethnizität diskutiert. Diese Unsicherheiten und Agitationen finden sich in allen entwickelten kapitalistischen Ländern. Die begriffslose Botschaft, die von Rostock, Mölln, Hoyerswerda und Hünxe ausgeht, heißt Gewalt. Gewalt wird von den rebellierenden Jugendlichen, die nicht wagen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, als Zeichen und Signalsystem gesellschaftlicher Ordnung eingesetzt. Das Geschrei „Deutschland den Deutschen!", das die Gewalttaten begleitet, klagt den Anspruch ein, ,,dazuzugehören". Die Gewalttäter spekulieren in ihrer konformistischen Rebellion schlau auf die Schwachstellen des Systems, wenn sie die Menschen treffen und schlagen, die von der Gesellschaft selbst stigmatisiert worden sind. Die Gewalttäter ahnen, wenn sie nach ihren Taten befragt werden, daß die Gesellschaft den Reiz der Gewalt, von dem die Unterhaltungsindustrie lebt, nicht begründungslos hinnimmt. Deswegen wählen die Jugendlichen treffsicher vor den Kameras und Mikrophonen die größtmögliche verbale Aggression: Sie identifizieren sich mit Nationalsozialismus und Rassismus, um die gesellschaftliche Autorität hilflos zu erleben. Mit Naziparolen und Symbolen sichern sie sich eine optimale Medienpräsenz. Das macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Die Antirassisten und die um das natio-
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nale Image besorgte Öffentlichkeit macht aus Gewalttätern, die Rassisten und Nazis spielen, Rassisten und Nazis, indem sie ihre Rationalisierungen der Gewalt teilt. Zu Hitlers Enkeln gemacht fühlen sie sich fast so groß und bedeutend wie Hitler. Spezifisch für Deutschland gilt, daß 1989 von den politischen, gesellschaftlichen und massenmedialen Autoritäten als gesellschaftliche Zielvorstellung die ethnische H01nogenität propagiert und für sie erfolgreich mobilisiert worden ist. Die Wiederherstellung der deutschen Tradition, die im selbstverständlichen Gebrauch des Ausdrucks „Wiedervereinigung" bestätigt wird, verwischt alle inneren Grenzen. Mit dem Zusammenbruch der Gesellschaften sowjetischen Typs ist nicht nur das unglückliche ius sanguinis, das Abstammungsrecht, politisch relevant geworden, sondern auch alle Unklarheiten im Verhältnis von deutschem Volk und staatlicher Nation sind wieder ans Tageslicht getreten. Während in Ländern, in denen die Staatsbürgernation das Leitbild der politischen Moderne geworden ist, es vorrangig um rationale Ziele der Politik geht, wenn von nationalen Interessen gesprochen wird, schwingt in Deutschland bei jeder Erwähnung des „Volkes" die Erinnerung an die ethnische Gemeinschaft mit. ,,Deutsches Volk", ,,Volksgemeinschaft" und „Rasse" liegen in der deutschen Vorstellungswelt immer noch nah beieinander, auch wenn man offiziell den politischen „Diskurs" der Gegenwart beherrscht und von „nationaler Identität" spricht und „ethnisch" statt ,,völkisch" sagt. Die deutsche Öffentlichkeit und die mit ihr korrespondierende Alltagsreligion ist stärker als in anderen westlichen Ländern „ethnisch" orientiert. Der Prozeß der Vereinigung hat diese Tendenz verstärkt. ,,Ethnisch" heißt aber bei aller terminologischen Gefahr nicht „rassisch". Jede moderne Gesellschaft gerade nach dem Ende der Identität von bürgerlicher Gesellschaft und Nationalstaat muß ethnischen Realitäten als Wirklichkeitsmomenten Rechnung tragen. An Max Webers rationale Begriffsbestimmung der „ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen" kann erinnert werden. In> Wirtschaft und Gesellschaft< setzt er, um nicht mit rassistischen Ideologen verwechselt zu werden, ,,Rassenzugehörigkeit" in Anführungsstriche: ,,Sie führt zu einer ,Gemeinschaft' natürlich überhaupt nur dann, wenn sie subjektiv als gemeinsames Merkmal empfunden wird, und dies geschieht nur, wenn örtliche ,Nachbarschaft' und Verbundenheit Rassenverschiedener zu einem (meist: politischen) gemeinsamen Handeln, oder umgekehrt: irgendwelche gemeinsamen Schicksale der rassenmäßig Gleichartigen mit irgendeiner Gegensätzlichkeit der Gleichgearteten gegen auf-
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fällig Andersgeartete verbunden sind. " 21 Subjektive Selbstdefinitionen gehören als immaterielle Tatsachen zu einer Gesellschaft, die einen modernen Contrat social entwickeln muß. Die Realität einer globalen Überbevölkerung, die zu einer Immigration in die entwickelten kapitalistischen Länder führt, löst nicht nur die Traditionen der verlassenen Lokalitäten auf, sondern auch die zu nationalen Traditionen gewordenen Gesellschaften der Moderne. Mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche ist die Diskussion um die ethnischen Zusammensetzungen der Gesellschaften in die „Mutterländer" eingekehrt. Auch die französische Öffentlichkeit ethnisiert sich: ,,Franzose sein, das muß man sich verdienen", propagiert Le Pen und versucht, ethnisch zu polarisieren, ohne rassistisch zu erscheinen. Es hängt von der öffentlichen Auseinandersetzung ab, wie „rassistisch" die öffentliche Diskussion geführt wird. Aber dazu muß man wissen, was rassistisch ist oder nicht. Es hilft nicht weiter, den „Rassismus"-Begriff für den nationalsozialistischen „Rassenimperialismus" zu reservieren. Es gibt Rassismus, der nichts mit Auschwitz zu tun hat. Aber auch die Realität des nationalsozialistischen Universums der Konzentrations- und Vernichtungslager verschwindet hinter dem allgemeinen Begriff des Rassismus, weil „Rassenimperialismus" ein generelles ideologisches Konzept für den Griff nach der Weltmacht und die zukünftige Weltordnung bedeutete. , Für Rassisnius als Ideologie gibt es keine Rechtfertigung, denn jeg~ liehe rassistische Ideologie ist eine Rechtfertigung, die ,nögliche Auto-\ nomie eines anderen Menschen nicht anzuerkennen, sondern in Wort\ und Tat zu verletzen. Selten bekennt sich heute jemand außer er- ' klärten Nazis und Faschisten zur rassistischen Ideologie, aber die Neue Rechte spielt trickreich mit ihr, wenn sie neue Wörter und Wortkombinationen lanciert, die an alte Vorurteilsstrukturen appellieren. Im Konformismus der Alltagsreligion leben soziale Aggressionen fort, die nicht schon durch die Tatsache gerechtfertigt sind, daß sie immer wiederkehren. Kaum jemand käme auf die Idee, Mord, Kannibalismüs und Inzest zu gestatten, nur weil diese Verbrechen untrennbar zur Menschheitsgeschichte gehören und sicher auch in Zukunft begangen werden. Im Kern des Rassisnius geht es wn das gewaltsame Verhältnis von Körper und Arbeit, die beide in der gesellschaftlichen Moderne zu Objekten der Ausbeutung geworden sind. Bevölkerungsexplosion und 1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie, Tübingen 1980, S. 234. 21
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globale politisch-ökonomische Ungleichheit rufen ein weltweites Überangebot von Körpern ohne Arbeit hervor. Sie reaktivieren rassistische Verlockungen von unbegrenzter Herrschaft über Menschen und xenophobe Ängste vor der Rache der Zukurzgekommenen. Eine Weltgesellschaft, die aus dem Zusammenbruch von Kaltem Krieg und Kolonialismus naturwüchsig hervorgegangen ist, kann menschlich nicht überleben, wenn sie einem Großteil der Menschheit verweigert, was die revolutionären Begründer der modernen Gesellschaften einst sich selbst versprachen: egalitäre Chancen auf Glück.
