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German Pages 354 Year 1989
RALPH CHRISTENSEN Was heißt Gesetzesbindung?
Schriften zur Rechtstheorie Heft 140
Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung
Von Ralph Christensen
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Christensen, Ralph: Was heisst Gesetzesbindung?: eine rechtslinguistische Untersuchung / von Ralph Christensen. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 140) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1988 ISBN 3-428-06699-5 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-06699-5
Vorwort D i e dem Richter nach A r t . 97 Abs. 1 G G auferlegte Gesetzesbindung w i r f t nicht nur rechtliche, sondern auch sprachliche Probleme auf. Der interdisziplinäre Ansatz einer rechtslinguistischen Untersuchung versucht dem Rechnung zu tragen. D i e Arbeit verbindet rechtstheoretische Fragestellungen der Strukturierenden Rechtslehre m i t sprachtheoretischen Fragestellungen der praktischen Semantik. Die Gesetzesbindung w i r d untersucht als praktisch-semantische Tätigkeit des Richters, der über verschiedene Textstufen die Zeichenkette des Normtextes m i t deren Bedeutung als Rechtsnorm verknüpft. Die herkömmliche Gegenüberstellung v o n mechanischer Bindung des Richters an das Gesetz u n d schöpferischem Richterrecht k a n n damit überwunden werden zugunsten eines Modells, w o r i n der Richter als Gesetzgeber zweiter Stufe erscheint. D e m v o m Gesetzgeber geschaffenen N o r m t e x t k o m m t zunächst nur Geltung zu. Erst der Richter weist i h m unter Berücksichtigung der methodenbezogenen N o r m e n der Verfassung u n d einfachem Gesetz Bedeutung zu u n d stellt die Rechtsnorm her. Die Gesetzesbindung k a n n damit bestimmt werden als Teilung u n d K o n t r o l l e der rechtserzeugenden Gewalt des Richters. Das gewaltenteilende M o m e n t liegt darin, daß der N o r m t e x t als Zurechnungsgröße der Entscheidung nicht v o m Richter selbst, sondern v o m Gesetzgeber geschaffen wird. Das gewaltenkontrollierende M o m e n t liegt darin, daß der Richter die v o n i h m erzeugte Rechtsnorm dem vorgegebenen N o r m t e x t unter Beachtung der methodenbezogenen N o r men u n d Standards der juristischen Argumentationskultur zurechnen muß. Danksagung: F ü r vielfaltige Anregungen u n d solidarischen Streit danke ich dem Arbeitskreis Rechtslinguistik, bestehend aus D r . Dietrich Busse, D r . Bernd Jeand'Heur, D r . Michael K r o m e r , Prof. Friedrich M ü l l e r , Michael Sokolowski, Prof. Rainer W i m m e r . Wichtiges verdankt sich auch der Diskussion m i t D r . Hans-Heinrich Trute. F r a u I n g r i d Baumbusch danke ich für viel Geduld u n d Engagement bei der Herstellung des Typoskripts. Heidelberg, Januar 1989
Ralph Christensen
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13
A. Was heißt Gesetzesbindung?
18
1. Bindung durch den Inhalt des Gesetzes oder an den Text des Gesetzes?
18
2. Bindung durch eine gesetzestranszendente oder eine gesetzesvermittelte Gerechtigkeit?
20
3. Bindung durch Auflösung oder durch Teilung der rechtsprechenden Gewalt?
21
B. Praxis : Die gerichtliche Programmatik der Rechtsanwendung kann die Wirklichkeit der gerichtlichen Rechtserzeugung nicht erfassen
23
1. Programmatik: Wie wollen die Gerichte die Gesetzesbindung methodisch einlösen?
23
1.1 Die Gerichte bekennen sich programmatisch zu einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes
23
1.2 Die klassische Auslegungslehre soll das vorausgesetzte Rechtsanwendungsmodell einlösbar machen
24
1.3 Die Kanones juristischer Textarbeit werden einer Substantialisierung unterworfen
26
2. Praxis I: Welche Bedeutung haben grammatisches und systematisches Konkretisierungselement für die Bestimmung der Reichweite der Gesetzesbindung?
28
2.1 Die Substantialisierung des Gesetzeswortlauts verkürzt das Bindungspostulat
28
2.2 Die Substantialisierung der Gesetzessystematik mündet in Dezisionismus
33
2.3 Erst eine Rechtserzeugungsreflexion kann das tatsächliche Funktionieren von grammatischem und systematischem Konkretisierungselement erfassen
38
8
Inhaltsverzeichnis 3. Praxis I I : Welche Bedeutung haben historisches und genetisches Konkretisierungselement fur die Bestimmung der Reichweite der Gesetzesbindung?
44
3.1 Die Rechtsanwendungstheorie der Gerichte verkürzt die Rolle des genetischen Elements auf eine Bestätigung des objektiven Sinnes
45
3.2 Die gerichtliche Praxis setzt sich über diese Beschränkung hinweg . . .
49
3.3 Erst eine Rechtserzeugungsreflexion kann die tatsächliche Rolle von historischem und genetischem Element erfassen
52
4. Ergebnis: Die Gerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie tun
64
C. Theorie : Die Bindung durch den Inhalt des Gesetzes im Rahmen einer Rechtsanwendungslehre 66 1. Sprachliche Grenze: Kann die Lehre von der Wortlautgrenze eine objektiv vorgegebene Bindung garantieren?
68
1.1 Die Lehre vom Rechtsbegriff versucht den Verlauf der Wortlautgrenze festzulegen
69
1.1.1 Die herkömmliche Lehre setzt den eindeutigen Begriff als Regel voraus
70
1.1.2 Die geforderte Trennschärfe ist durch Unbestimmtheit und Wertbezogenheit gefährdet
71
1.1.3 Neuere Ansätze wollen den Rechtsbegriff mit Hilfe der Semantik reformulieren
74
1.2 Die Lehre von der im Text vorgegebenen Wortlautgrenze scheitert an den sprachlichen Bedingungen
77
1.2.1 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch Nachschlagen im Wörterbuch ergründen
78
1.2.2 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch Besinnen auf den Wert des Zeichens im Sprachsystem auffinden
79
1.2.3 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch empirische Feststellungen über den Sprachgebrauch einlösen
83
2. Methodologische Grenze: Kann die juristische Methodik eine der Rechtsanwendung vorgegebene Bindung garantieren?
86
2.1 Das Auslegungsmodell : Bindung an den zwischen Gesetz und Gesetzgeber schwankenden Willen?
88
2.1.1 Der sinnstiftende Autor trifft auf ein widerspenstiges Instrument
89
Inhaltsverzeichnis 2.1.2 Der sinnstifìende Text hat einen verschwiegenen Autor
100
2.1.3 Das Auslegungsmodell führt in eine diskursive Endlosschleife
105
2.2 Das Decodierungsmodell : Bindung an die vom Sprachsystem oder vom Sprecher festgelegte sprachliche Bedeutung? 108 2.2.1 Das Sprachsystem kann die feststehende Bedeutung des Textes nicht garantieren 108 2.2.2 Der Sprecher kann die Bedeutung des Textes nicht ein für allemal festlegen 117 2.2.3 Das Decodierungsmodell scheitert an der Komplexität sprachlicher Ordnung 121 2.3 Das Konkretisierungsmodell : Bindung an den zwischen Text und Autor umstrittenen hermeneutischen Sinn? 127 2.3.1 Der subjektive Geist des Gesetzgebers kann die Sinntotalität des Gesetzes nicht garantieren 129 2.3.2 Der objektive Geist des Gesetzbuches kann die Sinntotalität des Gesetzes nicht garantieren 144 2.3.3 Das konsequente Konkretisierungsmodell fuhrt über die Rechtsanwendungslehre hinaus 152 3. Rechtsinhaltliche Grenze: Kann die Gerechtigkeit eine der Rechtsanwendung objektiv vorgegebene Bindung garantieren? 158 3.1 Die Schwierigkeiten der Rechtsanwendungslehre führen zu einem Rückzug vom Gesetz zur Gerechtigkeit 159 3.1.1 Die juristische Methodik wird verdrängt durch spekulative Rechtserkenntnis 159 3.1.2 Eine dualistische Konzeption der Rechtsarbeit verdrängt die Positivismuskritik durch eine Kritik am Gesetzesbindungspostulat 161 3.1.3 Das „Gesetzesrecht" wird verdrängt durch ein ausuferndes „Richterrecht" 164 3.2 Ein der Rechtsanwendung objektiv vorgegebener Begriff der Gerechtigkeit ist nicht einlösbar 167 3.2.1 Der „hermeneutische" Begriff der Gerechtigkeit scheitert an den strukturellen Prämissen seiner Sprachtheorie 167 3.2.2 Der „fundamentalphilosophische" Begriff der Gerechtigkeit scheitert an den normativen Prämissen seiner Sprachtheorie 173 3.2.3 Die Gerechtigkeit fungiert als rhetorische Fassade des Dezisionismus 179
10
Inhaltsverzeichnis
D. Theorie der Praxis : Die Bindung an den Text des Gesetzes im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion 182 1. Maßstab der Rechtserzeugung: Woran ist schöpferische Rechtsarbeit gebunden? 183 1.1 Die Diskurstheorie will die Rechtserzeugung an einen philosophischnormativen Maßstab binden 183 1.1.1 Das Bindungspostulat wird durch eine philosophische Wahrheitstheorie ersetzt 184 1.1.2 Der Traum vom universalpragmatischen Code scheitert an der sprachlichen Vielfalt 190 1.1.3 Das Kriterium für die Wahrheit der Interpretationsbehauptungen ist nicht einlösbar 197 1.2 Topische und „postmoderne" Rechtstheorie wollen die Rechtserzeugung ohne fallübergreifende Bindungen beschreiben 202 1.2.1 Das abstrakte Verständnis des Bindungspostulats wird in der empirischen Beschreibung aufgelöst 202 1.2.2 Die Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten taugt nicht als Rechtfertigung des Dezisionismus 206 1.2.3 Der juristische Diskurs kann ohne Bezug zum Bindungspostulat nicht zureichend beschrieben werden 214 1.3 Die Strukturierende Rechtslehre bindet die Rechtserzeugung an den sprachspielimmanenten Maßstab des Verfassungsrechts 218 1.3.1 Die verfassungsrechtliche Rückbindung juristischer Methodik fuhrt nicht in einen logischen Zirkel 219 1.3.2 Die Wissenschaftstheorie bietet keinen Rationalitätsmaßstab, der das Verfassungsrecht ersetzen könnte 223 1.3.3 Die Verfassungstheorie fuhrt zurück zum Rationalitätsmaßstab des Verfassungsrechts 225 2. Struktur der Rechtserzeugung: Kann die praktische Rechtsarbeit methodisch strukturiert werden? 227 2.1 Legitimationsstruktur : Wie muß die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns gestellt werden? 227 2.1.1 Die Sprachtheorie der herkömmlichen Lehre zielt auf Legitimationswissen 228 2.1.2 Die Sprachreflexion der Strukturierenden Rechtslehre zielt auf Produktionswissen 232
Inhaltsverzeichnis 2.1.3 Die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns muß im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion gestellt werden 234 2.2 Textstruktur: Was heißt Geltung des Normtextes für die Rechtserzeugung? 237 2.2.1 Gesetzgebung ist nicht Rechtsnormsetzung, sondern Normtextsetzung 237 2.2.2 Dem Normtext kommt nicht sprachliche Bedeutung, sondern rechtliche Geltung zu 240 2.2.3 Die Geltungsanforderung richtet sich an das bedeutungskonstituierende Handeln des Rechtsarbeiters 247 2.3 Normstruktur: Können methodische Bindungen auf den Prozeß der Konstitution von Bedeutung bezogen werden? 251 2.3.1 Die Bindungen entfalten sich im Prozeß der Herstellung einer Rechtsnorm 252 2.3.2 Die Bindungen werden von einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik formuliert 256 2.3.3 Das Ergebnis der juristischen Interpretationstätigkeit kann auf die Einhaltung dieser Bindungen überprüft werden 266 3. Grenze der Rechtserzeugung: Kann der Wortlaut verfassungsrechtlich-normative Grenze der Rechtserzeugung sein? 269 3.1 Im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion kann das Problem der Wortlautgrenze sprachtheoretisch präzisiert werden 269 3.1.1 In der semantischen Praxis sind Sprecher und Sprache intern relationiert 269 3.1.2 Zwischen Normtext als Textformular und Rechtsnorm als Textbedeutung liegt das juristische Handeln als semantische Praxis . . 274 3.1.3 Die Bedeutung des Normtextes wird nicht mechanisch angewendet oder frei erfunden, sondern durchgesetzt 275 3.2 Die Wortlautgrenze wird nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache definiert
283
3.2.1 Die Wortlautgrenze ist keine sprachliche Größe
283
3.2.2 Die Wortlautgrenze ist keine methodologische Größe
285
3.2.3 Die Wortlautgrenze ist eine normative Größe
286
12
Inhaltsverzeichnis
£. Gesetzesbindung heißt Bindung an den Text des Gesetzes durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt 290 1. Gegenstand der Gesetzesbindung ist der vom Gesetzgeber geschaffene Text als Zeichenfolge 290 2. Die Rechtsprechung ist nicht zur Setzung einer gesetzestranszendenten Gerechtigkeit ermächtigt, sondern an eine gesetzesvermittelte Gerechtigkeit gebunden 291 3. Die praktische Wirkungsweise der Gesetzesbindung liegt in der Teilung und Kontrolle rechtserzeugender Gewalt 300 Zusammenfassung
307
Literaturverzeichnis
314
Namenverzeichnis
337
Sachveizeichnis
342
Einleitung Ausgangspunkt der Arbeit ist die „kafkaeske Situation" eines Richters, der weiß, daß er gebunden ist, aber nicht weiß, woran 1 . Zwar gibt es funktionierende Selbstbindungen der Praxis, aber deren theoretische Reflexion bleibt hinter der Komplexität dieser Bindungen zurück 2 . Die wissenschaftliche Anstrengung muß diesen Abstand überwinden, um so die Gesetzesbindung auch dort wirksam zu machen, wo die Anforderungen des Rechts dem Gefalle sozialer Machtverhältnisse zuwiderlaufen 3. Die Frage nach der Gesetzesbindung ist bisher in verschiedener Weise untersucht worden. Rechtsgeschichtliche Studien haben die Herausbildung und Entwicklung des Bindungspostulats über verschiedene Stufen der Verfassungsgeschichte hinweg dargestellt 4. In dogmatischen Arbeiten werden die verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Grundlagen dieses Postulats herausgearbeitet 5. Schließlich machen methodische Arbeiten Vorschläge, wie dieses Postulat praktisch einzulösen ist 6 . Der vorliegende Text klammert rechtsgeschichtliche Fragen aus und geht auf die Dogmatik nur insoweit ein, als dies zur Bestimmung der verfassungsrechtli1 Vgl. zu dieser treffenden Beschreibung der Situation: Honseil, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 21 2 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 27 ff. 3 Vgl. dazu F. Müller,,Richterrecht', 1986, S. 91 : „Nach dem verpflichtenden Konzept des Grundgesetzes sollen Recht und Verfassung (...) nicht als ein mit methodisch doppelter Moral geführtes Instrument in einer Auseinandersetzung ohne Waffengleichheit mißbraucht werden". 4 Vgl. dazu Conrad, Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, 1971, m.w.N.; C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926; ders., Unabhängigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privateigentums nach der Weimarer Verfassung, 1926; Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, S. 53 ff.; ders., Gesetz und gesetzgebende Gewalt von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 1957; vgl. zu weiteren Nachweisen H. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 12 ff. s
Vgl. dazu etwa Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960; weitere Nachweise bei H. Simon, ebd., sowie zum Schrifttum zu Art. 97 I GG: Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20, Spezialschrifttum S. 252 ff. 6
Vgl. aus der neueren Diskussion etwa Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974; Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 94 ff.; F.Müller, ,Richterrecht\ 1986, S.60ff., 69ff., jeweils mit weiteren Nachweisen aus der umfangreichen Literatur
14
Einleitung
chen Anforderungen an die juristische Argumentationskultur erforderlich ist. Schwerpunkt der Untersuchung ist die Frage nach der praktischen Einlösbarkeit des Gesetzesbindungspostulats. Dabei sollen die impliziten und neuerdings auch expliziten sprachtheoretischen Annahmen 7 der Diskussion um die Gesetzesbindung im Vordergrund stehen. Die Untersuchungsrichtung ist damit die der Rechtslinguistik. Dies soll aber nicht nahelegen, daß hinter dem Namen eine etablierte Disziplin steht mit festgelegtem Gegenstandsbereich und ebensolchen Methoden. Eine solche Erwartung läßt sich (noch) nicht erfüllen. Vorerst arbeitet eine rechtslinguistische Untersuchung noch entsprechend den Regeln dessen, was getan sein wird 8 . Eine gewisse Orientierung ergibt sich dabei aus dem grundsätzlichen sprachwissenschaftlichen Ziel, einen reflektierten Sprachgebrauch des einzelnen Sprechers zu fördern 9 . Als Rechtslinguistik kann dieses sprachwissenschaftliche Programm einer „Stärkung der selbstreflexiven Sprachkompetenz" 10 anknüpfen an Überlegungen, die sich sowohl in der Praxis als auch in der rechtswissenschaftlichen Theorie immer wieder finden. Die Sprache spielt in den Reflexionen der Juristen eine zweifache Rolle: Einmal ist sie kritische Instanz, welche die Verfestigung einer bestimmten Interpretation durch Hinweis auf die Vielfalt des tatsächlichen Sprachgebrauchs wieder in Bewegung bringt 1 1 . Die zu diesem Zweck in der praktischen Rechtsarbeit entwickelte kreative Phantasie der Nuancierung des Sprachgebrauchs macht die Jurisprudenz nicht nur zum geeigneten Anknüpfungspunkt sprachphilosophischer Überlegungen 12 , sondern trifft sich auch mit dem Anliegen der neueren Sprachwissenschaft, die Pluralität des Sprachgebrauchs ins Zentrum zu stellen 13 . Die Verwendung der Sprache als kritische Instanz zeigt 7
Vgl. dazu unten im Text Teil C. Vgl. zu dieser Formulierung des Problems einer Grundlagenuntersuchung: Lyotard, Regeln und Paradoxe, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, 1986, S. 97ff., 101 f., 105, 106f. 9 Vgl. Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, 1984, S. 7 ff., 14 m.w.N. 10 Ebd. 11 Vgl. zu den Berührungspunkten von juristischer Methodik und Sprachkritik: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. llOf. 12 Nicht nur Austin setzt sich mit juristischem Sprachgebrauch auseinander, wenn er etwa Begriffe wie Handlung und Verantwortung untersucht (vgl. Austin, A plea for excuses, in: ders., Philosophical Papers, 1961, S. 123 ff.). In einer neueren Untersuchung wurde vielmehr nachgewiesen, daß schon vor Austin der Rechtsphilosoph Adolf Reinach mit seiner „Theorie der sozialen Akte" die Sprechakttheorie begründet hat (vgl. A. Burkhardt, Soziale Akte, Sprechakte und Textillokutionen. A. Reinachs Rechtsphilosophie und die moderne Linguistik, 1986). 13 Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, 1984, S. 7 ff., 15 8
Einleitung
sich im Kontext der Gesetzesbindung überall dort, wo hinter der vorgeblichen Rechtsanwendung eine Rechtserzeugung sichtbar gemacht wird, deren Begründungslasten spezifisch juristisch sind und nicht auf die Sprache abgeschoben werden können. Zum andern hat die Sprache im Rahmen der Jurisprudenz aber auch eine legitimatorische Funktion. Die Ordnung der Sprache soll Gerechtigkeitsmodelle 1 4 und juristische Entscheidungen begründen. Seit dem „linguistic turn" der Philosophie 15 wächst der Sprache damit in verstärktem Maße eine Rolle zu, die früher von einem normativ aufgeladenen Naturbegriff erfüllt wurde. In bezug auf die Natur hat Kelsen die Struktur solcher Legitimationsmodelle beschrieben: Entsprechend der Bewegung, mit der ein Zauberer die vorher hineinpraktizierten Kaninchen aus dem Zylinderhut zieht, werden subjektive Werturteile in die Natur projiziert, um sie als objektive Normen daraus abzuleiten 16 . In bezug auf die Sprache gilt es diese Legitimationsstrategien noch herauszuarbeiten. Einen ersten Hinweis für die legitimatorische Rolle der Sprache im Kontext der Gesetzesbindung gibt dabei eine Bemerkung von Geiger: „Die Juristensprache verbirgt und dissimuliert durch Berufung auf angeblich objektive Maßstäbe soweit wie irgendmöglich die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters. Er will das für den Fall geltende Recht lieber finden als er-finden" 17 . Die sprachwissenschaftliche Perspektive soll, ausgehend von dieser Motivation, zu einer Ordnung der Sprache führen, welche der richterlichen Entscheidung eine objektive Grundlage und Rechtfertigung verschafft. Gerade das Problem der Gesetzesbindung zeigt damit besonders deutlich, daß die sprachwissenschaftliche Perspektive nicht als etwas Äußeres in die Jurisprudenz nachträglich eingeführt werden muß. Wenn Juristen Streitfalle entscheiden, handeln sie in der Sprache 18 und hier muß sich auch die Steuerung ihres Handelns durch das Gesetz entfalten. Ein Versuch, zu einer realistischen Einschätzung der Steuerungsfahigkeit des Gesetzes zu gelangen, kann deswegen von den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit nicht absehen und ist insoweit notwendig interdisziplinär 19 . 14
Vgl. dazu etwa Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 50 ff., der sein Legitimationsmodell des Rechtszwangs in einer deskriptiven Semantik abstützen will. 15 Vgl. zur Anknüpfung an den „linguistic turn" ebd., S. 49 16 Vgl. zu Kelsens diesbezüglicher Kritik am Naturrecht: Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 402ff.; ders., The Communist Theory of Law, 1955, S. 20ff.; ders., The Natural-Law-Doctrine before the Tribunal of Science, in: Natural Law and World Law, Festschrift für Kotaro Tanaka, 1954, S. 80ff.; ders., Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 43 ff. Vgl. zum Ganzen auch Topitsch, Hans Kelsen als Ideologiekritiker, in: ders., Gottwerdung und Revolution, 1973, S. 218 ff., 221 und öfter; ders., Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1972, S. 351 und öfter 17 Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl. 1970, S. 255 18 Vgl. zu dieser Sprachgebundenheit juristischen Handelns: F. Müller, Recht — Sprache —Gewalt, 1975, S. 9,20 f., 31; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 110f.; ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 95 ff.
16
Einleitung
Interdisziplinarität heißt aber nicht, daß die Rechtstheorie zur „Briefkastenfirma" wird, welche die juristischen Probleme an die Sprachwissenschaft weiterleitet und von dort die Lösungen bezieht. Sprachwissenschaftliche Theorien stehen in einem spezifischen Problemkontext, der ihre „zitatweise" Übertragung auf rechtstheoretische Fragestellungen ausschließt. Der Nutzen einer interdisziplinären Orientierung liegt eher darin, innerhalb rechtstheoretischer Ansätze unreflektierte Alltagsannahmen über die Sprache sichtbar zu machen 20 . Indem Sprünge und Risse in juristischen Argumentationszusammenhängen hervortreten, löst sich die fraglose Selbstverständlichkeit von Standesvorurteilen über die Sprache 21 auf. Aber genausowenig wie die Rechtstheorie zur bloßen Briefkastenfirma der Linguistik werden soll, läßt sich umgekehrt die Linguistik einfach zur Hilfswissenschaft der Jurisprudenz degradieren. Nur zu oft werden in juristischen Argumentationszusammenhängen sprachwissenschaftliche Theoreme aufgenommen mit dem Ziel, damit den Zugang zur wahren Ordnung der Grammatik, Semantik usw. ausfindig zu machen. Die Sprachwissenschaft soll dabei als Instrument zur Lösung einer spezifisch juristischen Ordnungsaufgabe eingesetzt werden. Diese Aufgabenstellung ist der Sprachwissenschaft aber fremd. Ihr Ziel ist nicht, Vorschriften für den richtigen, wahren oder zulässigen Sprachgebrauch aufzustellen 22. Ihr Interesse richtet sich eher auf die Vielfalt und Nuancierung des Sprachgebrauchs. Daher kann sie nicht mittels der Sprache die spezifisch 19 Zu den Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaft und Rechtswissenschaft vgl. Wimmer, Berührungspunkte zwischen Rechtswissenschaft und Linguistik, in: Ennert (Hrsg.), Sprache und Recht. Loccumer Protokolle 31/1980, S. 171 ff. 20 Vgl. zu diesem nicht deduktiv-äußerlichen, sondern im jeweils fraglichen Sprachspiel selbst ansetzenden sprachwissenschaftlichen Vorgehen als „Stärkung der selbstreflexiven Sprachkompetenz": Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, 1984, S. 7ff., 14 21 Zu diesen Annahmen gehört etwa das Postulat der Bedeutungsidentität. Kritisch dazu D. Horn, Rechtssprache und Kommunikation. Grundlagen einer semantischen Kommunikationstheorie, 1966; J. Simon, Sprachphilosophische Alternative, in: Viehweg/Rotter (Hrsg.), Recht und Sprache, ARSP Beiheft 9, 1977, S. Iff. Weitere Ansätze zu einer Problematisierung impliziter juristischer Sprachtheorien bei U. Neumann, Acht Thesen zur Kritik und Metakritik der Rechtssprache, in: ebd., S. 121 ff.; Rodingen, Rechtstheorie als Kritik des juristischen Sprachgebrauchs, in: ebd., S. 51 ff.; ders., Pragmatik juristischer Argumentation, 1977, S. 40ff., insbes. 148 f. 22 Vgl. zu einer solchen normativen Auffassung nicht nur der Grammatik und der Sprachwissenschaft, sondern auch der Sprache selbst: Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 46 f. Vgl. zur Kritik an einem solchen Verständnis aus sprachwissenschaftlicher Sicht: Heringer, Normen? Ja — aber meine, in: ders. (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 94ff., insbes. 99 mit Bezug auf Mauthner; vgl. zur Kritik und den faktischen Grenzen eines solchen normativen Sprachverständnisses auch Wimmer, Sprachkritik und reflektierter Sprachgebrauch, in: Sprache und Literatur 1983, S. 3 ff., lOff.; zur Forderung nach linguistischer Analyse statt Sprachreform: vgl. Heringer, Sprachkritik — die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln, in: ders., (Hrsg.), ebd., S. 3 ff., 23 ff., 25
Einleitung
juristischen Ordnungsaufgaben lösen. Mit der Aufnötigung dieses Problems macht man die Sprachwissenschaft zur bloßen Magd der Jurisprudenz. Aber die Magd ist störrisch und gibt denen, die mittels der Sprache herrschen wollen, Widerworte. Statt die juristischen Ordnungsvorstellungen sprachwissenschaftlich zu begründen, ergreift sie als Sprachkritik 23 Partei für das Recht auf abweichenden Sprachgebrauch. Ihre Leistung liegt damit nicht in der Rationalisierung von Herrschaft, sondern in der Sichtbarmachung einer Gewalt, die in Texten und deren letztverbindlicher Interpretation steckt. Der Gewinn für die Juristen liegt darin, daß ihr eigenes Problem damit klarer hervortritt. Denn die von ihnen in praktischer Rechtsarbeit ausgeübte Gewalt muß kultiviert, d. h. geteilt und kontrolliert werden.
23 Vgl. zum Stichwort Sprachkritik: v. Polenz, Sprachkritik und Sprachnormenkritik, in: Heringer (Hrsg.), ebd., S. 70ff.; Heringer, Der Streit um die Sprachkritik: Dialog mit Peter v. Polenz, in: ebd., S. 161 ff.; Dieckmann, Sprachlenkung/Sprachkritik, in: Althaus/Henne/Wiegand (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, 2. Aufl. 1980, Bd. 3, m.w.N.
2 Christensen
A. Was heißt Gesetzesbindung? Das Problem der Gesetzesbindung ist verfassungsrechtlich vorgegeben. Seine Einlösung i m praktischen Handeln u n d Entscheiden der Juristen w i r f t aber drei Fragen auf: 1. Was ist der Gegenstand der Gesetzesbindung? 2. W o liegen die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gesetzesbindung? 3. W i e k a n n die Gesetzesbindung praktisch-methodisch umgesetzt werden? 1. Bindung durch den Inhalt des Gesetzes oder an den Text des Gesetzes? Eine Analyse des Gesetzesbindungspostulats muß m i t einer vorläufigen Begriffsbestimmung 1 des Untersuchungsgegenstands beginnen. Diese Begriffsbestimmung k a n n m a n allerdings nicht a u f der abstrakten Ebene reiner Theorie oder M e t h o d i k vornehmen 2 . Vielmehr sind für die Frage nach ,ob' u n d ,wie' der Gesetzesbindung die politischen Grundentscheidungen der Verfassung v o n Bedeutung 3 . Deren methodenbezogene N o r m e n 4 sind konstitutive Faktoren sowohl für das praktische als auch das theoretische 1 Zur Bedeutung einer vorläufigen Begriffsbestimmung als „ E r g r i f f und durchgehaltene Frageform vgl. Bloch, Experimentum Mundi, GA 16, 1977, S. 39 ff. Zu der Rolle des Begriffs „Vorverständnis" in der Rechtstheorie und zum „Lebens- und Praxisbezug" des Vorgangs Normativität: F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 36 ff. 2 So will etwa Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff. mit der Frage nach den „Bedingungen jeder Erkenntnis" (S. 97, ebenso S. 95) beginnen und lehnt eine Rückbindung an Verfassungsnormen mit dem Hinweis auf die Gefahr eines Zirkels ab (ebenso Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267 f. und öfter). Vgl. zum ganzen Problem noch weiter unten im Text m.w.N. 3 Dies wird in der juristischen Diskussion immer noch weitgehend außer acht gelassen. Kriele sagt im Kontext dieser Vernachlässigung des Verfassungsrechts, daß das Grundgesetz „nichts Eindeutiges über die Methode bestimmt". Selbst wenn man aber diesen Mangel an Eindeutigkeit einmal unterstellt, läßt sich daraus nicht ableiten, daß die Verfassung für die Bestimmung des von praktischer Rechtsarbeit einzulösenden Rationalitätsmaßstabs überhaupt keine Bedeutung hat. Vgl zu einem Ansatz, der das Verfassungsrecht bei der Untersuchung von methodischer Rationalität der Rechtswissenschaft und Praxis zur Grundlage macht: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 140 ff. In der daran anschließenden Debatte wurden die von F. Müller erarbeiteten positivrechtlichen Grundlagen juristischer Rationalität zwar als wichtiges Problem anerkannt, aber vereinzelt wurde versucht, die normativen Fragen wieder zu staatstheoretischen (vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 247, 253. Kritisch dazu F. Müller, ,Richterrecht\ 1986, S. 21) oder verfassungstheoretischen (vgl. dazu Schlink, ebd., S. 95 ff.) Fragen zu verkürzen. 4
Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 79f., 86, 119
1. Bindung durch den Inhalt oder an den Text des Gesetzes?
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Problem der Bindung richterlichen Handelns. Ansatzpunkt und erste Orientierung muß deshalb die Verfassung sein, deren Art. 97 I folgenden Worlaut hat: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen". Die sachliche Unabhängigkeit der Gerichte und die Gesetzesbindung sind als ergänzende Prinzipien gedacht5. Das Gericht soll unabhängig von staatlichen Einzelweisungen zu seiner Entscheidung gelangen, wobei die Bindung an das Gesetz persönliche Willkür ausschließt. Was heißt aber nun, daß der Richter nur dem Gesetz unterworfen ist? Schon das in der zitierten Wendung enthaltene Wort,Gesetz' ist mehrdeutig 6 : Es kann sich auf den bloßen Wortlaut als Zeichenfolge oder auf die Zeichenbedeutung als „objektiven Inhalt" beziehen. Diese Mehrdeutigkeit setzt sich fort im Begriff der Gesetzesbindung. Das Postulat kann einmal verstanden werden als Bindung durch das Gesetz im Sinne einer Erkenntnis seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung oder es kann verstanden werden als Bindung an das Gesetz im Sinne einer richterlichen Konstitution dieser Bedeutung unter bestimmten Einschränkungen. Für das mit dem Stichwort „Bindung durch das Gesetz" bezeichnete Modell ist Gegenstand der Bindung die objektive Bedeutung des Normtextes. Mittel der Bindung ist die von einer Auslegungs- oder Bedeutungstheorie ermöglichte Erkenntnis der objektiven Bedeutung. Das Ausmaß der Bindung ist hier eine über die richtige Erkenntnis vermittelte Determination 7 . Das Modell einer „Bindung an das Gesetz" sieht die Zeichenfolge des Normtextes als Gegenstand der Bindung an. Mittel der Bindung sind die verfassungsrechtlich begründeten Standards einer praktischen Bedeutungskonstitution. Das Ausmaß der Bindung ist nicht vollständige Determination, sondern relative Plausibilität im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur. Der Versuch einer praktisch-methodischen Analyse des Gesetzesbindungspostulats stößt somit schon bei seinem ersten Schritt einer vorläufigen Begriffsbestimmung auf eine grundsätzliche Ambivalenz. Die Untersuchung dieser Ambivalenz muß zunächst an der Systematik der Verfassung ansetzen, welche der Gesetzesbindung eine bestimmte Aufgabenstellung zuweist. Erst auf der 5 Vgl. dazu Wassermann, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 43. Kritisch zu dieser Komplementarität mit dem Versuch, einen Gegensatz von richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung zu konstruieren: Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 13 ff. Dieser Versuch erscheint aus der Sicht einer weiter unten darzustellenden wirklichkeitsnäheren Sicht der Gewaltenteilungslehre als problematisch. Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht\ 1986, S. 88 ff. 6 Vgl. dazu Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 31 ff., ähnlich schon zum Begriff Wortlaut: A.Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlautes, 1960, S. 16 ff. 7 Vgl. zur Kritik „deterministischer" Konzeptionen in der juristischen Methodik: Adomeit, Juristische Methode, in: Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, Bd. 1, 1972, S. 217ff.
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A. Was heißt Gesetzesbindung?
Grundlage einer an die Verfassung rückgebundenen Funktionsbestimmung kann dann nach der Struktur des Gesetzesbindungspostulats gefragt werden. 2. Bindung durch eine gesetzestranszendente oder eine gesetzesvermittelte Gerechtigkeit? Art. 92 GG überträgt die rechtsprechende Gewalt den Richtern, und Art. 971 GG bindet die Ausübung dieser Gewalt an das Gesetz. Wenn man den Anknüpfungspunkt dieses Postulats im richterlichen Handeln genauer bestimmen will, muß man sich von der positivistischen Fiktion lösen, der Richter entscheide allein dadurch, daß er den Fall unter den Normtext subsumiere 8. Eine Theorie der Bindung an das Gesetz kann diese immer noch wirksamen Prämissen des Gesetzespositivismus verabschieden. Es wird dann deutlich, daß der Vorgang der Entscheidung wesentlich komplexer ist als das Subsumtionsmodell. Dem Richter liegen als Eingangsdaten9 seiner Entscheidung die Fallerzählung und die Normtexte vor. Die Verknüpfung beider Elemente erfolgt über verschiedene Stufen, wobei die dem Urteil oft vorangestellten Leitsätze 10 eine besonders wichtige Funktion haben. Unter deren vom Gericht selbst formulierten Text wird der Fall subsumiert und die Entscheidungsnorm 11 als Urteilsformel abgeleitet. Dabei soll die Formulierung der Leitsätze über „Interpretation" oder „Konkretisierung" an die vom Gesetzgeber formulierten Norm texte 12 rückgebunden sein. Im damit angedeuteten Kontinuum der Satzverkettungen 13 kann das Gesetzesbindungspostulat seine Wirkung in einem von Gesetzgeber und Richter arbeitsteilig gestalteten Prozeß entfalten. Die herkömmliche Lehre einer Bindung durch das Gesetz versucht diesen arbeitsteiligen Prozeß dadurch zu entdifferenzieren, daß sie Art. 20 I I I GG gegen Art. 97 I GG ausspielt und die in Art. 20 I I I enthaltene Wendung „und Recht" als Verpflichtung auf die Gerechtigkeitsidee oder als Ermächtigung zu gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung interpretiert 14 . Sie ist zu dieser dog8
Vgl. zur Kritik am Subsumtionsdenken: F.Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 53ff. sowie weiter unten im vorliegenden Text 9 Vgl. ebd., S. 50f., 86, 90; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 264 10 Vgl. zur Rolle der Leitsätze in einer konkreten juristischen Entscheidung: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 265 11 Vgl. zu diesem Begriff ebd., S. 259 f., 264ff., 433. Natürlich kann sich eine etwa die Anträge zurückweisende Entscheidungsformel aus mehreren Entscheidungsnormen zusammensetzen. Vgl. dazu etwa ebd., S. 265 12 Vgl. zum Begriff Normtext: ebd., S. 264, 334, sowie 234 ff., 267 ff. Zur Gesetzgebung als Normtextsetzung: ebd., S. 270ff. 13 Vgl. zum Begriff der Satzverkettung: Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 10f., 58,103, 141 ff. 14 Vgl. dazu Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Rdnr. 5 m.w.N.; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 117 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 88 f.
3. Auflösung oder Teilung der rechtsprechenden Gewalt?
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matisch-methodisch schwer zu begründenden Interpretation gezwungen, weil sie die Gesetzesbindung als Bindung durch den vorgegebenen Inhalt des Gesetzes begreift. Wenn sich im Ernstfall der Entscheidung dieser vorgegebene Inhalt nicht nachweisen läßt, bedarf es einer weitergehenden Legitimationsquelle. Die Gerechtigkeit bzw. die über die Gesamtheit der positiven Gesetze hinausgehende Sinneinheit des Rechts sollen dort, wo das Gesetz versagt, den Inhalt richterlicher Entscheidungen vorgeben. 3. Bindung durch Auflösung oder durch Teilung der rechtsprechenden Gewalt? Die der Gesetzesbindung vom Grundgesetz zugewiesene Aufgabe soll im alltäglichen Bereich praktischer Rechtsarbeit eingelöst werden. Die normative Analyse der Aufgabenstellung führt damit zu der Frage nach Struktur und praktischer Arbeitsweise des Gesetzesbindungspostulats. Für das Modell einer Bindung durch das Gesetz ist die konkrete richterliche Entscheidung determiniert durch den Inhalt des Gesetzes15. Als Inhalt gilt dabei seine sprachliche Bedeutung. Der Richter ist gebunden, soweit die Bedeutung des Textes festliegt und seinem Verstehen vorgegeben ist 1 6 . Er braucht lediglich eine Theorie, die ihm die Erkenntnis des sprachlich vorgegebenen Inhalts ermöglicht und kann sich dann darauf beschränken, die gewonnene Erkenntnis in der Entscheidung nur noch auszusprechen. Das Modell hat seinen Ausgangspunkt damit in einer Bedeutungstheorie. Auf deren Grundlage kann die Reichweite der Gesetzesbindung deduktiv bestimmt werden und das richterliche Handeln in den kategorialen Rahmen einer Rechtsanwendungslehre 17 eingebunden werden. Die dem Richter übertragene Gewalt soll damit in die Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen Bedeutung aufgelöst werden. Das Modell einer Bindung an den Text des Gesetzes sieht das richterliche Handeln nicht als vollständig determiniertes Aussprechen einer Erkenntnis an, sondern als schöpferischen Entscheidungsvorgang unter einschränkenden Bedingungen. Die sprachliche Bedeutung des Normtextes wird dementsprechend nicht als etwas objektiv Vorgegebenes betrachtet, sondern als etwas, das im Argumentationsprozeß erst hergestellt wird 1 8 . Die Bindungen richterlichen Handelns können damit nicht länger deduktiv aus einer Bedeutungstheorie abgeleitet werden, sondern sie lassen sich nur induktiv bestimmen im Rahmen einer Analyse der juristischen Argumentationspraxis. Deren Ergebnisse können dann an den methodenbezogenen Normen der Verfassung gemessen werden. Aus diesem Vorgehen erwächst eine verfassungsrechtlich rückgebundene 15 Vgl. dazu Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 31 ff., 59 m.w.N. 16 Vgl. dazu etwa Wassermann, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Abs. 1 Rdnr. 44. Weitere Nachweise weiter unten im Text 17 Vgl. zu diesem Stichwort: F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 26, 43 und öfter 18 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 114ff.
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A. Was heißt Gesetzesbindung?
Rechtserzeugungsreflexion 19, welche zwar nicht beansprucht, die dem Richter übertragene Gewalt in Erkenntnis aufzulösen, aber doch gewaltenteilenden und gewaltenhemmenden Kontrollen unterwirft. Beide Auffassungen können als Versuch angesehen werden, die Aufgabenstellung des Gesetzesbindungspostulats praktisch einzulösen und müssen sich dabei mit unterschiedlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Während die Theorie einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes eine objektive Ordnung aufweisen muß, die vermittels der Erkenntnis sprachlicher Bedeutung das richterliche Sprechen bestimmt, muß die Theorie einer Bindung an den Text des Gesetzes die Frage klären, wie ein schöpferisch handelnder Richter Bindungen unterworfen sein kann. Einmal geht es also um den Aufweis einer „natürlichen" Grenze für die richterliche Interpretationstätigkeit, zum andern um die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine „künstliche" Grenze praktischer Rechtsarbeit möglich ist. Die Entwicklung dieser Probleme soll zunächst anhand der Rechtsprechungspraxis dargestellt werden, um die theoretischen Implikationen anschließend entlang der Gegenüberstellung von Rechtsanwendungslehre und Rechtserzeugungsreflexion zu systematisieren.
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Vgl. F. Müller, ,Richterrecht\ 1986, S. 26, 47 und öfter
Β. Praxis: Die gerichtliche Programmatik der Rechtsanwendung kann die Wirklichkeit der gerichtlichen Rechtserzeugung nicht erfassen Wenn man das Verständnis des Gesetzesbindungspostulats in der Rechtsprechung untersuchen will, muß man unterscheiden zwischen den expliziten Reflexionen der Gerichte und der tatsächlichen Vorgehensweise1. Beides ist nicht notwendig deckungsgleich, und entsprechende Diskrepanzen können gerade die entscheidenden Probleme in der praktischen Wirksamkeit des Gesetzesbindungspostulats hervortreten lassen. 1. Programmatik: Wie wollen die Gerichte die Gesetzesbindung methodisch einlösen? Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte weist an verschiedenen Stellen nicht nur Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Gebot der Gesetzesbindung auf, sondern auch explizite Stellungnahmen zu Auslegungsfragen. 1.1 Die Gerichte bekennen sich programmatisch zu einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes
Das Bundesverfassungsgericht begreift die Gesetzesbindung als Respektierung der im Text des Gesetzes vorgegebenen normativen Substanz. In einer Reflexion seiner eigenen Rolle beansprucht es, „echte richterliche Entscheidungen" zu treffen, „bei denen nicht etwa erfunden wird, was im Grundgesetz nicht enthalten ist, sondern bei denen das, was als Gehalt des Willens des Gesetzgebers tatsächlich vorentschieden schon vorhanden ist, gefunden wird" 2 . Dieses Grundverständnis wird vom Gericht bei verschiedenen, die Gesetzesbindung berührenden Fragen wiederaufgenommen. Im Zusammenhang einer Diskussion über das strafrechtliche Analogieverbot führt das Gericht aus: „(...) ausgeschlossen ist (...) jede Rechts-,Anwendung', die über den Inhalt einer 1 Vgl. dazu F.Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S.27ff., 29ff. Diese Strukturierung nach methodologischer Reflexion und tatsächlicher Praxis wird auch in der Analyse von Michael Sachs aufgenommen. Vgl. dazu Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff. 2 Vgl. Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu dem Rechtsgutachten von Professor Richard Thoma, JöR N F G (1957), S. 194ff.
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht" 3 . Einen solchen vorgegebenen normativen Gehalt setzen auch die Überlegungen zu den Grenzen der verfassungskonformen Auslegung voraus: „Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde; im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt (...) werden" 4 . Und schließlich wird auch im Kontext der Auslegung der Grundrechte gefordert: „Schutzbereich und Gewährleistungsinhalt dieses Grundrechts sind aus sich, d.h. aus seinem mittels herkömmlicher Interpretation ermittelbaren normativen Gehalt zu bestimmen" 5 . M i t dem Bezug zur „herkömmlichen Interpretation" beantwortet das Bundesverfassungsgericht die Frage nach dem ,Wie' der Ermittlung des vorgegebenen normativen Gehalts. Der klassische, auf Savigny zurückgehende Methodenkanon soll dieses Erkenntnisproblem lösen. Im näheren werden dabei als Methoden bestimmt, die Auslegung „aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)" 6 . Diese auch von den anderen Obersten Bundesgerichten übernommene methodische Orientierung 7 vermag zwar die Rechtsprechung weder vollständig vorhersehbar zu machen noch auch nur vollständig zu beschreiben. Aber entgegen einer von der Literatur geübten K r i t i k 8 vermögen die Kanones trotzdem die Einbeziehung von Kontexten zum Gesetzestext in vorhersehbarer Weise zu strukturieren. 1.2 Die klassische Auslegungslehre soll das vorausgesetzte Rechtsanwendungsmodell einlösbar machen
Die Gerichte verlangen in ihrer methodischen Programmatik von den Kanones aber mehr als die kontrollierbare Erschließung von Kontexten. Sie sollen vielmehr Erkenntnisinstrumente für die Ermittlung eines im Text des Gesetzes vorgegebenen normativen Gehalts sein. An dieser Stelle beginnt dann tatsächlich eine Überforderung der Kanones 9 . Denn sie eignen sich nicht zur Destillation einer im Text vorgegebenen normativen Substanz und dienen in 3
BVerfGE 73, 206ff., 235. Ebenso BVerfGE 71, 108ff, 115 BVerfGE 71, 81 f f , 105 5 BVerfGE 69, 1 f f , 65 6 BVerfGE 11, 126ff., 130; vgl. auch BVerfGE 47, 109ff., 127 7 Vgl. BGHZ 49, 221 f f , 223 8 Vgl. dazu Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 99ff. m.w.N. 9 Vgl. zu einer realistischen Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Kanones: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 167 f. 4
1. Programmatik der Gerichte
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diesem Kontext nur der nachträglichen Rechtfertigung anderweitig bereits vorentschiedener Ergebnisse 10. Wichtiger als die Kanones ist in diesem Zusammenhang dann auch die Orientierung der Rechtsprechung an der klassischen Auslegungslehre. Erst deren Metaphorik legt eine den Buchstaben innewohnende geistige Substanz nahe, welche sich im richterlichen Sprechen entfaltet 11 . M i t dieser grundlegenden Vorstellung richterlichen Sprechens 12 werden auch die Kanones in den Rahmen einer die Buchstaben vergeistigenden Rechtsanwendungslehre eingestellt und dem Ziel einer Ermittlung vorgegebenen Sinns untergeordnet. Technisch vollziehen die Gerichte diese Unterordnung, indem sie die Kanones auf ein Auslegungsziel festlegen: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung" ist aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts „der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist" 1 3 . M i t dieser methodischen Leitentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht im Streit der klassischen Auslegungslehren zugunsten der objektiven Lehre Stellung genommen 14 . Denn als „nicht entscheidend" für die Feststellung des normativen Gehalts einer auszulegenden Vorschrift bezeichnet es „die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung" 15 . Der objektive normative Gehalt der Vorschrift wird damit aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht durch den Gesetzgeber 16, sondern durch den Text der Vorschrift selbst festgelegt.
10 Vgl. dazu Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1979, S. 62ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 96 11 Vgl. näher zu dieser Metaphorik und ihren theoretischen Implikationen unten im Text Teil C 2.1 12
Vgl. dazu kritisch Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung, Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 37 13 Vgl. BVerfGE 1,299ff., 312; sowie BVerfGE 8,274ff., 307; 10,234ff., 244; 11,126ff., 130 f.; 20, 283ff., 293; 47, 109ff., 127; 48, 246ff., 256; 53, 135ff, 147; 53, 207ff., 212 14 Vgl. zur Interpretation als Stellungnahme zugunsten der objektiven Theorie: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 27ff.; ebenso Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1.1984, S. 73 ff., 74 m. w. N. Weitere Entscheidungen, die diese Interpretation bestätigen, sind etwa BVerfGE 6, S. 55ff., 75; 10,234ff., 244; 11, 126ff., 130; 33, 265ff., 294 undff. Die abweichende Terminologisierung der methodischen Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts als Vereinigungstheorie (vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 178) beruht auf der Annahme, daß die objektive Lehre jeden Bezug auf die Materialien ausschließe. Wie aber Baden in seiner historischen Darstellung der methodischen Debatte um die Materialien herausarbeitet, wäre dies ein zu enges Verständnis der objektiven Lehre. Streitig ist vielmehr vor allem Gewicht und Stellenwert der Materialien. Vgl. dazu Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., insbes. 380ff. 15
BVerfGE 1, 299ff., 312
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
Neben dem Verfassungsgericht haben sich auch die anderen Obersten Bundesgerichte in programmatischer Weise zur Methode der Rechtsfindung geäußert. Bezugspunkt ist dabei die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Formel, welche in wörtlicher Wiedergabe oder paraphrasierenden Wendungen aufgenommen wird. Dem Bundesgerichtshof zufolge ist für die Auslegung „der objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des Gesetzes ergibt. Nur ergänzend ist auch die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschrift heranzuziehen, wenn es erforderlich ist, das Gesetz auf bestimmte Fallgestaltungen anzuwenden, für deren rechtliche Behandlung der Wortlaut und der Sinnzusammenhang des Gesetzes allein, losgelöst von der Entstehungsgeschichte, keine hinreichenden Anhaltspunkte bieten" 17 . Die vom Bundesgerichtshof formulierte Aussage findet sich fast wörtlich auch in methodischen Leitentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts 18 und anderer Oberster Bundesgerichte 19. Diese Einheitlichkeit des Bekenntnisses ist zu erklären durch einen gewissen Konformitätsdruck und das Bestreben, die Kontinuität und Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren 20 . Insgesamt ergibt sich damit in der Programmatik der Gerichte eine Orientierung am Rechtsanwendungsmodell, in deren Rahmen die Gesetzesbindung als Bindung an den vorgegebenen normativen Gehalt des Gesetzes bestimmt wird und durch die klassische Auslegungslehre in ihrer objektiven Spielart eingelöst werden soll. Die Gerichte verknüpfen hier die positivistische Rechtsnormtheorie, welche von einer im Text vorgegebenen normativen Substanz ausgeht, mit der klassischen Auslegungslehre, welche das dazu passende geschlossene Modell juristischer Textarbeit liefert. 1.3 Die Kanones juristischer Textarbeit werden einer Substantialisierung unterworfen
Die in den programmatischen Reflexionen der Gerichte vorgenommene Verknüpfung von positivistischer Rechtsnormtheorie und Auslegungsmetapher erklärt sich als spezifische Reaktion auf die an juristisches Handeln gestellten 16 Vgl. dazu BVerfGE 1, 117ff., 127; 1, 283ff., 294; 11, 126ff., 129 f.; 62, 1 ff., 45 und öfter. Die scheinbar abweichende Formulierung in BVerfGE 9, 89ff., 102: „eindeutiger Wille des Gesetzgebers" setzt bei genauer Betrachtung auch den „Inhalt" des Gesetzes nicht im Sinne der subjektiven Theorie mit diesem Willen gleich, sondern benutzt diese Größe nur zur Selektion von vorher nach anderen Konkretisierungselementen bestimmten Varianten eines objektiven Gesetzessinns. 17 Vgl. BGHZ 42, 182ff., 183 18 Vgl. BVerwGE 8,85 ff., insbes. 96 ff.: Auslegung nach dem „objektivierten Willen des Gesetzgebers, soweit er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist". 19 Vgl. dazu auch BSG 36, 164ff., 165; 6, 213ff., 217; 6, 252ff., 255; 8, 140ff., 140; 9, 158ff., 160ff.; 22, 7ff., 9; 25, 24ff., 27; 25, 268ff., 269 f.; 30, 64ff., 65; BAGE 13,1 ff., 14 20 Vgl. dazu Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1052
1. Programmatik der Gerichte
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Anforderungen. Die praktische Tätigkeit der Juristen ist zunächst auf die Entscheidung von Streitfällen bezogen. Dabei sind zwei Determinanten von besonderer Bedeutung. Einmal das Rechtsverweigerungsverbot, wonach der Richter die Entscheidung eines Falles, sei es auch als Feststellung mangelnder Zuständigkeit, nicht verweigern darf. Zum andern die Gesetzesbindung: Danach muß die ergangene Entscheidung dem vom Gesetzgeber erlassenen Normtext zurechenbar sein. Zwischen beiden Anforderungen vermittelt aus gesetzespositivistischer Sicht der Vorgang der Auslegung, welche den Richter vom bloßen Wortlaut des Gesetzes zum Wortsinn führt. Solange der Richter sich auf die Auslegung der im Gesetzestext vorgegebenen Norm beschränkt, genügt er dem Postulat der Gesetzesbindung, und nur so weit geht auch der Entscheidungszwang. Schon in der methodischen Reflexion der Rechtsprechung erfährt dieser klassische Begriff der Auslegung allerdings eine Erweiterung. Der Richter kann im Wege der Auslegung die Entscheidung nicht nur aus dem Gesetzestext entnehmen, sondern auch aus der hinter dem Gesetzestext stehenden umfassenden Ordnung der Gerechtigkeit. Im Zuge dieser Entwicklung wird sowohl das Gesetzesbindungspostulat als auch das Rechtsverweigerungsverbot neu interpretiert. Die Gesetzesbindung wird durch eine umfassende Bindung an die Gerechtigkeit ergänzt, und das Rechtsverweigerungsverbot wird materiell aufgeladen als Verpflichtung des Richters zu einer inhaltlich gerechten Entscheidung. In der methodischen Konsequenz werden dann die Kanones, welche eigentlich nur Fragerichtungen nach Kontexten der Argumentation liefern, einer Substantialisierung unterworfen. Die grammatische Auslegung soll eine vorgegebene Bedeutung des Normtextes feststellen, und, soweit dies nicht möglich ist, soll komplementär dazu die systematische Auslegung eine hinter dem Buchstaben des Gesetzes liegende umfassende Gerechtigkeitsordnung sichtbar machen. Das damit gewonnene Modell juristischer Textarbeit ist allerdings nicht Ergebnis einer deskriptiven Analyse der tatsächlichen Vorgänge, sondern es ergibt sich aus einer bestimmten Art und Weise der „Erledigung" von Rechtfertigungszwängen juristischen Handelns. Die Empirie oder das tatsächliche Funktionieren juristischer Textarbeit ist daher nicht nur die grundlegende Schwierigkeit, sondern auch der entscheidende Prüfstein dieses Modells 21 . Bei 21
Eine umfassende Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zum Jahre 1975 findet sich in F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 26ff.; weitere Entscheidungen und Gesichtspunkte zu ihrer Analyse aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre: vgl. ders., Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 12ff., 80ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 298 ff. Die von F. Müller erarbeiteten Ergebnisse dieser Analyse werden bestätigt durch die Arbeit von Michael Sachs, der speziell den Topos der Entstehungsgeschichte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts untersucht hat. Vgl. Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff.
Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
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der Untersuchung der praktischen Einlösbarkeit wird insbesondere zu fragen sein, ob die Kanones sich auch in ihrer tatsächlichen Handhabung dem Ziel einer Ermittlung der in den Worten oder hinter dem Text vorgegebenen normativen Substanz unterordnen lassen. 2. Praxis I: Welche Bedeutung haben grammatisches und systematisches Konkretisierungselement für die Bestimmung der Reichweite der Gesetzesbindung? Nach der Programmatik der Gerichte spielen grammatisches und systematisches Konkretisierungselement für die Feststellung des normativen Gehalts von Gesetzestexten die zentrale Rolle. Zunächst sollen die Schwierigkeiten einer solchen Funktionalisierung der Kanones anhand von Entscheidungen herausgearbeitet werden, die diesen theoretischen Anspruch wirklich ernst nehmen und sich bemühen, in Wortlaut bzw. Gesetzessystematik eine vorgegebene normative Substanz sichtbar zu machen. Danach bleibt zu untersuchen, ob das tatsächliche Funktionieren der Kanones diese auslegungstheoretischen Grenzen nicht überschreitet. 2.1 Die Substantialisierung des Gesetzeswortlauts verkürzt das Bindungspostulat
Die Gerichte wollen die normative Substanz zunächst im Wortlaut des Gesetzes auffinden und erst wenn dieses Erkenntnismittel nicht zum Ziel führt, zu einer hinter dem Wortlaut liegenden umfassenden Systematik Zuflucht nehmen. Der Wortlaut soll aus dieser Sicht die normative Substanz des Gesetzes vorgeben. Schwierigkeiten ergeben sich in diesem Modell immer dort, wo der Wortlaut dem Postulat der Eindeutigkeit offensichtlich nicht genügt. Dazu führt das Bundesarbeitsgericht aus: „Die Rechtsanwendung ist, je mehr es sich um Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder Ermessensentscheidungen handelt, nicht eine erkennende, sondern eine bewertende, aktualisierende und integrierende und im konkreten Fall die Verwirklichung der Gerechtigkeit anstrebende Willensentscheidung" 22 . In dieser Äußerung des Gerichts artikulieren sich zunächst die praktischen Schwierigkeiten des gesetzespositivistischen Auslegungsmodells. Der Richter kann nur dann die Rechtsnorm als tragenden Leitsatz der Entscheidung unmittelbar aus dem Text des Gesetzes entnehmen, wenn zwischen Wortlaut und Wortsinn, zwischen Zeichen und Bedeutung eine notwendige Verknüpfung besteht 23 . Es ist aber nicht zu sehen, wie man die Anforderung, daß die Zeichenkette des Textes gerade und nur gegen einen einzigen Sinn eingetauscht werden kann, praktisch garantieren soll. Solange kein Streit über die Bedeutung der Worte besteht, mag diese 22
BAGE 2, 165 ff., 175 Vgl. zur Kritik dieser vom Positivismus vorausgesetzten Sprachtheorie unten im Text Teil C 1 23
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
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fehlende Garantie nicht auffallen. Sobald aber Streit entsteht, wird ihr Fehlen offenkundig. Begriffe in Gesetzen, bei denen dieser Streit besonders offensichtlich ist, erscheinen aus juristischer Sicht als unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln usw. 24 . Ihre Klassifikation setzt als Regel den bestimmten Begriff voraus. Alle Ausnahmen von dieser gesetzepositivistischen Sprachauffassung werden dann mit einer speziellen Bezeichnung versehen. Die Sprache wird eingeteilt und klassifiziert, ausgehend von den Anforderungen der gesetzespositivistischen Rechtsnormtheorie. Dort wo die Sprache diesen Anforderungen offensichtlich nicht genügt, beginnt ein Raum der Unbestimmtheit. Das Bundesarbeitsgericht will nun sagen, daß in diesem Unbestimmtheitsbereich der Richter seine Entscheidung nicht dem Gesetzestext entnehmen kann, indem er, ausgehend vom Wortlaut, den Sinn des Textes erkennt. Trotzdem ist damit aber die vom Richter zu treffende Entscheidung nicht ohne eine objektive Grundlage. Das Gericht sieht darin vielmehr eine „die Verwirklichung der Gerechtigkeit anstrebende Willensentscheidung" 25 . Verwirklichen läßt sich nur, was vorgegeben ist. Insoweit bleibt der Richter also auch in dem Bereich, der über die klassische Wortlautauslegung hinausgeht, an einen um die Gerechtigkeit zentrierten objektiven Code gebunden. Was diese Erweiterung der Grundlage richterlicher Auslegungstätigkeit für den Begriff der richterlichen Gesetzesbindung bedeutet, wird in einer programmatischen Entscheidung des Bundesgerichtshofs deutlich: „Dieser Grundsatz hat nicht nur die Bedeutung einer Bindung des Richters an das Gesetz als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm. Die richtige, d.h. dem Recht gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert" 26 . Auffällig an diesem Text ist zunächst die Häufung gängiger juristischer Metaphern wie Fortbildung, Anwendung usw., sodann aber auch die große Anzahl von scheinbar synonymen Ausdrücken wie Gesetz, Norm, gesetztes Recht, positives Recht, Recht. Wenn man die Logik der verwendeten Metaphern betrachtet, zeigt sich eine Gegenläufigkeit, ein Konflikt, worin sich die Bilder gegenseitig dementieren. Fortbildung ruft den Gegensatz der passiven Abbildung hervor und betont einen aktiven schöpferischen Anteil, der dem handelnden Subjekt im Gegensatz zum verdoppelnden Spiegel zugesprochen werden muß 2 7 . Nach der Fortbildung steht die Anwen24
Vgl. dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 106 ff.; vgl. zur Unbestimmtheit auch Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 44f.; weiterhin auch Christensen, Stichwort Begriff, Begriffsbildung, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Abt. Rechtsphilosophie, 1986 25 BAGE 2, 165 ff., 175 26 BGHZ 3, 308 ff., 315 27 Vgl. zur Abbildungs- bzw. Fortbildungsmetapher in der Erkenntnistheorie: Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie II, 1964, S. 16ff.; ders., Experimentum Mundi, GA 15, 1977, S. 60 ff.
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
dung. Diese betont im Gegensatz zum Erfinden die vorgegebene Technik, das fertige Rezept. Nach der Weiterentwicklung steht die Auslegung, welche abgelöst wird von der Fortbildung und schließlich der Findung. Steht hinter dieser Häufung von Widersprüchen Ratlosigkeit, rhetorische Strategie oder gar die höhere Ordnung einer Dialektik? Aber ein unentschiedenes Sowòhl-als-auch ist noch keine Dialektik. Die Bewegung der Gegensätze müßte schon erklären, wie Bindung und Veränderung sich gegenseitig bedingen 28 . Diese Leistung soll offensichtlich die Substitution erbringen, welche, ausgehend vom Gesetz über die Norm und das Recht, schließlich zur Gerechtigkeit führt. Anfangsglied dieser Verkettung ist das Gesetz, von dem uns gesagt wird, es sei nicht eine nicht mehr fortbildungsfahige Norm, oder, positiv formuliert: das Gesetz sei eine Norm, die fortbildungsfähig ist. Betrachtet man diese erste Substitution des Gesetzes durch die Norm genauer, so wird klar, daß sie viel voraussetzungsvoller ist, als es zunächst den Anschein hat. Das Gesetz, an das die Richter gebunden sind, ist ein vom Gesetzgeber verabschiedeter Normtext 2 9 . Kann man diesen Text mit der Norm gleichsetzen? Wenn man sich eine Entscheidungssammlung etwa des eben zitierten Gerichtshofs ansieht, dann fallt auf, daß den einzelnen Entscheidungen Leitsätze vorangestellt sind. Unter diese Leitsätze, nicht etwa unter den Normtext selbst, wird der zu entscheidende Fall subsumiert 30 . Zwar sind die Leitsätze ihrerseits mit dem Normtext verknüpft, aber nicht im Wege einer Subsumtionslogik, sondern über die Standards einer bestimmten Argumentationskultur. Man müßte also bei realistischer Betrachtung sagen, daß der Normtext mit einer Vielzahl von Rechtsnormen verbunden wird und nicht etwa nur eine „enthält". Das Gericht verstellt sich den Blick auf diese Zusammenhänge aber durch eine Vorentscheidung, die sowohl rechtsnormtheoretischen als auch sprachtheoretischen Charakter hat: Normtext und Norm, Wortlaut und Wortsinn sollen sich danach verhalten wie Zeichen und Bedeutung im geschlossenen System des klassischen Strukturalismus 31 . Unterstellt wird dabei eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung, wonach dem jeweiligen Normtext, bestimmt durch seine Stellung im Rechtssystem, genau eine Bedeutung als Rechtsnorm zukommt. Wie die beiden Seiten einer Münze bilden Normtext und 28
Vgl. zum Begriff der Dialektik: Steinvorth, Eine analytische Interpretation der Marxschen Dialektik, 1977, insbes. S. 6 ff. und öfter 29 Vgl. zur Gesetzgebung als Normtextsetzung: F. Müller,,Richterrecht 4 ,1986, S. 88 ff. sowie unten im Text Teil D 2.2 30 Vgl. zu dieser Rolle der Leitsätze: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 269 31 Vgl. zur Kritik des klassischen Strukturalismus: Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, 1976, S. 422ff.
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
31
Rechtsnorm in diesem Modell eine untrennbare Einheit. Dabei wird nicht nur auf der rechtstheoretischen Ebene die Vielzahl von fallentscheidenden Leitsätzen übersehen, sondern auch auf der sprachtheoretischen Ebene wird nicht beachtet, daß man mit einer Textinterpretation nicht die reine Bedeutung an die Stelle der Zeichen setzt, sondern eine Zeichenkette an die Stelle einer anderen 32 . Aus dieser grundlegenden Vorentscheidung erwachsen dem Gericht die Probleme, welche die weiteren Substitutionen und die Verkettung der widersprüchlichen Metaphern in Gang setzen. Die Richter wollen die Norm aus dem Text entnehmen. Man überfordert aber den Normtext mit der Aufgabe, für jede anstehende Entscheidung unmittelbar subsumtionsfähiger Leitsatz zu sein 33 . Das Gericht muß deswegen in der die Rechtsnorm mit dem Normtext gleichsetzenden Konstruktion eine Hintertür einbauen, um sie so im Ernstfall der Entscheidung verlassen zu können. An dieser Stelle taucht das Stichwort Fortbildung auf. Wenn das Gesetz für die konkrete Entscheidung als subsumtionsfähiger Leitsatz nicht ausreicht, muß es erweitert oder fortgebildet werden. Besteht aber, wenn der Richter das Gesetz erweitert oder fortbildet, nicht die Gefahr der subjektiven Willkür, ist hier nicht eine Methode erforderlich, die die Fortbildung reguliert? Diese Konsequenz entfaltet sich im Folgesatz. Das Gericht fragt hier nach der richtigen Auslegung des positiven Rechts. Vom Ausgangspunkt einer Gleichsetzung von Norm und Text her läßt sich diese Frage beantworten: die richtige Anwendung führt vom Wortlaut des Textes zu seinem Sinn, vom Text zur Norm. Die richtige Anwendung des positiven Rechts ist dann die dem Recht gemäße. Das klingt tautologisch und ist es auch. Denn man gibt vor, nur auszulegen, was vorher im Text schon enthalten war 3 4 . Ist es aber wirklich so einfach, vom Text zur Norm, vom positiven Gesetz zum Recht zu gelangen? Kann man denn darauf vertrauen, daß sich der Wortlaut gegen den einen, den einzigen Sinn eintauschen läßt? Auch das Gericht scheint hier Zweifel zu haben. Denn im nächsten Halbsatz sagt es, daß das Recht, welches eben noch als Maßstab für die richtige Anwendung diente, durch die Auslegung weiterentwickelt und damit verändert werde. Tatsächlich wiederholt ja auch die Auslegung nicht einfach das, was schon im Normtext steht, sondern sie formuliert neue Sätze 35 . Der Sinn des Textes ist eben nichts von der Auslegung Unabhängiges und kann nicht als selbständiger Objektivitätsmaßstab deren Richtigkeit garantieren. Der Begriff des Rechts, welcher in der Argumentation des Gerichts die Entfaltung des Normtextes zur Rechtsnorm als 32 Vgl. zur Kritik an den metaphysischen Implikationen des klassischen Zeichenbegriffs: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., insbes. 53 ff. 33 Vgl. zur Kritik an der Vorstellung, welche die Rechtsnorm als logische Falle ansieht: F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 47 34 Vgl. zur prinzipiellen Formulierung dieses Auslegungsverständnisses: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 298 ff. 35 Vgl. dazu auch Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 6
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
objektiven Sinn markiert, steht damit in der Gefahr, seine Stabilität zu verlieren. Wenn das Recht als objektiver Sinn des Gesetzes im Prozeß der Auslegung weiterentwickelt und verändert wird, dann kann es nicht gleichzeitig als unabhängiger Maßstab die Richtigkeit der Rechtsanwendung überwachen. Die Konstruktion eines das Sprechen des Richters determinierenden Codes geriete damit ins Rutschen. Das Gericht rettet sich vor dieser Gefahr durch eine semantische Verschiebung, worin das Wort Recht in Bezug zur Gerechtigkeit gesetzt wird. Recht ist nicht nur als objektiver Sinn das, was als Rechtsnorm schon im Text steckt, sondern vermittels der Gerechtigkeit kann es auch bei Veränderungen des Normtextes durch den Richter oder Veränderungen des Sinns durch die Auslegung diese argumentative Bewegung in eine vorgegebene Ordnung einfügen. Hinter den vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtexten und ihrer Auslegung taucht damit auf der systematischen Ebene ein zweiter umfassender Rechtscode auf: die Gerechtigkeit. Sie macht es erforderlich, daß der unvollständige Code des Wortlauts verändert wird und stellt zugleich auch sicher, daß diese Weiterentwicklung nicht willkürlich ist, sondern in der Figur des „Findens" einen objektiven Halt gewinnt 36 . Die argumentative Bewegung des Gerichts ist damit an ihrem Ziel angekommen. Das Gesetz als Gegenstand richterlicher Bindung entfaltet sich vom positiven Gesetz über die Auslegung zum Recht als objektiver Sinn und schließlich zur Gerechtigkeit. Was auf der Stufe des Gesetzes, dem Code erster Ordnung, zunächst wie Fortbildung oder Weiterentwicklung aussieht, ist auf der Stufe der Gerechtigkeit, dem Code zweiter Ordnung, das Finden einer vorgegebenen Entscheidung. Die Verkettung widersprüchlicher Metaphern scheint damit doch noch eine sinnvolle Ordnung zu gewinnen. Allerdings hängt diese Ordnung an einem einzigen Faden: dem der Gerechtigkeit. Wenn dieser Faden reißt, bricht der Konflikt gegenläufiger Metaphern offen aus. Doch solange er hält, bildet das zur Gerechtigkeit hin erweiterte Recht eine objektive Grundlage für das Sprechen des Richters. Bezeichnenderweise bleibt dieser letzte Grundbegriff in den gerichtlichen Ausführungen unbestimmt. Die Gerechtigkeit erscheint lediglich als Anforderung („erfordert") und nicht als Inhalt. Trotz dieser Unbestimmtheit soll sie aber die Aufgabe erfüllen, das Sprechen der Juristen umfassend zu verwalten. Die Gesamtkonstruktion gerät dadurch ins Flottieren. Im verschwommenen und nichtssagenden Begriff der Gerechtigkeit verliert die bürokratische Maschine des vorgeordneten richterlichen Sprechens genau im Zentrum ihren Bezugspunkt und die Bestimmtheit einer Strategie. Dieses Vakuum im Zentrum des Rechts löst ungewollt die Beschreibung ein, mit der sich Philipp Heck gegen die 36 Vgl. zur Bedeutung des Objektivitätsanspruchs in der juristischen Argumentation: Gast, Vom juristischen Stil, Betriebsberater 1987, S. 1 ff. Zum idealisierenden Denken in Ordnungen kritisch auch: Gröschner, Die richterliche Rechtsfortbildung: „Kunst" oder „Methode"?, in: JZ 1983, S. 944ff., insbes. 945 und f.
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
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Objektivität des rechtlichen Sinns wendete: Das Gesetz wird damit zum Freiballon, „der aufgelassen jedem Bestimmungswunsch entrückt, dem Winde folgt" 3 7 . Hinter der rhetorischen Fassade einer sinnvollen Ordnung schwankt das Gericht also zwischen den aktiven, das richterliche Handeln betonenden Bildern und den passiven, die Existenz eines universellen Codes voraussetzenden Bildern. In seinem praktischen Ergebnis führt das theoretische Schwanken aber dazu, daß das Gericht den anstehenden Fall selbst entscheidet, wobei nicht nur, was zu erwarten war, der universelle Code keine Rolle spielt, sondern auch die wirklichen verfassungsrechtlichen Bindungen praktischer Rechtsarbeit unter den Tisch fallen. 2.2 Die Substantialisierung der Gesetzessystematik mündet in Dezisionismus
Der Rückzug von der uneinlösbaren Forderung nach Eindeutigkeit des Wortlauts zu einer ungreifbaren Systematik der Gerechtigkeit tritt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch deutlicher hervor. In einer methodischen Leitentscheidung faßt das Gericht sein Verständnis der Rechtsanwendung zusammen: „Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltentrennungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz, jedenfalls der Formulierung nach, dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an,Gesetz und Recht4 gebunden ist (Art. 20 III). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, einen Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entschei37
Vgl. Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, 1914, S. 62, Anm. 87
3 Christensen
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
düngen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den,fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft' " 3 8 . Die Erwägungen des Gerichts beginnen beim Verfassungsrecht und münden in die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft. Welche Argumente verklammern diese beiden Enden des Textes? Im Kontext einer der bekanntesten und fragwürdigsten „richterrechtlichen" Entscheidungen39 will das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenz zur Rechtsfortbildung begründen. Dabei macht es sich im Wege einer Interpretation des Art. 20 I I I die dort getroffene Unterscheidung von Gesetz und Recht in spezifischer Weise zunutze. Recht soll gegenüber dem geschriebenen Gesetz ein Mehr darstellen. Der so gegenüber dem Gesetz erweiterte Begriff des Rechts führt dann zu einer Beschreibung richterlicher Tätigkeit, die zunächst über das Subsumtionsdenken des Positivismus hinauszuführen scheint, aber die richterliche Entscheidung letztlich doch an vorgegebene Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden sieht 40 . Wenn man die Frage beantworten will, ob die vom Gericht angestrebte Überwindung des Positivismus tätsächlich gelingt, muß man die einzelnen Glieder der argumentativen Bewegung nebeneinander betrachten. Ausgangspunkt der Interpretation von Art. 20 I I I GG ist das grammatische Konkretisierungselement. Dabei wendet das Gericht die Unterscheidung von ,Gesetz und Recht' unmittelbar zum Argument, ohne nach dem systematischen Zusammenhang zu fragen 41 . Zu einer Überwindung des Positivismus, wie sie das Gericht hier anstrebt, wäre es gerade nicht erforderlich, neben die Bindung an das Gesetz noch ein zweite Größe als Recht zu stellen. Nötig wäre vielmehr, zu überlegen, ob das positivistische Modell für die Einlösung der richterlichen Gesetzesbindung jemals realistisch war. 38
BVerfGE 34, 269ff., 286ff., 293 Vgl. dazu F.Müller, ,Richterrecht\ 1986, S.69ff., 73ff.; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979, S.43ff.; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 76; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985, S. 76; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1978, S. 100ff., 235ff.; Prümm, Verfassung und Methode, 1976, S. 208; Starck, Staatsbürger und Gericht, 1975, S. 52ff., 54; Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", 1976, S. 108 ff., 121 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 83 ff. 39
40 Vgl. zu dieser Interpretation des gegenüber dem Gesetz überschießenden Sinngehalts: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 353 f.; Art. 20 I I I GG hat dabei für die von Larenz entwickelte Position einen ähnlichen Stellenwert wie etwa § 242 BGB für die Freirechtsschule. 41 Vgl. dazu und zum folgenden F.Müller, , Richterrecht 4, 1986, S. 70 f. sowie die Nachweise im Text in Teil A 2 und E 2
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
35
Warum vermeidet das Urteil diese Frage, indem es sich zur Begründung einer Rechtsfortbildungskompetenz über dogmatische Selbstverständlichkeiten hinwegsetzt? Der Grund liegt auch hier in einer rechtsnormtheoretischen Vorentscheidung. Das Gericht sagt, daß der Richter nicht darauf verwiesen sei, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Das klingt wie eine Zurückweisung des Positivismus. Schon der nächste Satz stellt aber klar, daß es nur um eine Einschränkung geht. Die positivistische Vorstellung setzt nämlich voraus, daß die Rechtsordnung lückenlos ist und das heißt für jeden Fall einen subsumtionsfähigen Obersatz zur Verfügung stellt. Dies ist aber, wie das Verfassungsgericht feststellt, ein Zustand, der praktisch nicht zu erreichen ist. Deswegen kann der Richter nicht ausschließlich darauf verwiesen sein, die gesetzgeberischen Weisungen anzuwenden. Man braucht vielmehr noch eine zweite Rechtsquelle, eben das über das positive Gesetz hinausgehende Recht. Die überschießende Interpretation des Art. 20 I I I ist also bedingt durch die Übernahme der positivistischen Rechtsnormtheorie. Diese zwingt das Gericht zur Suche nach einer „übergesetzlichen" Rechtsquelle. M i t dieser rechtsnormtheoretischen Vorentscheidung übernimmt das Bundesverfassungsgericht aber auch die positivistische Interpretation der Gesetzesbindung als Bindung an eine vorgegebene Größe. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an richterliche Konkretisierung werden damit in spezifischer Weise aufgefaßt 42: Der Richter ist nur dann an das Gesetz gebunden, wenn dieses einen eindeutigen Wortlaut aufweist. Erfüllt das Gesetz die Eindeutigkeitsforderung nicht, dann ist nach der positivistischen Theorie von der im Wortlaut eindeutig vorgegebenen Norm eine Gesetzeslücke anzunehmen, die der Richter durch Heranziehung anderer Maßstäbe schließen muß. Wann ist aber der Wortlaut eines Gesetzes eindeutig? Offensichtlich nur dann, wenn keine Zweifel an seiner Bedeutung bestehen. Die Gesetzesbindung hängt in diesen Fällen davon ab, ob der Richter bereit ist, an der Bedeutung des Wortlauts zu zweifeln. Und da man ja bekanntlich an allem zweifeln kann, entscheidet der Richter de facto selbst, ob er an das Gesetz gebunden ist oder nicht. Die im Text scheinbar so eindeutig vorgegebene Rechtsnorm hängt damit von einer richterlichen Dezision ab, und der Positivismus schlägt an seinem vorgeblich solidesten Punkt des eindeutigen Wortlauts in unkontrollierbare Beliebigkeit um. Indem das Bundesverfassungsgericht also die Gesetzesbindung auf den Grenzfall einer Eindeutigkeit des Normtextes reduziert, löst es die Bindung richterlichen Handelns praktisch auf. Erzwungen wird diese Auflösung durch das Festhalten des Gerichts an der positivistischen Rechtsnormtheorie, welche das Gesetz nur als eindeutigen und somit subsumtionsbereiten Befehl anerkennen will.