I. KOMMENTIERTE TEXTE POLITISCHER RASSENLEHREN BIS 1945
DER UNTERGANG DER BESTEN. GOBINEAUS VERSUCH EINER RASSENTHEORIE Was man unter dem Worte Degeneration zu verstehen hat; von der Mischung der Racenbestandtheile, und wie Gesellschaften sich bilden und auflösen Wenn der Sinn der vorhergehenden Blätter nur einigermaaßen verstanden worden ist, so wird man nicht daraus geschlossen haben, daß ich den Krankheiten des socialen Körpers keine Wichtigkeit beilegte, und daß schlechte Regierung, Fanatismus und Mangel an Religiosität in meinen Augen nur Symptome ohne Bedeutung bildeten. Mein Sinn ist gewiß ein ganz anderer. Ich erkenne mit der allgemeinen Ansicht an, daß sehr wohl Anlaß ist zu seufzen, wenn die Gesellschaft unter der Entwicklung dieser traurigen Geißeln leidet, und daß alie Sorgen, alle Mühen, alle Anstrengungen, die man zu Abhülfe dagegen anwenden kann, nicht wohl verloren sein können; nur das behaupte ich, daß, wenn diese unglückseligen Elemente .der Auflösung nicht auf ein kräftigeres Zerstörungsprincip aufgepfropft, wenn sie nicht die Folgen eines verborgenen schrecklicheren Uebels sind, man dessen gewiß bleiben kann, daß ihre Wunden nicht tödtlich sein werden, und daß die Gesellschaft nach einer Periode mehr oder minder langen Leidens vielleicht verjüngt, vielleicht stärker aus ihrer Umstrickung hervorgehen wird. Die angeführten Beispiele scheinen mir schlagend; man könnte ihre Zahl ins Unendliche vergrößern; und eben aus diesem Grunde ohne Zweifel hat das allgemeine Empfinden am Ende eine Ahnung der Wahrheit verspürt. Es hat dunkel erkannt, daß man schließlich den untergeordneten Plagen keine unverhältnißmäßige Wichtigkeit beilegen dürfe, und daß es rathsam sei, die Ursachen von Leben und Tod der Völker anderswo und tiefer aufzusuchen. Man hat daher angefangen, die Constitution der Gesellschaften an sich selbst, unabhängig von den Umständen des Wohlbefindens oder Unbehagens, ins Auge zu fassen, und sich geneigt gezeigt anzunehmen, daß keine äußere Ursache eine tödtliche Gewalt über sie hätte, so lange nicht ein aus ihr selbst und in ihrem Schooße geborenes, ihr im Innersten fest anhaftendes Zerstörungsprincip mächtig entwickelt wäre, und daß umge-
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kehrt, sobald dieses Factum der Zerstörung vorhanden wäre, das Volk, bei dem man es constatiren müsse, dem Tode nicht entgehen könnte, wäre es auch das bestregierte aller Völker, ganz wie ein erschöpftes Roß auf glatter Bahn dahinsinkt. Indem man die Frage unter diesem Gesichtspunkte faßte, that man einen großen Schritt, ich muß das anerkennen, und man stellte sich auf einen, der Erforschung der Wahrheit jedenfalls weit angemesseneren Boden, als der frühere war. In der That, Bichat hat das große Geheimniß des Daseins nicht dadurch zu entdecken gesucht, daß er die Außenseite studierte; er hat Alles dem Innern des menschlichen Individuums entfragt. Indem man es ebenso machte, hielt man sich an das einzige wirkliche Mittel, zu Entdeckungen zu gelangen. Leider trieb dieser gute Gedanke, der nur das Ergebniß des Instinctes war, seine Consequenz nicht sehr weit, und man sah ihn an der ersten Schwierigkeit scheitern. Der Ruf war erschollen: ja wirklich, im Innern eines socialen Körpers liegt die Ursache seiner Auflösung; aber welches ist diese Ursache? - Die Degeneration, wurde geantwortet; die Nationen sterben, wenn sie aus degenerirten Bestandtheilen zusammengesetzt sind. Die Antwort war sehr gut, dem Wortlaut nach und in jeder Weise; es galt nur noch festzusetzen, was man unter den Worten degenerirte Nation verstehen soll. Hier aber litt man Schiffbruch; man erklärte ein degenerirtes Volk als ein Volk, das schlecht regiert, seine Reichthümer mißbrauchend, fanatisch oder gottvergessen, die charakteristischen Tugenden seiner Stammväter verloren hat. Trauriger Fall! So geht eine Nation unter den socialen Plagen unter, weil sie degenerirt ist, und sie ist degenerirt, weil sie untergeht. Dieser Cirkelbeweis zeigt nur die Kindheit des Wissens in Sachen der socialen Anatomie. Ich will gerne zugeben, daß die Völker untergehen, weil sie degenerirt sind, und aus keinem anderen Grunde; durch dieses Unglück werden sie endgiltig unfähig, den Anprall der Anfälle ringsum zu ertragen, und dann, wenn sie die Schläge des widrigen Geschickes nicht mehr auszuhalten, noch auch, nachdem sie sie erlitten, sich wieder aufzurichten vermögen, geben sie das Schauspiel ihrer berühmten Todeskämpfe; sie sterben, weil sie zum Bestehen der Gefahren des Lebens nicht mehr dieselbe Kraft haben, wie ihre Vorfahren, mit einem Worte, weil sie degenerirt sind. Noch einmal, der Ausdruck ist sehr gut; aber wir müssen ihn ein wenig besser verständlich machen und ihm einen Sinn geben. Wie und warum geht die Lebenskraft verloren? Darauf kommt es an. Wie tritt Degeneration ein? Das bedarf der Erklärung. Bis jetzt hat man sich mit dem Worte begnügt, nicht die Sache aufgehellt. Diesen Schritt vorwärts zu thun will ich versuchen.
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Ich meine also, daß das Wort degenerirt, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Voilenicht mehr den inneren Werth hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben; anders ausgedrückt, weil es mit dem gleichen Namen nicht auch die gleiche Art, wie seine Begründer, bewahrt hat, kurz, weil der Mensch des Verfalles, derjenige, den wir den degenerirten Menschen nennen, ein unter dem ethnographischen Gesichtspunkte von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subject ist. Ich will gerne glauben, daß er Etwas von dessen Wesen besitzt; aber je mehr er degenerirt, desto mehr nimmt dieses Etwas ab. Die ungleichartigen B estandtheile, welche fortan in ihm vorherrschen, bilden eine ganz neue und in ihrer Eigenart nicht glückverheißende Nationalität; er gehört denen, die er noch für seine Väter ausgibt, nur sehr in Seitenlinie an. Er, und seine Civilisation mit ihm, wird unmittelbar an dem Tage sterben, wo der ursprüngliche Racenbestand sich derartig in kleine Theile zerlegt und in den Einlagen fremder Racen verloren erweist, daß seine Kraft fortan keine genügende Wirkung mehr ausübt. Sie wird zwar nicht schlechterdings verschwinden; aber in der Praxis derart angefochten, dermaaßen geschwächt sein, daß ihr Einfluß immer weniger und weniger bemerkbar wird, und in diesem Augenblicke wird die Degeneration als vollständig betrachtet werden können, und werden alle ihre Folgen in die Erscheinung treten. Wenn es mir gelingt, diesen Lehrsatz zu beweisen, so habe ich dem Worte Degeneration einen Sinn gegeben. Indem ich zeige, wie das Wesen eines Volkes sich allmählich verändert, verlege ich die Verantwortlichkeit für den Verfall an eine andere Stelle; ich mache sie gewissermaaßen weniger schmachvoll; denn sie lastet nicht mehr auf Söhnen, sondern auf Nachfahren, dann auf Vettern, dann auf immer weniger und weniger nahen Verwandten; und wenn ich den handgreiflichen Beweis dafür erbringe, daß die großen Völker im Augenblicke ihres Todes nur noch einen ganz schwachen, ganz unwägbaren Theil des Blutes der Stifter, von denen sie geerbt haben, besitzen, so habe ich hinreichend erklärt, wie es zugeht, daß die Zivilisationen enden, weil sie nicht in denselben Händen bleiben. Aber da berühre ich zu gleicher Zeit ein noch weit kühneres Problem, als das, dessen Aufklärung ich in den vorangegangenen Kapiteln versucht habe, indem die Frage, zu der ich jetzt komme, diese ist: Gibt es zwischen den Menschenracen wirklich ernstliche innere Werthunterschiede, und ist es möglich, diese Unterschiede abzuschätzen?
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Ohne länger zu zögern, eröffne ich die Reihe der auf den ersten Punkt bezüglichen Betrachtungen; der zweite wird durch diese Erörterung selbst seine Lösung finden. Um meinen Gedanken klarer und greifbarer verständlich zu machen, beginne ich damit, daß ich eine Nation, jede Nation, dem menschlichen Leibe vergleiche, betreffs dessen die Physiologen sich zu der Meinung bekennen, daß er sich in allen seinen Grundbestandtheilen beständig erneuert, daß der in ihm sich vollziehende Umbildungsproceß keine Unterbrechung erleidet, und daß er nach Ablauf gewisser Perioden sehr wenig von dem, was Anfangs seine wesentlichen Bestandtheile waren, mehr in sich begreift, so daß der Greis Nichts vom reifen Manne, der reife Mann Nichts vom Jüngling, der Jüngling Nichts vom Kinde an sich hat, und daß die körperliche Individualität nicht anders erhalten wird als durch innere und äußere Formen, die einander folgen und annähernd nachgebildet sind. Einen Unterschied jedoch muß ich zwischen dem menschlichen Leibe und den Nationen gelten lassen, nämlich daß bei diesen letzeren sehr wenig von der Erhaltung der Formen die Rede ist, welche mit äußerster Schnelligkeit zerfallen und verschwinden. Ich nehme ein Volk, oder besser einen Stamm in dem Augenblicke, wo er, einem entschiedenen Instincte seiner Lebenskraft nachgebend, sich Gesetze gibt und eine Rolle in dieser Welt zu spielen anfängt. Eben dadurch, daß seine Bedürfnisse, seine Kräfte wachsen, geräth er unvermeidlich mit anderen Familien in Berührung, und es gelingt ihm auf kriegerischem oder auf friedlichem Wege, sich diese einzuverleiben. Es ist nicht allen menschlichen Familien gegeben, sich auf diese erste Stufe zu erheben - einen nothwendigen Uebergang, den ein Stamm durchzumachen hat, um eines Tages zum Rang eines Volkes zu gelangen. Wenn eine gewisse Anzahl Racen, die nicht einmal sehr hoch auf dem Maaßstabe der Cultur angezeichnet sind, dennoch über jene Stufe hinweggekommen sind, so kann man darum wahrheitsgemäß noch nicht sagen, daß dies eine allgemeine Regel sei; es scheint im Gegentheil, daß das Menschengeschlecht eine ziemlich große Schwierigkeit darin findet, sich über die Theilorganisation zu erheben, und daß nur bei besonders begabten Gruppen der Uebergang zu einer mehr zusammengesetzten Verfassung stattgefunden hat. Ich will zum Zeugniß dafür den gegenwärtigen Zustand einer großen Anzahl Gruppen aus allen Welttheilen anführen. Diese rohen Stämme, zumal die der Australneger Polynesiens, die Samojeden und andere Familien der nördlichen Weltgegenden und der größere Theil der afrikanischen Neger. haben niemals aus jener Ohnmacht herauszu-
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kommen vermocht und leben neben einander her im Verhältnisse vollständigster Unabhängigkeit. Die Stärkeren bringen die Schwächeren um, die Schwächeren suchen eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Stärkeren zu bringen; darauf beschränkt sich die ganze Staatskunst dieser Embryonen von Gesellschaften, die sich seit Anbeginn des Menschengeschlechtes in einem so unvollkommenen Zustande fortpflanzen, ohne es jemals zu einem besseren haben bringen zu können. Man wird einwenden, daß diese elenden Horden den kleineren Theil der Bevölkerung des Erdballes bilden; ganz gewiß, aber man muß alle ihres Gleichen in Anschlag bringen, die dagewesen und verschwunden sind. Ihre Zahl ist unberechenbar und bildet sicher die große Mehrheit der reinen Racen bei der gelben und schwarzen Art. Wenn man also gelten lassen muß, daß es für eine sehr bedeutende Anzahl Menschen unmöglich gewesen ist und für immer ist, auch nur den ersten Schritt zur Civilisation zu thun; wenn wir außerdem erwägen, daß diese Völkerschaften sich auf der gesammten Erdoberfläche zerstreut, unter den verschiedensten örtlichen und klimatischen Verhältnissen finden, die Länder der kalten, der gemäßigten und der heißen Zone, die Ufer der Meere, Seeen und Ströme, die Tiefen der Wälder, die grasreichen Wiesen oder die unfruchtbaren Wüsten ohne Unterschied bewohnen, so werden wir zu dem Schlusse geführt, daß ein Theil der Menschheit in sich selbst mit dem Unvermögen geschlagen ist, jemals auch nur im ersten Grade sich zu civilisiren, weil er unfähig ist, den natürlichen Widerwillen zu überwinden, den der Mensch, wie die Thiere, gegen die Kreuzung empfindet. Wir lassen also diese ungeselligen Stämme zur Seite und setzen den Weg aufwärts mit denen fort, welche begreifen, daß es, wenn sie ihre Macht und ihren Wohlstand vermehren wollen, eine absolute Nothwendigkeit für sie ist, ihre Nachbarn auf kriegerischem oder friedlichem Wege zum Eintritt in ihren Daseinskreis zu zwingen. Der Krieg ist ganz unbestreitbar das einfachere der beiden Mittel. Der Krieg findet also statt; aber wenn der Feldzug zu Ende, wenn die Leidenschaften der Zerstörung befriedigt sind, so bleiben Kriegsgefangene, diese Kriegsgefangenen werden Sclaven, diese Sclaven arbeiten; damit haben wir Stände, haben einen Gewerbebetrieb, haben einen Stamm, der eine Völkerschaft geworden ist. Es ist dies eine höhere Stufe, die nun ihrerseits von den Menschenvereinigungen, welche sich dazu zu erheben vermocht haben, nicht nothwendig überschritten zu werden braucht; viele begnügen sich damit und verkümmern auf ihr. Aber gewisse andere bei weitem erfinderischere_ und thatkräftigere
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können sich noch etwas Besseres denken, als das einfache Plündern; sie erobern ein großes Land und nehmen nicht mehr nur die Einwohner, sondern den Grund und Boden mit ihnen in Besitz. Damit ist eine wirkliche Nation gebildet. Oft leben dann die beiden Racen einige Zeit nebeneinander fort, ohne sich zu vennischen; da sie indessen einander unentbehrlich geworden sind, da die Arbeits- und Interessengemeinschaft sich auf die Dauer befestigt hat, da der Groll wie der Stolz, den die Eroberung mit sich bringt, sich abstumpfen, da nicht nur die Unterworfenen naturgemäß darnach streben, ihren Herren ebenbürtig zu werden, sondern die Herren ebenfalls tausend Beweggründe finden, dieses Streben zu dulden und zuweilen zu begünstigen, so vollzieht sich am Ende die Mischung des Blutes, und die Menschen von beiderlei Abkunft schließen sich fernerhin nicht mehr verschiedenerlei Stämmen an, sondern gehen immer mehr in einander auf. Der Geist der Absonderung haftet gleichwohl dem Menschengeschlechte derart an, daß selbst in diesem Zustande vorgerückter Kreuzung noch Widerstand gegen eine fernere Kreuzung stattfindet. Es gibt Völker, von denen wir aufs Allerbestimmteste wissen, daß ihre Abstammung keine einheitliche ist, und die dennoch mit einer außerordentlichen Gewalt den Clansgeist festhalten. Wir wissen es von den Arabern, welche nicht etwa nur von verschiedenen Zweigen des semitischen Stammes abstammen; sie gehören zugleich der sogenannten Familie Sem und der Familie Harn an, von zahllosen anderen localen Verwandtschaften nicht zu reden. Trotz dieser Verschiedenheit des Ursprungs bildet ihre Hinneigung zur Trennung nach Stämmen einen der auffallendsten Züge ihres Nationalcharakters und ihrer politischen Geschichte; so daß man geglaubt hat, ihre Austreibung aus Spanien zum großen Theil nicht allein der Spaltung ihrer Macht in diesem Lande, sondern auch, und vor Allem, der mehr innerlichen Zersplitterung zuschreiben zu können, welche die beständige Uneinigkeit und als deren natürliche Folge die Nebenbuhlerschaft der Familien im Schooße der kleinen Monarchieen zu Valencia, Toledo, Cordova und Granada dauernd begründete.* Bei den meisten Völkern
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Diese Hinneigung der arabischen Völker zur nationalen Absonderung offenbart sich zuweilen auf eine höchst wunderliche Weise. Ein Reisender (Fulgence Fresnel, wenn ich nicht irre) erzählt, daß zu Dschedda, wo die Sitten sehr locker sind, die nämliche Beduinin, welche bei der leichtesten Verführung durch Geld sich hingibt, sich entehrt finden würde, wenn sie den Türken oder den Europäer, dem sie sich voll Verachtung preisgibt, in rechtmäßiger Ehe zum Manne nähme.
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kann man die nämliche Beobachtung machen, wie auch die weitere, daß da, wo die Trennung nach Stämmen verschwunden ist, die nach Nationen sie ersetzt und fast mit gleicher, ja mit solcher Kraft wirksam ist, daß die Gemeinsamkeit der Religion nicht ausreicht um sie zu paralysiren. Sie besteht zwischen den Arabern und den Türken, wie zwischen den Persern und den Juden, den Parsen und den Hindu, den syrischen Nestorianern und den Kurden; wir finden sie gleichfalls in der europäischen Türkei wieder; wir verfolgen ihre Spuren in Ungarn, unter den Magyaren, den Sachsen, den Walachen, den Croaten, und ich kann versichern, weil ich es gesehen habe, daß es in gewissen Theilen Frankreichs - des Landes, in welchem die Racen vielleicht mehr als überall sonst gemischt sind - Volksbestandtheile gibt, die noch heute einen Widerwillen dagegen hegen, eine Heirathsverbindung von Dorf zu Dorf einzugehen. Ich glaube nach diesen Beispielen, die alle Länder und alle Zeiten, selbst unser Land und unsere Zeit umfassen, mit Recht schließen zu dürfen, daß die Menschheit in allen ihren Zweigen einen geheimen Widerwillen gegen die Kreuzungen verspürt; daß bei mehreren dieser Zweige dieser Widerwille unbesieglich, bei anderen nur bis zu einem gewissen Grade bezwungen ist; daß endlich diejenigen, welche das Joch dieser Vorstellung am Vollständigsten abschütteln, sich gleichwohl nicht derart davon befreien können, daß ihnen nicht wenigstens einige Spuren davon blieben: diese Letzteren bilden das culturfähige Element unserer Gattung. So zeigt sich das Menschengeschlecht zwei Gesetzen unterworfen, welche in verschiedenen Graden auf seine verschiedenen Racen einwirken, dem der Repulsion und dem der Attraction: zwei Gesetze, deren ersteres nur von denjenigen unter diesen Racen geachtet wird, die sich nie über die ganz elementaren Vervollkommnungen des Stammeslebens hinaus erheben sollen, während umgekehrt das zweite mit um so größerer Macht herrscht, je besser die Völkerfamilien, bei denen es zur Anwendung kommt, sich zur Fortentwicklung eignen. Aber hier muß ich ganz besonders klar sein. Ich habe eben ein Volk im Familien-, im Keimzustande genommen; ich habe es mit der nöthigen Fähigkeit ausgestattet, um in den Zustand einer Nation überzugehen; so weit wäre es nun; die Geschichte lehrt mich nicht, welches die wesentlichen Bestandtheile der ursprünglichen Gruppe waren; Alles, was ich weiß, ist, daß diese Bestandtheile sie zu den Umbildungen, die ich sie habe durchmachen lassen, fähig machten; jetzt, da sie größer geworden, liegen nur zwei Möglichkeiten für sie vor;
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von zwei Bestimmungen ist die eine oder die andere unvermeidlich: entweder sie wird erobern, oder sie wird der Eroberung verfallen. Ich denke sie mir eroberungslustig; ich theile ihr das schönste Laos zu: sie herrscht, regiert und civilisirt zu gleicher Zeit; sie soll in den Landschaften, die sie durchzieht, nicht unnützer Weise Mord und Brand verbreiten; Denkmäler, Gesetzeseinrichtungen, Sitten sollen ihr gleich heilig sein; was sie abstellt, was sie für gut und nützlich findet zu ändern, soll durch überlegene Schöpfungen ersetzt werden; die Schwäche soll in ihren Händen Stärke werden; sie soll sich so benehmen, daß sie, nach dem Worte der Schrift, groß sein wird vor den Menschen. Ich weiß nicht, ob der Leser schon daran gedacht hat, aber in dem Bilde, das ich hier zeichne und das in gewisser Hinsicht kein anderes als das von den Hindu, den Aegyptern, den Persern, den Macedoniern dargebotene ist, scheinen mir zwei Züge besonders in die Augen zu springen. Erstlich der, daß eine Nation ohne Kraft und ohne Macht sich plötzlich durch die Thatsache, daß sie kraftvollen Herren in die Hände gefallen ist, zum Antheil an einem neuen und besseren Geschick berufen sieht, wie es den Sachsen in England begegnete, als die Normannen sie unterworfen hatten; zweitens, daß ein auserlesenes, herrschendes Volk, als solches mit einem entschiedenen Hange ausgerüstet, sich mit einem anderen Blute zu mischen, sich hinfort in inniger Berührung mit einer Race findet, deren geringerer Werth nicht nur durch die Niederlage, sondern auch durch den Mangel der bei den Siegen zu Tage tretenden Eigenschaften bewiesen wird. Da hätten wir also genau von dem Tage an, wo die Eroberung vollendet ist und die Verschmelzung beginnt, eine merkliche Veränderung in der Zusammensetzung des Blutes der Herrschenden. Wenn die Neuerung da stehen bliebe, so würde man nach Verlauf eines Zeitraumes, der um so beträchtlicher wäre, je größer die über einander geschichteten Nationen der Zahl nach von Hause aus gewesen wären, eine neue Race vor sich sehen, die gewiß weniger mächtig als die besten ihrer Ahnen, immerhin aber noch kräftig sein und von besonderen Eigenschaften Proben ablegen würde, welche aus der Mischung selbst erwüchsen und den beiden sie erzeugenden Familien unbekannt gewesen wären. Aber so geht es für gewöhnlich nicht, und die Vermischung beschränkt sich nicht lange auf die beiden Racen des neuen Volkes allein. Das Reich, das ich mir eben gedacht habe, ist mächtig; es wirkt auf seine Nachbarn ein. Ich nehme neue Eroberungen an; das gibt wieder neues Blut, das sich jedesmal mit dem vorhandenen vermischt. In dem Maaße als die Nation, sei es durch die Waffen, sei es durch Verträge,