42
Vgl. auch Christensen, Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: ARSP 1987, S. 75ff., 87f. 3*
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Verknüpfung von positivistischer Rechtsnormtheorie und Gesetzesbindung führt aber in der Konsequenz auch zu einer weitreichenden Neuinterpretation des Rechtsverweigerungsverbots. Wenn die Gesetzesbindung den Richter lediglich an einen im Text vorgegebenen Befehl bindet, dann ist sie so weit eingeschränkt, daß praktisch jede Entscheidung eines Gerichts außerhalb ihrer Reichweite liegt. Konsequenterweise müßte dann der Richter alle Fälle, für welche der Normtext keine subsumtionsfahige Regel als tragenden Leitsatz der Entscheidung zur Verfügung stellt, abweisen. Damit wäre die Untauglichkeit des ganzen Modells offensichtlich. Deswegen behilft sich das Gericht mit einer Neuinterpretation des Rechtsverweigerungsverbots. Dieses soll den Richter nicht zu einer Entscheidung nach geltendem Recht einschließlich des Prozeßrechts verpflichten, sondern zu einer der Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung 43 . Während die Gesetzesbindung also eingeschränkt wird, wird das Rechtsverweigerungsverbot materiell aufgeladen und damit erweitert. Aus dieser Neuinterpretation von Gesetzesbindung und Rechtsverweigerungsverbot leitet sich dann der Begriff der „Lücke" ab 4 4 . Zwar ist, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedarf, jede Rechtsordnung unvollständig, aber eben auch vollständig insoweit als nur der rechtlich anerkannte gesellschaftliche Regelungsbedarf relevant ist und die Entscheidung immer nur eine Antwort aus dem geltenden Recht enthalten kann. Von einer „Lücke" kann man deswegen nur sprechen, wenn ein Fall entgegen dem Gesetz als regelungsbedürftig angesehen wird. Die Regelungsbedürftigkeit läßt sich dann aber nur begründen aus einem normtranszendenten Maßstab von Gerechtigkeit, der in dieser Weise im Gesetz gerade keinen Ausdruck gefunden hat. Der Begriff der Lücke setzt deswegen einen für den Richter verfügbaren Begriff von Gerechtigkeit als überpositives Prinzip voraus und damit ein Mehr an Recht gegenüber dem positiven Gesetz. Die „Lücke" ist damit für das Bundesverfassungsgericht kein Leerraum, sondern ganz im Gegenteil Quelle für ein Mehr an Recht 45 . Dieser rechtliche Mehrwert wurde zwar dem Gesetz abgepreßt, indem dieses in seiner Konkretisierungsleistung auf den eindeutigen Wortsinn eingeschränkt wurde. Aber nun soll dieses Mehr an Recht als zweiter selbständiger Code hinter dem Normtext das Gesetz sogar korrigieren können. Seine Herkunft muß deswegen selbständig begründet werden. Das Bundesverfassungsgericht verwendet dazu die verfas43 Vgl. kritisch zu dieser Interpretation des Rechtsverweigerungsverbots: F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 121 ; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 98 f., 108 ff.; ebenso Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 200 44 Vgl. zur Kritik am Konzept der Lücke und zum folgenden: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 112, 158, 227. Kritik am Lückenkonzept auch bei Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 246 ff. 45 Vgl. zu dieser „rechtsschöpferischen" Rolle der Lücke auch die Konzeption von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 344ff. mit Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten von Lücken
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sungsmäßige Rechtsordnung als ein Sinnganzes. Aber ist die Verfassung und schon gar die gesamte Rechtsordnung wirklich ein Sinnganzes? Beweist nicht die ständige Notwendigkeit, widersprüchliche Normen im Wege der systematischen Auslegung 46 zu einem Ausgleich zu bringen, in jeder wirklichen Entscheidung das Gegenteil? Und selbst wenn die Rechtsordnung ein Sinnganzes wäre, wie könnte der Richter sie „ans Licht bringen" und daraus sogar Anforderungen ableiten, die das positive Gesetz zu korrigieren vermögen? Nur weil das Gericht diese Fragen nicht stellt, kann es so tun als sei das Ganze der Rechtsordnung für die einzelne richterliche Entscheidung verfügbar. Unfreiwillig geben die gerichtlichen Formulierungen jedoch zu, daß sie mit partikulären Vorstellungen den Platz des Ganzen besetzen wollen 47 . In der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts werden die Schwierigkeiten eines solchen Verfügungsversuchs über das Ganze offensichtlich, wenn es von den Maßstäben der praktischen Vernunft und den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft im Plural spricht. Weder die praktische Vernunft noch die Gerechtigkeitsvorstellungen sind in einer pluralistischen Gesellschaft hinreichend homogen, um zu garantieren, daß sich ihre Bezeichnungen gegen einen einzigen Sinn austauschen lassen. Wenn aber auch diese Größen sich im Sprechen verändern, ihre ruhige Identität gegen eine Vielheit von Bedeutungserklärungen austauschen, dann gleitet das ganze scheinbar feste und geschlossene System in die Schwerelosigkeit und wird zum in sich selbst zirkulierenden Trugbild. Ist Trugbild aber das richtige Wort? Dann müßte das Ganze auf Täuschung oder Irrtum beruhen. Es wäre nur Blendwerk, leicht zu durchschauen. Seine Wirkung in der praktischen Entscheidung ist aber greifbarer. Eher handelt es sich um eine massive Fassade, die sowohl für den Handelnden als auch den Rechtsunterworfenen die eigentlichen Determinanten der Entscheidung verbirgt und sie auf diese Weise den verfassungsrechtlichen Bindungen entzieht. Diese Funktion tritt besonders klar hervor, wenn das Bundesverfassungsgericht die richterliche Tätigkeit beschreibt: Sie besteht aus der Sicht des Gerichts „nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers". Damit ist als ein Bereich richterlicher Tätigkeit derjenige bezeichnet, worin der Richter dem Gesetz unterworfen ist. Dieser Bereich deckt aber nicht das Ganze richterlichen Handelns ab. Es tritt vielmehr ein zweiter Bereich hinzu, den das Gericht zunächst als „ A k t des bewertenden Erkennens" beschreibt. Das Beiwort „bewertend" scheint hier ein aktives Verhalten des Richters ins Spiel zu bringen. Verstärkt wird dieses Moment noch durch den nächsten Halbsatz, der „willenhafte Elemente" in der richterlichen Tätigkeit ausmacht. Trotzdem besteht kein Anlaß, vor der Heftigkeit dieses richterlichen Ausbruchs in willenhafte Tätigkeit zu erschrecken. Denn das aktive Moment wird sofort 46
Vgl. dazu F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 190 f. Vgl. zu den strukturellen Problemen einer solchen Vorstellung der Verfügung über das Ganze noch weiter unten im Text Teil C 3.2.1 47
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
wieder beruhigt in der Geborgenheit eines vorgegebenen Inhalts, den es lediglich „ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren gilt". Die richterliche Tätigkeit gliedert sich demnach in den Bereich des Gesetzes und den der Gerechtigkeit. Beide sind determiniert durch einen Code, und das willenhafte Element reduziert sich darauf, die objektiv schon feststehende, aber noch verborgene Entscheidung ans Licht zu bringen. Die richterliche Tätigkeit wird damit eingebunden in die beschützende Werkstatt des Rechts. Hier ist es dem Richter erlaubt, was immer die Parteien auch einwenden mögen, den objektiv vorgegebenen Entscheidungen beizupflichten. Dies ist eine außergewöhnliche Sicherheit in einer Welt, die sich ständig verändert, worin jeder ohne objektiven Halt der Angst vor seinen eigenen Wünschen überlassen ist. Für diese Sicherheit ist die Gerechtigkeit unverzichtbar. Sie läßt sich zwar nicht näher bestimmen, aber schützt doch vor zersetzenden Argumenten, welche die Richtigkeit der einen vorgegebenen Entscheidung in Zweifel ziehen könnten. Das positivistische Modell der Gesetzesbindung als Bindung an die in der sprachlichen Bedeutung vorgegebene Rechtsnorm ist auch unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung entwickelten Erweiterungen und Modifikationen nicht einlösbar. Das von den Gerichten unter Ausweitung der „objektiven Grundlage" richterlicher Rechtsfindung entwickelte Auslegungsmodell behauptet gleichzeitig ein Zuviel und ein Zuwenig an Bindungen praktischer Rechtsarbeit. Zuviel, weil der Normtext mit der Aufgabe, als Norm zu fungieren, und d. h. unmittelbar tragender Leitsatz einer konkreten Entscheidung zu sein, einfach überfordert ist: Der tragende Leitsatz einer Entscheidung liegt nicht einfach im Normtext, sondern er muß vom Richter erst erarbeitet werden 48 . Die Rechtsprechung erreicht mit der Ausdehnung des vom Auslegungsmodell vorausgesetzten Code-Gedankens nur eine scheinbare Bindung und verfehlt die wirklichen, verfassungsrechtlichen Anforderungen an praktische Rechtsarbeit. Das gesetzespositivistische Modell richterlicher Auslegungstätigkeit ist damit nicht zugunsten einer realistischen Auffassung überwunden, sondern nur gegen die Möglichkeit kritischer Einwände abgeschirmt. 2.3 Erst eine Rechtserzeugungsreflexion kann das tatsächliche Funktionieren von grammatischem und systematischem Konkretisierungselement erfassen
In den programmatischen Aussagen und programmkonformen Entscheidungen der Gerichte werden sowohl das grammatische als auch das systematische Konkretisierungselement einer spezifischen Substantialisierung unterworfen. Der Wortlaut soll über seinen eindeutigen Sinn den normativen Gehalt des Gesetzes fixieren. Wann dieser Sinn aber als eindeutig gilt, entscheidet der Richter. Die Systematik des Gesetzes soll als umfassende Ordnung der 48 Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 270. Dort auch zum Begriff des juristischen Handelns S. 247
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
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Gerechtigkeit ebenfalls das Sprechen des Richters an eine vorgegebene normative Substanz binden. Den Inhalt dieser Gerechtigkeit bestimmt aber ebenfalls der Richter. Die erklärtermaßen auf Festigkeit und Kontrolle bedachte Theorie der Rechtsanwendung schlägt damit jeweils an ihrem scheinbar objektiven Fundament in ihr Gegenteil subjektiver Willkür um. Das tatsächliche Funktionieren von grammatischem und systematischem Konkretisierungselement läßt sich in dem kategorialen Rahmen einer Rechtsanwendungslehre nicht erfassen. Dazu bedarf es vielmehr einer Reflexion auf den Prozeß richterlicher Rechtserzeugung, welche den Auslegungselementen erst ihren Platz zuweist. Dieser Perspektivenwechsel wirft auf das Problem der Eindeutigkeit des Wortlauts ein neues Licht. Zunächst kann festgestellt werden, daß die Eindeutigkeit nicht Voraussetzung, sondern höchstens Ergebnis ist. Es gibt keinen Weg der Erkenntnis, welcher den Juristen von der bloßen Zeichenkette des Wortlauts zur reinen, einzigen und sicheren Bedeutung des Normtextes als Rechtsnorm führen könnte. Zwischen Zeichenkette und Bedeutung liegt vielmehr eine komplexe und umfangreiche juristische Argumentation, ein Semantisierungsvorgang, der sich nicht in schlichte Erkenntnis eines fraglos Vorgegebenen auflösen läßt. Dieser Zusammenhang tritt dort besonders deutlich zutage, wo die sogenannte Eindeutigkeit des Wortlauts als Grenze juristischer Auslegung funktionieren soll. Wenn man die Ergebnisse der grammatischen Auslegung in der Praxis der Gerichte daraufhin befragt, ob sie im Wortlaut des Gesetzes eine objektiv vorgegebene Sprachgrenze sichtbar machen können, wird offensichtlich, daß das juristische Tun sehr viel komplexer ist, als es die Rechtsanwendungslehre zulassen will. Während nach der positivistischen Rechtsnormtheorie Wortlaut und Bedeutung wie die zwei Seiten einer Münze notwendig miteinander verknüpft sein sollen und damit die einzige Funktion der grammatischen Auslegung darin besteht, vom Zeichen zum Sinn zu führen, fallt an der praktischen Verwendung dieses Arguments in der Rechtsprechung auf, daß das grammatische Konkretisierungselement zusammen mit anderen Konkretisierungselementen auftritt und erst dadurch eine gewisse Trennschärfe für Bedeutungs- oder Verständnishypothesen entfaltet. In einer Entscheidung im 71. Band hatte das Bundesverfassungsgericht über die Wortlautgrenze im Kontext des verfassungsrechtlichen Analogieverbots zu entscheiden. Hier kommt die nicht isolierbare Rolle des grammatischen Konkretisierungselements besonders klar zum Ausdruck. Die zu entscheidende Frage betraf die Verhängung einer Geldbuße gegen den Beisitzer eines Wahlvorstands, der während der Ausübung seiner Tätigkeit eine Plakette mit der Aufschrift „Atomkraft?—Nein danke" nicht ablegen wollte. Die Instanzengerichte hatten aufgrund einer Vorschrift, welche Geldbuße für den Fall einer Ablehnung des Wahlehrenamts ohne gesetzlichen Grund vorsieht, den Beschwerdeführer zu einem Bußgeld verurteilt, weil er die Entbindung von seinem
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Amt schuldhaft herbeigeführt habe. Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber festgestellt, daß das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nicht durch Richterrecht beschränkt werden könnte, das gegen das Analogieverbot des Art. 103 I I GG verstößt. Zur Begründung führt es aus: „Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Wenn, wie gezeigt, Art. 103 I I GG erkennbar keine Vorhersehbarkeit der Strafoder Bußgeldandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, daß dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen ist" 4 9 . Setzt das Gericht hier eine sprachliche Grenze als Schranke der staatlichen Strafgewalt ein? Eine genauere Betrachtung führt entgegen den in der juristischen Methodendiskussion beliebten Verdinglichungen der Umgangssprache zu einer Verneinung dieser Frage. Denn das Gericht sagt weiter: „Daß (...) ein ehrenamtlicher Beisitzer sich den Pflichten seines Amtes ohne gesetzlichen Grund entzieht, wenn er den Wahlvorsteher durch ein bestimmtes Verhalten ,zwingt4, ihn von der Ausübung seines Amtes zu entbinden, und daß dies mit einem Bußgeld sanktioniert werden kann, ist eine Vorstellung, die sich jedenfalls aus der — maßgeblichen — Sicht des Bürgers nicht mehr als möglicher Wortsinn der Gesetzesvorschrift verstehen läßt44 5 0 . Daraus ergibt sich zunächst einmal, daß ein abweichender, die Entscheidung der Instanzengerichte deckender Sprachgebrauch rein sprachlich als möglich angesehen wird. Erst die für das Gericht maßgebliche Sicht des Bürgers führt zu einem anderen Ergebnis. Tatsächlich verletzen die Instanzengerichte mit ihren Entscheidungen auch keine durch die Sprache vorgegebene Grenze. Denn nur wenn niemand sie verstehen könnte, wäre daraus abzuleiten, daß ihre Verwendungsweise als sprachwidrig 4 anzusehen ist. Hier bewegen sich die Instanzengerichte aber durchaus im Bereich des Verständlichen, und aus dem bloßen Umstand, daß ihre Verwendungsweise eventuell neu ist oder in Teilen der Sprachgemeinschaft auf Widerspuch stößt, kann das Urteil einer Sprachwidrigkeit nicht abgeleitet werden. Der von ihnen vorgeschlagene Wortsinn gilt vielmehr deswegen als nicht möglich, weil verfassungsrechtliche Gesichtspunkte gegen ihn sprechen. Das Gericht führt dazu aus: „Jedenfalls im Regelfall muß der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist. In Grenzfällen ist auf diese Weise für ihn wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar. Unter diesem Aspekt ist für eine Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestands maßgebend" 51 . Erst diese verfassungsrechtlichen Erwägungen schränken die Möglichkeit, über Gebrauchsbeispiele die Bedeutung des Normtextes zu konstituieren, in entscheidendem Maße ein. 49 50 51
BVerfGE 71, 108 ff., 115 Ebd., S. 121 Ebd., S. 115
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
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Die Gebrauchsbeispiele werden an den Plausibilitätshorizont des Gesetzesunterworfenen rückgebunden. Die Frage wird damit nicht aus einer vorgegebenen Bedeutungssubstanz des Normtextes heraus entschieden, sondern aus rechtsinhaltlichen Erwägungen des Verfassungsrechts, welche erst die a priori nicht begrenzte Möglichkeit der Findung von Gebrauchsbeispielen reduzieren. Die Feststellung der Verletzung des Analogieverbots wird nicht durch Standards begründet, die von der Sprache „selbst" vorgegeben sind, sondern durch Standards einer Interpretationskultur, welche von rechtsstaatlichen Erwägungen beeinflußt ist 5 2 . Auch in vielen anderen Entscheidungen wird deutlich, daß der Wortlaut eine Schranke für die richterliche Bedeutungskonstitution nur dann bilden kann, wenn die Findung von Gebrauchsbeispielen entweder durch rechtsinhaltliche Erwägungen auf einen gewissen Plausibilitätshorizont eingeschränkt wird oder von spezifischen Standards einer rechtsstaatlich rückgebundenen Argumentationskultur her überprüft wird. Dies ist der Grund dafür, daß der Wortlaut, insbesondere wenn seine Grenzfunktion in Frage steht, mit anderen Konkretisierungselementen verbunden wird und erst dadurch seine Trennschärfe gewinnt. So heißt es im Minderheitsvotum zur Ersatzdienst-Entscheidung: „Die Entwicklung des Wehrrechts seit der Einfügung des jetzigen Art. 12a Abs. 2 S. 2 GG im Jahre 1956 stimmt mit dem Ergebnis der Analyse von Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck überein" 53 . Erst das Zusammenspiel aller Kanones begründet hier eine Grenze der juristischen Auslegung. Eine im Zusammenhang der Grenzfunktion immer wieder auftauchende Verknüpfung ist auch die von Wortlaut mit Sinn und Zweck einer bestimmten Vorschrift 54 . Oder es wird noch allgemeiner von der Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung gesprochen, wobei anknüpfend an eine „lapidare Sprachgestalt" der fraglichen Bestimmung ausgeführt wird: „(...) vielmehr ergibt sich der Sinngehalt vielfach erst aus einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung insbesondere der Regelungstradition und der Entstehungsgeschichte"55. Gerade auch die von der gerichtlichen Programmatik auf eine bloße Bestätigung des objektiven Textsinns herabgestufte Entstehungsgeschichte wird dabei immer wieder als Instrument zur Profilierung der Textbedeutung anhand von Kontexten herangezogen. Obwohl dem grammatischen Konkretisierungselement im Rahmen der objektiven Lehre eine besondere Bedeutung als Anknüpfungspunkt für das Vertrauen der Bürger zukommt 5 6 , hat das Bundesverfassungsge52
Zu ähnlichen Ergebnissen bei der Analyse verschiedener Judikate unter dem Gesichtspunkt der Wortlautgrenze gelangt auch Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 55 und öfter. 53 BVerfGE 69, 1 ff., 73 54 Vgl. dazu etwa BVerfGE 72, 330ff., 397 55 BVerfGE 74, 51 ff., 57 56 Vgl. zu diesem an den Wortlaut anknüpfenden Vertrauensargument im Rahmen der objektiven Lehre die Darstellung bei A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
rieht in einzelnen Entscheidungen auch hier einen mitbestimmenden 57 oder sogar ausschlaggebenden Stellenwert des genetischen Konkretisierungselements anerkannt. Dabei funktioniert die entstehungsgeschichtliche Auslegung als zusätzliches Selektionskriterium gegenüber einer Mehrzahl von aus der Sicht des Gerichts möglichen Wortauslegungen 58. Einer vom Wortlaut der Norm gedeckten Auslegung steht dann „entscheidend die Entstehungsgeschichte der Vorschrift entgegen" 59 . Oder es ergibt sich, daß eine bestimmte Auslegung „schon mit Rücksicht auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nicht die allein mögliche" 60 ist. Aber noch über diese ergänzende Rolle hinaus soll die Wortauslegung sogar hinter die Entstehungsgeschichte zurücktreten 61 . Eine Betrachtung der grammatischen Auslegung in der Rechtsprechungspraxis führt damit zu dem Ergebnis, daß der Wortlaut nicht einfach „Behälter" normativer Substanz ist, sondern mit seiner „Indizwirkung" 6 2 zu gewissen Gebrauchsbeispielen hinführt. Seine Grenzwirkung 63 ist demgegenüber eine komplexe Größe, welche rechtsinhaltliche Erwägungen aus dem Verfassungsrecht und der juristischen Argumentationskultur ins Spiel bringt. Erst diese reduzieren die dem Wortlaut als Zeichenkette zurechenbare Bedeutungskonstitutionen bzw. Gebrauchsbeispielerzählungen. Die grammatische Auslegung ist damit gerade nicht Element einer auf die vorgegebene normative Substanz kontemplativ bezogenen Rechtserkenntnis, sondern sie ist Instrument zur Heuristik und zur Kontrolle im aktiven Prozeß der Rechtserzeugung. In diesem Kontext der Rechtserzeugung muß auch die von der Programmatik der Gerichte zum umfassenden System der Gerechtigkeit verdinglichte Systematik des Gesetzes verstanden werden. Das „Sinnganze" der Rechtsordnung oder eines Gesetzes gibt, abgesehen von seiner Rolle als rhetorische Fassade des Dezisionismus, keine Gründe ab, welche die Richtung einer konkreten Entscheidung beeinflussen könnten. Denn: „Das Ganze ist als solches nicht gegeben, es ist nicht technisch handhabbar 64 . Gründe für die Richtung einer Entscheidung vermag dagegen der vom systematischen Konkretisierungselement aus erfragte Kontext des fraglichen Normtextes zu liefern. Diese Gründe können die Profilierung der Bedeutung eines Normtextes unterstützen bzw. , negativ des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 272 ff.; Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung?, in: ZZP (94) 1981, S. 192ff., insbes. 205f., 209 57 Vgl. zu einer Verknüpfung von grammatischem und genetischem Konkretisierungselement etwa BVerfGE 4, 299ff., 304f.; 26, 338 ff., 396 58 Vgl. zu dieser Theorie des möglichen Wortsinns: Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 37ff., 86ff., 97ff., 137ff. m.w.N. 59 BVerfGE 58, 45ff., 57. Vgl. auch BVerfGE 12, 45ff., 48 60 BVerfGE 25, 371 ff., 389 61 BVerfGE 20, 26ff., 29f. 62 Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 80ff. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 45
2. Grammatisches und systematisches Konkretisierungselement
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formuliert, eine bestimmte Bedeutungshypothese zu Fall bringen. Bei der Frage etwa, ob eine Sitzdemonstration dem strafbaren Gewaltbegriff unterfallt, liefert die Systematik klare Aussagen: Danach wird „(...) durch die,Vergeistigung' des Gewaltbegriffs dessen Abgrenzung zur ,Drohung mit einem empfindlichen Übel 4 verwischt, so daß die Drohungsalternative im wesentlichen in der Gewaltalternative aufgeht und beide entgegen der klaren gesetzlichen Regelung ihre eigenständige Bedeutung verlieren" 65 . Die das Minderheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts tragenden vier Richter machen sich hier in Übereinstimmung mit dem Reichsgericht den Gedanken zunutze, daß die Bedeutung eines Wortes ermittelt wird durch Profilierung gegenüber den Worten, die das zu bestimmende Wort umgeben 66 . Zwar kann der Prozeß dieser Profilierung niemals zu einem abgeschlossenen System gerundet werden. Aber trotzdem bieten seine Ergebnisse eine Grundlage, um konkurrierende Interpretationen miteinander zu vergleichen. Eine Interpretation etwa, die den Gewaltbegriff so weit ausdehnt, daß für die Drohung kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr bleibt 6 7 , erscheint weniger gut begründet als eine Interpretation, welche die Differenzierungen der Zeichenkette auch in ihrer Bedeutungshypothese darstellen kann. Das Zusammenspiel von Systematik und Wortlaut des Gesetzes macht auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Parteiengesetz deutlich 6 8 . Zu beurteilen war die Frage, ob ein unabhängiger Wahlbewerber einen Anspruch auf Erstattung der Wahlkampfkosten nach § 18 PartG geltend machen kann. Weil nach § 18 PartG nur Parteien diese Möglichkeit haben sollten, mußte das Bundesverfassungsgericht durch Hinweis auf den dem Begriff der Einzelperson entgegengesetzten Begriff der Partei abschlägig bescheiden. In seiner sprachlichen Analyse dieses Urteils unter dem Gesichtspunkt der Wortlautgrenze kommt Peter Schiffauer zu folgendem Ergebnis: „Daß die eine Verwendungsweise (als Einzelperson wie etwa bei § 51 ZPO, R.C.) bei § 18 PartG nicht in den Blick kommt, liegt nicht daran, daß sie vom Wortsinn her ferner liegt (...), sondern daran, daß in § 2 PartG eine bestimmte Verwendungsweise des Wortes ,Partei' im Regelungszusammenhang des Parteiengesetzes vorgeschrieben ist. Erst durch diese Anordnung wird der Text für die Entscheidung der oben erörterten Rechtsfrage eindeutig" 69 . Ein ähnliches Zusammenspiel von Wortlaut und Systematik ergibt sich im Minderheitsvotum zur Ersatzdienst-Entscheidung bei der Klärung des Begriffs der „Dauer des Dienstes": „Dem Wortlaut des Art. 12 a Abs. 2 Satz 2 GG nach 65 66
BVerfGE 73, 206ff., 246. Vgl. auch 245 Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983,
S. 36 67 Daß eine solche Regel unterstellt werden kann, zeigt sich auch daran, daß das „Mehrheitsvotum" der vier anderen Richter sich mit dieser Frage auseinandersetzen muß. Vgl. BVerfGE 73,206ff., 243. Vgl. zu der hier unterstellten Regel auch Schroth, ebd., S. 33 68 Vgl. BVerfG NJW 1976, S. 1193 ff. sowie BVerwGE 44, 187ff. 69 Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 60
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
geht es um den Vergleich der Dauer zweier Dienste.,Dauer 4 ist ein quantitativer Begriff, der sich auf Zeiträume bezieht. In diesem Sinn wird er im Wehrrecht verwendet (es folgen Nachweise). Das schließt es aus, Art. 12 a Abs. 2 Satz 2 GG dahin auszulegen, es werde ein ,Gleichgewicht der Belastung von Wehr- und Ersatzdienstleistenden' sichergestellt" 70. Auch hier wird die Gesetzessystematik als Umfeld des fraglichen Wortes ,Dauer 4 dazu verwendet, die Möglichkeiten zur Bedeutungskonstitution einzuschränken. Diese methodisch überprüfbare Handhabung des systematischen Konkretisierungselementes grenzt sich auch klar ab 7 1 von der durch die gerichtliche Programmatik nahegelegten Substantialisierung der Systematik zu einem der Auslegungstätigkeit vorausliegenden Sinnganzen. Insgesamt ergibt sich damit, daß weder grammatisches noch systematisches Konkretisierungselement zu einer vorgegebenen normativen Substanz führen, sondern im aktiven Prozeß der Bedeutungskonstitution des Normtextes eine vom Verfassungsrecht her näher bestimmte Rolle spielen. Der Prozeß der Bedeutungskonstitution und der Erschließung bzw. Verwertung von Kontexten soll nun noch anhand von genetischer und historischer Auslegung untersucht werden. 3. Praxis II: Welche Bedeutung haben historisches und genetisches Konkretisierungselement für die Bestimmung der Reichweite der Gesetzesbindung? In seiner Entscheidung zur Ersatzschulförderung hat das Bundesverfassungsgericht genetisches und historisches Konkretisierungselement klar voneinander unterschieden. Der Abschnitt zur historischen Auslegung wird mit dem Satz eingeleitet: „Umfang und Bedeutung dieses Grundrechts lassen sich zutreffend nur beurteilen, wenn auch sein geschichtlicher Hintergrund beleuchtet wird 4 4 1 . Der Abschnitt zur genetischen Auslegung wird dagegen mit dem Stichwort „Entstehungsgeschichte" eingeleitet und analysiert dann im folgenden die Auseinandersetzung in den entsprechenden Gremien 2 . Damit tritt sowohl der Unterschied als auch die Verknüpfung beider Konkretisierungselemente klar hervor: Der Unterschied liegt zunächst darin, daß sich die historische Auslegung auf andere Normtexte eines älteren Zeitabschnitts und deren Umfeld bezieht, während sich die genetische Auslegung auf die Texte von Nicht-Normen aus der Entstehungsgeschichte des fraglichen und zu konkretisierenden Normtextes bezieht3. Trotzdem besteht in der Praxis aber auch ein enger Zusammenhang 70 71 1 2 3
BVerfGE 69, 1 ff., 67 Vgl. ebd., S. 60ff. BVerfG zitiert nach EuGRZ 1987, S. 242 ff., 246 Ebd., S. 247ff. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 268 f.
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dieser Konkretisierungselemente 4, weil gerade in der Entstehungsgeschichte Profilierungsargumente an Normvorläufer oder frühere Rechtszustände anknüpfen 5 . 3.1 Die Rechtsanwendungstheorie der Gerichte verkürzt die Rolle des genetischen Elements auf eine Bestätigung des objektiven Sinns
In seinem programmatischen Bekenntnis zur objektiven Variante der klassischen Auslegungslehre hat das Bundesverfassungsgericht die Rolle des genetischen Konkretisierungselements als nicht entscheidend für die Ermittlung des objektivierten Willens des Gesetzgebers bezeichnet6. Trotzdem hat es aber auch auf der programmatischen Ebene die Gesetzesmaterialien nicht vollständig ausklammern wollen. Materialien lösen dann zwar nicht mehr das Problem, was das Recht (substantiell) ist 7 , aber sie können immerhin noch Informationen für die anstehende Rechtsentscheidung liefern. Das verfassungsgerichtliche Votum für den objektiven Sinn als Auslegungsziel schließt damit zwar nicht aus, die Materialien im Rahmen einer Rechtsentscheidung überhaupt heranzuziehen 8. Aber es schränkt doch die Rolle der entstehungsgeschichtlichen Auslegung in spezifischer Weise ein. Die Materialien dienen ausschließlich der Bestätigung eines anderweitig festgestellten objektiven Gesetzessinns9 und können diesen von ihnen völlig unabhängig gedachten Sinn höchstens in präzisierender Weise entfalten. Das Bundesverfassungsgericht findet dafür folgende Formel: „Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können" 1 0 . Soweit mit dieser Formulierung dem genetischen Konkretisierungselement nur eine bestätigende Rolle zugewiesen wird, ist diese Äußerung eine konsequente Anwendung der objektiven Auslegungslehre. Soweit aber mit dem letzten Halbsatz diese Rolle dahingehend bestimmt wird, daß die Betrachtung der Entstehungsgeschichte 4
Vgl. ebd., S. 162 Vgl. dazu Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 102. Vgl. zur praktischen Verknüpfung beider Konkretisierungselemente auch BVerfGE 72, 330 ff., 401 f., 428 ff. 6 BVerfGE 1, 299ff., 312 7 Die Begründung hierfür ergibt sich aus der objektiven Auslegungslehre, denn danach ist die Substanz des Gesetzes ja mit dem objektivierten Willen identifiziert. 5
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Vgl. zu der in der Praxis sehr häufigen Anwendung auch Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 110ff. 9 Vgl. zu dieser bestätigenden Rolle der Materialien im Rahmen der objektiven Lehre: Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, in: Festschrift für Germann, 1969, S. 257 ff., der von einem relativen Recht der subjektiven Auslegung spricht, soweit sie den objektiven Sinn erhellt (insbes. S. 263 ff.); vgl. zu einer ähnlichen Einordnung auch Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 1965, S. 66 10 BVerfGE 1, 299ff., 312
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
Zweifel beheben kann, ist die Position des Bundesverfassungsgerichts weniger klar. Kann die genetische Auslegung Zweifel nur verstärken oder auch selbständig begründen? Im theoretischen Bezugsrahmen der objektiven Lehre könnte die genetische Auslegung Zweifel an einem Entscheidungsvorschlag nicht begründen, sondern höchstens unterstützen. Andererseits lassen sich mit der Betrachtung der Entstehungsgeschichte Zweifel nur dann beheben, wenn sie als eigenständige Direktive für den Prozeß der Entscheidungsfindung angesehen wird. Damit wäre aber der theoretische Rahmen der objektiven Lehre gerade überschritten. Die programmatische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts birgt also eine innere Spannung, welche es ermöglicht, daß diese die Auslegung fixierende Aussage ihrerseits in divergierender Weise ausgelegt werden kann.Das zeigt schon eine Betrachtung anderer expliziter Reflexionen des Bundesverfassungsgerichts zum genetischen Konkretisierungselement. Eindeutig im Rahmen der objektiven Lehre hält sich das Gericht, wenn es formuliert, die Gesetzesmaterialien könnten „für die Auslegung ohnehin nur unterstützend verwertet werden" 11 . Die Entstehungsgeschichte kann danach „nur zur Bestätigung eines anderweit gefundenen Auslegungsergebnisses bedeutsam werden" 12 . Und als obiter dictum wird behauptet, „daß der Entstehungsgeschichte für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung nicht zukommen kann" 1 3 . Diese Einschränkung der Rolle des genetischen Konkretisierungselements auf eine passive Bestätigung ohne eigenständige Bedeutung wird aber von anderen Formulierungen des Gerichts wieder durchbrochen: „Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen. Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung in solcher Lage nicht hinweggehen" 14 . Jedoch nicht nur für neue Gesetze, sondern auch generell für Kompetenzvorschriften gilt: „Entstehungsgeschichte und Staatspraxis gewinnen (...) für die Auslegung besonderes Gewicht" 1 5 . Die Unverträglichkeit dieser methodischen Positionen wird allerdings immer wieder hinter Formulierungen wie der folgenden versteckt: „Der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und Motivationen des Verfassungsgebers kommt für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht unbedingt eine ausschlaggebende Bedeutung z u " 1 6 . Oder es wird gesagt, den Materialien könne eine „ausschlaggebende Bedeutung in der Regel
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BVerfGE 48, 246ff., 260 BVerfGE 36, 342ff., 367 BVerfG 51, 97ff., 110; 59, 128 ff., 153 BVerfGE 54, 227 ff., 297 f. BVerfGE 33, 125 ff., 152 BVerfGE 45, 187 ff., 227
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nicht zukommen" 17 . Die hier behauptete Regel läßt nicht nur unspezifizierte Ausnahmen zu, sondern bleibt auch selbst unbestimmt. Das Gericht changiert zwischen miteinander unverträglichen Positionen 18 . Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht entdecken auch die anderen Obersten Bundesgerichte in der Formel vom objektivierten Willen des Gesetzgebers Spielraum für gegensätzliche Akzentuierungen. So identifiziert etwa der Bundesgerichtshof im sog. Schallplatten-Urteil den Zweck des Gesetzes mit dessen Entstehungsgeschichte: „Die Tragweite aller dieser einzelnen wirtschaftspolitischen Entscheidungen (...) läßt sich (...) nur aus der Entstehungsgeschichte erschließen, wenn diese zuverlässig erkennen läßt, was für einen konkreten Tatbestand der Gesetzgeber bei der von ihm getroffenen Regelung im Auge gehabt hat" 1 9 . Eine ähnliche Formulierung findet sich auch beim Bundessozialgericht: Da „nach der Wortfassung der Vorschrift hinsichtlich des objektivierten Willens des Gesetzgebers begründete Zweifel offengeblieben sind (...), ist es für die Auslegung des § 571 Abs. 1 S. 2 RVO erforderlich, unter Beachtung der in Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Auslegungsgesichtspunkte den Sinngehalt des § 571 Abs. 1 S. 2 RVO zu ermitteln (...). Hierbei ist in erster Linie nach dem Zweck der Vorschrift zu fragen. Soweit hierüber die amtliche Begründung zu § 571 Abs. 1 RVO Aufschluß gibt (...)" 2 0 . Für beide Äußerungen ist kennzeichnend, daß sie unter Abweichung von den grundlegenden und oft wiederholten programmatischen Bekenntnissen in der Formulierung der subjektiven Lehre sehr stark entgegenzukommen scheinen. Aus diesen Abweichungen hat in der Literatur Köbl sehr weitgehende Folgerungen gezogen21. Danach soll die Redeweise vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers" gerade nicht als Anzeichen für die Übernahme der objektiven Lehre genommen werden. Der „Wille des Gesetzgebers" sei vielmehr im Sinne der subjektiven Theorie zu lesen als bewußter Gegensatz zum sog. objektiven Willen des Gesetzes22. Das den Stellenwert des konkreten gesetzgeberischen Willens einschränkende Erfordernis der Objektivierung dient dann nur dazu, im Sinne der „Andeutungstheorie" 23 einen im Text nachweisbaren Anknüpfungspunkt zu
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BVerfGE 6, 389ff., 431 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 30 und öfter 19 BGHZ 46, 74ff., 81; vgl. zur Analyse dieser Entscheidung Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973, S. 28 ff. 20 BSG 28, 274ff., 275 f. 21 Vgl. Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005ff., 1014ff., 1052ff. 22 Ebd., S. 1018. Vgl. zur Hervorhebung dieser Formulierung auch Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 85 18
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Vgl. dazu Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung?, in: ZZP (94), 1981, S. 192ff., 208. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Andeutungstheorie aufgenommen, wenn es formuliert: „Der Wille des Gesetzgebers" könne „nur insoweit berücksichtigt werden,
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
verlangen. Diese Folgerung Köbls mag im Sozialrecht durch die schiere Häufigkeit und Intensität, mit der die Gerichte hier die Materialien bemühen, eine gewisse Plausibilität gewinnen 24 . Aber dem methodischen Selbstverständnis der Gerichte entspricht diese Position nicht. Auch das Bundessozialgericht hebt auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers ab, um diese Größe von konkreten Subjekten und dem Erfordernis psychologischer Ermittlung unabhängig zu machen 25 . Vor allem aber spricht gegen die von der subjektiven Lehre ausgehende Verständnisweise Köbls die in der Formel festgeschriebene Nachrangigkeit des genetischen Konkretisierungselements. Diese geht über die „Andeutungstheorie" weit hinaus und entspricht sowohl funktional als auch dem Selbstverständnis der Gerichte nach einem Bekenntnis zur objektiven Lehre 26 . Auch die ausdrücklich-methodischen Äußerungen der Obersten Bundesgerichte bestimmen als Ziel der genetischen Auslegung nicht die Ermittlung eines den Normtext tragenden gesetzgeberischen Willens. Die Rolle des genetischen Konkretisierungselements wird vielmehr darauf beschränkt, einen anderweitig ermittelten objektiven Sinn des Gesetzes zu bestätigen oder höchstens zu präzisieren. Auch die Obersten Bundesgerichte gelangen damit in der Frage nach der Relevanz des genetischen Konkretisierungselements nicht über die Ambivalenzen hinaus, welche schon in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgestellt wurden. Immer wieder weisen sie auf die bestätigende Rolle der Entstehungsgeschichte hin, und zwar auch in Fällen, wo den Materialien tatsächlich eine für die Entscheidung ausschlaggebende Bedeutung zukommt 2 7 . Zum Teil wird aber auch eine ausschlaggebende, ja sogar führende Rolle des genetischen Elements ohne weitere Auseinandersetzung mit der eigenen Grundposition einfach behauptet 28 . als er in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat" (BVerfGE 11, 126ff., 130). Kritisch zur „Andeutungstheorie": Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 167f., weil er vom Standpunkt der subjektiven Lehre her eine Verfälschung des vom Gesetzgeber Gewollten befürchtet. 24 Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1004 ff., 1021 f., weist selbst auf diese besonderen Bedingungen hin, welche die drei Gewalten hier zu einem viel engeren Kommunikationsprozeß verknüpfen würden. 25 Dies arbeitet Köbl, ebd., S. 1020f., 1053 selbst heraus. 26 Selbst Hattenhauer, der ebenfalls die Anknüpfung an den „Willen des Gesetzgebers" besonders hervorhebt, spricht deswegen nur von einer modifizierten objektiven Lehre der Gerichte. Vgl. Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 85 27 Vgl. hier als besonders auffälliges Beispiel BSG 27,269 ff., 270. Hier werden zunächst die programmatischen Formeln des Bundesverfassungsgerichts, Bundesgerichtshofs und Bundessozialgerichts selbst angeführt, welche der Entstehungsgeschichte eine nebensächliche, nur bestätigende Rolle zuweisen. Dann wird aber die Entstehungsgeschichte mit der Formulierung „Der Rechtsentwicklung und der Entstehungsgeschichte der Norm ist hierbei nicht von vornherein eine so untergeordnete Funktion beizumessen, wie das LSG angenommen hat" eine entscheidungstragende Bedeutung zugewiesen. 28 So gibt es in der Rechtsprechung zahlreiche Beispiele, wo der Wortlaut zugunsten des vom Gesetzgeber erkennbar Gewollten überspielt wird. Vgl. dazu nur BGH in: NJW1954,
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Schon auf der programmatischen Ebene weist die Bestimmung der Rolle des genetischen Konkretisierungselements damit verborgene Spannungen auf, die in der eigentlichen Praxis genetischer Auslegung dann offen zum Ausdruck kommen. 3.2 Die gerichtliche Praxis setzt sich über diese Beschränkung hinweg
Das genetische Konkretisierungselement wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochen häufig und zu den unterschiedlichsten Zwecken eingesetzt29. Das Bundesverfassungsgericht hält dabei im Grundsatz an seiner Orientierung an der objektiven Auslegungslehre fest. Trotzdem gibt es aber einzelne Entscheidungen, welche eine Gleichsetzung des in den Materialien aufgewiesenen gesetzgeberischen Willens mit „Inhalt" oder „Sinn" der Vorschrift nahelegen. So wird etwa das Ziel des Gesetzes aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte abgeleitet 30 . Es soll sich der eigentliche Sinn einer Vorschrift aus deren Vor- und Entstehungsgeschichte ergeben 31, oder die Entstehungsgeschichte wird kurzerhand mit dem Sinn des Gesetzes gleichgesetzt 32 . Auch wird des öfteren eine „vernünftige Sinninterpretation" entsprechend der objektiven Lehre davon abhängig gemacht, daß sich aus der Entstehungsgeschichte keine zwingenden Aussagen ableiten lassen33. In der Formulierung: „Jedenfalls ergeben die Materialien nichts dafür, daß die schließlich getroffene Entscheidung weiter reichen sollte als es der Wortlaut, der systematische Zusammenhang und der Sinn und Zweck der Vorschrift zum Ausdruck bringen" 34 wird unter Umkehrung der vom Gericht eingenommenen methodischen Grundposition der objektive Sinn zum subsidiären Hilfsmittel einer am subjektiven Willen des Gesetzgebers orientierten Sinnermittlung.
S. 1113; BGH NJW 1955, S. 72. Diskussion und weitere Nachweise bei Th. Zimmermann, Der Wortlaut des Gesetzes im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung, NJW 1956, S. 1262fT., insbes. 1263; ders., Struktur- und Einzelfragen der Gesetzesauslegung im Spiegel der Entwicklung höchstrichterlicher Rechtsprechung, GA 1955, S. 336ff., insbes. 338 ff. 29 Vgl. hierzu die ausführlichen Hinweise auf Verfassungsgerichtsentscheidungen bei Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff., 76 30 BVerfGE 8, 28 ff., 33 f. Für die genetische Ermittlung der Zielrichtung des Gesetzes vgl. auch BVerfGE 13,181 ff., 199; 59, 336ff., 352. Auch der Gesetzeszweck wird oft aus der Entstehungsgeschichte begründet: BVerfGE 4, 387ff., 401; 5, 85ff., 142; 8, 274ff., 307ff., 312f.; 12,45ff., 58 f; 14,76ff., 99f.; 17,67ff., 79f.; 18,192ff., 194f.; 32, 319ff., 329; 32, 333 ff., 340f.; 58, 45 ff., 64 31
BVerfGE 13, 290ff, 300 BVerfGE 40, 237ff., 248; 56, llOff., 125. Vgl. auch BVerfGE 26, 186ff., 203; 54, 94ff., 98; 58, 45ff, 58 33 BVerfGE 1, 283 ff., 294. Ähnlich BVerfGE 28, 282ff, 290f. 34 BVerfGE 18, 112ff., 119 32
4 Christensen
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Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
Auch die Frage nach Tragweite und Relevanz des genetischen Konkretisierungselements wird in der methodischen Praxis des Bundesverfassungsgerichts nicht deutlicher als in seinen entsprechenden theoretischen Überlegungen. Zunächst findet sich hier eine lange Reihe von Entscheidungen, worin der sog. Willen des Gesetzgebers nur soweit berücksichtigt wird, als er ein anderweitig gefundenes Auslegungsergebnis bestätigt 35 . Aber die genetische Auslegung erscheint in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auch oft als Gegenargument zu den Ergebnissen der anderen Konkretisierungselemente 36. In der Entscheidung zum Staatshaftungsgesetz heißt es dazu: „Alle Versuche, dem Wort grundsätzlich 4 eine andere Bedeutung beizulegen (...) geraten in Widerspruch zur Entstehungsgeschichte des Art. 34 G G " 3 7 . Insoweit bringt im Hinblick auf die Frage nach der Relevanz des genetischen Konkretisierungselements die methodische Praxis des Gerichts keinen Fortschritt gegenüber der schon festgestellten Ambivalenz in den methodologischen Reflexionen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung anderer Bundesgerichte bietet für die Untersuchung der praktischen Rolle des genetischen Konkretisierungselements ebenfalls zahlreiche Anhaltspunkte 38 . Die methodische Literatur hat dieses Material zum Teil schon erschlossen 39 und dabei keine grundlegenden Differenzen zur Praxis des Bundesverfassungsgerichts festgestellt. Auch hier bestätigt das tatsächliche Vorgehen jedenfalls im großen und ganzen die theoretische Absage an die subjektive Auslegungslehre und deren Bestimmung des Ziels der genetischen Auslegung. Trotzdem gibt es aber auch hier Abweichungen von dem programmatischen Bekenntnis zu einer bloß bestätigenden Wirkung des 35
Vgl. dazu BVerfGE 2,124ff., 128,132ff.; 3,248 ff., 252; 3,407ff., 414; 6, 32ff., 38; 6, 55ff., 72 f., 76; 6, 309ff., 347; 9, 305ff., 331; 10, 285ff., 291; 11, 126ff., 129 f.; 12, 205ff., 236; 15,1 ff., 18; 19,135 ff., 137; 25,269 ff., 287 ff.; 26,186 ff., 202; 27,44 ff., 53 ff.; 30,90 ff., 101 f.; 37, Iff., 28ff.; 52, 303ff., 352; 72, 330ff., 398. Weitere Nachweise für einen bestätigenden Einsatz des genetischen Konkretisierungselements bei Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff., 77 (Fn. 52) 36 BVerfGE 20, 238ff., 253; 25, 142ff., 153ff.; 30, 367ff, 382f.; 52, 207ff, 216f.; 62, 117ff., 149; 69, Iff., 55 37 BVerfGE 61, 149ff., 200. Vgl. auch BVerfGE 4, 299ff., 304f. 38 Auch hier kann die vorliegende Analyse natürlich in keiner Weise Vollständigkeit beanspruchen. Insoweit bedarf es vielmehr noch eingehender Untersuchungen unter sinnvoller Eingrenzung des Bereiches. Die im Text entwickelten Folgerungen sind auf besonders „prominente" Beispiele bezogen und können durch eine Analyse mit repräsentativen Merkmalen zwar nicht in der Sache, aber in der Einschätzung ihres praktischen Gewichts relativiert werden. Dieses Vorgehen wäre nur dann inadäquat, wenn eine vollständige Beschreibung des Ist-Zustands der juristischen Argumentation in der Praxis angestrebt würde. Hier geht es aber nur darum, praktische Unklarheiten in rechtstheoretische und methodische Fragen umzuwandeln. 39 Vgl. dazu Rahlf, Die Rolle der historischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des BGH, in: E.v.Savigny u.a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 27 ff.; Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982
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genetischen Konkretisierungselements. Das wird einmal schon daran deutlich, wie häufig die Gerichte die genetische Auslegung zur Entscheidungsfindung heranziehen. In einer praktischen Untersuchung der strafrechtlichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs auf der Grundlage eines zufallig herausgegriffenen Jahrgangs der NJW kommt Joachim Rahlf zu einem gemessen an den programmatischen Bekenntnissen der Gerichte unerwarteten Ergebnis: Die entstehungsgeschichtliche Auslegung wurde in dieser Auswahl von Entscheidungen doppelt so oft verwendet wie die zweithäufigste teleologische Methode. Bei diesem Ergebnis ist zwar zu berücksichtigen, daß kurz zuvor das Strafrecht reformiert worden war. Aber trotzdem läßt sich auf dieser Grundlage die Folgerung ziehen, daß Juristen jedenfalls neue Gesetze aus den Materialien auslegen40. In ihrer Analyse der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kommt Ursula Köbl zu ähnlichen Ergebnissen. Bemerkenswert sind für sie „die Beständigkeit und Ausführlichkeit, mit der sich das Bundessozialgericht auf Ursprung und Werdegang der Normen sowie gesetzgeberische Regelungsabsichten einläßt" 41 . Über die bloße Häufigkeit hinaus ergibt auch eine funktionale Betrachtung, daß die Gerichte die Auslegung aus der Entstehungsgeschichte nicht nur bestätigend einsetzen, sondern ihr auch eine ausschlaggebende Rolle zuweisen. Das gilt sowohl für den Bundesgerichtshof 42 als auch für andere Oberste Bundesgerichte 43. Insgesamt ergibt die methodische Praxis der Gerichte damit ein widersprüchliches Bild. Einerseits bietet ihre praktische Vorgehensweise Anhaltspunkte für eine rationale und jedenfalls im Ansatz kontrollierbare Verwendung der Materialien 44 . Das genetische Konkretisierungselement hat dabei eine im Verhältnis zum grammatisch-systematischen Konkretisierungselement zwar nachrangige, aber in diesem Rahmen durchaus ausschlaggebende Bedeutung für die Entscheidung 45 . Andererseits wird diese methodische Praxis der Gerichte konterkariert von ihren eigenen theoretischen Bekenntnissen46. Die Entschei40
Vgl. dazu Rahlf, Die Rolle der historischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des BGH, in: E.v.Savigny u.a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 27ff., 39 41 Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1052 42 Vgl. dazu nur BGHZ 46, 74ff., 80; BGHZ 28, 144ff., 149 f. 43 Vgl. dazu nur die umfangreichen Nachweise aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bei Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1071, Fn. 29 44 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 28 45 Die Ansätze zu einer Rangverhältnisbestimmung der verschiedenen Konkretisierungselemente ergeben sich aus der schon oben zitierten methodischen Leitentscheidung BVerfGE 1, 299ff., 312 46 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 29 f. Ebenso Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff., 78, 81 f.; vgl.
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dungspraxis ist von diesen programmatischen Grundsätzen her nicht zu erfassen: „Wo das gewünschte oder angestrebte Ergebnis mit den ,herkömmlichen' Mitteln nicht oder kaum überzeugend begründbar ist, kann der subjektive ,Wille 4 des Verfassunggebers, also eine mehrheitliche Meinung im Parlamentarischen Rat bzw. Äußerungen einzelner Mitglieder der verfassunggebenden Körperschaft, den im Verfassungsgesetz objektivierten ,Willen' aus dem Feld schlagen (...). Die grundsätzliche Option der Verfassungsgerichtsbarkeit zugunsten der sogenannten objektiven Auslegungsmethode verliert jedoch ihren Wert, wenn in Einzelfällen ohne sachliche Begründung der Abweichung die Entscheidung des Falls allein auf den subjektiven Willen des Gesetz- bzw. Verfassunggebers begründet wird" 4 7 . Es gibt hier also eine klare Diskrepanz zwischen den zum Teil rationalen praktischen Ansätzen der Gerichte und ihren theoretischen Bekenntnissen zur objektiven Auslegungslehre. Die Praxis der Gerichte kann von ihren in Anspruch genommenen theoretischen Grundlagen her nicht erklärt werden und führt überall dort, wo sich die Gerichte ernsthaft auf die Materialien einlassen, über diese Grundlagen hinaus. 3.3 Erst eine Rechtserzeugungsreflexion kann die tatsächliche Rolle von historischem und genetischem Element erfassen
Wenn man sich von dem Vorverständnis der herkömmlichen Rechtsanwendungslehre absetzt, kann man die Arbeit der Juristen mit den Gesetzesmaterialien als eine spezifische Praxis aus sich selbst heraus verstehen. Die erste dabei zu klärende Frage ist die nach dem Bezugspunkt der genetischen Auslegung. Was suchen die Juristen in den Gesetzesmaterialien? Die zweite Frage richtet sich auf die Art und Weise der genetischen Auslegung. Was tun Juristen, wenn sie genetisch auslegen? Von der methodischen Theorie her lassen sich bei der Antwort auf die Frage nach dem Bezugspunkt genetischer Auslegung zwei Extrempositionen formulieren. Einmal kann die genetische Auslegung darauf verpflichtet werden, in den Materialien einen substantiellen Willen des Gesetzgebers zu suchen, welche den Inhalt des Gesetzes darstellen soll 4 *. Zum andern kann man aber auch den gemeinsamen Willen des Gesetzgebers auf die Verabschiedung des fraglichen Normtextes einschränken 49 und damit den Materialien mangels eines einheitlichen Gegenstands jeden Wert für die Auslegung absprechen. Die Rechtsprechung vermeidet weitgehend ein Bekenntnis zu diesen Extrempositionen und bewegt sich auf eine mehr oder weniger nachvollziehbare Weise zwischen der Substantialisierung und der vollständigen Ausgrenzung der Materialien. auch H.J. Müller, Subjektive und objektive Auslegungstheorie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1962, S. 471 ff., 473 47 F. Müller, ebd., S. 30 48 So die klassische subjektive Lehre. Vgl. dazu die Nachweise bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 302f. 49 Vgl. dazu Larenz, ebd., S. 314
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Was die Gefahr einer Substantialisierung der Materialien durch Setzung eines homogenen gesetzgeberischen Willens betrifft, so haben die höchsten Gerichte hier ihre ablehnende Haltung deutlich artikuliert. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa ausdrücklich festgestellt, daß man Vorstellungen und Erwartungen, wie sie während des Gesetzgebungsverfahrens geäußert wurden, nicht als einen die gerichtliche Auslegung vollständig determinierenden Inhalt des Gesetzes begreifen kann. Es hat dabei auch zu Umrissen einer rechtstheoretischen Begründung angesetzt: „Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt ausgesprochen, daß die Gesetzesmaterialien mit Vorsicht, nur unterstützend und insgesamt nur insofern herangezogen werden sollen, als sie auf einen ,objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen'. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers bzw. der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen kann hiernach bei der Interpretation insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Materialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen. Ob diese Grundsätze auch uneingeschränkt für die Auslegung von Verfassungsnormen gelten können, mag dahinstehen. Denn mehr als die Interpretation der Gesetze hat die der Verfassung mit dem Problem der Offenheit des Normtextes zu tun, weil die Verfassung der aufgegebenen politischen Einheit des Staates zu dienen bestimmt ist. Insbesondere hinsichtlich des organisatorischen Teils der Verfassung (...) wird die Aufgabe der Verfassungsinterpretation dahin verstanden, wechselnden Gestaltungsmöglichkeiten Raum zu lassen. Dennoch kann die Entstehungsgeschichte einer solchen Norm nicht völlig unberücksichtigt bleiben, insbesondere dann nicht, wenn sich für ihre Auslegung feste Grundsätze nicht haben bilden können. Ausschlaggebende Bedeutung kommt den Verfassungsmaterialien allerdings in der Regel nicht zu. Der Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG läßt sich zwar unschwer entnehmen, daß der Verfassungsgeber bemüht war, durch die Norm einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments Grenzen zu setzen. Insoweit steht sie mit dem hier festgestellten Verständnis der Bestimmung in Einklang. Sie besagt jedoch keinesfalls eindeutig, daß der Verfassungsgeber die Möglichkeit, über Art. 68 die Auflösung des Bundestags anzustreben „nur für den Minderheitskanzler vorgesehen wissen wollte" 5 0 . M i t mehrfach gestaffelten Argumenten lehnt das Bundesverfassungsgericht den von der subjektiven Lehre in Anschlag gebrachten einheitlichen gesetzgeberischen Willen als Bezugspunkt der genetischen Auslegung ab. Zunächst wird die grundsätzliche Option des Gerichts für den objektivierten Gesetzessinn ins Feld geführt. Der Hinweis auf die objektive Lehre beinhaltet hier aber nicht ein Argumentationsverbot 51 , welches die Berufung auf begründungsstrategisch unbequeme Materialien abschneiden soll. Vielmehr dient er dem Gericht lediglich dazu, das argumentative Gewicht der Arbeit an den Materialien zu relativieren. Eine erste Einschränkung ergibt sich dabei aus der Anforderung, daß ein in den Materialien aufgewiesener und für die 50 51
BVerfGE 62, Iff., 44f. Vgl. dazu Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 20
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Entscheidung verwerteter Zusammenhang auch im Wortlaut des fraglichen Normtextes zum Ausdruck gekommen sein muß. Darin kann man einen Nachklang der sog. Andeutungstheorie sehen, welche verlangt, daß der „Wille des Gesetzgebers" im Gesetzeswortlaut zumindest andeutungsweise seinen Ausdruck findet. Das Verfassungsgericht hat allerdings das genetische Argument vom sog. Willen des Gesetzgebers abgelöst und kann daher als rationalen Kern der Andeutungstheorie nur eine Rangfolge der Konkretisierungselemente beibehalten, welche verlangt, daß die Ergebnisse der genetischen Auslegung am Wortlaut und der aktuellen Systematik des Gesetzes überprüft werden müssen. Neben dieser im engeren Sinn methodischen Relativierung der genetischen Auslegung läßt sich die verfassungsgerichtliche Ablehnung eines in den Materialien aufzufindenden einheitlichen Willens aber auch aus den verfassungstheoretischen Erwägungen ableiten, welche das Gericht hier als zusätzliche Metabegründung heranzieht. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist das Erfordernis einer Offenheit verfassungsrechtlicher Normtexte, welches im Hinblick auf eine herzustellende Einheit des Staates begründet wird. Das Bundesverfassungsgericht will sich damit gegen die in der Substantialisierung der Auslegung enthaltene Gefahr einer „Versteinerung" der Verfassung abgrenzen 52 . Dieses Argument birgt allerdings gewisse Probleme. Zunächst ist nicht ganz klar, was die Offenheit verfassungsrechtlicher Normtexte mit der Einheit des Staates zu tun haben soll. Aber auch wenn man diesen Zusammenhang ausklammert, ist fraglich, wie die genetische Auslegung die Offenheit des Normtextes gefährden kann. Die Eindeutigkeit des Textes ist immer etwas Nachträgliches, das hergestellt werden muß in einem dazu bestimmten Diskurs oder Auslegungsspiel. Dementsprechend könnte auch eine Heranziehung der Materialien die erneute Lektüre des fraglichen Textes durch den Richter nicht versteinern. Die Offenheit ist nicht etwas, was der Text erst mit zunehmendem Abstand vom Gesetzgeber gewinnt und was es gegen die Aufhebung dieser Distanz zu verteidigen gilt. Jeder zu entscheidende Fall bringt vielmehr die ursprüngliche Offenheit des fraglichen Normtextes erneut ans Licht 5 3 . Die Materialien und ihre Verwertung als solche können daher die Offenheit des Normtextes nicht gefährden. Die dargestellten verfassungstheoretischen Erwägungen des Gerichts schließen deswegen auch die Verwendung der Materialien nicht grundsätzlich aus, sondern nur eine Lesart der Materialien, wie sie von der subjektiven Lehre betrieben wird. Das Bundesverfassungsgericht zieht selbst diese Konsequenz, wenn es im Anschluß an das verfassungstheoretische Argument formuliert, daß die Entstehungsgeschichte „dennoch nicht völlig unberücksichtigt bleiben könne". Im Zusammenhang der daran anschließenden Verwertung der Materialien taucht 52 Vgl. dazu Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1984, S. 73 ff., 79 f. m.w.N. 53 Vgl. dazu noch unten im Text Teil C 2.1.1
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dann die vom Gericht wiederholt verwendete Formel von der „nicht ausschlaggebenden Bedeutung" der Entstehungsgeschichte auf. Die Tragweite dieser Wendung kann im Zusammenhang mit der eben dargestellten Argumentationsstrategie genauer bestimmt werden. Das Gericht wendet sich nicht grundsätzlich gegen die Heranziehung der Materialien, sondern nur gegen den Versuch, mittels der Materialien die Auslegung zu „versteinern". Das Bundesverfassungsgericht lehnt damit einen einheitlichen gesetzgeberischen Willen als Bezugspunkt der genetischen Auslegung ab, beläßt im Rahmen der Bedeutungsprofilierung des Normtextes aber der genetischen Auslegung jeden erdenklichen Raum diesseits einer Substantialisierung des Auslegungsergebnisses. Neben Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen können damit „Grundsatzentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke" zwar für die Konkretisierung des fraglichen Normtextes keine „bindende Anleitung" sein, aber doch immerhin erhellende Möglichkeiten für die Sinnermittlung. Im praktischen Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts kommt damit eine mittlere Linie zum Ausdruck, welche einerseits die Hypostasen der subjektiven Theorie vermeidet, ohne aber andererseits im Sinne einer konsequenten objektiven Theorie auf die Lektüre der Materialien völlig zu verzichten. Gegenstand oder Bezugspunkt des genetischen Konkretisierungselements sind dabei, immer im Plural, Regelungszwecke, Grundentscheidungen, aber auch Einzeläußerungen, soweit sie mit dem schließlich verabschiedeten Normtext in einem sinnvollen Zusammenhang stehen. Ähnlich dürfte die Lage bei den anderen Obersten Bundesgerichten einzuschätzen sein. Eine psychologische Forschung zur Ermittlung des wirklichen Willens des Gesetzgebers betreiben die Gerichte bei der Durchführung der genetischen Auslegung nicht 5 4 . Der Bundesgerichtshof hat hierzu festgestellt: „Die Gerichte könnten einen solchen etwaigen inneren Willen des Gesetzgebers, der im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat, angesichts des klaren Wortlauts der Bestimmung, der einen seinem Inhalt nach fest umrissenen und allgemeingültigen Begriff des Strafrechts verwendet, nicht berücksichtigen" 55 . Der Topos ,Wille des Gesetzgebers4 wird also von den Gerichten nicht so verwendet, als sei er ein psychologisches Faktum jenseits des Textes, welches durch Einfühlung zugänglich werden könne. Die genetische Auslegung wird vielmehr überwiegend benutzt als ein gegenüber Wortlaut und Systematik nachrangiges Arbeitsmittel, dessen Aufgabe darin besteht, die Textbasis der Konkretisierung zu erweitern. Die Gerichte arbeiten textbezogen mit den Materialien, wie amtlichen Begründungen, Protokollen von Ausschußsitzungen und Plenardebatten sowie sonstigen schriftlichen Aufzeichnungen. Dabei wollen sie ersichtlich nicht die Frage klären, was das Recht substantiell ist, sondern es geht ihnen um die Gewinnung 54
Vgl. dazu Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1020 55 BGHSt 1, S. 313ff., 316
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zusätzlicher Direktiven für die Entscheidung 56 . Das von den Gerichten bei diesem Vorgehen implizierte Verständnis des Gesetzgebungsverfahrens läßt sich folgendermaßen beschreiben: „Nach dem Individualwillen all derer, die ein Gesetz in Kraft gesetzt (und sich darüber Gedanken gemacht) haben, zu forschen, wäre in der parlamentarischen Demokratie zumal bei einer massenhaften Gesetzesproduktion unter Führung der Ministerialbürokratie in der Tat ein unmögliches Unterfangen. Doch wenn auch die meisten Gesetze bereits in allen Einzelheiten von den eigentlichen,Gesetzesmachern4 in der Ministerialbürokratie konzipiert sind, bevor sich die formell autorisierten Legislativorgane überhaupt mit dem Regelungsvorhaben befassen, so hindert dies nicht, nach den treibenden rechtspolitischen Kräften und Interessen zu fragen und das Erfahrbare dem Gesetzgeber' zuzurechnen. Man muß nur aufhören, Genauigkeitsanforderungen an individualpsychologische Willenserkenntnis und -berücksichtigung zu stellen (...)" 5 7 . Das Verständnis der Gerichte vom Gesetzgebungsverfahren wird hier als Bedingung ihres praktischen Vorgehens expliziert. Danach ist offensichtlich, daß die Fiktion eines substantiellen gesetzgeberischen Willens keine Rolle spielt. Dieser Umstand wird in der Literatur gern und oft mit der Vielfalt der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen und Gremien erklärt 58 . Aber die Gerichte fragen auch nicht nach einem psychologisch aufgefaßten gesetzgeberischen Willen als kleinstem Nenner oder gemeinsamem Schnittpunkt der Vorstellungen aller am Verfahren Beteiligten. Vielmehr wird eine psychologisch gezielte Ermittlung historischer Fakten durch den Gesichtspunkt normativer Zurechnung ersetzt. Man könnte nun aber annehmen, daß im Zuge dieser Ersetzung psychologischer durch normative Gesichtspunkte an die Stelle eines homogenen gesetzgeberischen Willens einfach eine ebenso einheitlich und geschlossen aufgefaßte Absicht oder ein Zweck im normativen Sinne tritt. Tatsächlich sprechen die Gerichte aber von den Zwecken, Absichten usw. des Gesetzgebers im Plural 59 . Damit machen sie deutlich, daß man in den Materialien keine klar abgegrenzten und die Konkretisierung vollständig determinierenden Gesetzeszwecke finden kann, sondern nur eine Vielzahl nicht miteinander vereinbarer Zwecksetzungen. Selbst wenn etwa die Absichten des Gesetzgebers in den einführenden Paragraphen eines Gesetzes explizit aufgezählt sind, bedarf es, wie zahlreiche Rechtsprechungsbeispiele zeigen, immer noch der Herstellung eines Rang- und Gewichtungsverhältnisses unter diesen Zwecken und des öfteren sogar einer gerichtlichen Entscheidung über deren Kollision 6 0 . Die Ursachen für die mangelnde 56
Diese Ablehnung des substantiellen Verständnisses wird besonders deutlich in BSG 23, 7ff., 9. 57 Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005ff., 1020 58 Vgl. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 61 ff. 59 Vgl. zur Terminologie Honseil, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 130 ff. 60 Vgl. dazu Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1033 f.
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Homogenität gesetzgeberischer Zwecksetzung liegen zum einen darin, daß unter der Bedingung einer Vielzahl heterogener gesellschaftlicher Interessen unterschiedliche politische Kräfte jeweils gruppenspezifisch wirksame Folgen ihrer Aktivitäten anstreben. Zum andern aber auch darin, daß der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, von Zweck und Mittel nicht einlinig und klar abgrenzbar ist. Da die Gerichte bei schwierigen Auslegungsproblemen zu einer genauen Betrachtung der Entstehungsgeschichte gezwungen sind, löst sich für sie die Einheitlichkeit der gesetzgeberischen Zwecksetzung auch im normativen Sinne in ein Parallelogramm politischer Kräfteverhältnisse auf, deren Multifinalität nicht reduziert werden kann. Die verallgemeinernde Redeweise der Gerichte von Grundentscheidungen oder Regelungsabsichten des Gesetzgebers bewegt sich deswegen auf einer Ebene, die weit unterhalb der Fiktion eines homogenen und übersichtlichen gesetzgeberischen Willens liegt. M i t zunehmender Distanz von der Fiktion eines in den Materialien aufzufindenden homogenen Willens wird auch das von der Rechtsprechung zur Analyse der Materialien verwendete Instrumentarium unabhängiger vom Zwang zur Vereinheitlichung ihres Gegenstandes. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Ergebnisse heranzieht, die Thomas Honsell aus einem Vergleich der genetischen Auslegung in der zivilrechtlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs gewonnen hat. Danach ist bei der genetischen Auslegung durch das Reichsgericht noch das deutliche Bestreben zu erkennen, einen einheitlichen homogenen Willen des Gesetzgebers nachzuweisen, während die zum Aufweis dieser Kontinuität und Einheitlichkeit verwendeten Argumentationsfiguren in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur noch eine geringe Rolle spielen 61 . Insgesamt ergibt sich aus der Betrachtung der Rechtsprechung damit, daß die Gerichte als Gegenstand der genetischen Auslegung weder einen substantiellen Willen im Sinne der subjektiven Lehre voraussetzen noch aber im Sinne der objektiven Lehre den Willen des Gesetzgebers nur auf die Verabschiedung des Normtextes beziehen. Die Untersuchung der Frage nach dem Gegenstand der genetischen Auslegung zeigt, daß die Praxis der Gerichte nicht von den substantialistischen Annahmen der klassischen Auslegungslehre her charakterisiert werden kann. Vielmehr werden die Materialien und in deren Rahmen auch oft historische Erwägungen dazu verwendet, die Textbasis der Auslegung zu erweitern. Dieser Gesichtspunkt bedarf einer weiteren Präzisierung. Die damit angesprochene Frage nach dem ,Wie' der genetischen Auslegung kann zunächst auch in diesem Bereich an expliziten Reflexionen der Gerichte ansetzen. In einer auf verfahrensrechtliche Fragen bezogenen Entscheidung überprüft das Bundesverfassungsgericht ein anderweitig gewonnenes Auslegungsergebnis an der genetischen Auslegung und gelangt dabei zu einer Gewichtung innerhalb 61
Honsell, Historische Argumentation im Zivilrecht, 1982, S. 139, 142 und öfter
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der aus den Materialien zu gewinnenden Informationen. Es sei, formuliert die Entscheidungsbegründung, „nicht zu verkennen, daß dieses Ergebnis den Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der Wirkungsweise und Entlastungsfunktion der Ermessensregelung, die in verschiedenen Äußerungen während des Gesetzgebungsverfahrens zum Ausdruck gekommen sind, in Teilen zuwiderläuft" 62 . M i t dieser Aussage grenzt sich das Gericht ab gegen die von der subjektiven Lehre geforderte Gleichsetzung des späteren Gesetzes mit Äußerungen, die während der Entstehungsgeschichte Eingang in die Materialien gefunden haben. Das Ergebnis einer gerichtlichen Auslegung kann im Hinblick auf die Ablösung des Gesetzes von den Vorstellungen seiner Autoren durchaus deren Äußerungen widersprechen. Im Anschluß an diese Überlegung wird aber trotzdem eine Bindung der gerichtlichen Auslegung an bestimmte hervorgehobene Teile der Materialien vom Gericht bejaht. Diese Bindung „gilt allerdings nur für die in dieser Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke; konkrete Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite einer einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung geäußert werden, stellen für die Gerichte jedenfalls nicht eine bindende Anleitung dar, so erhellend sie im Einzelfall für die Sinnermittlung auch sein mögen. Sie sind als solche nicht schon Inhalt des Gesetzes. Die Äußerungen im Rechtsausschuß wie im Plenum (...) drücken zwar Beweggründe und Erwartungen aus, sind als solche aber nicht Inhalt der Regelung geworden" 63 . Das Problem, wie die Materialien bei der genetischen Auslegung zu handhaben sind, bleibt in dieser Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts unklar. Zunächst läßt das Gericht offen, wie sich sog. Grundentscheidungen von bloßen Einzeläußerungen unterscheiden 64. Denn unabhängig von Einzeläußerungen und anderen Anhaltspunkten in den Materialien kann man Grundentscheidungen ja nicht feststellen. Auch der Status der Einzeläußerungen selbst wird nicht klar. Einerseits scheinen sie ein anderweitig gewonnenes Auslegungsergebnis nicht beeinflussen zu können, andererseits sollen sie doch den Sinn der Vorschrift erhellen. Vor allem aber kann das zentrale Argument des Gerichts die Leistung nicht erbringen, welche ihm hier unterstellt wird: Auch wenn Einzeläußerungen nicht zum „Inhalt" der Vorschrift gehören, ist damit noch nicht entschieden, ob sie nicht doch 62
BVerfGE 54, 277 f f , 297 Ebd., S. 297 f. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Einzeläußerungen in der Rechtsprechung auch noch BVerfGE 72, 330ff., 393f.; 74, 71 ff., 61 ff. 64 Diese Unterscheidung wird auch in der methodischen Literatur oft verwendet, ohne daß Gesichtspunkte zur näheren Bestimmung dieser Kategorien vorgeschlagen würden. Vgl. dazu etwa Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, in: Festschrift für Germann, 1969, S. 257 ff., 264ff. Ansätze zu einer Problematisierung bei Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005ff., insbes. 1029ff. 63
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Direktiven bereitstellen können. Denn die sog. Grundentscheidungen des Gesetzgebers sind nach der methodischen Orientierung des Gerichts an der objektiven Lehre ebenfalls nicht zum „Inhalt" der Vorschrift zu rechnen und sollen doch ausschlaggebende Bedeutung haben. Insgesamt könnte das Gericht die vorgeschlagene Unterscheidung nur dann mit methodischer Relevanz zur Geltung bringen, wenn es über Regeln 65 verfügte, die eine Zurechnung bestimmter Aussagen zu den Grundentscheidungen bzw. irrelevanten Einzeläußerungen erlauben würden. Weil diese Regeln aber weder offengelegt werden noch zu erschließen sind, kann die vom Gericht vorgeschlagene Unterscheidung nicht eingelöst werden. Ähnliche Unklarheiten bei der Frage nach dem ,Wie' der genetischen Auslegung finden sich in der Rechtsprechung der Obersten Bundesgerichte. So kehrt hier die schon beim Bundesverfassungsgericht festgestellte Unterscheidung zwischen Einzelaussagen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten und gesetzgeberischen Grundentscheidungen wieder. Der Bundesgerichtshof entscheidet etwa gegen die erklärte Absicht des Gesetzgebers unter gleichzeitiger Berufung auf den Gesetzgeber, indem er einer bestimmten Äußerung in einem Ausschuß die Systematik der gesetzgeberischen Intention entgegenhält66. Auch dabei werden allerdings Zurechnungsregeln mehr vorausgesetzt als expliziert. Ein größeres Ausmaß an Klarheit ergibt sich zunächst auch nicht, wenn man die Frage nach dem ,Wie' der genetischen Auslegung in der Praxis der Gerichte untersucht. Auch hier setzen sich die auf der Ebene der prinzipiellen Reflexionen festgestellten Unklarheiten fort. So bleibt etwa die kategoriale Abgrenzung von Grundentscheidungen und irrelevanten Einzeläußerungen auch in der Praxis der Gerichte unklar. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht eine ausschlaggebende Bedeutung von „im Gesetzgebungsverfahren geäußerten und sich widersprechenden Ansichten" 67 ablehnt, bezieht es diese Äußerungen andererseits doch wiederum in seinen Argumentationsprozeß ein. Ebenso sind Ausmaß und Genauigkeit der Untersuchung von Gesetzgebungsmaterialien in den Entscheidungen sehr unterschiedlich 68 . 65 Ansätze zur Formulierung entsprechender Regeln in: BVerfGE 71,39 ff., 53 f., 57; 74, 51 ff., 61 ff. Vgl. zu den Ansätzen einer Diskussion von Zurechnungsregeln, die Stellenwert und Tragweite bestimmter Äußerungen in den Materialien klären sollen: Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., insbes. 378, 380, 388ff.; MacCallum, Legislative Intent, in: Summers (Hrsg.), Essays in Legal Philosophy, 1962, S. 237ff., insbes. 263ff. und öfter; Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37 ff. 66 Vgl. dazu Rahlf, Die Rolle der historischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des BGH, in: E.v.Savigny u.a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 27ff., 38 f. 67 BVerfGE 14, 221 ff., 236 68 Vgl. dazu die Hinweise bei Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1.1984, S. 73 ff., 76, der die Endpunkte dieser Skala mit pauschalen Hinweisen und akribischer Detailbehandlung bezeichnet. Vgl. dazu auch ebd. die in Fn. 50 bzw. 51
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Trotzdem ergeben sich aber bei einer genauen Betrachtung der praktischen Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts Ansatzpunkte, welche über die Unklarheiten des theoretischen Rahmens hinausführen. Die Materialien werden nämlich vom Gericht verwendet als Erweiterung der Textbasis für ein systematisches Argument, und damit gerade nicht als Indiz für einen substantiellen Willen, der entweder dem Gesetzgeber oder dem Gesetz selbst innewohnen soll. Die Gerichte bearbeiten die Materialien im Rahmen eines Auslegungsspiels, um die Bedeutung des fraglichen Normtextes durch Heranziehung von Kontexten weiter zu profilieren. Dabei ergibt sich die Art und Weise der Verwendung aus der Formulierung „die Entstehungsgeschichte besagt jedoch keineswegs eindeutig" 69 . Die Materialien sind für das Bundesverfassungsgericht Überprüfungsinstanz für bestimmte, vorher entworfene Verständnisvarianten des Normtextes. Darin besteht ihre zwar nicht ausschlaggebende, aber die Entscheidung jedenfalls potentiell mitbegründende Funktion. In der methodischen Literatur hat die Strukturierende Rechtslehre herausgearbeitet, daß eine Theorie, welche das Gesetz als Ausdruck eines subjektiv oder objektiv bestimmten Willens begreift, die Komplexität des genetischen Konkretisierungselements verfehlen muß 7 0 . Nur wenn man die Heranziehung der Entstehungsgeschichte als Sonderfall des systematischen Arguments begreift, wird deutlich, daß es sich hier nicht darum handelt, eine vor oder hinter dem Gesetz liegende Substanz zu erkennen, sondern eben darum, durch Einbeziehung neuer Texte die Bedeutung des Normtextes weiter zu profilieren 71 . Die Konkretisierung kann dabei anknüpfen an die Linien eines semantischen Kampfes 72 , welcher zum Normtext als Tenor einer politischen Entscheidung 73 geführt hat. Die Textbasis der systematischen Auslegung wird damit von den Normtexten amtlicher Sammlungen erweitert auf die Texte von Parlamentsdebatten und Begründungen 74 . Gerade diesen Weg, die Bedeutung des Normtextes aufgeführten Beispiele für beide Kategorien. Aus der neueren Rechtsprechung vgl. dazu BVerfGE 72, 330ff., 398 (kurz); 74, 51 f f , 61 ff. (ausführlich) 69
BVerfGE 62, 1 f f , 45 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 31 f. 71 Vgl. zum Zusammenhang von genetischem und systematischem Konkretisierungselement ebd., S. 164 und öfter 72 Vgl. zum Begriff „semantischer K a m p f noch weiter unten im Text Teil D sowie Busse, Chaoten und Gewalttäter. Ein Beitrag zur Semantik des politischen Sprachgebrauchs, in: Burkhardt/Hebel/Hoberg (Hrsg.), Sprache zwischen Militär und Frieden: Aufrüstung der Begriffe?, 1989, S. 93 ff. 73 Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 271. Zum Kampf um Worte S. 272 74 Systematische, genetische und historische Auslegung lassen sich danach unterscheiden, welche Bezugstexte sie in den Prozeß der Bedeutungsprofilierung einbringen. Das systematische Konkretisierungselement verwendet die Normtexte aus den amtlichen Sammlungen. Die historische Auslegung bezieht sich auf vergangene Normtexte, welche im Bezugszeitpunkt nicht mehr in Geltung sind. Die genetische Auslegung bezieht sich demgegenüber überhaupt nicht auf Normtexte, sondern auf Protokolle, Begründungen usw. Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 164, 268 f. und öfter 70
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i s c h e s und e t i s c h e s Konkretisierungselement
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entlang der Linien eines semantischen Kampfes zu profilieren, schlägt auch das Bundesverfassungsgericht überall dort ein, wo es die genetische Auslegung detailliert durchführt und nicht als pauschale Appellationsinstanz verwendet. So kommt nach Ansicht des Gerichts bei unklarem Wortlaut eine „besondere Bedeutung (...) dem Sinnzusammenhang zu. Der Blick ist mithin auch auf die Entstehungsgeschichte zu richten (...)" 7 5 · Hier wird ein systematisches Argument zur Bedeutungsprofilierung des Normtextes also im Wege einer detaillierten Analyse der Materialien entwickelt. Auch sonst entnimmt das Gericht systematische Zusammenhänge eines Normtextes „eindeutig aus der Entstehungsgeschichte"76. Ähnliche Befunde ergeben sich in der methodischen Praxis der anderen Obersten Bundesgerichte. Sie halten sich an die den Entstehungsprozeß der Norm dokumentierenden Aufzeichnungen und erweitern dadurch die textuelle Basis des EntscheidungsVorgangs. Der zunächst isolierte Normtext wird über die genetische Auslegung mit einer Auswahl weiterer Texte verknüpft. Wollte das Bundesverwaltungsgericht zunächst „allenfalls" die amtlichen Begründungen des Gesetzes heranziehen und nicht etwa „Erklärungen der an seinem Zustandekommen beteiligten Staatsorgane" 77 , so zieht es in einer späteren Entscheidung auch eine Entschließung des Bundestags und deren widerspruchslose Hinnahme durch den Bundesrat als Argument heran 78 . Der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts betrachtet sogar „die Erklärung der beiden Berichterstatter des Vermittlungsausschusses als Interpretation des gesetzgeberischen Willens" 7 9 . Ähnlich beschreibt Köbl das Vorgehen des Bundessozialgerichts: „Es holt sich Auskünfte zunächst aus den amtlichen Begründungen, die von der Bundesregierung den Gesetzentwürfen mitgegeben werden, sodann aus den Stellungnahmen des Bundesrats und des sozialpolitischen Ausschusses des Bundestags. Vornehmlich die Begründungen der Regierungsentwürfe werden der Volksvertretung zugerechnet, falls von dort keine abweichenden, die Mehrheitsauffassung bekundenden Stellungnahmen geäußert werden" 80 . M i t der Auslegung aus der Entstehungsgeschichte streben die Gerichte also eine spezifische Form der Verknüpfung von Texten an. Zu dieser Verknüpfung werden Zurechnungsregeln eingesetzt, welche sich zunächst aus der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Organisation des Gesetzgebungsverfahrens ergeben 81 . Dabei spielen rechtspolitische Kräftekonstellationen, die im Verlauf des 75
Vgl. BVerfGE 60, 135 ff., 155 und ff. BVerfGE 10, 59 ff., 88. Vgl. auch BVerfGE 51, 304 ff., 317, wo der Sinnzusammenhang einer Norm „deutlich aus ihrer Entstehungsgeschichte" abgeleitet wird. Vgl. auch BVerfGE 16, 64ff., 79 77 BVerwGE 6, 134ff., 139 78 BVerwGE 12, 16 ff. 79 BVerwGE 12, 119ff., 122 80 Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1021 76
Β. Praxis: Programmatik und Wirklichkeit
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Verfahrens sichtbar geworden sind, eine Rolle, ohne daß sie zwanghaft zu einem substantiellen Willen hochstilisiert würden. Die Gerichte rechnen vielmehr, vermittelt über bestimmte Zwischenschritte wie Mehrheitsregeln, Annahme oder Ablehnung eines Antrags, dem Gesetzgeber grundlegende Absichten oder Zwecke im normativen Sinne zu. Das gesamte Verfahren wird auf Stellungnahmen zum Problemkomplex untersucht. Dabei sind für die Gerichte vor allem die Punkte interessant, wo der schließlich verabschiedete Normtext von alternativen Formulierungen abgegrenzt wird. Dies beginnt schon mit der Begründung der Gesetzesvorlage, welche sich vielfach auf Vorentwürfe stützt und sich mit Alternativentwürfen auseinandersetzt 82. Im Verlauf des Verfahrens werden dann in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestags sowie eventuell im Bundesrat Zusatz-, Änderungs- und Streichungsanträge gestellt 83 . Das genetische Argument, so wie es die Gerichte praktisch verwenden, setzt nun nicht an Spekulationen über persönliche Absichten und Zwecke an, sondern genau an diesen Abgrenzungsmomenten 84. So gelten etwa juristische Aussagen gemessen am genetischen Konkretisierungselement als falsch, wenn sie einem abgelehnten Entwurfstext, Änderungsantrag oder Zusatzantrag entsprechen 85. Die Beibehaltung einer Wendung aus dem alten Gesetz im novellierten kann als Bestätigung der bisherigen Judikatur angesehen werden und umgekehrt eine Formulierungsänderung die Notwendigkeit eines neuen dogmatischen Verständnisses begründen 86 . Oder in Verbindung mit der historischen Auslegung kann die Entstehungsgeschichte eine juristische Aussage widerlegen, die ein Problem ebenso lösen will, wie es unter dem alten und nunmehr geänderten Gesetz gelöst wurde 87 . Anknüpfend an Einzeläußerungen in den Materialien können die Gerichte mittels der genetischen Auslegung ein semantisches Netz 8 8 sichtbar machen, welches im fluktuierenden Sprachgebrauch gewisse Grenzen einzieht 89 . M i t Hilfe der sich aus Verfahrensorganisation, Mehrheitsregel u.ä. 81
Vgl. zum Gesetzgebungsverfahren aus staatsrechtlicher Sicht: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1987, S. 197ff.; aus der Sicht der Gesetzgebungslehre: Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 103 ff.; Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 53 ff., insbes. 95 82 Vgl. dazu Tettinger, Methodik rechtswissenschaftlicher Arbeitstechnik: Gesetze und Gesetzesmaterialien, in: JuS 1979, S. 258 f f , 261 83 Vgl. dazu Lohmar, Das Hohe Haus — Der Bundestag und die Verfassungswirklichkeit, 1975, insbes. S. 202; v.Lucius, Gesetzgebung durch Parlamentsbeschlüsse?, in: AöR (97) 1972, S. 568 ff.; Schmitt-Vockenhausen, Durchgangsstation und sonst nichts? Zur Gesetzgebungsarbeit des Bundestages, in: E. Hübner/Oberreuter/Rauch (Hrsg.), Der Bundestag von innen gesehen, 1969, S. 137 ff. 84
Vgl. dazu etwa BGHZ 28, 144ff., 149f. Vgl. dazu etwa BSG 43, 170 f f , 172 86 BSG 42, 76 f f , 79 87 BSG 30, 192 f f , 195 88 Vgl. zu diesem Begriff: Busse, Chaoten und Gewalttäter. Ein Beitrag zur Semantik des politischen Sprachgebrauchs, in: Burkhardt/Hebel/Hoberg (Hrsg.), Sprache zwischen Militär und Frieden: Aufrüstung der Begriffe?, 1989, S. 93 ff. 85
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i s c h e s und e t i s c h e s Konkretisierungselement
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ergebenden Zurechnungsregeln läßt sich so der Normtext in eine umfassende diskursive Strategie 90 des Gesetzgebers einordnen. Praktischer Ansatzpunkt für die genetische Auslegung ist somit die Frage nach der Bedeutung eines spezifischen Normtextes. Diese Bedeutung wird profiliert, indem man die entstehungsgeschichtlichen Texte heranzieht. Es wird dabei unterstellt, daß man den Normtext einbetten 91 kann in einen semantischen Kampf um Rechtsbegriffe, in welchem der schließlich verabschiedete Normtext zumindest von einigen anderen Regelungsmöglichkeiten abgegrenzt wird. Nur im Hinblick auf diese unreflektierten Voraussetzungen sind die Schlüsse möglich, welche die Gerichte in ihrer entstehungsgeschichtlichen Auslegungspraxis ziehen. So wird nach einer häufig verwendeten Variante eine bestimmte Verständnisweise des Normtextes deswegen verworfen, weil eine Bestimmung im Gesetzentwurf mit einer entsprechenden Regelung in die Endfassung nicht übernommen wurde 92 . Dabei ist eine zusammenhängende diskursive Strategie der gesetzgeberischen Mehrheit vorausgesetzt. Ebenso wird diese diskursive Strategie vorausgesetzt, wenn man aus der Beibehaltung alter Formulierungen im novellierten Text auf eine Bestätigung der dazu ergangenen Rechtsprechung schließt bzw. umgekehrt aus einer Formulierungsänderung auf die Notwendigkeit eines veränderten Verständnisses 93. Damit wird, auch wiederum nur implizit, der Prozeß der Gesetzgebung mit seinem Kampf um Worte und Formulierungen als vorweggenommene Fall-Lösung angesehen94. Nur wenn im Hinblick auf das Wissen um die begrenzende Funktion der Gesetzesbindung schon im Entstehungsprozeß eine Vorwirkung der juristischen Konkretisierungselemente angenommen wird, läßt sich aus Normtextvarianten bzw. der Änderung oder Beibehaltung von Normtexten im Wege der genetischen Auslegung ein Argument für die Entscheidung eines konkreten Falls gewinnen. Die implizite Voraussetzung einer umfassenden diskursiven Strategie des Gesetzgebers, welche im Wege des semantischen Kampfes zum Normtext führt, wird von den methodischen Theorien der Gerichte allerdings in keiner Weise reflektiert. Die abstrakten methodischen Bekenntnisse der Obersten Gerichte erfassen weder die praktische Struktur des genetischen Arguments noch seine funktionale Bedeutung in der Praxis. 89
Vgl. dazu noch weiter unten im Text Teil D Vgl. Busse, Historische Semantik, 1987, S. 256, 262 ff. 91 Von der Notwendigkeit einer Einbettung des Normtextes in die Kommunikationsgeschichte spricht auch Hegenbarth. Allerdings bezieht er diese Forderung nur auf alltagsweltliche Mechanismen der Interpretation, und es gelingt ihm nicht, seinen Ansatz im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte von Normtexten zu spezifizieren. Vgl. Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 79 f. 90
92 Vgl. dazu auch Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 102f. 93 Vgl. dazu Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1023 94 Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 272
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4. Ergebnis: Die Gerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie tun Die Analyse von Ansätzen zu einer methodischen Einlösung der Gesetzesbindung in der Praxis der Gerichte führt zu dem Ergebnis, daß die Gerichte nicht tun, was sie sagen und nicht sagen, was sie tun. Es besteht eine tiefe Kluft zwischen der Theorie der Gerichte und ihrer Praxis. Der Theorie nach ist die Bedeutung des Normtextes im System des Rechts objektiv vorgegeben. In der Praxis wird diese Bedeutung u. a. mit Hilfe der Materialien erst profiliert. Dabei kommt der Entstehungsgeschichte eine im Verhältnis zur Systematik zwar nachrangige, aber die Entscheidung durchaus mitbegründende Rolle zu. Während die Theorie also von einem Repräsentationsmodell ausgeht, wonach der Normtext eine im objektiven Willen des Gesetzes vorgegebene Bedeutung ausdrückt, geht die Praxis von einem Profilierungsmodell aus, wonach die Bedeutung des Normtextes u.a. im Wege der systematischen, historischen und genetischen Kontextualisierung erst hergestellt wird. Das geschilderte praktische Vorgehen der Gerichte kann von den Prämissen der klassischen Auslegungslehre her nicht erklärt werden. Denn diese versteht den Normtext als Repräsentation eines vorausgesetzten substantiellen Willens und damit gerade nicht als einen Text, dessen Bedeutung durch Verknüpfung mit anderen Texten erst zu konstituieren ist. Wie ist dieses Auseinanderfallen von Theorie und Praxis der methodischen Einlösung der Gesetzesbindung zu erklären? Nach Eberhard Baden ergeben sich die praktischen Schwierigkeiten juristischer Auslegung aus der theoretischen Geringschätzung der Entstehungsgeschichte in der objektiven Auslegungslehre 1. Danach würde es genügen, den theoretischen Bezugsrahmen der Rechtsprechung zugunsten der subjektiven Lehre auszudehnen, und man könnte auf diesem Weg die Inkonsequenz der Praxis beseitigen2. Gegen diesen Vorschlag spricht aber die Überlegung, daß die Praxis der Gerichte auch nicht im Sinne einer konsequenten subjektiven Orientierung zu interpretieren ist. Vor allem aber kann auch die subjektive Theorie das als Bedeutungsprofllierung beschriebene praktische Vorgehen der Gerichte nicht erklären, ohne ihre eigene Prämisse eines der Norm zugrundeliegenden Willens aufzugeben. Es liegt deswegen näher anzunehmen, daß nicht eine bloße Geringschätzung der Materialien zum Auseinanderfallen von gerichtlicher Theorie und Praxis führt, sondern der auf einen substantiell vorgegebenen,Inhalt' gerichtete Ansatz des Willenstheorems selbst in der Praxis gar nicht eingelöst werden kann. Eine die Materialien wirklich ernstnehmende Praxis muß auch in diesem Bereich notwendig über die Prämissen der Willenstheorie hinausgehen. Es ist damit die sachliche Unzulänglichkeit des Willenstheorems selbst, welche die Kluft zur Praxis verursacht: „Das pandekti1
Vgl. Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff, 372 2 Folgerichtig fordert Baden für die juristische Methodik eine Orientierung an der subjektiven Lehre. Vgl. Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, insbes. S. 197 ff. und öfter
4. Ergebnis
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stische Willensdogma aus der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ist nur noch von historischem Interesse. Es bietet keine zureichende Grundlage für Verständnis und Konkretisierungsinstrumentarium der heutigen Verfassung. Das gilt für jeden Versuch, das Auslegungs- bzw. Konkretisierungsziel als Ermittlung eines,Willens4 zu konstruieren, mag es sich dabei um den subjektiven Willen des Normgebers oder um den sogenannten objektiven Willen der Norm handeln" 3 . Das praktische Abweichen der Gerichte von ihrer eigenen Theorie läßt sich damit nicht als bloße Inkonsequenz verstehen, sondern legt die Frage nahe, ob die von den Gerichten aufgenommene methodische Theorie im Verhältnis zu den Anforderungen praktischer Rechtsarbeit unterkomplex ist und durch eine Theorie der Praxis ersetzt werden muß. Ansatzpunkte für die Richtungsbestimmung einer solchen Neuentwicklung finden sich schon in den Überlegungen der Gerichte selbst. So formuliert etwa das Bundesverfassungsgericht: „Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln" 4 . Ausgehend von der Voraussetzung, daß die im Normtext enthaltene Bedeutung den Gegenstand der Gesetzesbindung darstellt, hätte das Gericht hier annehmen müssen, daß ein altes Gesetz durch ein späteres und davon zu unterscheidendes Gesetz abgelöst wurde 5 . Wenn die Richter statt dessen von einem Wandel der Bedeutung „desselben Gesetzes sprechen, dann unterstellen sie offensichtlich, daß Gegenstand der Bindung richterlichen Handelns der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Zeichenfolge ist. Dieses von der herkömmlichen Lehre abweichende Verständnis der Bindung richterlichen Handelns wird vom Gericht stillschweigend eingeführt, ohne daß der Gegensatz zur programmatischen Selbstverpflichtung auf den vorgegebenen Gesetzesinhalt auch nur im Ansatz diskutiert würde. Diese in der Praxis schon immer latent vorhandene zweite Verständnisvariante der Gesetzesbindung entspricht allerdings sehr viel eher dem wirklichen Vorgehen der Gerichte in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Entscheidungen. In diesem Rahmen kann die durch Kontextualisierung des Normtextes erzeugte Bedeutung als kontrollierte Erzeugung von Rechtsnormen unter den einschränkenden Bedingungen einer verfassungsrechtlich rückgebundenen Argumentationskultur verstanden werden. Diese Neuordnung des kategorialen Rahmens der Gesetzesbindung setzt allerdings voraus, daß man sowohl das von der Theorie der Gerichte aufgenommene Rechtsanwendungsmodell als auch das in der Praxis der Gerichte sichtbare Modell der Rechtserzeugung auf ihre prinzipiellen Implikationen untersucht. 3 4
Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 31 f. BVerfGE 34, 269ff., 288 f. Vgl. dazu Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 32 Christensen
C. Theorie: Die Bindung durch den Inhalt des Gesetzes im Rahmen einer Rechtsanwendungslehre Eine Kommentierung zu Art. 97 GG umschreibt die richterliche Bindung folgendermaßen: „Der Richter ist bei seinen Entscheidungen an den Inhalt der Gesetze gebunden, soweit nicht in den Gesetzen selbst dem richterlichen Ermessen selbst freier Spielraum gelassen ist" 1 . M i t dieser Formulierung wird nahegelegt, daß die richterliche Interpretationstätigkeit einem vorgegebenen Inhalt des Gesetzes unterworfen sei. In einer scharfsinnigen Analyse des Problems der Gesetzesbindung hat Ebsen die Entscheidung für das Modell einer inhaltlichen Bindung durch den Sinn des Gesetzes begründet: „Eine befriedigende Antwort auf die Frage, ob eher der Text oder die Bedeutung als das bindende Gesetz bezeichnet werden soll, wird sich erst finden lassen, wenn Klarheit über den Begriff der Bindung besteht. In der Umgangssprache wird sicherlich von vielen gesagt werden, Bindung an das Gesetz bedeute, daß der Richter es beachten, seine Entscheidung an ihm ausrichten müsse. Wenn man diese Antwort präzisiert, kommt man zu der Explikation: Bindung an das Gesetz bedeutet, daß die Entscheidung des Richters durch das Gesetz inhaltlich festgelegt ist (...). Inhaltliche Determinierung setzt aber voraus, daß das Gesetz ein Gedankeninhalt ist. Das den Richter bindende Gesetz könnte nach diesem Verständnis darum nur der gedankliche Gehalt, der Gesetzessinn sein" 2 . Obwohl Ebsen die Tragweite der Unterscheidung von Text und Bedeutung für die Frage der Gesetzesbindung am deutlichsten herausgearbeitet hat, werden bei der Begründung seiner eigenen Position doch gewisse unreflektierte Vorentscheidungen sichtbar. Sie zeigen sich in der von Ebsen vorgenommenen Auffüllung des Begriffs der Bindung. Dieser Begriff soll die Entscheidung für das am vorgegebenen Sinn des Gesetzes orientierte Modell nahelegen. Ebsen knüpft hier an die Umgangssprache an und präzisiert diese so, daß sie die von ihm gewählte Verständnisvariante der Gesetzesbindung rechtfertigt. Offensichtlich wird damit eine „komplexe Definition" angestrebt, welche aus der Sicht der analytischen Wissenschaftstheorie die Ermittlung eines vorgegebenen Sprachgebrauchs mit einer präzisierenden Definition verbindet 3 . Diese Verknüpfung macht aber gleichzeitig die Schwächen des Arguments deutlich. 1 Holtkotten, in: Bonner Kommentar, Art. 97 I I 2; ähnlich in der Formulierung: Wassermann, in: Alternativ-Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 44f., jedenfalls für den Fall „klarer und eindeutiger Begriffe", die den Generalklauseln entgegengesetzt werden, wo der Richter selbst Recht setze. Kritisch zu dieser Gegenüberstellung: F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 84ff. 2 3
Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 32 Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, 1976, S. 200, 214
C. Theorie der Rechtsanwendung
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Zunächst kann man im Hinblick auf die fehlende Homogenität nicht ohne weiteres von der Umgangssprache ausgehen4. Und selbst wenn man dies könnte, wäre gerade die Umgangssprache als Therapeutikum für philosophische bzw. rechts theoretische Grundlagenprobleme denkbar ungeeignet5. Vor allem aber setzt die analytische Aussage über den Sprachgebrauch voraus, daß in der Sprache objektive Regeln existieren, die empirisch festgestellt werden können 6 . Dieser „Regelplatonismus" ist nicht nur auf der prinzipiellen Ebene fragwürdig 7 , sondern führt auch im konkreten Fall nicht zu einer Lösung des anstehenden Problems. Die als Beispiel herangezogenen Wendungen „beachten" und „ausrichten" 8 sind für die Frage, ob sich die richterliche Bindung auf den Text oder den Sinn des Gesetzes bezieht, gerade nicht trennscharf. Und der unterstützend herangezogene „Fachsprachgebrauch" läßt, wie Ebsen anhand der Diskussion um den Bedeutungswandel von Gesetzen selbst zeigt, gerade beide Möglichkeiten nebeneinander zu 9 . Es wird damit deutlich, daß die von Ebsen vorgeschlagene Präzisierung nicht von einem vorgegebenen Sprachgebrauch her als analytische Bedeutungsermittlung gerechtfertigt werden kann, sondern nur den Vorschlag zu einer Nominaldefinition des Begriffs der Bindung darstellt. Als solche kann sie die Alternativenwahl in bezug auf die Gesetzesbindung gerade nicht begründen, sondern bedarf ihrerseits der Rechtfertigung durch andere Erwägungen 10 . Diese Erwägungen finden sich als implizite und unreflektierte allerdings erst auf den nächsten Seiten. Dort wird ausgeführt: „Gesetzesauslegung ist Ermittlung 4
Die Kritik an der Homogenitätsvorstellung der Sprache wurde vor allem durch die empirischen Forschungen der Soziolinguistik verstärkt, welche in dem vorgeblich einheitlichen Medium der Umgangssprache Soziolekte, Idiolekte usw. unterscheidet. Vgl. zum Begriff Idiolekt: Labov, Einige Prinzipien linguistischer Methodologie, in: ders., Sprache im sozialen Kontext, hrsgg. von Dittmar/Bieck, 1980, S. 1 ff., 12; D. Hymes, Die Ethnographie des Sprechens, in: ders., Soziolinguistik, hrsgg. von Coulmas, 1979, S. 29 ff., 88. Überblick und weitere Nachweise bei Schlieben-Lange, Soziolinguistik, 2. Aufl. 1978, S. 72 ff. 5 Derrida weist darauf hin, daß die „Alltagssprache" weder harmlos noch neutral ist, sondern die abgesunkenen Implikationen der abendländischen Metaphysik transportiert. Vgl. Derrida, Semiologie und Grammatologie. Ein Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 55. Die Vorstellung, daß wir in der „heilen Welt" der Normalsprache immer schon verständigt wären und bei Störungen einfach auf diese sichere Grundlage rekurrieren könnten, würde gerade die für die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft konstitutive Unterscheidung von normalem und nicht normalem Diskurs zerstören. Vgl. zu dieser Unterscheidung: Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, 1987, S. 417ff. 6 7
Vgl. dazu Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, 1976, S. 215 und 199ff.