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sich vergrößert, verändert sich fortan ihr Racencharakter immer mehr und mehr. Sie ist reich, handeltreibend, gebildet; die Bedürfnisse und die Vergnügungssucht der anderen Völker finden bei ihr, in ihren Haupt- und sonstigen großen Städten, in ihren Häfen, reichliche Befriedigung, und die tausend Reize, die sie besitzt, bestimmen zahlreiche Fremde zum Aufenthalt in ihrer Mitte. Nach Verlauf kurzer Zeit kann eine Unterscheidung nach Kasten mit Fug und Recht auf die ursprüngliche Unterscheidung nach Nationen folgen. Das Volk, von dem ich spreche, soll meinetwegen in seinen Absperrungsideen durch die ausdrücklichsten religiösen Vorschriften bestärkt werden, und ein furchtbares Strafsystem ringsum Wache halten, um die Delinquenten zu erschrecken. Weil das Volk auf einer hohen Kulturstufe lebt, sind seine Sitten mild und duldsam, sogar seinem Glauben zum Trotz; seine Orakel haben dann gut reden, es werden Leute außerhalb der Kasten geboren: man muß alle Tage neue Unterscheidungen schaffen, neue Klassenabtheilungen erfinden, die Stände vermehren, es fast unmöglich machen, sich inmitten von Unterabtheilungen zurechtzufinden, die ins Unendliche fort wechseln, von Provinz zu Provinz, von Bezirk zu Bezirk, von Dorf zu Dorf sich verändern; kurz das thun, was in den Hinduländern stattfindet. Aber einzig der Brahmane hat so viel Zähigkeit bei seinen Scheidungsbestrebungen bewiesen; die von ihm civilisirten Völker haben außerhalb seines Bereiches solch hemmende Fesseln nie angenommen, oder sie wenigstens seit Langem abgeworfen. In allen Staaten von fortgeschrittener Geistescultur hat man sich keinen Augenblick mit den verzweifelten Mitteln aufgehalten, die der Wunsch, die Vorschriften des Gesetzbuches des Manu mit dem unwiderstehlichen Lauf der Dinge in Einklang zu bringen, den Gesetzgebern desAryavarta eingab. Ueberall anderwärts haben die Kasten, wenn es solche wirklich gegeben hat, in dem Augenblicke aufgehört zu existiren, wo die Fähigkeit, sein Glück zu machen, sich durch nützliche Entdeckungen oder gefällige Gaben auszuzeichnen, von Jedermann ohne Unterschied der Herkunft erworben war. Aber ebenso hat vom nämlichen Tage an die ursprünglich eroberungslustige, thätig civilisirende Nation angefangen zu verschwinden: in dem Blute aller der Zuflüsse, die sie zu sich hin abgeleitet hatte, war das ihrige aufgegangen. Meistens sind außerdem die herrschenden Völker von Hause aus unendlich viel geringer an Zahl gewesen, als die Besiegten und es scheint anderseits, daß gewisse Racen, welche der Bevölkerung sehr ausgedehnter Gegenden zur Grundlage dienen, ausfallend zeugungsfähig sind; ich will nur die Kelten und die Slaven,nennen. Ein Grund
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mehr dafür, daß die herrschenden Racen rasch verschwinden. Noch ein anderer liegt darin, daß ihre größere Wirksamkeit, die unmittelbarere Rolle, die sie in den Angelegenheiten ihres Staates spielen, sie ganz besonders den unheilvollen Folgen der Schlachten, der Aechtungen und der Empörungen aussetzen. Während sie so einerseits gerade durch die Thatsache ihrer civilisatorischen Begabung verschiedene Elemente um sich sammeln, von denen aufgesogen zu werden ihr Laos ist, sind sie ferner noch das Opfer einer ersten Ursache, ihrer ursprünglich kleinen Zahl, und einer Menge von Ursachen zweiten Ranges, welche alle zu ihrer Vernichtung beitragen. Es ist an sich ziemlich klar, daß das Verschwinden der siegreichen Racen je nach deren verschiedenen Lebenskreisen zeitlichen Bedingungen unterworfen ist, die ins Unendliche fort wechseln. Doch nimmt es überall seinen Verlauf bis zu Ende, und überall ist es ebenso vollständig als nothwendig, lange vor dem Ende der Civilisation, als deren Seele wir jene betrachten, so daß ein Volk fortschreitet, lebt, arbeitet, oft sogar groß wird, nachdem die treibende Kraft, die sein Leben und seinen Ruhm erzeugte, aufgehört hat zu sein. Glaubt Einer darin einen Widerspruch mit dem Vorhergehenden zu finden? Keineswegs; denn während der Einfluß des culturfördernden Blutes durch die Theilung sich erschöpft, besteht die vorwärtstreibende Kraft, die ehedem den unterworfenen oder einverleibten Massen eingeprägt worden, noch weiter; die Einrichtungen, welche der verstorbene Gebieter ersonnen, die Gesetze, welche er abgefaßt, die Sitten, deren Urbild er geliefert hatte, haben sich nach ihm behauptet. Freilich leben Sitten, Gesetze, Einrichtungen nur höchst uneingedenk ihres alten Geistes, mit jedem Tage mehr entstellt, hinfällig und ihren Saft verlierend fort; aber so lange auch nur ein Schatten davon bleibt, hält sich das Gebäude, der Leib scheint eine Seele zu haben-ein wandelnder Leichnam. Wenn die letzte Kraftäußerung dieses einstigen Triebes zu Ende ist, dann ist's abgethan; Nichts bleibt mehr, die Civilisation ist todt. Ich glaube jetzt mit allem Nöthigen ausgerüstet zu sein, um das Problem des Lebens und Todes der Nationen zu lösen, und ich sage, daß ein Volk.niemals sterben würde, wenn es ewig aus denselben nationalen Bestandtheilen zusammengesetzt bliebe. Wenn das Reich des Dareios in der Schlacht von Arbela noch wirkliche Perser, Arier hätte ins Feld stellen können; wenn die Römer des Ostreiches einen Senat und ein Heer besessen hätten, gebildet aus Volkselementen, ähnlich denen der Fabierzeit, so hätte ihre Herrschaft kein Ende genommen, und Perser und Römer würden gelebt und geherrscht haben, solange
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sie die gleiche Unversehrtheit des Blutes bewahren. Man wird einwerfen, daß sie nichtsdestoweniger zuletzt Sieger, unwiderstehlicher als sie selber, sich hätten nahen sehen, und daß sie unter wohlberechneten Anstürmen, unter einem langen Drucke, oder noch einfacher, unter dem Glückswurf einer verlorenen Schlacht erlegen sein würden. Die Staaten hätten in der That auf diese Weise ein Ende nehmen können; nicht aber die Civilisation, noch der sociale Körper. Der feindliche Einfall und die Niederlage würden nur das traurige aber vorübergehende Durchgangsstadium recht böser Tage· ausgemacht haben. Beispiele hierfür lassen sich in großer Zahl beibringen. In neuerer Zeit sind die Chinesen zweimal der Eroberung verfallen: immer haben sie ihre Besieger gezwungen sich ihnen zu assimiliren; sie haben ihnen die Achtung ihrer Sitten aufgenöthigt; sie haben ihnen viel gegeben, und fast Nichts von ihnen empfangen. Einmal haben sie die ersten Eindringlinge vertrieben, und zur gegebenen Zeit werden sie es mit den zweiten ebenso machen. Die Engländer sind die Herren in Indien, und doch ist ihre moralische Einwirkung auf ihre Unterthanen fast durchaus null. Sie selbst sind mannigfach dem Einflusse der einheimischen Civilisation unterworfen und können es nicht dahin bringen, ihren Ideen bei dem Geiste einer Menge Eingang zu verschaffen, die vor ihren Beherr-. schern zurückscheut, nur äußerlich sich vor ihnen beugt und ihre eigenen Vorstellungen den ihrigen gegenüber fest aufrecht erhält. Die Race der Hindu ist eben derjenigen, die sie heutzutage beherrscht, fremd geworden, und ihre Civilisation entzieht sich dem Gesetze des Stärkeren. Die äußeren Formen, König- und Kaiserreiche haben wechseln können und werden weiter wechseln, ohne daß der Grund, auf welchem derartige Bauten ruhen, aus dem sie einzig hervorgegangenen sind, wesentlich mit ihnen verändert worden wäre; und wenn Haiderabad, Lahore, Delhi aufhören Hauptstädte zu sein, so wird darum die Hindu-Gesellschaft nicht weniger fortbestehen. Es wird ein Zeitpunkt kommen, wo Indien so oder so wieder anfangen wird, öffentlich nach seinen eigenen Gesetzen zu leben, wie es dies jetzt im Stillen thut, und wo es - mag dies nun seiner gegenwärtigen Race oder Mischlingen beschieden sein - seine politische Eigenart in vollem Umfange wieder gewinnen wird. Nicht das Glücksspiel der Eroberungen kann dem Leben eines Volkes ein Ende bereiten. Allerhöchstens unterbricht es für einige Zeit dessen Aeußerungen und gewissermaaßen seine äußern Ehren. Solange das Blut dieses Volkes und seine Einrichtungen noch in genügendem Maaße das Gepräge der Race, die es in die Cultur eingeweiht
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hat, bewahren, lebt das Volk; und mag es nun, wie die Chinesen, mit Eroberern zu thun haben, die nur körperlich kräftiger sind als es selbst, oder, wie die Hindu, einen ganz anders schwierigen Geduldskampf gegen eine in allen Stücken überlegene Nation wie die Engländer aushalten, die Gewißheit seiner Zukunft darf es trösten; es wird eines Tages frei sein. Hat dagegen dieses Volk, wie die Griechen, wie die Römer des byzantinischen Reiches, seine Racenkraft und deren Folgewirkungen gänzlich erschöpft, so wird der Augenblick seiner Niederlage der seines Todes sein: es hat die Zeit, die der Himmel ihm im Voraus bestimmt hatte, verbraucht, denn es hat vollständig die Race, also das Wesen gewechselt und ist folglich degenerirt. Kraft dieser Beobachtung dürfen wir die oft besprochene Frage als gelöst betrachten, was geschehen sein würde, wenn die Karthager, anstatt vor Roms Glücksstern zu erliegen, die Herren Italiens geworden wären. Insofern sie dem phönicischen Stamme angehörten, einem Stamme, der an politischen Tugenden den Racen, aus welchen Scipios Soldaten hervorgingen, nachstand, hätte der entgegengesetzte Ausgang der Schlacht von Zama Nichts an ihrem Geschick ändern können. Einen Tag glücklich, würde sie der nächste unter einem Vergeltungssehlage haben dahinsinken sehen; oder aber auch, sie wären in Folge des Sieges vom italischen Elemente aufgezehrt worden, wie sie es in Folge der Niederlage wurden, und das Endresultat würde ganz genau dasselbe gewesen sein. Das Schicksal der Civilisationen vollzieht sich nicht aufs Gerathewohl, es hängt nicht von einem Wurfe ab, das Schwert tödtet nur Menschen; und die kriegerischsten, furchtbarsten, siegreichsten Nationen haben, wenn sie in Herz, Kopf und Hand nur Tapferkeit, strategische Kenntnisse und kriegerische Erfolge, ohne sonstige überlegene Naturanlage, für sich hatten, niemals ein schöneres Ziel erreicht, als von ihren Besiegten zu lernen - und es schlecht zu lernen-, wie man im Frieden lebt. Die Kelten, die Nomadenhorden Asiens haben eine Geschichte, die Nichts weiter erzählt. Nachdem ich dem Worte Degeneration einen Sinn angewiesen und mit dessen Hilfe das Problem der Lebenskraft der Völker behandelt, habe ich jetzt zu-beweisen, was ich um der IGarheit der Erörterung willen a priori habe behaupten müssen: daß es merkliche Unterschiede im relativen Werthe der Menschenracen gibt. Die Folgerungen aus einem solchen Beweise sind beträchtlich; sie haben eine weittragende Bedeutung. Ehe wir zu ihnen kommen, können wir sie nicht leicht durch eine zu vollzählige Summe von Thatsachen und Gründen stützen, die ein so großes Gebäude zu tragen im Stande sind.
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Die erste Frage, die ich gelöst habe, bildet gleichsam nur die Vorhalle des Tempels.
Die Ungleichheiten unter den Racen sind nicht das Ergebniß der Gesetzeseinrichtungen Die Vorstellung von einer angeborenen, ursprünglichen, stark ausgeprägten und bleibenden Ungleichheit zwischen den Racen ist eine der ältestverbreiteten und -angenommenen in der Welt; und angesichts der anfänglichen Abgeschiedenheit der Stämme und Völkerschaften, und jenes Zurückziehens auf sich selber, das bei allen in einer mehr oder minder fernen Epoche üblich gewesen und aus welchem eine große Zahl nie herausgekommen ist, haben wir keinen Anlaß, darüber erstaunt zu sein. Wenn wir das ausnehmen, was in unseren neuesten Zeiten vorgegangen ist, hat dieser Begriff fast allen Regierungstheorieen zur Grundlage gedient. Kein Volk, groß oder klein, das nicht damit angefangen hätte, seine erste Staatsmaxime daraus zu machen. Das System der Kasten, der Adelstände, das der Aristokratieen, sofern man sie auf die Vorrechte der Geburt begründet, haben keinen anderen Ursprung; und das Recht der Erstgeburt mit seiner Annahme eines Vorranges des erstgeborenen Sohnes und seiner Nachkommen ist auch nur eine Ableitung hiervon. Mit dieser Lehre stimmen der Widerwille gegen das Fremdländische und die Ueberlegenheit, welche jede Nation sich hinsichtlich ihrer Nachbarn zuspricht, überein. Erst in dem Maaße wie die Gruppen sich mischen und verschmelzen, sieht man bei ihnen, die von nun an ~räßer, civilisirter dastehen und sich in Folge des Nutzens, den sie einander bringen, in einem wohlwollenderen Lichte betrachten, den unbeschränkten Grundsatz der Ungleichheit, ja anfänglichen Feindseligkeit der Racen durchbrochen und bestritten. Wenn dann die Mehrzahl der Staatsbürger in ihren Adern gemischtes Blut fließen fühlt, dann fühlt sie sich damit zugleich berufen, unter Umwandlung des nur für sie Thatsächlichen in eine allgemeine und unbeschränkte Wahrheit zu versichern, daß alle Menschen gleich seien. Ein lobenswertherWiderwille gegen die Unterdrückung, der berechtigte Schrecken vor dem Mißbrauch der Gewalt werfen allsdann bei allen Geistern einen gar bösen Schein auf das Andenken der ehedem herrschenden Racen, welche - so ist einmal der Lauf der Welt - nie ermangelt haben, viele Anklagen bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen. Von den Declamationen gegen die Tyrannei geht man zur Leugnung der natür-
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liehen Ursachen der Ueberlegenheit, die man schmäht, über; man erklärt sie nicht allein für verkehrt, sondern auch für usurpatorisch; man stellt, sehr mit Unrecht, in Abrede, daß gewisse Fähigkeiten nothwendig, ja durch ein Verhängniß das ausschließliche Erbtheil dieser und jener Nachkommenschaften sind; kurz, je mehr ein Volk aus un·gleichartigen Bestandtheilen zusammengesetzt ist, desto mehr gefällt es sich darin, zu verkündigen, daß die verschiedensten Anlagen in gleichem Grade das Besitzthum aller Bruchtheile des Menschengeschlechtes ohne Ausnahme seien oder werden können.
Kommentar
Comte Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882) gilt in der politischpädagogisch ausgerichteten Literatur nach 1945 als ein Vorläufer der Nationalsozialisten. Durch diese geistesgeschichtliche Lokalisierung wird Gobineau aus dem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext gerissen, der seine Lehre ermöglichte. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die nachträgliche Plazierung als Patriarch der Rasseideologen des Nationalsozialismus als ein Vorurteil, das Gobineau aus der Geschichte der europäischen Wissenschaft exterritorialisiert. Attribute wie „pseudowissenschaftlich" dienen eher dazu, das Bild einer reinen Wissenschaft aufrechtzuerhalten, die unangetastet von gesellschaftlichen Interessenkämpfen nur der Erforschung der Wahrheit dient. Aber Gobineau folgte exakt diesem wissenschaftlichen Ideal der Moderne, das auch seine Kritiker teilen. Gobineau nahm die wissenschaftliche wie die politische Entwicklung seiner Zeit genau zur Kenntnis. Sein Werk ist gekennzeichnet von der zunehmenden Spaltung der Wissenschaft in Natur- und Humanwissenschaften. Die in Entstehung befindlichen Gesellschaftswissenschaften orientieren sich an der Autorität der positiven Wissenschaften, die mit den sichtbaren Erfolgen wachsender Naturbeherrschung identifiziert werden. Das Geschichtlichwerden der Moderne bestimmt Gobineaus Denken. Zur Modernisierung gibt es keine Alternative. Negativ spiegelt Gobineaus Rassentheorie den säkularisierten Fortschrittsglauben des europäischen Liberalismus. Politisch macht Gobineau aus seiner aristokratischen Abneigung gegen die bürgerliche Gesellschaft keinen Hehl. Aber sein Denken läßt sich nur in polemischer Absicht auf seine aristokratische Herkunft und seine Angst vor der Herrschaft der Mittelmäßigkeit reduzieren, obwohl sie ihn sicher oft zu seinen schneidenden Formulierungen inspirieren. Gobineau sucht nach dem ver-
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lorenen Schlüssel, um die menschliche Entwicklung zu verstehen. Weder religiöse noch metaphysische Begründungen kann er mehr akzeptieren. Die Veröffentlichung seines Hauptwerkes fällt unmittelbar in die Zeit nach der Revolution von 1848-sie liegt sechs Jahre vor der von Darwins >Entstehung der Arten< 1859 und vierzehn vor der Publikation des Ersten Bandes von Karl Marx' >Das KapitalAnti-Dühring< später populär gewordenen Opus ab, eine Struktur in Dührings Arbeiten zu finden. ,,Derselbe Wirklichkeitsphilosoph, der auf alle Vorurteile und Superstitionen souverän herabsieht, steckt selbst so tief in persönlichen Marotten, daß er das aus der Bigotterie de& Mittelalters über-
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Gründerjahre des modernen Antisemitismus
kommne Volksvorurteil gegen die Juden ein auf ,Naturgründen' beruhendes ,Natururteil' nennt ... " Damals erfreute sich Dühring in radikalen akademischen Kreisen großer Beliebtheit, aber auch unter bildungshungrigen Sozialdemokraten in Berlin fand er viele Anhänger. Der junge Bernstein zum Beispiel verehrte Dühring, bis dessen Bekenntnis zum Antisemitismus auch den Redakteur der >Berliner Freien Presse< abschreckte. 1877 wurde der Privatdozent wegen Beleidigung von Kollegen von der Universität entlassen und kam in den Ruf eines unbeugsamen Unterdrückten, dessen Wahrheiten weder in der Universität noch in der sozialdemokratischen Oppositionspresse geduldet würden. Der Gestus eines Opfers von Etablierten durchzieht das ganze weitere Werk von Dühring. Dühring popularisierte sein Wissen in einer von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift, betitelt >Personalist und EmancipatorModerner VölkergeistDer Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche ZeitalterAnimals and Plants under DomesticationDas Beständige in den Menschenrassen und die Spielweite ihrer VeränderlichkeitKokoro, hints and echoes of Japanese inner life; Gleanings in Buddha fie]dsGriechische GeschichteNatürliche Schöpfungsgeschichte< (Vorl. 8). Weit ausführlichere Angaben in einem Buche von P. Jacoby: >Etudes sur Ia selection dans ses rapports avec l'heredite chez I'hommeDasentdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der BlumenMein Kampf< mit allen Auflagenvarianten gibt, trägt zur posthumen
„Rasse" als Kern von Hitlers Weltanschauung
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Mythologisierung dieser Sammlung von „Kolumbuseiern" bei. Bei der Lektüre von Hitlertexten tut sich eine ungeheuerliche Kluft zwischen der von Hannah Arendt konstatierten „Banalität des Bösen" und dem geschichtlichen Schrecken auf, der die menschliche Vorstellungskraft übersteigt.