Vgl. dazu am Beispiel von Koch die entsprechende Kritik bei Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 8 Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 32 9 Ebd. 10 Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, 1976, S. 190 5*
C. Theorie der Rechtsanwendung
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des Gesetzessinns, des bindenden Gesetzes. (...). Dieses — mit dem Begriff des bindenden Gesetzes mitgesetzte — Auslegungskriterium gibt die Möglichkeit, Art und systematische Einordnung der Fremdbestimmung der richterlichen Entscheidung so zu erörtern, wie dies traditionell geschieht: als ein Problem der Gesetzesauslegung"11. Das Wort,traditionell' ist hier verräterisch. Es liegt eine alte und bisher kaum hinterfragte Tradition der juristischen Methodenlehre in der Annahme, daß die Rechtsnorm als tragender Leitsatz einer Entscheidung schon im Normtext vorgegeben sei 12 . Vermittels der Erkenntnis eines vorgegebenen Textsinns wird das, was immer schon als Geist im Buchstaben enthalten war, vom Rechtsanwender lediglich herausgefunden oder ausgelegt. Diese nicht hinterfragte Tradition steuert die Entscheidung Ebsens zugunsten des Modells einer Bindung durch den vorgegebenen Inhalt des Gesetzes. Der Textsinn erscheint hier als aktiv und bestimmend; er ist Grund der Determination. Soweit der Sinn des Textes reicht, ist der Richter demgegenüber fremdbestimmt, er ist beschränkt auf die Rolle als Mund des sprechenden Textes. Der Richter stellt den tragenden Leitsatz nicht aktiv her, sondern findet ihn in passiver Erkenntnis des Textsinns vor. 1. Sprachliche Grenze: Kann die Lehre von der Wortlautgrenze eine objektiv vorgegebene Bindung garantieren? In der positivistischen Rechtsanwendungslehre kommt dem grammatischen Konkretisierungselement eine zentrale Rolle zu: es soll als sprachliche Bedeutung das Sprechen des Richters inhaltlich determinieren oder doch mindestens diesem Sprechen eine „natürliche", in der Sprache vorgegebene Grenze ziehen. Durch Rekurs auf den Rechtsbegriff, Nachschlagen im Lexikon oder Vergegenwärtigen des Fachsprachgebrauchs macht sich der Richter den Bedeutungsgehalt des Normtextes und damit auch gleichzeitig die äußerste Grenze der möglichen Auslegung deutlich. Diese Wortlaut- oder, präziser formuliert, Wortsinngrenze 1 soll sicherstellen, daß die Entscheidung des Richters an das Gesetz gebunden bleibt. Aber kann die Wortlautgrenze wirklich die richterliche Bindung sicherstellen? Gibt es überhaupt eine Wortlautgrenze, die der Richter mit seinem Sprechen verletzen oder übertreten könnte 2 ? In der juristischen Methodendiskussion 11
Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 34 Vgl. dazu kritisch F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 35 f. 1 Vgl. dazu Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 32. Weitere Nachweise zu Wortlaut als Wortsinngrenze bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 215, Fn. 52c, sowie S. 232f, Fn. 74a am Ende. Zum Begriff des Wortlauts auch A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlautes, 1960, S. 16 ff. Zur Wortbedeutung als Grenze auch Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 8 ff. 12
2 Die Frage nach der Wortlautgrenze und ihren sprachtheoretischen Voraussetzungen stellen vor allem: Hegenbarth, ebd., S. 146ff., Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 36ff., 101 und öfter
1. Sprachliche Grenze
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werden diese Fragen, sofern sie überhaupt gestellt werden, schnell bejaht. Die Wortlautgrenze sei zwar ein unzulängliches u n d nicht i n jedem F a l l trennscharfes M i t t e l , aber eben das einzige M i t t e l , u m das Gesetzesbindungspostulat überhaupt einfordern zu k ö n n e n 3 . 1.1 Die Lehre vom Rechtsbegriff versucht den Verlauf der Wortlautgrenze festzulegen Die grammatische Auslegung fragt aus der Sicht der herkömmlichen Auffassung nach dem I n h a l t oder der Bedeutung des Gesetzes textes 4 . D i e A n t w o r t auf diese Frage w i l l die juristische Lehre v o m Begriff geben. Die i n der Zeichenkette des Normtextes enthaltenen W ö r t e r sind demnach nur die Ausdrucksseite eines noch verborgenen Inhalts als Begriff. Die Worte des Gesetzes sind „Zeichen für e t w a s " 5 , bloße N a m e n oder äußere Zeichen des i n seiner reinen Bedeutung m i t sich identischen Rechtsbegriffs. D i e Zeichen repräsentieren zwar nicht unmittelbar Objekte der realen Welt, aber doch Gedanken, die dem Gesetzgeber oder dem Gesetz selbst zukommen sollen: „ D i e letztere Bedeutungstheorie scheint i n der Rechtswissenschaft allgemein vorausgesetzt zu werden. N a c h üblicher Auffassung beschäftigt sich die Rechtswissen-
3
Vgl. zum Nachweis der Literatur zur Wortlautgrenze: Hegenbarth, ebd., S. 19 Fn. 10 sowie Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 236 f., Fn. 82 sowie allgemein zum Wortlaut und dem Problem der Eindeutigkeit S. 232f., Fn. 74a. Vgl. dazu Engisch, ebd., Kap. VI, S. 106ff.; mit Reflexion auf sprachliche Fragen: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 71 ff., und 74 ff. Den juristischen Begriffen wird dabei oft eine schärfere Kontur gegenüber dem natürlichen Wortsinn zugeschrieben. Vgl. dazu etwa Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 9. Die Fachsprachendiskussion wird mit weiteren Nachweisen dokumentiert bei Ladnar/v. Plottnitz (Hrsg.), Fachsprache der Justiz, 1976. Ob die Umgangs- oder die Fachsprache dabei den entscheidenden Bezugspunkt juristischer Auslegung darstellen, ist in der Literatur umstritten. Gegen einen Bezug zur Umgangssprache schon Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 463 f., aus der heutigen Diskussion Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 70 f. Anders Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, in: M D R 1958, S. 394 ff. Schünemann, stellt demgegenüber zu Recht fest, daß die Fachsprache immer auf die Umgangssprache verwiesen bleibt. Vgl. dazu B. Schünemann, Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, in: Festschrift für Ulrich Klug, Bd. I: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1983, S. 169ff., 178ff. 4 Vgl. zu der damit herkömmlich verbundenen Repräsentationstheorie vom Wortlaut als Werkzeug des Gedankens: Theo Zimmermann, Der Wortlaut des Gesetzes im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung, in: NJW 1956, S. 1262ff., 1262 m.w.N. 5 Vgl. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 29. Diese Position knüpft an die hermeneutische Überlegung an, daß in der Sprache immer über,etwas' gesprochen werde, und verdinglicht dieses,etwas4 dann zur Sache Recht. Vgl. dazu die Anknüpfung an Gadamer bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 199 f. Kritisch dazu Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 72 mit ausführlicher Kritik unter Bezug auf die Position Wittgensteins, S. 80 ff. Ohne die Verdinglichung zu einer dem Dialog vorhergehenden Sache wird die Vermittlerrolle der Sprache betont bei Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 81 ff. und öfter
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C. Theorie der Rechtsanwendung
schaft nicht mit den im Gesetz erscheinenden Wörtern, sondern mit den dahinterstehenden Begriffen" 6 . 1.1.1 Die herkömmliche Lehre setzt den eindeutigen Begriff als Regel voraus Der Vorschlag, in der grammatischen Auslegung die Wortlautgrenze dadurch einzulösen, daß man nach dem Gehalt der sogenannten Rechtsbegriffe fragt, hat in der juristischen Methodenlehre eine lange Tradition. Die im vorigen Jahrhundert sehr einflußreiche Begriffsjurisprudenz 7 hat unter Anknüpfung an den damaligen Stand von traditioneller Logik und Wissenschaftslehre dem Begriff eine zentrale Stellung in der Rechtswissenschaft zugewiesen: „Wissenschaftliches Denken heißt Herrschaft über das Gegebene dadurch, daß wir es Begriffen unterordnen. Genauso in der Rechtswissenschaft. M i t Hilfe verhältnismäßig weniger Begriffe beherrschen wir die Welt des Rechts" 8 . Allerdings stößt man bei der praktischen Handhabung dieser Rechtsbegriffe rasch auf Probleme, welche die Herrschaft über die Welt des Rechts etwa mit der Frage erschweren, wie dunkel es sein muß, damit man von Nachtzeit sprechen kann, oder wieviele Bäume vorhanden sein müssen, damit man von Rechts wegen einen Wald annehmen kann. Die sprachliche Bedeutung scheint also den juristischen Vorstellungen vom subsumtionsbereiten Rechtsbegriff gewisse Schwierigkeiten zu bereiten. Die juristische Lehre vom Begriff und seinen Unterarten versucht diese im praktischen Rechtsprechen auftretenden Schwierigkeiten in der Handhabung von Rechtsbegriffen zu klassifizieren und dadurch überschaubar zu machen 9 . Zu diesem Zweck wird der Regel-Ausnahme-Mechanismus in Anschlag gebracht. Als Regelfall gilt der in seiner Bedeutung klare und in seinem Umfang bestimmte Begriff, der ohne die Notwendigkeit einer eigenständigen Wertung durch den Richter für die Subsumtion bereitsteht. Die Art und Weise, mit der ein jeweils fraglicher Begriff von dieser Regel abweicht, bestimmt seine Einordnung in der juristischen Begriffslehre. Als eine solche Ausnahme ist zunächst der „unbestimmte Rechtsbegriff" 10 zu nennen, der meist dadurch definiert wird, daß Zweifel über seine Anwendung 6
Schiffauer, ebd., S. 72 Zur Begriffsjurisprudenz als weiterwirkende Grundlage der juristischen Lehre vom Begriff: Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 146ff. 8 Sohm/Mitteis/Wenger, Institutionen des Römischen Rechts, 17. Aufl. 1926, S. 32, Einleitung 7
9 Verschiedene Aspekte zur Einteilung der Rechtsbegriffe benennt Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 6ff. (ζ. B. Grundbegriffe versus konkrete Begriffe, Legalbegriffe versus dogmatische Begriffe usw.). A m wichtigsten ist aber der Aspekt, den Wank als den Grad bezeichnet, wonach die Inhalte feststehen (ebd., S. 7). Dabei wird zumeist der eindeutige Begriff vorausgesetzt, und es werden nur noch die Ausnahmen untersucht. Vgl. hierzu als ein Beispiel aus einer beliebig zu verlängernden Liste: Thaler, Mehrdeutigkeiten juristischer Auslegung, 1982, S. 3 ff.; Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 243 ff., 285ff.
1. Sprachliche Grenze
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bestehen. Der „normative Begriff 4 1 1 bedarf einer Wertung, bevor er im Einzelfall angewendet werden kann. Der „Ermessensbegriff' 12 geht über Unbestimmtheit und Wertbezogenheit noch dadurch hinaus, daß er eine persönliche Einstellung des Rechtsanwenders ins Spiel bringt und gerade erst dadurch eine der Einzelfallgerechtigkeit entsprechende Anwendung ermöglicht. Im Vergleich zu diesen Ausnahmen wird noch einmal deutlich, was hier als Regelfall des sprachlichen Funktionierens von Recht vorausgesetzt wird: Das Recht ist in den Begriffen des Gesetzes eindeutig vorgegeben, ohne die Notwendigkeit von Wertungen kann es der Richter anwenden, wobei er die unpersönliche Einstellung eines Subsumtionsautomaten aufweist. 1.1.2 Die geforderte Trennschärfe ist durch Unbestimmtheit und Wertbezogenheit gefährdet An der begriffsjuristischen Vorstellung von der Rechtsanwendung als weitgehend mechanischer Deduktion aus einer vorausgesetzten Begriffspyramide hat sich im Rahmen der juristischen Methodendiskussion Kritik entwickelt, die in mehreren Schüben versucht, von den Voraussetzungen der Begriffsjurisprudenz Abstand zu gewinnen. Die lnteressenjurisprudenz hat mit ihrer Unterscheidung von Begriffskern und Begriffshof erreicht, daß die Unbestimmtheit zumindest als Teilmerkmal von potentiell jedem Rechtsbegriff anerkannt wird 1 3 . Obwohl diese Konsequenz noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit in der juristischen Begriffslehre gezogen wird, ist damit aber offensichtlich gemacht, daß die von der Begriffsjurisprudenz als Regelfall vorausgesetzte eindeutige Bestimmtheit gerade die Ausnahme zu der umgekehrten Regel darstellt. Nur bei Zahlbegriffen und Terminen besteht jedenfalls ohne besondere Anstrengung der Parteien kein Zweifel über die Anwendbarkeit der Begriffe 14 . Ansonsten ist jeder Begriff nur so lange bestimmt, bis einer der Prozeßbeteiligten das erste zweifelnde Argument vorbringt. Die Konsequenz der von der Interessenjurisprudenz entwickelten Kritik läuft also darauf hinaus, das Regel-Ausnahme-Verhältnis so umzukehren, daß die zweifelsfreie Anwendung eines Begriffs als Ausnahme erscheint. 10 Vgl. neben den schon angeführten Autoren die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 257ff., Fn. 118b, 118c, 119, sowie Cattepoel, Der unbestimmte Rechtsbegriff als Problem der Rechtssprache, in: Rechtstheorie 1979, S. 231 ff. 11 Vgl. die Nachweise bei Engisch, ebd., S. 259, Fn. 120 12 Vgl. ebd., S. 260ff., Fn. 123 m.w.N., sowie Kramm, Rechtsnorm und semantische Eindeutigkeit, Dissertation 1972, S. 78 f. 13 Vgl. hierzu die Nachweise zur Entstehung und juristischer Rezeption der Unterscheidung von Kern und Hof: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 36, Fn. 52. Kritische Diskussion bei Cattepoel, Der unbestimmte Rechtsbegriff als Problem der Rechtssprache, in: Rechtstheorie 1979, S. 231 ff., 234ff. 14 Vgl. aber für mögliche Zweifel auch bei Zahlbegriffen: Cattepoel, ebd., S. 237ff.
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C. Theorie der Rechtsanendung
Die Lehre vom Typus 15 greift die von der Begriffsjurisprudenz vorausgesetzte Wertfreiheit der Rechtsbegriffe an. Die insbesondere von Larenz entwickelte Position wendet sich mit ihrer Unterscheidung zwischen Begriff und Typus gegen die Auffassung der Rechtsanwendung als mechanische Subsumtion unter die art bildenden Merkmale klassiflkatorischer Begriffe 16 . Die klassifikatorischen Begriffe, hier abstrakt allgemeine Gattungsbegriffe genannt, beziehen sich danach nur auf das äußere System der Rechtsordnung und können deren innere wertungsmäßige Einheit nicht sichtbar machen. Dazu bedarf es der Ergänzung durch andere Denkformen, wie das konkretisierungsbedürftige Prinzip und den funktionsbestimmten Begriff (Beispiel: Begriff des Rechtsgeschäfts als Mittel der Privatautonomie). Letzterem kommt die Aufgabe zu, zwischen den Prinzipien und dem äußeren System zu vermitteln. Aufgefächert wird der funktionsbestimmte Begriff nicht durch klassenbildende Merkmale, sondern im Wege einer Typenbildung. Die Gegenüberstellung von Begriff und Typus wird unter anderem damit begründet, daß der Begriff keine Abstufung seiner Merkmale zulasse. Die schroffe Trennung von Begriff und Typus macht die Schwierigkeiten dieser Position deutlich: Zwar gelingt es ihr, die Schwäche der traditionellen Logik und der ihr entsprechenden Begriffslehre aufzudecken. Aber die Ausarbeitung ihrer Alternative legt die logischen und definitionstheoretischen Prämissen der herkömmlichen Lehre immer noch unbefragt zugrunde: „Typen" sind unscharfe Klassenbegriffe und damit eine Abweichung von den allein korrekten klassifikatorischen Begriffen. Deswegen kann die Lehre vom Typus nicht berücksichtigen, daß die moderne Logik und Wissenschaftslehre in den komparativen Begriffen eine Abstufung von Eigenschaften zuläßt 17 , womit die Gegenüberstellung von Begriff und Typus auf dieser Ebene der Begriffslehre nicht schlüssig ist. Trotzdem kann die Lehre vom Typus aber deutlich machen, daß die Rechtsanwendung nicht die mechanische Wiedergabe einer im Text vorgegebenen Bedeutung ohne jeden Wertbezug darstellt. Weder die Sprache des Alltags noch die des Gesetzes ist als neutrales Instrument im technischen Sinn einfach anwendbar. Vielmehr handelt es sich beim Sprechen und auch beim Rechtsprechen um ein Handeln, das Bedeutung erst konstituiert und deswegen nicht in quasi-naturhafter Fixierung von Normen, Wertungen und konfligierenden Bestimmungsversuchen abgetrennt werden kann. Zudem führt die typologische 15 Vgl. dazu die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 255ff., Fn. 118a. Vgl. weiterhin Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 124 ff. Kritisch zur Typenlehre: Kindhäuser, Zur Definition qualitativer und komparativer Begriffe — Eine Entgegnung auf Herschels Typologie im Arbeitsrecht, in: Rechtstheorie 1984, S. 226 ff.; Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, 1977; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 76 ff. 16
Vgl. dazu und zum folgenden Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, Kap. 7, S. 420 ff. 17 Vgl. dazu Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977; Kindhäuser, Zur Definition qualitativer und komparativer Begriffe — Eine Entgegnung auf Herschels Typologie im Arbeitsrecht, in: Rechtstheorie 1984, S. 226 ff.
1. Sprachliche Grenze
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Begriffsbildung mit ihrer Gegenüberstellung von Extremwerten 18 und fallweisen Profilierung der fraglichen Bedeutung zu einer Kritik an der von der klassischen Begriffslehre vorausgesetzten atomistischen Konzeption sprachlicher Bedeutung. Schon die innerjuristische Kritik macht damit zwei wichtige Probleme des Versuchs deutlich, die Gesetzesbindung als Bindung an die im Text vorgegebenen Rechtsbegriffe zu verstehen. Zunächst ist das von der Begriffsjurisprudenz vorausgesetzte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bestimmtem und unbestimmtem Begriff nicht haltbar. Ebensowenig kann die Begriffsbildung und Rechtsanwendung insgesamt von einem schon durch die Sprache vermittelten Wertbezug abgelöst werden. Damit wird aber deutlich, daß die von der klassischen Lehre vorausgesetzte Eindeutigkeit der Rechtsbegriffe nicht als Beschreibung gelten kann, sondern ein bloßes Postulat darstellt. Allerdings weist die innerjuristische Kritik an der klassischen Begriffslehre auch spezifische Schranken auf: Die Begriffsjurisprudenz ging von einem im Gesetzestext fertig vorgegebenen Begriff aus, der sich in ein geschlossenes System einfügt und eindeutig bestimmbar ist. Von diesen Prämissen wird nur die letzte angegriffen. Die ersten beiden Voraussetzungen einer im Text vorgegebenen und sich zu einem geschlossenen System fügenden Bedeutung werden dagegen sowohl von der Interessenjurisprudenz als auch von der Typenlehre weitgehend unbefragt hingenommen. Die unvollständige Reflexion der sprachtheoretischen Bedingungen des klassischen Modells der Wortlautgrenze führt dazu, daß die grundlegende Schwäche der Begriffsjurisprudenz von ihren juristischen Kritikern nicht herausgearbeitet werden kann. Diese grundlegende Schwäche findet in der oftmals fehlenden Eindeutigkeit und dem nicht zu vernachlässigenden Wertbezug nur ihren besonders sichtbaren Ausdruck als Symptom. Tatsächlich ist sie aber schon in der Ausgangsfragestellung der Begriffsjurisprudenz enthalten. Die von der positivistischen Rechtsnormtheorie übernommene Auffassung, daß die sprachliche Bedeutung als Grenze der Auslegung schon im Text vorgegeben sei, führt dazu, nach einem Ding zu suchen 19 , in welchem sich diese Bedeutung verkörpert. Die juristische Lehre vom Begriff ist die Antwort auf diese schon im Ansatz verfehlte Frage. Statt nach einer Grenze als vorgegebenem Ding zu suchen, wäre das Funktionieren der fraglichen Texte, ihre Verwendungsweise herauszuarbeiten 20. So aber führt die zur Wortlautgrenze überhöhte Lehre vom Begriff ins Niemandsland von 18 Vgl. dazu Zippelius, Der Typenvergleich als Instrument der Gesetzesauslegung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2, 1972, S. 482 ff. 19 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 139. Vgl. zur Darstellung von Wittgensteins Position: E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 1980, S. 32 ff. und öfter. In der juristischen Diskussion wurden diese Überlegungen aufgenommen von Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 80ff. 20 Vgl. dazu F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 34 f. und öfter, ähnlich: Glaser, Sprachphilosophie und rechtswissenschaftliche Begriffsbildung, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2, 1972, S. 246ff., 246
C. Theorie der Rechtsanwendung
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Scheinproblemen: „Einerseits ist der Wortlaut immer eindeutig, nämlich der bezeichnete Begriff. Über seine Auslegung in die Sprache werden andererseits mehrere Meinungen bestehen. Da alle diese Meinungen sich auf den nicht unmittelbar gegebenen Begriff berufen können, ist die Vielfalt der Meinungen prinzipiell unbegrenzt. Die Rede von der Grenze des Wortsinns wird damit sinnlos: Sie begrenzt nichts, bleibt Gedankenkonstrukt ohne Wirklichkeit" 2 1 . 1.1.3 Neuere Ansätze wollen den Rechtsbegriff der Semantik reformulieren
mit Hilfe
M i t dem expliziten Anspruch, die sprachtheoretischen Voraussetzungen des Konzepts der Wortlautgrenze zu untersuchen, treten in der juristischen Methodendiskussion Ansätze auf, die sich um Bezüge zu Sprachphilosophie und Linguistik bemühen 22 . Aus der Kritik an der klassischen Lehre vom juristischen Begriff ziehen diese neueren Ansätze die Konsequenz, es genüge nicht, das Regel-Ausnahme-Verhältnis von bestimmtem und unbestimmtem Begriff umzukehren oder die Lehre vom Begriff durch eine Lehre vom Typus zu ergänzen. Dabei wird der Interessenjurisprudenz entgegengehalten, daß sie kein Kriterium für die Unterscheidung von Begriffskern und Begriffshof entwickelt habe 23 , und gegen die Lehre vom Typus wird eingewendet, daß sie unter Mißachtung neuerer wissenschaftstheoretischer Entwicklungen zu schnell die Begriffslehre durch eine Typenlehre ersetze 24. Trotz dieser Metakritik von Einwänden und Gegenpositionen zur Begriffsjurisprudenz ist aber die Notwendigkeit zur Neubegründung der juristischen Begriffslehre nicht bestritten. Als Kriterium für diese Neubegründung und auch als Maßstab für die Einteilung wird dann ein an logischen Idealsprachen orientiertes Präzisionspostulat eingeführt 25 . Danach sind vage Begriffe zu unterscheiden 26 (gekennzeichnet durch neutrale Kandidaten, die weder positiv noch negativ der Extension des Begriffs zugeordnet werden können), mehrdeutige Begriffe (mit je nach Kontext verschiedenen Verwendungsregeln), inkonsistente Begriffe (die von verschiedenen Sprechern innerhalb einer Sprachgemeinschaft nach unterschiedlichen Regeln verwendet werden). Diese Einteilung beansprucht eine semantische zu sein 27 , wobei sie 21
Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 76 Vgl. dazu die schon zitierten Arbeiten von Koch und der an ihn anschließenden Autoren 23 Vgl. Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders. (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 15 ff., 27 24 Vgl. dazu vor allem: Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977 25 Vgl. zur Kritik an der Position Kochs grundsätzlich: Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 26 Vgl. zur Klassifikation: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff. 27 Ebd., S. 188: „Ermittlung des semantischen Gehalts". 22
1. Sprachliche Grenze
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allerdings nicht beschreibt, was die Bedeutung von Ausdrücken ist, sondern postuliert, wie die Bedeutung sein solle, nämlich fest, beständig und nach wahr-/ falsch-Kriterien anwendbar 28 . Auf dieser Grundlage soll es dann möglich werden, die von der Interessenjurisprudenz vorgeschlagene Unterscheidung von Begriffskern und Begriffshof mit Hilfe genauer semantischer Kriterien zu präzisieren. Die der logischen Semantik entnommene Unterscheidung von positiven, negativen und neutralen Kandidaten könne in der praktischen Rechtsarbeit einen Bereich der Bedeutungsermittlung von einem Bereich der Bedeutungsfestsetzung abgrenzen. Während die Bedeutungsfestsetzung etwa im Einklang mit gesetzgeberischen Zwecken zu vollziehen sei, soll die Bedeutungsermittlung so erfolgen, daß die Begriffsmerkmale (Intension) über die Eigenschaften des erfaßten Gegenstands (Extension) festgestellt werden. Obwohl also die Vorstellung „vom Richter als einem rein passiven Gesetzesanwender, der im Zuge seiner Auslegungstätigkeit lediglich den im Gesetz immer schon verborgenen semantischen Gehalt desselben hervorholt" 29 gerade verlassen werden soll, wird doch für den Bereich des Begriffskerns an der positivistischen Theorie von einer im Normtext vorgegebenen objektiven Bedeutung festgehalten. Die grammatische Auslegung besteht für diese Position in der Fixierung von Begriffsmerkmalen und der Bestimmung ihres Inhalts dadurch, daß der Richter über eine Analyse des Wortgebrauchs die dem Referenzgegenstand des juristischen Begriffs zukommenden Eigenschaften feststellt und dann vergleicht, ob der Sachverhalt diese Eigenschaften enthält. Dabei handelt es sich um eine leicht verfremdete Beschreibung des gesetzespositivistischen Subsumtionsmodells30. Verschwiegen wird aber, daß in die Eigenschaftsbestimmung intuitive Vorentscheidungen über die Bedeutung der Worte eingehen, welche nachher als entdeckte Eigenschaften nur verkleidet werden 31 . Ebenso zirkulär wie der Gesetzespositivismus, der im geschlossenen Zusammenhang der Rechtsordnung die angeblich vorgegebene Entscheidung des Falles entdeckt, wird hier im Wege der Ermittlung der Intension über die Extension des Begriffs nur das eigene Vorurteil entdeckt 32 .
28 Vgl. zur Kritik auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 107ff., llOff. 29 Koch/Trapp, Richterliche Innovation — Begriff und Begründbarkeit, in: Harenburg/Podlech/Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, S. 83 ff., 107 30 Vgl. zur Aufnahme des herkömmlichen Justizsyllogismus bei Koch auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 258 ff., 262, 287 31 Vgl. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, im Erscheinen 1989, Teil 2; F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 287 ff.; Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 86 ff. Grundsätzliche Auseinandersetzung mit der von Koch bei Carnap aufgenommenen intensionalen Semantik bei Bickes, Theorie der kognitiven Semantik und Pragmatik, 1984, etwa S. 60, 82 und öfter 32
Vgl. dazu Busse, ebd.
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Gerade bei diesem Ansatz wird die Schwierigkeit eines Versuchs deutlich, das begriffsjuristische Subsumtionsideal durch eine bloße Änderung der Begrifflichkeit zu überwinden. Die im Rahmen einer terminologisierten Wissenschaftssprache entwickelten Erkentnisse werden auf die Probleme praktischer Rechtsarbeit übertragen, ohne die Voraussetzungen einer solchen Übertragung noch zu überprüfen. U m die Zweckmäßigkeit eines solchen Postulats fester, beständiger usw. Bedeutung zu beurteilen, muß man berücksichtigen, daß die Rechtssprache keine vollständig terminologisierte Wissenschaftssprache 33 ist. Nur im Rahmen einer Ideal- oder Kunstsprache läßt sich jedoch kommunikative Sinnkonstitution auf die Erklärung abstrakter Zeichenbedeutungen reduzieren. Im Rahmen einer solchen Wort- oder Begriffssemantik sind dann tatsächlich alle Ausdrücke der natürlichen Sprache vage, inkonsistent oder mehrdeutig, und es läßt sich auch nicht der Zusammenhang von empirischem Wissen und Bedeutungswissen thematisieren 34. Erst auf der Ebene des Textes ist eine Referenzanweisung auf einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt und eine Konsequenzanweisung auf einen bestimmten Zweck erkennbar 35 . Trotz des Versuchs, Abstand zu den Prämissen der Begriffsjurisprudenz zu gewinnen, bleibt der an der logischen Semantik orientierte Ansatz seinem Widerpart immer noch verhaftet. Das Gemeinsame zwischen der Vorstellung juristischer Begriffsbildung als formallogischer Deduktion und der „semantischen" Position besteht darin, daß ein Bereich angenommen wird, worin die Rechtsbegriffe eindeutig bestimmte und undiskutierbare Daten liefern. Selbst die Konstruktion „semantischer" Ausnahmen schränkt den Geltungsbereich dieses Modells lediglich durch eine Hilfshypothese ein. Das begriffsjuristische Paradigma wird dadurch aber noch nicht verlassen. Durch bloße Differenzierungen auf der Ebene der Begriffe ist die implizite Sprachtheorie der Begriffsjurisprudenz noch nicht überwunden. Auch die an der logischen Semantik orientierten neuen Ansätze reflektieren diese Sprachtheorie nicht, sondern explizieren sie nur als Bedeutungstheorie. Dies wird besonders deutlich, wenn dieser Ansatz sein eigenes Konzept der Wortlautgrenze formuliert: Danach ergibt sich die Wortlautgrenze als Einlösung des Gesetzesbindungspostulats anhand der im Normtext fertig vorgegebenen sprachlichen Bedeutung. Die äußere Grenze kann zwar den gestaltenden Aspekt juristischer Entscheidungen nicht vollständig in sprachliche Notwendigkeit auflösen, aber der semantische Ansatz scheint doch einen festen Kern als Inhalt der Gesetzesbindung auszuzeichnen. Dieser soll es ermöglichen, eine Entscheidung „im Einklang mit dem semantischen Gehalt des Gesetzes"36 zu
33 Vgl. dazu auch Kramm, Rechtsnorm und semantische Eindeutigkeit, Dissertation 1971, S. 84 ff. 34 Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 289f. 35 Vgl. dazu Kallmeyer/Klein/Meyer-Hermann/Netzer/Siebert, Lektürekolleg zur Textlinguistik, Bd. 1: Einführung, 1974, S.44ff.
1. Sprachliche Grenze
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treffen. Damit kommt der an der Semantik orientierte Ansatz dem juristischen Traum vom universellen sprachlichen Code entgegen. Und die Anziehungskraft seiner Semantik wird da noch besonders verstärkt, wo der um die Wortlautgrenze zentrierte „wissenschaftliche" Kern der Jurisprudenz gerettet werden soll: „Damit der Wortlaut zur begrenzenden und falsifizierenden Größe taugt, muß er unabhängig von den Findungsmomenten und Konkretisierungselementen, die er begrenzen soll, und unabhängig von den gefundenen und konkretisierten allgemeinen Aussagen, die zur Falsifikation gestellt werden sollen, ermittelt werden. Für diese Ermittlung wichtiges Instrumentarium hat Koch (...) aus der analytischen Sprachphilosophie in die juristische Methodologie eingebracht" 37 . Koch wird das Verdienst zugeschrieben, den Bedeutungsbegriff geklärt zu haben, indem er auf die Regeln des Sprachgebrauchs hinwies: „Diese semantischen Regeln bestimmen die Bedeutung eines Worts, indem sie die Bedingungen angeben, bei deren Vorliegen das Wort anwendbar und bei deren NichtVorliegen es unanwendbar ist. Sind diese empirisch zu ermittelnden Regeln klar, dann stehen auch die Bedeutung und damit die begrenzende oder falsifizierende Leistung des Wortlauts fest. Sind sie dagegen unklar, dann scheint es, als könne der Wortlaut eine begrenzende und falsifizierende Funktion nicht erfüllen. Diesen Schein zerstört Koch, indem er die verschiedenen Arten der Unklarheiten näher untersucht (...)" 3 8 . Die Regeln der Sprache werden hier als Rechtsregeln behandelt. Sie bestimmen als platonische Entitäten die Bedeutung eines Wortes, und wer ihre Grenzen überschreitet, handelt rechtswidrig. Es gibt also ein Sprachgesetzbuch, und sein Inhalt ist empirisch zu gewinnen. Mit dem Begriff „empirische Ermittlung" fangen allerdings die Probleme an, welche die scheinbar so feste Basis ins Wanken bringen.
1.2 Die Lehre von der im Text vorgegebenen Wortlautgrenze scheitert an den sprachlichen Bedingungen
In der juristischen Methodendiskussion gibt es im wesentlichen drei Vorschläge für die empirische Einlösung der gesuchten Wortlautgrenze, die einzeln oder sogar nebeneinander zur Anwendung kommen sollen 1 . Der einfachste und auch häufig in der Rechtsprechungspraxis aufgenommene Vorschlag ist der, zur Klärung der fraglichen Bedeutung in einem anerkannten Wörterbuch der deutschen Sprache nachzuschlagen2. Geradezu kompliziert nimmt sich demge36
Vgl. dazu Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders., Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 15 ff., 58 ff. 37 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion und der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 100 38 Ebd., S. 100 f. 1 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff. 2 Vgl. zur Wörterbuchbenutzung in der Rechtsprechungspraxis: BGH, in: JZ 1961, S. 494ff.; BGH, in: NJW 1967, S. 343 ff., 346; BGHSt 22, S. 14, 16.
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genüber der Vorschlag aus, durch Besinnung auf die eigene Sprachkompetenz den Stellenwert des fraglichen Ausdrucks im System des (Fach-) Sprachgebrauchs zu bestimmen3. Schließlich wird auch noch vermutet, es ließen sich empirische Feststellungen über die Regeln des Sprachgebrauchs treffen 4 . Jeder dieser Vorschläge führt zu spezifischen sprachtheoretischen Aporien, die im folgenden diskutiert werden sollen. 1.2.1 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch Nachschlagen im Wörterbuch ergründen Nach einer in der Methodenliteratur vertretenen Auffassung führt die grammatische Auslegung zur lexikalischen Bedeutung des fraglichen Ausdrucks. Durch Nachschlagen in Wörterbüchern kann der Jurist diese lexikalische Bedeutung ohne weiteres ergründen. Eine weitere Auslegung oder Konkretisierung ist dann nur noch insoweit möglich, als ihr Ergebnis der Aussage des Wörterbuchs nicht widerspricht und die damit gezogene Grenze nicht verletzt. Diese juristische Vorstellung, durch Nachschlagen in einem Wörterbuch Streitfragen der Auslegung bündig zu entscheiden oder jedenfalls der Variationsbreite des Verstehens feste Grenzen zu ziehen, geht implizit von einem bestimmten Konzept der Bedeutung aus. Die Bedeutung ist danach statisch, haftet dem Wort selbst an und ist von der nur äußerlich hinzutretenden Verwendungssituation unabhängig. Die fragwürdigen „wortsemantischen" Voraussetzungen dieser Vorstellung hat in der juristischen Diskussion schon Hegenbarth 5 ausführlich entwickelt, so daß die Darstellung des Verhältnisses von Wort und Text hier unterbleiben kann. Vor allem läßt sich aber aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht behaupten, daß die bei der Grenzwirkung der lexikalischen Bedeutung vorausgesetzte Eindeutigkeit dem Wort selbst anhafte. Eindeutigkeit ist höchstens das Ergebnis einer konkreten Verwendung der Äußerungskette in einer konkreten Situation 6 . Die Konstitutionsmechanismen gesellschaftlicher Erfahrung, welche einer konkreten Argumentationsgemeinschaft die Beurteilung von Eindeutigkeit oder Zweifelhaftigkeit einer bestimmten Bedeutungszuweisung ermöglichen, übergreifen das einzelne Wort und sind von diesem her nicht zu erschließen 7. Genau wie die anderen Kanones der Auslegung auch führt die grammatische Auslegung damit nicht zu feststehenden Daten, sondern eröffnet nur Fragerichtungen 8 . Im Kern besteht die Kunst der Juristen in einer Gebrauchsbeispiel3
Vgl. dazu etwa Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 34 und öfter 4 Vgl. dazu Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 100 f. 5 Vgl. zur Kritik an wortsemantischen Vorstellungen: Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 86 ff. 6 Vgl. dazu Busse, Historische Semantik, 1987, S. 55 7 Ebd., sowie S. 57. Vgl. auch Kap. 9 zur Rolle der Diskurse
1. Sprachliche Grenze
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erzählung. Diese Beispiele werden paradigmatisch eingesetzt und sind nicht ohne weiteres in eine vorhandene oder empirisch schlicht feststellbare Regel auflösbar. Das Ergebnis dieser Analyse des grammatischen Konkretisierungselements konvergiert mit Entwicklungen in der Lexikographie und lexikalischen Semantik 9 . Auch dort wird der Lexikoneintrag zunehmend als offene Aufzählung von Beispielen und gerade nicht als Grenze zulässiger Verwendung verstanden. Ein sozusagen natürliches Konzept von Wörtlichkeit und zulässiger Verwendung, auf das sich die Juristen bei ihrer Suche nach der Wortlautgrenze stützen könnten, ist somit nicht ersichtlich. Es ist zwar gut und nützlich, wenn Juristen bei Zweifeln über den Sprachgebrauch in Wörterbüchern nachschlagen. Aber sie finden dort nicht die von der Sprache vorgegebene und von den Lexikographen aufgeschriebene Grenze zulässigen Sprechens, sondern sie finden viel eher Anregungen für bisher nicht bedachte Verständnisvarianten und Hinweise auf vorher vielleicht übersehene Kontexte. So einfach läßt sich die Verantwortung für die Beurteilung von Auslegungsvarianten nicht abschieben. 1.2.2 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch Besinnen auf den Wert des Zeichens im Sprachsystem auffinden Statt das Wörterbuch zur Hand zu nehmen, könnte man sich allerdings auch einfach zurücklehnen und die eigene oder notfalls fachliche Sprachkompetenz befragen. Auch diese sogenannte Lehnstuhlmethode 10 wird in der juristischen Methodendiskussion zur Einlösung des Konzepts der Wortlautgrenze immer wieder vorgeschlagen. Während die Lehre vom Typus noch das „Ganze" oder hermeneutisch die Totalität der Rechtssprache für das Verstehen des einzelnen Ausdrucks heranziehen wollte 1 1 und es der Rechtsphilosophie überließ, das Ganze als „Idee der Gerechtigkeit" zu fassen, beziehen sich neuere Ansätze auf den langue-Begriff Saussures12 oder sogar die ideale Kompetenz im Sinne der 8 F. Müller bezeichnet die klassischen Kanones juristischer Auslegung als „abkürzende Bezeichnungen für bestimmte Untersuchungsrichtungen" (F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 167) 9 Vgl. zum Selbstverständnis der neueren Lexikographie: Wiegand/Wolski, Lexikalische Semantik, in: Althaus/Henne/Wiegand (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, 2. Aufl. 1980, S. 199 ff., insbes. Abschnitt D, S. 205 ff. m. w.N. Aus juristischer Sicht hat Hegenbarth das Selbstverständnis der Lexikographie gegen bestimmte juristische Verkürzungen verteidigt, wobei auch hier literaturerschließende Hinweise zu finden sind: Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 132 ff. Vgl.weiterhin Gizbert-Studnicki, Lexicography and Interpretation of Law, in: ARSP 1977, S. 161 ff. 10 Vgl. zum Stichwort Lehnstuhl: Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 190. Kritisch zum kryptonormativen Charakter einer solchen Sprachbeschreibung: Hegenbarth, ebd., S. 51 und 48 ff. m.w.N.; weitere Kritik auch bei U. Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1978, S. 71 ff. 11 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 310 ff.
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Transformationsgrammatik 13 . Für die Begriffsjurisprudenz stand noch der isolierte Rechtsbegriff im Vordergrund, wobei die Zusammenfassung zur Pyramide 14 nur formallogische Beziehungen und nicht sprachliche Beziehungen der Bedeutungsprofilierung zum Ausdruck bringen sollte. Diese atomistische Konzeption der Bedeutung wird hier zugunsten einer Betrachtung der Sprache des Rechts als Totalität oder System überwunden. Erst im System des Rechts erhält der einzelne Begriff seine Bedeutung. Und nur von einer umfassenden Kenntnis des Systems her läßt sich eine fraglich gewordene Bedeutung bestimmen. Unter dieser Voraussetzung könnte man jeden Streit um die Auslegung eines Normtextes dadurch beenden, daß man auf den zweifelsfreien Wert der fraglichen Zeichen im System des Rechts rekurriert. Das System der sprachlichen Möglichkeiten ist aber als solches der Erkenntnis nicht unmittelbar zugänglich. Man muß vielmehr, um die langue-Bedeutung zu gewinnen, die Zeichen zunächst als Teil der parole untersuchen 15 . Das Wort muß in Texten und Kontexten untersucht werden, ehe man das Abstraktum der langue fixieren kann. Erst aus den unterschiedlichen Bedeutungen, die das Zeichen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten erhält, läßt sich die langue-Bedeutung ableiten. Weil dabei nicht von vornherein bestimmte Verwendungsweisen oder Kontexte außer acht gelassen werden können, stößt man schon bei streng immanentem Vorgehen auf Probleme bei der Fixierung des hier vorausgesetzten Sprachsystems. Der Sprachphilosoph Friedrich Waismann beschreibt diese Probleme folgendermaßen: „Ein Ausdruck ist dann definiert, wenn die Situation beschrieben ist, in die er gebracht werden soll. Nehmen wir für einen Augenblick an, wir könnten Situationen vollständig und ohne etwas auszulassen, beschreiben (wie beim Schachspiel), dann ließe sich eine erschöpfende Liste all der Bedingungen aufstellen, unter denen der Ausdruck zu gebrauchen ist: wir würden mit anderen Worten eine vollständige Definition konstruieren, d.h. ein Denkmodell, das ein für alle Mal sämtliche Fragen eines möglichen Gebrauchs vorwegnimmt und entscheidet. Da wir aber in Wahrheit nie die Möglichkeit eines unvorhergesehen auftauchenden Faktors ausschließen können, gelangen wir nie zur absoluten Sicherheit" 16 . In der juristischen Methodendiskussion wird versucht, dem von Waismann hier angesprochenen Phänomen dadurch Rechnung zu tragen, daß man 12
Vgl. dazu Schroth, Zur Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 34 und öfter 13 Garstka, Zum Beitrag der Linguistik zur rechtswissenschaftlichen Forschung, in: Rechtstheorie 1979, S. 92ff., insbes. S. 96ff. 14 Vgl. zur Begriffspyramide die Darstellung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, Kap. 2 des historisch-kritischen Teils 15 Vgl. zum methodischen Ansatz der strukturalistischen Linguistik: Brekle, Semantik, 1972, S. 50 ff. 16 Waismann, Verifizierbarkeit, in: Bubner (Hrsg.), Sprache und Analysis — Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, 1968, S. 154ff., 160 f.
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gewissen Begriffen im juristischen Sprachspiel die Eigenschaft der „Porosität" zuschreibt 17 . Danach können wir bei Porosität über die Anwendbarkeit eines Ausdrucks nicht nach objektiven Kriterien entscheiden, weil neue Erfahrungen oder Entdeckungen die vorher präzise feststehenden Verwendungsregeln auf einmal in Frage stellen. Neue Entdeckungen machen demnach einen vorher präzisen Begriff vage, so daß Porosität als potentielle Vagheit begriffen werden kann. Bei dieser Konstruktion wird vorausgesetzt, daß die Sprache, abgesehen von der punktuellen und leicht regulierbaren Bedrohung durch neue Entdeckungen, ein geschlossenes System bildet, das über die Sprachkompetenz zugänglich ist und den Streit über die Verwendung von Worten auf einer objektiven Grundlage entscheidbar macht. Aber ist die Vorstellung eines jedenfalls unter Außerachtlassung des zu neuen Entdeckungen führenden Zeitfaktors als geschlossen zu betrachtenden Systems der Sprache haltbar? Schon die Untersuchung dieser Frage anhand der Fachsprache führt zu Problemen, welche die Vorstellung eines geschlossenen Systems dementieren. Es müßte sich dann nämlich ein distinkter Bereich sprachlicher Mittel ausmachen lassen, der von einer umfassenden Gemeinsprache oder anderen sprachlichen Untersystemen klar unterscheidbar wäre. Das bloße Aussprechen dieser Voraussetzung macht die mangelnde Möglichkeit ihrer Einlösung bereits deutlich: das juristische Handeln und Sprechen umfaßt und bearbeitet fast sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und muß schon zur Formulierung von Sachverhaltserzählungen und Tatbeständen die jeweils besonderen Sprachzeichen dieser Lebensbereiche einbeziehen. Von einem distinkten System der Fachsprache kann deswegen keine Rede sein. Höchstens die Gemeinsprache könnte dann noch als geschlossenes System angesehen werden, welches die Probleme des Juristen an dessen Stelle löst. Aber auch insoweit erweist sich die Vorstellung eines geschlossenen Systems mit eindeutig bestimmten Werten der Einzelzeichen als bloße Verdinglichung eines bestimmten methodischen Ideals, das praktisch nicht einlösbar ist. Die strukturelle Unabgeschlossenheit der Sprache zeigt sich besonders klar bei der juristischen Verwendung des grammatischen Konkretisierungselements. Sein praktisches Funktionieren widerlegt die positivistische Vorstellung von der in der Textbedeutung vorgegebenen Sinngrenze. Die erste Schwierigkeit dieser gesetzespositivistischen Position zeigt sich dabei schon bei der Abgrenzung von grammatischem und systematischem Element. Diese Abgrenzung wäre vollständig nur möglich, wenn dem einzelnen juristischen Begriff schon für sich eine positive Bedeutung anhaften würde 18 . Tatsächlich läßt sich aber die Bedeutung eines bestimmten Begriffs nur differentiell bestimmen als Gesamtheit der 17 Vgl. dazu und zum folgenden: Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders. (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 15 ff., 45 ff. 18 Vgl. zur Kritik an dieser sog. Gegenstandstheorie der Bedeutung: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 80 ff.
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Unterschiede zu den Bedeutungen aller anderen Begriffe 19 , so daß das grammatische Konkretisierungselement notwendig auf das systematische Element übergreifen muß 2 0 . Diese différentielle Bedeutungsbestimmung gesetzlicher Ausdrücke wird von der juristischen Dogmatik wahrgenommen und kommt am deutlichsten in der Kommentarliteratur zum Ausdruck. Eine genaue Betrachtung der juristischen Dogmatik und ihres Meinungsstreits ergibt allerdings, daß es keine natürliche Grenze für diesen Bedeutungsdifferenzierungsprozeß gibt. Jede neue Fallkonstellation kann vielmehr das System der differentiellen Bedeutungsbestimmungen verschieben. Denn an jeden einzelnen Term A läßt sich eine Kette von negativ zu bestimmenden Termen (-B, -C, -D usw.) anhängen, die intern ebenso strukturiert sind und deren Menge unabsehbar und offen ist 2 1 . Daher kann das System einer Sprache oder eines Textes nicht als geschlossen betrachtet werden 22 , sondern durch jede Interpretation kann das vorhandene Zeichenmaterial neu und anders differenziert werden. Dieses Problem der mangelnden Beherrschbarkeit des dogmatischen Differenzierungsprozesses verweist also auf das schon von Schleiermacher gesehene Problem der „Unendlichkeit der Sprache" 23 . Die von Manfred Frank vorgenommene Reformulierung des grammatischen Elements in Kategorien des taxonomischen Strukturalismus 24 kann dieses Problem konkreter als entgrenzte Ökonomie semantischer Oppositonen bestimmen und damit die auch in der juristischen Kritik an der Leistungsfähigkeit des grammatischen Konkretisierungselements 25 gewonnene Einsicht bestätigen, daß dieses Element keine natürliche Grenze für den Differenzierungsprozeß der Semantik juristischer Texte aufweisen kann. In der entgrenzten Ökonomie semantischer Opposition liegt damit der Grund, daß auch mit Hilfe des Sprachsystems das positivistische Modell der vorgegebenen Wortlautgrenze nicht eingelöst werden kann. 19 Diesen für jedes Zeichensystem gültigen Zusammenhang arbeitet unter Auseinandersetzung mit dem klassischen Strukturalismus heraus: Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 6ff., 15 ff. 20 Vgl. zum notwendigen Zusammenhang der Konkretisierungselemente: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 152 f., 167 f., insbesondere zum Zusammenhang von grammatischem und systematischem Konkretisierungselement: ebd., S. 159f., 164 21
Vgl. dazu Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 560und ff.; ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 262ff. 22 Vgl. dazu schon vom Standpunkt der strukturalistischen Textlinguistik: Coseriu, Textlinguistik, 1981, S. 111 ff., 151 f. Derrida kommentiert in seiner Auseinandersetzung mit Searle eine den Textsinn abschließende Position wie folgt: „Selbst wenn man das eine oder das andere in einer Textäußerung versteht, bleiben noch immer tausend Möglichkeiten offen." (Derrida, Limited Inc..., in: Glyph 2 (1977), S. 162ff., 201) 23
Vgl. dazu Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 1977, S. 80 f., 94,196 und öfter Vgl. dazu Frank, Textauslegung, in: Harth/Gebhardt (Hrsg.), Erkenntnis der Literatur, 1982, S. 123 ff. 25 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 150ff.; ders., ,Richterrecht 4, 1986, S. 80 ff. 24
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î.2.3 Die Wortlautgrenze läßt sich nicht durch empirische Feststellungen über den Sprachgebrauch einlösen Ein dritter Vorschlag zur Einlösung der gesuchten Wortlautgrenze will empirische Feststellungen über den Sprachgebrauch zur Grundlage machen 26 . In diesem Vorschlag stecken grundlegende Mißverständnisse, die den Begriff der sprachwissenschaftlichen Empirie betreffen. Zunächst verlangen die Juristen von der sprachwissenschaftlichen Empirie eine klare Abgrenzung von Bedeutungsermittlung und Bedeutungsfestsetzung. Die Bedeutungsermittlung soll dabei auf objektive, nicht interpretationsbedürftige Daten gestützt werden, während die Festsetzung ein nicht mehr als bloße Erkenntnis zu rechtfertigendes Moment von Interpretation enthält. Wenn diese Frage ernsthaft untersucht wird 2 7 , ist schnell ersichtlich, daß der Wunsch, über semantische Regeln zu einer festen und interpretationsfreien Basis für das Problem der Gesetzesbindung zu gelangen, nicht einlösbar ist. Selbst wenn man Beobachtungen über den Sprachgebrauch als Basissätze gelten lassen wollte, ist wegen des in jeder Beobachtung enthaltenen interpretativen Elements die von den Juristen gesuchte Objektivität noch nicht gewährleistet. Für die Abgrenzung von theoriefreier Beobachtung des Sprachgebrauchs und interpretationsbelasteter Festsetzung muß diese Auffassung vielmehr die gesamte gegenteilige Entwicklung der Wissenschaftstheorie von Kuhn über Popper und Stegmüller bis hin zu Carnap zurücknehmen 28 . Dies zeigt, daß es sich bei dieser Position um einen positivistischen „hang-over" handelt, der den Gebrauch der Worte Beobachtung und semantische Regel in abenteuerlicher Weise festlegen muß. Eine semantische Regel ist der Beobachtung nie vorgegeben, sondern impliziert auch dort, wo die Sprachwissenschaft „empirisch" Textkorpora auswertet, immer ein Interpretationselement 29 . Nicht weniger grundlegend ist das Mißverständnis, die Behauptung einer sprachlichen Regel ließe sich durch Befragen von Sprechern empirisch widerle26
Vgl. dazu etwa Rottleuthner, Zur Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 168 ff., 195; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 294 und öfter 27 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff.; H. Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung. Untersuchungen zu einem „hermeneutischen" Problem, 1977, S. 36ff., 65 ff. 28 Vgl. dazu H. Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 70ff., 90ff., der auf vier Seiten die wissenschaftstheoretische Diskussion der letzten 50 Jahre „widerlegt". Vgl. dazu auch ders., Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung. Untersuchungen zu einem „hermeneutischen" Problem, 1977, S. 65 ff. 29 Vgl. dazu R. Keller, Zur Epistomologie der Semantik, in: L. Jäger (Hrsg.), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 22ff., insbes. 34ff., 40ff.; Heringer, Eine Regel beschreiben, in: ders. (Hrsg.), Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 1974, S. 48 ff. Zum Begriff „empirisch" in der linguistischen Diskussion vgl. Ballmer, Inwiefern ist die Linguistik empirisch?, in: Wunderlich (Hrsg.), Wissenschaftstheorie der Linguistik, 1976, S. 6ff. 6*
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gen 30 . Das sprachwissenschaftliche Verständnis von Empirie würde damit in unzulässiger Weise reduziert: „So ist die Aussage ,1m Deutschen ist das Substantiv ,Bach' ein Maskulinum (...) nicht auf die genannte Weise falsifizierbar. Denn wenn jemand ,die Bach' sagt, so bewerte ich das nicht als Widerlegung meiner Aussage, sondern als Fehler meines Gesprächspartners" 31. Was man also durch Befragen und anschließendes Auszählen erreichen könnte, wäre aus sprachwissenschaftlicher Sicht als Dezisionismus zu bezeichnen. Selbst sprachwissenschaftliche Positionen, die sich insoweit in Übereinstimmung mit den zitierten juristischen Wissenschaftstheoretikern am Kritischen Rationalismus orientieren, sagen von der Sprachwissenschaft, sie sei „offensichtlich nicht in dem Sinne empirisch, daß sie beschreibt, wie die Leute tatsächlich reden. Es ist sogar anzunehmen, daß dies überhaupt nicht systematisch erfaßt werden kann" 3 2 . Noch deutlicher wird die Verkürzung sprachwissenschaftlicher Empirie, wenn ein sprachphilosophisch reflektierter Bedeutungsbegriff in den juristischen Argumentationszusammenhang aufgenommen wird und für juristische Zwecke handhabbar gemacht werden soll. Im Zusammenhang des strafrechtlichen Analogieverbotes wird etwa der von Eike von Savigny entwickelte Bedeutungsbegriff von juristischer Seite dazu verwendet, eine wörtliche Bedeutung der Normtexte auszuzeichnen33. Der im Anschluß an den Hart'schen Konventionsbegriff 34 unter dem Blickwinkel einer zuhörerbezogenen Analyse 35 herausgearbeitete Bedeutungsbegriff ist sprachphilosophisch nicht unumstrit-
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Vgl. Rottleuthner, Zur Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft, in: ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 168 ff., 195: „Empirische Umfragen über die tatsächliche Verwendung von Begriffen" 31 R. Keller, Zur Epistomologie der Semantik, in: L. Jäger (Hrsg.), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 22 ff., 33. Der Begriff „empirisch" ist dabei in den Sprachwissenschaften durchaus umstritten (vgl. etwa Kasper, Einige Ähnlichkeiten zwischen Naturgesetzen und Regeln, in: ebd., S. 174ff.; sowie die Beiträge unter den Punkten I bis V in Wunderlich (Hrsg.), Wissenschaftstheorie der Linguistik, 1976), aber trotzdem läßt er sich nicht in der hier für die Lösung juristischer Probleme vorgeschlagenen Vereinfachung verwenden. Vgl. zum Problem außerdem noch: Mates, Zur Verifikation von Feststellungen über die normale Sprache, in: Grewendorf/Meggle (Hrsg.), Linguistik und Philosophie, 1974, S. 154 ff. In der juristischen Diskussion Ansätze zu einer Kritik bei: Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 110 sowie Rodingen, Juristische Argumentationstheorie, in: Rechtstheorie 1978, S. 236 ff., 239 32 H. Brand, Kritischer Rationalismus und Sprachwissenschaft. Eine Einführung, in: L. Jäger (Hrsg.), ebd., S. 137 ff., 147. Die angesprochene kritisch-rationalistische Orientierung innerhalb der Rechtstheorie bezieht sich hier auf Schlink und Harenburg. 33 Vgl. dazu Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 155 ff. 34 Vgl. zu diesem Anknüpfen an Hart: E. v. Savigny, Zum Begriff der Sprache, 1983, S. 34ff., 39ff., 43 ff. 35 Vgl. E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl. 1980, Kap. 7, insbes. S. 275 ff.
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ten 3 6 , aber doch wesentlich komplexer als der von Juristen zumeist unreflektiert vorausgesetzte Begriff eines objektiven und in den Zeichen liegenden Sprachgehalts. Bedeutung ist demnach das von der Sprachgemeinschaft als richtig akzeptierte Verständnis und beruht auf einer Konvention, die nicht als stille Übereinkunft oder faktische Übung, sondern als soziale Norm aufgefaßt wird 3 7 . Diese differenzierte Auffassung führt zunächst über juristische Verdinglichungen der Sprache hinaus und macht in der scheinbaren Objektivität ein veränderbares Moment subjektiver Gestaltung sichtbar. In der juristischen Rezeption wird allerdings eine Rückverhärtung zur eindeutigen Bedeutung angestrebt, welche dann eine im Text vorgegebene Wortlautgrenze garantieren soll. Dann müssen allerdings Idealisierungen bzw. Vereinfachungen eingeführt werden, welche einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Die erste Vereinfachung liegt darin, daß man von der Sprache ausgeht, als sei diese eine überschaubare und homogene Größe mit Normen, die überall und für jeden gleich ,gel ten' 3 8 . Die zweite Vereinfachung betrifft den Kontext einer geäußerten Zeichenkette, welcher als endlich und beherrschbar vorausgesetzt wird, um so die Klarheit der Begriffe zu garantieren 39 . Die dritte Reduktion will entgegen den sprachstrukturellen Bedingungen eine identische Wiederholung von sprachlichen Regeln ohne analogischen bzw. verschiebenden Charakter annehmen 40 . Nur unter der Voraussetzung einer homogenen Spra36
E. v. Savigny selbst profiliert seine primär an der Konvention orientierte Position gegenüber einer mehr auf die Intention abstellenden Auffassung, in dem Artikel: Ε. v. Savigny, Meaning by means of meaning? By no means!, in: Erkenntnis 9, 1975, S. 139 ff. Relativierend zu dieser Entgegensetzung: Kemmerling, Was Grice mit „Meinen" meint, in: Grewendorf (Hrsg.), Sprechakttheorie und Semantik, 1979, S. 67 ff., 68, 112 Fn. 4 37 Vgl. dazu zusammenfassend Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 155 ff., 158 im Anschluß an E. v. Savigny, Probleme der sprachlichen Bedeutung, 1976. Der Begriff der sozialen Norm wird dabei nach drei Momenten differenziert: In normrelevanten Situationen wird selten offen abgewichen, in den meisten Fällen sanktioniert und die Sanktion im allgemeinen akzeptiert. 38 Vgl. dazu Priester, ebd., S. 160f. (Auseinandersetzung mit der „natürlichen Wortbedeutung", ebenso die Beispielsanalysen, wobei undifferenziert „der Sprachgebrauch" herangezogen wird (etwa S. 179). Vgl. zur Kritik an der gängigen Homogenitätsannahme Wandruszka, Interlinguistik: Umrisse einer neuen Sprachwissenschaft, 1971, S. 8: „Unsere Sprachen sind keine Monosysteme. Jede Sprache ist eigentlich ein Konglomerat von Sprachen; jede Sprache ist ein Polysystem". Weitere Literaturhinweise zu diesem Thema bei Pelz, Linguistik für Anfänger, 3. Aufl. 1979, S. 197ff. 39 Vgl. dazu Priester, ebd., S. 164ff., Diskussion der Kontextabhängigkeit. Zur Kritik an der Vorstellung eines endlichen und beherrschbaren Kontextes vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124f., 126, 143 ff. 40 Vgl. dazu Priester, ebd., S. 160ff., zur Auseinandersetzung mit der Positon Arthur Kaufmanns. Zum Begriff der in der Wiederholung der Regel als strukturelle Möglichkeit enthaltenen Verschiebung: vgl. Derrida, ebd., S. 133, 146 und öfter. Zum analogischen Charakter des Sprechens aus linguistischer Sicht vgl. Busse, Historische Semantik. 1987, S. 193ff. Zum Problem der Analogie vgl. auch noch weiter unten im Text Teil C 2.3.3
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C. Theorie der Rechtsanwendung
che, deren Regeln in der Wiederholung stabil bleiben, und eines endlichen Kontextes kann dann behauptet werden, daß dort, wo ein Sprachgebrauch korrigiert werde, die „Sprachwidrigkeit" einer entsprechenden Deutung feststehe 41 . Wenn man diese Vereinfachungen der Sprachwirklichkeit aber aufgibt, wird klar, daß eine Äußerung auch dann, wenn sie „Kopfschütteln" 42 oder sonstige Widersprüche hervorruft, noch nicht sprachwidrig ist 4 3 . Solange sie verständlich bleibt, ist der Versuch zu ihrer Korrektur vielmehr ein Normierungskonflikt, der auf bestimmte Standards der Legitimierung verweist 44 . Gerade Sprachnormen können nicht in der von der juristischen Rezeption nahegelegten Weise einfach festgestellt werden durch eine Reflexion des Muttersprachlers am Schreibtisch bzw. ein Nachschlagen im Wörterbuch 45 . Sprachnormen verweisen vielmehr auf legitimatorische Standards, deren Untersuchung ein konkretes Eindringen in das fragliche Sprachspiel erfordert. Deswegen führt die Berücksichtigung des im Sprachgebrauch und seiner Kritik/Korrektur enthaltenen normativen Moments über die Vorstellung einer im Wortlaut vorgegebenen Bedeutung hinaus und macht ein gestaltendes Moment im Sprechen sichtbar, welches nicht einfach mit dem Prädikat sprachwidrig/sprachrichtig schon gerechtfertigt ist. Die Untersuchung der damit angesprochenen legitimatorischen Standards führt allerdings über den engen Zusammenhang hinaus, den die wortbezogene Lehre vom juristischen Begriff erfassen kann.
2. Methodologische Grenze: Kann die juristische Methodik eine der Rechtsanwendung vorgegebene Bindung garantieren? Der über die Anwendung der Lehre vom Rechtsbegriff im Justizsyllogismus hinausreichende Anteil richterlicher Entscheidungstätigkeit wird traditionell als Bereich juristischer Methodik angesehen1. Wenn die juristische Lehre vom Begriff nicht in der Lage ist, dem Prozeß der Rechtsanwendung eine objektiv vorgegebene Grenze zu ziehen, dann verschiebt sich diese für die Begründung einer Rechtsanwendungslehre zentrale Aufgabe in den Bereich der juristischen Methodik. 41
Vgl. dazu Priester, ebd., S. 179 Ebd. 43 Zur Kritik an dieser verkürzten Auffassung von Sprachwidrigkeit: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 51 44 Vgl. dazu Gloy, Sprachnorm, in: Althaus/Henne/Wiegand (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, 2. Aufl. 1980, Bd. II, S. 363 ff., 366f.; ders., Einige grundlegende Gedanken zu ,Norm 4 und ,Sprachnorm 4, in: Hansen (Hrsg.), Symposion: Sprakrikatighets probelemen i skolan-normera, 1979, S. 121 ff. 42
45 Vgl. dazu Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 155ff., 158, 179f. 1 Vgl. dazu etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 91 und öfter
2. Methodologische Grenze
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M i t dem Bezug zur Interpretationslehre kommt die zweite in der Rechtsprechungspraxis aufgewiesene Argumentationsweise zur Einlösung der Gesetzesbindung in den Blick. A n die Stelle der Lehre vom Rechtsbegriff tritt die Lehre von der Auslegung in ihren verschiedenen Ausprägungen. Schon das Bild der Auslegung bringt ein bestimmtes Verständnis des juristischen Handelns zum Ausdruck: Der „Rechtsanwender" legt nur aus, was vorher im Text schon enthalten war. Die Bedeutungssubstanz steht unabhängig vom juristischen Handeln fest und muß höchstens noch etwas präzisiert oder ergänzt werden. Die Logik der Metapher setzt voraus, daß schon der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Textformular die Rechtsnorm als textuelle Bedeutung enthält. Zwischen Textformular 2 und Textbedeutung, zwischen Zeichen und Bedeutung besteht eine einzige notwendige Verknüpfung, die der „Rechtsanwender" heraus-finden oder eben aus-legen muß. Ob er danach das Recht etwa noch „fortbilden" kann, ist ein zweite Frage. Jedenfalls muß er die vorgegebene Bedeutung des Textes zunächst einmal feststellen. Die Auslegungsmetapher definiert damit die Aufgabe der juristischen Methodik im Kontext einer Rechtsanwendungslehre: Die juristische Methodik soll durch Bestimmung des Auslegungsziels als Wille, sprachliche Bedeutung usw. den handelnden Juristen in die Lage versetzen, sein Tun der von der Auslegungsmetapher vorausgesetzten Logik unterzuordnen. Sie soll als Teil einer Rechtsanwendunglehre das Instrumentarium bereitstellen, mit dem sich die notwendige Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung aufdecken läßt. Trotz der Vielfalt z.T. miteinander konkurrierender Schulen sind die im Kontext einer Rechtsanwendungslehre entwickelten Positionen durch ein spezifisches Herangehen an das Problem der Gesetzesbindung gekennzeichnet: Sie setzen nicht induktiv an der juristischen Praxis an, um diese an verfassungsrechtliche Vorgaben zu binden und auf ihre innere Konsequenz zu befragen, sondern sie leiten aus einer bedeutungstheoretischen Spekulation über den Text ab, was die Gerichte zu tun haben. Dieses deduktive Vorgehen 3 wirkt sich auch bei der methodologischen Untersuchung der Gesetzesbindung aus. Ansatzpunkt für die Untersuchung der Gesetzesbindung ist hier eine vorausgesetzte Theorie der Bedeutung. Statt also von den praktischen Regeln juristischen Handelns her Licht auf einen Aspekt der Bedeutung juristischer Texte zu werfen, wird hier umgekehrt zunächst über eine Theorie der Bedeutung juristischer Texte entschieden, um von dieser Basis aus die Rolle des juristischen Handelns zu bestimmen. Zur Rechtfertigung dieses deduktiven Ansatzes beruft sich die herkömmliche Methodenlehre darauf, daß Juristen ebenso wie Literaturwissenschaftler, 2
Unter Textformular wird hier die Zeichenkette verstanden. Vgl. zum deduktiven Herangehen der herkömmlichen Lehre an die Probleme juristischer Methodik im Unterschied zur induktiven Vorgehensweise der Strukturierenden Rechtslehre: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 15 ff., 71 und öfter 3
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Theologen und Philosophen Texte auslegen. Die Auslegung sei in allen diesen Disziplinen auf Sprache bzw. Texte bezogen und weise als gemeinsames Ziel das Verstehen auf 4 . Deswegen wird zunächst die Anlehnung an die allgemeine geisteswissenschaftliche Hermeneutik 5 , später aber auch an sprachwissenschaftliche 6 und sprachphilosophische 7 Theoreme die juristische Auslegung als spezielle Anwendung einer allgemeinen Auslegungs- bzw. Bedeutungstheorie aufgefaßt. Hat man einmal die allgemeine Struktur der Textbedeutung oder des Verstehens erkannt, so bedarf es nur noch einer deduktiven Anwendung auf die Jurisprudenz 8. 2.1 Das Auslegungsmodell: Bindung an den zwischen Gesetz und Gesetzgeber schwankenden Willen?
Weil die herkömmliche Methodenlehre das Problem der Gesetzesbindung mittels einer Theorie über den „Inhalt" des Gesetzes9 zu lösen versucht, wird die vorausgesetzte Theorie der Textbedeutung zur entscheidenden Instanz. Dabei lassen sich im Rahmen der klassischen Willenslehre zwei gegensätzliche Konzeptionen unterscheiden: 1. Die subjektive Lehre 10 : Für diese Auffassung ergibt sich die Bedeutung des Textes aus einem vorsprachlich verstandenen Willen des Gesetzgebers, welcher vom Text ausgedrückt oder verkörpert wird. Gegenstand der juristischen Auslegung ist dann der einheitlich 11 gedachte gesetzgeberische Wille, und als 4
Vgl. dazu Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift für Ernst Rabel, Bd. II, 1954, S. 79 ff., ders., Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967 5 Vgl. zum Einfluß der Hermeneutik in der Jurisprudenz: Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981; Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7ff.; Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff. jeweils m.w.N. 6 Vgl. dazu etwa Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, zur Bedeutungstheorie insbes. S. 86 ff. 7 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, zur „semantischen Struktur" von Gesetzesbegriffen insbes. S. 67ff. 8 Kritisch zu einer deduktiven Anwendung insbes. der Hermeneutik: U. Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 49ff., 49 9
Kritisch zu einem vorgegebenen „Inhalt" des Gesetzes auch: A. Kaufmann, Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 ff., insbes. 156ff. 10 Vgl. dazu die Nachweise weiter unten im Text sowie Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 19 ff. 11 Vgl. dazu Ennecerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 324f. Kritisch dazu Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP (94), 1981, S. 192ff., 199, 207
2. Methodologische Grenze
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Ziel erscheint die Ermittlung eines historischen Faktums 12 . Der im Wege psychologischer Einfühlung ermittelte Wille des Gesetzgebers ist dann auch als „Inhalt" des Gesetzes anzusehen und bestimmt insoweit die Reichweite der Gesetzesbindung13. Die genetische Auslegung ist demnach das entscheidende und vorrangige Instrument juristischer Interpretation. 2. Die objektive Lehre 14 : Danach löst die sprachliche Objektivation den Text von den zufalligen Absichten und Vorstellungen ihres Autors ab. Erst auf der Ebene der sprachlichen bzw. rechtlichen Systematik ergibt sich die objektive Bedeutung des Textes. Dem subjektiven Meinen des mit dem Autor gleichgesetzten Gesetzgebers kommt demgegenüber keine oder höchstens eine bestätigende Rolle zu. Ein homogener Wille des Gesetzgebers als Gegenstand der genetischen Auslegung läßt sich aus dieser Sicht nicht oder höchstens in bezug auf die Verabschiedung des Normtextes feststellen 15. Entsprechend kann Ziel der juristischen Auslegung nur sein, den objektiven Sinn des Textes zu ermitteln. Die genetische Auslegung hat mit dem gegenüber dem Willen des Gesetzgebers verselbständigten „Inhalt" des Gesetzes nichts zu tun und muß im Konfliktsfall hinter den Ergebnissen anderer Konkretisierungselemente zurücktreten. An die Stelle des Willens des Gesetzgebers tritt der objektivierte Wille des Gesetzes. Beide Positionen gehen von einer notwendigen Verknüpfung von Textformular und Textbedeutung, von Zeichen und Bedeutung aus, wobei die Bedeutung des Normtextes einmal an das Bewußtsein des Autors und zum andern an das System der Sprache bzw. des Rechts gebunden wird. Die Entscheidungen fallen damit auf der Ebene der bedeutungstheoretischen Spekulation. Auf der juristischen Ebene der Frage nach Gegenstand, Reichweite und praktischer Einlösung der Gesetzesbindung werden nur noch die Konsequenzen gezogen. Die bedeutungstheoretischen Spekulationen der juristischen Methodenlehre müssen deswegen im Zentrum der Analyse stehen. 2.1.1 Der sinnstiftende
Autor trifft
auf ein widerspenstiges
Instrument
Die klassische subjektive Lehre verwendet das Prinzip der Autorschaft mit dem Ziel, dem juristischen Diskurs einen Mittelpunkt zu verschaffen. Die 12 Vgl. dazu noch heute: Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 277ff., insbes. 291: „Es gibt (...) kein über philologische Interpretation hinausgehendes Verfahren". Vgl. in diesem Sinn auch Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 237, der die subjektive Methode als „wahrheitsgetreue Sinnreproduktion" bezeichnet. Kritisch zum Ansatz Rödigs: Adomeit, Der gerichtliche Prozeß in Sicht der Rechtstheorie, in: AcP 1974, S. 407 ff., 411 ff. 13 Vgl. dazu etwa Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: Festschrift für Engisch, 1969, S. 274ff., insbes. 280ff. 14 Vgl. zur objektiven Lehre die Nachweise weiter unten im Text sowie die historische Darstellung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 34ff. 15 Vgl. dazu ebd., S. 314
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Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm soll um den Autor als Einheit und Ursprung der Bedeutung gruppiert werden. Von ihm verlangt man, daß er den im Text verborgenen Sinn offenbart, den Zusammenhang und die stabile Bedeutung garantiert. Die damit beschriebene Autorenfunktion 16 soll in der Rechtswissenschaft der Gesetzgeber übernehmen. Seine Gedanken stehen hinter dem Zeichen des Normtextes und machen sie zu einem sinnvollen Ganzen 17 . Denn das Gesetz ist als Schöpfung menschlichen Geistes anzusehen, und der Gesetzgeber hat mit seiner Verabschiedung bestimmte Vorstellungen und Absichten zum Ausdruck bringen wollen. Ziel der Gesetzesauslegung muß es demnach sein, den tatsächlichen Willen des Gesetzgebers als historisches Faktum zu ermitteln. Indem sie ein vom menschlichen Geist Produziertes als solches erkennt 18 , ist die juristische Auslegung ein Sonderfall der philologischen Auslegung historischer Texte. In einer 1835 erschienenen Untersuchung legt Carl Georg v. Wächter die juristische Textarbeit auf das Ziel fest, den wahren Willen des Gesetzgebers zu erforschen 19. M i t Hilfe der Materialien läßt sich der wahre Sinn des Gesetzes in Erfahrung bringen, und d. h. derjenige Sinn, auf den sich die verschiedenen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Faktoren geeinigt haben 20 . Hier ist schon der für die spätere Polarisierung in subjektive und objektive Lehre entscheidende zentrale Topos genannt. Während die objektive Lehre die Existenz eines in den Materialien auffindbaren einheitlichen Willens des Gesetzgebers ablehnt 21 , knüpft die subjektive Lehre an den scheinbar festen Ausgangspunkt der Materialien als wahrheitsfähige Grundlage für die Ermittlung dieses Willens an.
16 Vgl. zur Beschreibung der Autorenfunktion und ihrer Rolle als Verknappungsprinzip im Diskurs: Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 18 ff. 17
Vgl. zu dem damit gesetzten Repräsentationsmodell: Haug, Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der objektiven Auslegung von Gesetzen, in: DÖV 1962, S. 329ff., 330f. 18 Vgl. zu dieser Verknüpfung mit der Philologie und der romantischen Verstehenslehre die Diltheysche Formulierung: „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er". Dilthey, Gesammelte Schriften VII, 1927, S. 148. Ähnlich Boeckh, Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, 2. Aufl. 1886, S. 111 ff.; für die Aufnahme in der juristischen Methodendiskussion vgl. die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 85 ff. 19 Vgl. v. Wächter, Abhandlungen aus dem Strafrecht, 1835, S. 242ff. Zu beachten ist bei den älteren Schriften allerdings, daß das Beiwort „wahr" noch eine normativ zu korrigierende Konnotation aufweist. 20 Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37 ff. 21 Vgl. dazu die Nachweise sowohl aus der historischen wie auch aus der heutigen Diskussion bei Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 48 ff. und 186 ff. mit z.T. ausführlicher Diskussion der betreffenden Argumente. Vgl. im übrigen als historische Darstellung der Diskussion um die sog. subjektive Auslegung: Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., insbes. 373ff.; sowie Schroth, ebd., S. 37ff.; Honsell, ebd., S. 22ff.
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Der von der subjektiven Lehre verteidigte Ausgangspunkt der Diskussion liegt in der Behauptung, es existiere ein in den Materialien nachweisbarer einheitlicher Wille des Gesetzgebers als psychologische Realität 22 . Normen gelten hier als Willensaudruck eines gebietenden Subjekts. Entscheidend ist die Feststellung, welchen spezifischen Sinn ein historisch bestimmter Gesetzgeber mit den gewählten Worten verbunden hat. Die Vorstellungen, Absichten und Wertorientierungen der damit angesprochenen Personen sind möglichst genau zu ermitteln 23 . Wenn Windscheid die Anweisung gibt, sich „möglichst vollständig in die Seele des Gesetzgebers hineinzudenken" 24 , wird in dieser Konzeption der Einfluß des romantischen Verstehensbegriffs besonders deutlich 25 . In der neueren Diskussion tritt stärker ein aus der analytischen Wissenschaftstheorie abgeleitetes Interesse an der überprüfbaren Ermittlung empirischer Fakten in den Vordergrund. In diesem Kontext hat insbesondere Jürgen Rödig den ursprünglichen Ausgangspunkt der subjektiven Lehre wiederaufgenommen: „Der Gesetzesinterpret soll im Ergebnis das, was die Verfasser des Gesetzes sagen wollten, ermitteln" 26 . Danach unterscheidet sich die Arbeit der Juristen an den Materialien nicht von einer historischen Analyse: „Die konkrete Vorgehensweise der Verfasser des Gesetzes ist zu ermitteln. Einen anderen Weg solcher Ermittlung als die Ausschöpfung sämtlicher der für die Aufklärung eines vergangenen Geschehens verfügbaren Erkenntnismittel gibt es nicht" 2 7 . Die von Rödig selbst gezogene Folgerung aus dieser Position ist, daß es kein über die philologische Interpretation hinausführendes spezifisch juristisches Verfahren im Umgang mit den Materialien gibt 2 8 . Aber kann man wirklich von einem einheitlichen gesetzgeberischen Willen als psychologischer Realität oder historischem Faktum sprechen? Das Ziel der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens wirft zunächst faktische Probleme auf, die mit der Diversifikation des Gesetzgebers im parlamentarischen System verknüpft sind. Wenn man den gesetzgeberischen Willen anhand der Protokolle über die Debatten von Bundestag und Bundesrat 22
Vgl. zur Kritik an der Ermittlung eines psychologischen Willens des Gesetzgebers und entsprechender Beweiserhebung: Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem — Ein Beitrag zur rechtstheoretischen Erforschung der Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung im Privatrecht, Diss. Berlin 1974, S. 75; Clauss, Zum Begriff der Unklarheit, in: JZ 1960, S. 306ff., 308, Fn. 29 23
Vgl. dazu Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 172f. m.w.N. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Bd., 7. Aufl. 1891, S. 52 25 Vgl. dazu neben den Nachweisen in Fn. 17 noch: Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 20 26 Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntisverfahrens, 1973, S. 281. Ausgangspunkt ist für Rödig das einheitliche Verständnis der richterlichen Erkenntnisaufgabe, wobei der Beweis von Normen zu einem Sonderfall des Beweises von Tatsachen gemacht werden soll (vgl. S. 6 und allgemein S. 13). 24
27 28
Rödig, ebd., S. 287 Ebd., S. 291
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zu ermitteln versucht, stößt man zunächst auf den enttäuschenden Umstand, daß kontroverse Debatten im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens selten sind 29 . Zudem vollziehen sich die eigentlichen Entscheidungsprozesse oft in einem über die Protokolle nicht zugänglichen Vorfeld von Arbeit in den Ministerien, Ausschüssen und Fraktionen. Dieses faktische Problem macht zwar die Möglichkeit, einen gesetzgeberischen Willen zu ermitteln, sehr unwahrscheinlich. Es schließt diese Möglichkeit aber andererseits auch nicht vollständig aus 30 . Das in dem angesprochenen Erkenntnisproblem enthaltene kritische Potential läßt sich aber noch weiter entfalten. Dabei werden die praktischen Schwierigkeiten der Arbeit mit den Materialien gegen das von der subjektiven Lehre selbst postulierte Ziel gewendet, dem richterlichen Sprechen eine eindeutige Grundlage zu verschaffen 31. Die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit der Materialien gewährt demnach gerade das Gegenteil eines sicheren Ausgangspunkts: „Tatsache ist, daß die gesamte Praxis (...) sich auf die Entstehungsgeschichte beruft, wo diese für die sonst wünschenswerte Entscheidung verwertet werden kann, und daß im gegenteiligen Fall die Motive usw. beiseitegeschoben oder als unwichtig widerlegt werden" 32 . Damit wird die Gefahr angesprochen, daß mit Hilfe von willkürlich ausgewählten Einzeläußerungen der vorgeblich einheitliche Wille des Gesetzgebers seine Konturen verliert und sich deswegen in der Praxis als beliebig auszufüllende Fiktion erweist 33 . Die in der Verwendung der Materialien als Begründungsinstanz liegende Gefahr der Beliebigkeit wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß der parlamentarische Gesetzgeber ein pluriformes und heterogenes Gebilde ist 3 4 , dem sich schwerlich der gesuchte einheitliche Wille zuschreiben läßt. Die Entstehungsgeschichte weist nicht nur Zufälligkeiten auf, sondern vor allem Widersprüche zwischen einzelnen Äußerungen, die ohne eine systematische Strukturierung die Begründung gegensätzlicher Ergebnisse erlauben. Auf diesen Einwand hat die subjektive Lehre mit einer Aufweichung des gesetzgeberischen Willens reagiert. Zunächst wird dabei die Metapher des 29 Vgl. dazu und zum folgenden: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 61-63 m.w.N. 30 Vgl. zur Diskussion dieser Schwierigkeiten als Erschwerung, nicht aber Ausschluß der Möglichkeit genetischer Auslegung: Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., 388 ff. 31 Vgl. dazu die Nachweise bei Baden, ebd., sowie Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 52f. 32 Gmelin, Quousque?, 1910, S. 70 33 Vgl. dazu C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 25. Weitere Nachweise bei Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 42 f. 34 Vgl. dazu U. Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, 1969, S. 13. Vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 91 mit differenzierten Folgerungen auf S. 95
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Willens ersetzt durch den Begriff einer gesetzgeberischen Handlung, die es sowohl kausal als auch in ihrer Finalität zu verstehen gelte 35 . Der Fortschritt dieser Ersetzung kann sich jedoch nur dann auswirken, wenn man auch die vorgestellte Einheitlichkeit und Homogenität der gesetzgeberischen Handlung auflöst. Von normativen Gesichtspunkten ausgehend kann der vorgestellte Gesamtwille des Gesetzgebers dabei durch ein Mehrheits- oder Agentenmodell 3 6 ersetzt werden. Danach ist der gesetzgeberische Wille mit dem Willen der Mehrheit der gesetzgeberischen Körperschaft gleichzusetzen bzw. mit dem Willen derjenigen Personen, die den verabschiedeten Entwurf formuliert haben. Doch auch im Rahmen eines Mehrheits- oder Agentenmodells bleibt der Nachweis einer gemeinsamen Handlungsfinalität bzw. Absicht schwierig 37 . Selbst wenn man unterstellt, daß die betreffenden Personen die von ihnen formulierte Zeichenkette unter möglichst vollständiger Berücksichtigung des Kontextes reflektieren, beseitigt dies nicht vollständig die Unsicherheiten über den Gebrauch der verwendeten Zeichen 38 . Zwar wird von den Vertretern der subjektiven Lehre die als gemeinsam behauptete Absicht zumeist auf grundlegende Gesichtspunkte und Zwecke eingeschränkt 39. Aber die Unterstellung solcher Zwecke als gemeinsame bleibt nach wie vor unbegründet. Allerdings gewinnt diese Zurechnung eine gewisse Plausibilität durch eine Sprachreflexion, welche parallele Phänomene aus dem juristischen Sprachspiel in die Untersuchung einbezieht 40 . Auch bei juristischen Personen redet man von Absichten, die man bei Bedarf ihren Organen u. ä. zuschreibt. Dabei läßt sich auch nicht sagen, daß das Wort, Absicht' hier in einem metaphorischen oder von der wörtlichen Bedeutung abgelösten Sinne gebraucht wird. Der Sprachgebrauch verweist hier vielmehr auf soziale Regeln, wonach das Handeln einzelner einer Gesamtheit zugerechnet wird 4 1 . Es ist kein Grund ersichtlich, der die Existenz ähnlicher Regeln im Rahmen der genetischen Auslegung ausschließen könnte.
35
Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 83 ff. 36 Vgl. dazu MacCallum, Legislative Intent, in: Summers (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S. 237ff., 262ff. (majority model), 266ff. (agency model) 37 Vgl. zu den Schwierigkeiten einer Ermittlung: Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 7; Bär, Zeitgemäßes Recht, Dies Academicus, 1973, S. 13,15 38 Vgl. dazu MacCallum, Legislative Intent, in: Summers (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S.237ff., 254f. 39 Vgl. dazu etwa Köbl, Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1029 40 Vgl. dazu MacCallum, Legislative Intent, in: Summers (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S.237ff., 249, 250ff. Vgl. dazu die Aufforderung, das Sprachspiel anzuschauen, bei Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 78 41 Vgl. dazu MacCallum, ebd., S. 251
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Die prinzipielle Möglichkeit einer Zurechnung kann damit als begründet angesehen werden. Die Art und Weise dieser Zurechnung fordert aber neben der Beachtung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte eine genauere Untersuchung der vorausgesetzten sprachlichen Regeln. Insoweit müssen die als Kontexte zum Normtext herangezogenen Materialien auf einen inneren Zusammenhang hin befragt werden. Die als Anknüpfungspunkt für ein Argument in Betracht kommende Einzeläußerung eines Parlamentariers bedarf einer systematischen Einordnung in die Struktur des Gesetzgebungsverfahrens selbst 42 . Deren innerer Zusammenhang wird allerdings noch nicht erfaßt, wenn man normative Strukturierungsvorschläge der Gesetzgebungslehre als Beschreibungen liest. Die Realität des Verfahrens kommt vielmehr erst dann in den Blick, wenn man sich von dem stillschweigend vorausgesetzten Modell der Gesetzgebung als kooperatives Handeln 43 ablöst und diesen Prozeß im Rahmen einer Semantik kompetitiven Handelns 44 begreift. Erst dann können die widersprüchlichen Einzeläußerungen als Teile eines kompetitiven Handlungsspiels systematisch verortet und in ihrer Tragweite verstanden werden. Im Rahmen der subjektiven Auslegungslehre hat die sog. Paktentheorie 45 zur Lösung dieser Aufgabe vorgearbeitet. Wenn man diese Theorie von den impliziten Willens- und Vertragskonstruktionen 4* ablöst, bringt sie anstelle der anthropomorph aufgefaßten Absichten 47 und des personifizierten Gesetzgebers den Vorgang der Gesetzgebung als arbeitsteiligen Prozeß 48 in den Blick. Dabei werden insbeson42
Eine allerdings sehr allgemeine Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens gibt Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 84 43 Vgl. dazu Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 1987, S. 1 ff., 15f., der zunächst konzediert, daß die „Konkurrenz widerstreitender Interessen" die Übertragung seines auf Einverständnis zielenden Argumentationsmodells erschwert, dann aber doch die Notwendigkeit einer solchen Übertragung nahelegt. Auch in der herkömmlichen Vorstellung eines einheitlichen Gesamtwillens und personifizierten Gesetzgebers ist das Modell einer auf die kooperative Herstellung von Gemeinsamkeiten zielenden Handlungszusammenhangs enthalten, welches sowohl den Eigenwert als auch das praktische Gewicht von Differenzen und Konflikten verkennt. 44 Grundlegend zur Analyse von Parlamentsdebatten im Zusammenhang einer Semantik kompetitiven Handelns: Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Typoskript S. 109 ff., 130 ff. 45 Vgl. zur Paktentheorie: Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., insbes. 378; näher zu den Regeln der genetischen Auslegung auch Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37ff.; vgl. zur Paktentheorie noch die Nachweise bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 249, Fn. 106 46 Vgl. dazu Baden, ebd. 47 Vgl. zu den Warnungen vor anthropomorphen und vereinfachenden Fiktionen: U. Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, 1969, S. 14. Ähnlich Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 15 und Perelmann, Juristische Logik als Argumentationslehre, 1979, S. 79 48 Vgl. dazu Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß. 1977, S. 60, auch allgemein S. 57ff.
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dere die zeitliche Reihenfolge, aber auch rechtliche Gesichtspunkte wie die Mehrheitsregel u. ä. und der Kontext der Einzeläußerung zur Strukturierung verwendet. Dies ermöglicht neben der Zurechnung auch eine Gewichtung der als Anknüpfungspunkt fraglichen Einzeläußerung. A n die Vorarbeiten der Paktentheorie kann die semantische Analyse der Parlamentsdebatten als kompetitivem Handlungsspiel vertiefend anknüpfen. Entgegen der objektiven Lehre in ihrer strengen Form ist damit die Möglichkeit genetischer Auslegung dargetan 49 . Ihre Wünschbarkeit und ihr Stellenwert für die Konstitution der Bedeutung des fraglichen Normtextes bleiben allerdings noch zu bestimmen. M i t der Frage nach Wünschbarkeit und Stellenwert der genetischen Auslegung kommen die Argumente in den Blick, welche die Gegner der subjektiven Lehre nicht gegen deren faktisch-methodische Einlösbarkeit, sondern gegen deren Erkenntnisziel selbst gewendet haben. Nach dem sog. Ergänzungs- oder Versteinerungsargument 50 läßt das Ziel der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens keine Anpassung des Gesetzes an aktuelle Probleme zu und versteinert insoweit die Auslegung. Dieser Einwand richtet sich im Kern gegen die Annahme einer vom Autor bzw. Gesetzgeber ein für allemal festgelegten Bedeutung des Textes. Die Verteidiger der subjektiven Lehre haben diesem Argument allerdings dadurch seine Spitze genommen, daß sie die Konsequenzen aus ihrem bedeutungstheoretischen Ansatz praktisch so einschränken, daß eine Anpassung des Gesetzes jederzeit möglich ist 5 1 . Nicht nur in den Fällen, worin die Ermittlung des gesetzgeberischen Willens unmöglich oder mehrdeutig ist, sondern auch dort, wo die Materialien einen gesetzgeberischen Willen klar erkennen lassen, soll der jeweilige Rechtsanwender dazu ermächtigt sein, von seinem nicht genehmen bzw. nicht gerechten Ergebnis abzuweichen52. Damit ist 49 Vgl. zur Möglichkeit genetischer Auslegung unter Auseinandersetzung mit Einwänden, die sich aus einem an Gadamer orientierten hermeneutischen Ansatz ableiten lassen: Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 28 ff. Vgl. im übrigen zur Verteidigung der subjektiven Auslegung: Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 247, Fn. 98 50
Vgl. dazu schon oben im Teil Β bei der Untersuchung der subjektiven Lehre aus der Sicht der Rechtsprechung allgemein zu diesem Argument: Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., 391 f.; Schroth, ebd., S. 80f.; Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192ff., 209 51
Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten und Spielarten einer praktischen Einschränkung des gesetzgeberischen Willens und der Anerkennung einer darüber hinausgehenden Kompetenz des Richters zur Anpassung des Gesetzes die Nachweise bei Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 173f. und 174ff. 52 Vgl. dazu Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 218 ff., der zunächst eine Delegation der Rechtssetzung fingiert, dann aber sogar eine Rechtsfortbildung contra legem zulassen will (S. 219). Vgl. dazu auch ders., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 169 ff., 399 f.
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der mit der Wiederbelebung der subjektiven Lehre versprochene Rationalitätsgewinn 53 allerdings vollständig verspielt. Aber das Versteinerungsargument ist zumindest auf der Ebene praktischer Wirksamkeit erst einmal abgewehrt. Zu untersuchen bleibt aber der bedeutungstheoretische Kern dieses von der objektiven Lehre ausgehenden Einwands. Denn bis jetzt wurde nur dargetan, daß die genetische Auslegung einen sinnvollen Teil juristischer Textarbeit darstellen kann 5 4 . Noch nicht begründet wurde dagegen die weitergehende Behauptung der subjektiven Lehre, daß die im dargestellten Sinn abgeschwächte gesetzgeberische Absicht Umfang und Reichweite des Gesetzesbindungspostulats festlegen kann. Gerade im Hinblick auf die zentrale Rolle der sinnstiftenden Absichten des Gesetzgebers werden aber von der objektiven Lehre weitere Argumente vorgebracht, die dieses Verständnis des Gesetzesbindungspostulats erschüttern sollen. Die Vorstellungen, Absichten und Zwecke des historischen Gesetzgebers können demnach für die Auslegung keine zentrale Rolle spielen, weil sich das Gesetz nach Erlaß von den Absichten und Zwecken seiner Urheber ablöst. Das so entstandene eigenständige geistige Gebilde muß nunmehr aus sich selbst heraus verstanden werden 55 . Die Argumente, welche die Verselbständigung des Textes gegenüber dem Autor begründen sollen, setzen zunächst immanent an. Der beherrschenden Stellung des Gesetzgebers wird dabei eine Heterogonie der Zwecke 56 entgegengehalten: „Der Zusammenhang einer Zweckreihe besteht demnach nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven (...) als Vorstellung enthalten sein muß, (...), sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß infolge nie fehlender Nebeneinflüsse der Effekt einer Handlung mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt. Das Prinzip der Heterogonie der Zwecke ist es, welches hauptsächlich über den wachsenden Reichtum sittlicher Lebensanschauungen Rechenschaft gibt, in deren Erzeugung sich die sittliche Entwicklung bestätigt" 57 . Über die Vervielfältigung und Anreicherung des Ursprungszwecks soll hier das Gesetz der Heterogonie der Zwecke ein „Prinzip des Wachstums geistiger Werte" 58 begründen und damit den selbständigen Organis53 Vgl. zu diesem Versprechen von klaren Grenzen der Rechtsanwendung und von Kontrollierbarkeit im Gegensatz zur objektiven Auslegungslehre: Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 297 und öfter; zur Argumentation mit Rechtssicherheit und Klarheit, welche mit Hilfe der subjektiven Lehre zu erreichen seien: vgl. auch Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192ff., 207f. 54 Vgl. zur Struktur des genetischen Konkretisierungselements: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 160 ff. 55 Vgl. etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. I, 1885, S. 455 und ff. Binding bemüht sich als einer der ersten um eine systematische Kritik der Prämissen der subjektiven Lehre. 56 57
Vgl. dazu Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 26 Wundt, Ethik, 4. Aufl. 1923/24, Bd. I, S. 284f.
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mus 59 des Rechts von seinem Urheber ablösen. Nun gibt es aber, wie schon Horaz beobachtete60, nicht nur ein vermehrendes Wachstum, sondern auch ein Absinken gegenüber dem Ursprungszweck, wonach aus der beabsichtigten Amphore nicht einmal ein rechter Wasserkrug wird. Der Ursprungszweck bleibt demnach als Bezugspunkt nötig, um die Frage des Wachstums und die damit verknüpften Metaphern vom Organismus des Rechts beurteilen zu können. Deswegen bedarf es einer weitergehenden Vertiefung des Angriffs auf den Zweck. Dabei wird geltend gemacht, daß der Gesetzgeber schon seine ursprüngliche Zwecksetzung voll inhaltlich gar nicht überblicken kann: „Es ist ein häufiger Irrtum zu meinen, daß der Gedanke der vollständige Sklave unseres Willens sei und nur das hervorbringe, was wir wollen, während doch der Gedanke dem Willen gegenüber seine volle Selbständigkeit hat und vielfach über die Tragweite des Willens hinausgeht. (Das Denken) hat unendlich viele Zusammenhänge, es zeigt in den Begriffen einen Ideeninhalt, den der subjektiv Denkende nicht ahnt" 6 1 . Weil jeder Gedanke also selbständig und gegen die Absicht seiner Schöpfer fortwirken kann, ist das Recht als geistige Wirklichkeit etwas Eigenständiges. Die Entscheidung muß daher unabhängig von den Materialien aus dem Gesetz selbst entnommen werden. Die These, daß der vom historischen Gesetzgeber verfolgte Zweck die Komplexität des jeweiligen Regelungsvorhabens gar nicht erfassen kann, gewinnt eine starke Plausibilität gerade bei genauer Betrachtung der Materialien selbst. Wie Eberhard Baden bei seiner Analyse der Aussagekraft von Gesetzesmaterialien gezeigt hat 6 2 , sind die die Regelung tragenden gesetzgeberischen 58
Wundt, System der Philosophie, 3. Aufl. 1919, S. 327. Vgl. zu den Problemen dieser Wachstumsregel: Bloch, Über Heterogonie der Zwecke, in: ders., Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, GA Bd. 10, 1977, S. 431 ff., insbes. 435 ff. 59 Vgl. grundsätzlich zum Organismusbegriff: E. Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 1908; Zippelius, Das Wesen des Rechts, 4. Aufl. 1978, S. 167 f. Kritisch zur Organismusmetapher: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 162 und öfter. Zur politischen Funktion: ders., Korporation und Assoziation, 1965, S. 87, 89, 90, 95ff., 98ff., 146f. Zur Organismusmetapher als Begründungsfigur des Bedeutungswandels: Munzer/Nickel, Does the Constitution mean what it always meant?, in: Columbia Law Review, 1977, S. 1029 ff., 1046. Unabhängig von der Verbindung zur Organismusmetapher wird der Entwicklungsgedanke gegen eine Fixierung des Rechts gewendet bei Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 33: „Wer ein Gesetz in der Problemsicht und in den Lösungen seines Entstehens festschreiben wollte, nähme dem Recht den Atem und der das Recht vollziehenden Gewalt die Befugnis zum Nach-Denken der Vorschrift. Recht ist Kultur, also Entwicklung". 60
Horaz, Ars Poetica, 21: „Amphora coepit institui currente rota cur urceus exit?" Kohler, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 1906, S. 123 62 Vgl. Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., 393. Vgl. auch die entsprechenden Empfehlungen an den Gesetzgeber, diesem Zustand abzuhelfen, in: ders., Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 250 ff. 61
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Zwecke oft nicht belegbar, und zwar nicht nur wegen Dokumentationsmängeln, sondern auch wegen unzureichender sachlicher Durcharbeitung des Vorhabens. Der Gesetzgeber orientiert sich zumeist nur an typischen Problemen oder Situationen und überläßt die nähere Ausgestaltung der Praxis. Zudem kann man einer Rechtsnorm kaum je einen klar abgrenzbaren Hauptzweck zuordnen, sondern verschiedene, oft nicht einmal miteinander vereinbare Zwecke 63 . Der Konflikt zwischen diesen Zwecken muß von der Rechtsprechung dann erst im Wege einer Kollisionsentscheidung gelöst werden 64 . Schon diese praktischen Überlegungen machen den gesetzgeberischen Zweck als Fixpunkt der Auslegung problematisch. Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten kann man die Position der subjektiven Auslegungslehre noch aufrechterhalten. Man braucht dazu nur zu einer erweiterten Version des gesetzgeberischen Willens überzugehen, wonach dieser nur die Grundlinien einer Regelung oder deren Zweckkern determiniert 65 . Bei einem Fall, der nicht der typischen, vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Problemlage entspricht, kann man dann immer noch die Frage stellen, was die betreffenden Personen unter Berücksichtigung der Grundlinien der Regelung entschieden hätten, wenn die spezifische Konstellation von ihnen bedacht worden wäre. Damit bliebe die Rolle des gesetzgeberischen Willens als zentraler Referenzpunkt jeder Auslegung erhalten. Insoweit bedarf also die Kritik an der Konzeption der subjektiven Lehre noch einer weiteren Vertiefung. Diese wird dadurch erreicht, daß man die Verknüpfung des gesetzgeberischen Willens nicht mit dem Gedanken, sondern mit der Sprache hervorhebt: „Gegen die realpsychische Zurechnung des Gesetzes auf den Willen ist jedoch insbesondere der Einwand zu erheben, daß sie an dem Wesen der Rechtssetzung vorbeisieht und damit die sprachlichen Qualitäten des Gesetzes verkennt (...). Die Setzung bedeutet als Vorgang der sprachlichlogischen Sphäre eine Objektivierung, welche ihren Gegenstand dem Vorgang subjektiver Willensbildung entzieht und ihm ein Eigendasein zuweist" 66 . Dieses von Forsthoff nicht weiter entfaltete Argument ist unter Berücksichtigung sprachphilosophischer Erkenntisse tatsächlich geeignet, das von der subjektiven Lehre in Anschlag gebrachte Repräsentationsmodell an einem zentralen Punkt in Frage zu stellen. Denn bei der Vorstellung, daß hinter dem Gesetz ein formierender Wille steht, den der Normtext nachträglich verkörpert, wird tatsächlich die Sprache auf ein bloßes Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht reduziert 67 . Wenn man das vom Repräsentationsgedanken nahegelegte Modell 63
Vgl. dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 80 Vgl. dazu etwa BSG 39, 189ff., 192; 40, 179ff., 189; 41, I f f , 3f. 65 Köbl, Allgemeine Rechtstheorie, Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1029 66 Forsthoff, Recht und Sprache, 1940, S. 45 67 Vgl. zur Kritik an dieser Reduktion: Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, S. 79 ff; vgl. weiterhin Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 229 (Nr. 188) 64
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eines vorausdrücklichen Willens und seiner nachträglichen Verkörperung ernstnimmt, muß man auch die Frage stellen, welche Seite bei dieser Verknüpfung die eigentlich formierende ist. Diese Frage betrifft das grundlegende Problem einer Lehre, wonach die Textbedeutung durch die Absicht des Textproduzenten festgelegt ist. Eine Absicht ist immer etwas Bestimmtes, und eine bestimmte Absicht kann man nur im Rahmen einer bestimmten Sprache haben 68 . Das heißt, daß die Absicht nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt 69 . Daher kann man nicht von einer vorausdrücklichen Intention auf die Bedeutung des Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes auf die Intention 70 . Die Bedeutung eines Textes kommt also nicht, wie das die subjektive Auslegungslehre voraussetzt, so zustande, daß der Textproduzent irgendwelche bedeutungsverleihenden Akte ausführt, sondern die Intentionalität des Textproduzenten muß anknüpfen an ein bestimmtes System sprachlicher Bedeutungen71. Aus diesem Grund kann der gesetzgeberische Wille nicht als archimedischer Punkt außerhalb der Sprache angesehen werden, welcher gegenüber der Vielfalt der Interpretationen den identischen Textsinn wahrt 7 2 . Der vorausdrückliche Wille kann sich mit dem Normtext nur nach Maßgabe einer Ordnung verknüpfen. Diese Ordnung muß als Struktur formulierbar sein und ist damit auf Bedeutung und Sprache verwiesen 73. Damit kommt die äußerliche sprachliche Form der vorgeblich reinen Innerlichkeit des Willens zuvor. Wittgenstein hat dementsprechend an verschiedenen Sprachspielen gezeigt, daß es nicht möglich ist, Meinen oder Wollen als sprachunabhängigen Akt zu vollziehen 74 . Das Wollen ist kein privater Akt reiner Innerlichkeit, sondern wird Subjekten im Kommunikationsprozeß aufgrund bestimmter Kriterien zugeschrieben, die ihrerseits ein Sprach68
Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, Randbemerkungen unter §38. Auch §§337 ff., 358. Zusammenfassende Darstellung bei E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl. 1980, S. 36 ff. Kurze Darstellung der sprachphilosophischen Kritik am sinnkonstitutiven Subjekt auch bei Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48ff., 77ff. 69 Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 150 70 Vgl. dazu auch Frank, Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 251 ff., wo am Beispiel der Position Hirschs gezeigt wird, daß der Rekurs auf „authorial meaning" keineswegs auf die Individualität des Autors zurückführt. 71 Vgl. zu diesem Problem die grundlegende Auseinandersetzung Derridas mit Husserl: Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, passim 72 Vgl. dazu auch Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 25 ff. 73 Vgl. als knappe Darstellung der bei Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 1979, entwickelten Kritik: Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, insbes. S. 288 ff. Dort auch die Parallelisierung der Position Derridas zur sprachanalytischen Position Tugendhats im Hinblick auf die Kritik an einem vorsprachlichen Bewußtsein. 74 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, §552, §665. Vgl. auch zur Grammatik von „Meinen", „Wollen" u. ä. §§ 36, 540, 661, 693. Vgl. dazu auch Busse, Historische Semantik, 1987, S. 119 ff. 7*
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spiel eigener Art darstellen 75 . Als Ursprung seines Ausdrucks kommt der Wille immer zu spät. In der juristischen Diskussion wird dies erkennbar, wenn etwa schon Windscheid vom „vernünftigen Willen des Gesetzgebers" spricht und sich damit vom subjektiv-psychologisch bestimmten zum objektiv-systemisch bestimmten Willen des Gesetzgebers bewegt 76 . Tatsächlich hat die auktoriale Intention nie einen rein individuellen Status, sondern kann nur einer sprachlichen Konvention folgend formuliert werden, deren Kontext sie nie vollständig überblickt. Damit steht die subjektive Lehre in einer lediglich zeitlich nach rückwärts verschobenen Form 7 7 vor einer Schwierigkeit, die sich schon auf der Ebene der Rechtsbegriffe als unlösbar erwiesen hat 7 8 , nämlich daß die Gesetzesbindung als Bindung an eine fertig vorgegebene Norm semantische Regeln voraussetzt, die invariant, selbstidentisch und objektiv sind 7 9 . Dieses Problem läßt sich allerdings im kategorialen Rahmen der subjektiven Lehre nicht mehr formulieren, sondern führt zu der Lehre vom sog. objektiven Sinn des Gesetzes. 2.1.2 Der sinnstiftende
Text hat einen verschwiegenen Autor
Die Konsequenzen aus dieser Erschütterung des von der subjektiven Lehre vertretenen Repräsentationsmodells hat Radbruch am ausführlichsten entfaltet: „Es ist nicht anders in der geistigen als in der physischen Welt. Indem ich mich der Naturgesetze bediene, liefere ich mich ihnen zugleich aus — so werden auch die logischen Gesetze über mich Herr, sobald ich mich ihrer bediene. Der Sinn, den meine Äußerung haben sollte, ist deshalb unter Umständen durchaus nicht der Sinn, den sie hat; und zwar keineswegs etwa nur deshalb, weil es mir nicht gelungen ist, den gewollten Sinn zum Ausdruck zu bringen, vielmehr deshalb, weil jeder Sinn nur Teilsinn in einem unendlichen Sinnzusammenhang ist und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft: ,Was er webt, das weiß kein Weber' " 8 0 . Wenn der Wille des Gesetzgebers keine Größe außerhalb der Sprache ist, sondern selbst dem „unendlichen Sinnzusammenhang" der Sprache unterworfen ist, dann liegt der eigentlich formierende 75 Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 22 mit Verweis auf Wittgenstein 76 Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 2. Aufl. 1891, S. 54. Vgl. dazu auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 27ff. Vgl. auch Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 33 f. 77 Dies wäre dann eine objektive Auslegung, die nicht geltungszeitlich, sondern entstehungszeitlich durchzuführen wäre. Vgl. zu dieser Unterscheidung: A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 161 ff. 78
Vgl. dazu oben im Text Teil C 1.2 Vgl. dazu auch noch weiter unten zur Reformulierung der entstehungszeitlich objektiven Auslegungslehre durch die juristischen Ansätze mit Bezug zur linguistischen Pragmatik: Teil C 2.2.2 80 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S.213 79
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und der Auslegung Richtung gebende Bezugspunkt auf der Ebene sprachlicher Zusammenhänge. Für die objektive Auslegungslehre folgt daraus, daß der Sinn des Gesetzes eine objektive Größe ist und daß alles, was man als Sinn des Textes verstehen kann, einschließlich der Kontexte, auf die sich der Text bezieht, objektiv dem Verstehen vorgegeben ist. Aus dem Argument, daß der gesetzgeberische Wille, um für seine Adressaten verstehbar zu sein, ohnehin nur solche Absichten verfolgen könne, für die sein Textformular allgemein verständliche Zeichen bereithalte, wird hier also gefolgert, daß Ziel der Auslegung nicht die Wiederherstellung eines vom Autor intendierten Wortsinnes sein könne, sondern nur der dem Text immanente objektive Sinn des Gesetzes selbst. Die scheinbar private oder einmalige Vorstellung, Absicht oder Zwecksetzung des Autors wird demnach mit ihrer Objektivierung aus der subjektiven Verankerung gerissen und in den Zusammenhang eines Systems gestellt, welches vom einzelnen her nicht nur nicht zu überblicken ist, sondern auch seiner Verfügbarkeit und Definitionsmacht prinzipiell entzogen ist. Der gesetzgeberische Wille gleicht in diesem Modell einem Bahnreisenden, der, nachdem er seine Fahrkarte gelöst hat, unabhängig von seinem Zutun und ohne weitere Steuerungsmöglichkeiten an einen Ort befördert wird, welcher nach dem Fahrplan schon vorher feststand. Der Auslegende kann sich hier damit begnügen festzustellen, ob der Gesetzgeber X bei der sprachlichen Objektivierungsstelle ein Ticket gelöst hat, und sich danach auf das Studium der (sprachlichen) Fahrpläne beschränken. Die Kritik am subjektiven Ausgangspunkt der juristischen Auslegungslehre verhärtet sich also, ausgehend vom Moment sprachlicher Objektivierung, zu einem Alternativmodell. Gegen das Prinzip der Autorschaft wird das Prinzip der Kommentierung gesetzt. Wenn der Autor mit seinen Vorstellungen und Absichten die semantische Identität des Textes nicht garantieren kann, muß der Text selbst diese Rolle übernehmen. Der Gesetzestext soll in seinem durch den systematischen Zusammenhang der Sprache garantierten Bedeutungsreichtum schon alle als „Anwendung" erscheinenden Sekundärtexte in sich enthalten. M i t dieser Konstruktion wird von der objektiven Lehre ein Prinzip der diskursiven Verknappung in Anspruch genommen, das Foucault unter dem Stichwort „Kommentar" beschrieben hat 8 1 . Im Rahmen dieser Figur kommt dem Sekundärtext die Aufgabe zu, zum ersten Mal das zu sagen, was im Text schon immer angelegt war, und unablässig das zu wiederholen, was eigentlich nie gesagt worden ist. Diese maskierte Wiederholung soll den Zufall des Diskurses bannen, indem sie ihm das Zugeständnis macht, daß das Neue zwar nicht im Inhalt der Aussage, aber im Ereignis ihrer Wiederkehr liegt. In seiner Analyse beschreibt Foucault die Kommentierung als ein spezifisches Verfahren der Kontrolle 8 2 , wonach die Arbeit der Kommentatoren mittels sekundärer Texte die Bedeutung der Primärtexte repetiert, festschreibt und auf die Reproduktion 81
Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 16ff., insbes. S. 18 Es geht dabei nicht um ein Einschließen oder Einsperren des Diskurses, sondern um seine innere Formation. Vgl. dazu Deleuze, Foucault, 1987, S. 63, 83 ff., 85 und öfter 82
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C. Theorie der Rechtsanwendung
eines vorgegebenen Sinns verpflichtet 83 . Die Interpretation ist damit nicht offen gegenüber einer Anzahl untereinander vergleichbarer Lesarten, sondern gefordert ist die eine authentische Interpretationsweise, welche entweder getroffen oder verfehlt wird. Die Möglichkeit des Verfehlens ist dabei nur eine empirische Einschränkung, die sich einzig aus der Tatsache herleitet, daß es keine absolut zuverlässige Technik des Verstehens gibt. Dies kann jedoch nichts daran ändern, daß alles, was wir tatsächlich verstanden haben, auf den objektiven Sinn des Textes zurückzuführen ist. Es geht also bei dieser juristisch säkularisierten Form der Inspirationslehre 84 nicht um die Produktion einer Entscheidung, sondern um die Affirmation eines bereits Vorentschiedenen 85. Man glaubt an eine geregelte Sprache, in welcher der fragliche Sachverhalt bereits klassifiziert ist; diese soll vom Auslegenden lediglich nachgesprochen werden 86 . In der praktischen Auslegungstätigkeit wird kommentiert, indem man den objektiven Sinn ausschließlich aus den inneren Beziehungen der Rechtstexte selbst entfaltet und den Text somit als weltloses, situationsabstraktes und insbesondere autorloses Gebilde behandelt 87 . Der Text soll gerade nicht zu den Gedanken eines zufalligen Autors hinführen, sondern dient als Anlaß, um den Reichtum der Sprache zu erschließen. Das Gesetz ist dadurch klüger als der Gesetzgeber, oder umgekehrt formuliert, es gilt den Gesetzgeber besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstand 88 . 83
Vgl. zur Stabilisierungsfunktion juristischer Dogmatik die Untersuchung von Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 184ff., 201 ff. 84
Vgl. dazu Haug, Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der objektiven Auslegung von Gesetzen, in: DÖV 1962, S. 329ff., 331 „(...) Nach der Inspirationslehre werden wirkliche Gedanken Gottes, nicht solche des Verkünders erkannt. Allerdings wird auch in der Jurisprudenz behauptet, der Jurist müsse bei der Auslegung auf die Stimme des ,objektiven Geistes4 lauschen, um der Rechtsidee Geltung zu verschaffen. Diese (wohl unbewußte) Parallele von objektivem Geist und Heiligem Geist muß jedoch bei näherem Zusehen erschrecken". Vgl. als positive Aufnahme der Beziehung zur Theologie und sogar zu Orakelsprüchen: Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 208 f. 85 Kritisch dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 138ff. Kritisch zum Bild des „Nachsprechens" auch Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 23 86 Vgl. dazu Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 1977, S. 18: „Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand — das bloße Rezitieren". 87 Vgl. kritisch zu dieser Textauffassung der objektiven Lehre: Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 86ff., 97 ff.; Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, insbes. S. 124 ff. 88 Vgl. dazu schon Schleiermacher, Hermeneutik, hrsgg. von H. Kimmerle, 1959, S. 87 f. Ausführlich Bollnow, Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, in: ders., Das Verstehen, 1949, S. 7 ff., jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik, Bd. I, Zur Philosophie der Geisteswissenschaften, 1982. Kritisch dazu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. 1974, S. 178 (Fn. 160), 257ff.; Baden, ebd., S. 105 ff.
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Die Voraussetzungen dieses Besser-Verstehens hat Radbruch vom Standpunkt der objektiven Lehre aus untersucht. Er stellt die Frage, ob man tatsächlich aus einem Text mehr herausholen kann, als sein Autor hineingelegt hat, oder ob man damit nicht ein Zauberkunststück ausführt, das aus einem „Behältnis" 89 mehr herausholt als hineingelegt wurde. Zur Beantwortung dieser Frage stellt Radbruch dann sprachtheoretische Überlegungen an: „(...) der Zug im Schachspiel hat im Zusammenhang des Spieles möglicherweise einen ganz anderen Sinn, als ihn ihm der Spieler beilegte. Ein solcher Zug im Schachspiel, über den der Spielende nicht allein bestimmt, ist aber jeder Satz, den wir sprechen. ,Die Sprache denkt und dichtet für uns' — d.h.: indem ich denke und spreche, füge ich meinen Gedanken in eine Gedankenwelt, die unter ihrer besonderen Eigengesetzlichkeit steht. So wahr ich nicht in der Lage bin, eine Sprache und eine Begriffswelt für mich allein neu zu erzeugen, so wahr gebe ich, was ich ausspreche, den eigenen Gesetzen der Begriffswelt, in der ich mich bewegen muß, anheim, knüpfe ich mit jedem Ausspruch begriffliche Beziehungen, die ich nicht entfernt zu übersehen vermag" 90 . Der Vergleich von Sprache und Schachspiel soll hier einen objektiven, vom Autor unabhängigen Sinn des Textes begründen. Aber trägt der Vergleich tatsächlich so weit? Die Regeln des Schachspiels sind Handlungsvorschriften, nämlich Anweisungen für Spielzüge91. Auch Sprachregeln kann man durch diejenigen Handlungen kennzeichnen, die nach ihnen vollzogen werden 92 . So hat Wittgenstein etwa den Vergleich von Schachspiel und Sprachspiel verwendet, um die essentialistische Frage „Was ist die Regel?" in die Frage zu verwandeln „Was ist das Kennzeichen für das Befolgen einer Regel?" 93 . Aber mit der darstellungstechnischen Rolle im Zusammenhang einer Essentialismuskritik ist dieser Vergleich auch schon erschöpft. Denn soziales Handeln ist eben wesentlich komplexer, als es der mit dem Schachspiel in Anschlag gebrachte Kalkülbegriff wahrhaben will 9 4 . Könnte man beim Schachspiel noch daran denken, im Sinne einer vollständigen Definition alle Anwendungssituationen zu beschreiben, so wäre ein solches Vorgehen für eine 89
Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 212 Ebd., S. 213 91 Vgl. Wittgenstein, Wittgenstein und der Wiener Kreis, Schriften 3, 1967, S. 119f. 92 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Schriften 4, 1973, S. 193: „Die Sprache ist für uns ein Kalkül, sie ist durch die Sprachhandlungen charakterisiert". Vgl. zu seiner spezifischen Verwendung des Kalkülbegriffs ebd., S. 116, 245. Zur Art der Zeichen Verwendung als Kalkül auch: ders., Wittgenstein und der Wiener Kreis, Schriften 3, 1967, S. 168f. 90
93 Vgl. Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Schriften 6, 1974, S. 409: „Ja der Ausdruck der Regel und sein Sinn ist nur Teil des Sprachspiels: der Regel folgen". 94 Wittgenstein hat im Hinblick darauf, daß sich alltagssprachliche Regelsysteme im Unterschied zu Logiksprachen nicht klar definieren lassen, den Begriff der Familienähnlichkeit eingeführt. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, §§65 ff.
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natürliche Sprache von vornherein zum Scheitern verurteilt 95 . Die Sprachregeln bilden insoweit kein den Regeln des Schachspiels vergleichbares Kalkül zur Deduktion des Sinns einzelner Aussagen. Auch Radbruch scheint diese Schwierigkeiten zu ahnen, wenn er ein paar Zeilen weiter seinen Schachspiel-Vergleich dadurch entwertet, daß er die Sprache als „unendlichen Sinnzusammenhang"96 bezeichnet. Aber mit dieser Betonung des unendlichen Verweisungszusammenhangs der Sprache wäre auch das von Radbruch hervorgehobene Ziel der objektiven Lehre dementiert, daß die Auslegenden „aus dem Gesetz für jeden denkbaren Rechtsfall eine klare und widerspruchslose Entscheidung entnehmen können" 9 7 . Deswegen muß Radbruch eine zusätzliche Prämisse einführen, welche den unendlichen Sinnzusammenhang wieder in die stabile Ordnung des Schachspiels bringt. A n dieser Stelle erscheint der objektive Geist, von dem jeder subjektive Geist nur Teil und Glied ist. Inspiriert von dieser Erscheinung versteht man den objektiven Sinn des Rechts, indem man es begreift „als einen Versuch zur Verwirklichung der Rechtsidee" 98 . Was also der unendliche Sinnzusammenhang in Frage stellt, nämlich das Ziel, aus dem „Behältnis" Normtext die einzig richtige Entscheidung zu entnehmen, soll durch die Rechtsidee möglich werden. Sie gestaltet den offenen und damit beängstigenden Verweisungszusammenhang der Sprache zu einer in sich strukturierten Totalität, worin jeder Text seinen vom Ganzen bestimmten Platz findet. Erst aus der Rechtsidee gewinnt der Normtext seinen objektiven, vom historischen Gesetzgeber und seinen Absichten unabhängigen Sinn 99 . Mit dieser Einführung der Rechtsidee ist der Ausgangspunkt der objektiven Lehre allerdings dementiert. Gegen die zentrale Stellung des Autors als Bezugspunkt der Interpretation hatte sie eingewendet, daß der Text nicht Instrument eines zufalligen Autors sein könne, sondern seinen Sinn in sich selbst trage. Die Objektivierung durch Sprache löse den Normtext vom historischen Gesetzgeber ab und weise ihm einen objektiven Sinn zu. Nun läßt sich aber, wie die objektive Lehre selbst gezeigt hat, dieser objektive Sinn auf der Ebene des Sprachsystems nicht einlösen. Die Sprache erscheint vielmehr wieder als Instrument, zwar nicht des Autors, aber des in der Rechtsidee kulminierenden objektiven Geistes. Damit reproduziert sich im Konzept der objektiven Lehre die Autorenfunktion in der Form eines hypostasierten Allgemeinen. Dort wo der allgemeine Sinnzusammenhang der Sprache über den beschränkten Horizont des Autors hinausführen sollte, erscheint der objektive Geist als verschwie95 Vgl. dazu auch Waismann, Verifizierbarkeit, in: Bubner (Hrsg.), Sprache und Analysis — Texte zur englischen Philosophie der Gegenwart, 1962, S. 154ff., 160f. 96 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 213 97 Ebd., S. 207 98 Ebd., S. 214 99 Vgl. dazu die ausführliche Diskussion am Beispiel des von Larenz unter Bezug zur Rechtsidee entwickelten Modells einer objektiven Auslegungslehre weiter unten im Text Teil C 3
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gener Autor. Das zunächst verdrängte Subjekt kehrt in der Maske eines sich der Sprache bedienenden Metasubjekts zurück. 2.1.3 Das Auslegungsmodell führt in eine diskursive
Endlosschleife
Aus der Rückkehr des verdrängten Subjekts schließen die Kritiker der objektiven Lehre, daß diese ihre Erwägungen über die Bedeutung des Normtextes auf der falschen Ebene angesiedelt habe. M i t dem expliziten Anspruch sprachwissenschaftlicher Argumentation soll dargetan werden, daß Inhalt und Wort in doppelter Weise differieren 100 : Einmal drücke das Wort immer nur eine Bruchteil des vorausgehenden Denkens aus, zum andern habe die Sprache im Hinblick auf ihre Praktikabilität eine eigentümliche Unbestimmtheit und Weite. Dies gelte jedoch nur für die Sprache als Möglichkeit, nicht für das gesprochene Wort als Geschehnis. Wenn die objektive Lehre den Bedeutungsreichtum der Sprache als möglichen Sinnträger auf das gesetzte oder gesprochene Wort übertrage, nehme sie eine metonymische Vertauschung vor. Als gesprochenes oder gesetztes Wort sei ein Text nämlich eindeutig. Mit dieser Überlegung sind wir nun nicht einfach zum Ausgangspunkt der subjektiven Lehre zurückgekehrt. Vielmehr geht es diesem Ansatz darum, die Argumentation der objektiven und der subjektiven Lehre in spezifischer Weise zu verbinden. Vermittelnde Positionen in der klassischen Methodenlehre gehen davon aus, daß die „Sprachstruktur" allein den Sinn des Normtextes nicht determinieren kann. Hinzutreten muß vielmehr ein Autor, der ein im Sprachsystem vorgegebenes Schema in einer bestimmten Situation verwendet. Die Bedeutung einer Äußerung ergibt sich dann additiv aus der vom Sprecher verwendeten Sprache und dem diesen Verwendungsakt tragenden Willen 1 0 1 . Aus dieser Addition von subjektiver und objektiver Lehre entsteht eine volle und mit sich identische Bedeutung, welche als historisches Faktum unveränderlich ist: „The speech has a date and a duration, not so its meaning. When a speech is over nothing can change what is meant. What has been said cannot be unsaid though later remarks can contradict it (...). Though the speech may be differently translated in different countries or at different periods, no one could judge the correctness of each new translation unless he assumed the meaning of the original speech to remain the same. Though expositions of what has been said can change, they can also be critizised, and the question whether a given exposition is loose or close, fair or biased, accurate or inaccurate, would not arise unless the meaning itself were invariant under exposition" 102 . Diese Aussage macht die Motive deutlich, 100 Vgl. dazu und zum folgenden Haug, Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der objektiven Auslegung von Gesetzen, in: DÖV 1962, S. 329 ff., 330 f. Ähnlich die Argumentation bei Roth-Stielow, Umwelt und Recht, in: NJW 1970, S. 2057ff., 2058 101 Vgl. zu diesen „vermittelnden" Lehren die Nachweise bei Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 29 und 58 ff. 102 L. J. Cohen, The Diversity of Meaning, 2. Aufl. 1966, S. 3. Kritische Diskussion dieses Konzepts und seiner Übertragbarkeit auf die Probleme der Bedeutung eines Verfassungstextes bei Munzer/Nickel, Does the Constitution mean what it always meant?, in: Columbia Law Review 1977, S. 1029ff., 1029 (Fn. 2)
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welche zu der Behauptung einer festen und historisch unveränderlichen Bedeutung des konkreten Sprechakts führen: Die Möglichkeit der Übersetzung, vor allem aber die der Auslegung scheinen diese feste Bedeutung zu fordern 103 . Zu diesem Zweck wird nun einfach das Prinzip der Autorschaft zu dem Prinzip der Kommentierung addiert. Denn man braucht einen klaren Beurteilungsmaßstab dafür, ob die Auslegung ihren Gegenstand trifft oder verfehlt. Die volle und mit sich identische Bedeutung des konkreten Sprechakts soll der Auslegung also eine substantielle Grundlage verschaffen. Garantiert wird sie hier nicht durch einen vorsprachlichen Willen, auch nicht durch das Sprachsystem oder den objektiven Geist, sondern sie entsteht als das Ergebnis einer additiven Verbindung von Sprache und gesetzgeberischem Willen. Diese situationsbezogene Bedeutung ist durch die Sprache und die Absichten des Autors ein für allemal festgelegt und stellt somit einen unverrückbaren Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung dar. Neben der grammatischen Auslegung ist damit die genetische Auslegung die entscheidende Erkenntnisinstanz für den vorgegebenen „Inhalt" des Gesetzes, und das vom Gesetzgeber „Gewollte" kann neben dem „Gesagten" die Reichweite des Gesetzesbindungspostulats bestimmen 104 . Die geschilderte Kombination von subjektiver und objektiver Auslegungslehre scheint zunächst Vorteile zu bieten. Denn sie behauptet weder, daß allein die Sprache des Gesetzes, noch daß allein der Wille des Gesetzgebers die Bedeutung des Normtextes bestimme. Aber tatsächlich führt sie aus den Aporien der klassischen Lehre nicht heraus. Sie verteilt diese Aporien lediglich gerecht auf zwei Seiten. Das Problem liegt hier in der Gegenüberstellung von „Gesagtem" und „Gewolltem", als seien dies getrennte Größen, welche zusammengezählt die Bedeutung des Gesetzes ergäben. Tatsächlich läßt sich weder das „Gesagte" unabhängig vom „Gewollten" verstehen, noch umgekehrt das „Gewollte" unabhängig vom „Gesagten" erkennen oder formulieren. Statt einer bloßen Addition müßte untersucht werden, wie beide Größen im Sprechen bzw. Verstehen konkret miteinander verbunden sind. Die äußere Kombination von subjektiver und objektiver Lehre addiert demgegenüber lediglich die Probleme rein sprachlicher und rein auktorialer Bedeutungskonzeptionen. Damit reproduziert sie die Aporien der klassischen Lehre auf einer neuen Ebene. Die „vermittelnden" Lehren exemplifizieren eine Haltung, welche Ernst Bloch am Beispiel eines kompromißbereiten Engländers beschreibt. Auf die Frage, ob die Seele sterblich oder unsterblich sei, antwortet dieser, daß die Wahrheit in der 103 Vgl. zum Paradigma eindeutiger Übersetzbarkeit als Quelle sprachphilosophischer Verwirrung: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 57f. 104 Vgl. dazu etwa Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff., 210ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 289ff.; Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 100f.; Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 294 f.
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Mitte liege. Auf diese Mitte zielen auch die Versuche im Rahmen der klassischen Auslegungslehre, die Sinnstiftung zwischen Text und Autor mehr oder weniger friedlich aufzuteilen. Aber ebensowenig wie zwischen Tod und Leben gibt es zwischen Intention und Konvention einen Mittelweg, solange man die aktive Rolle des Interpreten und die Vorgänge der semantischen Praxis ausklammert. Mit dem Scheitern vermittelnder Ansätze mündet die bedeutungstheoretische Spekulation der herkömmlichen Auslegungslehre in eine diskursive Endlosschleife: Die objektive Lehre kann dartun, daß der gesetzgeberische Wille mit der Objektivierung die vorausgesetzte Selbstidentität verliert und in den unendlichen Verweisungszusammenhang der Sprache hineingerissen wird. Die subjektive Lehre kann umgekehrt dartun, daß der unendliche Verweisungszusammenhang der Sprache im Rahmen der objektiven Lehre nur mit Hilfe eines verschwiegenen Autors eindeutig gemacht werden kann. Die Schwäche der jeweils eingenommenen Position wird damit verdeckt durch die berechtigte Kritik an den Schwächen der Gegenposition 105 . Diese Endlosschleife ist Indiz für ein grundlegendes sprachtheoretisches Problem. Der deduktive Ansatz der herkömmlichen Lehre überschlägt die Analyse der Praxis juristischer Textarbeit. Eine vorausgesetzte Bedeutungstheorie wird auf die juristischen Probleme lediglich angewendet, und man streitet sich auf der Ebene mehr oder weniger expliziter sprachtheoretischer Annahmen darüber, ob dem Text oder dem Autor die entscheidende Rolle zukommen soll 1 0 6 . Trotz der vordergründigen Heftigkeit des Methodenstreits weisen subjektive und objektive Auslegungslehre damit in zentralen Punkten gemeinsame Voraussetzungen auf. Die erste dieser gemeinsamen Voraussetzungen liegt in der positivistischen Rechtsnormtheorie. Danach ist die Rechtsnorm als Bedeutung im Normtext als Zeichenkette schon enthalten. Die in der Entscheidung des Streitfalls liegende Ordnungsleistung besteht nur in der deduktiven Ableitung einer einzelfallbezogenen Konsequenz aus dieser schon fertig vorausgesetzten Ordnung des Rechts. Die zweite gemeinsame Voraussetzung ist die Einordnung des richterlichen Handelns in die vom Bild der Auslegung vorausgesetzte Logik. Die Aufgabe des Richters beschränkt sich darauf, die objektiv vorgegebene Ordnung heraus105 Vgl. zu einer grundlegenden Kritik der herkömmlichen Willenslehre: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 128 ff.; ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 76; vgl. daneben auch schon C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 32 und 36 106 Ygi z u r Kritik dieser Parallelisierung von Text/Autor auch Munzer/Nickel, Does the Constitution mean what it always meant?, in: Columbia Law Review, 1977, S. 1029 ff., die darauf hinweisen, daß ein Gesetzestext zwar Beziehungen zu Äußerungen hat, aber sich nicht ohne weiteres mit einer Äußerung des Gesetzgebers gleichsetzen läßt. Vgl. insbes. Fn. 2. Interessant dabei der Vorschlag, die Verfassung als „text-based institutional practice" aufzufassen
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zufinden oder aus-zulegen. Er ordnet nicht, er spricht nur aus, was schon durch die mit dem Normtext notwendig verknüpfte Rechtsnorm geordnet ist 1 0 7 . Die dritte, zwischen subjektiver und objektiver Lehre gemeinsame Voraussetzung ist der Repräsentationsgedanke. Danach ist der Normtext und die Sprache des Rechts der rein passive Ausdruck einer ihr vorausliegenden Ordnung, welche entweder vom Gesetzgeber als Autor oder vom ,objektiven Geist' des Gesetzes definiert wird. A n dieser das Eigengewicht der Sprache vollständig verkennenden Prämisse mußte die klassische Auslegungslehre in der Praxis scheitern. Wenn man erst einmal erkannt hat, daß die Wurzel der geschilderten Endlosschleife auf dem Gebiet der Sprachtheorie zu suchen ist, dann liegt es nahe, die stillschweigend vorausgesetzten Annahmen der herkömmlichen Auslegungslehre zu explizieren und gegebenenfalls zu überprüfen. An dieser Stelle setzen Versuche an, den Erkenntnisstand der neueren Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft in den Zusammenhang der Rechtstheorie einzuführen. Soweit dieser Ansatz das Problem der Gesetzesbindung im Rahmen einer Rechtsanwendungslehre zu lösen versucht, wird er im folgenden zu diskutieren zu sein. 2.2 Das Decodierungsmodell: Bindung an die vom Sprachsystem oder Sprecher festgelegte sprachliche Bedeutung?
Die Einbeziehung sprachwissenschaftlicher Theoreme in die juristische Diskussion weist mehrere Phasen auf, wobei eine grobe Einteilung daraus abgeleitet werden kann, ob sich die entsprechenden Ansätze zur Diskussion der Gesetzesbindung stärker an systembezogenen Sprachkonventionen 1 oder einer verwendungsbezogenen Intention des Sprechers 2 orientieren. 2.2.1 Das Sprachsystem kann die feststehende Bedeutung des Textes nicht garantieren Die Rechtswissenschaft hat über Normtexte und deren Interpretation einen Bezug zur Sprache 3 und berührt insoweit den Erkenntnisgegenstand der
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Anders dagegen Munzer/Nickel, ebd., S. 1051 f. und öfter mit der Betonung des Konzepts von „reauthoring" 1 Vgl. zu den stärker an der sprachlichen Konvention orientierten Ansätzen einer sprachanalytischen Rechtstheorie die Nachweise bei Koch, Vorbemerkung: Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, in: ders. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. Iff., 4, Fn. 5 2 Vgl. dazu die weiter unten darzustellenden Ansätze von Baden und Hegenbarth. Die in der juristischen Diskussion gepflegte scharfe Gegenüberstellung von Konvention und Intention findet sich innerhalb der Sprachwissenschaft nicht mit vergleichbarer Akzentuierung. Vgl. dazu Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, im Erscheinen 1989
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Sprachwissenschaft. Aber die beiden Disziplinen tragen an diesen Erkenntnisgegenstand unterschiedliche Fragestellungen heran 4 . Insbesondere findet sich für das die Rechtswissenschaft kennzeichnende praktische Entscheidungsinteresse5 in der Linguistik kein Äquivalent 6 . Wenn Juristen sprachwissenschaftliche Theoreme aufnehmen und im Zusammenhang spezifisch rechtswissenschaftlicher Probleme verwenden, stellen sie diese Theoreme in einen neuen Kontext und geben ihnen dadurch möglicherweise einen Stellenwert und eine Bedeutung, welche von der Bedeutung im sprachwissenschaftlichen Kontext abweicht. Gerade auch das hier interessierende Problem der Gesetzesbindung unterwirft etwa die Semantik einer Fragestellung, welche nicht mit der Fragestellung identisch ist, die der Entwicklung semantischer Theorien zugrundeliegt. Diese Schwierigkeiten unterschiedlicher Disziplinen und vielleicht sogar gegenläufiger Erkenntnisprogramme 7 schließen eine einfache Anwendung sprachwissenschaftlicher Theorien auf die Jurisprudenz aus. Stattdessen ist zunächst festzustellen, welches Erkenntnisziel der juristischen Rezeption zugrundeliegt. Wenn man die juristische Diskussion unter dieser Fragestellung betrachtet, wird schnell deutlich, daß das Schlagwort vom „linguistic turn" ein Feldzeichen ist, das mittlerweile in fast allen Theorielagern den juristischen Argumenten vorangetragen wird 8 . Auch Positionen, welche bisher eher die stramme Haltung bevorzugten, formulieren nunmehr „in loser Anlehnung an die Spätphilosophie Wittgensteins" 9 . Einerseits scheinen sich die Juristen von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie grundlegende Einsichten zu versprechen. Andererseits fällt aber auf, daß die Juristen das sprachphilosophische und sprachwissenschaftliche Material entschlossen selektieren. Die angesprochene Verbindung von Demut und Arroganz weist allerdings eine spezifische Struktur auf. Die Sprachwissenschaft oder Philosophie wird nur solange als Autorität anerkannt, als sie sich den argumentationsstrategischen Zwecken der juristischen Diskussion unterordnen läßt. Wenn sie aber die 3 Vgl. dazu Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 6: „Rechtskultur ist Teil der Sprachkultur". Allgemein auch Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, 1977, S. 21 und öfter 4 Vgl. zur Unterscheidung von Materialobjekt und Formalobjekt einer Wissenschaft: A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. Iff., 3f. 5
Vgl. zu diesem Interesse F. Müller, Recht-Sprache-Gewalt, 1975, S. 22 und öfter Vgl. zu den Schwierigkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit auch den Diskussionsteil in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 7 Vgl. zum Begriff des Erkenntnisprogramms, der sich gerade nicht mit dem Begriff der Disziplin deckt: Bohnen, Individualismus und Gesellschaftstheorie, 1975, insbes. S. 4ff. 8 Natürlich gibt es insbesondere im Zusammenhang hermeneutischer Ansätze Positionen, welche von Anfang an die Sprachreflexion mitvollziehen. Vgl. dazu vor allem den in Unterpunkt C 2.3 darzustellenden Ansatz von Arthur Kaufmann 9 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 173 6
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grundsätzliche Sichtweise der Sprache innerhalb des Rechts in Frage stellen könnte, wird sie im Wege der Nichtbeachtung aus dem juristischen Spiel herausgehalten. Die vor den Toren der Jurisprudenz vollzogene Kontrolle wird sichtbar in der Art und Weise, mit der ein juristischer Zugriff auf die Sprachphilosophie motiviert wird: „Dabei stehen im Mittelpunkt einige wenige Resultate der analytischen Sprachphilosophie. Ein Rekurs auf Sprachphilosophie kann insofern kaum verwundern, als es der juristischen Methodenlehre, soweit sie Auslegungslehre ist, darum geht, Regeln dafür anzugeben, wie Juristen ,Fälle' dem Gehalt der Gesetze gemäß entscheiden können. Larenz etwa schreibt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß der ,mögliche Wortsinn' Ausgangspunkt und Grenze jeder Auslegung sein müsse. Nach dem je maßgeblichen Sprachgebrauch würden einem Ausdruck zumeist mannigfache,Bedeutungsvarianten' zukommen, aus denen dann mit Hilfe der übrigen Auslegungsregeln (Bedeutungszusammenhang, Regelungsabsicht des Gesetzgebers etc.) die maßgebliche Bedeutung zu ermitteln ist. In anderen Worten: die juristische Methodenlehre will Anleitung geben zur Ermittlung der Bedeutung sprachlicher Zeichen. Damit drängt sich aber die Berücksichtigung der einschlägigen Wissenschaft, der Semantik, geradezu a u f ' 1 0 . In dankenswerter Weise werden hier die zentralen Kettenglieder der Argumentation schon vom Verfasser selbst hervorgehoben. Als erstes erscheint dabei die analytische Sprachphilosophie, deren Berücksichtigung im Rahmen der juristischen Methodendiskussion das zentrale Anliegen darstellt. Unter der Bezeichnung analytische Sprachphilosophie faßt man dabei vor allem Carnap, Stegmüller und den nach „geringfügiger Präzisierung" mit Carnap in Einklang gebrachten Wittgenstein 11 . Ob die genannten Autoren in diesem Argumentationszusammenhang noch wiederzuerkennen sind, kann offengelassen werden. Denn der juristische Sprachanalytiker, der etwa die Positionen von Carnap und Wittgenstein in einer etwas längeren Fußnote zusammenführt 12 , hält es kaum für nötig, die sprachphilosophische Diskussion darzustellen. Vielmehr greift er sofort auf das zu, was er für die „Resultate" dieser Diskussion hält. Von diesen Resultaten stellt er dann „einige wenige" in den Mittelpunkt. M i t der Frage, welche Gesichtspunkte diese Auswahl steuern, gelangen wir zu den Argumentationsgliedern, welche die „analytische Sprachphilosophie" mit der juristischen Methodendiskussion verklammern sollen. Erstes Stichwort ist hier die „Auslegungslehre". Diese soll die „Bedeutung" gesetzlicher Ausdrücke ermitteln, um so ihre Fälle „dem Gehalt der Gesetze gemäß" entscheiden zu 10
Koch, Vorbemerkung: Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, in: ders. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. Iff., 5 11 Vgl. dazu Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders. (Hrsg.), Juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 15ff., 29ff. 12 Vgl. dazu ebd., S. 139, Fn. 75; ähnlich lapidar: ders., Das Postulat der Gesetzesbindung im Lichte sprachphilosophischer Überlegungen, in: ARSP 1975, S. 27ff., 34
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können. Wenn hier von einer objektiven Bedeutung als Gehalt des Gesetzes ausgegangen wird, so ist diese Voraussetzung eine Konsequenz der positivistischen Auslegungslehre, wonach die Rechtsnorm als feststehende Bedeutung des Normtextes dem entscheidenden Gericht schon vorgegeben ist. Es kommt dann nur noch darauf an, die richtige oder maßgebliche Bedeutung zu ermitteln 13 . M i t der Ermittlung der Bedeutung sprachlicher Zeichen ist die Problemstellung angesprochen, welche den Schnittpunkt von analytischer Sprachphilosophie und juristischer Auslegungslehre darstellen soll. Weil die herkömmlichen Auslegungsregeln die Aufgabe der Ermittlung einer im Text vorgegebenen Bedeutung nicht lösen können 14 , soll ihnen die Semantik aus der Verlegenheit helfen. Diese Überleitung der gesetzespositivistischen Problemstellung von der herkömmlichen Auslegungslehre auf die Semantik hat Folgen für jede der betroffenen Disziplinen: Die juristische Methodenlehre wird zur Briefkastenfirma mit der einzigen Aufgabe,die Probleme des gesetzespositivistischen Auslegungsmodells so umzuformulieren, daß sie im Rahmen einer spezifischen Semantik lösbar werden. Andererseits sollen sich sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Theorien unter dem Homogenität vortäuschenden Titel „die Semantik" einer Problemstellung anbequemen, welche sich aus der positivistischen Rechtsnormtheorie und Auslegungslehre ergibt. So grob diese Vereinfachungen bei beiden Disziplinen auch sein mögen, lassen sie doch ganz deutlich den grundlegenden Entschluß hervortreten, der die juristische Selektion des sprachphilosophischen Materials steuert: Es ist die Übernahme der positivistischen Theorie der im Text vorgegebenen Rechtsnorm und deren Ausdehnung zu einer juristischen Theorie der Sprache. Im Wege einer gesetzespositivistischen Instrumentalisierung soll „die Semantik" dann folgenden Fragen unterworfen werden: „(1) Was unter ,Bedeutung4 eines sprachlichen Zeichens verstanden werden kann; (2) ob und gegebenenfalls wie die Ermittlung der Bedeutung sprachlicher Zeichen möglich ist; (3) wie es kommt, daß über die Anwendung sprachlicher Zeichen auf Gegenstände nicht selten Unsicherheit besteht (eine Erfahrung, die gerade Juristen häufig machen); (4) ob die juristischen Methodenregeln geeignet sind, die Bedeutung gesetzlicher Vorschriften zu ermitteln; (5) ob und wie sich Bedeutungsermittlungen von anderen juristischen Behandlungsweisen gesetzlicher Vorschriften abgrenzen lassen" 15 . Nur scheinbar werden hier Fragen gestellt. Tatsächlich beinhaltet die Formulierung dieser Fragen ein theoretisches Programm, dem „die Semantik" unterworfen werden soll. Schon die Reihenfolge weist auf eine grundlegende 13 Vgl. dazu Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretation, in: EuGRZ 1986, S. 345 ff., 356 f.; ders./Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff. 14 Koch, ebd., S. 347 und ff.; ders./Rüßmann, ebd., S. 163 ff.; ders./Herberger, Zur Einführung: Juristische Methodenlehre und Sprachphilosophie, in: JuS 1978, S. 81 Off., 811 15 Koch, Vorbemerkung: Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, in: ders. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. Iff., 5
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Perspektive hin. A m Anfang des entwickelten Katalogs steht die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Zeichen. Erst wenn mit der Antwort auf die Fragen (1) (3) die sprachtheoretischen Voraussetzungen geklärt sind, werden mit den Fragen (4) und (5) die damit geschaffenen Grundlagen im Wege der Deduktion auf die juristische Methodenlehre angewendet16. Aber kann ein Versuch, Sprachphilosophie und juristische Methodenlehre zu vermitteln, wirklich bei einer vorausgesetzten Theorie über die Sprache beginnen? Müßte man nicht zunächst die spezifische semantische Praxis des juristischen Sprachspiels untersuchen, bevor man über die Bedeutung sprachlicher Zeichen spricht? Und kann man überhaupt in der geschilderten Weise über die Bedeutung reden? M i t der im zitierten Problemkatalog vorgeschlagenen Reihenfolge ist über alle diese Fragen schon entschieden17. Analog zu der Bewegung, mit der die positivistische Theorie ihren Begriff der Rechtsnorm unabhängig von der wirklichen Entscheidungspraxis a priori festlegt, wird hier eine den Positivismus legitimierende Sprachtheorie unabhängig von der wirklichen juristischen Textarbeit entwickelt. Diese Vorentscheidung über die Sprachtheorie bestimmt dann alles weitere. So will Frage (2) das Problem klären, wie die als objektiv vorausgesetzte Textbedeutung ermittelt werden kann. Statt in der gerichtlichen Praxis zu untersuchen, ob der aufgespannte Gegensatz von Bedeutungsermittlung und Bedeutungsfestsetzung juristischer Textarbeit überhaupt angemessen ist, wird hier nur nach der technischen Realisierung einer vorausgesetzten Sprachtheorie gefragt. Damit ist von vornherein ein Ansatz ausgeschlossen, der in der gerichtlichen Entscheidungspraxis sichtbar machen will, wie die Bedeutung von Normtexten im richterlichen Handeln allererst konstituiert wird. Wiederum verhindert also die aus Lesefrüchten destillierte Semantik eine Analyse der wirklichen Zusammenhänge. Eine solche Analyse könnte zwar die in Frage (3) angesprochene Unsicherheit nicht vollständig beseitigen, aber doch anstelle einer illusorischen Sicherheit die wirklichen Bindungen praktischer Rechtsarbeit einfordern. Die Fragen (4) und (5) sprechen dann die vorher linguistisch verkleidete Entscheidung für die positivistische Rechtsnormtheorie offen aus. Danach zielt die Auslegungslehre auf die Ermittlung einer vorgegebenen Bedeutung ab und läßt sich von anderen Operationen der sog. Rechtsfortbildung klar abgrenzen 18. In dem zitierten Katalog werden also die Fragen der klassischen Auslegungslehre lediglich umformuliert. Daß vielleicht schon die ganze Problemstellung auf einer juristenspezifischen Sicht der Sprache beruhen könnte und gerade sie einer sprachphilosophischen Befragung bedürfte, kommt dem entschlossenen 16 Vgl. dazu auch Koch, Das Postulat der Gesetzesbindung im Lichte sprachphilosophischer Überlegungen, in: ARSP 1975, S. 27ff., insbes. 34 17 Vgl. zur Kritik an der Position Kochs grundlegend: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 287 ff.; sowie Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 18 Vgl. hierzu auch die Darstellung von Kochs Position bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S.42ff.
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Sprachtheoretiker nicht in den Sinn. Wo die eigentlichen Probleme beginnen, ist in der Formulierung der Fragen schon eine Antwort vorgegeben. Eine juristisch selektierte Semantik kann sie nur noch beglaubigen. Die linguistische Erkenntnisperspektive soll nicht zur Untersuchung der praktischen juristischen Textarbeit beitragen, sondern eine juristisch schon vorentschiedene Sprachtheorie lediglich geringfügig präzisieren. Die angestrebte Fortentwicklung des herkömmlichen Auslegungsmodells bezieht sich lediglich auf die methodischen Instrumente, mit denen der vorgegebene Inhalt des Normtextes ermittelt werden soll. A n die Stelle des grammatischen und systematischen Konkretisierungselements tritt hier die Analyse des Sprachgebrauchs. Die Leistung des juristischen Sprachanalytikers liegt also darin, daß er die herkömmliche Problemstellung in eine neue Terminologie überführt 19 und in dieser Wiederholung gleichzeitig verschiebt. Durch den Austausch des Instrumentariums der juristischen Auslegungslehre gegen vorgeblich sprachwissenschaftliche Instrumentarien macht er die impliziten sprachtheoretischen Voraussetzungen des klassischen Gesetzespositivismus zu einer expliziten Sprachtheorie. Diese Sprachtheorie wird damit auf den Begriff gebracht, stellt ihre Forderungen an die Sprachwissenschaft und macht damit deutlich, welche Aufgabe die juristische Rezeption der Semantik erfüllen soll: angestrebt wird eine semantische Reformulierung des von der objektiven Lehre vorausgesetzten Prinzips der Kommentierung. Der Sprachwissenschaft soll damit die Aufgabe zugewiesen werden, eine Legitimationsinstanz für juristische Rechtfertigungszwänge bereitzustellen. Diese Instrumentalisierung der Sprachwissenschaft tritt noch deutlicher hervor, wenn sich der Überschwang juristischer Orientierungssuche über die Nüchternheit sprachanalytischer Betrachtungen hinwegsetzt. Neben den „Schwundprogrammen", die mit sprachphilosophischer Hilfe den wissenschaftlichen Kern der Jurisprudenz retten wollen 2 0 , gibt es auch Konzeptionen mit sehr viel weitergehenden Erwartungen an die Sprachwissenschaft. Immer wieder taucht in der juristischen Literatur das Bild von der Sprache auf, die für den Sprecher nicht nur dichtet, sondern auch denkt 2 1 . Der „Struktur" der Sprache soll dabei eine Sogwirkung für unser Denken zukommen 22 . Oder, noch 19 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 210ff. „Wortsinnfestsetzungen im Lichte der gesetzgeberischen Zweckvorstellungen", S. 221 ff. „im Lichte" der ratio legis usw. 20 Vgl. dazu ebd., den Teil 4, der den Titel trägt „Jenseits der Gesetzesbindung". Es geht also zunächst um ein „Schwundprogramm", das den „eindeutigen Wortlaut" als wissenschaftlichen Kern des Gesetzespositivismus bewahren will, indem es sich von den dialektischen und hermeneutischen Epizykeln des positivistischen Modells trennt. Mittels der „Semantik" wird eine Rückverhärtung des klassischen Auslegungsmodells auf den Bereich der eindeutig ermittelbaren Textbedeutung angestrebt. Jenseits dessen liegt dann „Gerechtigkeit" usw. 21 Vgl. dazu Radbruch, Rechtsphilosophie, 1973, S. 213 22 Vgl. Großfeld, Sprache und Recht, in: JZ 1984, S. 1 ff., 4
8 Christensen
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bestimmter: „Die Sprache als entscheidende geistige Kraft — das gilt wegen der engen Verbindung von Sprache und Recht für das Recht in besonderem Maße. Gewiß bedient sich das Recht der Sprache, aber die Sprache ist stärker als das Recht: Sie wirkt in das Recht als gestaltende Kraft hinein" 2 3 . Die Sprache soll hier zwar nicht das „Ganze" des Rechts bestimmen, aber nur, weil hinter diesem „Ganzen" noch eine über die Einzelsprache hinausgehende „universale Tiefenstruktur der menschlichen Grammatik" liegt 24 . Von dieser wird dann gesagt: „Vielleicht sind alle positiven Rechtssysteme nur die Oberfläche einer einzigen Tiefenstruktur des Rechts, die allen Menschen gemeinsam ist. Die Kenntnis und Fertigkeit darin werden auf alle Menschen genetisch übertragen. Die Tiefenstruktur legt uns eine Reihe von Grundpflichten a u f ' 2 5 . Unter Bezug auf die generative Transformationsgrammatik Chomskys wird hier also nach einem „Naturrecht im DNA-Code" 2 6 gesucht. Dies mag auch unter den juristischen Versuchen, sich der Sprachwissenschaft zu bemächtigen, eine Extremposition darstellen. Aber es macht doch die Anstrengung deutlich, mit der juristischen Ordnungsvorstellungen ein sprachwissenschaftliches Fundament verschafft werden soll. Das Programm einer juristischen Instrumentalisierung der Sprachwissenschaft als Legitimationsinstanz steht damit fest. Aber es stellt sich die Frage, ob dieses Programm überhaupt eingelöst werden kann. Zur Einlösung der von Seiten der Juristen vorausgesetzten Ordnungsvorstellungen bieten sich dabei vor allem systemlinguistische Ansätze als natürliche Verbündete an. Sie scheinen dem juristischen Traum von einem das richterliche Sprechen ordnenden universellen Code am weitesten entgegenzukommen. Der Überschwang juristischer Erwartungen läutert sich allerdings, wenn die allgemeinen Betrachtungen über „Sprache und Recht" zu konkreten empirischen Forschungsprogrammen weiterentwickelt werden 27 . So wird etwa unter 23
Ebd., S. 5 Ebd. 25 Perrot, Has Law a Deep Structure? — The Origin of Fundamental Duties, in: Lasok/Jaffey/Perrot/Sachs, Fundamental Duties, 1980, S. 1 ff., 1. Zitiert nach Großfeld, ebd., S. 6 26 Großfeld, ebd. 27 Vgl. zu diesem in seiner Bedeutung sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für die Sprachwissenschaft noch kaum gewürdigten Projekt: Brinckmann/Grimmer/Rave (Hrsg.), Logische Strukturen von Normensystemen am Beispiel der Rechtsordnung, 1971; dies. (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, 1971; dies. (Hrsg.), Syntax und Semantik juristischer Texte, 1972; Brinckmann/Grimmer, Rechtstheorie und Linguistik, 1974. Vgl. zur damaligen Rezeption der Sprachwissenschaft in der Jurisprudenz: Hartmann, Sprachwissenschaft und Rechtswissenschaft. Eine vergleichende Konfrontation, in: Rechtstheorie 1970, S. 45 ff.; Brinckmann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: ÖVD 2 (1972), S. 60 ff.; Podlech, Die juristische Fachsprache und die Umgangssprache, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 31 ff. Im Zusammenhang des vorliegenden Textes kann der Reichtum von linguistischen und juristischen Einzelproblemen, der in diesem interdisziplinären Projekt erarbeitet wurde, 24
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Bezug auf die strukturalistische Textlinguistik untersucht, ob man zu Gesetzestexten eine Grammatik ausarbeiten kann, welche eine Entscheidung darüber zuläßt, ob eine konkrete Formulierung als Paraphrase des betreffenden Gesetzestextes anzusehen ist oder nicht 2 8 . Dieses interdisziplinäre Programm sollte weittragende juristische Erwartungen einlösen. So versprach man sich, die Kontrolle bestimmter abgeleiteter Texte auf ihre Übereinstimmung mit den Normtexten linguistisch formalisieren zu können 29 . Auch konkurrierende dogmatische Theorien sollten als unterschiedliche Interpretationen eines Normtextes miteinander vergleichbar werden: „Die formal-linguistische Reformulierung dieser Interpretationen würde es ermöglichen, die Konsequenzen verschiedener Theorien gleichsam durchzurechnen'" 30 . Ausgangspunkt bei dieser empirischen Überprüfung juristischer Erwartungen ist das Postulat fester und präziser Bedeutung der Rechtssprache, welche hier formuliert wird unter Bezug auf die Sprachwissenschaft als „Bedürfnis nach einer exakten Behandlung sprachlicher Phänomene im Recht" 3 1 . Von der Sprachwissenschaft wird nun verlangt, daß sie sich diesem Bedürfnis unterwirft: „Die inhaltliche Gegenüberstellung der einzelnen Textbestandteile ist das, was in der herkömmlichen Rechtstheorie als Subsumtion' bezeichnet wird. Linguistisch ist zu fragen, ob es auf der Ebene der ,Basissemanteme', also der Bedeutungsbestandteile, die die Bedeutung der einzelnen Wörter ausmachen, eine Entsprechung gibt, die ein positives oder negatives Ergebnis der Subsumtion determiniert. (...) Von der Antwort auf die Frage, ob sich für alle juristisch relevanten Wörter eine solche Bedeutungsanalyse erarbeiten läßt, hängt die Fruchtbarkeit linguistischer Verfahren für die Rechtstheorie a b " 3 2 . Die Probleme juristischer Subsumtion sollen hier also durch Rückgang auf die in der Sprachstruktur vorgegebenen Bedeutungsbestandteile gelöst werden. Innerhalb der Sprachwissenschaft wird dabei die Erforschung der formalen Aspekte von der linguistischen Pragmatik unterschieden. Für die Lösung der angesprochenen Subsumtionsprobleme sei vor allem der formale Aspekt und der mit ihm verbundene Sprachbegriff von Bedeutung: „Die exakte, auf formale Darstellung ihrer Regelhaftigkeit ausgerichtete Erforschung der Sprache setzt eine neue Definition des Gegenstands der Sprachwissenschaft voraus: Sprache konnte (für diese Zwecke) nicht mehr als Gebilde betrachtet werden, das sich in erster Linie durch seine,historische Entwicklung durch die Zeit' auszeichnet (,diachronische Betrachtungsweise'), sondern das sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in nicht diskutiert werden. Hier kann nur der eine Aspekt einer möglichen Auswirkung dieser Untersuchung für das Problem der Gesetzesbindung dargestellt werden. 28 Vgl. Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, 1971, S. 87 ff. 29 Garstka, Zum Beitrag der Linguistik zur rechtswissenschaftlichen Forschung, in: Rechtstheorie 1979, S. 92ff., 99 30 Ebd. 31 Ebd., S. 93 32 Ebd., S. 98 8*
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einem exakt beschreibbaren Zustand befindet (,synchronische Betrachtungsweise'), ja das durch alle akzidentiellen Erscheinungsformen hindurch einheitliche Strukturmerkmale aufweist" 33 . Die Sprache bildet aus dieser Sicht ein Reservoir von Zeichen und Verwendungsregeln, welche zu einer idealen Kompetenz zusammengefaßt werden können, und dann die Performanz einer konkreten Äußerung durch Regeln der Generierung erklären 34 . Die Generierungsregeln einer im Anschluß an Chomsky ausgearbeiteten strukturalistischen Sprachtheorie sollen dann das „Durchrechnen" konkurrierender Normtextinterpretationen ermöglichen. Weil dieses Forschungsprogramm im Unterschied zu der etwa bei Koch gewählten Orientierung an Kategorien logischer Idealsprachen in sehr viel stärkerem Maß auf die Realität juristischen Sprechens zugeht, konnten in der juristischen Rezeption und Anwendung sprachwissenschaftlicher Theoreme schon früh die Grenzen der damit eröffneten Möglichkeiten herausgearbeitet werden 35 . Zwar wurden die Ziele dieses Forschungsprogramms von Anfang an eingeschränkt auf „gut strukturierte Regelungsbereiche" 36 wie etwa das Verkehrsrecht. Daß es sich aber auch unter dieser Einschränkung nicht als einlösbar erwies, beruht auf zwei Ursachen. Die erste Ursache liegt in einem Übermaß juristischen Ehrgeizes, den die Sprachwissenschaft auch in ihrer strukturalistischen Spielart nicht erfüllen kann. Man überfordert die Textlinguistik mit dem Ziel, die Paraphrasen eines Textes so zu formulieren, daß sie durchrechenbar werden. Auf textstrukturalistischer Grundlage wendet sich Coseriu gegen die „Ansicht, daß es Ziel der Bemühungen um die Textlinguistik sein müsse, ein allgemeingültiges Verfahren für die Textinterpretation zu entwickeln, eine Art von ,Entdeckungsverfahren', das uns — etwas überpointiert formuliert — die ,richtige' Interpretation jedes beliebigen Textes liefert, wenn es nur »wissenschaftlich korrekt' angewendet wird. Das ist gerade nicht möglich. Wir können nie im voraus wissen, welche Zeichenrelationen in einem bestimmten Text festgestellt werden können, wenn wir diesen Text in seiner Individualität betrachten wollen. (...) Es gibt kein mechanisches Verfahren, alle denkbaren Möglichkeiten ,aufzuzählen' oder gar , vorherzusagen' " 3 7 .
33
Ebd., S. 94 unter explizitem Bezug auf Chomsky, Fn. 7 Vgl. dazu und zum folgenden ebd. 35 Vgl. Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, 1971, S. 129 f. 36 Vgl. dazu Garstka, Zum Beitrag der Linguistik zur rechtswissenschaftlichen Forschung, in: Rechtstheorie 1979, S. 92ff., 98 sowie Brinckmann/Grimmer (Hrsg.), Rechtstheorie und Linguistik, 1974, S. 187. Die dabei implizierte Forderung einer „Minimaldogmatik" wird eingelöst bei Kromer, Die Minimaldogmatik des öffentlichen Rechts am Beispiel des öffentlichen Sachenrechts, 1982. 37 Coseriu, Textlinguistik, 1981, S. 112 34
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Die zweite Ursache liegt in den Problemen des hier von juristischer Seite aufgenommenen strukturalistischen Sprachbegriffs. Auch im Rahmen der sprachwissenschaftlichen Diskussion wird ein systemlinguistischer Ansatz, der die Grammatik als unabhängig von der kommunikativen Situation und der Weltkenntnis eines konkreten Sprechers definieren will, zunehmend der Kritik unterzogen. Dies gründet zum einen auf innersystematischen Schwierigkeiten des strukturalistischen Ansatzes, wie etwa dem Problem einer Integration der Semantik in eine Theorie, die den Satz als formales Konstrukt definiert 38 . Zum andern aber auch in der Entwicklung der sprachphilosophischen Diskussion, welche, ausgehend von Wittgensteins Konzept des „Sprachspiels", den Übergang von der reinen Bedeutungs- oder Semantiksprache zur Gebrauchssprache vollzog 39 . Diese kritische Auseinandersetzung mit den Grenzen der strukturalistischen Sprachauffassung hat im Rahmen der linguistischen Diskussion zur sog. „pragmatischen Wende" geführt, welche sprachliche Texte als eingebettet in umfangreichere Kommunikationsprozesse betrachtet und damit im Zusammenhang mit sog. pragmatischen Faktoren wie Sprecher, Hörer, deren Wirklichkeitsverständnis und sozialen Voraussetzungen sowie Konsequenzen der Äußerungen und des Verstehens. Im Rahmen dieser pragmatischen Wende wird klar, daß die Bedeutung der sprachlichen Zeichen von den Sprechern der Sprache und ihrem Wirklichkeitsverständnis abhängt 40 , wobei in den konkreten sprachlichen Handlungen die Bedeutung und der Wert dieser Zeichen verändert bzw. überhaupt erst geschaffen wird durch die praktisch-semantische Tätigkeit. Der Versuch, auf der Grundlage der strukturalistischen Grammatik Paraphrasenbeziehungen juristischer Texte auszuarbeiten, erscheint unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse nicht mehr aussichtsreich. Der juristische Traum vom universellen Code, welcher das Sprechen des Richters in die Grenzen des Gesetzes bannt, erweist sich damit auch mit Hilfe des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus als nicht einlösbar. Das Prinzip der Kommentierung bleibt ein juristisches Postulat, das nicht über die konventionellen Zwänge der Sprache begründet werden kann. 2.2.2 Der Sprecher kann die Bedeutung des Textes nicht ein für allemal festlegen In Umkehrung der bei der herkömmlichen Auslegungslehre dargestellten Bewegung kann aus der gescheiterten Wiederbelebung des Prinzips der Kommentierung ein erneuter Rückgang auf das Prinzip der Autorschaft abgeleitet werden. Schon in der subjektiven Auslegungslehre sollte dieses Prinzip dem 38
Vgl. H. J. Schneider, Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax, 1975, S. 47ff.
m.w.N.
39 Vgl. dazu Braunroth u.a., Ansätze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik, 1976, S. 111 ff. m.w.N. 40 Vgl. dazu ebd., S. 63
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Gesetzesbindungspostulat einen harten Kern vorgegebener Bedeutung garantieren. Dieser Ansatz wird in der neueren Diskussion wiederaufgenommen unter Bezug auf die Kommunikationstheorie bzw. Pragmalinguistik. Ausgangspunkt der am Willen des Gesetzgebers orientierten Position 41 ist zunächst eine Kritik am herkömmlichen Textbegriff in der Rechtswissenschaft. Die vom Gesetzespositivismus unterstellte objektive Bedeutung des Gesetzestextes, wonach das Gesetz schlauer sein könne als sein Autor, widerspreche den Erkenntnissen der Pragmalinguistik 42 . Diese zerstöre die vom Gesetzespositivismus vorausgesetzte wortsemantische Annahme, wonach einem Zeichen außerhalb eines bestimmten Kontextes schon eine feste Bedeutung anhafte. Die Bedeutung eines Sprachzeichens lasse sich vielmehr nur textsemantisch in konkreten Äußerungskontexten untersuchen, wobei insbesondere die Intention des Sprechers berücksichtigt werden müsse 43 . Mit dieser Kritik wird ein substantialistischer Textbegriff erschüttert, welcher eine objektive Textbedeutung unabhängig von der konkreten Situation annehmen will 4 4 . Allerdings wird die an sprachwissenschaftliche Erkenntnisse anknüpfende Kritik dann wieder zurückgebogen in den Problemhorizont des positivistischen Text Verständnisses. Zwar hat die objektive Auslegungslehre einen „entpragmatisierten" Textbegriff, weil sie sich ganz auf den Text konzentriert und absieht vom Textproduzenten, der in einer bestimmten Situation mit bestimmten Absichten den Text hervorgebracht hat. Aber dieser Mangel läßt sich durch ein Kommunikationsmodell beheben, wonach der Gesetzgeber als in eine bestimmte Situation eingebundener Textproduzent das Gesetz an den Rechtsanwender als Rezipienten der Mitteilung richtet 45 . Dieses vollständige Kommunikationsmodell ermöglicht es dann dem Rechtsanwender, den Bedeutungsgehalt des Gesetzes richtig zu rekonstruieren entlang der „Leitfrage (...): Welche Konflikte wollte der historische Gesetzgeber aufgrund welcher Tatsachenansicht und welcher GerechtigkeitsVorstellungen wie lösen? (...) Gefragt ist also eine historisch-soziologische Analyse, die den Text in die politisch-gesellschaftlichen Kräfte der Zeit einbettet, in der er entstanden ist" 4 6 . Der Text hat danach die Bedeutung, die der Textproduzent ihm beilegt 47 . Es kommt darauf an, die 41 Vgl. dazu Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977; Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982. Vgl. zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Implikationen eines Kommunikationsmodells unter Abgrenzung zum Konzept der Textstruktur noch unten Teil D 2 42 Hegenbarth, ebd., S. 165 f. und öfter 43 Vgl. ebd., S. 86ff. und 97ff. 44 Vgl. zur Kritik der objektiven Lehre auch Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 124 ff. 45 Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 58 ff. (schematische Darstellung S. 56 f.) 46 Ebd., S. 172f. 47 Vgl. zu einer Kritik an Hegenbarths „radikalem Intentionalismus", die nicht auf die Gegenposition eines Objektivismus zurückfällt: Busse, Was ist die Bedeutung eines
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Bedeutung des Gesetzestextes so zu ermitteln, daß man historisch-genetisch nach dem Willen des Gesetzgebers fragt. Das ist in der Konsequenz ein Votum für die subjektive Auslegungslehre 48, die, obzwar mit unzulänglichen Mitteln, das Ziel der Auslegung richtig bestimmt habe 49 . Wenn demnach „Verstehen" nur ein solches „Verhalten" des Textrezipienten ist, das „sich auf ein Ermitteln des vom Sender Kommunizierten beschränkt" 50 , läßt sich zwischen dem Sprechen des Textes und dem Sprechen des Rechtsanwenders eine eindeutige Grenze ziehen. Bezugspunkt für die Abgrenzung von Auslegung, die den Text in seiner kognitiv vorgegebenen Bedeutungsstruktur zur Sprache bringt, und Rechtsfortbildung, worin der Rechtsanwender selbst spricht, ist hier der Wille des Gesetzgebers 51. Das Gesetz hat damit einen feststehenden Gehalt, und zwar noch nicht auf der Ebene der bloßen Sprachanalyse, aber jedenfalls unter Berücksichtigung des den Text tragenden zentralen Signifikats. Das kommunikationstheoretische Verstehensmodell wird damit zur Grundlage einer Einlösung des Gesetzesbindungspostulats gemacht. Aber der Versuch, den durch die Berücksichtigung pragmatischer Faktoren ins Wanken geratenen Gesetzestext mittels eines Kommunikationsmodells wieder zu einem Ort stabiler Sprache zu machen, weist in seiner Durchführung Probleme auf, die den scheinbar festen Grund des gesetzgeberischen Willens aufzulösen drohen 52 . Zunächst unterstellt die an die Kommunikationstheorie anknüpfende Position, daß das Verstehen von Gesetzestexten genauso funktioniert wie das Verstehen im Rahmen von Alltagsinteraktionen, bzw. so wie eine bestimmte Spielart der Kommunikationstheorie das Verstehen in Alltagsinteraktionen beschreibt 53 . Eine Äußerung ist danach auf der sprachlichen Ebene noch nicht eindeutig oder vollständig verstehbar. Der Rezipient muß außerdem Kenntnis über die Absicht des Textproduzenten haben, die Äußerung in eine Kommunikationsgeschichte einbetten können und weitere von der phänomenologisch orientierten Soziologie herausgearbeitete Interpretationsmechanismen anwenden, um die richtige Bedeutung der fraglichen Zeichenkette rekonstruieGesetzestextes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, im Erscheinen 1989 48 Zum Nachweis, daß die Logik des Kommunikationsmodells gerade nicht wie hier angenommen den Sender, sondern den Code privilegiert, vgl. Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, S. 111 f. sowie weiter unten im Text Teil D 2 49 Vgl. dazu Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 177 50 Baden, Gesetzgeber und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 156. Vgl. zum Verstehen als Aktivität ebd. 51 Ebd. Vgl. auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 144 und öfter 52 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dem kommunikationstheoretischen Ansatz: F. Müller, , Richter recht 4, 1986, S.42f. 53 Vgl. dazu Schütze u.a., Grundlagentheoretische Voraussetzungen methodischkontrollierten Fremdverstehens, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 2, 1978, S. 433 ff.