II. KOMMENTIERTE TEXTE DER RASSISMUSDEBATTE NACH 1945
RASSENIMPERIALISMUS. HANNAH ARENDTS VERÄNDERTER BLICKWINKEL NACH 1945 Die vorimperialistische Entwicklung des Rassebegriffs Im Eifer des Kampfes gegen den Nazismus hat man oft gemeint, der Rassebegriff sei eine Art deutsche Erfindung. Wenn das richtig wäre, so hätte „deutsches Denken'" (was immer man sich darunter vorstellen mag) lange vor den Nazis und ihrem verhängnisvollen Versuch der Welteroberung große Teile der geistigen Welt des Abendlandes entscheidend bestimmt. In Wahrheit verhielt sich die Sache genau umgekehrt; gerade weil rassische Vorstellungen und Weltanschauungen überall in der öffentlichen Meinung, wiewohl nicht in der offiziellen Sprache der Kabinette, vorherrschend waren und bereits auf eine ansehnliche Tradition zurückblicken konnten, übte der politisch organisierte Rassismus des Hitlerregimes eine so außerordentlich starke Anziehungskraft in den dreißiger Jahren in Europa, und nicht nur in Europa, aus. In der politischen und propagandistischen Kriegführung der Nazis, die dem von ihnen entfesselten Zweiten Weltkrieg voranging und ihn dauernd begleitete, waren diese Strömungen erheblich wirksamere und zuverlässigere Verbündete als alle Geheimagenten und fünften Kolonnen. Die Nazis selbst wußten sehr gut und konnten sich auf die Erfahrungen von fast zwanzig Jahren berufen, daß ihre Rassepolitik ihre beste Propaganda darstellte, und sie haben in dieser Frage niemals einen Kompromiß gemacht, auch nicht, als sie bei Kriegsausbruch um des deutsch-russischen Bündnisses willen alle Angriffe auf den Bolschewismus unvermittelt aufgaben. Den Rassebegriff aber haben weder die Nazis noch die Deutschen entdeckt, er ist nur nie vorher mit solch gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt worden. Historisch gesprochen liegen die Ursprünge des Rassebegriffs im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts; im neunzehnten finden wir ihn voll ausgebildet nahezu gleichzeitig in allen nationalstaatlich organisierten Ländern Europas; um die Jahrhundertwende wird er dann zu der eigentlichen Ideologie aller imperialistischen Politik. In die imperialistische Ideologie sind zweifellos alle geschichtlich älteren Ele-
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Rassenimperialismus
mente des Rassedenkens eingegangen, manche von ihnen neu belebt und anders akzentuiert worden; ob aber diese Elemente von sich aus und ohne die Notwendigkeiten imperialistischer Politik fähig gewesen wären, sich in eine einheitliche Weltanschauung zusammenzuschließen, ist mindestens zweifelhaft. Noch Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden derartige „Theorien" mit dem Maßstabe der politischen Vernunft gemessen, und Tocqueville meinte sicherlich nicht, daß er „unwissenschaftlich" argumentiere, wenn er an Gobineau schrieb, daß die von ihm vertretene rassistische Erklärung der Geschichte „wahrscheinlich falsch sei, uns sicherlich verderblich" 1 . Erst Ende des Jahrhunderts gelang es den Rassetheoretikern, wissenschaftlich ernst genommen zu werden, und von da ab werden ihre „Theorien" behandelt, als seien sie wirklich das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung oder einer rein geistigen Entwicklung. 2 Bis dahin aber, bis zu dem verhängnisvollen Jahrzehnt des "scramble for Africa", blieben die Rassetheoreme im Rahmen der zahllosen freien und unverantwortlichen Meinungen, die sich bekämpften und miteinander argumentierten, um die Zustimmung immer größerer Teile der öffentlichen Meinung an sich zu reißen. Diese Meinungen sind noch keine Ideologien, auch wenn sie bereits im Gewand der Weltanschauungen auftreten. 3 In ihnen strudeln die verschiedenartigsten Elemente noch frei und ungezwungen durcheinander, und sie sind noch recht weit davon entfernt, sich auf ein einziges Element, eine einzige willkürliche Behauptung so zu konzentrieren, daß aus ihr dann alles andere einfach auf dem Wege der Schlußfolgerung gefolgert werden könnte. Die erste Stufe zu dieser konzentrierenden Konsolidierung ist dann erreicht, wenn die werdende Ideologie behauptet, den Schlüssel zur Geschichte zu besitzen oder die Lösung der Welträtsel oder die Kenntnis der verborgenen, alles beherrschenden Gesetze, welche die Prozesse des Naturund Menschenlebens regeln. Ausschlaggebend aber für die weitere Entwicklung zur Ideologie ist, daß die vertretene Grundannahme sich auf genügend Erfahrungsmaterial stützen kann, um plausibel zu erSiehe «Lettres de Alexis de Tocqueville et de Arthur de Gobineau» in der Revue de Deux Mondes, 1907, Band 199, Brief vom 17. November 1853. 2 Die beste geistesgeschichtliche Darstellung des Rassebegriffes ist Eric Voegelins >Rasse und StaatAGeneration of Materialism< (New York 1941), gibt eine gute Darstellung der zahllosen, einander widersprechenden und doch immer auf dem gleichen Prinzip beruhenden Weltanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts. Siehe besonders pp.111-122. 1
Hannah Arendts veränderter Blickwinkel nach 1945
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scheinen, und den von ihr erfaßten und organisierten Lebensradius weit genug faßt, um ihre Anhänger verhältnismäßig ungestört durch die Situationen und Schrecken eines durchschnittlichen modernen Lebens zu leiten. Nur wenige Meinungen waren plausibel genug, um in dem harten Konkurrenzkampf der freien Meinungen, der durch das ganze neunzehnte Jahrhundert tobte, bestehen zu können, und nur zwei erwiesen sich als stark genug, um wirkliche Ideologien hervorzubringen - oder richtiger in sie zu degenerieren. Die eine ist die zur Ideologie erstarrte marxistische Lehre vorn Klassenkampf als dem eigentlichen Motor der Geschichte, und die andere ist die von Darwin angeregte und mit dem marxistischen Klassenkampf in mancher Beziehung verwandte Lehre von einem von der Natur vorgeschriebenen Rassenkampf, aus dem sich der Geschichtsprozeß, vor allem der Aufund Abstiegsprozeß von Völkern, ableiten läßt. Nur diesen beiden Ideologien gelang es, im zwanzigsten Jahrhundert sich als offizielle, staatlich geschützte Zwangsdoktrinen durchzusetzen. Aber weit über die Grenzen der Gebiete, in denen diese Zwangsdoktrinen galten, hat die nicht gezwungene öffentliche Meinung sie in solchem Maße als das ihr Gemäße und evident Erscheinende akzeptiert, daß nicht nur volkstümliche, populäre Darstellungen, sondern auch die für die Gebildeten geschriebenen Geschichtsbücher zumeist unausdrücklich das Kategoriensystem einer der beiden Ideologien verwenden, als verstünde es sich von selbst. Die den Ideologien innewohnende Kraft, Menschen zu überzeugen, ist niemals aus Propagandatricks oder bewußten Betrügereien derer zu erklären, die sich die Leichtgläubigkeit moderner Menschen zunutze machen, die sich auf ihren gesunden Menschenverstand in keiner Hinsicht mehr verlassen können. Die Ideologien müssen in ihrem zentralen Gehalt immer irgendwelchen Erfahrungen oder Wünschen entgegenkommen, sie müssen politische Bedürfnisse angemessen befriedigen. Ihre Glaubwürdigkeit erwerben sie nicht durch den Schein wissenschaftlich bewiesener Tatsachen oder historischer Gesetze, wie das von ihnen ergriffene und ihnen dienende Intellektuellen- und Literatenproletariat uns glauben machen möchte, sondern nur durch ihre politische Treffsicherheit. Jede Ideologie ist eine politische Waffe gewesen, bevor sie zu einer theoretischen Doktrin entwickelt wurde. Dabei kann es passieren, daß die Ideologie ihren ursprünglichen politischen Gehalt ändert, und dies ist bei der Rasseideologie in derTat der Fall; aber ohne direkten Kontakt mit dem politischen Leben der Zeit und seinen zentralen Problemen kommt sie niemals aus. Ihr pseudowissenschaftlicher Aspekt ist sekundär und
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entstammt einmal dem allgemeinen Wissenschaftsaberglauben des neunzehnten Jahrhunderts und andererseits einfach derTatsache, daß Wissenschaftler dem Druck der öffentlichen Meinung und ihrer jeweiligen Überzeugungen nicht weniger ausgesetzt und manchmal für sie sogar anfälliger waren als irgendwer sonst. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zeigen gerade Gelehrte und Forscher eine peinliche Neigung, sich aus der Stille ihrer Studierzimmer in das zu stürzen, was sie für das wirkliche Leben halten, um dort der Masse mit einem großen Aufwand an angeblich rein wissenschaftlichen Resultaten das zu predigen, was sie ohnehin glaubt. 4 Auf diese Weise, und nicht auf dem Wege objektiver Forschung, dringen dann die ideologischen Kategorien ihrerseits auch in die wirkliche Wissenschaft, und von solchen Ideologisierungen ist heute nicht eine Disziplin, sei es der Natur- oder der Geisteswissenschaften, wirklich frei. Dies hat wiederum viele Historiker in ihrer Tendenz, die Naturwissenschaften für den Rassenunsinn verantwortlich zu machen, bestärkt und sie verführt, bestimmte philologische oder biologische „Forschungsresultate" für die Ursachen statt für die Folgen der Rasseideologie zu halten. 5 In Wahrheit Auch für die merkwürdige Desertion der Wissenschaft siehe Hayes, op. cit., p.126ff. Die Nazis sahen natürlich gerade in diesem Popularitätshunger der Wissenschaftler eine ihnen entgegenkommende Tendenz und beurteilten sie dementsprechend. Vgl. zum Beispiel die Arbeit von H. Brücher, >Ernst Häckel. Ein Wegbereiter biologischen Staatsdenkens< in den >Nationalsozialistischen MonatsheftenAltai, Iran und die VölkerwanderungLa Philosophie de l'ImperialismeOu'est-ce que le Tiers Etat?< erschien wenige Monate vor Ausbruch der Revolution im Jahre 1789. 12
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ten. Als Gobineau daher (auf den wir gleich noch zurückkommen werden) schließlich die erste vollentwickelte Geschichtstheorie auf rassischer Grundlage entwickelte, war die Rassetheorie mitsamt der Behauptung von der Überlegenheit der germanischen Völker bereits eine, wenigstens in der Aristokratie Frankreichs, allgemein verbreitete Meinung, die aber nun erst zu einer Weltanschauung wurde, die ihren unmittelbaren Bezug zur Politik, zu politischen Erfahrungen und Zwecken, verloren hatte. Dieses zweite weltanschauliche Stadium des Rassismus begann ebenfalls nicht in Deutschland, sondern in Frankreich mit Gobineau, dessen Einfluß sich dann in beiden Ländern bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts bemerkbar gemacht hat.