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ren zu können 54 . Nun ist aber der Gesetzgeber nicht einfach eine Person, wie sie uns im Alltag begegnet. Schon dies macht eine Übertragung von Interpretationsmechanismen aus Alltagsinteraktionen, ihre richtige Ermittlung einmal unterstellt, zu einem fragwürdigen Unternehmen. Vor allem aber sind die Interpretationsmechanismen, welche im sozialen Leben dazu dienen sollen, die Sprachregeln durch eine situative Komponente zu ergänzen, in der phänomenologisch orientierten Soziologie als invariante Strukturen des gegenstandskonstitutiven Bewußtseins angesetzt55. Deswegen verfehlt der Versuch, Kommunikation aus solchen invarianten Regeln des Bewußtseins zu konstituieren, den sozialen Charakter der Sprachregeln 56. Es sind nicht monologische Interpretationsregeln, die dadurch, daß jeder für sich ihnen folgt, Intersubjektivität hervorbringen, sondern es sind intersubjektive Sprachregeln, die umgekehrt das scheinbar monologische Verfahren der Interpretation erst ermöglichen. Diese Verkürzung der pragmatischen Dimension auf eine eklektische Ergänzung von Sprachregeln durch situationsbezogene Interpretationsregeln ist daher nicht geeignet, die Problematik des Verstehens von Normtexten zu präzisieren 57. Vielmehr führt sie im Ergebnis lediglich dazu, die Beziehung zwischen juristischem Entscheidungsträger und Gesetzgeber in soziologischen Kategorien einer Alltagsinteraktion nachzuerzählen. Über die herkömmliche Problemstellung ist man allein dadurch noch nicht hinausgekommen. Wie schon die Diskussion der subjektiven Lehre gezeigt hat, ist der gesetzgeberische Wille mit der Rolle überfordert, als eindeutige Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung die semantische Identität des Gesetzestextes zu garantieren. Daran ändert sich auch durch die „pragmalinguistische" Reformulierung nichts. Inhalt der Gesetzesbindung ist in dieser Konzeption nach wie vor die subjektive Aussageintention des Textautors bzw. Gesetzgebers. Vorausgesetzt ist dabei die Identität des vom Autor gemeinten Wortsinns, demgegenüber die vielfältige Deutbarkeit nur Konsequenz des zeitlichen und persönlichen Abstands der Interpretation ist 5 8 . Die historische und insbesondere genetische Auslegung sind die Instrumente zur Gewinnung dieses ursprünglichen Wortsinns, welcher gleichzeitig die Grenze der Auslegung und den Inhalt der Gesetzesbindung bezeichnet. Schon das Instrument der genetischen Ausle54 Vgl. Cicourel, Generative Semantik und die Struktur der sozialen Interaktion, in: Wiggershaus (Hrsg.), Sprachanalyse und Soziologie, 1975, S. 212ff., insbes. 227ff.; vgl. zur Rolle des Wissens in einem nicht kommunikationstheoretisch restringierten Modell kommunikativer Interaktion im Rahmen der Linguistik: Busse, Historische Semantik, 1987, S. 151 ff., 231 ff., 273 ff. 55 Vgl. Bentele/Bystrina, Semiotik, 1978, S. 64ff. 56 Vgl. dazu Wiggershaus, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Sprachanalyse und Soziologie, 1975, S. 7ff., insbes. 21 ff., 26f. 57 Friedrich Müller stellt richtig fest, daß mit der kommunikationstheoretischen Terminologie die Probleme allenfalls neu formuliert, nicht aber gelöst sind. Vgl. F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 42 58 Vgl. dazu auch Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 573 ff.
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gung 59 macht aber deutlich, daß der Wille des Gesetzgebers diese Funktion nicht erfüllen kann. Juristen ermitteln den „Willen des Gesetzgebers" dadurch, daß sie andere Texte, nämlich Parlamentsprotokolle und amtliche Begründungen, heranziehen und eben auslegen. Das vorgeblich reine Signifikat der gesetzgeberischen Intention verwandelt sich damit in einen seinerseits auslegungsbedürftigen Signifikanten und wird damit in die Kette zurückgestellt, die es doch dominieren sollte 60 . Damit führt die Bestimmung der Gesetzesbindung im Rahmen einer kommunikationstheoretisch fundierten subjektiven Auslegungslehre nicht aus den Aporien heraus, die schon bei der klassischen Konzeption der subjektiven Auslegungslehre festgestellt wurden. Denn der Gesetzgeber muß, wie jeder Autor, um seine Meinung mitzuteilen, sich des universellen Instruments der Sprache bedienen. Auch die Intention des Gesetzgebers ist insoweit keine reine Bedeutung im Sinne einer vorsprachlichen Größe, sondern als bestimmte Absicht nur formulierbar in der Objektivität sprachlicher Formen. 2.2.3 Das Decodierungsmodell scheitert an der Komplexität sprachlicher Ordnung Die klassische Auslegungslehre ging von der positivistischen Theorie einer im Text schon vorgegebenen Rechtsnorm aus. Das richterliche Handeln wird der Logik der Auslegungsmetapher untergeordnet. Dabei wird ein Repräsentationsmodell vorausgessetzt, wonach der Text des Gesetzes eine im Willen des Gesetzgebers oder Gesetzes vorgegebene Ordnung nur passiv zum Ausdruck bringt oder repräsentiert.Die sprachtheoretischen Bemühungen der juristischen Methodik setzen am letzten Glied der Kette von Rechtsnormtheorie, Auslegungsmetapher und Repräsentationsgedanken an. Es gibt demnach keinen grundlegenden Willen, welcher in der Sprache nachträglich seine Verkörperung findet, sondern der Gesichtspunkt einer vorgegebenen Ordnung ist innerhalb der Sprache selbst einzulösen. Das auf die Willenssubstanz bezogene Modell der Auslegung wird damit durch ein Modell richterlichen Handelns ersetzt, wonach der Richter den Code sprachlicher Ordnung entschlüsselt oder decodiert. Dabei bleibt allerdings die positivistische Rechtsnormtheorie als erstes Glied der von der klassischen Auslegungslehre hergestellten Verkettung erhalten. Verändert hat sich nur die zur Beschreibung des richterlichen Handelns verwendete Metapher und die zur Legitimation dieses Handelns herangezogene Instanz. Das Scheitern der klassischen Methodenlehre in ihrer subjektiven und objektiven Spielart führt die juristische Diskussion also über die Grenzen ihrer 59 Vgl. zum genetischen Konkretisierungselement: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 160 ff. Zur Abgrenzung von historischer und genetischer Auslegung vgl. ebd., S. 268 f. 60 Vgl. dazu F. Müller, ebd., S. 164, der betont, daß die von historischer und genetischer Auslegung ins Spiel gebrachten Texte ihrerseits nach allen methodischen Aspekten zu konkretisieren sind.
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eigenen Disziplin hinaus. I m Zuge dieser Bewegung w i r d hinter dem Text u n d sogar dem darin „verkörperten" W i l l e n eine weitere, bisher als selbstverständlich übersehene Größe sichtbar: die Sprache. Ihre „ O r d n u n g " verspricht dem praktischen Handeln der Juristen endlich den so lange gesuchten objektiven H a l t . Der Sprache k o m m t danach die Aufgabe zu, die Rechtfertigungsfrage v o m Richter zu einer objektiven Instanz zu verschieben. I n dieser E n t w i c k l u n g liegt eine innere Konsequenz: der klassische Begriff der Auslegung dehnt sich v o n der Vorstellung eines vor oder i m Gesetz liegenden Willens her a u f das neue Gebiet der Sprache aus. Die Einlösung des juristischen Traums v o m universellen Code w i r d damit der Sprache aufgebürdet. D a r i n besteht die „sprachphilosophische Wende" der juristischen Methodendiskussion. Die Versuche zur zitatweisen A n n e x i o n sprachwissenschaftlicher Theoreme reichen dabei v o n der Übernahme einer an logischen Idealsprachen orientierten Semantik über die generative Transformationsgrammatik, die strukturalistische Textlinguistik u n d schließlich sogar bis zur Sprechakttheorie 6 1 . Zumindest an K ü h n h e i t läßt der juristische Z u g r i f f auf die Sprachwissenschaft also nichts zu wünschen übrig. M a n dringt blitzschnell (mit Hilfe eines Einführungslehrbuchs) 6 2 auf das fremde Gebiet vor, erschlägt alle Differenzie-
61 Diese Aufzählung ließe sich leicht verlängern, etwa um die verschiedenen Spielarten phänomenologischer oder hermeneutischer Sprachtheorien. Vgl. zu einer an die Hermeneutik Schleiermachers anschließenden Sprachtheorie etwa Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 30 ff. 62 Als Beispiel ist hier etwa auf Koch hinzuweisen, der für seine schon angesprochenen Bemühungen, die Positionen von Carnap und Wittgenstein zu vermitteln, an das Lehrbuch „Sprachphilosophie" von Franz v. Kutschera anknüpft (vgl. dazu Koch, Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders., Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 13 ff., 139, Fn. 75). Koch geht davon aus, daß für Carnap und Wittgenstein Intensionen in einem doppelten Sinne objektiv seien. Einmal in der Beziehung zum faktischen Sprachgebrauch, zum andern in der Beziehung auf die Eigenschaften von Gegenständen oder Situationen. Diese Interpretation von Wittgensteins Sprachphilosophie stützt Koch (ebd., S. 40) mit folgendem Zitat: „Ein Ausdruck ist bedeutungsvoll nicht dann, wenn es eine Regel gibt, die er bedeutet, sondern wenn es eine feste Verwendungsweise für ihn gibt (...). Die Gebrauchsregel ist nicht ein hypostasiertes Etwas neben dem regelmäßigen Gebrauch, sondern sie besteht darin, daß wir einen Ausdruck allgemein so und so verwenden". Das Zitat stammt allerdings nicht von Wittgenstein, sondern von Kutschera (Sprachphilosophie, 1971, S. 234f.) und stellt eine spezifische Verkürzung des Ansatzes von Wittgenstein dar. Die Reduktion des Sprachgebrauchs auf den allgemeinen Gebrauch steht bei Kutschera im Zusammenhang einer Konsensustheorie der Wahrheit. Die „allgemein anerkannte Weise seiner Verwendung" (Kutschera, S. 229) bestimme den Bezug. Was wahr ist, werde durch Übereinstimmung entschieden; die Kategorien objektiv gültig und intersubjektiv gültig seien im erkenntnistheoretischen Sinn weitgehend identisch (ebd., S. 248 ff.). Diese Sichtweise vernachlässigt wichtige Einsichten des späten Wittgenstein. Wittgensteins Begriff des Sprachspiels bezieht sich auf konkrete Handlungsmodelle, worin die Einheit von Sprachform und Lebensform einen praktischen Sozialisationszusammenhang darstellt, der eben das Besondere des jeweiligen Sprachspiels ausmacht. Weil Wittgenstein mit dieser Sichtweise transzendentallogischer Formalisierung den Boden entzieht, besteht Kutschera entgegen
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rungen (die sich immerhin auch bei handfesten Systemlinguisten noch finden), rafft einigermaßen handliche F o r m e l n zusammen u n d pflanzt sie als Banner einer neuen Bedeutungstheorie i n der Jurisprudenz auf. U n d u m die Rechtsgrundlagen des eigenen Vorgehens nie verlegen, rechtfertigt m a n das Ganze noch damit, daß m a n den Juristen das A m t des Sprachwächters 6 3 zuweist. Es handelt sich beim Vorgehen der Juristen nicht eigentlich u m einen A k t der Instrumentalisierung, sondern eher u m eine polizeiliche A k t i o n , welche die v o n Verwahrlosung bedrohte Linguistik wieder zur grundlegenden O r d n u n g der Sprache zurückruft. W i e ist aber diese grundlegende O r d n u n g beschaffen? K a n n sie die Erwartungen der Juristen erfüllen? Die O r d n u n g der Sprache ist zunächst nichts, was i m Belieben des einzelnen Sprechers stünde. U m „ f r e i " sprechen zu können, muß dieser die Sprache vielmehr schon voraussetzen 6 4 . Diese O r d n u n g ist aber andererseits nicht als rein objektive Größe etwa v o n der Sprache „selbst" vorgegeben. Sie liegt vielmehr als Phänomen der dritten A r t 6 5 zwischen diesen Extremen, a m ehesten vergleichbar dem M a r k t p h ä n o m e n der sog. „invisible h a n d " 6 6 . I n der Sprachwissenschaft w i r d deswegen die herkömmliche Opposition v o n natürlich versus künstlich, objektiv versus subjekiv zunehmend i n Frage gestellt durch Differenzierungen i n dem Prädikat „ v o n Menschen gemacht": „Was w i r also brauchen Wittgenstein auf dem allgemeinen Gebrauch. Damit verwischt Kutschera zur Begründung seines eigenen transzendentallogischen Standpunkts den grundlegenden Unterschied zwischen der realistischen Semantik (Carnap und auch Wittgenstein I) und der praktischen Semantik der Philosophischen Untersuchungen. Während für eine realistische Semantik der Gebrauch von der Bedeutung bestimmt wird und somit eine scharfe Trennung von Semantik und Pragmatik möglich ist, richtet sich nach der praktischen Semantik die Bedeutung sprachlicher Zeichen nach ihrem Gebrauch in konkreten Situationen. Für diesen Ansatz gibt es keine Bedeutung an sich als allgemeiner Gebrauch außerhalb einer konkreten Sprechsituation, sondern nur den Gebrauch eines Wortes innerhalb eines bestimmten Sprachspiels. Erst dieser stellt die Bedeutung her. 63 Vgl. zu diesem aktiven Anteil der Juristen an der Sprachbildung und ihrem daraus abgeleiteten Wächteramt: Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 207 m.w.N. 64
Vgl. dazu Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 11, worin individuelles Sprechen als „Teilhabe an der Allgemeinsprache" bestimmt wird. 65 Vgl. dazu R. Keller, Zur Wissenschaftsgeschichte einer evolutionären Theorie des sprachlichen Wandels, in: Th. Cramer (Hrsg.), Literatur und Sprache im historischen Prozeß, Bd. I, 1983, S. 25ff., insbes. 31, 36 f., 38ff. m.w.N. aus der Geschichte und der aktuellen Diskussion der Sprachwissenschaft. Vgl. weiterhin Lüdtke, Sprachwandel als universales Phänomen, in: ders. (Hrsg.), Kommunikationstheoretische Grundlagen des Sprachwandels, 1980, S. 1 ff. Vgl. allgemein zu den Phänomenen der dritten Art: Vanberg, Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, 1975; weiterhin Popper, Zur Theorie des objektiven Geistes, in: ders., Objektive Erkenntnis, 2. Aufl. 1974, S. 172ff. 66 Vgl. zur Invisible-hand-Erklärung: R. Keller, Zur Theorie sprachlichen Wandels, in: ZGL 1982, S. 1 ff., 11 ff., m.w.N.; vgl. auch Nozick, Anarchie, Staat, Utopie, o.J. (1976), S. 32
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(...), ist anstelle der Dichotomie eher eine Trichotomie. Phänomene können sein (i) Ergebnis menschlicher Handlungen und Ziel ihrer Intentionen (der Kölner Dom, Kunsthonig, die Schlacht bei Austerlitz, F O R T R A N IV) (ii) nicht Ergebnis menschlicher Handlungen (die Alpen, der Hering, die Bienensprache) (iii) Ergebnis menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen (Inflation der D-Mark, unser Bevölkerungswachstum, der Trampelpfad über den Rasen, unsere Sprache)" 67 . Diese Differenzierung hat Konsequenzen für die auch in der Diskussion von subjektiver und objektiver Auslegungslehre und ihrer sprachphilosophischen Reformulierung sichtbar gewordene Frontstellung: die Polarität von sprecherbezogenem Verständnis der Sprache als Kulturprodukt und sprachsystembezogenem Verständnis als Analogie zum Naturprodukt muß überwunden werden. A n die Stelle der sich ausschließenden Gegensätze tritt ein auf das relative Recht beider Positionen Rücksicht nehmendes Verständnis der Sprache als Phänomen der dritten Art: „Unsere Sprache ist, wie alle natürlichen Sprachen, weder natürlich noch künstlich. Sie ist weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt. Sie ist ein Phänomen der dritten Art, die unbeabsichtigte Konsequenz individueller (intentionaler) kommunikativer Handlungen. Während Naturphänomene kausale Erklärungen fordern und Artefakte intentionale (finale), ist der adäquate Erklärungsmodus eines Phänomens der dritten Art die Invisible-hand-Erklärung" 68 . Die Ordnung der Sprache ist damit weder von objektiver Natur als geschlossenes System noch von subjektiver Natur als Vereinbarung freier Individuen. Sie ist vielmehr die unbeabsichtigte Nebenfolge individuellen Sprechens. Der juristischen Suche nach einer sprachlichen Ordnung läßt sich also nicht entgegenhalten, daß es eine solche Ordnung überhaupt nicht gibt. Die Juristen erwarten jedoch zuviel von der Kategorie sprachlicher Ordnung. Der in der Sprache aufweisbare Zusammenhang ist nicht von der Art, daß er die Probleme der Juristen an deren Stelle lösen könnte. Die Sprache ist nicht, wie das Bild vom Richter als Mund des Gesetzes nahelegt, dem Sprechen vorgeordnet. Vielmehr entsteht die Sprache aus dem Sprechen 69, aus Bedeutungserklärungen, Normierungen und Normierungskritik. Dabei läßt sich die gewordene Sprache als Werk nicht gegen das sprachliche Wirken als Herstellung dieses Werks ausspielen oder von dieser trennen: „Denn das Phänomen der dritten Art ist nicht eines von beiden — Bildungsprozeß oder Resultat — sondern beides zusammen; zumal ja, was wir Resultate nennen (...) keine End-Resultate von Bildungsprozessen sind, sondern Episoden in Prozessen kultureller Evolutionen, die weder einen
67 R. Keller, ebd., S. 78. Vgl. dazu auch allgemein v. Hayek, Ergebnisse menschlichen Handelns aber nicht menschlichen Entwurfs, in: ders., Freiburger Studien, Gesammelte Aufsätze, 1969, S. 97 ff. 68 R. Keller, Bemerkungen zur Theorie des sprachlichen Wandels, in: Z G L 1984, S. 63 ff., 66 m.w.N. 69 Vgl. zum Verständnis des Rechts als Vorgang des Sprechens: Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 21
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angebbaren Beginn noch ein angebbares Ende haben" 70 . Die Sprache ist damit nicht eine apriorische Ordnung des Sprechens, sondern sie wird als kontingente Ordnung von konkreten Sprachspielen in der jeweiligen semantischen Praxis verändert oder bestätigt. Entgegen den juristischen Forderungen findet man in der Sprache nicht die Kategorien der logischen Semantik oder des taxonomischen Strukturalismus. Dies sind vielmehr für bestimmte Zwecke vom Herstellungsprozeß der Sprache abgelöste methodische Instrumente 71 . Sie bilden entgegen der juristischen Aufnahme dieser Positionen keine objektive Ordnung der Sprache ab, der sich das richterliche Sprechen nur zu unterwerfen hätte. Die Ordnung des juristischen Sprachspiels wird nicht in der Sprache vorgefunden, sondern sie stellt sich im Sprechen der Juristen, in dogmatischen, methodischen und sprachlichen Reflexionen erst her. Diese Herstellung läßt sich jedoch auch nicht in die freie Entscheidung einzelner Individuen auflösen. Denn die Einhaltung bestimmter Maximen wird dem kommunikativen Handeln der Juristen nicht nur über die Rückmeldung von Erfolg und Mißerfolg, sondern zum Teil sogar explizit in Form verfassungsrechtlicher Anbindung der Methodenkultur vorgeschrieben 72 . Deswegen sind die spezifisch juristischen Maßstäbe von methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts, von Entwicklung der Rechts- und Argumentationskultur im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu untersuchen. Eine vorgestellte objektive Ordnung der Sprache kann diese Reflexion nicht ersetzen. Eine sprachphilosophische Wende der Jurisprudenz schließt also die Frage nach der Ordnung der Sprache nicht aus. Aber sie verweist die Analyse auf das konkrete Sprachspiel, dessen Maßstäbe weder beliebig noch naturgegeben sind, sondern aus dem experimentellen Charakter der Kommunikation 7 3 induktiv gewonnen werden müssen. Insoweit führt eine ernstgenommene sprachphilosophische Wende in der Jurisprudenz über den Zusammenhang einer Rechtsanwendungslehre hinaus in die Frage nach einer Rechtserzeugungsreflexion 74. Die geschilderten Versuche, die Sprache als objektive Legitimationsinstanz für die Rechtsanwendung heranzuziehen, setzen demgegenüber an die Stelle einer sprachphilosophischen Wende der Jurisprudenz eine juristische Wende der Sprachphilosophie. Die Dimension sprachlicher Ordnung muß dabei verkürzt werden. Entweder wird die Sprache zu einer dem Sprechen vorgegebenen 70 Vgl. R. Keller, Zur Theorie sprachlichen Wandels, in: Z G L 1982, S. 1 ff., 11. Vgl. zu evolutionären Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene auch: Popper, Die Evolution und der Baum der Erkenntnis, in: ders., Objektive Erkenntnis, 2. Aufl. 1974, S. 283 ff.; ders., Ausgangspunkte, 1979, S. 243 ff. 71
Vgl. dazu Busse, Historische Semantik, 1987, S. 103 und Fn. 37 Vgl. dazu noch oben Teil D 73 Vgl. zum experimentellen Charakter der Kommunikation: R. Keller, Bemerkungen zur Theorie sprachlichen Wandels, in: Z G L 1984, S. 63 ff., 66 74 Vgl. dazu noch Teil D 72
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Ordnung verdinglicht. Dann ist ihre Ordnung mit naturgesetzlichen Zusammenhängen gleichgesetzt, die nicht Ergebnis menschlichen Handelns sind. Oder die Sprache wird vom Sprecher hervorgebracht. Dann ist sie Ergebnis des menschlichen Handelns in dem Sinne, wie eine Computersprache ausschließlich final erklärt werden kann. Die natürliche Sprache als Phänomen der dritten Art liegt zwischen diesen einseitigen Erklärungsversuchen und wird deswegen in ihrer Komplexität von den juristischen Instrumentalisierungsversuchen verfehlt. Diese einseitige Verkürzung der Dimension sprachlicher Ordnung ist Ursache dafür, daß sich die diskursive Endlosschleife in der wechselseitigen Kritik von subjektiver und objektiver Auslegungslehre auf der Ebene juristischer Sprachtheorien wiederholt. Während der auf die Sprache als quasi-natürliche Ordnung abstellende Ansatz die konventionelle Bedeutung der Sprache betont und damit das Prinzip der Kommentierung reformulieren will, stellt der die Sprache als sprecherbezogenes Artefakt verstehende Ansatz auf die Intentionen des Autors ab und reformuliert damit das Prinzip der Autorschaft. Beide Ansätze suchen in der Logik des Auslegungsmodells nach einem festen Ausgangspunkt, von dem sich die zu treffende Entscheidung kontinuierlich ableiten läßt. Sprecher und Sprache werden wie in der klassischen Auslegungslehre extern relationiert, wobei die Erkenntnis einer sprachlich vorgegebenen Ordnung in der Entscheidung nur technisch angewendet wird. Die Parallelen in der Logik des Auslegungsmodells und des Decodierungsmodells machen deutlich, daß die sprachtheoretisch orientierten Analysen über die Voraussetzungen der klassischen Lehre nicht wirklich hinausgekommen sind. Eine vorausgesetzte Bedeutungstheorie wird auf die juristischen Probleme deduktiv angewendet, und man streitet sich auf der Ebene sprachtheoretischer Annahmen lediglich darüber, ob einer isolierten Konvention oder einer ebenso isolierten Intention die für die Bedeutungsbestimmung entscheidende Rolle zukommen soll. M i t dieser juristischen Wende der Sprachphilosophie ist also nur in der Terminologie, nicht aber in der Sache ein Fortschritt erreicht. Die Konsequenz einer bloßen Umbenennung des Auslegungsmodells liegt in der Verkürzung der praktischen Dimension juristischer Textarbeit. Neben dem Gesetzestext und seinem Autor verschwindet der juristische Leser, welcher als zuständiger Rechtsarbeiter den praktischen Streitfall zu entscheiden hat. Statt der praktischen Dimension, welche Text, Autor und Streitfall im Handeln des Rechtsarbeiters miteinander verknüpft, bringt die Perspektive des Auslegungsbzw. Decodierungsmodells nur Autor und Text als isolierte Faktoren in den Blick. Wenn man über das Verhältnis von Text und Autor, von Konvention und Intention sprachtheoretisch entschieden hat, dann ist die praktische Stellung des Lesers bzw. des Rechtsarbeiters damit festgelegt. Als unselbständige Ableitung aus einer vorausgesetzten Bedeutungstheorie ist die Praxis über technische Anweisungen hinaus nicht eigens zu thematisieren. Sie wird verdrängt dadurch, daß praktische Probleme sprachtheoretisch überhöht werden. An die Stelle einer
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Analyse von genetischem und systematischem Konkretisierungselement in der Rechtsprechungspraxis treten bedeutungstheoretische Spekulationen. Das Absehen von der praktischen Dimension juristischer Textarbeit führt im Ergebnis dazu, daß die sprachtheoretischen Analysen der Juristen auseinanderreißen müssen, was in der semantischen Praxis einen organischen Zusammenhang bildet: Die Reformulierung der subjektiven Lehre verabsolutiert die auktoriale Intention. Die Reformulierung der objektiven Lehre überanstrengt die Rolle sprachlicher Konventionen. Der Zusammenhang von Intention und Konvention in der semantischen Praxis juristischen Handelns bleibt auf der Strecke. Das Entweder/Oder der Alternative von subjektiver und objektiver Auslegungslehre, von Konvention und Intention, von Sprache als Naturding oder Artefakt läßt sich erst überwinden, wenn man den Instrumentalismus einer apriorischen Sprachtheorie durch eine praktische Analyse der Verstehensprozesse im juristischen Sprachspiel ersetzt. Diese Aufgabenstellung führt aber von der klassischen Auslegungslehre und ihrer sprachtheoretischen Reformulierung zum Programm der Hermeneutik.
2.3 Das Konkretisierungsmodell: Bindung an den zwischen Text und Autor umstrittenen hermeneutischen Sinn?
M i t dem hermeneutischen Ansatz 1 kommt das in den Blick, was von der klassischen Lehre und ihrer sprachtheoretischen Reformulierung ausgeklammert wurde: die zum Textverstehen führende Aktivität des Rechtsarbeiters. Damit kann die in der juristischen Konzeption sprachlicher Ordnung liegende Verkürzung in Frage gestellt werden durch eine Analyse des tatsächlichen Sprachhandelns im Recht 2 . Eher als die expliziten Versuche zur positivistischen Landnahme auf dem Gebiet der Sprachtheorie sind es hermeneutische Reflexionen, welche das mit „linguistic turn" bezeichnete Problem 3 im Rahmen der 1 Vgl. zum hermeneutischen Ansatz im Bereich der Jurisprudenz: Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff. m.w.N. Zum Begriff der Hermeneutik allgemein vgl. Bleicher, Contemporary Hermeneutics, 1980, S. 9 ff.; Gadamer, Hermeneutik, in: J.Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. III, 1974, S. 1067 ff. 2
Vgl. zur hermeneutischen Wendung und zur Analyse der tatsächlichen Vorgänge: J.Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 7ff. Das Element der Beschreibung der Praxis wird auch deutlich bei Schroth, Philosophische und juristische Hermeneutik, in: A. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 276ff., 285 f. Kritisch: Harenburg, Vorverständnis und Innovation. Ein Rahmenkonzept empirischer Innovationsanalyse, in: Harenburg/Podlech/Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung. Beiträge zu einer Entscheidungtheorie der richterlichen Innovation, 1980, S. 265 ff. 3 Vor einer Überschätzung des „linguistic turn" als substantielle Lösung der traditionellen Probleme warnt: Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, 1987, S. 283 ff.
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Jurisprudenz aufzeigen u n d bearbeiten 4 . A n die Stelle der instrumenteilen A n w e n d u n g eines als vorgegeben behaupteten Rechts t r i t t damit eine differenzierte Einschätzung der A k t i v i t ä t des Rechtsarbeiters i m Konzept der K o n k r e t i sierung 5 . Dieses Konzept hat allerdings vielfaltige u n d sogar gegensätzliche Ausformungen gefunden 6 . A u c h innerhalb der hermeneutischen Diskussion w i r d es i n durchaus unterschiedlicher Weise verwendet. D a r i n k o m m t zum Ausdruck, daß weder i n der philosophischen 7 noch i n der juristischen Diskussion 8 eine einheitliche u n d i n sich geschlossene K o n z e p t i o n der H e r m e n e u t i k 9 vorliegt. M a n k a n n deswegen nicht v o n der Konkretisierung sprechen, sondern faßt m i t diesem Begriff eine Mehrzahl durchaus unterschiedlicher Vorstellungen zusammen. Einig sind sich diese Positionen i n ihrem Bezug z u m juristischen H a n d e l n 1 0 als A k t i v i t ä t , die dem Bedeutungsverstehen vorausliegt. Sie unterscheiden sich i n der A r t u n d Weise sowie vor allem der Konsequenz, m i t der sie das juristische 4 Dem steht nicht entgegen, daß die Hermeneutik gerade keine Sprachphilosophie sein will (vgl. dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 362; Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff., 359). Denn die Hermeneutik verwahrt sich damit gegen eine sprachanalytische Reduktion der jeweils bereichsspezifischen Sachprobleme auf bloße Sprachprobleme. Vgl. zur diesbezüglichen Kritik an der Sprachanalyse: Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 73. Zu einer im Kontext der Hermeneutik entwickelten Sprachreflexion vgl. A. Kaufmann, Die Parallelwertungen in der Laiensphäre. Ein sprachphilosophischer Beitrag zur allgemeinen Verbrechenslehre, 1982, S. 25 ff. 5
Vgl. zum Begriff Konkretisierung: Gadamer, ebd., S. 312 Vgl. dazu außerhalb der hermeneutischen Tradition: Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 242. Allgemein: Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968; Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 187 ff. 7 Vgl. dazu Bleicher, Contemporary Hermeneutics, 1980 8 Vgl. zur juristischen Hermeneutikrezeption: U. Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 49 ff.; Schroth, Philosophische und juristische Hermeneutik, in: A. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 276 ff.; Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344 ff.; dort wird zu Recht daraufhingewiesen, daß in der deutschen Hermeneutikdiskussion vor allem die an Schleiermacher und an Gadamer anschließenden Theorien eine Rolle spielten, während die an Wittgensteins Sprachspielkonzept anknüpfenden Überlegungen (vgl. dazu Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, 1987, S. 343 ff.) im deutschsprachigen Raum keine große Rolle spielen (vgl. aber F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, der für die Bestimmung des wissenschaftstheoretischen Standorts von Rechtswissenschaft und ihrer Methodik den Sprachspielgedanken bei Wittgenstein mit an Gadamer anknüpfenden hermeneutischen Überlegungen verbindet, ebd., S. 32ff., 36ff.) 6
9 Vor einem zu voreiligen Schluß von der Verwendung des Wortes ,Hermeneutik' auf eine bestimmte Tradition warnt Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 85; vgl. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 70 10 Zur Rechtstheorie als Handlungstheorie vgl. A. Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, in: ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1984, S. 79ff., 85; F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 94
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Handeln als Konstituens der Textbedeutung untersuchen. Insbesondere ergibt sich die Unterschiedlichkeit der Konzeptionen daraus, ob sie im kategorialen Rahmen einer Rechtsanwendungslehre verbleiben und damit die Tätigkeit des Rechtsarbeiters auf das Vervollständigen und Präzisieren einer objektiv schon angelegten Ordnung beschränken 11, oder ob sie sich von der Annahme einer „lex ante casum" 12 ablösen und damit die Tätigkeit des Rechtsarbeiters im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion begreifen. I m Kontext einer Diskussion über die Voraussetzungen zur Einlösung eines Rechtsanwendungsmodells sind vor allem erstere von Interesse. Innerhalb des paradigmatischen Rahmens der Rechtsanwendung unterscheiden sich die hermeneutischen Konzepte der Konkretisierung danach, ob sie die objektiv angelegte Ordnung um den Autor des Textes oder den Text selbst zentrieren. Innerhalb dieses Bereiches kann somit auch unterschieden werden zwischen einer stärker subjektiv akzentuierten Position und einer stärker objektiv akzentuierten Position. 2.3.1 Der subjektive Geist des Gesetzgebers kann die Sinntotalität des Gesetzes nicht garantieren Die stärker subjektiv akzentuierende Auffassung von Konkretisierung hebt vor allem den Bezug der Interpretation zum Autor des Textes hervor. Die von der Interpretation zu erschließende Bedeutung einer Zeichenkette soll sich daraus ergeben, daß der Autor ein allgemeines, in der Sprache vorgegebenes Schema zu einem einmaligen Sinn konkretisiert. Die spätere Interpretation der so geschaffenen Zeichenkette oder Äußerung soll diesen schöpferischen Vorgang im „Wiederverstehen" 13 so gut als möglich nach vollziehen. Dabei geht es, entgegen der eklektischen Kombination von subjektiver und objektiver Auslegungslehre als additiver Beziehung, bei diesem „subjektiven" Konzept von Konkretisierung um eine innere Verbindung von sprachlicher Konvention und auktorialer Intention. Der Begriff der Konkretisierung wird damit verstanden als möglichst adäquates Nachvollziehen einer vom Autor hergestellten Vermittlung von allgemeinem sprachlichen Schema und konkreter, das Schema ausfüllender Intention. Nicht äußere Kombination voneinander unabhängig gedachter Faktoren wird hier angestrebt, sondern Nachvollzug einer einmaligen schöpferischen Sprachhandlung. Dieses Konzept nimmt auf die sprachliche Vermittlung des auktorialen Willens Rücksicht 14 und versucht trotzdem, den mit der auktorialen Intention 11
Vgl. zur Kritik F. Müller, ebd., S. 46ff., insbes. 51 f. Vgl. ebd., S. 47 13 Vgl. zu diesem Begriff Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 28 und öfter 14 Vgl. ebd., wo Schroth neben einer „wörtlichen Bedeutung" des Textes noch eine „Handlungsbedeutung" unterscheidet. Neben das Verstehen der Semantik tritt damit das Handlungsverstehen. Vgl. S. 79 und öfter. Vgl. auch die sprachphilosophische Präzisierung der Gesetzesbindung auf den S. 94 ff. 12
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gleichgesetzten gesetzgeberischen Absichten eine zentrale Stellung einzuräumen. Gegenstand der genetischen Auslegung ist nicht der psychologische Wille 1 5 , sondern die einmalige Sinnschöpfung des Autors bzw. das entsprechende Handeln des Gesetzgebers 16. Dementsprechend ist Ziel der genetischen Auslegung auch nicht die psychologische Einfühlung in die Seele des Gesetzgebers, sondern die Rekonstruktion oder der Nachvollzug der schöpferischen Intention, jedenfalls aber die größtmögliche Annäherung daran 17 . Auch hier ist die genetische Auslegung die entscheidende Erkenntnisweise für den „Inhalt" des Gesetzes18 und bestimmt insoweit die Reichweite des Gesetzesbindungspostulats. In der objektiven Auslegungslehre hatte Radbruch den unendlichen Sinnzusammenhang der Sprache eingeführt und dem objektiven Geist die Rolle zugewiesen, diese beängstigende Offenheit zu einer geschlossenen Struktur zu formen. In der dargestellten Auffassung des Konkretisierungsmodells tritt an die Stelle des hypostasierten Geistes das wirkliche Subjekt. Aber die Aufgabe bleibt die gleiche: Der unendliche Sinnzusammenhang der Sprache wird vom Autor zu einer eindeutigen Äußerung verengt. Die Rolle des objektiven Geistes fällt damit einem auktorialen Bewußtsein zu. Und um diese Aufgabe zu erfüllen, müßte der Autor nicht nur den Äußerungskontext, sondern auch die Sprache in ihrer Gesamtheit überblicken und beherrschen 19. Aber kann der Autor die ihm hier zugewiesene Rolle wirklich ausfüllen? Wittgenstein hat die skeptische Frage gestellt, ob die Vorstellung vom Autor als letztem Richter seiner Sinnintentionen nicht die notwendig intersubjektive Dimension sprachlicher Bedeutung verfehlen muß 2 0 . Er wirft damit das Problem auf, ob die vollständige Anwesenheit des Meinens in der Einmaligkeit der Äußerung überhaupt konstruktiv einlösbar ist oder nicht lediglich ein philosophisches Postulat darstellt. A n dieser Problemstellung sind die Versuche der juristischen Methodendiskussion zu messen, durch die Verbindung von allgemeinem sprachlichen Schema und auktorialer Intention der Auslegung eine substantielle Grundlage zu verschaffen.
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Vgl. ebd., S. 78 f. und öfter Vgl. auch die an Schleiermachers Hermeneutik anknüpfende Position von Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 319ff. 17 Vgl. dazu Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 291 sowie Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 179 ff. zu den Störungen des „Kommunikationsprozesses" zwischen Gesetzgeber und Anwender 18 Vgl. hierzu Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 343 19 Vgl. zur Kritik an dieser dominierenden Rolle des auktorialen Bewußtseins: Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., insbes. S. 145 und öfter 20 Vgl. dazu auch Kripke, Wittgenstein on Rules and Private Language, 1982, S. 55 und öfter 16
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Der hermeneutische Versuch, den sprachlichen Verweisungszusammenhang mit der auktorialen Intention zu verknüpfen, stützt sich auf die Position Schleiermachers 21. Danach ist die genetische Auslegung die Auslegung des Textes aus seinem Ursprung. Für Helmut Coing ist dabei vor allem der von Schleiermacher hergestellte Zusammenhang von Sprache und Individuum bedeutsam: „Dieser Gesichtspunkt ist von Schleiermacher in seiner Hermeneutik anhand des Zusammenhangs, der zwischen der Sprache als objektiver Gegebenheit und dem individuellen Denken besteht, entwickelt worden. Jeder Satz, der sprachlich ausgedrückt wird, ist mit beiden verbunden. Er ist auf der einen Seite Ausdruck eines individuellen Denkens, eines individuellen Geistes, und er ist auf der anderen Seite formuliert in einer geschichtlich gewordenen, objektiv festliegenden Sprache. Das führt dazu, daß die genetische Interpretation, die Interpretation also, die vom Ursprung her ein Wortwerk interpretieren will, sich sofort auf zwei Wege gewiesen sieht: einerseits auf die Frage nach der Persönlichkeit des Autors — Schleiermacher hat von der ,Lebenstotalität' des Autors gesprochen — und andererseits auf die nach den objektiven Gegebenheiten, die dieser Autor in der Sprache schon vorfand, in der er sich ausdrückt" 22 . In der neueren hermeneutischen Diskussion hat vor allem Manfred Frank 2 3 in der Theorie Schleiermachers den Ansatz gesehen, um die Trennung der sinnstiftenden Rolle des Subjekts von dem strukturalen Aspekt der Sprache zu überwinden. Der Text ist demnach als Tatsache zu verstehen, d. h. er verdankt seine Existenz der sinnstiftenden Tat eines Individuums 24 . Als Tatsache ist der Text auf drei Ebenen zu begreifen: Die erste Ebene ist die der allgemeinen Sprachstruktur, wonach die verwendeten Zeichen auf ihrem jeweils eigenen Konstitutionsniveau eindeutig abgegrenzt sein müssen. Die zweite Ebene ergibt sich aus den schon spezifischeren Anforderungen einer bestimmten Textsorte oder einem Genre. Die Einordnung des jeweiligen Textes in eine Textsorte 25 , wie etwa Erzählung, wissenschaftliche Untersuchung, juristische Entscheidungsbegründung usw., unterstellt die konkrete Äußerung einem konventionellen Muster. Auf der dritten Ebene des Schleiermacherschen Textbegriffes dagegen 21
Vgl. dazu etwa Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, insbes. S. 319 ff. sowie Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, insbes. S. 23 ff. 22
Coing, ebd., S. 320 Vgl. dazu Frank, Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 13 ff.; ders., Einleitung des Herausgebers, in: Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Frank, 1977, S. 7ff.; ders., Die Überwindung des Konflikts zwischen strukturaler Textanalyse und sinnverstehender Interpretation, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 247 ff. 23
24 Vgl. dazu und zum folgenden Frank, Vorwort, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 8 f. m.w.N. aus Schleiermachers „Hermeneutik und Kritik" 25 Vgl. zu den drei Merkmalen des Textes als Werk auch Frank, Textauslegung, in: Harth/Gebhardt, Erkenntnis der Literatur, 1982, S. 123 ff., 141 f. Allgemein zu Textsorten als Sprach- und Handlungsschemata: Pfütze/Blei, Text als Kommunikationstyp. Eine Einschätzung des Forschungsstands, in: Studia Grammatica X V I I I , 1977, S. 185 ff. *
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entfaltet sich die Individualität des Autors, welche als Ausprägung eines unverwechselbaren Stils den allgemeinen Strukturen entgehen soll. Auf dieser dritten Stufe erscheint somit das „irreduzibel Nicht-Allgemeine des Textes" 26 . Während die allgemeinen Sprachstrukturen und die spezifischen Anforderungen der Textgattung einer systematischen Analyse ohne weiteres zugänglich sein sollen, stelle sich das eigentliche hermeneutische Problem erst auf der Ebene des Stilverstehens, welches auf eine Singularität bezogen sei 27 . Die an Schleiermacher anschließende Hermeneutik unterscheidet demnach an einem Text den allgemeinen vom individuellen Aspekt. Sie muß sich deswegen fragen lassen, wie die Verbindung beider Aspekte Zustandekommen soll. Schleiermacher selbst will diese Verbindung begründen mit einer vom Autor in Gang gesetzten Dialektik von Sprache als Akt und Sprache als Gesetz 28 . Danach ist einerseits der Autor durch die Totalität der Sprache bedingt und umgekehrt die Totalitität der Sprache in der Verwendung durch den Autor modifiziert 29 . Die abstrakten Regeln der Sprache können die konkrete Verwendung nicht "necessitieren,,, die allgemeine Regel wird mit der konkreten Verwendung vielmehr durch eine Interpretation verbunden, welche vom Individuum ausgeht 30 . Erst durch diese interpretatorische Leistung erlangt die Sprache ihre letzte Bestimmtheit und auch Einmaligkeit 31 . Denn die Interpretation ist zwar durch die Systematik der Sprache motiviert, aber trotzdem als hypothetisches Urteil aus dieser Systematik nicht vollständig ableitbar 32 . Die von Manfred Frank als Reformulierung der Schleiermacherschen Dialektik vorgeschlagene dreigliedrige Konstruktion von allgemeiner Regel, Interpretation und konkretem Text mündet damit in eine hermeneutisch begründete Bedeutungstheorie ein: „Die Menschen gelangen zu den Bedeutun26 Vgl. Frank, Vorwort, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 8. Vgl. zum Begriff Stil auch Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 25 27 Frank, ebd., S. 9. Vgl. auch ders., Textauslegung, in: Harth/Gebhardt, Erkenntnis der Literatur, 1982, S. 123 ff., 149 ff. Vgl. dazu auch Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 1977, S. 167f. 28 Vgl. dazu Schleiermacher, Hermeneutik, hrsg. v. H. Kimmerle, 1959, S. 39. Vgl. auch Frank, Hermeneutische Sprachtheorie und Poetik, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 145ff., 185 29 Vgl. dazu Frank, Die Überwindung des Konflikts zwischen strukturaler Textanalyse und sinnverstehender Interpretation, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 247 ff., 248 m.w.N. aus den Texten Schleiermachers 30 Vgl. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 121 ff. und öfter. Ausführlich ist dieser Gedanke auch entwickelt in: ders., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 541 ff. Vgl. zum Sprachgebrauch „necessitieren" ebd., S. 553 und öfter 31 Vgl. Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 166 32 Vgl. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 563 und öfter sowie ders., Die Überwindung des Konflikts zwischen strukturaler Textanalyse und sinnverstehender Interpretation, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 247ff., 323, 334 und öfter
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gen der Zeichen, die sie verwenden, indem sie sie i n Situationen jeweils spezifisch (d. h. nie ein für allemal) interpretieren" 3 3 . M i t dieser Bedeutungstheorie ist das Verstehen v o n Texten nicht etwa ausgeschlossen, sondern lediglich spezifischen Anforderungen unterstellt: Das Textverstehen bedarf i m Verhältnis z u m A u t o r einer „schritthaltenden S p o n t a n e i t ä t " 3 4 . Der A k t der Sinngebung w i r d damit i n der Sinndeutung u m g e k e h r t 3 5 : „ D e r Sinnausleger muß ein hermeneutisches Exercitium vollbringen, das der schöpferischen Leistung des Stifters analog ist". Die Hermeneutik Franks berührt sich hier m i t einer klassischen Position der juristischen Methodenlehre. Schon für Savigny ist juristische Interpretation „ R e k o n s t r u k t i o n des Inhalts des Gesetzes. Der Interpret muß sich auf den Standpunkt des Gesetzgebers setzen u n d so künstlich dessen Ausspruch entstehen lassen" 3 6 . U n d seitdem sind Stichworte wie „ D i v i n a t i o n " , „ K o n g e n i a l i t ä t " oder die Rede v o m Nachkonstruieren des schöpferischen Produktionsvorgangs selbstverständliche Größen i n der juristischen Methodendiskussion 3 7 . Z w a r hat Schleiermacher nicht ein Einfühlen i n die Seele des A u t o r s angestrebt u n d auch ein vollständiges Verstehen der auktorialen I n t e n t i o n ausgeschlossen 3 8 . Trotzdem unterscheidet er aber die R e p r o d u k t i o n des v o m A u t o r
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Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 517. Vgl. auch ders., Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 101 34 Vgl. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, ebd. 35 Vgl. dazu und zum folgenden Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 173 36 F. C. Savigny, Juristische Methodenlehre, hrsg. von Wesenberg, 1951, S. 18 ff.; ders., System des heutigen Römischen Rechts, 1. Bd., 1840, S. 213. Nach Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 175 ist die Hermeneutik Schleiermachers auch für Savigny bestimmend geworden. Ebenso Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 111. Anderer Ansicht ist Hellebrand, Der Zeitenbogen, in: ARSP 1963, S. 27 ff., 64. Der Einfluß Schleiermachers auf die Lehre Windscheids wird kurz angesprochen bei Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 38 f. (Fn. 69). Allgemein zum Einfluß Schleiermachers auf die juristische Auslegungslehre vgl. Baden, ebd., S. 98 ff., 110 ff. Weitere Nachweise bei Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1980, S. 38. Dort auch allgemein zur juristischen Hermeneutik im 19. Jahrhundert, S. 22ff. 37 Vgl. dazu Baden, ebd., S. 111; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 85 ff. Zum expliziten Anknüpfen methodischer Positionen an Schleiermacher vgl. vor allem Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 319ff.; Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 23 ff.; vgl. auch ders., Philosophische und juristische Hermeneutik, in: A. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 276ff., 276 f. 38 Vgl. zur kritischen Abgrenzung der Divination Schleiermachers von der bloßen Einfühlung: Frank, Einleitung, in: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 1977, S. 7 ff., 47 ff. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte folgende juristische Paraphrase Schleiermachers als problematisch erscheinen: „Verstehen vollendet sich, wenn das Einfühlen in die Psyche des Autors mit dem Verstehen der Sprachlichkeit des Textes eine Einheit bildet". Schroth, Probleme und Resultate der Hermeneutikdiskussion, in: A. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, l . A u f l . 1977,
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produzierten von einem darüber hinausgehenden Besser-verstehen des Textes durch den Ausleger 39 . Damit kommt er dem Anliegen der subjektiven Lehre entgegen, das vom Gesetzgeber Gewollte als substantiellen Gehalt des Textes klar abzugrenzen von einer Fortbildung des Textes durch den Anwender 40 . In der juristischen Methodendiskussion sind auch dementsprechende Folgerungen aus der Hermeneutik Schleiermachers gezogen worden. So schreibt etwa Helmut Coing: „Die Auslegung aus den Auffassungen und Absichten des historischen Gesetzgebers entspricht offensichtlich derjenigen aus der Persönlichkeit des Autors", und er hält es für vernünftig „anzunehmen, daß die politische Instanz, welche einen Satz als Rechtsnorm erläßt, diesen Satz so aufgefaßt haben will, wie ihn seine Verfasser verstanden haben" 41 . Methodisch ergibt sich daraus, daß man bei der Auslegung eines Gesetzeswerks von den Gedanken seiner Urheber nicht absehen kann: „Festen Boden hat man nur unter den Füßen, wenn man feststellen kann, daß der historische Gesetzgeber den betreffenden Fall gesehen und entschieden hat" 4 2 . Auch Ulrich Schroth sieht in den Kanones Schleiermachers das Bestreben, die Auslegung möglichst an den Autor zurückzubinden: „Die Ausformulierung der Kanones zeigt weiter, daß Textverstehen die Authenzität der Gedanken, die in einen Text eingegangen sind, garantieren soll" 4 3 . Die Garantie dieses „Authenzitätsinteresses" wird dann zum entscheidenden Inhalt der genetischen Auslegung 44 . Im Anschluß an Manfred Frank hebt Schroth dabei hervor, daß auch das Ausgerichtetsein der Textinterpretation auf eine gegenwärtige Problemstellung das Wiederverstehen des Textes im Sinne des Autors nicht ausschließe45. Trotz dieser partiellen Konvergenz von juristischer und allgemeiner Hermeneutik muß aber die Frage erlaubt sein, ob der auf der Grundlage Schleiermachers entwickelten Hermeneutik die angestrebte Vermittlung von Sprachgesetz und Sprachverwendung tatsächlich gelingt. Kann die juristische Auslegungslehre wirklich „festen Boden" gewinnen, indem sie versucht, einen vom Gesetzge-
S. 188 ff., 190 (anders deshalb jetzt in der 4. Aufl.). Zu den bei Schleiermacher gewahrten Grenzen des Verstehens vgl. Frank, ebd., S. 49, 52 und öfter; ders., Textauslegung, in: Harth/Gebhardt (Hrsg.), Erkenntnis der Literatur, 1982, S. 123 ff., 156 und öfter 39 Vgl. zum „Besser-verstehen" bei Schleiermacher: Frank, Einleitung, ebd., S. 55 ff. Aus der Sicht der juristischen Methodenlehre: Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 321; Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 105 und ff. 40 Vgl. zu diesem zentralen Anliegen der subjektiven Auslegungslehre: Baden, ebd., 5. 155 ff.; Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: Festschrift für Engisch, 1969, S. 277ff., insbes. 280ff. 41 Vgl. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosphie, 4. Aufl. 1985, S. 325 f. 42 Ebd., S. 343 43 Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 25 f. 44 Vgl. ebd., S. 35, 152 (These 5) 45 Ebd., S. 28
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ber vermittels freier Interpretation allgemeiner Sprachregeln konkretisierten Sinn schöpferisch nachzuvollziehen? Vorausgesetzt ist hier eine dreigliedrige Kette von allgemeiner Sprachregel — freier Interpretation — konkretem oder individuellem Textsinn 46 . Schon das erste Kettenglied, die allgemeine Sprachregel, erscheint einer Frage würdig. Aus der Sicht von Schleiermachers Hermeneutik sind Sprachregeln nur anwendbar, wenn sie von einem Sprecher interpretiert werden 47 . Die sprachlichen Regeln werden damit ohne weiteres mit Regelformulierungen gleichgesetzt, sie sind Regeltexte, die man nicht anwenden kann, ohne sie zu verstehen. Die Probleme eines solchen an die Regelformulierung anknüpfenden Sprachverständnisses hat vor allem Wittgenstein herausgearbeitet: „Aber wie kann mich eine Regel lehren, was ich an dieser Stelle zu tun habe? Was immer ich tue, ist doch durch irgendeine Deutung mit der Regel zu vereinbaren" 48 . Wittgenstein wendet sich damit gegen die Gefahr einer Psychologisierung des Bedeutungsbegriffs 49. M i t seiner Untersuchung sprachlicher Regeln will er zeigen, „daß es eine Auffassung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist, sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ,der Regel folgen' und was wir ,ihr entgegen handeln' nennen" 50 . Regeln sind also durch die nach ihnen vollzogenen Handlungen charakterisiert. Einer Regel folgen ist eine menschliche Tätigkeit 51 . Weil der Begriff der Regel die Möglichkeit des Irrtums voraussetzt und somit die Kritisierbarkeit durch andere, kann ihre Befolgung nicht von einer monologischen Interpretation abhängen. Vielmehr ist sie als Institution, Gepflogenheit oder kurz als Praxis anzusehen52. Die Sprache wird damit als gesellschaftliche Tätigkeit in der Welt begriffen und gleichzeitig als Mittel, um gesellschaftliche Tätigkeit und Welt zu konstituieren 53 . Die Einheit von sprachlichen Regeln und sozialem Handeln bezeichnet Wittgenstein als Sprachspiel oder, unter stärkerer Betonung des praktischen Aspekts, als Lebensform 54 . Die Aneignung oder das Verstehen einer solchen Lebensform ist als Beherrschen einer Technik ebenfalls 46 Vgl. zur freien Interpretation: Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 521 und öfter. Vgl. auch ders., Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 128 ff. 47 Frank, Vorwort, in: Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 11 ; ders., Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ebd., S. 141 ff., 169 f., 170 48 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 198 49 Vgl. dazu Busse, Normtextauslegung als Regelfeststellung? Zur Rolle von Wittgensteins Regelbegriff für die juristische Methodenlehre, in: Keller/Schramm/Weinberger, Philosophie des Rechts, der Politik und der Gesellschaft. Akten des 12. Internationalen Wittgenstein-Symposions 1987, 1988, S. 207ff., 208 50 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 201 51 Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Schriften 6,1974, S. 331 52 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 199 53 Vgl. zur Erläuterung dieses Aspekts bei Wittgenstein: Busse, Historische Semantik, 1987, S. 86ff., 213 ff. 54 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 23
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ein praktischer Prozeß und nur durch die Teilnahme gewährleistet. Wir verstehen die Bedeutung einer Handlung, eines Sprechakts oder eines Textes nicht durch Nacherleben oder Rekonstruieren der auktorialen Intention 5 5 , sondern mittels einer dem Wesen nach praktischen Technik. Das Verstehen einer Regel ist nicht Interpretation, sondern unsere Fähigkeit, sie korrekt anzuwenden. Dieser praktische Aspekt sprachlicher Regeln und textueller Bedeutung wird vom hermeneutischen Ansatz verfehlt. In seiner Reformulierung der Schleiermacherschen Hermeneutik diskutiert Manfred Frank diese Einwände gegen eine Verknüpfung von Sprachgesetz und Sprachverwendung über die freie Interpretation: „Wer dies leugnet, muß die Macht der Tradition zur Norm der Zukunft erheben: so wurde (bis jetzt) gesprochen, so soll hinfort weitergesprochen werden. Diese Ansicht wird unter den nomologisch orientierten Sprachphilosophen nicht selten vertreten, womit sich ihr Konservativismus leicht erklärt. Wittgenstein ζ. B. sagt: ,Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende nur beschreiben (...). Sie läßt alles wie es i s t 4 " 5 6 . Als Gegengewicht zu dem so verorteten Konservativismus will Frank die poststrukturalistische Kritik am Code-Modell der Sprache einführen 57 . Danach können die Regeln der Sprache nicht als geschlossenes System verstanden werden, weil die wechselseitige Profilierung der Elemente dieses Systems nach dem Gesetz der differentiellen Wertbestimmung niemals abgeschlossen ist 5 8 . Diese „entgrenzte Ökonomie semantischer Oppositionen" 59 entziehe dem sprachphilosophischen Konservativismus den Boden. Nun hat aber auch Wittgenstein nie behauptet, daß die Regeln der Sprache ein starres und unveränderliches System bilden 60 . Frank sieht jedoch darin nur eine mehr widerwillige Konzession, begleitet von der „Neigung, die Transformation von Konventionen als einen Prozeß zu beschreiben, in welchem sich das soziale und kulturelle Erbe ,νοη selbst', d. h. ohne Dazwischenkunft handlungsfähiger und sinnmächtiger Subjekte fort55 Vgl. dazu Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Schriften 6, S. 335: „ U m das Phänomen der Sprache zu beschreiben, muß man eine Praxis beschreiben, nicht einen einmaligen Vorgang welcher Art immer er sei". 56 Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141, 163. Vgl. zum Nachweis des Wittgenstein-Zitates: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 124 57 Vgl. dazu Frank, ebd., sowie ders., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, insbes. S. 504 ff. Frank muß allerdings selbst an verschiedenen Punkten die Nähe Derridas zu Wittgenstein feststellen. Vgl. dazu Frank, Entropie..., ebd., S. 164; ders., Neostrukturalismus..., ebd., S. 517. Die Parallelen der Kritik am Intentionalismus zwischen Derrida und Wittgenstein arbeitet heraus Staten, Wittgenstein and Derrida, 1985, S. 16 ff. und öfter 58
Vgl. dazu Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 6 ff., 15 ff. 59 Vgl. Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 165 60 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, §23. Vgl. dazu auch Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 18
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pflanzt oder v e r w a n d e l t " 6 1 . Wer aber das Subjekt ausklammert, vernachlässigt aus dieser Sicht die Instanz, „die allein Sinnveränderung u n d die Unabgeschlossenheit des Codes begründen k ö n n t e " 6 2 . Es bedarf also der Dazwischenkunft eines schon vorsprachlich m i t sich vertrauten Bewußtseins, u m die grundsätzlich statischen Regeln der Sprache i n Bewegung zu setzen 6 3 . Erst die Interpretation durch das individuelle Bewußtsein spaltet das Sprachsystem v o n seiner grundsätzlich statischen Identität m i t sich selbst a b 6 4 . Bei dieser K o n s t r u k t i o n sind zwei M o m e n t e vorausgesetzt: Z u m einen das statische System sprachlicher Regeln. Z u m andern das erkenntnistheoretische Postulat epistemischer A s y m m e t r i e 6 5 , welches die M ö g l i c h k e i t einer freien Interpretation dieser Regeln durch die Individuen begründen soll. D i e Verknüpfung beider A x i o m e folgt dem klassischen bewußtseinsphilosophischen M o d e l l : die erkenntnistheoretisch begründete Asymmetrie der Bewußtseinsformen u n d Weltperspektiven führt zu entsprechenden Veränderungen i n der Sprache 6 6 . Der dynamische Charakter 61 Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 165. Zum KonservatismusVorwurf gegen Wittgenstein vgl. auch: Habermas, Wittgensteins Rückkehr. Zum 2. Band der „Schriften": „Philosophische Bemerkungen" aus dem Nachlaß — „Die Wendung zur linguistischen Philosophie", in: FAZ vom 20.2.1965; wieder abgedruckt in: ders., Philosophisch-politische Profile, 1971. Vgl. dazu auch Nyiri, Wittgensteins Spätwerk im Kontext des Konservatismus, in: Wittgenstein Schriften, Beiheft 3, 1979, S. 23 ff. Zum Vorwurf der Subjektfeindlichkeit bei Wittgenstein vgl. auch Schulz, Wittgenstein, 2. Aufl. 1979, S. 29ff., 71 ff., 77: „Die Problematik des Verstehens wird nun noch beträchtlich dadurch verschärft, daß Wittgenstein die Möglichkeit des Verstehens von der Subjektivität her ableugnet, weil er auch in den Philosophischen Untersuchungen dahin tendiert, die Idee der sich verstehenden Subjektivität abzustreiten". Die Entwicklung der Diskussion um Wittgenstein bewegt sich inzwischen in das gegenteilige Extrem, nämlich zum Vorwurf eines anthropologischen Vorurteils: vgl. dazu Lyotard, „Nach" Wittgenstein, in: ders., Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 68 ff., 73 62 Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 502. Vgl. zur Kategorie des irrelationalen, irreflexiven, vorbegrifflichen usw. Bewußtseins: Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 26 ff. Die zusammenfassende Kette von Negationen findet sich auf S. 62 f. Zum Nachweis einer entsprechenden Bewußtseins- und Subjektivitätstheorie bei Schleiermacher vgl. Frank, Die subjekttheoretische und dialektische Fundierung der Interpretation durch Schleiermacher, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 87 ff., 94ff., 114ff. Zur Kritik am Reflexionsmodell des Bewußtseins, welche in eine zirkuläre Bewegung mündet und das vorsprachliche „Mit-sich-Vertrautsein" des Geistes übersieht: ders., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 296ff., 356 ff. und öfter. Ansätze schon bei dems., Der unendliche Mangel an Sein, 1975, S. 150ff., 155 ff. Eine Diskussion dieses bewußtseinstheoretischen Ansatzes muß im gegebenen Rahmen unterbleiben. 63
Frank, Archäologie des Individuums, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 36ff., 49 64 Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 552ff. und öfter 65 Frank führt dieses Postulat ein als Gegenführung zu Tugendhats Prinzip der semantisch-veritativen Symmetrie. Vgl. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 85 ff. 66 Vgl. dazu ebd., S. 101. Frank erkennt hier, daß sein Angriff auf das Prinzip der semantischen Symmetrie, das er bei Tugendhat verortet, eines sprachphilosophischen Arguments bedürfte, stellt dann aber nur ein Gegenpostulat auf, nämlich daß die
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der Sprache wird damit nicht sprachphilosophisch, sondern erkenntnistheoretisch begründet. Die sprachphilosophische Wende ist zugunsten der Priorität erkenntnistheoretischer Überlegungen zurückgenommen. Nun hat aber der von Frank in Anspruch genommene Ansatz Derridas einen dynamischen Charakter der Sprache gerade aus immanenten sprachphilosophischen Überlegungen heraus entwickelt. Danach ist das Gesetz der differentiellen Wertbestimmung als Bedingung für die Möglichkeit eines Systems sprachlicher Regeln zugleich Bedingung für die Unmöglichkeit seiner Reinheit und Geschlossenheit67. Die sich aus der wechselseitigen Profilierung bedeutungstragender Elemente ergebende Bewegung semantischer Oppositionen kann nur künstlich zu einem statischen System eingefroren werden: Dieses System ist damit nicht, wie Frank nahelegt, unvollständige Wirklichkeit, der zur Erzeugung von Dynamik ein individuelles Bewußtsein beispringen müßte, sondern lediglich das Ergebnis einer einseitigen methodischen Abstraktion 68 . Das System fester Sprachregeln ist ein sekundärer Effekt sprachlicher Vielfalt 69 . Erst in der Kette der Verwendung differentieller Marken konstituiert sich die Identität einer Bedeutung, zu deren Sein die Möglichkeit einer Vielfalt von Verwendungsweisen der Worte ebenso gehört wie die nicht ausschließbare oder vorhersagbare Möglichkeit der Verschiebung sprachlichen Sinns 70 . Die sprachliche Wirklichkeit ist gerade kein statisches Regelsystem mit den Konnotationen von Konservativismus und Herrschaft, welches erst durch die freie Interpretation des sinnmächtigen Individuums in Bewegung gerät. Es müssen ihr im Gegenteil die Linien identischer Reproduktion oder der Herrschaft entgegen ihrer eigenen Bewegungsrichtung erst eingezogen werden 71 . So muß etwa Semantik auf den Weltentwürfen von Personen beruhe und diese Weltentwürfe eben verschieden seien. 67 Vgl. dazu Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 66f. und öfter 68 Vgl. dazu ebd., S. 53 ff., wo Derrida von den logozentrischen und ethnozentrischen Grenzen des Saussureschen Modells spricht 69 Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 149ff. 70 Vgl. dazu auch Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 81. Wellmer referiert hier richtig die Position von Derrida, den er aber ansonsten nur nach der Lesart von Manfred Frank rezipiert. Vgl. aber seine Vorsicht in ebd., S. 119 (Fn. 61) 71 Vgl. dazu die Debatte Derrida/Foucault (Derrida, Cogito und Geschichte des Wahnsinns, in: ders., Die Schriften der Differenz, 1976, S. 53 ff.; Foucault, Histoire de la folie à Tage classique, 2. Aufl. 1972, S. 583ff.; kurze, aber auch verkürzende Darstellung der Debatte bei Ferry/Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, 1987, S. 23 ff.). Beide Autoren sind sich einig, daß die Ordnung des Diskurses selbst im Diskurs ist, d. h. sie ist nicht transzendentale Ermöglichungsbedingung des Sprechens überhaupt (so aber fälschlich Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 239 ff.), sondern höchstens ein den Wildwuchs des Sprechens disziplinierendes historisch kontingentes Apriori. Vgl. zur Darstellung von Foucaults Diskurstheorie: Busse, Historische Semantik, 1987, S. 221 ff. Vgl. zum Problem einer subversiven Kraft
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Radbruch den objektiven Geist bemühen, um den unendlichen Verweisungszusammenhang der Sprache in ein System der Gerechtigkeit zu zwingen. Er verwendet damit die Sprache zu ihrer eigenen Fesselung, macht aber mit dem Schreiben dieses Gefängnisses die Fessel zugleich lesbar und kritisierbar. Denn der objektive Geist wird mit seinen unterschiedlichen Bestimmungen selbst in den sprachlichen Verweisungszusammenhang hineingezogen und damit auch in die Diskussion, die er doch beherrschen sollte. M i t dem Ansatz Derridas wird auf der immanenten Grundlage der Grammatik eine subversive Kraft der Sprache sichtbar, welche die Konstruktion eines statischen Regelsystems der Sprache immer wieder dementiert. Subversive Kraft heißt dabei nicht, daß die Sprache selbst Ordnungen decodiert. Aber man kann mit Hilfe ihrer Grammatik der Gewöhnung und der festen Bedeutung entgegenwirken, indem man die Sprache verführt in ein neues Idiom, das sie vorher nicht kannte 72 . Wittgenstein zettelt zu diesem Zweck seine Sprachspiele an 7 3 , Derrida nennt die Methode der Verführung Dekonstruktion 74 , und Bloch verwendet sie, um faschistisch besetzte Begriffe umkippen zu lassen75. Die Sprache ist kein statisch geschlossenes System von Regeln. Sie wäre sonst nicht verführbar. Vielmehr ist es jedesmal der dynamische Aspekt sprachlicher Regelhaftigkeit, der das scheinbar festgestellte System der Sprache wieder in Bewegung kommen läßt und damit dem „Holzfeuer im hölzernen Ofen" 7 6 Brennstoff liefert. Die Verschiedenheit individueller Weltperspektiven ist damit nicht bestritten, sondern es werden ihre sprachphilosophischen Voraussetzungen herausgearbeitet 7 7 . Zwar geht das Quasi-Faktum sprachlicher Bedeutungssysteme oder der Schrift auch Lyotard, Eine Widerstandslinie, in: ders., Das Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 53ff., 56f.: „Auch wenn der Totalitarismus obsiegt und das gesamte Feld besetzt hält, ist er doch erst wirklich vollendet, wenn er die unkontrollierbare Kontingenz der Schrift beseitigt hat. Also muß er seinerseits darauf verzichten, sich zu schreiben, in dem Sinn, den ich, anderen folgend, diesem Wort zu geben versuche. Solange er aber ungeschrieben bleibt, ist er nicht wirklich total. Versucht er dagegen umgekehrt, sich zu schreiben, so muß er mit der Schrift wenigstens einen Bereich zugestehen, wo Unruhe, Mangel und,Idiotie 4 erscheinen können. Dann jedoch verzichtet er darauf, die Totalität zu verkörpern, sogar, sie zu kontrollieren". 72 Vgl. Lyotard, ebd., S. 55 und ff. 73 Vgl. Staten, Wittgenstein and Derrida, 1985, S.2f. und öfter 74 Vgl. zu diesem Begriff Derrida, Implikationen. Gespräch mit Henri Ronse, in: ders., Positionen, 1986, S. 33 ff., 38 f. 75
Vgl. dazu Bloch, Erbschaft dieser Zeit, G A 4,1977. Eine Reflexion des praktischen Vorgehens findet sich bei Bloch in ders., Experimentum Mundi, GA 15,1977, S. 33 ff. Zur Sprache als Paradigma des offenen Systems bei Bloch vgl. H. H. Holz, Einsatzstellen der „Ontologie des Noch-nicht-seins" in: B. Schmidt (Hrsg.), Materialien zu Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung", 1978, S. 263 ff., 278 ff. 76 Diese Formulierung als Titel einer Aufsatzsammlung zur politischen Sprachkritik verwendet Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982 77 Vgl. zur sprachphilosophischen Kritik des sinn-konstitutiven Subjekts: Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 77ff.
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Lebensformen aller Intentionalität voraus 78 , aber auf der Grundlage des „prozeßhaften, dynamischen Charakters sprachlicher Phänomene" 79 besteht trotzdem die Möglichkeit, daß die jeweilige Lebensform durch die Intentionalität der Sprecher transformiert wird. Wenn man diesen dynamischen Aspekt anerkennt, muß die vorgängige Gemeinsamkeit einer sprachlich erschlossenen Welt nicht zugunsten einer bewußtseinsphilosophischen Perspektive negiert werden, um die Sprache als veränderbare Größe begreifen zu können. Aber nicht nur der dynamische Aspekt sprachlicher Phänomene wird vom bewußtseinsphilosophischen Ansatz Schleiermacherscher Hermeneutik verfehlt, sondern auch der soziale Aspekt 80 . Nach Schleiermacher entsteht durch die freie Interpretation der allgemeinen Sprachregeln ein konkreter Textsinn, der jeweils spezifisch, d. h. einmalig ist 8 1 . M i t der Anerkennung dieses einmaligen Sinns soll Individualität vor der Subsumtion unter ein sprachliches System bewahrt werden. Die vorausgesetzte epistemische Asymmetrie führt dazu, daß der Text seine von der konkreten Individualität des Autors determinierte einmalige Bedeutung aufweist. Aber wenn man annimmt, „daß die sprachlichen Zeichen nur durch einen Akt der Interpretation ihren jeweils spezifischen Sinn gewinnen, dann macht man insgeheim doch wieder das ,Meinen4 zur Quelle der Bedeutungen; es erscheint dann unbegreiflich, wie das, was ich meine, von einem anderen sollte verstanden werden können; ja es erscheint unbegreiflich, wie ich selbst es sollte verstehen können" 8 2 . Der hermeneutische Ansatz mit seinem erkenntnistheoretischen Postulat epistemischer Asymmetrie macht also die intersubjektive Grundlage menschlicher Verständigung zu einem schwer erklärbaren Phänomen. Aus der Sicht von Frank bedarf es zur Herstellung der Identität von Bedeutungen „der Übernahme der zugrundeliegenden Interpretation durch andere Individuen der Kommunikationsgemeinschaft" 83 . Die Sprache erscheint dabei als ein „individuelles Allgemeines. Sie besteht als universeller 78
Vgl. dazu die Kritik Wittgensteins an der Möglichkeit einer Privatsprache: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, §§243-315, 348-412. Vgl. zur Erläuterung auch E. v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl. 1980, S. 41 ff. 79 Busse, Überlegungen zum Bedeutungswandel, in: Sprache und Literatur, 1986, S. 51 ff., 53 80 Vgl. dazu Braunroth u. a., Ansätze und Aufgaben linguistischer Pragmatik, 2. Aufl. 1978, S. 118 f. 81 Vgl. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 22: „Während die strukturalistische ebenso wie die analytische Sprachphilosophie von der These der gleichsinnigen und gleichförmigen Wiederholbarkeit von Sprachzeichen ausgeht, hält die (Schleiermachersche) Hermeneutik das Individuelle für im eigentlichen Sinn unte/Zbar und mithin unra//teilbar". Vgl. auch ders., Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 165 „unableitbare Individualität"; sowie ders., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 517 82 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 83 83 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 129
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Code nur aufgrund prinzipiell instabiler Übereinkünfte ihrer Sprecher" 84 . Die Gemeinsamkeit einer sprachlich erschlossenen Welt wird hier als nachträgliches Einverständnis gedeutet. Die sprachliche Ordnung ist damit lediglich ein auf den Intentionen der Sprecher beruhendes Artefakt und verliert in dieser hermeneutischen Sicht ihre eigentümliche Realität als Phänomen dritter Art. Gegen dieses hermeneutische Verständnis sprachlicher Intersubjektivität erheben sich mehrere Einwände. Zunächst läßt sich auf der immanenten Ebene der Einwand erheben, daß die hermeneutische Sprachtheorie mit dieser Konstruktion das angestrebte Ziel einer Rettung von Individualität 85 gerade verfehlt. Wenn man nämlich den Sprechern die Rolle zuweist, mit ihren Sprechakten bzw. Deutungen die Einheit eines sprachlichen Bedeutungssystems nachträglich erst herzustellen, muß man Individualität objektiv-rechtlich fassen. Man kann ihr nicht ein subjektives Recht auf Differenz, Abweichung und Metamorphose einräumen 86 , sondern muß sie der Pflicht zur Einheit unterstellen. Statt nach einem Ganzen zu fragen, das möglichst viele Abweichungen zuläßt 87 , wird hier nach einem Einzelnen gesucht, dem man die Konstruktion des Ganzen aufbürden kann. M i t dieser Unterordnung von Individualität unter den Totalitätsgesichtspunkt wird entgegen dem eigenen Ausgangspunkt der einzelne wieder zum Funktionsträger des Ganzen. Die Ursache für dieses Scheitern liegt darin, daß Individualität in der hermeneutischen Sprachtheorie sozusagen an der falschen Stelle erscheint. Als individuell oder einmalig gilt nämlich der konkrete Textsinn, so daß die zu ihm hinführende freie Interpretation der Sprachregel sowie der schöpferische Nachvollzug im Verstehen einer ethischen Disziplinierung unterworfen werden müssen. Die Einheit des Sprachsystems ist den Individuen damit zwar nicht mehr vorgegeben, aber sie bleibt ihnen aufgegeben. Ein weiterer Einwand ergibt sich aus der Frage, ob die Konstruktion sprachlicher Intersubjektivität als nachträgliches Einverständnis nicht schon zirkulär voraussetzt, was sie erst erklären will. Es wird dabei nämlich außer acht gelassen, daß die Intersubjektivität sprachlicher Bedeutungssysteme schon konstitutiv ist für die Möglichkeit eines Einverständnisses und einer Unterschei-
84 Frank, Hermeneutische Sprachtheorie und Poetik, in: ders., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 145 ff., 196 f. 85 Vgl. zu dieser Zielsetzung etwa Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 7ff., 16, 19 und öfter 86 Vgl. dazu Deleuze, Foucault, 1987, S. 148: „Der Kampf für eine moderne Subjektivität geht durch einen Widerstand gegen die beiden aktuellen Formen von Unterwerfung hindurch; die eine besteht darin, uns gemäß den Ansprüchen der Macht zu individualisieren, die andere darin, jedes Individuum an eine gewußte und bekannte, ein für allemal festgelegte Identität zu fesseln. Der Kampf für die Subjektivität präsentiert sich folglich als Recht auf Differenz, als Recht auf Variation, zur Metamorphose". 87 Vgl. zu dieser Legitimation des sozialen Bandes: Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986, S. 175 ff.
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dung zwischen richtig und falsch 88 . Hieran zeigt sich, daß dem hermeneutischen Postulat einer einmaligen und jeweils spezifischen Textbedeutung der Boden einer sinnvollen Verwendung des Wortes Bedeutung fehlt 8 9 . Wie Derrida am Beispiel der Unterschrift gezeigt hat, kann diese nur dadurch individualisieren, daß sie wiederholbar ist und damit ihre reine Einmaligkeit zugunsten der Lesbarkeit aufgibt 90 . Schon bei der Unterschrift durchkreuzt also die Iteration die reine Einmaligkeit des Sinns. Anders formuliert: Bedeutung verweist auf den Begriff der Regel. Denn wie Wittgenstein sagt, kann keiner allein Handel treiben 91 . Bei dem Problem des Verstehens geht es nicht um die schöpferische Nachkonstruktion von Einmaligkeit, sondern um etwas Allgemeines: „Die Rolle des interpretierenden Subjekts' und die Offenheit sprachlicher Bedeutungen verstehen wir erst dann wirklich, wenn wir die unabsehbare Veränderung und Erweiterung sprachlichen Sinns im Zuge der Applikation grammatischer Regeln mit einem Index der Allgemeinheit versehen denken. Das nämlich, was sich verändert — die sprachlichen Bedeutungen — trägt selbst einen solchen Index der Allgemeinheit. Die neue Verwendung eines Wortes indiziert eine neue Verwendungswewe" 92. Aus dieser von Wittgensteins Sprachphilosophie eröffneten Perspektive erscheint Individualität an der richtigen Stelle: als Eingriff in die referenzkonstituierende Verwendungsgeschichte einer Ausdruckskette, deren Ergebnis als neue Verwendungsweise zwar mit einem Index von Allgemeinheit versehen ist, aber den Akt der Verschiebung selbst ohne den ethischen Gedanken der Totaliät als freien belassen kann. M i t der Anerkennung eines solchen Index von Allgemeinheit verliert die konkrete Äußerungsbedeutung ihre für den schöpferischen Nachvollzug so entscheidende selbstidentische Einmaligkeit 93 . Wenn man die Verschränkung von Intention und Regel in der Struktur der Wiederholung erst einmal zugibt, wird auch deutlich, daß die konkrete Äußerung keine volle und mit sich identische Bedeutung beinhalten kann, welche als fester Ausgangspunkt für 88 Vgl. dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1971, § 241 f.: „,So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist'? Richtig und falsch ist, was Menschen sagen, und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinung, sondern der Lebensform (§ 242). Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag), eine Übereinstimmung in den Urteilen. Dies scheint die Logik aufzuheben, hebt sie aber nicht a u f . 89 Vgl. dazu Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 81 f. 90 Vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 153 ff. Vgl. zu einer entsprechenden Argumentation am Beispiel des Datums: Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, 1986, S. 18 und öfter 91 Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Schriften 4,1974, S. 349 92 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 83 93 Vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 153
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weitere Ableitungen und Interpretationen dienen könnte 94 . Es läßt sich kein totaler Kontext denken, den die Intention des Sprechers vollständig zu beherrschen vermöchte 95 . Wie mit einer Farbe die ganze Skala gesetzt ist 9 6 , so ist mit einem Satz eine ganze Sprache gesetzt. Der Sprecher kann schon den bloßen Zeichenkontext ebensowenig überblicken wie ein Wissenschaftler die logischen Implikationen seiner Theorie überblicken kann 9 7 . Er vermag nur einzelne Aspekte neu oder anders zu profilieren, ohne damit das „Lesen" seiner Einschreibung vollständig determinieren zu können. Deswegen wird „die Intention, welche die Äußerung beseelt, sich selbst und ihrem Inhalt nie vollkommen gegenwärtig sein. Die Iteration, die sie strukturiert, führt a priori in sie eine wesentliche Dehiszenz und einen wesentlichen Bruch ein" 9 8 . Dieser Bruch bewirkt, daß dem Autor im Parlament der Interpreten nicht mehr als eine Stimme zukommen kann. Er kann nicht behaupten, eine volle und selbstidentische Bedeutung als Ursprung aller weiteren Ableitungen gesetzt zu haben. Die hermeneutische Sprachtheorie kann damit drei wichtige Aspekte sprachlicher Bedeutung nicht adäquat erfassen: Die auktoriale Intention knüpft weder an eine abstrakte Regelformulierung an (praktischer Aspekt) noch spaltet sie eine an sich statische Bedeutung von sich selbst ab (dynamischer Aspekt), und sie führt auch nicht zu einer einmaligen Bedeutung (sozialer Aspekt). Der Sprachverwendung gehen überhaupt keine allgemeinen Regeln voraus, die der konkretisierenden Interpretation bedürften, sondern eine referenzkonstituierende Geschichte praktischer Verwendungsregeln, welche entweder angewendet oder zu einer neuen Regel verschoben werden. Richtig hat die hermeneutische Sprachtheorie aber herausarbeiten können, daß die Sprache ihre Anwendung nicht determiniert, sondern die Möglichkeit einer freien Verschiebung offenläßt. Dieses hermeneutische Moment bleibt in der Sprachtheorie sozusagen aufgehoben. Trotzdem ist das strategische Ziel der an Schleiermacher anknüpfenden juristischen Auslegungslehre nicht zu erreichen. Es läßt sich keine volle und mit sich identische Bedeutung als Ergebnis einer Verbindung von allgemeinem sprachlichen Schema und auktorialer Intention aufweisen. Der „feste Boden" 9 9 für das Problem der Gesetzesbindung kann auch mit Hilfe der Hermeneutik Schleiermachers nicht gewonnen werden. 94
Vgl. dazu Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte SearleDerrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff., 166, wonach die Sprache im Individuum ihre letzte Bestimmtheit erlangt 95 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 126, 136, 144, 146 96
Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Schriften 2, 1964, S. 317 Vgl. dazu ein „triviales Beispiel" bei Popper, Zur Theorie des objektiven Geistes, in: ders., Objektive Erkenntnis, 1974, S. 172ff., 188ff.; zur Kritik am Verstehen als Nachvollziehen S. 184ff. 98 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 150 99 Vgl. dazu Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 343 97
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C. Theorie der Rechtsanwendung 2.3.2 Der objektive Geist des Gesetzbuches kann die Sinntotalität
des Gesetzes nicht garantieren
Der v o n Gadamer entwickelte Ansatz kritisiert an der „klassischen" Hermeneutik Schleiermachers, daß die inhaltliche Frage nach den zu verstehenden Sachproblemen durch die formal-technische Frage nach den Regeln des Verstehens ersetzt werde 1 . D a d u r c h sei das Gewicht zu stark v o m Gegenstand auf das Subjekt verschoben w o r d e n 2 . D i e Hermeneutik Gadamers w i l l deswegen keine Kunstlehre des Verstehens m i t normativem Anspruch sein 3 , sondern stellt die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen 4 des Verstehens: „ I m Grunde schlage ich keine Methode vor, sondern ich beschreibe, was i s t " 5 . Das normative M o m e n t läßt sich allerdings auch aus der Hermeneutik Gadamers nicht vollständig ausklammern 6 . A u c h wenn Gadamer betont, daß das Verstehen immer u n d notwendig v o n Vorurteilen u n d Sinnerwartungen des Interpreten abhängig ist, muß er doch unterscheiden zwischen „wahren Vorurteilen, unter denen w i r verstehen" u n d falschen Vorurteilen, „ u n t e r denen w i r mißverstehen" 7 . D e n n nur i m H i n b l i c k auf eine „legitime Bedeutung" 8 läßt sich v o n einem Verstehen einer Zeichenkette sprechen. 1 Vgl. dazu Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Koch (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 485ff., 491 2 Vgl. dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 277 und öfter 3 Vgl. dazu Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff., 352ff. Zum Unterschied von klassischer und „neuer" Hermeneutik vgl. auch Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7 ff., 10ff.; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 17 ff.; Schroth, Zur Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 23 ff. und 26 ff. 4 Vgl. dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. XV, der in bezug auf die Hermeneutik sagt: „Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?" Vgl. dazu auch Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Koch (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 485 ff., 491; Leicht, Von der Hermeneutik-Rezeption zur Sinnkritik in der Rechtstheorie, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, 1971, S. 71 ff., 73; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 10ff. Allgemein auch Apel, Szientismus oder transzendentale Hermeneutik, in: Hermeneutik und Dialektik, I. Festschrift für Gadamer, 1970, S. 105 ff. Gegen eine Gleichsetzung von Hermeneutik mit Rechtstheorie und juristischer Methodik auch: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 241 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 233, 236 5
Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 483 Vgl. dazu H.-W. Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, 1976, S. 48, der von den Bedingungen für „adäquates Verstehen" spricht 7 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 282 8 Vgl. dazu Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff., 354: „ U m von der Interpretation zu sprechen, muß man voraussetzen, daß es Bedeutungen gibt, die,legitim 4 sind, und solche, die keinen Anspruch auf Legitimität erheben können. Ohne den Begriff der legitimen Bedeutung eines Textes kann man gar nicht von Interpretation reden". 6
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Bedingung für gelingendes Verstehen und sein Ergebnis einer legitimen Bedeutung des Textes ist neben dem „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen"9 vor allem ein Vorgriff auf die Sinntotalität: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht" 10 . Den hier angesprochenen Zirkel von Teil und Ganzem hat auch die Schleiermachersche Hermeneutik akzentuiert, jedoch nur als Rückgriff auf die subjektiv gedachte Totalität des ursprünglich vom Autor vollzogenen Schöpfungsvorgangs 11. Gadamer betont demgegenüber, daß der in der Wechselbeziehung von Teil und Ganzem sich entfaltende Vorgriff auf eine inhaltliche oder sachliche Totalität bezogen ist 1 2 . Verstehen ist für Gadamer weder Sprachverstehen noch Verstehen des Autors, sondern ein Verstehen der im Text zur Sprache kommenden Sache13: Das hermeneutische Problem ist kein Problem der richtigen Sprachbeherrschung, sondern der rechten Verständigung über die Sache, die im Medium der Sprache geschieht" 14 . M i t dieser Wendung der Hermeneutik vom Autor zur „Sache" kann auch das produktive Moment des Verstehens 15 neu bestimmt werden. Es ist nicht länger das, was die Wiederholung der schöpferischen Intention des Verfassers verfehlt oder überschreitet. Vielmehr ist das Verstehen produktiv in der Weise, daß es aufgrund des großen Abstands neu oder sogar tiefer in die fragliche Sache eindringen kann: „Der produktive Effekt des Zeitenabstands macht eine bloß reproduktive, rekonstruktive Haltung der Hermeneutik unmöglich; denn es ist nicht zu umgehen, mitunter das für den Verfasser Fraglose und nicht Gedachte zu denken und zu fragen. Das hat nichts mit interpretatorischer Willkür zu tun, vielmehr wird dabei nur ,aufgedeckt, was stets geschieht 4 " 16 .