Völkische Verbundenheit als Ersatz für nationale Emanzipation Der deutsche Rassebegriff, der auf die preußischen Patrioten nach der Niederlage von 1806 und die politische Romantik zurückgeht, war in seinen Ursprüngen entscheidend anderer, nämlich ausgesprochen völkischer Art. Auch er war politisch gebunden, bevor er in eine Weltanschauung degenerierte, aber er hatte im Unterschied zu Frankreich gerade den Zweck, das Volk in allen seinen Schichten zu vereinigen, und nicht, eine Gruppe aus ihm herauszuspalten. Es handelte sich hier nicht darum, sich nach Bundesgenossen jenseits der Grenzen umzusehen, sondern das Volk zum Bewußtsein seiner gemeinsamen Herkunft gegen die Fremdherrschaft zu mobilisieren. Dies involvierte sogar ein gewisses Mißtrauen gegen die international verbundene Aristokratie, das in Preußen sich nur deshalb nicht sehr stark bemerkbar machte, weil die preußischen Junker weniger international waren als nahezu alle anderen Aristokratien Europas. Auf jeden Fall schloß diese Absicht und politische Notwendigkeit es aus, daß man sich gerade die vom Volke am exklusivsten getrennte Klasse zum Modell dessen, was Rasse nun eigentlich ist, wählen könnte. Das völkische Element ist für den deutschen Rasse begriff lange entscheidend geblieben und ist niemals ganz aus ihm verschwunden. Die Bedingungen und politischen Zwecke, die Abwehr der Fremdherrschaft und die Einigung des Volkes, haben zum mindesten bis zur Reichsgründung in der Entwicklung des Rassebegriffs mitgewirkt, so daß sich hier in der Tat echter Nationalismus und typische Rassevorstellungen vielfach miteinander mischen und eben jenes völkische Denken erzeugen, das es nur im deutschsprachigen Bezirk gibt. Hier
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liegt auch einer der wesentlichen Gründe dafür, daß man den vollausgebildeten Rassismus der Nazis so vielfach mit Nationalismus hat verwechseln können; die deutsche Rasseideologie hat in der Tat die Terminologie des völkisch gefärbten Nationalismus zumindest für Propagandazwecke immer mitbenutzt, um sich eine nationale Tradition zuzulegen, die sie in Wirklichkeit nicht hatte; die entscheidende Anziehungskraft der Naziideologie beruhte von vornherein auf ihren supranationalen Elementen und Programmpunkten, die man aber, um sich der älteren und noch traditionsgebundenen deutschen Schichten zu bemächtigen, hinter einer scheinbar völkischen Propaganda so verbergen konnte, daß die einen in ihr das Supranationale und die anderen das Nationale herauslesen konnten. Der preußische Adel hatte im Unterschied zum französischen mit der Entwicklung der Rasseideologie oder des ihr vorausgehenden völkischen Denkens überhaupt nichts zu tun. Einen ernsthaften Konflikt zwischen Adel und absoluter Monarchie hat es in Preußen nur in der kurzen Periode der Stein-Hardenbergschen Reformen gegeben, nach welcher der Adel seine Positionen im Staatsapparat mühelos zurückgewann. Der preußische König, der im Jahre 1809 noch der größte Großgrundbesitzer des Landes war, blieb, der Bemühungen der Reformer ungeachtet, so lange ein primus inter pares, bis Bismarck ihn zum Kaiser machte. Die deutschen Patrioten, welche nach 1814 den deutschen Nationalismus zu einer Waffe für die Errichtung eines gesamtdeutschen Nationalstaates entwickelten, waren liberal und bekämpften die preußischen Junker. Sie bestanden auf der gemeinsamen Herkunft des kleinstaatlich organisierten Volkes, und sie sahen das deutlichste Zeichen dieser gemeinsamen Herkunft in der deutschen Sprache. Von spezifischen Rasseelementen oder selbst von völkischen Vorstellungen ist bei ihnen nicht viel zu finden. 13 Dies gilt vor allem für die Zeit vor den Befreiungskriegen, als man noch hoffen konnte, daß der Sieg über die französische Besatzung zu einer Befreiung der Nation führen werde. Erst als die Hoffnungen getäuscht waren, beginnen die Versuche, die sprachliche Definition des deutschen Volkes mit scheinbar „realeren", in Wahrheit natürlich erheblich abstrakteren Vorstellungen von „Blutsbanden" zu erweitern. Dies geschah gleichzeitig bei Männern, die in anderer Hinsicht so verschieDies gilt für Friedrich Schlegels >Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804 bis 1806Rheinischen Merkur< vom Jahre 1814, Nr.25. 15 Dies ist die Hauptthese von E. M. Arndts >Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche VerfassungenDeutsches VolkstumBlick aus der Zeit auf die ZeitRheinischen MerkurPolitische Romantik< ist immer noch das beste Werk über diesen Gegenstand, das wir auch im folgenden noch häufiger benutzen werden. Ich zitiere nach der 2. Auflage, 1925. Die im Text gedruckte Stelle findet sich auf p.160. 18 In der >Neuen Fragmentensammlung< von 1798. In Novalis' Schriften, Leipziger Ausgabe von 1929, Band II, p.335. 19 Schmitt, op. cit., p.101. 17
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Pensionsanspruch. Für diesen Einfallsreichtum, der später einfach auf Kommando losgelassen werden konnte, gab die Romantik zugleich das beste Modell und den glänzendsten Vorwand in ihrer grenzenlosen Verehrung der individuellen „Persönlichkeit", bei der völlige Willkürlichkeit als höchster Beweis von Genialität galt. Das Zentrum des sogenannten romantischen Welt- und Lebensgefühls war der Genie- und Produktivitätsbegriff, wobei der Grad von Genie von der Anzahl der Einfälle abhing, die einer produzieren konnte. Dieser romantische Genie- und Persönlichkeitskult hat das Gesicht des modernen Intellektuellen entscheidender bestimmt als irgend etwas sonst. Solch ein typischer moderner Intellektueller war etwa noch Mussolini, der sich rühmte, zu gleicher Zeit „Aristokrat und Demokrat, Revolutionär und Reaktionär, proletarisch und antiproletarisch, pazifistisch und antipazifistisch gesinnt zu sein". Das besagt nicht mehr, als daß ihm zu allem diesem etwas gelegentlich einfallen konnte. Was Mussolini von den romantischen Intellektuellen, aber auch von seinen modernen Zeitgenossen unterschied, war nur, daß er seine Einfälle mit „der größtmöglichen Energie ins Werk setzte" 20 . Mussolini war der Meinung, daß man Faschist sei, wenn man „Relativist" ist, und von dieser Meinung haben ihn seine Kollegen in NaziDeutschland nie ganz zu heilen vermocht. Dieser Relativismus ist in der Tat romantisch, und wo er herrscht, ist es unvermeidlich, daß jede nur denkbare Meinung eines Tages in das Spiel der Einfälle hineingezogen, geistreich formuliert zu Papier gebracht und eiligst gedruckt wird. Weder der Inhalt dieser Meinungen noch das Chaos der Willkür im intellektuellen Leben der Zeit ist in unserem Zusammenhang von Wichtigkeit. Wesentlich ist nur der hinter beiden stehende Kult der Persönlichkeit und des Genies. Er hat in Deutschland aus politischen Gründen eine größere Rolle als anderswo in Europa gespielt, und der Einfluß der Romantik ist ihm im wesentlichen zuzuschreiben. Denn wenn auch die Romantiker die Persönlichkeit so wenig entdeckt haben wie das Volk, so hat sich doch dies Objekt besser als alle anderen zur Romantisierung geeignet und hat seine eigentliche Prägung sogar erst in der Romantisierung erfahren. Die Persönlichkeit ist natürlich kein politischer Begriff, aber sie ist auch nicht primär ein psychologischer und ganz und gar nicht ein irgendwie gearteter philosophischer Begriff. Die Persönlichkeit ist vor Mussolinis Aufsatz >Relativismo e FascismoDiuturna< in Mailand erschien, ist für die spezifische Mentalität, die von der der Nazis sorgfältig zu scheiden ist, sehr bezeichnend. 20
Hannah Arendts veränderter Blickwinkel nach 1945
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allem ein gesellschaftlicher Begriff, und sie spielt eine Rolle im wesentlichen nur im Leben der Gesellschaft. Da in Deutschland der Kampf zwischen Adel und Bürgertum politisch nie zur Austragung gekommen ist, dafür aber in dem Kampf um Selbstbehauptung und gesellschaftliche Anerkennung von dem Bürgertum selbst ins Gesellschaftliche verlegt wurde, konnte es passieren, daß ein rein gesellschaftlicher Begriff und eine rein gesellschaftliche Wertung auf das Politische von größtem Einfluß wurden. Nachdem es dem deutschen Bürgertum nicht gelungen war, eine politische Emanzipation zu erkämpfen, versuchte es wenigstens, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, um dem Druck, den der adlige Hochmut auf sein Selbstbewußtsein legte, zu entkommen. Das hervorragende Mittel in diesem Kampf ist der Begriff der „angeborenen Persönlichkeit" gewesen, den nicht Romantiker, sondern liberale Publizisten, also bürgerliche Intellektuelle, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt haben. Die Erziehungsgeschichte im >Wilhelm MeisterTraurige Tropen< (1955) kann man als ein literarisches Zeugnis lesen, das Grundgedanken aus >Rasse und Geschichte< weiterführt. In >Das Ende des Totemismus< (1962) - das Werk, das Levi-Strauss über das wissenschaftliche Fachpublikum hinaus bekannt machte - ist er der wissenschaftlichen Vorurteilsbildung auf die Spur gekommen. Es spricht nicht gegen den Autor, daß in jüngster Zeit publizistische Neorassisten zustimmend seine Arbeiten als Beleg für ihre reaktionäre~ Thesen von der kulturellen Differenz und des Rechtes auf ethnokulturelle Identität zitieren. Die Neorassisten verfälschen schlicht für ihre antihumanen Zwecke die Aufklärungskritik des Aufklärers LeviStrauss, der den Mythen eines geradlinigen Fortschritts und der destruktiven Gewalt globalisierender Monotonie mit allen seinen Arbeiten bis in die jüngste Zeit entgegengewirkt hat. Schon in >Rasse und Geschichte< geht es nicht um die relative Berechtigung oder das absolute Unrecht von rassistischen oder ethnozentrischen Vorurteilen, sondern um die Sackgasse von Fortschrittslogik oder abstrakter Umkehr in Gestalt eines antizivilisatorischen Mythos. Levi-Strauss' Denken hält der Möglichkeit einer anderen Welt eine Tür offen, wenn er den globalen Triumph der westlichen Zivilisation nicht verklärt, sondern eine Gewinn- und Verlustrechnung aufmacht, was aus dem Kapital geworden ist, das mit der neolithischen Revolution in die Hände menschlicher Gesellschaften gekommen ist. Vor diesem gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund wirken die publizistischen Kämpfe von Rassismus und Antirassismus, die Differenzierungen der akademischen Rassismusforschung, aus der sich die Kritiker von Levi-Strauss rekrutieren, merkwürdig kurzatmig und banal, weil sie an die Ausgangspunkte seiner Fragestellungen gar nicht kommen, die er in bemerkenswerter Klarheit für ein nichtwissenschaftliches Publikum formuliert hat. Wer sich auf Texte wie >Rasse und Geschichte< einläßt, kann ein Stück Unbehagen an der Kultur, das in jedem Individuum steckt, verwandeln in einen Augenaufschlag für Anderes als das bloß Bekannte, das nach einem Diktum Hegels darum, weil es bekannt ist, noch lange nicht erkannt ist.