9
Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 274f. Ebd., S. 251 11 Vgl. dazu oben im Text die Darstellung der Position von Frank sowie Schroth, Zur Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, insbes. S. 24 12 Vgl. dazu auch Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 18 f. 13 Vgl. dazu Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 56ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 174,179; Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff., 361 14 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 362 15 Vgl. zum produktiven Moment: Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 20 f.; sowie Hassemer, Die Hermeneutik im Werk Arthur Kaufmanns, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. Iff., 7 16 Hinderling, ebd., S. 21. Hinderling zitiert hier Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 356 10
10 Christensen
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In der Jurisprudenz läßt sich an diese hermeneutischen Überlegungen zu den Bedingungen adäquaten Verstehens in verschiedener Weise anknüpfen. Einmal kann man das produktive Moment in den Vordergrund stellen und versteht dann als die zur Sprache kommende Sache die spezifischen Legitimitätsbedingungen juristischen Handelns 17 . Zum andern kann man die zur Sprache kommende Sache in den Vordergrund stellen und das produktive Moment ihrer Erkenntnis unterordnen 18 . Gerade das Problem der Gesetzesbindung ist entscheidend dafür, wie weit die juristische Rezeption das von der Hermeneutik hervorgehobene produktive Moment des Verstehens aufnehmen kann. Die „Wertungsjurisprudenz" begründet die Notwendigkeit einer Unterordnung des produktiven Moments unter die Erkenntnis der Sache mit einer spezifischen Auffassung der richterlichen Bindungen: „Geht man aber so weit, zu sagen, was heute Rechtens sei, was als Inhalt der Gesetze zu gelten habe, bestimme allein die Rechtsprechung, dann erscheint die verfassungsmäßige Bindung der Gerichte an die Gesetze nur noch als eine Fiktion. Damit würde nicht nur eine der grundlegenden Bestimmungen unserer Rechtsverfassung, des demokratischen Rechtsstaates, leerlaufen, das Gesetz würde auch seine Funktion, die Einheitlichkeit des Maßstabes zu gewährleisten, nicht mehr erfüllen (...) und die Rechtssicherheit schweren Schaden nehmen" 19 . Man darf also nicht so weit gehen, zu sagen, was wirklich vor sich geht, nämlich, daß erst die Gerichte den „Inhalt" des Gesetzes bestimmen. Auf der von Larenz aufgestellten Verbotstafel steht „Gesetzesbindung" und „Vorsicht: Fiktion". Nun hat die Analyse der Rechtsprechung aber gezeigt, daß gerade umgekehrt die Vorstellung einer im universellen Code vorgegebenen Entscheidung zur bloßen Illusion einer Bindung des richterlichen Handelns führt. Wenn man aus dem Scheitern dieser Vorstellung die Konsequenz zieht, daß das Recht vom Richter unter den einschränkenden Bedingungen methodenbezogener Normen hergestellt wird, so folgt daraus keineswegs, daß die Rechtsprechung „allein" oder, deutlicher gesagt, willkürlich bestimmt, was Rechtens ist. Die Rechtsprechung verwendet bei der praktischen Fallentscheidung sehr wohl ein Instrumentarium, das in Form der Kanones und anderer argumentativer Strukturen die Entscheidung bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar macht 20 . Ja, sie bietet sogar, wenn auch in der mangelhaften 17 In diese Richtung einer Rechtserzeugungslehre gehen die Überlegungen Arthur Kaufmanns, der Textverstehen im Bereich des Rechts als „praktisches, gestaltendes Handeln" versteht. Vgl. A. Kaufmann, Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, in: ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1984, S. 79 ff., 85. Eingelöst wird das Programm einer Reflexion juristischen Handelns von der Strukturierenden Rechtslehre im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion (vgl. dazu die Nachweise in Teil D). 18 Vgl. dazu die Aufnahme der Hermeneutik im Ansatz von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 87ff., 123 ff. 19 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 152 20 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 26ff.
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Form eines Bekenntnisses zur objektiven Auslegungslehre, Ansatzpunkte zu einer rationalen Rangfolge der von ihr verwendeten Argumente. Diese Selbstbindung mag von der Rechtsprechung nicht immer konsequent eingehalten werden 21 . Aber sie bietet doch eine Grundlage, welche nach wissenschaftlicher Präzisierung durch die methodische Literatur und im Wege der kritischen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung die von Larenz erwähnten verfassungsrechtlichen Maßstäbe von Rechtssicherheit und Gesetzesbindung einforderbar macht. Allerdings nur, wenn man zuvor die rhetorische Fassade eines universellen Codes niederreißt und stattdessen die Regeln herausarbeitet, nach denen ein Richter die tragenden Leitsätze einer Entscheidung herstellt und sie dem vom Gesetzgeber erlassenen Normtext zurechnet. Diese Regeln können unter Heranziehung verfassungsrechtlicher Vorgaben auf ihre innere Konsequenz befragt sowie kritisiert und weiterentwickelt werden 22 . Es ist also weder durch die Gesetzesbindung noch durch andere verfassungsrechtliche Anforderungen verboten, den wirklichen Vorgang der Entscheidung ins Zentrum der Analyse zu stellen. Im Gegenteil fordern die verfassungsrechtlichen Grundsätze eine solche Analyse geradezu als Voraussetzung für ihre praktische Einlösbarkeit 2 3 . Was verhindert also die Untersuchung der tatsächlichen Zusammenhänge, wenn es nicht das Verfassungsrecht ist?An anderer Stelle macht Larenz seine bisher hinter verfassungsrechtlichen Erwägungen verborgenen Vorbehalte explizit: „Die Bindung des Richters an das Gesetz bedeutet nicht, kann nicht bedeuten, daß der Richter es gleichsam mechanisch, ohne vermittelnde Zwischenschritte anzuwenden, also lediglich zu subsumieren hätte" 2 4 . Soweit also die Kritik am klassischen Positivismus. Der Satz geht allerdings noch weiter: „Sie verlangt von ihm (...) die Hinwendung zu dem, was dem Gesetz an Regelungsgehalt zu entnehmen ist". Hier beginnt die Rückwendung zum Positivismus, der lediglich nach der Maßgabe des Folgesatzes etwas ergänzt werden muß: „Das Gesetz ist kein Zollstock, den man an den Fall einfach anlegen' könnte, sondern ein Maß, das, bevor man es anlegt, noch einer ,Feineinstellung' bedarf, die der zur Anwendung Berufene seinerseits vorzunehmen hat. Diese Notwendigkeit einer Feineinstellung ändert aber nichts an der grundsätzlichen Maßgeblichkeit des in der Gesetzesnorm vorgegebenen ,Rohmaßstabs'". Die argumentative Bewegung führt hier von einer Kritik an den Oberflächenphänomenen des Subsumtionsdenkens zurück zum rechtsnormtheoretischen Kern der gesetzespositivistischen Lehre, nämlich der Vorstellung, daß die Rechtsnorm im umfassenden Text des Rechts vorgegeben sei. Diese Vorentscheidung verhindert, daß die wirklichen Vorgänge in den Blick 21
Vgl. dazu ebd., S. 21 f., 55 Vgl. zu diesem Vorgehen ebd., S. 104ff. 23 Vgl. zu den methodenrelevanten Normen: F.Müller, ,Richterrecht\ 1986, S. 13, 79 f., 86, 92 f., 97, 119 24 Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 179. Dort auch die folgenden Zitate 22
10*
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kommen können. Das Festhalten am rechtsnormtheoretischen Kern des Positivismus mündet dann in die Schwierigkeiten, die sich schon aus den methodischen Reflexionen der Rechtsprechung erkennen ließen. U m überhaupt nur den Anschein einer Annäherung an die wirkliche Entscheidungspraxis hervorrufen zu können, muß der vom Auslegungsmodell vorausgesetzte CodeGedanke über den Text des Gesetzes hinaus ausgedehnt werden. In diesem strategischen Kontext wird unter vorgeblicher Wendung gegen den Positivismus die Gleichsetzung von Gesetz und Recht „hermeneutisch" kritisiert. Es soll dabei aber nicht der zwischen Normtext und Rechtsnorm liegende Semantisierungsvorgang sichtbar gemacht werden, sondern an die Stelle der positivistischen Gleichsetzung von Normtext und Rechtsnorm tritt in der „Wertungsjurisprudenz" eine dialektische Einheit von subjektivem und objektivem Geist. Neben dem positiven Gesetz als objektiviertem Geist umfaßt es auch die von der Rechtsprechung „gefundenen" Grundsätze und Institute. Es handelt sich bei dieser Tätigkeit der Rechtsprechung um eine Vermittlung des im Gesetz objektivierten Geistes mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein, in welchem sich der objektive Geist in seiner geschichtlichen Bewegung geltend macht.Diese zweifelhafte Metaphysik hat aber handgreifliche Folgen: „Wenn nämlich das Recht nicht mit der Summe der Gesetze identisch ist, dann kann sich die Aufgabe der Rechtsprechung auch nicht darauf beschränken, wie es einer gesetzespositivistischen Aufgabe entspricht, nur die Befehle des Gesetzgebers auszuführen. Sie hat nach Maßgabe der Gesetze, soweit diese nicht ausreichen, auch über sie hinaus, das Recht zu verwirklichen und es zu diesem Zweck, soweit möglich, auch fortzubilden" 25 . Die von Larenz hier anerkannte Möglichkeit der Rechtsprechung, über das Gesetz hinaus Recht zu verwirklichen, führt in der Konsequenz dazu, daß er der Rechtsprechung nicht nur die Befugnis einräumt, Lücken aufzufüllen, sondern sogar contra legem zu judizieren. Bezeichnet wird dies mit dem Euphemismus „gesetzesändernde Rechtsfortbildung", welche an die Bedingung geknüpft ist, „daß andernfalls ein Rechtsnotstand, d.h. ein Zustand entstehen würde, durch den der Rechtsgedanke Schaden leiden muß". Als Methoden richterlicher Rechtsfortbildung werden dabei genannt die Analogie, die teleologische Reduktion, die Natur der Sache und der Bezug zu rechtsordnungsimmanenten Prinzipien. Von letzteren wird gesagt: „Sie werden nicht ,gesetzt', sondern ,gefunden'; sie treten im Rechtsbewußtsein hervor, ,wenn es an der Zeit ist'". Diese Methoden sollen eine auf Rechtserkenntnis beruhende Rechtsfindung ermöglichen. Besonders wird dabei hervorgehoben, daß es nicht um „Dezision", sondern um „Rechtserkenntnis" geht. Diese vollzieht sich zwar extra oder sogar contra legem, jedoch immer noch intra ius 2 6 . Zwar wird zunächst der grundsätzlich schöpferische Charakter praktischer Rechtsarbeit scheinbar anerkannt, indem schon die sog. Rechtsanwendung als 25 Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, in: NJW 1965, S. 1 ff., 2. Ebd. S. 3 und 6 auch die im Text folgenden Zitate 26 Ebd., S. 3 f.
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Fortbildung begriffen wird. Aber im weiteren wird dann doch dieser gegenstandskonstitutive Anteil der Rechtsarbeit wieder in ein Begründungsdenken 27 eingeordnet, so daß sich das Subsumtionsmodell auf erweiterter Grundlage reproduziert. Mit dem erweiterten Begriff des Rechts (ius gegenüber bloß positivem Gesetz) wird offenbar versucht, das Recht als einen autonomen Kosmos von geltenden Normen zu verstehen, der von einer als nicht-empirische Disziplin aufgefaßten reinen Jurisprudenz kognitiv erfaßt werden kann 2 8 . Der Versuch, jede konkrete Entscheidung, wenn schon nicht aus dem Gesetz, so doch aus dem Recht abzuleiten, führt hier zum Postulieren einer hinter dem Gesetz liegenden „Sache Recht". Der vom hermeneutischen Topos der „Sache" ausgehende Ansatz wird am ausführlichsten von der an die Wertungsjurisprudenz anschließenden Theorie Hruschkas entfaltet 29 . Die Hermeneutik als „Selbstreflexion" 30 juristischer Methodenlehre wird dabei als Lehre sachbezogenen Verstehens aufgefaßt. Verstehen ist kein bloßes Sich-miteinander-verständigen oder bloße Kommunikation, sondern es muß aufgefaßt werden als Übereinstimmung in etwas 31 . „Ohne Rückgriff auf die außersprachlichen, in den zu verstehenden Texten zur Sprache gebrachten Sachen können diese Texte nicht verstanden werden, und die Rechtstexte bilden darin keine Ausnahme (...). Erst der Hinblick auf die in ihnen ausgelegten Sachen macht es möglich, daß ihr Sinn erfaßt werden kann, und ohne einen Hinblick auf jene Sachen können sie überhaupt nicht verstanden werden. Das ,Rechtliche4 wird mithin durch die positiven Rechtstexte nicht selbständig' bestimmt, die Texte sind im Gegenteil ein Ausdruck dieses ,Rechtlichen', das ihnen prinzipiell jenseitig ist (...)" 3 2 . Aus dieser Lehre sachbezogenen Verstehens wird dann eine spezifische Theorie sprachlicher Bedeutung abgeleitet. Danach ist der Sinn des Gesetzes zwar entgegen dem Positivismus nicht schon im Normtext vorgegeben 33. Aber er kann trotzdem von der bloßen Erkenntnis erschlossen werden, wenn man den außerpositiven Pol der Sache Recht heranzieht 34 . Der Sinn ist demnach eine Relation zwischen 27 Vgl. zur Gegenüberstellung von Begründungs- und Überprüfungsdenken: Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1972, Bd. 2., S. 80ff. 28 Ausführlich dargestellt ist diese Tendenz der herrschenden Meinung bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 145 ff. Canaris spricht vom Nachvollzug gesetzgeberischer Wertungen oder „objektiv vorgegebener geistiger Gebilde" (S. 148). Zur Kritik an einem Verständnis praktischer Rechtsarbeit als „Nachvollzug": F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 34 29 Vgl. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, insbes. S. 56 ff. 30 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 126 31 Vgl. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S.47 32 Ebd., S. 48 33 Ebd., S. 29 34 Vgl. dazu auch Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7ff., 14ff.
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Text und Sache und wird erschlossen durch ein Verstehen, welches bestimmt wird als „(Wieder-)Erkennen des Wort-Sache-Zusammenhangs" 35. M i t dieser spezifischen Umsetzung als Bedeutungstheorie wird allerdings das Anliegen der Hermeneutik in mehrfacher Weise verkürzt. Zum einen bilden für Gadamer Welt und Sprache aus anthropologischer Perspektive eine notwendige Einheit 36 , so daß eine Relation zu einer jenseits der Texte gelegenen sprachunabhängigen Sache für ihn nicht annehmbar erscheinen kann. Die Sprache ist kein Werkzeug zum ,Begreifen' sprachunabhängiger Entitäten 37 , sondern Sachen können nur in der Sprache thematisiert werden. Zum andern läßt sich aber auch prinzipiell die Hermeneutik nicht in der von Hruschka nahegelegten Weise als eine der sprachlichen Praxis vorgeordnete Bedeutungstheorie verwenden 38 . Denn für die Hermeneutik Gadamers hat der Text nicht „an sich" eine Bedeutung, er ist kein der Interpretation gegenüberstehendes selbständiges Objekt 3 9 , sondern der Sinn wird, ausgehend von der historischen Situation des Interpreten und der an den Text gerichteten Frage erst hergestellt 40. Diese praktische Dimension der Hermeneutik wird bei ihrer Verdinglichung zu einer abstrakten Bedeutungstheorie übersehen. Die Frage nach der in rechtlichen Texten „zur Sprache kommenden Sache" wird im Gegensatz zur Hermeneutik in der Konzeption Hruschkas also vereinfacht. Er stellt diese Frage nicht praktisch, sondern ontologisch. Diese Art der Fragestellung muß zu einer essentialistischen Antwort führen 41 , die das Wesen der Sache Recht unabhängig vom konkreten Sprechen der Richter bestimmt. Damit kann das Sprachspiel des Rechts nicht mehr aus sich selbst heraus verstanden werden, sondern seiner Analyse wird eine schon vorher feststehende Bedeutungstheorie übergeordnet. 35
Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S.43 Vgl. dazu Gadamer, Hermeneutik, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. III, S. 1067ff., 1071; ders., Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 419; Gadamer sagt dort von der Sprache, „auf ihr beruht und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben". 37 Vgl. dazu auch Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 381: „Der Ausleger bedient sich nicht der Worte und Begriffe wie der Handwerker, der die Werkzeuge nimmt und fortlegt". 38 Vgl. zur Kritik der von Hruschka vorgenommenen Gleichsetzung der Hermeneutik mit der Semantik: Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7ff., 14ff.; sowie Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344ff., 360 39 Vgl. zur Kritik des Subjekt-Objekt-Schemas durch die Hermeneutik: A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 77 f.; Gizbert-Studnicki, ebd., S. 356f. 40 Vgl. dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 28 41 Vgl. zum Zusammenhang von ontologischer Fragestellung und essentialistischer Antwort: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 240. Allgemein zur Kritik am ontologischen Denken in der Jurisprudenz vgl. Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975, S. 19ff., sowie 138ff. 36
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Die „hermeneutische" Kritik an der positivistischen Gleichsetzung von Gesetz und Recht führt im Ergebnis lediglich dazu, daß neben das Gesetz die umfassende Sinneinheit der „Sache Recht" tritt und neben die herkömmliche Auslegung die gesetzesimmanente und gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung als „Fortsetzung der Auslegung" 42 . Auch die „Rechtsfortbildung" soll dabei im Einklang mit den leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung stehen, wobei deren gegenüber dem Gesetzestext überschießender Sinngehalt nach Art. 20 I I I GG für den Richter verbindlich sein soll 4 3 . Die im Rahmen des geschilderten hermeneutischen Modells entwickelte Kritik am Gesetzespositivismus bleibt damit in Halbheiten stecken. Der rechtsnormtheoretische Kern des Positivismus als Gleichsetzung von Normtext und Rechtsnorm wird nicht angetastet. Vielmehr wird das Gesetz als Grundlage eines Subsumtionsmodells ergänzt 44 um ein dahinterliegendes Recht. An die Stelle des einfachen Auslegungsmodells der klassischen Lehre tritt damit ein komplexes Modell von Konkretisierung, das die Logik des Auslegungsmodells auf erweiterter Grundlage reproduziert 45 . Wie Auslegung nur herausarbeitet, was im Text des Gesetzes schon enthalten war, so verteilt hier Konkretisierung lediglich die Substanz einer objektiv schon feststehenden Ordnung auf die Einzelfälle. Als gemeinsame Grundlage von klassischer Lehre und ihrer hermeneutischen Reformulierung bleibt damit die Annahme einer „lex ante casum" 46 erhalten. Allerdings macht die hermeneutische Reformulierung auch die Begründungslasten des herkömmlichen Auslegungsmodells sehr viel deutlicher sichtbar: nur unter der Voraussetzung eines objektiv vorgegebenen überpositiven Maßstabs kann die Logik des Auslegungsmodells gegen ihre Kritiker verteidigt werden. Damit verlagert sich das Problem allerdings auf eine neue Argumentationsebene: Nicht die juristische Methodik oder die Hermeneutik kann dem Sprechen des Richters eine feste Grundlage verschaffen. Dies kann nur die jenseits des Gesetzes gelegene,Sache Recht'. Nur wenn sich diese,Sache Recht' rechtsphilosophisch einlösen läßt, kann das Konkretisierungsmodell tatsächlich die Logik des klassischen Auslegungsmodells auf einer erweiterten Grundlage restituieren. Wenn man also den Verstehensvorgang unmittelbar auf die ,Sache Recht' bezieht, hat dies zur Folge, daß die Eigenständigkeit der methodischen Dimension aufgelöst wird und die Hermeneutik übergeht in eine Philosophie des Rechts 47 .
42
Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 351 Vgl. dazu ebd. ff. 44 Kritisch dazu auch Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/ders. (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 193 ff., 194 43
45 46
Grundlegend zur Kritik: F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 48 und öfter Vgl. dazu ebd., S. 47
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Bevor aber die Diskussion der Gesetzesbindung auf dieser Ebene wiederaufgenommen werden kann, ist zu fragen, ob der die Produktivität des Verstehensvorgangs betonende Ansatz noch auf der Ebene juristischer Methodik zur Lösung dieses Problems beitragen kann.
2.3.3 Das konsequente Konkretisierungsmodell führt über die Rechtsanwendungslehre hinaus Innerhalb der juristischen Rezeption der „neuen", von Gadamer ausgehenden Hermeneutik gibt es auch Ansätze, die den produktiven Charakter des zum Verstehen führenden Vorgangs konsequent ausarbeiten. Die zu verstehende ,Sache' wird im Rahmen dieses Ansatzes nicht sofort zur ,Sache Recht' überhöht, sondern zunächst auf den Zusammenhang juristischen Handelns bezogen1. Aus dieser Sicht einer Rechtswissenschaft als Handlungswissenschaft 2 ist die juristische Textarbeit als gestaltendes Handeln anzusehen. Der Text steht hier dem Interpreten nicht als bloßes Objekt gegenüber 3, dessen vorgegebene sprachliche Bedeutung im Wege der Erkenntnis zu erschließen ist, sondern die Textbedeutung wird im Interpretationsvorgang erst hergestellt 4. Diese hermeneutisch konsequente Betonung des produktiven Moments juristischer Textarbeit muß in Konflikt geraten mit den statischen Voraussetzungen der klassischen Auslegungslehre, welche als Regeln der Interpretation nur solche des exakten Transports 5 der vorgegebenen Substanz auf den Einzelfall kennt. Der hermeneutische Ansatz will deswegen die Vorstellung, daß die 47
Vgl. dazu Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtsthorie 1987, S. 344ff., 361. Vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 125 m.w.N. 1
Vgl. dazu A. Kaufmann, Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 ff., 157ff.; ders., Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 77 f. Vgl. zur Gefahr einer Verdinglichung auch ders., Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik, in: Festschrift für Coing 1,1982, S. 537 ff., 545 und öfter. Vgl. auch U. Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 49ff., 53 m.w.N. 2
Vgl. dazu U. Neumann, ebd. Vgl. dazu A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 77 f.; ders., Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 23 ff., 114; ders., Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, 1971, S. 81 ff., 87 f. Allgemein auch K.-L. Kunz, Die analytische Rechtstheorie: Eine „Rechts-"theorie ohne Recht?, 1977, S. 81 ff., und öfter 4 Vgl. dazu Hassemer, Die Hermeneutik im Werk Arthur Kaufmanns, in: ders. (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. Iff., 7 m.w.N. 5 Vgl. dazu Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/ders. (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 193 ff., 194 3
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richterliche Entscheidung aus der kodifizierten Norm abgeleitet werde, überwinden zugunsten der Vorstellung, „daß der Richter rechtsschöpferisch tätig sei" 6 . In der Durchführung zeigt diese Analyse der rechtsschöpferischen Komponente allerdings gewisse Inkonsequenzen, die zunächst auf der Ebene der Rechtsnormtheorie zum Ausdruck kommen. Gegen die positivistische Identifizierung von Normtext und Rechtsnorm setzt die hermeneutische Position zunächst eine Unterscheidung von Gesetz und Recht 7 . So stellt Arthur Kaufmann fest, daß das positive Recht seine volle Konkretheit erst in der einzelnen Entscheidung erhalte und daß diese nicht auf Normen aus dem Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Richterrecht reduziert werden könne 8 . Er fügt aber dann hinzu: „Freilich ist eine solche generelle Norm (...), um der Gleichbehandlung des Gleichen und also der Vermeidung von Willkür willen ganz unentbehrlich für die Rechtsentscheidung — sonst wäre es eben keine itec/jtaentscheidung. Eine ,freie Rechtsfindung' im Sinne einer normfreien Rechtsfindung gibt es nicht; findet sich die Norm nicht im Gesetz (bzw. Gewohnheitsrecht), so kann doch nicht ohne Norm entschieden werden — fraglich ist nur, woher sie dann genommen werden soll: aus der Moral, der Sitte, den herrschenden Kultur- und Wertanschauungen', dem ,Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden' oder einfach aus dem Rechtsgefühl und dem Gewissen des Entscheidenden selbst" 9 . Hier scheint sich die im Rahmen der „Wertungsjurisprudenz" schon festgestellte Argumentationsfigur zu wiederholen: Zunächst wird das Schreckgespenst der Willkür aufgebaut, welches sich ergeben müsse, wenn der Richter ohne vorgeordnete Norm handle. Dann werden eilig weitere Grundlagen herangezogen, um die im Gesetz fehlende Norm zu substituieren. Daß der Richter unter Bindung an den vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext und im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur auch bei der Normsetzung nicht willkürlich, sondern als Gesetzgeber zweiter Stufe handelt, kommt hier nicht in den Blick. Stattdessen wird dem Subsumtionsmodell einfach eine erweiterte Grundlage unterschoben. In diese Richtung weist auch zunächst das dreistufige Modell des Werdegangs von Recht 10 , welches Grundsatznorm, positives Gesetz und konkrete Entscheidung miteinander verbindet. Doch im Rahmen dieser hermeneutischen Theorie gibt es auch andere Argumente, welche die kurzschlüssige Wiederholung des Subsumtionsmodells gerade zum Gegenstand der Kritik machen. So soll etwa das Dreistufenmodell des Werdegangs von Recht gerade nicht als Nacheinander deduktiver Grundla6
Ebd. Dazu grundlegend A. Kaufmann, Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 ff. Vgl. auch ders., Recht als Maß der Macht, in: ebd., S. 33 ff., 43 ff., insbes. 45 8 Vgl. A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 10 9 Ebd., S. lOf. 10 Vgl. dazu ebd., S. 12 f. sowie ders., Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 ff., 156 f. 7
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gen verstanden werden 11 . Und Gerechtigkeit ist hier im Gegensatz zur „Wertungsjurisprudenz" keine der Entscheidung vorgeordnete Größe, sondern erst Attribut des konkreten Richterspruchs 12 . Noch deutlicher kommt dieses aktive, auf das juristische Handeln bezogene Moment in der Reflexion über das dynamische bzw. historische Wesen des Rechts zum Ausdruck: „So ist auch Recht nicht Zustand, sondern Akt und kann daher nicht ,Objekt4 einer vom ,Subjekt4 unabhängigen Erkenntnis sein. Vielmehr ist Recht ,Produkt 4 eines Prozesses hermeneutischer Sinnentfaltung und Sinnverwirklichung. Eine ,objektive Richtigkeit 4 des Rechts außerhalb des hermeneutischen Rechtsfindungsverfahrens kann es somit überhaupt nicht geben 4413 . Die festgestellte Ambivalenz zeigt sich auch im methodischen Begriff der Konkretisierung, welcher einerseits als bloße Vollendung einer objektiv schon angelegten Ordnung 14 und andererseits als Konstituieren einer solchen Ordnung erscheint 15 . Und sie kommt in der Diskussion des Gesetzesbindungspostulats zum Ausdruck: Einerseits wird gesagt, es sei „ein Verständnis der Richterbindung ausgeschlossen, das die Fallentscheidung als schlichtes Implikat des Gesetzeswortlauts begreift. Der Richter ist nicht der ,Mund des Gesetzes4 (Montesquieu); er geht mit dem Gesetz vielmehr schöpferisch u m " 1 6 . Auf dieser Grundlage kann dann festgestellt werden, „daß nicht schon der Gesetzeswortlaut die Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz" 17 . M i t dieser Unterscheidung wäre die Grundlage geschaffen, um zwischen Normtext und Rechtsnorm einen Semanti-
11
Vgl. dazu A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 13 Vgl. dazu U. Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 49ff., 55. Grundlegend A. Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit: Problemgeschichtliche Betrachtungen, 1984 13 Vgl. dazu A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: ders./Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 23 ff., 114 14 Vgl. dazu A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 16f.: „Weder sind die Rechtsnormen vollständig und fertig in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (in der Rechtsidee), noch sind die Rechtsentscheidungen (das konkrete Recht) vollständig und fertig in den Rechtsnormen enthalten". 15 Vgl. mit Akzentuierung des produktiven Moments: A. Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, in: Baumann/Tiedemann (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts. Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, 1974, S. 295ff., 303 f. („Rohmaterial"). Vgl. weiterhin Schroth, Philosophische und juristische Hermeneutik, in: A. Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 276 ff., 290 f. im Anschluß an die Konzeption von F. Müller 12
16 Vgl. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/ders., (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 193 ff., 205 17 Ebd., S. 211
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sierungsvorgang sichtbar zu machen und damit das Programm einzulösen, das Gesetzesbindungspostulat innerhalb des juristischen Handelns zu untersuchen. Andererseits finden sich aber auch im Rahmen der hermeneutischen Reflexion des Gesetzesbindungspostulats Überlegungen, die zu einem Verständnis der richterlichen Bindung als Anwendung vorgegebener Regeln zurückführen könnten. So wird etwa gesagt, daß die Bindung des Richters im Hinblick auf die Differenzierungen des Gesetzesrechts in ,Richterrecht' und Rechtsdogmatik zu verstehen sei: „Nur dort finden sich Entscheidungsregeln, die einerseits generalisierbar (und damit auf eine Mehrzahl von Fällen übertragbar) und andererseits konkretisiert (und damit informativ und als Anknüpfungspunkt für das Bindungspostulat sinnvoll) sind" 1 8 . Damit ist die richterliche Bindung doch wieder als Anwendung vorgegebener Regeln verstanden. Auch wenn zugestanden wird, daß die Rechtsdogmatik das Gesetz nicht einfach präzisiert, sondern Gesetzessinn erst konstituiert 19 , werden dem richterlichen Handeln doch Regeln mittlerer Abstraktionshöhe zwischen Gesetz und Entscheidung vorgeordnet. Begründet wird dies mit der Erwägung, daß eine Bindung des Richters Maßstäbe voraussetze, die nicht mit der Entscheidung begründet werden könnten 20 . Dieser Gedanke ist zwar richtig. Aber er führt nicht notwendig dazu, die richterliche Bindung als Anwendung vorgegebener Regeln zu konzipieren. Auch wenn der Richter die seine Entscheidung tragenden Regeln erst konstituiert, kann er dabei Bindungen unterworfen sein, die sich in seinem Handeln entfalten und die Regelsetzung durch bestimmte Anforderungen erschweren 21. Die Wurzel der dargestellten Ambivalenz liegt in einem bestimmten Verständnis der hier vorausgesetzten Sprachtheorie 22. Arthur Kaufmann formuliert diese aus der hermeneutischen Reflexion hervorgegangene Sprachtheorie folgendermaßen: „Jede lebendige, wirklich gesprochene Sprache, ob Umgangs- oder Fachsprache, ist zweidimensional: sie hat eine rational-kategoriale und eine intentional-metaphorische Dimension. Bei der einen, der digitalen Komponente geht es um formal-logische Eindeutigkeit und Exaktheit der Sprache, bei der anderen, der analogen Komponente haben wir es mit dem transzendentallogischen Sinn der Sprache zu t u n " 2 3 . In dieser Vorstellung einer Zweidimensionalität der Sprache wird die an Eindeutigkeit orientierte Sprachschicht von einer an Analogie und Innovation orientierten Schicht abgehoben24.
18
Ebd. Vgl. auch die zusammenfassende Formel auf S. 212 Ebd., S. 208 20 Ebd., S. 202 21 Vgl. dazu oben im Teil D 22 Vgl. dazu A. Kaufmann, Die Parallelwertung in der Laiensphäre. Ein sprachphilosophischer Beitrag zur allgemeinen Verbrechenslehre, 1982, S. 25 ff.; ders., Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, in: ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1984, S. 25 ff. 23 A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 73 19
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Diese Zweidimensionalität wird nun in den an Kaufmann anschließenden rechtstheoretischen Ansätzen zum Teil als methodischer Grundsatz und Maßstab der Gesetzesbindung verwendet. Hassemer will in diesem Sinne „Entscheidungsspielräume" 25 des Richters mittels semantischer Überlegungen zu den Rechtsbegriffen begründen: „Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur Vagheit und Porosität von Gesetzesbegriffen (...) darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten (...). Wenn es stimmt, daß richterliches Handeln den Bedeutungsumfang der Gesetzesworte erst in der Auslegung des Gesetzes am Fall konstituiert, dann kann eine,strenge' Auffassung der Richterbindung dieses Faktum nicht ändern, sondern allenfalls verschleiern" 26 . Damit wird die Zweidimensionalität der von Kaufmann entwickelten Sprachtheorie verwendet zur Unterscheidung von eindeutigen und vagen bzw. porösen Begriffen bzw. zur Unterscheidung von wörtlicher und metaphorischer, sprachsystembezogener und handlungsbezogener Bedeutung 2 7 . Dieser Dualismus führt in der Konsequenz dazu, daß der von Kaufmann herausgearbeitete analogische Charakter des Sprechens außerhalb und als Gegensatz zu der „regelgeleiteten" Gesetzesbindung des Richters verstanden wird 2 8 . Wenn etwa der von Kaufmann als Grenze der Auslegung im Strafrecht vorgeschlagene „Unrechtstypus" deswegen als Grenze verworfen wird, weil er sprachkonstituiert sei und an diese Stelle der mögliche Wortsinn treten soll 2 9 , wird darin das Bestreben deutlich, eine durch die Sprache definierte Grenze an die Stelle einer in der Sprache definierten Grenze zu setzen. Tatsächlich ist der „mögliche Wortsinn" aber nicht weniger sprachlich konstituiert als der „Unrechtstypus" 30 . Denn über die Möglichkeit eines Wortsinns entscheiden eben die spezifischen Legitimationsmaßstäbe eines bestimmten Sprachspiels 31. Das Theorem von der Zweidimensionalität der Sprache läßt sich also nicht verstehenstheoretisch wenden als Unterschied von sensus litteralis und sensus 24
Vgl. dazu auch Müller-Dietz, Zur literarischen und juristischen Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 157ff. 25 Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/ders. (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 193 ff., 205 26 Ebd., S. 204 27 Vgl. dazu auch die schon oben in Teil 2.3.1 nachgewiesene Position von Schroth 28 Vgl. dazu Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/ders. (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosphie und Rechtstheorie der Gegenwart, 4. Aufl. 1985, S. 193 ff., 212: „,Bindung an das Gesetz4 heißt dann, daß der Richter sich in der Begründung seiner Entscheidung an Sprache, Problemdifferenzierung und Entscheidungsregeln von Gesetzen (...) zu halten hat". 29 Vgl. dazu Hassemer, Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1968, S. 161 ff.; Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 155 ff., 162ff. 30 Vgl. dazu A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 67 f. 31 Vgl. dazu oben Teil C 1
2. Methodologische Grenze
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spiritualis 32 . Der analogische Charakter 33 des Sprechens ist nicht einfach häufiger Ausnahmefall zur Möglichkeit regelanwendenden Handelns, sondern grundsätzliches Merkmal aller Regelorientierung 34. Jede einzelne Wiederholung enthält die prinzipielle Möglichkeit einer Regelverschiebung und ist, wenn sie der Streitentscheidung dient, als Sprachnormierung anzusehen, die allerdings der Reflexion und Kritik an spezifischen Legitimationsmaßstäben zugänglich ist. Die Legitimationsmaßstäbe einer bestimmten Argumentationskultur bilden eine wirksame Grenze der auf Akzeptanz angewiesenen Sprachnormierung, auch wenn sie sprachlich konstituiert und veränderbar sind 35 . Dabei kann die Untersuchung solcher in der Sprache gezogener Grenzen anknüpfen an den experimentellen Charakter von Kommunikation, welche über Rückmeldungen und zum Teil explizite legitimatorische Standards mit einer Ordnung der Sprache als Phänomen der dritten Art verbunden ist 3 6 . Es wird damit jedenfalls deutlich, daß die Grenze juristischer Textarbeit nicht als äußere Sprachgrenze dieser Tätigkeit vorgelagert ist, sondern innerhalb der analogischen Struktur des regelbezogenen juristischen Handelns untersucht werden muß 3 7 . Zu der Einlösung dieses Programms muß man die Bedingungen legitimer Bedeutungszuweisung im Rahmen des juristischen Sprachspiels aber präziser fassen. Bei Friedrich Müller geht die hermeneutische Reflexion deswegen in eine Rechtsnormtheorie über 3 8 , welche mit der Unterscheidung von Normtext und Rechtsnorm den beide Größen verbindenden Semantisierungsvorgang als Ansatzpunkt des Gesetzesbindungspostulats kenntlich macht. Die spezifischen Legitimitätsbedingungen des juristischen Sprachspiels können dann im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion 39 untersucht werden. Auch der Begriff Konkretisierung verliert dabei seinen zwischen Vollenden und Erzeugen einer Ordnung schillernden Charakter. Unter Ablösung von der Illusion einer „lex ante casum" kann er folgendermaßen bestimmt werden: „Der normerzeugende, methodenverpflichtete Rechtsarbeiter löst den Fall durch eine Entscheidungsnorm, die aus der (im Ausgang von Sachverhalt, Normtexthypothese und Sachbereich konstitutiv erarbeiteten) Rechtsnorm folgen muß. Diese selbst muß, methodisch rational nachvollziehbar, bestimmten Normtexten des geltenden Rechts zugerechnet werden können. Konkretisierung ist also nicht ReKonstruktion.,Normkonkretisierung' bedeutet Konstruktion einer Rechtsnorm, 32
Vgl. dazu auch Müller-Dietz, Zur literarischen und juristischen Hermeneutik, in : Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 157ff., 159f. 33 Vgl. zum Analogiebegriff : A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 4f. 34 Vgl. dazu Busse, Historische Semantik, 1987, S. 192ff. m.w.N. 35 Vgl. dazu unten im Text Teil D 3 36 Vgl. dazu oben im Text Teil C 2.2.3 37 Vgl. dazu A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 66 f. zum Problem der Grenze zwischen erlaubter und verbotener Analogie innerhalb der Analogie 38 Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 241 ff. 39 Vgl. F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 31, 90, 121
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C. Theorie der Rechtsanwendung
aus der abschließend noch die Entscheidungsnorm abzuleiten bleibt" 4 0 . Die konsequente hermeneutische Reflexion löst damit den Konkretisierungsgedanken aus dem paradigmatischen Rahmen des Rechtsanwendungsmodells und führt gleichzeitig zum Problem einer Rechtserzeugungsreflexion. Insgesamt ergibt sich für das an hermeneutische Überlegungen anschließende Konzept der Konkretisierung damit folgendes: Konkretisierung heißt, entgegen der auf Schleiermacher bezogenen Hermeneutik, nicht Individualisierung eines allgemeinen, in der Sprache vorgegebenen Schemas. Damit würde der regelhafte und soziale Charakter des Sprechens verkürzt. Konkretisierung heißt aber auch nicht Präzisieren einer vorgeordneten allgemeinen Substanz. Damit würde der innovative oder analogische Charakter des Sprechens übersehen. Konkretisierung heißt vielmehr das nicht vollständig determinierte Erzeugen einer sprachlichen Regel unter den einschränkenden Bedingungen einer bestimmten Argumentationskultur. Die Hermeneutik führt nicht zu einer Reduktion, sondern zu einer Vervielfältigung der Sinnmöglichkeiten. Nur dadurch teilt sie die Gewalt, die in der Interpretation von Texten steckt 41 . Was darüber hinaus die Teilung der vom Richter als privilegiertem Interpreten juristischer Texte ausgeübten Gewalt angeht, so kann die Hermeneutik der Rechtswissenschaft die Lösung dieser spezifisch juristischen Aufgabe nicht abnehmen. Der Konkretisierungsgedanke ist damit nicht geeignet, das Rechtsanwendungsmodell durch Aufweis einer objektiven, dem richterlichen Sprechen vorgeordneten Instanz zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil führt er konsequent durchdacht auf die Probleme einer Rechtserzeugungstheorie hin. Der im Zuge der hermeneutischen Reflexion sichtbar gewordene innovatorische und analogische Charakter des Sprechens könnte nur dann in den paradigmatischen Rahmen einer Rechtsanwendungslehre zurückgebunden werden, wenn es gelänge, mit dem rechtsphilosophischen Konzept der Gerechtigkeit bzw. „Sache Recht" eine inhaltliche Totalität aufzuweisen, welche auch dem aktiven und innovatorischen Moment richterlicher Textarbeit vorgeordnet bleibt.
3. Rechtsinhaltliche Grenze: Kann die Gerechtigkeit eine der Rechtsanwendung objektiv vorgegebene Bindung garantieren? Weil in der Praxis eine funktionierende Wortlautgrenze nicht aufweisbar war und auch die verschiedenen Auslegungsmodelle keine objektive Grundlage richterlichen Sprechens aufweisen konnten, mußte das herkömmliche Modell 40
Ebd., S. 52 Vgl. dazu Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 117 ff., insbes. 128 ff., 134. Vgl. dazu auch Schroth, Philosophische Hermeneutik und interpretationsmethodische Fragestellungen, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 77ff, 85ff. 41
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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richterlicher Bindung einer Revision unterzogen werden. Diese Revision nimmt in der herkömmlichen Lehre eine spezifische Richtung. 3.1 Die Schwierigkeiten der Rechtsanwendungslehre führen zu einem Rückzug vom Gesetz zur Gerechtigkeit
Die Schwierigkeiten bei der praktischen Einlösung des Gesetzesbindungspostulats führen im Kontext der Rechtsanwendungslehre zu einer dualistischen Konzeption der Rechtsarbeit. Danach soll innerhalb des juristischen Tuns ein Bereich der bloßen Anwendung des Gesetzes von einem schöpferischen Anteil klar unterschieden werden. Diese Trennung führt zu einer Kette von Ersetzungen, welche im folgenden zu diskutieren ist. 3.1.1 Die juristische Methodik wird verdrängt durch spekulative Rechtserkenntnis Der herkömmliche Ansatz folgert aus dem Scheitern der an der Auslegungsmetapher orientierten Methodik, daß diese zu den Bindungen richterlichen Sprechens gar nichts beitragen kann: „Für (die Interpretation) bietet zwar die Methodenlehre mit der sprachlich-logischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung verschiedene Wege an. Da diese aber in keiner verbindlichen Rangfolge zueinander stehen, kann und soll der Richter unter ihnen wählen, um die von ihm für richtig gehaltenen Ergebnisse zu begründen. Er ist daher in der Lage, seine Zwecke und Werte dem Gesetz aufzudrücken" 1 . Daß ein Gericht faktisch in der Lage ist, seine Zwecke dem Gesetz „aufzudrücken", soll hier nicht bestritten werden. Fraglich ist allerdings, was eine an den verfassungsrechtlichen Anforderungen orientierte Rechtsarbeit tun soll, um die Gefahr willkürlicher Entscheidung zu vermeiden. Diese Frage kann aber im Rahmen des herkömmlichen Verständnisses nicht gestellt werden. Der Gefahr richterlicher Willkür läßt sich aus dieser Sicht nicht mittels der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung begegnen, sondern nur durch das Auffinden von Bindungen jenseits des Gesetzes: „Die allenthalben zu bemerkende Unsicherheit indiziert das Bedürfnis nach einer modernen Rechtsfindungslehre, die dort, wo die Gesetzesbindung ausfallt, die Gefahr richterlicher Willkür (d.h. eines Dezisionismus der Praxis, der sich durch sich selbst rechtfertigt) beseitigt und dem durch die Einsicht in seine methodologischen Freiheiten unsicher gewordenen Richter neue Halterungen gibt" 2 . Es ergibt sich aus dieser Formulierung, daß jedenfalls der größte Teil praktischer Rechtsarbeit jenseits des Gesetzes und 1 Wassermann, Alternativ-Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 44. Ähnlich in der Kritik an der traditionellen Methodenlehre: H.-P. Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, in: DÖV 1975, S. 443 ff., 446; ders., Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 21; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 7 2
Wassermann, ebd., Rdnr. 50
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C. Theorie der Rechtsanwendung
dessen methodischer Konkretisierung anzusiedeln ist und dort auch nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an gesetzeskonforme Entscheidungen unterworfen werden kann. Das „Versagen" juristischer Methodik, welche die Heterogenität ihrer Gesichtspunkte nicht in eine überprüfbare Rangfolge zu bringen vermag 3 , führt damit zu der Frage nach außergesetzlichen Richtlinien für die richterliche Rechtsfindung 4. Diese Ausgangsfrage wird im Rahmen der herkömmlichen Lehre durch eine räumliche Vorstellung folgendermaßen präzisiert: Wenn das Subsumtionsmodell die richterliche Entscheidung nicht vollständig bestimmen kann, entsteht ein „leerer Raum", und es muß „Material" gesucht werden, um diesen Leerraum mit „außergesetzlichen Richtlinien" zu füllen 5 . Das Ausmaß der dann folgenden Bemühungen, diesen Leerraum zu füllen, wird nur verständlich, wenn man berücksichtigt, daß das traditionelle Richterbild von außengeleitetem und regelgebundenem Handeln ausgeht und damit durch den Aufweis eines mit persönlicher Verantwortung auszufüllenden Leerraums beeinträchtigt wird 6 . Die Diskussion ist deshalb weithin bestimmt von dem Versuch, richterliches Handeln von persönlicher Verantwortung dadurch zu entlasten, daß objektive außergesetzliche Grundsätze aufgewiesen werden. Die zur Legitimation der richterlichen Rechtsfortbildung herangezogenen Gesichtspunkte sind ebenso zahlreich wie heterogen: Neben allgemeine Rechtsprinzipien treten eine überpositive Rechtsidee, Naturrechtssätze, Natur der Sache oder die Institutionenlehre 7 . Auch die vorgeblich allgemeinen „Normen des Sittengesetzes" sollen dem Richter einen Halt geben, wobei zur inhaltlichen Bestimmung, wie immer, wenn es um die klassische Rundung eines unübersichtlichen Realzusammenhangs geht, ein Goethe-Wort herhalten muß: „Was aber ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages"8. Die herkömmliche Lehre muß auf solche überpositiven Prinzipien zurückgreifen, weil sie bei ihrer Untersuchung von Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung von einem statischen und zudem auf den Text reduzierten Normverständnis ausgeht. Statisch ist dieses Normverständnis insoweit, als es die Norm als 3 Vgl. dazu auch H.-P. Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, in: DÖV 1975, S. 443 ff., der seinen primär verfassungstheoretischen Ansatzpunkt mit einem Rationalitätsdefizit juristischer Hermeneutik begründet (S. 446). 4 Bei Larenz, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl. 1983, ergibt sich dies schon daraus, daß er von gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung extra legem intra ius spricht, S. 397 ff. 5 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 8 f. 6 Vgl. dazu Rottleuthner, Juristische Leitbilder, in: ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 24ff., insbes. 25 ff. 7 Diese Liste ließe sich beliebig verlängern, etwa um „letzte Richtigkeitsvorstellungen" (Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, S. 119), Fallgerechtigkeit (Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 105) u.ä. 8 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 11
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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Inbegriff fertiger, im Gesetz enthaltener Regeln versteht, welche höchstens zu füllende Lücken aufweisen. Der „Regelpiatonismus", der die Entscheidung nur als Aktualisierung vorgegebener Regeln begreift, ist die theoretische Schranke dieser Auffassung. Selbst das jenseits des Gesetzes liegende Richterrecht soll danach nicht geschaffen, sondern nur gefunden werden 9 . Diese Sicht der Entscheidung läßt sich mit dem strukturalistischen Sprachverständnis vergleichen. Der konkrete Sprechakt ist danach die bloße Aktualisierung von Regeln, die im Sprachsystem vorgegeben sind. Was am konkreten Sprechakt über diese Regeln hinausgeht, ist lediglich der unvollständigen Sprachsystem-Kenntnis des Sprechers zuzuschreiben 10. Daß der Sprecher von seinen individuellen Erfahrungen her auch neue Bedeutungsnuancen setzt, die Sprache nicht nur passiv anwendet, sondern auch mitdefiniert, dieser Zusammenhang bleibt hier ausgeschlossen. An die Stelle einer für Bedeutungsanreicherung offenen praktischen Semantik tritt damit ein abgeschlossenes semantisches System, das eine pragmatische Dimension, wenn überhaupt, als bloßen Papierkorb zuläßt. Die Entscheidung als bloßer Nachvollzug der gesetzlichen Wertungen oder als Ableitung aus dem Gesetz bzw. überpositiven Grundsätzen steht im gleichen Verhältnis zu ihren Grundlagen, wie der konkrete Sprechakt zum strukturalistischen Sprachsystem. Sie soll aus dieser Sicht nur nachvollziehen, was im Gesetz bereits vorgegeben ist, ableiten, was schon vorhanden ist. Und dort, wo dieses Modell offensichtlich versagt, wird einfach die systematische Basis erweitert. A n die Stelle des Gesetzes treten die überpositiven Grundsätze einer holistisch gedachten Gerechtigkeit. 3.1.2 Eine dualistische Konzeption der Rechtsarbeit verdrängt die Positivismuskritik durch eine Kritik am Gesetzesbindungspostulat Das praktische Scheitern des gesetzespositivistischen Modells zur Einlösung der Gesetzesbindung wird allgemein anerkannt. Fragwürdig sind allerdings die Folgerungen, die im Rahmen des herkömmlichen Ansatzes daraus gezogen werden: „Der Kundige weiß, daß es in Wahrheit ganz anders liegt, daß jene Norm, wonach der Richter dem Gesetz und nur dem Gesetz unterworfen ist, in Wirklichkeit nicht mehr bedeutet als ein Programm, und zwar ein im Grunde unerfüllbares Programm" 11 . Nicht das positivistische Modell der Rechtsanwendung als Subsumtion soll hier ersetzt werden durch eine realistische Theorie zur Einlösung der Gesetzesbindung, sondern die Gesetzesbindung soll ersetzt oder mindestens ergänzt werden durch eine Bindung an andere Größen. Aus dem Versagen des Positivismus wird damit ein Versagen des Gesetzesbindungspostu9
Vgl. dazu kritisch: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 62 Fn. 95 Eine Darstellung der wichtigsten Argumente für diesen Paradigmawechsel in der heutigen Linguistik findet man bei H.-J. Schneider, Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax, 1975; kurzer Überblick auch bei Schlieben-Lange, Linguistische Pragmatik, 1979, S. 12 ff. 11 Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Festgabe für Smend, 1952, S. 23 ff., 23 10
11 Christensen
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lats selbst gemacht. Ein Kommentar zu Art. 97 I GG bewältigt diese Verschiebung der Verantwortungslast folgendermaßen: „Indem man glaubte, das Entscheidungsverfahren als logische Operation in Form des Syllogismus definieren zu können, schien das Problem (der Gesetzesbindung; R. C.) gelöst. Wie Untersuchungen unterschiedlichster Provenienz (...) nachgewiesen haben, ist es indessen nicht möglich, die richterliche Eigenwertung aus der Entscheidung zu verbannen. Die Verwirklichung des positivistischen Wunschtraums scheitert vielmehr schon daran, daß das Normprogramm den zu stellenden Anforderungen nicht genügt. Nur ausnahmsweise enthalten gesetzliche Bestimmungen so klare und eindeutige Begriffe, daß ihr Regelungsgehalt für jedermann zweifelsfrei bestimmt werden kann. In der Regel bieten sie Raum für die Interpretation" 12 . Hier wird zunächst festgestellt, daß die positivistische Vorstellung, in der Bedeutung gesetzlicher Oberbegriffe sei der Leitsatz für jede konkrete Entscheidung schon enthalten, zusammengebrochen ist 1 3 . Daraus könnte man nun folgern, daß die positivistische Theorie der Rechtsnorm als im Text schon vorgegebene Größe ersetzt werden muß durch eine Theorie, welche die Gesetzesbindung im Prozeß der Herstellung des tragenden Leitsatzes der Entscheidung einfordert. Diese Folgerung wird hier aber gerade vermieden. Die Gesetzesbindung wird vielmehr eingeschränkt auf den Ausnahmefall, daß die gesetzlichen Begriffe den Anforderungen des positivistischen Subsumtionsmodells entsprechen. In dem diesen Anforderungen nicht genügenden Regelfall tritt eine von der Gesetzesbindung unabhängige Eigenwertung des Richters hinzu 1 4 . Dieser 12
Wassermann, in: Alternativ-Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 44. Vgl. zu einer ähnlichen Kritik an vorgeblichen Mängeln der Sprache auch Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, S. 38: „Das Wort als erstarrte Form ist oft weder den veränderten Lebenserscheinungen noch den veränderten Lebenswertungen gewachsen". Ähnlich A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 40: „Die Unvollkommenheit des Wortlautes liegt in der Natur der Sprache begründet: die Sprachen sind an sich unvollkommen!" 13
So auch Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 5 ff. A n dieser Stelle erscheint das „Richterrecht" als einschränkende Hilfshypothese für das positivistische Normverständnis. Dabei wird das sog. Richterrecht heute als selbstverständliches Phänomen anerkannt. In der rechtstheoretischen Diskussion wird sogar immer wieder dazu aufgefordert, nicht mehr über das „Ob", sondern nur noch über das „Wie" zu diskutieren (vgl. dazu H. P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 10, der hier eine Position des Bundesgerichtshofs positiv aufnimmt. Diese Einschätzung ist inzwischen bis in die Lehrbücher des Verwaltungsrechts hinein vorgedrungen. Vgl. Ossenbühl, Die Quellen des Verwaltungsrechts, in: Erichsen/Martens (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 1983, S. 59ff., 103 ff. Zum Zivilrecht vgl. die Zusammenstellung von Meinungen bei Bydlinski, Hauptpositionen von Richterrecht, JZ 1985, S. 149 ff.) Das Richterrecht wird dabei auch aus der Sicht höchstrichterlicher Rechtsprechung in einem Ergänzungsverhältnis zum Gesetzesrecht gesehen: „Darüber ist jedenfalls unter Juristen kein Zweifel möglich, daß in allen übersehbaren Zeiträumen das verwirklichte Recht eine Mischung von Gesetzesrecht und Richterrecht gewesen ist, und daß dasjenige Recht, das sich in den Erkenntnissen der Gerichte verwirklicht hat, sich niemals in allem mit demjenigen Recht gedeckt hat, das der 14
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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Bereich richterlicher Wertung wird allerdings nicht auf seine Struktur hin befragt, sondern ausschließlich negativ definiert als Gegensatz zum logischen Mechanismus der Subsumtion. Aus der richtigen Voraussetzung, daß richterliches Handeln mehr ist als Subsumtion, wird die falsche Konsequenz gezogen, daß das Gesetz dann das richterliche Handeln nicht mehr beeinflussen könne. Damit ist wiederum eine realistische Kritik an der positivistischen Rechtsnormtheorie vermieden, und die Schwächen dieser Position werden auf das Gesetzesbindungspostulat selbst übertragen. Vermittelndes Glied ist dabei die Sprache. Weil die Sprache nicht mit klar und eindeutig vorgegebenen Begriffen den Anforderungen des Positivismus entspricht, soll hier die Reichweite des Gesetzesbindungspostulats eingeschränkt werden. Daß die genannten Eigenschaften der Sprache vielleicht nur aus dem Blickwinkel der positivistischen Theorie als Mängel erscheinen, kommt den Vertretern der herkömmlichen Lehre nicht in den Sinn. Auch dort, wo der Wunschtraum des Positivismus verabschiedet werden soll, bleibt dessen Rechtsnormtheorie fragloser Ausgangspunkt 15 . Ihre Anforderungen definieren die Mängel der Sprache, diese wiederum schränken die Reichweite der Gesetzesbindung ein und legen damit gleichzeitig den Bereich richterlicher Eigenwertung fest. Auf die Schwierigkeiten des positivistischen Rechtsanwendungsmodells reagiert die herkömmliche Lehre also mit der Entwicklung einer dualistischen Konzeption praktischer Rechtsarbeit 16 . Danach gibt es einerseits die festen Regeln des Gesetzespositivismus, welche die Reichweite der Gesetzesbindung definieren 17 , und andererseits einen Bereich der Rechtsfortbildung 18 , in welchem die Regeln des Gebrauchs gesetzlicher Begriffe erst hergestellt werden müssen19. Mit der Behauptung einer noch hinter dem Gesetzestext liegenden Gesetzgeber gesetzt hatte" (BGH NJW 1967, S. 816). Diese Bestimmung des verwirklichten Rechts als Mischung zwischen Gesetzes- und Richterrecht macht zwei unterschiedliche Fragebereiche deutlich: einmal das Sachproblem als Frage nach dem gegenstandskonstitutiven Anteil praktischer Rechtsarbeit bei der Verwirklichung von Recht. Von diesem Sachproblem ist das Scheinproblem des Richterrechts zu unterscheiden, die Auffassung nämlich, daß es „eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe" (BVerfGE 3, S. 225ff., 243) sei, sog. Lücken im Gesetz in „schöpferischer" Rechtsfindung auszufüllen und dabei den tragenden Leitsatz nicht den vom Gesetzgeber verfaßten Normtexten zuzurechnen, sondern den von den Richtern selbst gesetzten Normtexten. 15
Daß die apriorische Konstruktion der Rechtsnorm den Blick auf die tatsächlichen Strukturen praktischer Rechtsarbeit verstellt, wird gezeigt bei F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 194f., 225ff., 233, 248, 331 f., 383f., 437f. 16 Vgl. zur Kritik ebd., S. 246ff. 17 Als klassische Formulierung des Rechtsfortbildungsbegriffs vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 351 ff. Auch in der Kritik an diesem Grundverständnis der herrschenden Doktrin reproduziert sich häufig der Dualismus: vgl. etwa Horst Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung: Untersuchungen zu einem hermeneutischen Problem, 1977, wo im Anschluß an die Position von Koch ein Bereich der Bedeutungsermittlung von der Bedeutungsfeststellung unterschieden wird. 18 19
11*
Kritische Einschätzung dieses Begriffs bei F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 41 ff. Vgl. zu einer Überwindung dieses dualistischen Regelbegriffs: ebd., S. 46 ff. und öfter
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C. Theorie der Rechtsanwendung
zweiten u n d höherrangigen O r d n u n g der Gerechtigkeit soll der Bereich der Rechtsfortbildung aber schließlich wieder i n ein Subsumtionsmodell auf erweiterter Grundlage eingeschrieben werden. D a m i t bleibt die herkömmliche Auffassung i m paradigmatischen Rahmen der v o m Gesetzespositivismus entwickelten statischen Rechtsanwendungslehre 2 0 . D i e dynamischen Prozesse der Rechtsverwirklichung gelten nur als vordergründiges Gewimmel, hinter deren scheinbarer Zufälligkeit für den Kenner (erbaulicher Literatur) die ewige O r d n u n g der Gerechtigkeit sichtbar wird. 3.1.3 Das „Gesetzesrecht" wird verdrängt durch ein ausuferndes „Richterrecht" Die von der herkömmlichen Lehre angestrebte Revision bezieht sich damit nicht auf die positivistische Vorstellung der Rechtsnorm als anwendungsbereitem Text, sondern nur auf das zu einfache B i l d richterlicher Tätigkeit. Der Nachweis, daß der Entscheidungsvorgang komplexer ist, als es das Subsumtionsmodell unterstellt, führt dazu, die richterliche Tätigkeit zunehmend v o n der positivistisch verstandenen Rechtsnorm abzulösen u n d stattdessen gesetzestranszendenten Regeln der Begründung zu unterwerfen. Neben den Gesetzestext als Quelle des Rechts t r i t t das Richterrecht als zweite, den Gesetzestext ergänzende Rechtsquelle 2 1 . 20
Vgl. dazu ebd., S. 26, 43 In der Richterrechtsdiskussion wird der künstlich hergestellte Bereich richterlicher Eigenwertung als Richterrecht zur eigenständigen Rechtsquelle erhoben. So mit Abweichungen in Einzelheiten: Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, in: NJW 1963, S. 1273 ff., 1280; Brüggemann, Gesetzesrecht und Richterrecht, 1963, S. 162ff.; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 132ff., 138 und öfter; R. Fischer, Die Rechtsprechung des BGH, 1960, S. 14ff.; Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 1965, S. 159ff., 227ff., 367ff.; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen, 1962, S. 58ff., l l l f . ; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 246; A. Kaufmann, Freirechtsbewegung — lebendig oder tot?, in: JuS 1965, S. 1 ff., 8; Knittel, Zum Problem der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung im Steuerrecht, 1974, S. 10 ff.; Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971; Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, in: NJW 1965, S. Iff.; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 351, 354ff., 397; Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1954, S. 66; Olzen, Die Rechtswirkungen geänderter höchstrichterlicher Rechtsprechung im Zivilrecht, in: JZ 1985, S. 155 ff., 159; E. Stein, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung, in: NJW 1964, S. 1745 ff, 1746ff., 1752; Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung, 1952, S. 3, 12; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 15f.; Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, in: NJW 1964, S. 1981 ff., 1985, 1987; Zweigert, Die rechtsstaatliche Dimension von Gesetzgebung und Judikatur, in: Verhandlungen des 51. DJT (1976), Teil K , S. 11 ff., 13 f. und öfter. Kritisch zu diesem Ansatz: F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 53 ff, 102 ff. Die Frage, ob es sinnvoll ist, 'Richterrecht' als eigenständige Rechtsquelle anzusehen, kann im gegebenen Rahmen nicht diskutiert werden. Jedenfalls würde damit das schon im Rahmen alltäglicher Rechtspraxis selbstverständlich geübte Verfahren abgeschnitten, herangezo21
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Die Legitimation durch eine gesetzestranszendente Gerechtigkeit dehnt sich im Zuge dieser Entwicklung immer weiter aus: anfänglich noch auf das Schließen von sog. Lücken des Gesetzes beschränkt 22 , wird der Bereich des „Richterrechts" zunächst dadurch erweitert, daß die sog. Rechtsfindung „praeter legem" einbezogen wird. „Richterrecht" umfaßt danach neben dem Auffüllen von Lücken auch die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln 23. Eine weitere Ausdehnung in den Kernbereich der Rechtsanwendung hinein erfahrt die Anwendung des gesetzestranszendenten Gerechtigkeitsmaßstabs, wenn man die Auslegung vager oder mehrdeutiger Gesetzesbegriffe hinzuzählt. Schon die an einem vagen oder mehrdeutigen Sprachgebrauch ansetzende Interpretation wird hier als Lückenproblem behandelt 24 . Der Gesetzesbindung entzogen ist nach dieser Auffassung die Bildung all derjenigen Entscheidungen, die nicht direkt aus dem Gesetz „entnommen" werden, sondern erst einer Konkretisierung bedürfen 25 . Zusammenfassend läßt sich dies beschreiben als eine Entwicklung vom Gesetzespositivismus zum Richterpositivismus. Umfang und rechtspolitische Wünschbarkeit mögen verschieden beurteilt werden 26 , weithin Gemeingut ist aber die Unterscheidung von Gesetzesrecht und Richterrecht, wonach es eine Klasse von Entscheidungen gibt, die vollständig aus dem Gesetz „abgeleitet", „nachvollzogen" oder „entnommen" werden, und eine weitere Klasse von Entscheidungen, die jenseits des Gesetzes liegen und als „Richterrecht" anzusehen sind. Es ist aber deutlich, daß der Unterscheidung von Gesetzesrecht und immer weiter ausuferndem „Richterrecht" ein verkürzter, auf den fertig anwendbaren Befehl reduzierter Rechtsnormbegriff zugrundeliegt 27 . Eine Analyse der hergene Judikate einer eigenständigen und selbstverantworteten Wertung zu unterziehen. Deswegen wird oft auch von Autoren, die das 'Richterrecht' als eigenständige Rechtsquelle ansehen, nur eine verminderte Bindungswirkung im Sinne einer Argumentationslast behauptet. 22 Kennzeichnend war hier die freirechtliche Wendung gegen das Dogma von der Lückenlosigkeit des Gesetzes. Vgl. dazu Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 14 23 Vgl. Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 1965, S. 111 ff., 227 ff., 367ff. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 54ff., 75 ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 7 ff; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1984, S. 339 ff. 24 Vgl. etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, 1976, S. 350f.; Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 331 ff., 333; Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, S. 1981 ff., 1983; Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, S. 174f. 25 Vgl. dazu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1973, S. 416 26 Auch in der neueren Diskussion gibt es durchaus noch Stimmen, die dem Richterrecht kritisch gegenberstehen. Vgl. dazu etwa Hirsch, Richterrecht und Gesetzesrecht, JR 1966, S. 334ff., 341: „Richterrecht ist für eine Rechtsordnung, die wie unsere strukturiert ist, eine contradictio in adiecto, ja mehr noch: es bedeutet Rechtsbruch". 27 Daß sich die juristische Methodendiskussion von der Rechtsnormtheorie abgekoppelt hat, ist der grundlegende Einwand der Strukturierenden Rechtslehre gegenüber
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kömmlichen Position zeigt, daß sie als gemeinsamen Ausgangspunkt, sozusagen als blinden Fleck, das positivistische Rechtsnormverständnis voraussetzt. Typisch ist hierfür schon die freirechtliche Position von Hermann Isay. Er will zwar in kritischer Wendung gegen den herkömmlichen Rechtspositivismus die Rechtsfindung nicht als rein kognitiven Prozeß der Ermittlung einer vorgegebenen Entscheidung begreifen, übernimmt aber dann doch das positivistische Normverständnis, wonach die Norm als „etwas Fertiges, Vergangenes, Unbewegliches, Statisches" verstanden wird 2 8 . Der Positivismus ist damit nur abstrakt negiert. Man läßt die positivistische Rechtsnormtheorie stehen und löst den Prozeß der Rechtsfindung davon ab. Ohne daß die rechtsnormtheoretische Grundlage noch so offen ausgesprochen würde, ist dieses Argumentationsmuster auch noch kennzeichnend für heutige Untersuchungen des „Richterrechts". So wird etwa gesagt, die richterliche Tätigkeit könne nicht als Ermittlung einer im Gesetz vorgegebenen Bedeutung verstanden werden, um dann aber nicht nach der Angemessenheit eines solchen „regelplatonistischen" Verständnisses der Rechtsnorm zu fragen, sondern um die richterliche Tätigkeit als „semantische Festsetzung" an normgelösten Folgeerwägungen zu orientieren 29 . Das positivistische Modell der Rechtsnorm als anwendungsbereitem Befehl wird hier nur in seiner Erklärungsreichweite eingeschränkt, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt. Die Diskussion bleibt damit an das Paradigma der positivistischen Rechtsnormtheorie gebunden: Nur dort, wo die Erklärungskraft dieses Modells offensichtlich versagt, liefert das 'Richten-echt' ergänzende Hilfshypothesen. Es handelt sich bei dieser Entwicklung vom Gesetzespositivismus zum Richterpositivismus um eine degenerative Problemverschiebung (Lakatos) 30 , welche zwar am rechtsnormtheoretischen Modell des Gesetzespositivismus festhält, aber die praktische Reichweite dieses Modells immer weiter einschränkt herkömmlichen Positionen und gleichzeitig auch der Ansatzpunkt für die Entwicklung der an ein dynamisches Modell der Rechtsnorm rückgebundenen Methodik. Vgl. als kurze Darstellung der Kritik an der herkömmlichen Rechtsnormtheorie: F. Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 257 ff. 28
Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 25 Vgl. dazu Koch/Trapp, Richterliche Innovation — Begriff und Begründbarkeit, in: Harenburg/Podlech/Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, S. 83 ff. Ähnlich in der Gegenüberstellung von positivistischer Rechtsnormtheorie und Richterrecht die Position von Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 198f.: Die durch Richterrecht geschaffene Norm sei „kontinuierlicher Anpassung an die Lebensprozesse fähig", während die Gesetzesnorm als „strikte Maßregel" durch die „programmatische Statuierung ihres Norminhalts" (S. 199) unbeweglicher gegenüber neuen Lebenssachverhalten bleibe. Die Liste von Autoren, die diese Gegenüberstellung von statischer Norm und dynamischem Richterrecht behaupten, ließe sich dabei leicht fortführen. 29
30
Vgl. dazu Lakatos, Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders.,/Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, 1974, S. 89 ff., 113 ff.
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zugunsten einer Legitimation durch eine gesetzestranszendent gedachte Gerechtigkeit. 3.2 Ein der Rechtsanwendung objektiv vorgegebener Begriff der Gerechtigkeit ist nicht einlösbar
U m die als Ort stabiler Sprache und sichere Voraussetzung des positivistischen Rechtsanwendungsmodells fragwürdig gewordene Textbedeutung wieder zu stabilisieren, führt die herkömmliche Lehre die Gerechtigkeit als zentrales Signifikat 31 des Rechtstextes ein. Diese dem Wechsel der Namen entzogene reine Bedeutung soll garantieren, daß der „Wortlaut" des Gesetzes gegenüber der Flut divergierender Interpretationen seine semantische Identität wahren kann 3 2 . Die Bemühungen, durch den Rückgang auf „letzte Richtigkeitsvorstellungen" oder den Gedanken der Fallgerechtigkeit der richterlichen Tätigkeit ein festes Fundament zu schaffen, bleiben damit im Ansatz der vom klassischen Positivismus vorausgesetzten deterministischen Textauffassung verhaftet. Ziel einer auf kognitive Strukturen reduzierten Rechtsfindung bleibt die Entscheidung, welche gemessen am zentralen Signifikat des Textes die einzig richtige ist. 3.2.1 Der „hermeneutische" Begriff der Gerechtigkeit scheitert an den strukturellen Prämissen seiner Sprachtheorie Anknüpfend an die hermeneutische Frage nach der im Sprechen des Juristen zur Sprache gebrachten „Sache Recht" 3 3 soll hier eine stabile Bedeutung dadurch gewährleistet werden, daß man den bloßen Wortlaut des Gesetzes in Richtung auf den objektiven Sinn 3 4 überschreitet, welcher seinerseits ein festes Zentrum in der Idee der Gerechtigkeit finden soll. M i t diesem Ansatz wird die hermeneutische Idee eines notwendigen Vorgriffs auf die Sinntotalität mit Theoremen rechtsphilosophischen Inhalts aufgefüllt und so zur objektiven Grundlage des richterlichen Sprechens gemacht 35 . Der vor allem von Larenz zu einer reichen und beeindruckenden Systematik entfaltete Ansatz beansprucht auf diese Weise die anerkannte schöpferische Komponente in ein Rechtsanwendungsmodell einbinden zu können. 31
Vgl. zu diesem Begriff: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 55ff.; ders., Positionen. Gespräch mit Jean Louis Houdebine und Guy Scarpetta, in: ebd., S. 83 ff., 128 32 Vgl. zu dieser Rolle des transzendentalen Signifikats auch Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 587 und öfter 33
Vgl. dazu oben im Text C 2.3; vgl. zur Entfaltung der Tradition der Wertungsjurisprudenz: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, Kap. I, insbes. S. 11 ff., 117ff.; kritisch zu verschiedenen Aspekten dieser historischen Betrachtung: Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, insbes. S. 149 ff. 34
Vgl. dazu Larenz, ebd., S. 305 Vgl. Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes, in: F. Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 47 ff. 35
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Der Ausgangspunkt dieser Position ist somit die klassische positivistische Frage nach der einen und richtigen Bedeutung des Normtextes 36 . Sie soll beantwortet werden durch den Aufweis einer für Rechtstexte spezifischen Systematik 37 , welche als innerer Zusammenhang und sinnvoll geordnetes Ganzes die Varianz der Einzelbedeutungen zu stabilisieren vermag. Dabei fassen die verschiedenen Stufen der Entfaltung die Bewegung der herkömmlichen Lehre vom Rechtsbegriff über juristische Methodik und Gerechtigkeit zu Stufen der Rechtserkenntnis in einem Gesamtsystem zusammen. Als erster Anknüpfungspunkt kommt das „äußere System" 38 des Rechts in den Blick, welches von den gesetzlichen Ordnungsbegriffen gebildet wird. Es ist allerdings für die Lösung der geschilderten Aufgabe nicht ausreichend. Denn „von diesem System (erwartet) heute niemand mehr einen Gewinn für die Lösung offener Rechtsprobleme" 39 . Die abstrakten Ordnungsbegriffe vermögen aus der Sicht von Larenz kein vollständiges System des Rechts als innerlich zusammenhängender Ordnung zu bilden. Ebensowenig sieht er die Möglichkeit, auf einen gesetzgeberischen Gesamtplan zurückzugehen: „Denn von einem Plan, einer bestimmten Regelungsabsicht, läßt sich nur bei einem Gesetz sprechen, nicht im Hinblick auf die Rechtsordnung im Ganzen. Diese ist viel zu verzweigt und zu sehr in ständiger Entwicklung begriffen, als daß sie in allen ihren Teilen einem einheitlichen Gesamtplan eingeordnet werden könnte" 4 0 . A n der Zeitoffenheit und Problemheterogenität scheitert auch eine Axiomatisierung der rechtlichen Grundbegriffe 41 , so daß die Möglichkeiten des äußeren begrifflichen Systems als Fixpunkt zur Stabilisierung der Bedeutungsvarianzen damit erschöpft sind. Doch in diesen Schwierigkeiten sieht Larenz „keinen Grund, den Systemgedanken selbst preiszugeben" 42. So taste sich zwar die Rechtsprechung scheinbar nur von Einzelregelung zu Einzelregelung voran, gelange aber bei genauerer Betrachtung doch zu einem System sinnvoll miteinander verbundener Rechtsprinzipien. Dies erklärt sich für Larenz daraus, daß die Rechtsordnung als Erzeugnis menschlichen Handelns kein amorphes Chaos bilde, sondern teleologische Bezüge enthalte, welche in ihrer Anwendung durch die Rechtsprechung zur Entfaltung kämen 43 . Das Recht ist danach zwar als positives Gesetz 36
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 195 Vgl. zum Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz ebd., insbes. S. 187 ff, 229ff.; zum Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, welcher bei Rechtstexten weiter trage als bei sonstigen Texten: ebd., S. 310 38 Vgl. ebd., S.311 und öfter 39 Ebd., S. 160 40 Ebd., S. 361 41 Ebd., S. 160f.; vgl. allgemein zu verschiedenen Begriffen des Systems, welche noch nicht zum Gedanken der „wesensmäßigen Einheit" der Rechtsordnung gelangt sind: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, insbes. S. 19 ff. 37
42 43
Larenz, ebd., S. 161 Ebd.
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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Ergebnis der historischen Entwicklung, aber als menschliches Erzeugnis eben auch vernünftige Ordnung. Insoweit hat die Rechtsanwendung die Aufgabe, „die einzelne Gesetzesnorm aus ihrer empirischen Vereinzelung zu befreien, sie durch Rückführung auf ein höheres Prinzip oder einen allgemeinen Begriff gleichsam zu entstofflichen und das „Positive" so zu vergeistigen" 44 . Auf der Ebene des inneren Systems reproduziert sich aber die Schwierigkeit, welche schon auf der begrifflichen Ebene des äußeren Systems festgestellt wurde 45 . Larenz will das System der Rechtsprinzipien nicht zu einer überschaubaren Anzahl von Axiomen reduziert wissen und steht deswegen vor der Frage, wie die Prinzipien so gegeneinander profiliert werden können, daß entscheidbar ist, welche in einem konkreten Fall anwendbar sind. In seiner Konzeption des inneren Rechtssystems drückt sich dies als Spannung zwischen den konstanten allgemeinen Wertgesichtspunkten und den wandlungsfähigen Wertentscheidungen zur Konkretisierung der Prinzipien aus 46 . Man kann einen Fall nämlich erst dann mit Hilfe von allgemeinen Rechtsprinzipien lösen, wenn man neben der Auswahl der Prinzipien auch die Frage der Gewichtung im Einzelfall begründet. Insoweit genügt allein die Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien nicht, sondern es bedarf einer Instanz, welche sie so gegeneinander abgrenzbar macht, daß Wertungsdivergenzen im konkreten Einzelfall überwunden werden können. Auch Larenz sieht, daß mit der Herausarbeitung der Wertbezogenheit juristischer Erkenntnisse und dem Verweis auf Rechtsprinzipien allein noch kein sicheres Fundament für die Rechtserkenntnis erreicht ist. Deswegen hebt er an der die Jurisprudenz kennzeichnenden Textarbeit eine weitere, über die Wertbezogenheit hinausgehende Komponente hervor: „ I n einer Sprache wird immer über etwas gesprochen; Verständigung durch das Medium der Sprache ist Verständigung über eine Sache, die „zur Sprache gebracht" wird. Die Sache, von der in der normativen Sprache der Jurisprudenz gesprochen wird, ist „die Sache Recht". (...) Das schließt ein den Sinnbezug auf den Rechtsgedanken selbst (,..)" 4 7 . Hinter der Flüchtigkeit textueller Bedeutungen scheint jetzt ein stabiler Referent auf: die Sache Recht, welche für die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft zugänglich wird, wenn sie die Vielfalt der Rechtsprinzipien auf den zentralen Fluchtpunkt der Gerechtigkeit hin ordnet. Erst dieser Zentralpunkt verwandelt die Rechtsprinzipien in ein der Gerechtigkeit untergeordnetes System 48 . Dabei gilt auch für die Rechtsidee, daß sie zwar auf Auslegung in der Zeit angewiesen ist, aber als potentiell schon fertig vorgegebene Struktur eine zeitlos ideelle Geltung hat 4 9 . 44
Ebd., S. 31 und ff. das zustimmende Referat der objektiven Auslegungslehre Vgl. zur grundsätzlichen Kritik holistisch ansetzender juristischer Systemvorstellungen: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979; ders., Einheit der Rechtsordnung, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Abteilung Rechtsphilosophie, 1985 46 Vgl. Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 143 f. 47 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S.194 48 Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 33 ff. 45
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Den Text verstehen heißt danach, ihn als Text auszulöschen, heißt im wörtlichen Sinn, ihn zum Sprechen zu bringen. Der Rechtsanwender muß das Gesetzbuch durch seine Auslegungstätigkeit lebendig machen und in der Bewegung seines Verstehens die Prinzipien hervorbringen, welche das Recht als sinnvolle Ordnung des menschlichen Zusammenlebens konstituieren. Diese Lektürepraxis, die den „Geist" vom Buchstaben ablöst und den Text auf seinen dahinterliegenden Sinn interpretiert, erhebt aber das Lesen nicht zur „freien Operation" im Sinne der Romantik 5 0 , sondern soll zu objektiven, dem Rechtsdenken vorgegebenen Prinzipien führen. Zwar betont Larenz immer wieder den schöpferischen Charakter der Rechtserkenntnis und die Offenheit des Systems der Rechtsprinzipien 51 . Aber der „schöpferische" Charakter erklärt sich für ihn lediglich daraus, daß das Recht als „objektivierter Geist" nicht unabhängig vom Verstehensprozeß existiert 52 . Rechtsanwendung hat demnach gerade keine gegenstandskonstitutive Komponente, sondern reduziert sich auf den historischen Vollzug „potentiell" schon festgelegter Strukturen. Die „Neuschöpfung" liegt nur im reinen Akt des Aussprechens als Aktualisierung; inhaltlich ist das Aussprechen festgelegt durch den vorgegebenen Rechtsgedanken, welchen es nur entfaltet. Insoweit bleibt, wie Bloch gegen Hegel bemerkt, jeder scheinbar neue Schritt der Rechtsentwicklung determiniert durch einen „Prozeßwalzer a priori" 5 3 und ist der Abschluß des Systems nur zeitlich aufgeschoben bis zur vollen Entfaltung des Rechtsbewußtseins. Es ist deshalb konsequent, wenn Larenz feststellt, daß die Rechtsprinzipien von der Rechtsprechung nicht erfunden, sondern gefunden werden. In einem „Kreislauf zwischen Problementdeckung, Prinzipienbildung und Systemverfestigung" 54 entfaltet sie nur die Prinzipien, welche im „Geist" des Gesetzestextes schon immer enthalten waren. Die Sinneinheit der Rechtsordnung als perspektivische Zusammenfügung isolierter Texte unter dem Gedanken der Gerechtigkeit erweist sich damit gleichzeitig als Bedingung und Ziel jeder Rechtserkenntnis: Das richtige Verstehen einzelner juristischer Texte bedarf eines Vorgriffs auf den Sinnzusammenhang der Rechtsordnung, und dieser garantiert in einer Bewe49 Ebd., S. 174ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 467ff. 50 Vgl. dazu Novalis, Schriften, hrsg. von Kluckhohn/Samuel, 1981, Bd. 2, S. 609 51 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 467 ff. und öfter sowie ders., Richtiges Recht, 1979, S. 183 ff. 52 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S.387f.; vgl. auch ders., Richtiges Recht, 1979, S.174ff. 53 Bloch, Subjekt — Objekt. Erläuterungen zu Hegel, GA Bd. 8, S. 135; vgl. zu einem Begriff des offenen Systems, der nicht schon das Omega ins Alpha einschachtelt: ebd., S. 473 ff. 54 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 161. Larenz nimmt hier die Position von Esser auf. Vgl. zu den Unterschieden in der Einschätzung von Dogmatik und der Leistung der Rechtsprechung zwischen Esser und Larenz: Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, insbes. S. 119 ff., 125 ff.
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gung, welche Larenz als hermeneutische Spirale 55 beschreibt, die Stabilität der Einzelbedeutungen. Zu diesem Zweck wird die hermeneutische Spirale allerdings mit inhaltlichen rechtsphilosophischen Theoremen aufgeladen. Der Begriff einer objektiv vorgegebenen Gerechtigkeit läßt sich nicht mit der hermeneutischen Kategorie der Totalität allein begründen, weil sich die Unterscheidung gerecht/ungerecht schon innerhalb der Sphäre des rechtlichen Sinns bewegt 56 . Tatsächlich ist die zur Gerechtigkeit führende Bewegung nicht von der Hermeneutik her bestimmt, sondern vom Festhalten an der positivistischen Frage nach der einen und richtigen Bedeutung. Nur unter Voraussetzung der Gerechtigkeit als außertextuellem Organisationszentrum der semantischen Oppositionen kann Larenz die juristische Tätigkeit bestimmen als „Ausbreitung und Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes. Durch die Auslegung wird dieser Sinn „zur Sprache gebracht", d.h. er wird mit anderen Worten deutlicher und genauer ausgesagt und mitteilbar gemacht. Dabei ist für den Vorgang der Auslegung bezeichnend, daß der Ausleger nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen"57. Nur in der Fragestellung liegt hier ein subjektiver Anteil: „Der Text (...) antwortet nur dem, der ihn richtig befragt" 58 . Eigentliche Führungsgröße der Entscheidung bleibt der sprechende Text. In der den Wortlaut der Norm mit seinem authentischen Sinn erfüllenden Auslegung wird die vorgegebene Wahrheit des Textes sich selbst gegenwärtig. Der Mund des Richters ist nur Organ für die sich in seinem Sprechen vollziehende Selbstaffektion der Wahrheit. Beim Prozeß der Auslegung erweitert sich gleichsam „hinter dem Rücken" 5 9 des Handelnden das Gesetz über den Sinnzusammenhang und die Gerechtigkeitsidee zum Recht, das sich selber spricht. Die den Text vergeistigende Auslegung öffnet damit den isolierten Normtext hin zu der Idee eines der Rechtskultur teleologisch aufgegebenen idealen Gesetzbuches. Als geschlossene Kodifikation, welche die verschiedenen Normen mittels einer Systematik zur Einheit des Korpus zusammenzwingt, war das Gesetzbuch dem Positivismus sicherer Garant einer die widerspruchsvollen Strebungen vereinheitlichenden Totalität des gesellschaftlichen Handelns 60 . Der 55
Larenz, ebd., S. 198 Text und Fußnote 54; vgl. zur Hermeneutik-Auffassung von Larenz, der sowohl Elemente der klassischen Hermeneutik Bettis aufnimmt als auch Gadamer rezipiert: Frommel, ebd., S. 89. Näher zum Begriff Vorverständnis S. 86ff, Applikation S. 101 ff. 56 Vgl. dazu U.Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984, S. 49ff., 54f. 57 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 299 58 Ebd. 59 Ebd., S. 300. Vgl. auch S. 203 ff. 60 Vgl. zur positivistischen Herkunft holistischer Einheitsvorstellungen in der Jurisprudenz: F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 92 und öfter
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C. Theorie der Rechtsanwendung
Einbruch der Zeit in die in sich ruhende Kodifikation hat diese Funktion bedroht. Für Larenz bleibt uns aber die Idee des Gesetzbuches teleologisch aufgegeben als Idee einer unendlichen Totalität von Rechtstexten, welche zur Totalität dadurch werden, daß die schon vor ihnen konstituierte Totalität des inneren Rechtssystems jede Einschreibung überwacht und als ideale Größe der Rechtsidee von der konkreten Einschreibung unabhängig ist 6 1 . Tatsächlich kann aber die von Larenz als Gerechtigkeit postulierte ideale Größe die Totalität des Textes auch perspektivisch nicht garantieren. Schon bei der Diskussion der sog. Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde deutlich, daß das Ganze der Rechtsordnung nicht technisch handhabbar ist. Diese grundlegende Schwierigkeit wird auch in den theoretischen Reflexionen von Larenz nicht überwunden. Er will die Verfügbarkeit der Rechtsordnung als Sinnganzes dadurch erreichen, daß er das Ganze auf ein Zentrum hin reduziert: die Gerechtigkeit bzw. Rechtsidee. Dieses Zentrum garantiert die Kohärenz des Systems und erlaubt die Auslegung und Anwendung seiner Elemente nur im Innern einer Formtotalität als gerechte Lösung des Streitfalls 62 . Damit gelangen wir zum strukturellen Grundproblem der Argumentation: Das Zentrum einer Struktur ist der Punkt, an dem eine Ersetzung oder ein Austausch der Elemente untersagt ist, weil von diesem Punkt aus die gesamten Austauschbeziehungen des Systems reguliert werden sollen. Das Zentrum muß sich also, wenn es das System beherrschen will, dem Spiel seiner Elemente entziehen. Einerseits muß das Zentrum also außerhalb der Totalität des juristischen Diskurses liegen, andererseits muß es aber für den Richter als Anforderung und Maßstab verfügbar sein. Beide Anforderungen lassen sich nicht gleichzeitig erfüllen. Jedes Aussprechen und Bestimmen der Gerechtigkeit substituiert die reine Bedeutung durch eine Kette von Zeichen, so daß das Zentrum nacheinander verschiedene Namen und Formen erhält. Der vorgebliche Mittelpunkt wird damit genau dem Spiel der Ersetzung unterworfen, das er doch als reiner und mit sich selbst identischer Punkt kontrollieren sollte 63 . Der Versuch von Larenz, die Rechtsanwendung mittels einer durch rechtsinhaltliche Wertvorstellungen aufgeladenen Kategorie der Totalität zu kontrollieren, scheitert daher an den strukturellen Prämissen der eigenen Verstehens- bzw. Sprachtheorie. Der Rechtsarbeiter ist bei der Textinterpretation unlösbar ins Sprachgeschehen verstrickt, so daß jede Auslegung in letzter Instanz hypothetisch bleibt. Die Theorie von Larenz kann ihr sinnstiftendes Zentrum nicht 61
Vgl. zum Gedanken des Buches und seiner logozentrischen Implikationen: Derrida, Grammatologie, 1983, S. 35 und öfter 62 Vgl. zu den hier angesprochenen strukturellen Problemen: Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, 1976, S. 422 ff., 422 f. 63 Vgl. zum Ganzen auch ausführlich: Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 47 ff.
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3. Rechtsinhaltliche Grenze
garantieren u n d damit auch nicht den objektiven Sinn als I n h a l t der Gesetzesbindung. 3.2.2 Der , fundamentalphilosophische' Begriff der Gerechtigkeit an den normativen Prämissen seiner Sprachtheorie
scheitert
M i t neueren Ansätzen vollzieht sich auch i n der Diskussion über die Gerechtigkeit eine sprachphilosophische W e n d e 6 4 . D i e m i t rechtsinhaltlichen Erwägungen angereicherte hermeneutische Kategorie der T o t a l i t ä t 6 5 reicht zur Legitimation einer objektiven Gerechtigkeit nicht mehr aus. Diese Aufgabe soll n u n die Sprache übernehmen. D i e Erfahrungen m i t einer „juristischen Wende" der Sprachphilosophie, welche sowohl bei der Lehre v o m Rechtsbegriff als auch i n der juristischen Methodendiskussion zu beobachten war, lassen hier allerdings Vorsicht angeraten sein. A u c h i n der Gerechtigkeitsdiskussion könnte sich die versprochene Wende auf eine Instrumentalisierung der Sprache zur Befriedigung externer Legitimationszwänge beschränken. Das sprachtheoretische Fundament eines Gerechtigkeitsbegriffs w i r d i n besonderer Weise v o n Otfried Höffe reflektiert. I m Sinne einer politischen Fundamentalphilosophie 6 6 w i l l er die Gerechtigkeit zum Grundbegriff einer 64
Vgl. dazu Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975; Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität, in: Edelstein/ Nunner-Winkler (Hrsg.), Bestimmung der Moralität, 1986, S. 56ff.; Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987 65 Vgl. zur Kritik der hermeneutischen Kategorie der Totalität: Derrida, Guter Wille zur Macht (I), in: Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, 1984, S. 56 ff., 57; ders., Guter Wille zur Macht (II), in: ebd., S.62ff., 74ff. Entgegnung dazu: Gadamer, Und dennoch: Macht des guten Willens, in: ebd., S. 59ff. 66
Vgl. dazu Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 28 ff. Die Gerechtigkeit soll zum Grundbegriff einer neuen Staatsethik erhoben werden. Daraus ergibt sich eine „politische Fundamentalphilosophie", deren Gegenstand „das Letzte" ist. Gesucht wird eine Letztbegründung im schwachen Sinne, die das Unstrittige voraussetzt und das Strittige begründet. Allerdings ist schon der Ansatz einer politischen Fundamentalphilosophie umstritten, so daß eigentlich der Streit schon hier ansetzen müßte. Die Art und Weise, mit der Höffe seine politische Fundamentalphilosophie auf „Unstrittiges" basiert, wird dabei schon deutlich in der Auseinandersetzung mit dem grundlegenden liberalen Einwand, daß die politische Errungenschaft der Demokratie gerade in der Indifferenz gegen letzte Fragen liege. Aus der Sicht der liberalen Theoretiker kann man über vorletzte Fragen eher streiten, als über letzte Fragen, die kaum kompromißfahig sind. Höffe antwortet auf diesen Einwand gegen eine politische Fundamentalphilosophie mit dem Vorwurf, es werde übersehen, „daß auch die liberale Demokratie von einem Einverständnis über letzte Dinge lebt. Sie setzt eine positive Antwort auf die vom Anarchismus aufgeworfene Frage voraus, ob ein rechts- und staatsförmiges Zusammenleben überhaupt legitim ist" (Höffe, ebd., S. 29). Der weltanschaulich neutrale Staat setzt aber nicht den Anarchisten als transzendentalen Staatsfeind voraus. Er kann vielmehr im Rahmen der Meinungs-, Weltanschauungs- und Wissenschaftsfreiheit anarchistische Positionen durchaus zulassen. Seine Legitimität ist nicht durch den Ausschluß einer theoretischen Position definiert, sondern sie ist verfassungsrechtlich festgelegt und verweist letztlich auf den praktisch-politischen Willen des verfassungsgebenden Souveräns. Umgekehrt ist bei der von Höffe aufgeworfenen Legitimitätsfrage die menschliche Freiheit vorausgesetzt (sonst wäre Zwang selbstver-
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C. Theorie der Rechtsanwendung
neuen Staatsethik erheben und deren Inhalt durch die normative Wendung einer deskriptiven Semantik des Sprechens über Gerechtigkeit gewinnen. Der semantische Ansatz führt zu einer neuen Sichtweise der klassischen Diskussion über den Naturzustand. Diese Diskussion muß als semantisches Experiment 67 angesehen werden. Der Versuch, sich einen anderen Gesellschaftszustand ohne Rechtszwang vorzustellen, macht durch diese experimentell gewonnene Alternative die volle Tragweite des Legitimitätsproblems für das Recht erst deutlich. Das mit Hilfe der Sprache aufgebaute Experimentierfeld begreift Höffe als „radikale Dekonstruktion von Recht und Staat" 68 . M i t der Verwendung dieses Kunstworts wird eine interessante Querverbindung geknüpft. Dekonstruktion ist in der neueren Sprachphilosophie der Hinweis auf eine „Methode" 6 9 oder eine „Strategie" 70 , den zentralen Signifikanten eines Textes so in den Semantisierungsvorgang zurückzunehmen, daß die scheinbare Geschlossenheit des Textsystems aufgesprengt wird. Dabei wird die Kraft sprachlicher Differenzbildung in Anspruch genommen, welche es erlaubt, jeden Ausdruck in Anführungszeichen zu setzen, neu zu kontextualisieren, oder gegen eine andere Signifikantenkette einzutauschen. Diese sprachliche Möglichkeit wird offensichtlich nicht nur vom naturrechtlichen Experimentieren mit dem „Urzustand" in Anspruch genommen, sondern auch jede bestehende Rechtsordnung bezieht sich etwa mit der Unterscheidung von rechtmäßigem/rechtswidrigem Handeln, von legitimer/nichtlegitimer Herrschaft auf die différentielle Kraft der Semantik. Trotz des positivistischen Versuchs, diese Differenzen hinter einer rhetorischen Fassade einzufrieren, kann sich keine Rechtordnung ihrer Wirkung ganz entziehen. M i t der Möglichkeit zu Distanz und Anderssein in der Sprachlichkeit des Rechts ist die Legitimationsperspektive als permanente immer schon vorausgesetzt. Insoweit ist zunächst der methodische Ansatz Höffes, die Legitimationsdebatte in semantischen Erwägungen abzustützen, durchaus einleuchtend.
ständlich). Diese fordert aber eine offene oder revidierbare Ordnung und verhindert die Festlegung auf letzte Fragen zugunsten des Pluralismus. Gerade auch das Grundrechtssystem schließt es aus, daß man an die Stelle der demokratischen Frage nach den Bedingungen der Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen und der Möglichkeit einer immer wieder veränderbaren Ordnung letzte Gründe setzt, die den politischen Willen des Souveräns a priori einschließen. 67 Vgl. zum Naturzustand als Experiment: ebd., S. 291 ff. Höffe will vom Gedanken des Naturzustands die Handlungsfreiheit übernehmen und aus unvermeidlichen Freiheitskonflikten die Notwendigkeit einer rechtlichen Zwangsordnung begründen. Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit Hobbes, S. 307ff. 68 Vgl. ebd., S. 342 69 Vgl. zum „Begriff" Dekonstruktion bei Derrida: Werner, Metaphysik, Zeichen, mimesis, Kastration. Möglichkeiten und Grenzen begrifflichen Philosophieverständnisses nach J. Derrida, 1985, S. 102 ff. Vor einer allgemeinen Beschreibung der Dekonstruktion als Methode warnt H.Kimmerle, Derrida, 1988, S. 15 70 Zum „Begriff Strategie bei Derrida vgl. Werner, ebd., S. 117ff.
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Aber, und damit beginnt die Frage, welche an Höffes eigene Position zu stellen ist, die Kraft sprachlicher Differenzen sorgt auch dafür, daß die Legitimationsfrage nie endgültig, nie fundamentalphilosophisch gelöst werden kann. Es ist deshalb zu fragen, inwieweit eine fundamentalphilosophische Legitimationsstrategie in semantischen Erwägungen abgestützt werden kann, ohne die damit ins Spiel gebrachten Differenzen wieder künstlich einzufrieren. Höffe beschreibt sein Herangehen an das Gerechtigkeitsproblem folgendermaßen: „Die Begründung kann man eine semantische Analyse in legitimatorischer Absicht nennen. Sie greift nämlich die Elemente der deskriptiven Semantik auf und prüft, inwieweit mit ihnen das Legitimationsbedürfnis der Zwangsbefugnis erfüllt werden kann" 7 1 . Auf diesem Wege soll ein Begriff distributiver Gerechtigkeit erreicht werden, der im Unterschied zum bloß kollektiven Vorteil des Utilitarismus darauf basiert, daß seine Vorteile jedem Gesellschaftsmitglied zugute kommen 72 . Dieser Gerechtigkeitsbegriff legitimiert nicht nur die rechtliche Zwangsordnung, sondern vervollständigt zugleich die positivistische Sicht der Rechtsordnung, welche weithin ohne dieses Moment auskommen wollte 7 3 . Die einer deskriptiven Semantik aufgebürdete Last ist also beträchtlich. Die Inspiration zu seinem methodischen Ansatz als deskriptive Semantik holt sich Höffe bei Rawls. Die Auseinandersetzung mit dessen Position macht Höffes eigene Sprachtheorie deutlich: „Natürlich ist der Gegenstand der Rawlsschen Theorie, die Gerechtigkeit, ein normatives Phänomen, und bei normativen Phänomenen sieht eine empirische Theorie etwas anders als bei Naturgegenständen aus. Aber auch ein außermoralischer Gegenstand wie eine natürliche Sprache ist ein normatives Phänomen (...). Eine wissenschaftliche Grammatik (...) ist ein Beispiel für eine praktische Wissenschaft, die — in Grenzen, gewiß — ihren Gegenstand, hier: das sprachliche Verhalten, korrigiert. Weil empirische Sprachtheorien eine gewisse normative Funktion erfüllen, sieht Rawls zu Recht in ihnen eine Analogie zu seiner Gerechtigkeitstheorie (A Theory, § 9). Wie ein Sprachwissenschaftler das grammatisch richtige Sprachverhalten kompetenter Sprecher in einen kohärenten Zusammenhang bringen und mit möglichst wenigen Grundsätzen beschreiben will, so sucht Rawls die wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile eines kompetenten Moralbeurteilers in ein zusammenhängendes und widerspruchsfreies System zu bringen (,..)." 7 4 . Damit sind alle sprachtheoretischen Voraussetzungen benannt, die als undiskutierte Annahmen den methodischen Ansatz Höffes tragen. U m die strategischen Entscheidungen herauszuarbeiten, die diesem Sprachbegriff zugrundliegen, genügt es, an den 71
Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 69 Vgl. zur Kritik am Utilitarismus: ebd., S. 74ff. Vgl. auch ders., Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus, in: ders., Ethik und Politik, 1979, S. 120ff. 73 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus: Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, Kap. 5, insbes. S. 121 ff. 74 Ebd., S. 46f. 72
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C. Theorie der Rechtsanendung
entsprechenden Gelenkstellen die fehlenden, weil ausgeschlossenen Oppositionen hinzuzufügen. Zunächst wird gesagt, Sprache sei ein normatives Phänomen. Selbst wenn man einen harten, im Kontext des Strukturalismus entwickelten Begriff der Sprachnorm zugrundelegt, ist niemals die Sprache selbst normativ, sondern nur einzelne oder Gruppen von Sprechern, welche aus den systematischen Möglichkeiten bestimmte auswählen und sanktionieren 75 . Die Vorentscheidung zugunsten von normativen Implikationen der Sprachtheorie wird noch deutlicher bei der Funktionsbestimmung von Grammatik. Ihre Aufgabe soll sein, sprachliches Verhalten zu korrigieren 76 . Die Grammatik wird damit sprachsystembezogen statt sprecherbezogen definiert. Von einer zum Sprachstandard erhobenen subjektiven Sprachauffassung her sollen Varietäten oder sogar Innovationen so korrigiert werden, daß das als Standard definierte Verhalten konserviert wird. Die Aufgabe einer Sprachwissenschaft wird als generalisierend statt als individualisierend verstanden, und ihr Ziel liegt statt in Sprachnormenkritik in einer Kodifikation, die das richtige Sprechen eines kompetenten Sprechers in ein kohärentes System bringt 7 7 . Diese normative Sprachtheorie vergröbert selbst noch den harten sprachwissenschaftlichen Strukturalismus. Nicht einmal dessen Vertreter wollten in dem von Höffe hier beanspruchten Sinn Gesetzbücher für das richtige Sprechen schreiben 78. Erst recht gilt aber für die neuere Sprachtheorie seit der pragmatischen Wende, daß sie „die notwendige Pluralität im tatsächlichen Sprachgebrauch nicht nur berücksichtigt, sondern zum Zentrum der Sache macht" 7 9 . Die weittragenden normativen Ansprüche Höffes lassen sich damit sprachanaly75 Vgl. zum Begriff der Sprachnorm: Coseriu, System, Norm und Rede, in: ders., Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft, 1975, S. 11 ff.; Gloy, Sprachnormen I. Linguistische und soziologische Analysen, 1975; Presch/ders. (Hrsg.), Sprachnormen II. Theoretische Begründung — außerschulische Sprachnormenpraxis, 1976; Gloy/Presch (Hrsg.), Sprachnormen III. Kommunikationsorientierte Linguistik — Sprachdidaktik, 1976; Kolde, Sprachnormen und erfolgreiches Sprachhandeln, in: Z G L 1975, S. 149ff.; Steger, Sprachverhalten, Sprachsystem, Sprachnorm, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1970, S. 11 ff. 76 Vgl. relativierend zur normativen Funktion der Grammatik: Quirk, Die Linguistik, ihre Anwendung und der Mensch, in: Minnis (Hrsg.), Perspektiven der Linguistik, 1974, S. 341 ff., 342; grundsätzliche Kritik bei Maas, Kann man Sprache lehren, 1979, S. 259ff. 77 Vgl. zur Gegenüberstellung von Kategorien einer „Sprachkultur von oben" und einer „Sprachkultivierung durch Sprachkritik": Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, 1984, S. 7 ff., 14 78 Vgl. zur Grammatikographie, ihrem Stellenwert und ihrer Reichweite: Cherubim, Grammatikographie, in: Althaus/ Henne/Wiegand (Hrsg.), Lexikon der Germanistischen Linguistik, Bd. IV, S. 768 ff. m.w.N.; Maas, Zu dem Begriff von grammatischen Kategorien, der für den muttersprachlichen Unterricht benötigt wird, in: Linguistische Berichte 37, 1975, S. 68 ff. 79
Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, 1984, S. 7ff., 15
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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tisch gerade nicht einlösen. Sie machen höchstens seine eigene Vorentscheidung deutlich, welche dahin geht, schon auf der rein methodischen Ebene zu verhindern, daß die Vielfalt praktischer Gerechtigkeitsvorstellungen im Spiel semantischer Differenzen zum Ausdruck kommen kann. Die eigentliche Durchführung der semantischen Analyse kann die methodischen Reduktionen nur noch bestätigen oder höchstens verfeinern. Höffe beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen: „ U m einen solchen Begriff (der Gerechtigkeit, R.C.) zu bestimmen, kann man zunächst einmal an die umlaufenden Meinungen anknüpfen. Dieses im weiteren Sinne empirische Vorgehen sieht sich jedoch der Schwierigkeit gegenüber, daß die Meinungen über das,was gerecht und ungerecht ist, weit auseinanderlaufen. Man streitet sich nicht etwa bloß über die Beurteilungen von Einzelfällen oder über die Regeln und Regelsysteme der Einzelfallbeurteilung. Selbst die Grundmaßstäbe sind kontrovers" 80 . In dieser Aussage ist als Ansatzpunkt der Analyse die umlaufende Meinung genannt. Gleichzeitig ist aber auch die grundlegende Schwierigkeit eines solchen Ansatzes erwähnt, die in der Heterogenität der umlaufenden Meinungen besteht. Allerdings werden zwei Strategien zur Nivellierung von Heterogenität vorgeschlagen 81: Zunächst sollen in bezug auf den Gebrauch des Prädikats gerecht/ungerecht die unstrittigen Fragen von den strittigen unterschieden werden. Diese Unterscheidung läßt sich jedoch in einer vorgeblich deskriptiven Semantik ohne erkennbaren Bezug zu wirklichen Sprachspielen kaum treffen. Dann sollen die voreilig gebildeten Gerechtigkeitsurteile von den wohlüberlegten getrennt werden. Dieser nicht näher begründete Auswahlgesichtspunkt beschränkt die Analyse wohl auf einen Höffe besonders ansprechenden Teil der veröffentlichten Meinung. Der Teil der veröffentlichten Meinung, welcher diese doppelte Selektion überstanden hat, gilt dann als „moral common sense" und findet sich in der vorgeschlagenen Gerechtigkeitskonzeption aufgehoben 82. Aber ist die Heterogenität der auf die Gerechtigkeit bezogenen Urteile damit wirklich erledigt? Zur näheren Bestimmung seines Gerechtigkeitsbegriffs stellt Höffe eine Nutzen-Kosten-Bilanz auf, worin er die sich aus dem Rechtszwang einer bestimmten Rechtsordnung ergebenden Vor- und Nachteile für die Freiheit der ihr Unterworfenen gegeneinander aufrechnet. U m die Heterogenität der zu berücksichtigenden Faktoren auszuschließen, will er nicht interpersonalen Nutzen oder das Wohl der Betroffenen verrechnen, sondern nur Freiheitssphären: „Eine (...) freiheitsimmanente Legitimationsstrategie (...) überlegt, ob es beim sozialen Zwang außer dem Freiheitsverlust nicht auch einen Freiheitsgewinn gibt, und würde bei einer positiven Freiheitsbilanz, also einem Überge80 81 82
Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 41 Vgl. ebd. und ff. Ebd., S. 87
12 Christensen
178
C. Theorie der Rechtsanwendung
wicht des Freiheitsgewinns gegenüber dem Freiheitsverlust, den sozialen Zwang als legitim, bei einer negativen Bilanz dagegen als illegitim ausweisen" 83 . Aber auch mit diesen Verfahren ist die Heterogenität der Verrechnung nicht ganz vermieden. Nicht nur das Wohl, sondern auch die Einschätzung von Freiheitsbereichen ist nicht interpersonal zu verrechnen. Dabei kann es ebenso viel Streit und verschiedene Meinungen geben. Doch dafür sind im Rahmen von Höffes Konzeption weitere Vorkehrungen getroffen. Die Auseinandersetzung mit der Position von Hart macht diese deutlich. Kritisiert wird an Hart, daß er die „freie Anerkennung" als Autorisierung der Rechtsmacht empirisch auffasse. Eine empirisch-psychologische Anerkennung reicht aber aus der Sicht von Höffe für die Legitimation rechtlicher Zwangsbefugnisse nicht aus. So könnte etwa die faktische Zustimmung ausbleiben, „weil man die Vorteile allzu selbstverständlich in Anspruch nimmt, ihren Wert daher unterschätzt, den Nachteil dagegen weit übersteigert. Kurz: ein rein empirischpsychologischer Begriff der Anerkennung bzw. des Wollens ist teils zu weit, teils zu eng, kann also die fehlende Definitionslücke nicht schließen" 84 . Diese Ablehnung der faktischen Zustimmung als Legitimationsgrund rechtlichen Zwangs macht auf die Schwierigkeiten von Höffes eigenem Versuch aufmerksam, den Rechtszwang durch eine positive Freiheitsbilanz zu legitimieren. Die Beurteilung dieser Bilanz kann er nicht den wirklich Betroffenen überlassen, weil sonst die Heterogenität inkompatibler Gesichtspunkte in das abstrakte Modell einer Verrechnung homogener Freiheitsgesichtspunkte einbrechen würde. U m dieses Schema zu retten, muß er die Anerkennung idealisieren und vom wirklichen Willen der von Herrschaft betroffenen Menschen abstrahieren: „ M i t dem Gerechtigkeitsprinzip des distributiven Vorteils wird die Zustimmungsfahigkeit eines jeden zum Legitimationsprinzip erhoben, und jenes Prinzip erfahrt eine Rechtfertigung, das in der deutschen Diskussion vorherrscht: das von der konstruktivistischen Ethik (z.B. Schwemmer, 1971, Kap. 4) und der Diskursethik (Apel, 1973, II, S. 58 ff., Habermas, 1983) vertretene Kriterium der universalen Konsens- oder Zustimmungs/äA/gteY" 85 . Mit dem Erfordernis der wirklichen Zustimmung wird das Problem der Heterogenität der Gerechtigkeitsurteile ausgeschlossen. Wenn man auf eine ideale oder potentielle Zustimmungsfahigkeit abstellt, läßt sich natürlich in der Theorie alles verrechnen. Es ergibt sich damit, daß eine semantische Abstützung des Gerechtigkeitsdiskurses nicht in eine „fundamentalphilosophische" Lösung münden kann. Nur weil die Sprache durch eine noch den Strukturalismus vergröbernde Sprach83
Ebd., S. 73 Ebd., S. 164 85 Ebd., S. 84f. Vgl. aber auch zur Abgrenzung von der Diskursethik: ders., Sind Moral- und Rechtsbegründung kommunikations- (konsens-, diskurs-)theoretisch möglich? Einige Thesen, in: ders., Ethik und Politik, 1979, S. 243 ff.; ders., Anhang: Kritische Überlegungen zur Konsensustheorie der Wahrheit (Habermas), in: ebd., S. 251 ff. 84
3. Rechtsinhaltliche Grenze
179
theorie normativ aufgeladen wurde, läßt sich entsprechend den naturrechtlichen Projektionen der Anschein erwecken, dieser der Sprache unterschobene Begriff distributiver Gerechtigkeit wäre aus der Semantik abgeleitet. Tatsächlich wird diese Gerechtigkeitsperspektive aber etabliert durch eine methodische und inhaltliche Ausgrenzung der Kraft semantischer Differenzierung und der sprachlichen Vielfalt der Gerechtigkeitsbeurteilung. 3.2.3 Die Gerechtigkeit fungiert
als rhetorische Fassade des Dezisionismus
Die herkömmliche Rechtsanwendungslehre wollte den Richter als Mund des sprechenden Textes begreifen. Der Logik dieser Metapher zufolge sollte er einen Streit dadurch beenden, daß er die in der objektiven Bedeutung des Textes vorgegebene Entscheidung des Falles bekanntgibt 86 . Die Rollen sind hier klar verteilt: Einmal der Richter als unselbständiges Vollzugsorgan, zum anderen der durch seinen Mund sprechende Text als eigentliche Führungsgröße der Entscheidung 87 . Wenn das Entscheiden kein praktisches Handeln ist, sondern nur der Schlußpunkt eines kognitiven Prozesses, dann müssen alle tragenden Determinanten auf Seiten des Textes liegen. Der Text beherrscht den Bereich seiner Deutung und Anwendung dadurch, daß er dem Rechtsanwender, die einzige richtige Entscheidung des Falles als kognitiv zu erschließende Struktur vorgibt. Die schlechte Unendlichkeit der Interpretation wird damit auf ein Gravitationszentrum hingeordnet, dessen Platz nacheinander vom Rechtsbegriff, der juristischen Methodik und schließlich der Gerechtigkeitsidee besetzt wurde. Das Gravitationszentrum sollte gegen die Vielfalt seiner Auslegungen die semantische Identität des Textes garantieren und das Gesetz so zu einem Ort stabiler Sprache machen. Das Modell einer auf kognitive Strukturen reduzierten Rechtsfindung hat aber auf der Ebene des Textes zu anspruchsvolle Prämissen. Insbesondere die Annahme, daß der Text eine einzige Deutung als die richtige auszeichne oder jedenfalls bei Rückgang auf sein Sinnzentrum eine solche richtige Deutung kognitiv erschlossen werden könne, erscheint aus der Sicht der heutigen Texttheorie problematisch 88 . Für deren neuere Ansätze ist gerade die Frage nach den Grenzen der Deutbarkeit eines Textes zum zentralen Problem geworden. Der klassische Textstrukturalismus nahm noch an, daß die Paraphra86 Kurze Darstellung dieser bis in die Aufklärung zurückreichenden Konzeption bei Bockelmann, Richter und Gesetz, in: Festgabe für Smend, 1952, S. 23 ff. Die Modifikationen dieses Grundmodells im Laufe der historischen Entwicklung stellt dar: Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 25 ff.; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen, 1962, S. 52 ff. 87 Vgl. zur eigenen Rede des Richters, die zur Rede eines anderen werden soll: Broekman, Juristischer Diskurs und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 1980, S. 17ff., 22ff., 24 88 Vgl. dazu Broekman, Text als Institution, in: Rechtstheorie, Beiheft 6,1984, S. 145 ff. Allgemein zur Entwicklung der Texttheorie: Brütting, „Ecriture" und „texte". Die französische Literaturtheorie „nach dem Strukturalismus", 1976, insbes. S. 21 ff., 45 ff. 1*
180
C. Theorie der Rechtsanwendung
sen eines Textes genauso von dessen Grammatik determiniert werden, wie die Sprachäußerungen von der idealen Sprachkompetenz. M i t diesem Gedanken einer systematischen Beherrschbarkeit der Sinneffekte durch eine der Erkenntnis vorgegebene Textgrammatik brechen die neueren Ansätze. Sie setzen an seine Stelle die Vorstellung eines Textes ohne vorgegebenes Sinnzentrum, der seine Deutung nicht mehr a priori begrenzen kann 8 9 . Während also die Rechtsanwendungslehre eine objektive Sinneinheit des Textes bzw. des juristischen Diskurses voraussetzt, macht die gegenläufige Fragestellung in der neueren Texttheorie hinter der vorgeblichen Sinneinheit einen Semantisierungsvorgang 90 und hinter der scheinbaren Homogenität des juristischen Diskurses einen praktischen Sprachkampf um die Satzverknüpfungen 91 sichtbar. Diese Gegenläufigkeit von juristischen Erwartungen und sprachlichen Bedingungen macht es unmöglich, die praktische Rechtsarbeit noch länger in die Figur des Richters als Mund des sprechenden Textes einzuschreiben 92. Weder im Gesetzestext noch im juristischen Diskurs gibt es ein Zentrum reiner Bedeutung, das vom Richter lediglich entdeckt, nachvollzogen und ausgesprochen werden müßte. Trotz der theoretischen Geschlossenheit der herkömmlichen Rechtsanwendungslehre sind die von ihr postulierten Bindungen praktisch nicht einlösbar. Weil das Zentrum des vorgeblich stabilen Systems unbestimmt bleibt, ist seine inhaltliche Auffüllung als Fallgerechtigkeit oder letzte Richtigkeitsvorstellung der Willkür des jeweiligen Anwenders überlassen. Was als Bindung an eine vorgebene Ordnung der Gerechtigkeit auftreten möchte, ist in Wahrheit die selbstverantwortliche Setzung von Normtexten durch den Rechtsanwender, verbunden mit einem Überspielen der demokratisch legitimierten Normtexte. Das Verständnis der Gesetzesbindung im Rahmen der Rechtsanwendungslehre kann damit die verfassungsrechtlich vorgegebene Aufgabe einer Bindung richterlichen Handelns nicht einlösen. Durch den unmittelbaren Zugriff auf holistische Gerechtigkeitskonzeptionen wird praktische Rechtsarbeit nicht nur gewaltenteilenden Mechanismen entzogen, sondern durch die fehlende Zurechnung an die amtlichen Normtexte werden auch demokratische und rechtsstaatli89 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Texttheorie des klassischen Strukturalismus: Derrida, Kraft und Bedeutung, in: ders., Die Schrift und die Differenz, 1976, S. 9 ff.; ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ebd., S. 422 ff.; ders., Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52 ff. Eine ausführliche Darstellung der Kritik Derridas am klassischen Strukturalismus findet sich bei Frank, Was ist Neostrukturalismus, 1983, S. 76 ff, 88 ff. Vgl. auch Brütting, „Ecriture" und „texte". Die französische Literaturtheorie „nach dem Strukturalismus", 1976, S. 95 ff. 90
Broekman, Text als Institution, in: Rechtstheorie, Beiheft 6, 1984, S. 145 ff., 151 ff. Vgl. dazu Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 238ff. zur Verpflichtung und dem normativen Satz 92 Vgl. zur Darstellung der klassischen Auffassung vom Richter als „bouche de la loi": Belaid, Essay sur le pouvoir oréateur et normatif du juge, 1974, S.13ff. 91
3. Rechtsinhaltliche Grenze
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che Prinzipien verletzt 93 . Indem behauptet wird, die Verknüpfung von Fallerzählung und konkretem Urteil sei in der Ordnung der Gerechtigkeit schon vorgegeben, vollzieht sich hinter der rhetorischen Fassade die wirkliche Entscheidung entlang der „natürlichen Machtgefalle". Aus der von der Verfassung gewollten Bindung des Richters wird eine Ermächtigung zur freien Dezision.
93
Vgl. dazu F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 88 ff., 120ff.
D. Theorie der Praxis: Die Bindung an den Text des Gesetzes im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion In der juristischen Diskussion werden oft unterschiedliche Verständnisvarianten der Gesetzesbindung nebeneinander verwendet, ohne daß ihr Unterschied oder sogar Gegensatz ausdrücklich reflektiert würde. Bei der Untersuchung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Position zur Gesetzesbindung wurde diese Ambivalenz schon sichtbar. In der „Soraya-Entscheidung" verwendet das Gericht zur Begründung einer richterrechtlichen Kompetenz das die Gesetzesbindung sehr eng einschränkende Modell einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes1. Im selben Urteil wird aber bei der Diskussion des „Bedeutungswandels" stillschweigend das Modell einer Bindung an den Text des Gesetzes vorausgesetzt 2. Auch allgemein konnte festgestellt werden, daß die Gerichte bei ihren programmatischen Erklärungen zur Gesetzesbindung insbesondere im Kontext der Begründung von Richterrecht das Modell einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes favorisieren, während sie in der Praxis rechtsstaatlich korrekter Entscheidungen dem Modell einer methodisch vermittelten Bindung an den Text des Gesetzes zuneigen. Der Gedanke einer Rechtserzeugungsreflexion nimmt das in der Praxis wirksame Modell der Bindung an den Text des Gesetzes auf und untersucht seine prinzipiellen Voraussetzungen. Der aus der Rechtsprechungspraxis heraus entwickelte kategoriale Rahmen führt dabei zu anderen Fragen und Problemen als eine Rechtsanwendungslehre. Letztere scheitert an der Schwierigkeit, eine hinter dem Gesetz liegende Ordnung richterlichen Sprechens aufzuweisen und zu stabilisieren. Wäre ihr dies aber gelungen, so wäre im selben Akt auch das Problem der Bindung richterlichen Handelns gelöst worden. Denn diese Bindung bestünde in nichts anderem als darin, die genannte Ordnung zu erkennen und im Richterspruch zu vollziehen. Eine Rechtserzeugungsreflexion steht demgegenüber nicht vor der (unlösbaren) Schwierigkeit, einen Code zweiter Ordnung hinter dem Gesetz aufweisen zu müssen. Dafür ist aber in ihrem Rahmen das Problem einer Bindung des richterlichen Handelns zumindest auf den ersten Blick schwerer zu lösen. Denn sie kann sich zu diesem Zweck nicht auf die vorgegebene Rechtsnorm oder eine andere objektive Ordnung berufen. 1
Vgl. BVerfGE 34, 269ff., 286ff., 293 Ebd., S. 288 f. Vgl. zur Diskussion um den „Bedeutungswandel" von Normtexten und das dabei unterstellte Modell der Gesetzesbindung: Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 32 2
1. Maßstab der Rechtserzeugung
183
Der Ansatz einer Rechtserzeugungsreflexion läßt sich also nicht schon dadurch in Verlegenheit stürzen, daß man die vorgebliche Objektivität einer behaupteten Ordnung ernsthaft befragt. Jedoch muß sich dieser Ansatz eine andere Frage stellen lassen: Wie kann ein Richter, dem man die Kompetenz zur Erzeugung der Rechtsnorm einräumt, noch dem Gesetz unterworfen sein? Wenn zwischen Normtext als Textformular und Rechtsnorm als textueller Bedeutung eine Vermittlung nicht durch einen vorgegebenen „Inhalt" des Gesetzes sichergestellt ist, dann muß zunächst die Frage nach Maßstab und Struktur der Rechtserzeugung gestellt werden, bevor das Problem der Kriterien richterlicher Bindung reformuliert werden kann. 1. Maßstab der Rechtserzeugung: Woran ist schöpferische Rechtsarbeit gebunden? Aus dem Scheitern der herkömmlichen Konzeption zieht der argumentationstheoretische Ansatz die Konsequenz, das Problem der Bindung praktischer Rechtsarbeit von der Ebene semantischer Spekulation auf die Ebene der argumentativen Praxis zu verlagern. Statt nach der Erkenntnis vorgegebener textueller Bedeutung zu fragen, kommt hier der Vorgang der Entscheidung und die Aktivität des Rechtsarbeiters in den Blick. Für die Ausarbeitung dieser Perspektive bleiben allerdings gegensätzliche Möglichkeiten offen. Eine philosophisch-normative Argumentationstheorie versucht die praktische Rechtsarbeit an einen philosophisch begründeten Rationalitätsmaßstab zu binden, während eine deskriptiv-empirische Argumentationstheorie die Möglichkeit eines solchen umfassenden Rationalitätsmaßstabs in Zweifel zieht. Die gegeneinander verselbständigten Gesichtpunkte einer normativen und empirischen Argumentationstheorie müssen von einer an den Rationalitätsmaßstäben des Verfassungsrechts orientierten Analyse der Bedeutungskonstitution juristischer Texte zusammengeführt werden. 1.1 Die Diskurstheorie will die Rechtserzeugung an einen philosophisch-normativen Maßstab binden
Die Theorie des praktischen Diskurses 3 will das Problem der Konstitution eines idealen Textes, worin die Rechtsprechung eingeschrieben werden kann, auf der pragmatischen Ebene neu stellen. Sie wird deswegen zu einer Ersetzung der spezifisch juristischen Rationalitätsmaßstäbe durch ein umfassendes philoso3 Vgl. dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978; ders., Eine Theorie des praktischen Diskurses, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung, Normendurchsetzung. Materialien zur Normendiskussion, Bd. 2, 1978, S. 22 ff.; ders., Juristische Argumentation und praktische Vernunft, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1982, S. 29 ff. U m einen Bezug der juristischen Methodendiskussion zur neueren philosophischen Diskurstheorie bemüht sich auch Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 109 ff. und durchgehend.
184
. Theorie der R e c h t s e u g
phisches Rationalitätskonzept getrieben. A n die Stelle einer Bindung an die vom Gesetzgeber formulierten Normtexte tritt damit die Bindung an das „Gesetzbuch der praktischen Vernunft" 4 . 1.1.1 Das Bindungspostulat wird durch eine philosophische Wahrheitstheorie
ersetzt
Die Entwicklung dieser Position geht von der Frage aus, „ob die Jurisprudenz über Kriterien und Regeln verfügt, die es erlauben, richtige und falsche juristische Begründungen zu unterscheiden" 5. Als ein solches Kriterium kommt zunächst die Gesetzesbindung in Betracht und die von Rechtstheorie und juristischen Methodik entwickelten Regeln zu ihrer Einlösung. Bevor die Frage nach einer die praktische Rechtsarbeit übergreifenden Rationalität des praktischen Diskurses gestellt werden kann, muß sich die Diskurstheorie deswegen mit den spezifisch juristischen Rationaliätskriterien auseinandersetzen. Die Gesetzesbindung wird dabei folgendermaßen bestimmt: „Unter der Bindung der grundrechtlichen Argumentation ,durch Gesetz4 soll hier die Bindung an den Wortlaut der Grundrechtsbestimmung und den Willen des Verfassungsgebers verstanden werden. Ausdruck dieser Bindung sind vor allem die Regeln und Formen der semantischen und der genetischen Interpretation" 6 . Die Gesetzesbindung7 bezieht sich hier also auf das vom Gesetzgeber Gesagte bzw. Gewollte und wird mit Hilfe der klassischen Auslegungskanones ermittelt. Die grammatische Auslegung ist in diesem Rahmen „definitiv, wenn aufgrund einer semantischen Regel feststeht, daß a unter die Norm R fallt bzw., daß dies nicht der Fall ist" 8 . Die Feststellung der semantischen Regel soll aus der Sicht von Alexy, der sich insoweit auf den „sprachanalytischen" Ansatz von Koch/Rüßmann beruft 9 , dadurch erfolgen, daß man sich auf die eigene Sprachkompetenz, Wörterbücher oder empirische Erhebungen beruft 10 . Nur soweit sich eine semantische Regel auf diese Weise feststellen läßt, ist die Bedeutung des Gesetzestextes vorgegeben 11. Ansonsten muß diese Bedeutung
4 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 234 und öfter; ders., Theorie der Grundrechte, 1986, S. 500 5 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 498 6 Ebd., S. 501 f. 7
Vgl. zur Gesetzesbindung aus der Sicht dieser Theorie: Alexy, Teleologische Auslegung und Gesetzesbindung, in: Ermert (Hrsg.), Loccumer Protokolle. Sprache und Recht, 1980, S. 143 ff. Vgl. weiterhin die an den diskurstheoretischen Ansatz von Alexy anschließende Position von Sieckmann, Das System richterlicher Bindungen und Kontrollkompetenzen, in: Meilinghoff/ Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 39 ff. 8
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 290 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 502 10 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 290
9
1. Maßstab der Rechtserzeugung
185
auf der Ebene intersubjektiver Verständigung erst konstituiert werden. Damit wird in der juristischen Textarbeit ein Bereich der Bedeutungsermittlung von einem Bereich der Bedeutungsfestsetzung unterschieden. Die Bedeutungsermittlung garantiert die Bindung an das vom Gesetzgeber Gesagte. Bei der Bedeutungsfestsetzung, soweit sie sich nicht auf das genetische Argument berufen kann 1 2 , spricht nicht der Text selbst, sondern der Rechtsanwender mischt sich ein. Die Schwierigkeit dieser Position liegt in der Abgrenzung von Bedeutungsermittlung und Bedeutungsfestsetzung. Daß eine solche Abgrenzung nicht möglich ist, hat sich schon bei der Diskussion um die Wortlautgrenze gezeigt. Nicht erst, wie Alexy meint, für den umstrittenen Normbegriff gilt, daß „stets Streit entsteht, wenn er aus der Ruhe einer selbstverständlichen Verwendung gerissen w i r d " 1 3 , sondern eben für jeden in einem Rechtsfall umstrittenen Begriff gilt dieser Zusammenhang. Daher kann man Alexy auch nicht folgen, wenn er sagt, daß „Maß und Kraft der Bindung durch Gesetz" auf der Ebene vorgegebener semantischer Regeln liege und einfach nur deswegen selten zum Tragen komme, weil diese Regeln oft nicht trennscharf genug seien 14 . Weil die Formulierung einer semantischen Regel im Rahmen einer Rechtsentscheidung immer auch ein normierendes Element enthält 15 , kann die Gesetzesbindung allein auf dieser Ebene nie eingelöst werden. Soll die Gesetzesbindung nicht leerlaufen, bedarf eine solche Sprachnormierung vielmehr der Rechtfertigung in einer an das Rechtsstaatsgebot und andere methodenbezogene Normen 1 6 normativ rückgebundenen Argumentationskultur. Dies zeigt, daß die Anforderungen der Gesetzesbindung wesentlich komplexer sind, als Alexy es wahrhaben will. Das Bindungspostulat
11 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 502 f. Vgl. dazu weiterhin Alexy, Ermessensfehler, in: JZ 1986, S. 701 ff., 713; in diesem Sinne auch Buchwald, Zum Begriff der rationalen juristischen Begründung, in: Mellinghoff/Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 61 ff., 87 ebenfalls mit explizitem Bezug auf die Semantik Kochs 12
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 291 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 40 14 Ebd., S. 502 f. Eine differenziertere Einschätzung des semantischen Arguments und der Möglichkeit, dieses mit der Gesetzesbindung gleichzusetzen, findet sich bei Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 102ff., vgl. aber auch S. 104 15 Vgl. zum Begriff der Sprachnorm: Wimmer, Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik, in: Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 290ff., insbes. 296ff.; ders., Sprachliche Normen, in: Heringer (Hrsg.), Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 40ff.; zum normativen Element bei der Kodifizierung von Gebrauchsweisen in Wörterbüchern vgl. ders., Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, in: ebd., S. 24ff., insbes. 37f. jeweils m.w.N. Vgl. zur Aufnahme dieser Ansätze in der rechtstheoretischen Diskussion: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 374ff., insbes. 377f. 16 Vgl. zur Bedeutung des Rechtsstaatspostulats und anderer methodenbezogener Normen als Grundlage für die Strukturierung praktischer Rechtsarbeit: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, insbes. S. 49ff., 86ff., 90ff., 95ff. 13
186
. Theorie der R e c h t s e u g
reduziert sich gerade nicht auf die Erkenntnis vorgegebener semantischer Regeln 17 , sondern entfaltet sich auf der verfassungsrechtlichen Grundlage des Rechtsstaatsprinzips als Forderung, die Argumentation nach einer klaren Rangfolge so zu strukturieren 18 , daß ihr Ergebnis vorhersehbar und berechenbar wird und damit die Möglichkeit eines faktischen Konsenses eröffnet. Für Alexy hat die Gleichsetzung der Gesetzesbindung mit einer vorgegebenen Semantik des Textes aber den spezifischen Sinn, die Maßstäbe rechtsstaatlicher Rationalität in ihrer Reichweite so einzuschränken, daß er Raum gewinnt für einen philosophischen Rationalitätsmaßstab. Ein Drei-Ebenen-Modell des Rechtssystems soll dabei den Eintrittspunkt philosophischer Rationalität sichtbar machen. Der Begriff der sprachlichen Regel wird ausgehend von den Prämissen der positivistischen Rechtsnormtheorie bestimmt als definitives Gebot 1 9 . Diese Verdinglichung des Regelbegriffs führt in der Konsequenz natürlich dazu, daß bei jedem Versuch seiner Anwendung eine sog. „Offenheitslücke" 20 entsteht und so eine Ergänzung der Regeln durch Prinzipien erforderlich wird 2 1 . Die Prinzipien wiederum erfordern als Optimierungsgebote 22 eine Abwägung, welche Unbestimmtheitslücken aufweist. Diese werden geschlossen durch ein Prozedur-Modell der praktischen Vernunft 23 . Die ganze Konstruktion beruht darauf, daß man vom analogischen und sich in der Wiederholung verschiebenden Charakter der Regel 24 absieht und diese zum definitiven Gebot verdinglicht. Im Ergebnis ermöglicht dieser Regelplatonismus aber die Ersetzung einer Bindung an die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts durch einen philosophisch begründeten Maßstab: „Als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses ist (der juristische Diskurs) dadurch gekennzeichnet, daß die juristische Argumentation unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfindet, die sich kurz als Bindung an Gesetz, Präjudiz und Dogmatik kennzeichnen lassen. Diese Bindungen, die durch ein System von spezifischen Regeln und Formen des juristischen Argumentierens erfaßt werden können, führen jedoch nicht in jedem Fall zu genau einem Ergebnis. In allen halbwegs problematischen Fällen sind Wertungen erforderlich, die sich dem autoritativ vorgegebenen Material nicht zwingend entnehmen lassen. Die Rationalität des juristischen Diskurses hängt damit wesentlich davon ab, ob und in welchem Umfang diese zusätzlichen Wertungen 17 Vgl. zur rechtstheoretischen Kritik an dieser Position: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 287f. 18 Vgl. dazu noch unten Teil D 2 19 Vgl. Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, in: Rechtstheorie 1987, S. 405 ff., 407 20 Ebd., S. 41 Off. 21 Ebd., S. 412ff. 22 Ebd., S. 407 23 Ebd., S. 416ff. 24 Vgl. dazu C 2.3.3
.
t
der Rechtserzeugung
einer rationalen Kontrolle fähig sind" 2 5 . Hier ist die spezifische Verschiebung der Maßstäbe gut erkennbar. Zunächst wird die Gesetzesbindung erwähnt und ein System von Regeln und Argumentformen, die sie einlösbar machen sollen. Eine Argumentationstheorie hätte nun zu fragen, inwieweit die erwähnten Regeln und Argumentformen die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesene Funktion erfüllen, und eventuell wären auf dieser normativen Grundlage die vorgefundenen Strukturen im Hinblick auf eine klare Rangfolge weiterzuentwickeln 26 . Diese Fragen einer verfassungsrechtlich rückgebundenen empirischen Argumentationstheorie werden hier jedoch von der Feststellung verdrängt, daß der juristische Diskurs die konkrete Entscheidung nicht so weit „determinieren" kann, daß er genau ein Ergebnis auszeichnet. Nun ist ja verfassungsrechtlich auch vom Richter nicht gefordert, daß er sein Verständnis des amtlichen Normtextes als das einzig vertretbare und zeitlos richtige ausweist 27 . Es genügt, daß er bei seiner Entscheidung derjenigen konkurrierenden Interpretation den Vorzug gibt, welche dem Normtext unter den einschränkenden Bedingungen der methodenrelevanten Normen besser zugerechnet werden kann. Die Feststellung von Alexy wird daher erst dann bedeutsam, wenn man unterstellt, daß die Methode juristischer Textarbeit als vollständiges System von Verfahren formuliert werden muß, bei deren Befolgung man notwendigerweise zum richtigen Ergebnis gelangt. Nur so kann der Text durch den Mund des Richters zu seiner Wahrheit gelangen. Tatsächlich ist der juristische Diskurs nicht in der Lage, durch Stillstellung aller semantischen Differenzen das Sprechen des Richters so vollständig zu determinieren. Wenn man trotzdem an der Vorstellung des sprechenden Textes festhalten will, muß man eine andere Rationalitätsgrundlage einführen als die relative des Rechtsstaats. Das Sprechen des Richters bedarf dann eines philosophischen Vormunds zur Formung der Wahrheit. Der bloße Gesetzestext muß ersetzt werden durch das allumfassende Gesetzbuch der praktischen Vernunft und die darin enthaltenen „Grundnormen des vernünftigen Sprechens" 28. Damit werden die Probleme von der empirischen Ebene auf die philosophische Ebene verschoben. Alle Fragen, die eine empirische Argumentationstheorie unter normativer Rückbindung an das geltende Verfassungsrecht auf dem mühevollen Weg der Rechtsprechungsanalyse zu diskutieren hätte, werden damit reduziert auf die einzige Frage nach der Wahrheitsfähigkeit von Interpretationsbehauptungen 29. 25
Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 498 f. Vgl. zu diesem Ansatz einer empirischen, anhand von Rechtsprechungsanalyse ansetzenden und normativ an das Rechtsstaatspostulat rückgebundenen Argumentationstheorie: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976 27 Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an juristische Begründungstätigkeit: F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 88 ff. Zum Prinzip der einzig richtigen Entscheidung vgl. auch U. Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1979, S. 27 m.w.N. 26
28 29
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 165 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 51
. Theorie der R e c h t s e u g
1
In diesem Ergebnis trifft sich der diskurstheoretische Ansatz Alexys mit der Position von Habermas, welcher allerdings von einer differenzierteren Einschätzung der Semantik des Gesetzes ausgeht. Zwar will auch Habermas das in der juristischen Streitentscheidung steckende dezisionistische Element auflösen in einem Verfahren, worin zur Ermittlung der Wahrheit einzig der zwanglose Zwang des besseren Arguments den Ausschlag gibt 3 0 . Aber Ausgangspunkt ist dabei eine durchaus realistische Einschätzung der Steuerungskraft des Gesetzes, wonach dieses „niemals eine semantische Form und eine daraus resultierende Bestimmtheit gewinnt, die dem Richter nur eine algorithmische Anwendung übrig ließe. Die rechtsfortbildenden Konstruktionsleistungen sind mit den regelanwendenden Interpretationsleistungen, wie die philosophische Hermeneutik zeigt, immer unauflöslich verwoben" 31 . Aus dieser Einschätzung wird aber eine spezifische Folgerung abgeleitet: „Deshalb stellt sich das Problem der Verfahrensrationalität für die richterliche Entscheidungspraxis und die Rechtsdogmatik von neuem und in anderer Weise" 32 . M i t dieser Wendung stellt Habermas das Problem der Gesetzesbindung in den Kontext der Frage, wie Legitimität durch Legalität möglich wird. Eine legale Ordnung kann sich nur durch die ihr innewohnende Rationalität legitimieren, welche jedoch nicht moralfrei gedacht werden dürfe: „Legitimität verdankt eine in den Formen begründungspflichtigen positiven Rechts ausgeübte Herrschaft stets einem impliziten moralischen Gehalt der formalen Qualitäten des Rechts. Der Formalismus des Rechts darf indessen nicht zu konkretistisch an bestimmten semantischen Merkmalen festgemacht werden. Legitimierende Kraft haben vielmehr Verfahren, die Begründungsforderungen und den Weg zu ihrer argumentativen Einlösung institutionalisieren" 33 . Dabei soll dem Recht die legitimierende Kraft der Moral über den vermittelnden Gedanken der Unparteilichkeit 34 zugeführt werden, welche sowohl für die Rechtsanwendung kennzeichnend sei als auch den Kern der praktischen Vernunft bilde. Der Gedanke der Unparteilichkeit soll dann von der Habermasschen Diskurstheorie als „prozeduralistische Gerechtigkeitstheorie" 35 garantiert werden. Im Rahmen 30
Vgl. dazu Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 1987, S. 1 ff., 13. Vgl. zu der Notwendigkeit, die idealisierten Bedingungen des Diskurses durch institutionelle Vorkehrungen in hinreichender Annäherung zu erfüllen: ders., Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 53 ff., 102. Kritisch zu dem Vorgriff auf die ideale Sprechsituation wegen der „fatalen Selbstabstraktion" der Teilnehmer: Kitschelt, Moralisches Argumentieren und Sozialtheorie. Prozedurale Ethik bei John Rawls und Jürgen Habermas, in: ARSP 1980, S. 391 ff., 410f. 31
Habermas, Wie ist Legitimität..., ebd., S. 11. Zur zentralen Stellung des Rechts in der von Habermas entwickelten Theorie des kommunikativen Handelns vgl. Rink, Recht als Ausdruck moralisch-praktischer Vernunft oder als Mittel systemischer Steuerung?, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 59ff., 59 32 Habermas, ebd. 33 Ebd., S. 12 34 Ebd.
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der von der prozeduralistischen Gerechtigkeitstheorie gewährleisteten Rationalität wird das Moment der Dezision abgearbeitet 36. Wie soll diese Auflösung des dezisionistischen Moments vor sich gehen? Habermas schreibt dazu: „Das Recht selbst lizensiert und stimuliert eine Begründungsdynamik, die den Wortlaut des geltenden Rechts auf eine von diesem nicht vorhersehbare Weise auch transzendiert" 37 . Die „Begründungsdynamik" einer Rechtsentscheidung verlangt aber normative Gesichtspunkte. Diese will Habermas allerdings nicht anhand der Vorgaben des Gesetzgebers und den Instrumentarien juristischer Methodik gewinnen, sondern „aus einer Logik der moralischen Argumentation" 38 . Er nennt diese Gesichtspunkte „kommunikative Bedingungen für eine ungehemmte Begründungsdynamik" 39 . Damit überführt die angesprochene Begründungsdynamik das Problem der Gesetzesbindung in das Reich der Moral. Hier kann nun diese Aufarbeitung des dezisionistischen Moments erfolgen. Sie ergibt sich aus dem Vorrang des Kognitiven 40 , den Habermas für das prozeduralistische Gerechtigkeitskonzept seiner Diskursethik behauptet und wonach gilt: „(...), daß normative Geltungsansprüche einen kognitiven Sinn haben und wie Wahrheitsansprüche behandelt werden können (...)" 4 1 · Wenn die eigentliche Bedeutung auf der semantischen Ebene unentscheidbar wird und trotzdem an dem Ziel der Rekonstruktion des authentischen Textsinns als Wahrheit festgehalten wird, dann bedarf es der Setzung eines außertextuellen Organisationszentrums, welches die unabsehbaren Verschiebungen der Semantik kontrollierbar macht. Für die Diskurstheorie liegt dieses Organisationszentrum im Unterschied zu Larenz nicht in der Rechtsidee, sondern in der Idee eines diskursiv begründeten Konsenses42. Ausgehend von einem Vorausgesetzen Richtigkeitsanspruch soll im Diskurs eine vermittelnde Bewegung erzeugt werden, welche die Vieldeutigkeit des Textes unter eine globale Perspektive 35 Ebd. Vgl. zu dieser Konzeption von Gerechtigkeit auch Rüb, Konsensus oder Différend?, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 87ff., 91 ff. 36 Vgl. dazu auch Gondek, Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten — Zur Infrastruktur kommunikativer Rationalität, in: ebd., S. 104ff., 112 und öfter 37 Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 1987, S. Iff., 15 38 Ebd., S. 16 39 Ebd. 40 Vgl. dazu Gondek, Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten — Zur Struktur kommunikativer Rationalität, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 104ff., 109f. 41 Vgl. Habermas, Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 53 ff., 78 42 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 176f.; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 110 ff. Vgl. zur Rolle des Begriffs Konsensus in der Theorie des praktischen Diskurses: U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 73 ff., dort auch weitere Nachweise zur Diskussion
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bringt. Die diskursive Einlösung des vorausgesetzten Richtigkeitsanspruchs führt zwar nicht zu einer strengen Ordnung der semantischen Oppositionen im Sinne einer vollständigen Beseitigung der Ergebnisunsicherheit 43, aber findet im Konsens doch einen die Vieldeutigkeit umschließenden Horizontbegriff, der die Sinnkontinuität ahnen läßt und jedem so gewonnenen Ergebnis Wahrheit verbürgt. Die Vieldeutigkeit des Textes wird dadurch reduziert, daß man in der diskursiven Bewegung den Bezug zum transzendentalen Sinnzentrum der gewaltfreien Kommunikationsgemeinschaft 44 herstellt, das ebenso wie ein Magnet die Eisenspäne über einer Papierfolie alle Vieldeutigkeiten zu einem zentralen Fluchtpunkt hin ordnet. Die Theorie des praktischen Diskurses 45 wäre dann das grundlegende Webmuster, nach dem juristische Aussagen vertextet werden müssen. Es entfaltet sich in diesem Ansatz die Grundidee der idealistischen Philosophie, wonach die Wahrheit in der Erscheinung zwar zersplittert ist, aber der Textausleger das Zerstreute wieder einsammelt und so den Zentralsinn oder die Wahrheit des Textes restituiert. Interpretationsbehauptungen sind aus dieser Perspektive eine besondere Klasse von Sprechakten 4*, mit einem philosophischen Richtigkeitsanspruch, welcher im universellen praktischen Diskurs nach bestimmten Regeln eingelöst wird. Es gilt dann: „Eine normative Aussage Ν ist richtig genau dann, wenn sie das Ergebnis der Prozedur Ρ sein kann" 4 7 . 1.1.2 Der Traum vom universalpragmatischen an der sprachlichen Vielfalt
Code scheitert
Es stellt sich aber die Frage, unter welchen sprachtheoretischen Voraussetzungen die prozeduralistische Gerechtigkeitstheorie das Moment richterlicher Entscheidung in eine kognitive Struktur auflösen kann. Die positivistische Rechtsanwendungslehre meinte dieses Ziel durch den Aufweis einer dem richterlichen Sprechen objektiv vorgegebenen sprachlichen Ordnung erreichen zu können. In der Diskurstheorie soll eine im richterlichen Sprechen selbst 43
Alexy, ebd., S. 256 f., 349 f.; ebenso ders., Theorie der Grundrechte, 1986, S. 499,521 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 158 ff.; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 112 ff. 45 Alexy entwickelt seine Position vor allem unter Bezug auf die von Habermas formulierte Theorie des allgemeinen praktischen Diskurses. Vgl. etwa die Formulierung der strukturellen Bedingungen, welche die Kommunikationssituation erfüllen muß: Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 240; die dabei von Alexy entwickelten Vorschläge wurden inzwischen von Habermas aufgenommen. Vgl. dazu Habermas, Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 53 ff., 99. Vgl. allgemein zur Diskussion der Habermasschen Theorie in der rechtswissenschaftlichen Literatur: U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 77 m.w.N. 46 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 50ff.; ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 77ff., zur Anknüpfung an die Sprechakttheorie 47 Alexy, Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie, Beiheft 2, 1981, S. 177 ff., 178 44
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liegende Ordnung zur Erzeugung des Rechts aufgewiesen werden. Diese in den Erzeugungsregeln des Diskurses liegende Ordnung muß daraufhin untersucht werden, ob sie das dezisionistische Moment in einer auf der kognitiven Ebene angesiedelten Ordnung nicht lediglich versteckt. Das dezisionistische Moment liegt in der Entscheidung des Streits um das Recht. Genauer gesagt: entschieden wird der Streit um die Bedeutung des Normtextes für den Fall. Eine Auflösung dieses Elements ist nur dann möglich, wenn sich diese Entscheidung jedenfalls im Prinzip auf kognitive Strukturen reduzieren läßt. Daß eine solche Reduktion der Entscheidung auf Erkenntnis sich nicht auf die Semantik des Normtextes verlassen kann, gibt Habermas immerhin zu. Aber diese Konzession hindert ihn nicht daran, das Problem einfach auf der Ebene der Pragmatik zu reformulieren 48 . Zu diesem Zweck konzipiert er die Auslegung eines Textes als Gespräch mit dem Autor im Sinne eines „kontrafaktisch zeitenüberwindenden Verständnisvorgang(s)" 49. Damit ist die Voraussetzung geschaffen, um den praktisch-semantischen Prozeß der Durchsetzung einer Textbedeutung auf die kognitiven Strukturen einer Geltungsreflexion zu reduzieren: Textverstehen wird zunächst mit Verständigung gleichgesetzt und Verständigung mit der Herstellung eines Einverständnisses 50. Damit kann Habermas eine identische, der Erkenntnis vorgegebene Bedeutung auf der Ebene der Universalpragmatik reformulieren: „ I m Begriff der Regel sind die beiden Momente vereinigt (...): identische Bedeutung und intersubjektive Geltung. Das Allgemeine, das die Bedeutung einer Regel konstituiert, läßt sich in beliebig vielen exemplarischen Handlungen darstellen" 51 . Die Geltung der Regel wird nicht praktisch durchgesetzt, sondern sie ist auf der universalpragmatischen Ebene als kognitive Struktur vorgegeben. Der strategische Stellenwert dieses Regelbegriffs ergibt sich, wenn man als systematischen Zusammenhang der Diskurstheorie den Begriff des „wahren Konsenses" heranzieht, welcher auf den „eigentümliche(n) Zwang zu zwangloser universaler Anerkennung" 52 verweist und somit als Wirksamkeitsvoraussetzung dieses Zwangs einen Vorgriff auf die Bedingungen herrschaftsfreier Kommunikation 48
Vgl. zur Kritik einer solchen, die traditionellen metaphysischen Annahmen über die Sprache auf der Ebene der Pragmatik reformulierenden Position: Broekman, Rechtsfindung als diskursive Strategie, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 197 ff., 207: „Den performativen Charakter von Sprache in diesem Zusammenhang betonen heißt die Herrschaft von Sprache als rege/befolgendes Handeln herstellen und die Dualität von Sprache und Handeln als Grundlage für die Definition des Performativen nehmen" (S. 207). Vgl. auch zur expliziten Kritik an Habermas S. 204f. 49 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 1987, S. 193 50 Vgl. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 353 ff., 355 51 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1987, S. 31. Vgl. dazu auch ebd., Bd. 1, S. 400: „Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht". 52 Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Apel u.a., Hermeneutik und Ideologiekritik, 1971, S. 120ff., 154
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fordert 53 . Dieser Vorgriff 54 soll eine schon gegenwärtige Realgrundlage finden in der universalpragmatischen „Nachkonstruktion des Regelsystems, nach dem wir Situationen möglicher Rede überhaupt hervorbringen oder generieren" 55 . Die Diskurstheorie gelangt so zu „anthropologisch tiefsitzenden Regeln" 56 , welche eine Unterscheidung erzwingen „zwischen prinzipiell aufhebbaren Normen des Denkens und des Handelns einerseits und jenen quasi transzendentalen Regeln, die auf soziokultureller Stufe Kognition und zweckrationales Handeln, kommunikative Verständigung und Interaktion selber ermöglichen" 57 . M i t diesem Ansatz wird der Kompetenzbegriff strukturalistischer Linguistik auf die pragmatische Ebene übertragen, wobei vorausgesetzt ist, daß die kommunikative Kompetenz genauso einen universalen Kern aufweist wie ihr linguistisches Vorbild 5 8 . Die Pragmatik gilt in diesem Theoriezusammenhang als fundamentales Regelsystem, das Sprecher beherrschen müssen, damit sie Dialoge konstituieren können 59 . Die darin enthaltene Vorentscheidung wird besonders deutlich, wenn die Diskurstheorie an den sprechakttheoretischen Ansatz von Austin anknüpft: „Austin teilt allerdings nicht die Wittgensteinsche Theorie von der »unsäglichen Verschiedenheit4 der Sprachgebräuche. Er ist ferner der Meinung, daß zur Analyse der begrenzten Zahl der Sprachgebräuche ein präziseres Begriffssystem (framework) erforderlich ist als z.B. das, das Wittgenstein benutzt" 60 . Diese starke Akzentuierung der Universalisierbarkeit der Sprachgebräuche und eines präzisen Regelwerks dient dann dazu, dem Regelsystem der kommunikativen Kompetenz einen universalen Kern zu verschaffen. 53 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, 1971, S. 101 ff., 136ff.; ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: ebd., S. 142ff., 189ff. 54
Vgl. zu den Schwierigkeiten der notwendigen Entscheidung, ob die Voraussetzungen eines Diskurses vorliegen: Habermas, Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 114: „ M i t dem diskursethischen Grundsatz verhält es sich wie mit anderen Prinzipien: Er kann nicht die Probleme der eigenen Anwendung regeln. Die Anwendung von Regeln verlangt eine praktische Klugheit, die der diskursethisch ausgelegten praktischen Vernunft vorgeordnet ist, jedenfalls nicht ihrerseits Diskursregeln unterstellt". Diese genuin dezisionistische Problematik soll allerdings in historischen, evolutionstheoretisch ausdifferenzierten Lernprozessen wieder aufgehoben werden. Vgl. dazu ebd., S. 115 55 Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, 1971, S. 101 ff., 102 56 Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, in: ebd., S. 142ff., 281 57 Ebd., S. 282 58 Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, 1976, S. 174ff., 205 59 Vgl. zur Kritik an Habermas' universalpragmatischem Ansatz auch G. Kimmerle, Verwerfungen. Vergleichende Studien zu Adorno und Habermas, 1986, insbes. S. 139 ff. 60
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 77
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Die Diskurstheorie braucht „eine Klassifikation der möglichen Fehler von Sprechakten. In dieser Lehre von den Fehlschlägen (doctrine of the infelicities) wird geschildert, auf welche Weise Sprechakte als Handlungen glücken oder mißglücken können (...). Hierdurch wird deutlich, daß es neben den Regeln der Logik und denen der Grammatik weitere Regeln gibt, die dem Sprechen als Handeln zugrundeliegen. Es ist ein Verdienst der Sprechakttheorie, die Bedeutung dieser Regeln, die man als pragmatische Regeln bezeichnen kann, deutlich gemacht zu haben" 61 . Wenn die Diskurstheorie hier im Anschluß an eine bestimmte Interpretation der Sprechakttheorie einen stabilen Regelbegriff als „präzises framework" eines pragmatischen Codes postuliert, nimmt sie analog der positivistischen Erkenntnisweise eine Idealisierung vor, deren praktische Reichweite allerdings schon bei Austin durch eine immer mehr ausufernde Theorie der Fehlschläge eingeschränkt wurde. Solche Fehlschläge als Mißlingen oder Mißglücken eines Sprechakts müssen dann ex negativo aus der Norm erklärt werden 62 . Denn als Voraussetzung für ein geschlossenes System des pragmatischen Codes bzw. der kommunikativen Kompetenz muß man die unkontrollierbare Transformation der sprachlichen Handlungsregeln im konkreten Sprechakt ausschließen63. Dazu dient die Behauptung, daß die Konventionalität die gleichsinnige Wiederholbarkeit einer Ausdruckskette impliziere. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine pragmatische Taxonomie möglich, welche statt Aussagen eben Tatäußerungen sytemkonform entschlüsselt. Daß die Wiederholung einer Ausdruckskette unbedingt gleichsinnig sein muß, ist allerdings nicht so selbstverständlich, wie hier vorgestellt wird. Denn die Wiederholung differenziert zwischen erstem und zweitem Gebrauch eines sprachlichen Typs und schiebt auf, indem sie diese Verwendungen auf zwei Zeitstellen verteilt 64 . Weil für das Gelingen des Verständnisses, wie schon Humboldt gezeigt hat, nicht eine vollkommen identische Bedeutung ohne individuelle Assoziation vorausgesetzt werden muß, ist bei der Wiederholung einer Ausdruckskette ein gleichsinniger Gebrauch nicht a priori gesichert. Eine Wiederholung ist nicht derselbe Gebrauch als Gleichsinnigkeit, sondern ein anderer Gebrauch derselben differentiellen Markierung, deren Sinn eine nicht gegenwärtige Bleibe hat. Jede Wiederholung trägt also potentiell den Index einer unkontrollierbaren Veränderung 65 . Tatsächlich ist nicht die stabile Regel und 61
Alexy, ebd., S. 79f. Vgl. zu dieser an der Position von Austin entwickelten Kritik: Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., insbes. 142ff., 145 62
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Vgl. dazu Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 513f. Vgl. zum Begriff der Iteration und Wiederholung: Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 133 f. und öfter. Vgl. auch den Zusammenhang des Begriffs Wiederholung mit Zeit und Augenblick: ders., Die Tode von Roland Barthes, o.J. (1987), S. 45 64
65 Vgl. dazu Frank, Textauslegung, in: Harth/Gebhardt, Erkenntnis der Literatur, 1982, S. 123 ff., 134f.
13 Christensen
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ein mit sich identischer Sinn die Voraussetzung der Wiederholbarkeit, sondern umgekehrt die Wiederholung oder Wiedervergegenwärtigung der Ausdruckskette die konkrete Voraussetzung für die Idealität des Sinns. Damit gilt auch für die konventionellen Sprecherintentionen im Rahmen der Sprechakttheorie, daß die différentielle Bestimmung ihrer Konventionen als strukturelle Möglichkeit die unvorhersehbare Transformation der Regeln beinhaltet und ein vollständiges Beherrschen der konkreten Kommunikation durch einen pragmatischen Code oder die kommunikative Kompetenz ausschließt66. Das Problem der mangelnden taxonomischen Beherrschbarkeit der pragmatischen Regeln verschärft sich sogar auf der Ebene der Universalpragmatik. Denn diese hat in die Sprechakttheorie noch das Sprachideal des vernünftigen Diskurses eingeschrieben. Während Austin und Searle lediglich Verstehensvoraussetzungen offenlegen wollen, versucht die Diskurstheorie darüber hinaus Verstehen mit Einverständnis gleichzusetzen, um so die Idealbedingung einer gewaltfreien Sinnbeziehung zu gewinnen 67 . Dem pragmatischen Code wird damit als kommunikative Kompetenz noch ein telos einvernehmlicher Verständigung aufgepfropft. Dieser noch auf die Konstitution von Konventionen ausgedehnte Regelpiatonismus muß mit seinem rigiden Schema erst recht an der aphoristischen Kraft wirklichen Sprechens scheitern. Es wird damit deutlich, daß in die Formulierung des Begriffs sprachlicher Regeln von Seiten der Diskurstheorie eine massive Vorentscheidung eingeht: Es muß sich Einverständnis über Regeln erzielen lassen, welche als Typen regelgeleiteten Handelns bzw. Verstehens den konkreten Vorgang zu beurteilen erlauben. Diese Vorentscheidung muß die Wirklichkeit der Sprache normativ reduzieren und von den Verschiebungen absehen, die bei jeder Wiederholung eines Textes seine Bedeutung in ein Feld heterogener Anschlußmöglichkeiten zerstreuen 68. Die Rücknahme des Regelplatonismus auf das Feld der Universal66
Vgl. zur Kritik an einem Taxonomiemodell von Pragmatik auch die Debatte zwischen Searle und Derrida: Searle, Reiterating the Differences: A Reply to Derrida, in: Glyph 1, 1977, S. 198 ff.; Derrida, Limited Inc...., in: Glyph 2, 1977, S. 162ff. Vgl. als zusammenfassende Darstellung dieser Debatte auch Frank, Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida, in: ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 1980, S. 141 ff. Interessant ist im vorliegenden Zusammenhang auch, daß Habermas sich genötigt sieht, gegen Derrida die Möglichkeit einer Abgrenzung der Normalsprache gegenüber abgeleiteten Formen zu verteidigen: Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 228 ff. 67 Vgl. zur Gleichsetzung von Verständnis und Einverständnis bei Habermas: Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 168ff., 190f., 269, 386f., 410f. Kritisch zu dieser Gleichsetzung Alexander, Habermas' neue kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 1986, S. 72 ff, 102 ff. Vgl. dazu auch Habermas, Entgegnung, in: ebd., S. 327ff, insbes. 359 68 Vgl. zu einer entsprechenden Kritik an der von Habermas umformulierten Sprechakttheorie neuerdings auch noch Gondek, Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten — Zur Infrastruktur kommunikativer Rationalität, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 104ff, 114
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Pragmatik ändert nichts daran, daß hier eine methodische Idealisierung zur ontologischen Struktur sprachlichen Handelns erklärt wird 6 9 . Das den Streit um das Recht entscheidende Moment kann von Habermas nur deswegen auf kognitive Strukturen reduziert werden, weil die der Subsumtionslogik zugrundeliegende type/token-Unterscheidung 70 vorher in die Struktur der Sprache projiziert wurde. Das dezisionistische Moment wird damit nicht aufgearbeitet, sondern nur in einem regelplatonistischen Sprachmodell versteckt. Die mangelnde sprachtheoretische Einlösbarkeit einer universalen Konzeption kommunikativer Kompetenz stellt aber auch den kritischen Konsens als Fluchtpunkt für die allgemeine Theorie des praktischen Diskurses in Frage 71 . Wenn die Universalität eines pragmatischen Codes bzw. seiner regelgeleiteten Transformation nicht garantiert werden kann, dann ist eine rationale Einigung zwischen verschiedenen Personen nur noch unter der Bedingung möglich, daß diese ein sprachliches Bedeutungssystem, eine empirische Weltsicht und eine hinreichende Menge von Werten miteinander teilen 72 . Diese Einschränkungen sind aber identisch mit den Grenzen einer bestimmten Lebensform. Wenn die Diskurstheorie die Regel aufstellt: „Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen" 73 , wird daran deutlich, daß diese Grenze nur überschritten werden kann, wenn die Teilnehmer bereit sind, nivellierende Zwänge zu internalisieren. Zwar sind die Grenzen einer Lebensform nie starr, sondern in ständiger Entwicklung begriffen; aber eine Transformation kann jedenfalls nicht von außen mittels eines alle Unterschiede übergreifenden Metasprachspiels kontrolliert werden 74 . Wegen dieser Relativität in bezug auf die Lebensform kann der Konsens, unabhängig von der Frage
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Vgl. zu dieser Ontologisierung ganz deutlich Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1,1987, S. 400, wo die Argumentation zunächst von den methodischen Standardbedingungen zur sprachtheoretischen Annahme einer wörtlichen Bedeutung führt. 70
Vgl. dazu Gondek, Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten — Zur Infrastruktur kommunikativer Rationalität, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 104ff., 116 71 Dies sieht auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 75 f., wenn er sich gegen Wittgenstein abgrenzt. 72 Vgl. zu diesem Problem Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, 1979, S. 157 ff. Vgl. dazu auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 110 f. Kritisch zum Ansatz Aarnios: Alexy, Aarnio, Perelmann und Wittgenstein. Einige Bemerkungen zu Aulis Aarnios Begriff der Rationalität der juristischen Argumentation, in: Peczenik/Uusitalo (Hrsg.), Reasoning on Legal Reasoning, 1979, S. 121 ff. 73
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 235 Vgl. dazu auch Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986. Lyotard stellt dem Versuch, die Vielfalt der Sprache von einem Metasprachspiel her zu kontrollieren, die Forderung entgegen, das soziale Band so zu organisieren, daß der Dissens optimale Chancen hat. Er begründet dies damit, daß soziale Innovation auf der sprachlichen Ebene systematisch unkontrollierbare Sinnveränderungen voraussetzt. Vgl. dazu ebd., S. 33 ff., 39ff., 57ff., 178 ff. 74
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seiner prinzipiellen Tauglichkeit als Wahrheitskriterium 75 , die universale Richtigkeit von Interpretationsbehauptungen nicht garantieren. Es bleibt die Frage zu klären, ob Interpretationsbehauptungen in der Jurisprudenz ein solcher Anspruch auf universale Richtigkeit überhaupt unterstellt werden kann. Damit ist die These angesprochen, daß der juristische Diskurs ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses sei 76 , bzw. daß die Begründungsbedürftigkeit des Rechts eine zum praktischen Diskurs hinführende ungehemmte Begründungsdynamik entfaltet. Wie schon mehrfach festgestellt wurde, kann diese These für den gerichtlichen Prozeß jedenfalls nicht zutreffen 77 . Denn hier wäre eine eventuelle Behauptung konsensfahiger Vernünftigkeit lediglich Bedingung für ein erfolgreiches strategisches Handeln. Es könnte also lediglich die von institutionellen Zwängen unabhängige juristische Argumentation die Voraussetzungen der Sonderfallthese erfüllen. Diese Einschränkung ist jedoch von geringer Bedeutung angesichts der prinzipiellen Schwierigkeiten der Sonderfallthese. Um ihre Voraussetzungen zu erfüllen, müßte die juristische Argumentation einen konstitutiven Richtigkeitsanspruch im Sinne der Theorie des praktischen Diskurses enthalten. Ausführlicher als Habermas hat Alexy diese Frage untersucht. Er legt allerdings in seiner Analyse des juristischen Diskurses nicht dar, daß ein solcher Richtigkeitsanspruch vorausgesetzt wird 7 8 . Er weist nur nach, daß die Regeln und Argumentformen des juristischen Diskurses einen solchen Anspruch nicht erfüllen können. Bewiesen wäre dessen Bestehen aber erst, wenn gezeigt wäre, daß ein Richter die diskursethisch vorausgesetzte Argumentationsgrundlage verwenden muß, um überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen. Habermas scheint dies vorauszusetzen, ohne es allerdings im einzelnen zu begründen. Die richterliche Entscheidung beansprucht aber nicht konsensfähige Vernünftigkeit im Sinne der Theorie des praktischen Diskurses, sondern Zurechenbarkeit zu den Normtexten der geltenden Rechtsordnung 79 . Wenn die Diskurstheorie diesen qualitativen Unterschied bestreitet, dichtet sie dem juristischen Diskurs eine über die Gesetzesbindung hinausgehende Wahrheitssuche an. Ist dem juristischen Diskurs diese ihm fremde Aufgabenstellung erst einmal unterschoben, dann kann die Theorie des praktischen Diskurses abschließend darüber befinden, ob sie erfüllt ist oder nicht. Der tautologisch vorausgesetzte Maßstab beweist aber nur, daß diese Argumentationsform nicht in den juristischen 75
Vgl. zur Kritik am Konsensus als Wahrheitskriterium schon Albert, Transzendentale Träumereien, 1975, S. 149ff., aber auch Wellmer, Ethik und Dialog, 1986, S. 69ff. 76 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 261 ff. Kritische Auseinandersetzung bei U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 84ff. 77 Vgl. dazu U. Neumann, ebd., S. 84f. m.w.N. 78 Der Richtigkeitsanspruch wird nicht aus der Innenperspektive praktischer Rechtsprechungsanalyse entwickelt, sondern deduktiv angesetzt. Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 263 ff. 79 So auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 87 ff. Vgl. dazu auch F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 88 ff.
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Diskurs hineinprojiziert werden kann, ohne mit seiner Struktur in Konflikt zu geraten. Wenn die Diskurstheorie einen praktischen Richtigkeitsanspruch voraussetzt und dann feststellt, daß der juristische Diskurs diesen Anspruch nicht einlösen kann, so hat sie nur bewiesen, daß das juristische Sprachspiel anders funktioniert als es ihm nach der Theorie des praktischen Diskurses erlaubt ist. Die sprachtheoretischen Prämissen einer Theorie des praktischen Diskurses in Form eines vorausgesetzten Richtigkeitsanspruchs und einer universalen Kompetenz erscheinen damit insgesamt als problematisch. 1.1.3 Das Kriterium för die Wahrheit der Interpretationsbehauptungen ist nicht einlösbar Diese Problematik teilt sich aber auch dem von der Diskurstheorie entwickelten Legitimitätskriterium für juristische Sprechakte mit, das folgendermaßen formuliert wird: „Die Explikation des Begriffs der vernünftigen juristischen Argumentation geschah in dieser Untersuchung durch die Angabe einer Reihe von Regeln, nach, und Formen, in denen die Argumentation stattfinden müßte, um dem in ihr erhobenen Anspruch zu genügen. Wenn eine Diskussion diesen Regeln und Formen entspricht, kann das in ihr erzielte Ergebnis als 'richtig' bezeichnet werden" 80 . Als Beispiel einer Entscheidung, die diesen Anforderungen nicht genügt, nennt Alexy: „ I m Namen des Volkes, Herr N. wird, obwohl hierfür keine guten Gründe sprechen, zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt" 81 . Mit der Behauptung, diese Entscheidung sei „nicht nur aus moralischen Gründen fehlerhaft" 82 , geht Alexy offensichtlich davon aus, daß hier ein praktischer Richtigkeitsanspruch erhoben wird, während gleichzeitig die Regeln seiner diskursiven Einlösbarkeit verletzt werden. Unter diesem Gesichtspunkt eines „performativen Widerspruchs" 83 kann der zitierte Urteilstenor mit der vorher als Beispiel für einen mißglückten Sprechakt angeführten Aussage verglichen werden: „Die Katze liegt auf der Matte, aber ich glaube es nicht" 8 4 . Diese Konstruktion wirft zwei Fragen auf, welche in der Theorie des praktischen Diskurses nicht explizit thematisiert werden. Einmal wäre zu klären, welche Begründungslasten man mit der Behauptung eines performativen Widerspruchs übernimmt 85 . Zum andern ist zu fragen, worin dieser Widerspruch liegt. Werden wirklich unumgängliche Voraussetzungen des Sprechens 80
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 357 Ebd., S. 266 82 Ebd. 83 Vgl. zu dieser Kategorie Habermas, Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 53 ff., 92. Vgl. auch ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 154 und öfter 84 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 266. Zur vorherigen Verwendung als Beispiel für einen gescheiterten Sprechakt vgl. S. 80 81
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verletzt oder nicht vielmehr nur bestimmte Erwartungen in einem konkreten Sprachspiel enttäuscht bzw. sogar verändert? Die erste Frage nach den Begründungslasten bezieht sich auf den bei der Konstruktion eines performativen Widerspruchs vorausgesetzten Regelbegriff. Schlicht feststellbar, ohne weitere Begründungslasten, wäre ein performativer Widerspruch nur dann, wenn man den Begriff einer Regel voraussetzt, welche durch die Anwendung in ihrer vorgegebenen Identität nicht berührt wird. Eine Regel ist aber keine selbständige Entität im Sinne des Piatonismus, sondern ein praktischer Zusammenhang im Rahmen einer Lebensform 86 . Ihre Existenz setzt zwar zunächst einen Raum des Widerspruchs als Möglichkeit, Fehler zu machen. Dieser Widerspruch ist aber dann beseitigt, wenn man die Regel verändert. Und Regeländerung ist, wie die neuere sprachphilosophische Diskussion zeigt 87 , die strukturelle Möglichkeit jeder Wiederholung dieser Regel. Was also zunächst wie ein performativer Widerspruch aussieht, kann bei genauer Betrachtung eine Innovation sein, der man nicht etwa ewige sprachtheoretische Notwendigkeiten entgegenhalten kann, sondern höchstens den Normalitätsa«spruch bisheriger Erwartungen. Ein performativer Widerspruch läßt sich damit nicht durch einen Vergleich des konkreten Sprechakts mit einem fest vorgegebenen Set von Regeln schlicht feststellen, sondern beinhaltet eine normative Komponente, die gerade nicht in dem von der Diskurstheorie nahegelegten Sinne 88 selbstbegründend ist. Aber selbst wenn man die normativen Implikationen der Feststellung eines performativen Widerspruchs einmal ausklammert, bleibt die Frage zu stellen, worin dieser Widerspruch eigentlich besteht. Das eine Glied des von Alexy unter dem Gesichtspunkt des performativen Widerspruchs gebildeten Vergleichs ist jener altbekannte Satz, dem die Katze ihren bequemen Platz in der Sprachphilosophie verdankt. Und tatsächlich klingt diese Äußerung irgendwie merkwürdig. Denn im Alltag erwartet man, daß der Sprecher eine Behauptung, die er aufstellt, auch glaubt 8 9 . Anders sieht es aber bereits im Feld der Wissenschaft aus. Hier kann man durchaus versuchsweise eine Hypothese aufstellen, von der man nicht überzeugt ist 9 0 . Dies zeigt, 85
Für den Hinweis auf die Probleme des performativen Widerspruchs danke ich Herrn Michael Sokolowski, Heidelberg. 86 Vgl. zum Begriff der Regel: Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Schriften Bd. 4, 1974, S. 334f. 87 Vgl. hierzu die schon nachgewiesene Position von Derrida. Ein erster Versuch, die Argumentation Derridas bei der Auseinandersetzung mit Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns aufzunehmen, findet sich bei Seel, Die zwei Bedeutungen 'kommunikativer' Rationalität, in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 1986, S. 53 ff., 65f. 88
Vgl. dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 80 Vgl. hierzu auch die Analyse des Verhältnisses von „Glauben" und „Wissen" auf der Grundlage des Ansatzes von Grice: O'Hair, Implikationen und Bedeutungen, in: Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, S. 354ff. 89
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daß die Erwartungen, die den Satz merkwürdig klingen lassen können, relativ zu einem bestimmten Sprachspiel sind. Verletzt werden hier höchstens die „normalen" Regeln des Behauptens. Aber sogar die Voraussetzung, daß der Sprecher glaubt, was er sagt, kann man in der Kommunikation selbst thematisieren, indem man etwa sagt: „Ich spreche jetzt als advocatus diaboli". Damit wird die scheinbar unumgängliche Präsupposition des Behauptens in den Semantisierungsvorgang einbezogen und erweist sich als historisch kontingent. Es handelt sich hier um die historisch konkreten Spielregeln des Behauptens, nicht um Bedingungen des Sprechens überhaupt 91 . Deswegen muß der fragliche Sprechakt nicht, wie die Diskurstheorie nahelegt 92 , unter allen Umständen mißglückt sein, sondern es kommt eben darauf an, welches Sprachspiel gespielt wird. Wenn es also so etwas wie einen performativen Widerspruch gibt, dann im Verhältnis zu historisch-konkreten Präsuppositionen eines Sprechakts. Dies wird auch bestätigt durch den von Alexy als Beispiel herangezogenen Urteilstenor. Wenn die fehlenden guten Gründe solche sind, die sich auf die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung beziehen, müßte man dies in einem rechtsstaatlichen System als fehlerhaft ansehen. Wenn die fehlenden guten Gründe dagegen allgemeine Erwägungen praktischer Richtigkeit oder sonstige persönliche Überzeugungen des Richters betreffen, dann ist die Entscheidung nicht notwendig fehlerhaft, sondern kann sogar als Erfüllung der mit der Richterrolle verknüpften Erwartungen angesehen werden. Auch hier läßt sich ein performativer Widerspruch nur feststellen, wenn man das Rechtsstaatspostulat und andere methodenrelevante Normen heranzieht und so die konkret historischen Erwartungen 93 an die Struktur juristischer Entscheidungen bestimmt. Wiederum sind es also nicht unumgängliche, sondern kontingente, hier politisch festgesetzte 94 Präsuppositionen, zu denen der Sprechakt in Widerspruch stehen könnte. Der Diskurstheorie geht es mit diesem Vergleich aber um mehr. Der zitierte Urteilstenor soll deswegen falsch sein, weil er den diskursiv einzulösenden Richtigkeitsanspruch als unumgängliche Präsupposition jeder juristischen Interpretationsbehauptung verletzt. Nun gibt es aber gerade im Rahmen von Sprachspielen keine unumgänglichen Präsuppositionen, sondern jede Voraussetzung kann, indem man sie thematisiert, in den Semantisierungsvorgang einbezogen werden. Dies bestätigen ungewollt auch die vorgeblich unhintergeh90
Vgl. dazu auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 88 Vgl. dazu auch Hungerland, Kontext-Implikation, in: Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, S. 266ff., insbes. 274ff. Die Kontext-Implikation („p" sagen heißt implizieren, zu glauben, daß p) wird hier zurückgewiesen und durch ein genaueres Erklärungsmodell ersetzt. 92 Vgl. dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 266 93 Vgl. dazu auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 88 ff. 94 Vgl. zum Verhältnis Recht und Politik, insbes. im Hinblick auf die Gesetzesbindung: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 15, 77ff. 91
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baren Voraussetzungen der Theorie des praktischen Diskurses. Wären diese wirklich unhintergehbar, dann wäre es überflüssig, sie postulativ einzufordern 95 . Indem man diese Voraussetzungen aber einfordert und thematisiert, werden sie in den Semantisierungsvorgang einbezogen und, wie ihre Kritik in der zeitgenössischen Philosophie zeigt 96 , auch hintergehbar. Wenn die Theorie des praktischen Diskurses trotzdem einen solchen performativen Widerspruch zu ewigen oder unhintergehbaren Voraussetzungen konstruieren will, erhebt sie die Bedingungen des von ihr selbst definierten Wahrheitsspiels zu Bedingungen des Sprechens überhaupt 97 . Daß eine solche Unterstellung nicht ohne gewaltsame Unterdrückung der Innensicht der Betroffenen vorgenommen werden kann 9 8 , zeigt sich in der Auseinandersetzung der Theorie des praktischen Diskurses mit ihrer skeptischen Gegenposition. Wenn der Skeptiker die Wahrheit metaphysischer Theorien bestreitet, erhebt er natürlich einen Wahrheitsanspruch. Aber nicht als „Endzeitmechanismus" 99 einer apokalyptischen Wahrheit überhaupt, sondern als zeitliche Wahrheit, welche gemessen an den Maßstäben einer gegebenen Kultur eine relative Plausibilität hat. Es geht dem Skeptiker also um einen anderen Wahrheitsbegriff, um eine Verschiebung der Regeln des metaphysisch gebundenen philosophischen Diskurses. Nur wenn man ihm diesen anderen Wahrheitsbegriff nicht zugestehen will und weiterhin den absoluten Wahrheitsanspruch der metaphysischen Tradition unterstellt, kann man hier einen performativen Widerspruch konstruieren 100 . Genauso gewaltsam muß Alexy unterstellen, daß der Richter mit seiner Interpretationsbehauptung ein Wahrheitsspiel nach den spezifischen Regeln der Theorie des praktischen Diskurses spielen will. Nur unter dieser, der Innensicht praktischer Rechtsarbeit vollständig zuwiderlaufenden Voraussetzung kann er den zitierten Urteilstenor a priori als falsch bezeichnen. Tatsächlich wäre dessen Beurteilung aber nicht an vorgeblich unumgänglichen, konkret aber unterschobenen Präsuppositionen zu messen, sondern an den historisch gegebenen Voraussetzungen einer bestimmten Rechtskultur: Nur wenn der Richter keine guten Gründe gemessen am Gesetz hat, ist dieses Urteil falsch. 95 Vgl. dazu auch G. Kimmerle, Verwerfungen. Vergleichende Studien zu Adorno und Habermas, 1986, insbes. S. 201 und öfter 96 Einige dieser Ansätze zusammen mit einer Entgegnung von Habermas wurden gesammelt in Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 1986 97 Vgl. dazu auch Seel, Die zwei Bedeutungen 'kommunikativer' Rationalität, in: Honneth/Joas, ebd., S. 53ff., insbes. 60ff. 98 Vgl. dazu auch H. Hesse, Vernunft und Selbstbehauptung, 1984, S. 142 99 Vgl. dazu auch Wetzel, „Apocalypse Now". Der Wahrheitsbegriff der Postmoderne?, in: Derrida, Apocalypse, 1985, S. 133 ff., insbes. 137. Gegen einen „Endzeitmechanismus" der Wahrheit arbeitet Derrida deren Zeitlichkeit heraus. Vgl. Derrida, Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: ebd., S. 9ff. 100 Yg] d a z u Q Kimmerle, Verwerfungen. Vergleichende Studien zu Adorno und Habermas, 1986, S. 203 ff.