EIN SIGNAL FÜR DIE VERDAMMTEN. FRANTZ FANONS KRITIK DES KULTURELLEN RASSISMUS Rassismus und Kultur 1 Die Überlegungen zum normativen Wert gewisser Kulturen, der ei_nseitig dekretiert wird, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sehr schnell stößt man auf ein Paradoxon, und zwar die Auswirkungen egozentrischer, soziozentrischer Definitionen. Zuerst wird die Existenz von menschlichen Gruppen ohne Kultur behauptet; dann eine solche von rangmäßig gegliederten Kulturen, schließlich der Begriff der kulturellen Relativität. Von globaler Negation bis zur besonderen und spezifischen Anerkennung. Genau diese auseinandergerissene und blutige Geschichte müssen wir auf der Ebene der kulturellen Anthropologie kurz skizzieren. Man kann sagen, daß es gewisse Anordnungen von Institutionen gibt, in denen bestimmte Menschen leben, im Rahmen bestimmter geographischer Räume, die zu einem gegebenen Zeitpunkt den direkten und brutalen Ansturm kulturell andersgearteter Schemen über sich ergehen lassen mußten. Die im allgemeinen höhere technische Entwicklung der sozialen Gruppe, die derart in Erscheinung tritt, erlaubt es ihr, eine organisierte Herrschaft zu errichten. Die Durchführung der Entkultivierung stellt sich dar als das Negativ einer viel gigantischeren Aufgabe ökonomischer, ja sogar biologischer Knechtung. Die Doktrin der kulturellen Hierarchie ist also nur eine Modalität der systematisierten Hierarchisierung, die auf unerbittliche Art und Weise verfolgt wird. Die moderne Theorie von dem Fehlen der „integration corticale" der Kolonialvölker ist ihre anatomisch-physiologische Entsprechung. Die Erscheinung des Rassismus ist im Grunde nicht entscheidend. Der Rassismus ist nicht ein und alles, sondern das sichtbarste EieText der Rede von Frantz Fanon auf dem I. Kongreß Schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris, September 1956. Veröffentlicht in der Sondernummer >Presence AfricaineDer KolonisatorPortrait d'un Juif< (1962) hält das erfahrungsgebundene Moment seiner Theorie fest, die von Beginn an kritisch gegen westliche Modeerscheinungen eines Dritte-Welt-Kultes eingestellt ist. Was in den siebziger Jahren als Zurück-zu-den-Wurzeln gefeiert wurde und seit den achtziger Jahren als „Suche nach der Identität" mystifiziert wird, wird von Memmi als eine politische Regression verstanden, die von der Idealisierung der Unterdrückten nicht Abschied nehmen will. Gerade für die Dilemmata einer Linken, die sich entweder als Erben der Aufklärungstradition glaubt oder aber die Aufklärung als rassistisch infizierte westliche Idee verwirft, hat Memmi ein Gespür entwickelt, weil sich das Scheitern linker Lebensentwürfe in den Kolonien mit seiner theoretisch durchgearbeiteten Lebens-. erfahrung verbindet. Memmis Theorie des Rassismus knüpft kritisch an die Tradition der Aufklärung an, deren Prämissen von rationaler Klarheit und Deutlichkeit der Autor teilt. Immer wieder von neuem stellt sich Memmi die Aufgabe, Rassismus zu definieren. Ihm gelingt dabei das Kunststück, den Rassismus nicht zu eng als Vorurteil oder Legitimation eines Vorteils noch zu weit als eine Allergie gegen alles Andere zu fassen. Memmi begreift den Rassismus als eine gesellschaftlich vermittelte Erfahrung, die sich mit der Herstellung einer Weltgesellschaft universalisiert. Auf diese Weise gelingt es Memmi, Alltäglichkeit und Verbreitung des rassistischen Phänomens in den Griff zu bekommen. Man würde den Einfluß der rassistischen Biologie am Ende des 19.Jahrhunderts bei weitem überschätzen, wenn man in ihr das Verursacherprinzip sowohl des rassistischen Kolonialsystems als auch des Massenmordes an den europäischen Juden während der Nazizeit sehen
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Angst vor dem Anderen
würde. Biologistische Erklärungsmuster sind ein Moment des Rassismus, kulturalistische ein anderes-und nichts besonders Neues. Geschärft durch die tunesische Kolonialerfahrung weiß Memmi um das Phänomen, daß gerade der Rassismus der Kolonisierten sich auf kulturalistische Muster stürzt, um sich nicht dem Biologismus der weißen Herrschaft zu unterwerfen. Die Quintessenz aus dem >Portrait d'un Juif< heißt: ,,Sein bedeutet Anderssein." Memmi verbindet in seiner Theorie des Rassismus den Begriff des Rassismus mit dem der Heterophobie. Ontogenetisch gesehen, aus der Lebensgeschichte des Einzelnen begründet, wurzelt die heterophobe Erfahrung im kulturellen Muster der Familie, in einer historisch spezifischen Art und Weise, in der das Andere erfahren wird. Der Geschlechtsunterschied, die Rolle von Vater und Mutter, lassen sich von der Wahrnehmung des Anderen nicht trennen. Um den Unterschied zu erkennen, muß man ihn erst einmal anerkennen. Der Unterschied, der in der rechten Tradition verabsolutiert, in der linken geleugnet wurde, wird von Memmi als Ausgangspunkt menschlicher Wahrnehmung ernst genommen, die in sich die Möglichkeit zur rassistischen Verfestigung wie zur freien Auffassung enthält. Memmi entgeht durch dieses beharrliche Fragen nach der gesellschaftlichen und psychischen Genese der Vorstellungswelten den unlösbaren Aporien der üblichen politischen Rassismusdiskussion, in der die „rechte" Biologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse mit ihrer ,,linken" Moralisierung beantwortet wird. Nicht im Unterschied wurzelt der Rassismus, sondern im Gerinnen der Differenzen zu einem hierarchischen Weltbild, das dem Einzelnen kollektive Orientierungssicherheit bietet. Dieses Weltbild besitzt einen psychischen und einen sozialen Realitätsgehalt, der von Memmis Definition des Rassismus angedeutet, aber nicht ausgeführt werden kann. Die konkreten Mischungsverhältnisse von Xenophobie, Antisemitismus, Rassismus und Heterophobie könnte nur eine kritische Gesellschaftstheorie der Zivilisationsgeschichte entwickeln. Ein weltgeschichtlicher Blick zurück öffnet sofort die Augen für das Kolonialverhältnis, in dem sich europäische Expansion und unwiederbringliche Zersetzung traditioneller Abhängigkeitsstrukturen zugunsten moderner Herrschaftsverhältnisse miteinander verschränken. Die mit der Moderne einhergehende weltgesellschaftliche Hierarchisierung der Menschheit bei gleichzeitigem Emanzipationsversprechen läßt kein menschliches Denken und Fühlen unberührt. Obwohl kaum einer sich gerne Rassist nennen läßt, muß man nicht extrem viel Aufmerksamkeit aufwenden, um
Albert Memmis Sozialpsychologie der Heterophobie
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überall auf dem Globus rassistisches Verhalten aufzuspüren. Man könnte Albert Memmis Buch >Rassismus