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Was ist mit den Bemühungen der Diskurstheorie also erreicht? Ihr Ansatz versucht die Rechtsarbeit an ein vorgeblich unhintergehbares Apriori zu binden, welches sich aber als willkürlich festgesetzt erweist. Die Bedingungen jedoch, welche als Gesetzesbindung für praktische Rechtsarbeit ein historisch relatives Apriori darstellen sollten, werden demgegenüber unter den Vorbehalt universalpragmatisch vernünftiger Gründe gestellt 101 . Die relative Rationalität juristischen Handelns ist damit ersetzt durch eine absolute Rationalität, welche sich bei genauer Betrachtung jedoch als Illusion erweist. Die Theorie des praktischen Diskurses kann daher kein sprachtheoretisch einlösbares Kriterium für die Wahrheit einer Interpretationsbehauptung aufweisen. Es bleibt nur bei dem Versprechen eines vagen Fluchtpunkts für die semantischen Oppositionen, dessen vorgebliche Rationalität auf praktischer Ebene in Willkür umschlägt. Gewonnen ist nur eine Relativierung der Gesetzesbindung zugunsten von Richtigkeitsüberzeugungen, welche notfalls im inneren Monolog festgesetzt werden 102 . Der Versuch, die juristische Textarbeit zu einem auf die Wahrheit hin geordneten System abzuschließen, begründet eher Gefahren für die rechtlich geschützte Freiheit, als daß er sie ausschließt. Dies wird noch deutlicher, wenn sich diese Theorie auch auf den Bereich „vernünftiger Gesetzgebung"103 ausdehnen will. Wenn neben den rechtlichen auch alle politischen Entscheidungen zu einem auf die Einhaltung eines vordefinierten Verfahrens reduzierten Erkenntnisproblem werden, kann es keinen ausreichenden Schutz abweichender Auffassungen mehr geben 104 . Denn diese abweichenden Auffassungen vertreten dann nicht einfach eine andere, etwa zur Zeit nicht mehrheitsfähige Utopie, sondern sie vertreten eine falsche Auffassung. Ob sie dann zur Anerkennung ihres vernunftgemäßen Interesses gezwungen werden müssen oder etwa psychiatrische Behandlung brauchen, darüber entscheidet der praktische Diskurs, worin die entsprechende Theorie als Partei und Richter zugleich auftritt. Dies zeigt, daß das Kriterium der Wahrheit als „Endzeitmechanismus" jedenfalls für politisch-rechtliche Fragen zu stark ist. Wenn man von vornherein alle Risiken für die Freiheit kontrollieren will, schafft man sie durch inhaltliche Festlegung auf ein System von Zwängen ab. Das Offenlassen der Frage nach letzten Wertungsgrundlagen kann man demgegenüber als ein Risiko 101 Vgl. dazu die Formulierung bei Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 305, wonach die Gesetzesbindung eben nur für den Regelfall die Präferenz vor Gesichtspunkten des vernünftigen Zwecks haben soll. Noch deutlicher wird diese Ersetzung des Gesetzesbindungspostulats bei Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 1987, S. Iff., 16, der zu diesem Zweck die Figur der „ungehemmten Begründungsdynamik" einführt. 102 Ygi dazu ebd., S. 224, Fn. 11. Eine entsprechende Formulierung findet sich auch bei Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 130: „Diskursive Verhandlung notfalls im geistigen Monolog". 103 Alexy, ebd., S. 352 104 Vgl. auch die diesbezügliche Kritik bei G. Kimmerle, Verwerfungen. Vergleichende Studien zu Adorno und Habermas, 1986, S. 200 f. und öfter
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ansehen 105 . Aber immerhin ist dies ein Risiko für eine noch bestehende Freiheit, welche sich immer dann zur Wehr setzen muß, wenn eine solche letzte Grundlage behauptet oder angestrebt wird. 1.2 Topische und „postmoderne" Rechtstheorie wollen die Rechtserzeugung ohne fallübergreifende Bindungen beschreiben
Das Scheitern einer philosophisch-normativen Argumentationstheorie legt die Folgerung nahe, zu einer empirischen Analyse des juristischen Sprachhandelns überzugehen. Es stellt sich dann die Frage, ob mit der Kritik an der abstrakten Verdinglichung richterlicher Bindungen auch das Bindungspostulat selbst verworfen werden muß, oder ob die empirische Analyse nicht vielmehr zu einer konkreten Reformulierung des Problems gedrängt wird. 1.2.1 Das abstrakte Verständnis des Bindungspostulats wird in der empirischen Beschreibung aufgelöst Innerhalb der Rechtstheorie hat vor allem die Topik 1 den Gesichtspunkt einer empirischen Analyse 2 juristischen Sprachhandelns hervorgehoben. Unter der von Viehweg eröffneten Perspektive einer „fortentwickelten, zeitgenössischen rhetorischen Argumentationstheorie" 3 hat die Rhetorik ein reichhaltiges Material an Argumentationsfiguren und rhetorischen Strategien erschlossen4. Als „rhetorische Rechtstheorie" richtet diese Schule ihr besonderes Augenmerk auf den Entstehungszusammenhang und den Herstellungsprozeß juristischen Sprachhandelns 5. Dabei gilt als zentrales Anliegen: „Verdinglichungen im los Ygj dazu u n < j z u m folgenden auch H. Hesse, Vernunft und Selbstbehauptung, 1984, S. 147 1 Grundlegend für diese Theorie: Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974. Einen Überblick zu den vielfaltigen, auch über die Grenzen der Rechtswissenschaft als Disziplin hinausgehenden topischen Theorieansätzen bietet der Sammelband Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982. Zur rechtstheoretischen Auseinandersetzung mit der Topik vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 140ff.; F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 47ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 124 ff, 131 ff. 2 Vgl. zu dieser Betonung der empirischen Seite durch die Topik: U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 12 3 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 111. Vgl. zur Bedeutung der Topik für eine Theorie juristischer Argumentation auch: N. Horn, Topik in der rechtstheoretischen Diskussion, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, 1981, S. 57ff. 4 Vgl. dazu etwa Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1970; sowie neuestens Gast, Juristische Rhetorik. Auslegung, Begründung, Subsumtion, 1988, der eine Analyse juristischer Argumentationstechniken aus praktischer Perspektive gibt. Kurzer Überblick dazu auch ders., Vom rhetorischen Geschäft der Juristen, in: Betriebsberater 1988, S. 569 ff. 5 Vgl. dazu Seibert, Rhetorische Rechtstheorie — im Zusammenhang gesehen, in: Ballweg/ders. (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 15 ff, 17
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Meinungsdenken durch Rückführung auf ihre sprachlichen und kommunikativen Voraussetzungen aufzulösen" 6 . Bei dem topischen Versuch, an die Stelle von als Rechtserkenntnis auftretenden Wahrheiten rhetorische Wahrscheinlichkeiten zu setzen7, spielt der Gesichtspunkt der Sprachkritik 8 eine große Rolle. Sie wird im wesentlichen in drei Richtungen entfaltet: Einmal als Kritik an der Ontologisierung juristischer Begrifflichkeit 9 . Zum andern als Aufweis des Situationsbezugs juristischer Rede 10 . Und schließlich als Vorrang der pragmatischen Dimension vor der syntaktischen und semantischen Schicht des juristischen Diskurses 11 . Das Phänomen der Ontologisierung juristischer Begriffe erklärt die Topik aus der praktischen Entscheidungssituation der Juristen, welche einerseits zur Entscheidung und andererseits zur Begründung zwinge 12 . Diese Situation veranlasse den Juristen, „sich einer Sprache zu bedienen, die ihn in die Lage versetzt, auf alles und jedes eine Antwort geben zu können. Und sollte dieses Sprachsystem an einer Stelle schweigen, muß er trotzdem reden, also interpretieren" 13 . Es ist also eine bestimmte Reaktion auf die Ausgangsbedingungen juristischen Handelns, die das realistische Begriffsverständnis hervorbringt. Diese Reaktion besteht in der Verkürzung der legitimatorischen Anforderungen 14 an juristisches Handeln zugunsten bloßer Scheinbegründungen. 6
Ebd., S. 18 Ebd., S. 17. Vgl. zur Gegenüberstellung von Erkenntnis- und Verständigungsfunktion auch Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: ebd., S. 27ff., 32 8 Vgl. zum Gesichtspunkt der Sprachkritik grundlegend D. Horn, Rechtssprache und Kommunikation, 1966; Seibert, Von Sprachgegenständen zur Sprache von juristischen Gegenständen, in: ARSP 1972, S. 43 ff.; Rodingen, Ansätze zu einer sprachkritischen Rechtstheorie, in: ARSP 1972, S. 161 ff. Vgl. zur Sprachkritik auch U. Neumann, Juristische Argumentationstheorie, 1986, S. 41 ff. 9 Vgl. zur Ontologisierungskritik: D. Horn, Rechtssprache und Kommunikation, 1966; ders., Topik als offenes Kommunikationssystem, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 141 ff.; Ballweg, Ein wissenschaftstheoretisches Lehrschema für den juristischen Unterricht, in: Festschrift für Armbruster, 1976, S. 253 ff.; U. Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1979, S. 47ff., 78 ff. Zur Auseinandersetzung mit der Position von D. Horn vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 114ff. 10 Vgl. dazu etwa Seibert, Argumentationsbeispiele aus dem Rechtsbereich, in: Schecker (Hrsg.), Theorie der Argumentation, 1977, S. 313 f f , 325 und öfter 11 Vgl. dazu Schreckenberger, Rhetorische Semiotik, 1978, S. 44; Seibert, Zur Entwicklung semiotischer Fragestellungen in der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, in: Zeitschrift für Semiotik, 1979, S. 277ff., 282 und durchgehend 7
12 Vgl. dazu Ballweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung der Rechtswissenschaft und der Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, 1972, S. 43 ff., 45 13 Vgl. dazu Ballweg, Ein wissenschaftstheoretisches Lehrschema für den juristischen Unterricht, in: Festschrift für Armbruster, 1976, S. 253 ff., 256 14 Zur erkenntniskritischen Auseinandersetzung mit den Ontologismen als Verkürzung juristischer Begründungspflichten vgl. Gast, Recht als ius argumentandi, in:
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Als Gegenmittel betont die topische Schule den Situationsbezug juristischer Rede: „Generelle und lexikalische,Bedeutungen' eines Zeichens sind immer nur Feststellungen über die bedingte Wahrscheinlichkeit eines möglichen individuellen Zeichengebrauchs" 15. M i t der bloßen Betonung einer individuellen Dimension des Zeichengebrauchs wäre man allerdings noch nicht über die Subjektzentrierung 16 und Verkürzung der sozialen Dimension der Sprache hinausgelangt, welche schon die klassische Hermeneutik Schleiermachers prägte und auch als allgemeines Merkmal einer instrumentalistischen Sprachtheorie der Juristen festgestellt wurde. Deswegen erweitert sich das von Viehweg formulierte Programm einer „Analyse der Redesituation" 17 über die bloße Individualisierung des Sprachgebrauchs hinaus zu einer pragmatischen Sprachtheorie. Diese pragmatische Sprachtheorie wird nach zwei Seiten hin entfaltet: Als Sprachkritik entwickelt sie in der Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Lehre eine vor allem destruktive Seite, welche Ideologiebildungen auf dem Gebiet der Sprachtheorie in Frage stellt. Als pragmatische Sprachhandlungstheorie weist sie eine konstruktive Seite auf, welche dazu geeignet erscheint, die Struktur wirklicher Entscheidungsprozesse in den Blick zu bringen. Im Rahmen der Sprachkritik wendet sich die Topik gegen ein „Offenbarungsmodell" juristischer Methodik, wonach die Rechtsarbeit auf eine rein kognitiv aufgefaßte Auslegung von vorgegebenen Bedeutungsinhalten beschränkt sein soll 1 8 . Die Einschränkung juristischer Textarbeit auf die Erkenntnis einer verdinglichten Semantik erklärt sich für die Topik aus dem Selbstverständnis juristischer Standesvertreter als situationsexterne Interpreten 19 . Weil entgegen den herkömmlichen Prämissen die lexikalische Normalform der Sprache zur Konfliktlösung jedoch nicht ausreiche, verdingliche juristische Methodik pragmatische Sprachfunktionen zu einer Mehrzahl sich gegenseitig bedingender Auslegungsregeln. Damit abstrahiere sie aber nach wie vor von der Handlungsdimension juristischen Verstehens zugunsten einer „scheinbar sprecherlos und bezugsfrei in der Rechtswelt,schwebenden4" Argumentation 20 . M i t dem handlungstheoretischen Aspekt ist die konstruktive Seite der pragmatischen Theorie angesprochen. Die Bezeichnung der juristischen KonBallweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 297 ff., 306ff.; ders., Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975, S. 138 ff. 15 Schreckenberger, Rhetorische Semiotik, 1978, S. 40 16 Vgl. zu einer diesbezüglichen „Selbstkritik" der Topik: Broekman, Rechtsfindung als diskursive Strategie, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 197ff., 205 f. 17
Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 114 Vgl. dazu Seibert, Aktenanalysen. Zur Schriftform juristischer Deutungen, 1981, S. 16 ff. und durchgehend. Weiterhin Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, 1977, S. 31 f. 18
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Seibert, ebd. Seibert, Argumentationsbeispiele aus dem Rechtsbereich, in: Schecker (Hrsg.), Theorie der Argumentation, 1977, S. 313ff., 325 20
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kretisierungselemente als Verdinglichungen pragmatischer Sprachfunktionen ergibt sich aus einem handlungsbezogenen Bedeutungsverständnis, wonach die Bedeutung einer Zeichenkette in einer konkreten Kommunikationssituation erst konstituiert wird und über die Konkretisierungselemente die vorausgegangene und möglicherweise institutionalisierte Verwendung dieser Zeichen erschlossen wird 2 1 . Auf dem Wege der Textanalyse kann die Topik „das ,Dunkelfeld 4 einer pragmatisch orientierten, rechtlichen Argumentationstheorie" 22 erhellen und so die pragmatischen Strukturen von Urteilsbegründungen aufdecken und unter der Oberfläche affektive Strategien sichtbar machen 23 . Das Problem der Gesetzesbindung juristischen Handelns ist geeignet, den Zusammenhang von auflösender Sprachkritik und konstruktiver Handlungstheorie im Rahmen der Topik sichtbar zu machen. Dort wo das auflösende Moment der Sprachkritik verabsolutiert wird, verwirft man mit den herkömmlichen Verdinglichungen auch das Bindungspostulat selbst. Wenn dagegen das konstruktive Moment der Handlungstheorie stärker in den Vordergrund tritt, kann die Topik zu einer Präzisierung des Problems der Gesetzesbindung beitragen. Beide Strategien sind im Theoriezusammenhang der Topik realisiert. Die Option einer von der Sprachkritik ausgehenden vollständigen Verwerfung des Gesetzesbindungspostulats wird in der Theorie von Hubert Rodingen realisiert: „Die Auslegung von Gesetzen ist wie die Gesetze selber satzförmig. Da aber satzförmig erzeugte Bedeutung (syntaktisch generierte Syntax) mangels Umstands- und Lagebezogenheit (Pragmatik) beliebig ist, ist auch die Bindung der Richter ans Gesetz (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht greifbar. (...) Wir dürfen uns hier nicht scheuen, die Konsequenz auszusprechen, daß unser Grundgesetz mit seiner vermeintlichen Bindung des Richters ans Gesetz — und merkwürdigerweise nicht ans Recht — der üblichen falschen, weil einseitigen Sprachauffassung aufsitzt, wonach die Bedeutung von Wörtern sich aus Sätzen ergibt" 2 4 . Hier wird also mit der Vorstellung einer im Text des Gesetzes vorgegebenen Semantik auch die Möglichkeit der Gesetzesbindung überhaupt abgelehnt. Die Option einer von der Handlungstheorie ausgehenden Präzisierung des Problems richterlicher Gesetzesbindung deutet sich in der Theorie von Seibert an. Die Handlungsdimension juristischen Argumentierens wird dabei vor allem durch Heranziehen der Akten sichtbar gemacht, welche in sehr viel stärkerem Maße als die eigentlichen Urteilsgründe eine den Streit um das Recht konstituierende Sequenz von Sprachhandlungen erkennen lassen25. Die Akte als 21
Seibert, Aktenanalysen. Zur Schriftform juristischer Deutungen, 1981, S. 17 Seibert, Argumentationsbeispiele aus dem Rechtsbereich, in: Schecker (Hrsg.), Theorie der Argumentation, 1977, S. 313 ff., 338 23 Vgl. dazu die Beispielsanalyse ebd., S. 341 ff. 24 Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, 1977, S. 148 f. 25 Vgl. Seibert, Aktenanalysen. Zur Schriftform juristischer Deutungen, 1981, S. 41 ff. Vgl. zur Position von Seibert auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 60 ff. 22
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Mittler zwischen Gesetzestext und Fall ermöglicht es dann, die Konkretisierung als Abfolge von Textsituationen zu erfassen, die in der Akte festgehalten sind und der Entscheidung vorausgehen. Die Gesetzesbindung konkretisiert sich also im Rahmen der Akte in vielfach gestuften Verwendungsprozessen und kann so in Reichweite und Struktur genauer eingeschätzt werden. 1.2.2 Die Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten taugt nicht als Rechtfertigung des Dezisionismus Für die Position, welche mit der Kritik an den Verdinglichungen juristischer Sprachtheorie auch das Gesetzesbindungspostulat selbst verwirft, stellt sich die Frage, wie richterliches Handeln unabhängig von den herkömmlichen Auffassungen beschrieben werden kann. Dabei gibt es im weiteren Umkreis der topischen Diskussion im wesentlichen drei Vorschläge, die mit unterschiedlichen Argumenten beanspruchen, das richterliche Handeln als einzelfallbezogenes Entscheiden ohne die Vorstellung fallübergreifender Bindung erfassen zu können. Ausgangspunkt ist dabei die klassische Disziplin der Rhetorik, welche die Vorgänge praktischen Überzeugens in den Vordergrund der Analyse stellt 26 . Sprachtheoretisch reflektiert erscheint dieses Konzept in der Theorie des Rechts als diskursive Strategie 27 , um schließlich auf der Grundlage einer „postmodernen" Rechtstheorie 28 zur Auflösung der Rechtsarbeit in einzelfallbezogene Abwägung radikalisiert zu werden. Die von Haft entwickelte juristische Rhetorik ist um den Konsens als Schlüsselbegriff organisiert. Dabei geht es allerdings nicht um die Konstruktion eines die wirklich Betroffenen entmündigenden Begriffs eines idealen Konsensus, sondern um die Zustimmung der am Verfahren selbst Beteiligten 29 . Trotzdem wirft die Figur des Konsenses aber die Frage auf, ob die Rhetorik ohne Bezug zu sachlichen Richtigkeitskriterien auskommen kann 3 0 . Denn ein Verzicht auf sachliche Maßstäbe wäre nur zu begründen, wenn die Rhetorik eine universell gültige Methode für die Produktion und Interpretation von Texten bereitstellen könnte 31 . Diese Leistung kann die Rhetorik allerdings nicht erbringen. Als universelle Methode scheitert sie an dem Umstand, daß Texte nicht als Erzeugnisse einer abschließbaren Menge von Sinnmöglichkeiten und 26
Vgl. dazu Haft, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1985 Vgl. dazu Broekman, Rechtsfindung als diskursive Strategie, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 197 ff. 28 Vgl. dazu etwa Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff. 29 Vgl. Haft, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1985, S. 145 f. Vgl. dazu auch Hoerster, Vorurteil, Konsens und Rechtsauslegung, in: JuS 1985, S. 665 ff., 665 30 Vgl. dazu Hoerster, ebd., S. 666, der allerdings S. 667f. mit der von Koch entwickelten Semantik eines vorgegebenen Gesetzesinhalts argumentiert. 31 Vgl. zu den texttheoretischen Grenzen der Rhetorik: Coseriu, Textlinguistik, 1981, S. lOf. und 112f. 27
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Zeichenrelationen verstanden werden können. Ohne diese vollständige und abschließbare Menge von Sinnerzeugungsverfahren kann die Rhetorik nicht über die Richtigkeit einer Interpretation entscheiden und damit auch nicht auf sachliche Richtigkeitskriterien als Grundlage des Konsenses verzichten. Die Unabschließbarkeit sprachlicher Sinnerzeugungsverfahren verhindert damit, daß die Gesetzesbindung von der Rhetorik verdrängt werden kann. Die Konzeption der Rechtsarbeit als diskursive Strategie unterzieht die Position der Rhetorik einer sprachtheoretischen Reflexion: „Auch die Topik nimmt Bezug auf den Rhetor, und bestätigt damit ihre Subjektbezogenheit in Sprachtheorie und Dogmatikauffassung" 32 . Damit wird eine implizite Sprachtheorie der Rhetorik problematisiert, wonach die Sprache ein Ausdruck der Subjektivität sein soll 3 3 . Diese Sprachtheorie „nimmt Sprache nicht als Ereignis, sondern als Logos, weiterhin als Beziehung von Subjekt und Welt, schließlich als aufgebaut aus kleinsten Einheiten, die nach Regeln zusammengesetzt werden" 34 . An die Stelle einer von der Regel dominierten Sprachtheorie, welche die Sprache nur als Instrument zur identischen Reproduktion der Subjektivität auffassen kann, soll eine Sprachtheorie treten, welche die nicht in Regelhaftigkeit aufzulösende Eigenständigkeit der Sprache anerkennt und den Begriff der Regel durch den der Strategie ersetzt 35 . Rechtsarbeit erscheint damit nicht mehr als Übersetzung 36 oder Transformation einer vorgegebenen Sprachsubstanz auf den Fall, sondern als Spracharbeit 37 im Rahmen einer diskursiven Strategie. Auf dieser sprachtheoretischen Grundlage kann dann ein für das juristische Sprachspiel konstitutives Moment des Streitens um das Recht klar herausgearbeitet werden: „Juristische Rede ist Rede in einer Institution. Jedes Wort, jede Proposition im juristischen Diskurs ist das Ergebnis von Kampf, Kontrolle, Institution, Tausch, Arbeit, Unterdrückung" 38 . In einer „postmodernen" Rechtstheorie 39 wird das hier angesprochene Moment eines Streitens um das Recht zur Grundlage einer radikalen Kritik an 32
Broekman, Rechtsfindung als diskursive Strategie, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 197ff., 205 33 Ebd., S. 206. Vgl. zur Subjektzentrierung als Dominationstheorie auch Ladeur, Rechtssubjekt und Rechtsstruktur, 1978, insbes. S. 71 ff. 34 Ebd., S. 208 35 Ebd. 36 Ebd., S. 212 ff. 37 Ebd., S. 221,223 38 Ebd., S. 224 39 Vgl. dazu Ladeur, Klassische Grundrechtsfunktion und 'postmoderne' Grundrechtstheorie. Eine Auseinandersetzung mit B. Schlink, in: KJ 1986, S. 197 ff. Die „Postmoderne" ist ein neues Stichwort in der rechtstheoretischen Diskussion. Unter dieser Bezeichnung finden Ergebnisse der neueren philosophischen und texttheoretischen Diskussion Frankreichs Eingang in die Rechtswissenschaft. Angesichts einer ähnlichen Entwicklung hat Kelsen 1957 vor der seiner Ansicht nach abstrakten Übertragung philosophischer Positionen auf die Rechtstheorie mit folgenden Worten gewarnt: „So wie
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der herkömmlichen Konzeptualisierung des juristischen Sprachspiels gewendet. M i t der Rezeption der neueren französischen Texttheorie löst sich dabei der sprachkritische Gesichtspunkt von der konstruktiven Seite einer Präzisierung der Bindungen des juristischen Diskurses vollständig ab und verschärft sich zu einer grundlegenden Kritik an jeder Bindungsvorstellung. Danach genügt es nicht, die Forderung einer präzisen Rechtssprache zu formulieren, sondern es muß auch untersucht werden, ob die Sprache diese Forderungen überhaupt erfüllen kann. Es ergibt sich dann, daß das vom klassischen Positivismus vorausgesetzte Eins-zu-eins-Verhältnis von Zeichen und Bedeutung eine Fiktion darstellt, die im wirklichen Sprechen nicht eingelöst werden kann 4 0 . Auch der sprachphilosophisch reanimierte Traum vom eindeutigen Wortlaut und klar umgrenzbaren semantischen Spielräumen in einer ansonsten abgeschlossenen Rechtsordnung läßt sich damit weder auf der Ebene der Sprachtheorie noch in der Praxis des Recht-Sprechens einlösen. Der vom sprachlichen Handeln der Juristen spontan produzierte Regelplatonismus kann nicht in die Sprachwissenschaften exportiert werden, so daß auch diese keine sprachlichen Garantien für die gesuchte Einlösung des Gesetzesbindungspostulats bereitzustellen vermögen. Im Gegenteil verliere der Diskurs der Wissenschaften mit der sprachphilosophischen Wende das letzte grundlegende Sprachspiel, welches als Metasprache des Wahrheitsdiskurses die Teildiskurse zu beherrschen erlaubte 41 . Auch der Rechtscode verwandle sich damit von einer Repräsentation der vorausgesetzten Wahrheit zu einem strategischen Spiel 42 . Wenn bisher als Auslegungsziel die Wiederaneignung eines vorfindlichen Sinnganzen angesehen wurde, so komme es jetzt nicht mehr auf Textauslegung, sondern auf Konsensfindung in einem strategischen Zusammenhang an 4 3 . Das Recht als Metasprache, welche eine stabile Orientierung und Verinnerlichung ermöglicht, werde damit abgelöst durch das Recht als reflexives Kommunikationsmedium. Dabei zeige sich, daß das Modell des Gesetzesvollzugs, wie es der Positivismus aufgestellt hat, nie eine in der Metropole entstandene Mode in der Provinz erst — oder noch — nachgeahmt wird, wenn sie dort schon im Abflauen begriffen ist, versucht der in der Philosophie schon als überlebt geltende Existentialismus nunmehr in der Rechtswissenschaft Fuß zu fassen" (Kelsen, Existentialismus in der Rechtswissenschaft?, in: ARSP 1957, S. 160 ff., 160). Zu bedenken ist allerdings bei dieser Aussage, daß Kelsen selbst den Neukantianismus als die philosophische Modeströmung seiner Zeit auf die Rechtswissenschaft übertragen hat (vgl. dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 204ff.; ders., Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 206f. Dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 438). Eine philosophische Mode ist also jedenfalls dann ernstzunehmen, wenn sie zu einer neuen Sicht rechtstheoretischer Sachprobleme führt. 40 Vgl. dazu Broekman, Rechtsfindung als diskursive Strategie, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 197ff., insbes. S. 203 und 223 sowie durchgängig 41 Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 466 und öfter 42 Ebd. 43 Ladeur, Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation?, in: Der Staat 1982, S. 391 ff., insbes. 402ff.
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realistisch war, sondern der entsprechende Schein nur durch eine latente Diskursformation garantiert wurde 44 . Die Rechtsnorm ist demnach kein vorausgesetztes generelles Ordnungskonzept im Sinne des Maschinen- oder Uhrwerkmodells, sondern wird im Rahmen einer bestimmten Diskursformation abgestützt durch grundlegende Sichtweisen und Ideologeme, welche das Handeln der Verwaltung erst zu Regelmäßigkeit verstetigen 45. Das neue, von Ladeur empfohlene Paradigma versteht das Gesetz also nicht mehr als generell-abstrakte Verhaltensregelung und will die Entscheidung des Rechtsarbeiters nicht mehr von einem vorfindlichen Willen ableiten. An die Stelle des Gesetzes soll ein situatives Arrangement von Werten als Scharnierbegriffen 40 treten und die Definition des öffentlichen Interesses, das bisher nur vollzogen wurde, nun öffnen 47 . Die Abwägung wird damit zum zentralen Paradigma einer postmodernen Rechtstheorie 48 , welche das deterministische Modell des Positivismus endgültig hinter sich zurücklassen will: „Güterabwägung ist eine dogmatische Figur, die Rechte nicht mehr auf immanente oder explizite Grenzen, d.h. stabile Präferenzen (z.B. zugunsten des öffentlichen Interesses) bezieht, sondern situativ-strategisch einen komplexen, nur beschränkt generalisierbaren Interessenzusammenhang vor allem durch die Formulierung von flexiblen Standards oder Werten zu bearbeiten sucht" 49 .
44 Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung, in: Leviathan 1979, S. 339ff., 358, insbes. 360ff. 45 Vgl. zur Entwicklung von der Vollzugsstruktur zum Abwägungsprozeß: Ladeur, Die Schutznormtheorie — Hindernis auf dem Weg zu einer modernen Dogmatik der planerischen Abwägung?, in: UPR 1984, S. Iff., 5f. 46
Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 472 Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung, in: Leviathan 1979, S. 339ff., 367 und öfter 48 Vgl. dazu Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 471 ff. sowie ders., „Abwägung" — Ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts. Von der Einheit der Rechtsordnung zum Rechtspluralismus, 1984 47
49 Ladeur, „Abwägung" — Ein neues Paradigma des Verwaltungsrechts. Von der Einheit der Rechtsordnung zum Rechtspluralismus, 1984, S. 218. Die zentrale Rolle der formlosen Kategorie „Abwägung" steht im Zusammenhang einer Überführung des Gesetzesbegriffs in ein System generalklauselartiger Werte, die lediglich ein System lockerer Anschlußzwänge bilden sollen (vgl. dazu Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung, in: Leviathan 1979, S. 339ff., 360 und öfter). Das Gesetz verliere im Zug dieser Entwicklung den ideologischen Anschein einer stabilen Metasprache und werde als Medium zur Kommunikation heterogener Wert- und Sprachsysteme erkennbar (Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 474). Durch den von Ladeur hier verwendeten Begriff „Medium" wird aber ein schiefes Bild erzeugt. Der wesentliche Aspekt wird verwässert: Das Recht ist nicht einfach Medium, es ist Realität. Wir können uns keine Rechtsordnung vorstellen ohne die Möglichkeit, daß sich die ihr unterworfenen juristischen Funktionsträger auf Regeln berufen könnten, um ihr Tun zu rechtfertigen. Diese Regeln bilden zwar kein geschlossenes System einer idealen Kompetenz, aber sie haben doch eine ihnen eigentümliche Widerständigkeit oder Realität, welche bei Ladeur nicht vorkommt.
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Fraglich ist allerdings, ob die „Abwägung" mit der ihr hier zugewiesenen Rolle nicht überfordert ist. Es scheint sich im ersten Anlauf um eine Vokabel zu handeln, die genug Ausdehnung und Weiches besitzt, um die Rechtsarbeit aus den flachen Gewässern des Positivismus herauszuführen. Man entweicht ins Eigentliche, wo der Mensch noch Zugriff auf die materiellen Werte hat und sich nicht damit begnügt, die formalen Bedingungen der Normalität aufrechtzuerhalten 50 . Bemerkenswert ist nur, daß der Fischzug nach materiellen Werten auf altgewohnte Weise vonstatten geht. Die Denkweise hat sich gar nicht geändert, sondern sie wird nur mit Frischzellen in Form von Versatzstücken aus der neueren Texttheorie zu beleben versucht. Und wenn Ladeur ohne Gespür für die darin liegende Ironie bemerkt: „Güterabwägung funktioniert auch in der gerichtlichen Praxis keineswegs als eine Art Kadi-Justiz, es lassen sich vielmehr, bei aller Variabilität im Einzelfall, durchaus auch juristisch fundierende Regelmäßigkeiten feststellen (was aber noch zu untersuchen wäre)" 5 1 , wird daran deutlich, wie wenig mit der Begriffsfassade „Abwägung" für die Strukturierung praktischer Rechtsarbeit gewonnen ist 5 2 . Aber ein Gewinn von Rationalität und Kontrollierbarkeit gesetzesgebundener Rechtsarbeit ist hier auch gar nicht beabsichtigt. Denn an die Stelle des kritisierten Vollzugsparadigmas soll ein offenes strategisches Recht treten, welches statt der vertikalen Semantik des Gesetzes eine horizontale Pragmatik der Koordination partikularer Sprachen erlaubt 53 . Die Handlungsrationalität soll sich nicht über das Gesetz vermitteln, sondern über die ,,'Kommunikationsstruktur' einer organisationalen Arena" 5 4 . Und um diese Leistung zu erbringen, darf die Abwägung keiner über den Einzelfall hinausgehenden Bindung an den Normtext unterworfen werden 55 . Die Rechtfertigung einer ausschließlich einzelfallbezogenen Abwägung wird damit aus dem Kampfcharakter juristischen Sprechens und einer für die Entfaltung der horizontalen Pragmatik erforderlichen Arena entwickelt. Die von der „postmodernen" Rechtstheorie vorgenommene Verknüpfung von Sprachkritik und Rechtfertigung des Dezisionismus muß genauer untersucht werden. Es ist die Frage zu stellen, ob der im juristischen Diskurs aufgewiesene Kampf um die Verknüpfung von Sätzen tatsächlich fallübergreifende Bindungen zwingend ausschließt. 50 Ladeur, Klassische Grundrechtfunktion und ,post-moderne' Grundrechtstheorie, in: KJ 1986, S. 197ff., 198 51 Ladeur, Vom Gesetzesvollzug zur strategischen Rechtsfortbildung, in: Leviathan 1979, S. 339ff., 364 52 Vgl. zur Kritik an dieser Figur: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 52ff.; ders., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 197ff., 204f., 209, 213 53 Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 466, vgl. auch 471 54 Ebd., S. 467 55 Ebd., S. 473 und 475, 478
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Der Kampfcharakter des Sprechens ergibt sich für die postmoderne Theorie aus der Betonung des Eigenwerts jeden Sprachspiels. Ausgangspunkt kann demnach nicht die Sprache im allgemeinen sein, sondern nur die Vielzahl der Diskursgattungen 56 . Weil ein die heterogene Ordnung der Sprache übergreifendes Kriterium fehlt, stellt sich die Frage der weiteren Verknüpfung nach jedem geäußerten Satz, ohne daß man eine vorher schon feststehende Notwendigkeit zu Hilfe rufen könnte 57 . Der damit implizierte Kampf um die Verknüpfung wird für die postmoderne Theorie gerade in der richterlichen Entscheidung besonders augenfällig: „Der Begriff des Streits bezeichnet eine ontologische Situation des richterlichen Urteilens. Richterlich, insofern der Richter angesichts der von jeder Partei vorgebrachten Beweisführung nicht entscheiden kann, denn er verfügt über keine Regel, die auf beide Fälle anwendbar wäre. D.h. sowohl die Beweisführung des Klägers, dem ein Schaden oder Unrecht geschehen ist, als auch die Beweisführung des Verteidigers, der die Rechte des Angeklagten geltend macht, ist legitim, allerdings in einer anderen Ordnung, in heterogenen Ordnungen (...). Der Richter verfügt über keinen Corpus von Regeln, womit er den Fall entscheiden und dabei doch die Rechte beider Parteien berücksichtigen könnte. Er verhält sich so, als gebe es zwei Rechte und kein Meta-Recht" 58 . Damit betont Lyotard im Gegensatz zur Diskursethik die Unvermeidbarkeit des dezisionistischen Moments. Die Präskription ist aus seiner Sicht ein absolut unabhängiges Sprachspiel, in welchem sich die Reinheit des Willens als transzendentale Freiheit manifestiert 59 . Das von der Diskurstheorie verfolgte Ziel, jedes dezisionistische Moment aufzulösen, indem man das Sprachspiel der Präskription nach dem Modell der Wahrheitsfindung strukturiert, ist aus dieser Sicht ein ungerechtfertigter Eingriff in die Integrität dieses Sprachspiels, womit sich der Philosoph zum Berater der Macht aufzuschwingen versucht 60 . Der Versuch, die präskriptive Diskursgattung vom systematischen Bezug auf ein vorausgesetztes Ganzes zu befreien, führt dann zu der Konsequenz, den Gedanken der Gerechtigkeit ohne ein allgemeines Kriterium neu zu denken: „Wenn der Richter keine Regel hat, um für einen Fall das Urteil zu sprechen, wenn er nicht,kompetent' ist zu entscheiden, welche Partei das Recht auf ihrer Seite hat, oder wenigstens zwei Anträge zu vergleichen (...), wenn Gerechtigkeit also nicht schon gewissermaßen als geschriebenes4 Recht verfügt ist, dann ist diese Gerechtigkeit erst zu setzen, ist erst Recht zu sprechen, im jeweiligen Einzelfall und ohne Regel" 61 . Man kann diesen Text als dezisionistisches 56
Vgl. ebd., S. 480: „Kompatibilisierung (...) der pluralen Rechtsdiskurse (...)" Vgl. dazu die kurze Darstellung der postmodernen Diskussion bei Rüb, Konsensus oder Différend, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne?, 1986, S. 87ff., 91 ff., m.w.N. 58 Lyotard, Sprache, Zeit, Arbeit, in: ders., Immaterialität und Postmoderne, 1985, S. 35 ff., 40 57
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Vgl. Lyotard/Thébaud, A u juste, 1976, S. 141 und 161 Vgl. ebd., S. 47, 50
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Konzept von Gerechtigkeit lesen. Ohne allgemeine Kriterien wird diese von Fall zu Fall jeweils neu bestimmt. Der Spruch des Richters wäre damit als unteilbare und unkontrollierbare Dezision anzusehen. Die Gesetzesbindung liefe auf eine liberale Illusion aus, welche bestenfalls als rhetorische Fassade funktionieren könnte. Aber eine solche dezisionistische Sicht der richterlichen Gewalt übersieht eine wesentliche Komponente der Rechtsentscheidung: Der Richter entscheidet nämlich nicht nur den Streit als einmaligen Fall. Er setzt vielmehr eine allgemeine Regel, die lautet, jeden Fall wie diesen entsprechend zu entscheiden. Das richterliche Handeln ist also nicht nur Streitentscheidung, sondern auch Rechtserzeugung. Von diesem allgemeinen Element der Regelsetzung kann auch Lyotard nicht vollständig absehen, denn er fügt seiner Beschreibung des Problems dieser Gerechtigkeit hinzu: „Derjenige, der auf diese Weise urteilt (...), braucht nach Aristoteles phronesis, prudentia, und nach Kant Urteilskraft" 62 . Dieses allgemeine Moment der Urteilskraft weist über den Einzelfall und die isolierte Dezision hinaus und verlängert sich bis in den von Lyotard entwickelten Begriff der Gerechtigkeit. Danach kann die Gerechtigkeit zwar nicht inhaltlich fixiert werden, aber es wird eine regulative Idee der Erhaltung der Möglichkeiten des präskriptiven Spiels anerkannt 63 . Diese notwendige Bedingung der Gerechtigkeit wird ergänzt durch eine hinreichende Bedingung 64 als Gedanke einer Erhaltung der Pluralität von Sprachspielen unter Ausschluß gewaltsamer Übergriffe. Diese Konzeption der Gerechtigkeit als Wahrung der Autonomie irreduzibel pluraler Sprachspiele wird dann in die Formel gefaßt: „Laßt uns in Ruhe spielen" 65 . Die Anerkennung der Pluralität der Sprachspiele setzt damit zumindest sich selbst als Gemeinsames voraus. Im Innern des postmodernen Bekenntnisses zum Pluralismus entdeckt man daher nicht die willkürliche Entscheidung des Dezisionismus, sondern die Frage nach den Bedingungen für das Zusammenspiel pluraler Rationalitäten 66 . Diese Fragestellung macht aber deutlich, daß gerade die Gesetzesbindung richterlicher Streitentscheidung eine unverzichtbare Bedingung für die Pluralität und Vielfalt der Sprachspiele ist. Wenn man die Entscheidung des Streits um 61 Lyotard, Sprache, Zeit, Arbeit, in: ders., Immaterialität und Postmoderne, 1985, S. 35 ff., 43. Daß Gerechtigkeit nicht schon im geschriebenen Recht verfügt ist, ergibt sich aus Lyotards Verständnis der Schrift im Anschluß an Derrida. 62
Ebd. Lyotard/Thébaud, Au juste, 1979, S. 134 64 Ebd., S. 181 f. 65 Vgl. Lyotard, Gespräch mit Dubost, in: ders., Das postmoderne Wissen, 1982, S. 127 ff., 131 63
66 Vgl. dazu auch Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 f f , 105, der im Innern der postmodernen Vernunftkritik die Idee einer frei diskutierenden Öffentlichkeit entdecken will.
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das Recht dem Dezisionismus überläßt, dann droht gerade dadurch eine Verkürzung der die Machtausübung erschwerenden Begründungslasten 67 und in der Konsequenz eine Nivellierung der Vielfalt zugunsten von technischer und ökonomischer Effizienz 68 . Der Streit ums Recht kann nicht diskursethisch in kognitive Strukturen aufgelöst werden, ohne der Vielfalt der Sprachspiele eine äußere Ordnung gewaltsam aufzuzwingen. Aber er kann auch nicht in einer isolierten Dezision beendet werden, ohne zum selben Ergebnis zu führen. Zwischen den Extremen einer wahrheitsfunktionalen und einer dezisionistischen Gerechtigkeit liegt die Idee einer Hemmung und Kontrolle der unvermeidlichen Gewalt richterlicher Streitentscheidung. Erst die von der Gesetzesbindung abgesicherte Kultur rechtlichen Streitens macht das auch in der postmodernen Theorie geforderte Zusammenspiel pluraler Rationalitäten möglich. Und ein Pluralismus, der nicht als Indifferenz endet, sondern sich als Wert selbst bejaht 69 , muß auch die eigenen Voraussetzungen einer Kultur des Streitens bejahen. Wenn die postmoderne Rechtstheorie also einerseits das positivistischrekonstruktive Verständnis praktischer Rechtsarbeit ablehnt und andererseits aber als Alternative nur die Analyse der faktischen Machtökonomie aufzuweisen hat, dann ist dies schon nach ihrer eigenen Zielvorstellung einer Gewährleistung des Pluralismus zu wenig. Wer das Recht als Ermöglichungsbedingung für die Optimierung pluraler Ziele 70 verstehen will, muß diesem Recht auch eine gewisse Steuerungsfahigkeit für praktische Entscheidungen zugestehen. Auch wenn das Recht nicht mehr anwendender Vollzug, sondern Kompatibilisierung heterogener Diskurse sein soll, kann es diese Leistung nur erbringen, wenn es im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur mit seiner Sprachlichkeit selbst als Anschlußzwang begriffen wird. Daß die postmoderne Rechtstheorie diese Konsequenz nicht ziehen kann, liegt an den Mängeln und der Oberflächlichkeit ihrer Positivismuskritik. Die bloße Ideologiekritik läßt den Kern der positivistischen Rechtsnormtheorie als weiterwirkende Grundlage auch in dieser Theorie bestehen. Danach ist eine konkrete Entscheidung nur denkbar als aus dem Gesetzestext abgeleitet, in welchem sie substantiell schon enthalten war. Die postmoderne Rechtstheorie verhält sich lediglich negativ zu diesem Modell, indem sie die Unhaltbarkeit von dessen sprachtheoretischen Voraussetzungen konstatiert 71 . Aber mit dem 67
Vgl. dazu die im Theoriezusammenhang der Topik entwickelte Kritik am Dezisionismus bei Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975, S. 34 ff. 68 Vgl. dazu auch Lyotard, Sprache, Zeit, Arbeit, in: ders., Immaterialität und Postmoderne, 1985, S. 35 ff., 48 f. zum technischen Zugriff auf die Sprache 69 Vgl. dazu Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 1976, S. 204, 209; ders., Nietzsche-Lesebuch, 1979, S. 35f. 70 Ladeur, „Abwägung" — ein neues Rechtsparadigma?, in: ARSP 1983, S. 463 ff., 474 71 Vgl. zur Kritik an der „instrumentellen Sprachauffassung" und ihrer Verknüpfung mit dem Subjektgedanken: Ebd., S. 479 f. und öfter sowie ders., Konsensstrategien statt Verfassungsinterpretation?, in: Der Staat 1982, S. 391 ff., 409f.
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positivistischen Rechtsnormmodell fallt für sie auch gleichzeitig jede Möglichkeit weg, das Problem der Gesetzesbindung noch einzulösen. A n diese Stelle tritt eine Analyse des juristischen Diskurses, welche allerdings ihren Gegenstand dadurch verkürzt, daß sie gerade das an den Rechtsstaat gebundene machtkritische Moment ausblendet. Es sind also rechtstheoretische und nicht sprachtheoretische Elemente, welche im Kontext einer postmodernen Rechtstheorie zu einer Rechtfertigung des Dezisionismus führen. Aus der Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten und dem Kampfcharakter des Sprechens läßt sich demgegenüber eine solche Rechtfertigung nicht ableiten. Was sich danach als „uneinlösbar erweist", ist die „überzogen angesetzte ,Bindung an das Gesetz'" 72 . Ihre konkrete Reformulierung als „ius argumentandi", als „Gelegenheit für Beteiligte/Betroffene, an der langen Leine des Gesetzestextes über eine Rechtslage zu streiten" 73 , bleibt dagegen in der Perspektive einer Frage nach den Bedingungen sprachlicher Vielfalt konkrete Aufgabe. 1.2.3 Der juristische Diskurs kann ohne Bezug zum Bindungspostulat nicht zureichend beschrieben werden Das Programm einer zur Kritik am Gesetzesbindungspostulat selbst verschärften empirischen Argumentationstheorie führt aber nicht nur in einen Wertungswiderspruch, sondern es ist auch praktisch gar nicht durchführbar. Die Praxis juristischen Sprechens kann überhaupt nicht als reine Faktizität einer Machtökonomie ohne Bezug zu normativen Gesichtspunkten beschrieben werden. Die Darstellung von juristischen Argumentationsfiguren und noch mehr der Vorschlag von erfolgversprechenden rhetorischen Strategien setzen die Existenz von Legitimationsmaßstäben voraus, die dem individuellen Belieben jedenfalls zu einer gewissen Zeit und bis zu einem gewissen Grad entzogen sind. Wenn die Kritik an den sprachtheoretischen Verdinglichungen der herkömmlichen Lehre auch diese Legitimationsmaßstäbe selbst erfaßt, dann verfehlt sie die komplexe Realität des juristischen Diskurses. Darin zeigt sich, daß die rhetorischen Voraussetzungen einer postmodern radikalisierten Sprachkritik die positivistischen Annahmen über die Sprache nur abstrakt negieren. Der positivistische Regelplatonismus, wonach der tragende Leitsatz einer konkreten Entscheidung im Normtext schon vorgegeben ist, wird lediglich als unrealistisch verworfen und durch sein ebenso abstraktes Gegenteil, den Regelskeptizismus, ersetzt. Das positivistische Modell der Gesetzesbindung ist demnach nur eine Verkleidung der Macht als Wahrheit 74 . Hinter der „richtigen" Interpretation des Gesetzes verbirgt sich ein ausschließ72 Gast, Recht als ius argumentandi, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 297 ff., 297 73 Ebd., S. 305 74 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung oben Teil C 1
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lieh machtgestütztes Ordnen der sozialen Beziehungen. Mit dieser Wendung der positivistischen Sprachtheorie ins Negative legt der regelskeptizistische Ansatz eine bestimmte Form der Kritik nahe 75 : U m den juristischen Diskurs zu delegitimieren, muß man die Idee einer „richtigen" Interpretation zerstören und offenlegen, was wirklich passiert. Aber woher weiß man, was wirklich passiert? Wo gibt es außerhalb der Vielfalt der Interpretationen einen archimedischen Punkt, der diese Entlarvung ermöglicht? Die soziale Wirklichkeit ist nicht unmittelbar, sondern nur im Wege der Interpretation zugänglich. Zudem wird sie im sprachlichen Handeln verändert und zum Teil sogar erst hergestellt 76. Das gilt in besonderem Maße von den Sprachhandlungen, die unter einer bestimmten Perspektive zum juristischen Diskurs verkettet werden können. Wenn man also, wie die „postmoderne" Rechtstheorie, die Idee eines absolut richtigen Verständnisses aufgibt, dann tritt nicht einfach die handfeste soziale Macht hinter der Sprache hervor, sondern der, der dies behauptet, gibt seine Interpretation der Verhältnisse, welche mit anderen verglichen werden kann und muß. M i t der Verwerfung des absoluten Maßstabs ist man also noch nicht der Notwendigkeit der Interpretation und vor allem der Notwendigkeit zum Vergleich von Interpretationen entkommen 77 . Dies zeigt sich gerade im Rahmen der Rechtswissenschaft besonders deutlich. Ohne den absoluten Maßstab des Positivismus kann man die Unterscheidung von rechtsförmiger und nicht legitimierbarer Gewalt nicht endgültig und ein für allemal treffen. Trotzdem wird aber das Problem dieser Unterscheidung in jeder Urteilsbegründung oder kritischen Anmerkung angesprochen und diskutiert. Auch unterhalb des vom Positivismus vorausgesetzten absoluten Maßstabs scheint es also in der juristischen Diskussion Kriterien zu geben, die den Vergleich und die Beurteilung verschiedener Interpretationsweisen der Normtexte erlauben. Zwar bleibt im Hinblick auf den Gesetzespositivismus richtig, daß hinter der rhetorischen Fassade bloßer Rechtserkenntnis die wirklichen Entscheidungsprozesse verborgen bleiben 78 . Aber diese rhetorische Fassade entsteht nicht dadurch, daß der Positivismus die Rechtsanwendung überhaupt auf das Gesetzesbindungspostulat verpflichten will, sondern im Gegenteil durch die unzulänglichen Mittel, mit denen er diese Bindung garantieren will. Eine Kritik, welche mit der Destruktion der positivistischen Auffassung auch das Gesetzesbindungspostulat selbst aufgibt, verkürzt die 75 Vgl. dazu Kennedy, The Turn to Interpretation, in: Southern California Law Review, Volume 58, Jan. 1985, Nr. 1, S. 251 ff., insbes. 251 f. Diese im „critical legal movement" vorhandene Reflexion der Gefahren eines Regelskeptizismus übersieht die ihren Gegenstand verkürzende Kritik von Frankenberg, Der Ernst im Recht, in: KJ 1987, S. 281 ff. 76
Vgl. dazu auch Wimmer, Bemerkungen zum Exposé con Christensen/Jeand' Heur, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 13 ff. 77 Vgl. dazu Wimmer, ebd.; sowie Kennedy, The Turn to Interpretation, in: Southern California Law Review, Volume 58, Jan. 1985, Nr. 1, S. 251 ff., insbes. S. 274f. 78 Vgl. dazu schon C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, in: Koch (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 366 ff., 382ff.
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Komplexität des juristischen Diskurses 79 . Es handelt sich dabei nicht einfach um die Verkleidung von Macht zu positivem Recht, sondern um eine komplexe Maschine zur Unterscheidung von rechtsförmiger und nicht legitimierbarer Macht. Wenn der absolute Maßstab des Gesetzespositivismus als Fiktion durchschaut ist, sind die Probleme der Gesetzesbindung also nicht erledigt, sondern sie fangen erst an. Es stellt sich nämlich die Aufgabe, jenseits der abstrakten Alternativen von Regelpiatonismus und Regelskeptizismus nach jenen Maßstäben zu fragen, mit denen im juristischen Diskurs bessere von vergleichsweise schlechteren Interpretationen unterschieden werden. Wenn die „postmoderne" Rechtstheorie die Möglichkeit solcher über den Einzelfall hinausgehender Bindungen bestreitet, schießt sie über ihr eigenes Ziel hinaus. Denn was die sprach theoretische Reflexion zerstört, ist nur der Schein absoluter, unabhängig von den Standards einer gegebenen Argumentationskultur bestehender Bindungen. Absolute Bindungen und Wahrheiten werden in der Praxis sprachlichen Handelns immer wieder zerredet. Aber dabei werden gleichzeitig immer wieder relative Bindungen und Wahrheiten hergestellt. Natürlich übt, wenn man diese Redeweise einmal übernehmen will, die Sprache selbst auf die Sprecher keinerlei Zwang aus und kann insoweit auch keine Bindungen begründen. Unter diesem Aspekt gilt tatsächlich die Aussage, daß im Prinzip nach jedem Satz jeder beliebige andere Satz möglich ist 8 0 . Aber sobald man die Betrachtung konkretisiert, nimmt sich diese Beliebigkeit schon wesentlich bescheidener aus. Jedes wirklich funktionierende Sprachspiel ist durch pragmatische Valenzen81 gekennzeichnet, die gerade verhindern sollen, daß nach jedem Satz jeder beliebige andere möglich ist. Allerdings sind diese ein Sprachspiel definierenden Verkettungsregeln keine Naturgesetze, sondern traditionell und institutionell verfestigte Ergebnisse sprachlichen Handelns. Daher können sie im sprachlichen Handeln sowohl verändert werden als auch bestätigt werden. Solche in der Sprache hergestellten Bindungen müssen nicht notwendig machtfunktional sein, sondern können, wie im Falle der Gesetzesbindung, auch dazu dienen, die Ausübung staatlicher Gewalt diskutierbar und kontrollierbar 79 Vgl. zu dieser Komplexität Kennedy, The Turn to Interpretation, in: Southern California Law Review, Volume 58, Jan. 1985, Nr. 1, S. 251 ff., insbes. 252ff. 80 Vgl. dazu Lyotard, „Nach" Wittgenstein, in: ders., Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 68 ff., 72: „ I m Prinzip ist 'nach' jedem Satz jeder beliebige andere Satz möglich. Wenn es sich im allgemeinen anders verhält und bestimmte Verkettungen eher erwartet werden als andere, so darum, weil die Verkettungsregeln durch Lernen und unter der Autorität der Tradition festgelegt worden sind". Vgl. auch zu der „ K l u f t " zwischen verschiedenen Sätzen und dem sich darin entfaltenden Widerstreit: ders., Der Widerstreit, 1987, S. 207, 229; sowie ders., Streitgespräche oder: Sprechen „nach Auschwitz", o.J. (1987), S. 55; ders., Sprache, Zeit, Arbeit, in: ders., Immaterialität und Postmoderne, 1985, S. 35 ff., 41 81 Vgl. zum Begriff der pragmatischen Valenzen: Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986, S. 14; zur „Validierung": ders., Der Widerstreit, 1987, S. 41, 59, 62, 69, 84, 91,101, 110, 227
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zu machen. Wenn man also die positivistische Theorie von der im Text fertig vorgegebenen Rechtsnorm aufgibt, folgt daraus nicht, daß jedes irgendwie gefundene Ergebnis eines gerichtlichen Entscheidungsprozesses auch gerechtfertigt ist. Die Gesetzesbindung verlangt vom handelnden Rechtsarbeiter vielmehr, daß er bei der Verkettung von Normtext und tragendem Leitsatz einer konkreten Entscheidung den Standards einer gegebenen juristischen Argumentationskultur Genüge tut. Und der zur Bestätigung dieser Verknüpfungsregeln erforderliche Wille zur Verständigung ist über Art. 97 I GG für die Richter im Geltungsbereich des Grundgesetzes auch verbindlich 82 . Die Regeln sind, gemessen an den vielfaltigen Möglichkeiten sprachlicher Verkettung, regulativ, indem sie, ausgehend vom Zweck der Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit, bestimmte pragmatische Valenzen abschneiden. Sie sind dagegen konstitutiv für ein Sprachspiel, das unter den normativen Bedingungen des Rechtsstaats zu einer gesetzeskonformen Entscheidung führen soll. Die Bewegung der Kritik am Positivismus endet also nicht beim Regelskeptizismus und seiner Verwerfung der Gesetzesbindung, sondern führt dazu, daß man das Problem der Gesetzesbindung auf dem Feld der wirklichen Argumentationsprozesse neu diskutieren kann. Damit tauchen konkrete Fragen auf, wie etwa die nach den argumentativen Standards, die Richter verwenden, um ihre Entscheidungen zu begründen, und den Standards, mit denen andere Juristen diese Begründungen angreifen. Diese im wirklichen Argumentationsprozeß erkennbaren Standards kann man dann auf ihre innere Konsequenz befragen sowie an den normativen Vorgaben der Verfassung messen83. Die Kritik an der gesetzespositivistischen Fiktion ermöglicht somit die Untersuchung der Bindungen, die bei der Herstellung der die konkrete Entscheidung tragenden Leitsätze eingehalten werden müssen. M i t diesen Fragen nach der Herstellung von Bindungen juristischen Handelns ist die Perspektive einer Theorie der Argumentationspraxis eröffnet. Diese müßte in der Beschreibung und Kritik empirischer Argumentationsprozesse die verfassungsrechtlich vorausgesetzten Maßstäbe einforderbar machen. Erst die Verbindung von empirisch begründeter Skepsis und verfassungsrechtlich rückgebundenen normativen Gesichtspunkten könnte an die Stelle von scheinbaren Bindungen die wirklichen setzen. Gerade im Hinblick auf die politische Funktion der Gesetzesbindung als Kontrollinstrument gegenüber willkürlichen und d.h. unabhängig vom demokratisch legitimierten Gesetz ergehenden Entscheidungen gilt damit noch immer die Aussage: „Juristischer Einsatz für die Demokratie besteht heute auch und in erster Linie in der Arbeit an einer demokratischen Methodenlehre" 84 . 82
Vgl. zur Gesetzesbindung und zur richterlichen Dienstpflicht: F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 51, 71 83 Vgl. zu diesem Ansatz: F. Müller, Juristische Methodik, 1976, 2. Aufl., S. 140ff. 84 Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: JuS 1980, S. 704ff., 709
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D. Theorie der Rechtserzeugung 1.3 Die Strukturierende Rechtslehre bindet die Rechtserzeugung an den sprachspielimmanenten Maßstab des Verfassungsrechts
Die normative Argumentationstheorie bietet einen Maßstab, der es erlaubt, die Realität gerichtlicher Praxis kritisch zu beurteilen. In der Auseinandersetzung mit diesem Vorschlag wird allerdings zu Recht geltend gemacht, daß dieser jeder Äußerung „immer schon" vorausgesetzte Wahrheitsanspruch die Vielfalt wirklichen Sprechens gewaltsam vereinfacht. Die deskriptive Argumentationstheorie gelangt insbesondere in der topisch-rhetorischen Tradition zu einer reichen Beschreibung der Wirklichkeit des juristischen Diskurses. Aber in der Diskussion wird zu Recht geltend gemacht, daß eine bloße Beschreibung ohne kritische Dimension vor der Tatsächlichkeit der Machtverhältnisse kapituliert. Ein Versuch, den empirischen und den normativen Gesichtspunkt miteinander zu vermitteln, muß zunächst die Frage stellen, ob praktische Rechtsarbeit einen immanenten Rationalitätsmaßstab aufweist, welcher es erlaubt, die äußere Tatsächlichkeit der Rechtsprechung an für sie verbindlichen Maßstäben zu messen. Die Verbindung von sprachkritischer Skepsis und verfassungsrechtlich rückgebundener Reflexion kann die unfruchtbare Alternative von Regelplatonismus und Regelskeptizismus vermeiden. Wenn die postmoderne Rechtstheorie vom Recht als einem strategischen Spiel spricht, so impliziert dies Regeln. Denn ein Spiel ohne Regeln ist, wie Wittgenstein sagt, ohne Witz. Diese Regeln sind jedoch keine unumgänglichen Präsuppositionen im Sinne der Theorie des praktischen Diskurses, sondern es sind historisch konkrete Voraussetzungen, welche das Sprachspiel des Rechts in einer bestimmten Kultur konstituieren. Als aus dem Rechtsstaatsprinzip und anderen methodenbezogenen Normen abgeleitete Forderungen nach Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit juristischen Handelns beziehen sich diese Bindungen auf den mit der Formulierung von Sprachregeln verknüpften Prozeß der Sprachnormierung. Die Notwendigkeit der Sprachnormierung, welche sich daraus ergibt, daß die Sprachregeln nicht handhabbare Vorgegebenheiten sind, setzt auch die Möglichkeit einer Sprachkritik als metakommunikative Auseinandersetzung über die Sprachnorm. Wenn Kommunikation kein durch vorgegebene Regeln automatisierter Vorgang ist, sondern Raum für sinnkonstitutive Akte enthält, dann beinhaltet sie auch die Möglichkeit einer kommunikativen Ethik 1 , die diese gestalterischen Eingriffe zwar nicht, wie die Theorie der kommunikativen Kompetenz annimmt, einer vollständigen Steuerung unterwirft, aber doch kritisierbar macht. Die linguistische Diskussion kann somit jedenfalls die strukturelle Möglichkeit von Bindungen beim Prozeß der Regelerzeugung dartun, indem sie auf die 1 Vgl. zum Begriff einer kommunikativen Ethik: Heringer, Sprachkritik — Die Fortsetzung der Politik mit besseren Mitteln, in: ders., (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 3 ff., 27ff. Grundsätzlich auch zu Konversationsmaximen: Grice, Logik und Konversation, in: Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, S. 243 ff.
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Sprachreflexionen als Ermöglichungsbedingung für die Entwicklung einer kommunikativen Ethik hinweist. Das Rechtsstaatsprinzip mit seinen Anforderungen an die Begründung juristischer Entscheidungen kann insoweit als ein kodifizierter Sonderfall kommunikativer Ethik angesehen werden. Es kodifiziert eine bestimmte Kultur des Streitens, welche als Auseinandersetzung über sprachliche Normierung auch im alltäglichen Handeln vorkommt, im juristischen Bereich aber durch Rechtsprechung und Lehre eine spezifische Ausprägung erfahren hat. Zur Konkretisierung seiner Maßstäblichkeit muß der IstZustand der praktischen Rechtsarbeit an seinen Soll-Maßstäben gemessen werden und dort, wo erforderlich, zu begrifflich verallgemeinerungsfahigen Strukturen fortentwickelt werden. Der Ansatzpunkt der Strukturierenden Rechtslehre ist somit ein sprachspielimmanenter. Sie will im Unterschied zur rein deskriptiven Argumentationstheorie weder auf einen kritischen Maßstab vollständig verzichten, noch im Sinne der Theorie des praktischen Diskurses einen philosophischen Rationalitätsmaßstab auf den Gegenstandsbereich des Rechts anwenden. Entgegen solchen Übertragungen von notwendig deduktiver Form versucht die Strukturierende Rechtslehre, induktiv bei den praktischen Problemen anzusetzen. Ein theoretischer Vorgriff ergibt sich dabei aus dem in der Verfassung vorgegebenen Ziel, die praktische Rechtsarbeit sowohl arbeitsfähiger als auch besser kontrollierbar zu machen, kurz: sie zu strukturieren 2 . Die damit eingeforderte Rationalität ist kein philosophisch oder wissenschaftstheoretisch vorgegebener Maßstab 3 , sondern an rechtsstaatliche Prinzipien rückgebunden. Dies führt aber zu der Frage, ob die Verfassung die ihr zugewiesene Rolle als sprachspielimmanenter Rationalitätsmaßstab überhaupt ausfüllen kann. 1.3.1 Die verfassungrechtliche Rückbindung juristischer führt nicht in einen logischen Zirkel
Methodik
Für die herkömmliche Methodenlehre sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Gesetzesbindungspostulats von weitgehend nur deklaratorischer Bedeutung. Der Verfassungsgeber kann höchstens darüber entscheiden, ob die Gesetzesbindung in der fraglichen Rechtsordnung überhaupt gelten soll. Was Gesetzesbindung inhaltlich heißt, ihr Ausmaß und ihre Reichweite, bestimmt sich dagegen allein nach objektiven Vorgegebenheiten, die im Wege der bedeutungstheoretischen Spekulation oder der Ausarbeitung einer Interpretationslehre erfaßt werden sollen 4 . Die Wortlautgrenze als Schranke richterli2
F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 226f., 232, 431 Ebd., S. 18f., 438 4 Vgl. dazu etwa Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 59 f., wo die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gewaltenteilung und Rechtssicherheit nur als nachträgliche Schranken einer vorher über semantische und andere methodische Überle3
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chen Sprechens ist in der Bedeutungsstruktur des Normtextes vorgegeben und damit von politischen Entscheidungen des Verfassungsgebers vollkommen unabhängig. Die Strukturierende Rechtslehre hat diese vom juristischen Legitimationsbedarf diktierte bedeutungstheoretische Spekulation verabschiedet 5. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sind, obwohl sie von Praxis und Wissenschaft präzisiert und weiterentwickelt werden, sowohl für Inhalt als auch Ausmaß und Reichweite der Gesetzesbindung konstitutiv 6 . Der Maßstab juristischer Auslegungstätigkeit läßt sich nicht aus bedeutungstheoretischen Spekulationen oder philosophisch begründeten Interpretations- 7 bzw. Argumentationslehren 8 deduktiv herleiten. Es handelt sich bei diesem Maßstab vielmehr um eine normative Größe 9 , die nur aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben bestimmt werden kann. Die Möglichkeit einer Bindung praktischer Rechtsarbeit verweist auf methodische Standards regulärer Zurechnung an einen vom Gesetzgeber geschaffenen Normwortlaut 1 0 . Die Vielfalt vorkommender und denkbarer methodischer Argumente erlaubt aber eine solche Bindung nur, wenn durch eine politische Grundentscheidung der Verfassung gewisse Mindestanforderungen festgelegt werden können. Aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre stellen die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts Anforderungen dar, denen die Methodik praktischer Rechtsarbeit zu genügen hat 1 1 . Die in der Praxis verwendeten und von der Literatur vorgeschlagenen methodischen Standards können an diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben kritisch überprüft werden. Neben dem Rechtsstaatsprinzip mit seiner doppelten Rationalität 12 im Sinne von Vorhersehbarkeit und Garantie gesellschaftlicher Pluralität sind vor allem der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip als Vorgaben für die praktische Rechtsarbeit von Bedeutung. Im Kontext dieser Prinzipien ist das Gesetzesbindungspostulat als Garantie einer Teilung auch noch der Gewalt zu gungen begründeten Posititon zur Lückenfrage erscheinen. Auch sonst wird in der methodischen Literatur den verfassungsrechtlichen Grundlagen kein sehr breiter Raum zugebilligt; sie dienen eher der Beglaubigung einer unabhängig von ihnen eingenommenen Position. 5 Vgl. dazu F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 32ff., 35 f.; ders., Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. llOf., 114ff. 6 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 13 ff. und öfter 7 Vgl. dazu oben im Text Teil C 2 8 Vgl. dazu oben im Text Teil D 1.1 9
Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 80 f. Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 148 ff. 11 Vgl. dazu oben im Text Teil Β 3.3 12 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 13 ff, 86 ff. 10
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verstehen, die in Texten und deren Interpretation steckt 13 . Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben müssen die methodischen Standards verallgemeinerungsfahig sein und zu vorhersehbaren Entscheidungen beitragen 14 . Diese zentrale Rolle normativer Gesichtspunkte für die Begründung einer Grenze richterlicher Interpretationstätigkeit wirft aber die Frage auf, ob eine verfassungsrechtliche Rückbindung juristischer Methodik überhaupt möglich ist. In der Literatur wird die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Begründung des Rationalitätsmaßstabs praktischer Rechtsarbeit zum Teil verneint: „Die Grenzfunktion des Wortlauts ist nach Müller nicht methodologisch, sondern normativ begründet, d.h. sie ist mit geltenden Rechtsnormen begründet. Demnach sollen geltende Normen das methodologisch Mögliche begrenzen können. Nun ist die These der Grenzfunktion des Wortlauts nichts anderes als eine besondere Umsetzung des rechtsstaatlichen Gesetzesbindungspostulats. Die Gesetzesbindung kommt hier also neben der Rechtsmethode zum Zuge und ist geeignet, diese und damit auch deren Kontrollbereich zu begrenzen. Die Methode wird so durch eine Normbehauptung und eine aus dieser gezogenen Konsequenz begrenzt. Sie müßte aber umgekehrt gerade dazu dienen, Normbehauptungen im Hinblick auf ihre Richtigkeit zu überprüfen" 15 . Im Anschluß an die auch in der Rechtstheorie entwickelte Position des Kritischen Rationalismus 1 6 wird hier die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Rückbindung juristischer Methodik in Abrede gestellt. Die Methode ließe sich nicht durch dogmatische Aussagen aus dem Verfassungsrecht begrenzen, weil dieses vielmehr den Gegenstandsbereich der Methodik bildet. Dieser Einwand verknüpft zwei Argumente: einmal die Behauptung, die verfassungsrechtliche Begründung der Methode führe in einen Zirkel 1 7 , und zum anderen die Behauptung, juristische Methodik gewinne ihren Rationalitätsmaßstab unabhängig vom Verfassungsrecht 18. Schon das Zirkelargument führt aber zu ersten Schwierigkeiten: Wenn man Objekt- und Metasprache unterscheidet 19, wird deutlich, daß eine Begründung 13
Vgl. dazu schon oben Teil A Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 280 und öfter 15 Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267 16 Harenburg stützt sich bei seiner Argumentation auf die Position von Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., insbes. S. 96ff. Vgl. zum Ganzen auch Schlink, Juristische Methodik zwischen Verfassungstheorie und Wissenschaftstheorie, in: Rechtstheorie 1976, S. 94ff. Dazu die Erwiderung von F. Müller, Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., insbes. 285 ff. 14
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Vgl. dazu Schlink, Bemerkungen ..., ebd., S. 96f. Vgl. dazu ebd., S. 97 ff. 19 Vgl. zur Unterscheidung der genannten Sprachstufen: Wank, Objektsprache und Metasprache — Geltungsprobleme bei Verfassungen und Rechtsgeschäften, in: Rechts18
D. Theorie der Rechtserzeugung des Rationalitätsmaßstabs juristischer M e t h o d i k durch das Verfassungsrecht nicht i n einen logischen Z i r k e l führt. Die methodenbezogenen N o r m e n des Verfassungsrechts sind i n bezug auf die D o g m a t i k metasprachliche Aussagen. I h r eigener „ I n h a l t " ist Teil der Objektsprache, u n d seine Gewinnung steht unter den Anforderungen, die v o n der Metasprache definiert werden. Der Anschein v o n Zirkelproblemen entsteht hier nur, wenn m a n abstrakt nach dem A n f a n g dieses Verhältnisses f r a g t 2 0 . A b e r auch dann führt die verfassungsrechtliche R ü c k b i n d u n g der juristischen M e t h o d i k nicht zu einem logischen Zirkel. M a n k a n n nämlich zunächst v o n einem methodisch nicht gesicherten Vorverständnis der Verfassungsnormen ausgehen. Erst nach der Formulierung einer v o n diesen Voraussetzungen ausgehenden M e t h o d i k ist es möglich, die Auffassung der methodenbezogenen N o r m e n selbst zu überprüfen u n d gegebenenfalls zu korrigieren 2 1 . I n diesem Vorgehen liegt kein logischer, sondern höchstens ein hermeneutischer Z i r k e l 2 2 . Entsprechend räumen die a m Kritischen Rationalismus orientierten Rechtstheoretiker dann auch ein, daß der genannte Z i r k e l nicht ganz zu vermeiden i s t 2 3 . Allerdings soll seine Rolle eingeschränkt werden, indem eine v o m Verfassungsrecht unabhängige M ö g l i c h k e i t zur Begründung des Rationalitätsmaßstabs juristischer Methode ergänzend hinzugezogen wird: „Diese Beschräntheorie 1982, S. 465 ff. m.w.N. Zur Diskussion auch Ross, On Self-Reference and a Puzzle in Constitutional Law, in: Mind 1969, S. Iff.; Raz, Professor A. Ross and some Legal Puzzles, in: Mind 1972, S. 415 ff.; Hoerster, On A l f Ross's Alleged Puzzle in Constitutional Law, in: Mind 1972, S. 422ff.; Hart, Self-referring Laws, in: Festschrift für Karl Olivecrona, 1964, S. 307ff.; allgemein auch Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 226ff., m.w.N. aus der wissenschaftstheoretischen und logischen Diskussion. 20 Tatsächlich stellt sich das Problem nicht in dieser Abstraktheit, denn der Verfassungstext wird schon formuliert unter Bezug auf bestimmte Standards der Interpretation, im Kontext einer gegebenen und sich entwickelnden Argumentationskultur. Das sieht man besonders deutlich an dem auch von Schlink in Anschlag gebrachten (vgl. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 101 ff.) genetischen Konkretisierungselement. In den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens werden immer wieder Textvarianten im Vorgriff auf bestimmte Verständnisweisen und die Wirkung bestimmter Konkretisierungselemente verworfen oder geändert. Hier werden deutlich schon bestimmte Standards vorausgesetzt, so daß die Auslegung der methodenbezogenen Normen der Verfassung nicht im leeren Raum beginnt. Das Zirkelargument bezieht seine Plausibilität vor allem daraus, daß man so tut, als stünde man vor den Verfassungsnormen und habe noch absolut keine Vorstellung davon, wie mit Rechtstexten umzugehen sei. 21 Vgl. zu einem ähnlichen Problem des konstruktiven Aufbaus einer Ethik: P. Lorenzen/Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 1973, S. 16 ff. 22 Vgl. dazu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 116ff.; Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192ff., 196 23 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 96f.
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kung (...) weist Verfassungstheorie genau den Platz zu, den Wissenschaftstheorie bei der Erarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit juristischer Erkenntnis nicht mehr ausfüllen kann, der aber doch ausgefüllt werden muß" 2 4 . Hier soll also die Verfassungstheorie neben der Wissenschaftstheorie den Rationalitätsmaßstab juristischer Methodik unabhängig vom geltenden Verfassungsrecht begründen. Es bleibt dann aber zu fragen, ob die genannten Disziplinen mit dieser Aufgabe nicht überfordert werden. 1.3.2 Die Wissenschaftstheorie bietet keinen Rationalitätsmaßstab, der das Verfassungsrecht ersetzen könnte Die Funktion der Wissenschaftstheorie als Grundlage des Rationalitätsmaßstabs juristischer Methodik wird folgendermaßen begründet: „Für die Verpflichtung auf Klarheit, Bestimmtheit und Rationalität juristischer Aussagen braucht entgegen Müller die Methode nicht die Verfassungstheorie und diese nicht den Rechtsstaat zu bemühen; Klarheit, Bestimmtheit und Rationalität sind Bedingungen jeder Erkenntnis, und auch juristische Erkenntnis ist nur um den Preis dieser Bedingungen zu haben." 25 Wenn im folgenden dann die Maßstäbe juristischer Rationalität aus einem an der Theorie Poppers orientierten Falsifikationsmodell abgeleitet werden 26 , gewinnt die eben zitierte Aussage eine spezifische Tendenz. Sie will nämlich dem Leser nahelegen, daß die am Gedanken kritischer Überprüfung orientierten Rationalitätsmaßstäbe einer bestimmten Wissenschaftstheorie als „Bedingungen der Möglichkeit juristischer Erkenntnis" 27 angesehen werden müssen. Damit wären die Juristen, jedenfalls wenn sie sich um Erkenntnis bemühen, „immer schon" kritische Rationalisten. Aber hier gilt es den Kritischen Rationalismus gegen allzu bereitwillige Nachfolge zu verteidigen. Zunächst fällt an dieser Ableitung des Rationalitätsmaßstabs aus der Wissenschaftstheorie auf, daß der Begriff „Rationalität" im Singular auftritt. Dieser Singular wird so verwendet, als stünde sowohl seine eigene Bedeutung wie auch die seines irrationalistischen Gegenteils für jedermann offensichtlich fest. Wenn aber der Begriff Rationalität nicht zur beliebig handhabbaren Schlagwaffe in vordergründigen Polemiken verkommen soll, dann sind hier Differenzierungen erforderlich. Auch aus der Sicht der kritizistischen Wissenschaftstheorie muß man nämlich von einer Rationalität im Plural ausgehen28, von verschiedenen miteinander konkurrierenden Formen. 24
Ebd., S. 97 Ebd. Dieses Argument wird u.a. aufgenommen bei Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 80 26 Vgl. ebd., S. 96ff. zum Falsifikationsmodell und 100ff. zu den einzelnen Instanzen einer Überprüfung. Vgl. zum Ganzen auch Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, Kap. IV, insbes. S. 280 ff. 27 Schlink, ebd., S. 97. Vgl. auch S. 95 zur Abgrenzung gegenüber der Strukturierenden Rechtslehre 28 Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, 1974, S. 74ff. Mit den vorliegenden Ausführungen soll natürlich nur der Aspekt einer Substituierung des Verfassungsrechts 25
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Ebensowenig läßt sich der hier beanspruchte „Alleinvertretungsanspruch" 29 des Fallibilismus für die Vernunft aufrechterhalten, wenn man ihn entlang seiner eigenen Maßstäbe an der Wissenschaftsgeschichte überprüft. Hätte Galilei seine Forschungen an dem Modell kritischer Überprüfung orientiert, dann hätte er seine Theorien schon vor der obrigkeitlichen Drohung mit dem Scheiterhaufen widerrufen müssen 30 . Dieses und andere von Feyerabend entwickelte Beispiele zeigen, daß eben nicht die Rationalität als Bedingun g jeder Erkenntnis im Sinne eines festen Maßstabs vorgegeben ist. Die dargestellte rechtstheoretische Verwertung des wissenschaftstheoretischen Rationalitätsmaßstabs erscheint aber auch aus dem Blickwinkel der „angewendeten" Wissenschaftstheorie selbst heraus als fragwürdig. Der Kritische Rationalismus behauptet gerade nicht, daß die Entscheidung für sein fallibilistisches Modell der Vernunft mit einem „immer schon"-Argument transzendental begründet werden könnte. Mit expliziter Wendung gegen transzendentale Begründungen formuliert etwa Albert: „Die Entscheidung für den Kritischen Rationalismus ist also in diesem Sinne nicht begründbar, wie das Popper richtig festgestellt hat" 3 1 . Die Position des Kritischen Rationalismus begreift sich nicht als Bedingung jeder Erkenntnis, sondern als Vorschlag zu einer bestimmten Form von Rationalität, über den normativ beschlossen werden kann 3 2 . Daß die Rationalität praktischer Rechtsarbeit einer politischen Entscheidung der Verfassung in ihrem Kern entzogen sein soll, erscheint damit als wenig plausibel. Vielmehr ist im Gegenteil die Rationalität einer Rechtskultur ein durch die Verfassung zu entscheidendes politisches Problem, welches durch Praxis und Wissenschaft eingelöst werden muß. Diese politische Entscheidung läßt sich durch die Wissenschaftstheorie weder substituieren noch verdrängen.
durch einen wissenschaftstheoretischen Rationalitätsmaßstab problematisiert werden. Daß im übrigen die Wissenschaftstheorie für die Jurisprudenz sehr fruchtbar sein kann, zeigen gerade die zitierten Arbeiten Schlinks und Harenburgs mit ihrem zukunftsweisenden Ansatz zu einer fallibilistischen Rechtsdogmatik. Die Bedeutung der Wissenschaftstheorie für die kritische Durchleuchtung der Rechtstheorie betont auch F. Müller, Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., 284 und öfter. 29 Vgl. zur Kritik eines solchen Alleinvertretungsanspruchs auch innerhalb des Kritischen Rationalismus: Spinner, ebd., S. 237ff.; ders., Ist der Kritische Rationalismus am Ende?, 1982, S. 80ff., insbes. 82 30 Vgl. dazu Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1976, Kap. 6, S. 108 ff.; weiterhin auch Van de Vate Jr., Das Turmexperiment unter neuem Blickwinkel, in: Duerr (Hrsg.), Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends, Bd. 2, 1981, S. 280ff.; Chalmers, What is this thing called Science?, 2. Aufl. 1982, S. 67ff. 31 Albert, Transzendentale Träumereien, 1975, S. 142 32 Zum Dezisionismus als Strukturmerkmal des Kritischen Rationalismus vgl. Spinner, Gegen Ohne Für Vernunft, Wissenschaft, Demokratie etc. ... Ein Versuch, Feyerabends Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst zu verstehen, in: Duerr (Hrsg.), Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends, Bd. 1, 1980, S. 35ff., 59
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1.3.3 Die Verfassungstheorie führt zurück zum Rationalitätsmaßstab des Verfassungsrechts Wenn demnach die Wissenschaftstheorie als Lieferant und Deduktionsgrund juristischer Rationalität ausscheidet, bleibt als zweiter ins Feld geführter Bezugspunkt nur noch die Verfassungstheorie übrig. Aber auch hier ist fraglich, ob die Verfassungstheorie die ihr aufgebürdete Rolle erfüllen kann. Den Verfechtern dieser Position fällt es sehr schwer, die Behauptung zu begründen, daß eine Theorie der Verfassung vom Recht der Verfassung absehen kann: „Die Etablierung der Basis (...) muß verfassungstheoretisch geleistet werden. Dabei sind Zirkelhaftigkeit und Konsensabhängigkeit unvermeidlich, und ebenso ist es unvermeidlich, daß die verfassungstheoretischen Einsichten, die bei der Etablierung der Basis die tragende Rolle spielen, damit auch eine normative Bedeutung gewinnen (...). Die Einsichten der Verfassungstheorie werden bei der oben skizzierten Methode aber nicht unmittelbar in Normen des Verfassungsrechts umgesetzt" 33 . Tatsächlich kann man eine Verfassungstheorie nicht einfach in Verfassungsrecht umsetzen. Vielmehr muß man verfassungstheoretische Auffassungen am positiven Recht auf ihre Gültigkeit hin überprüfen 34 . Bei Schlink soll aber nur die „unmittelbare Umsetzung" ausgeschlossen werden. Mittelbar soll die Verfassungstheorie durchaus normative Bedeutung gewinnen, und zwar indem sie den Rationalitätsmaßstab praktischer Rechtsarbeit bestimmt. Dabei tritt die Verfassungstheorie an die Stelle der methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts: „Dieser Mangel (des Zirkels zwischen Verfassungsrecht und methodischer Rationalität, R.C.) ist zu beheben, indem die Grenzfunktionsthese als verfassungstheoretische Aussage eingeführt wird" 3 5 . Die in Art. 97 I GG positivrechtlich angeordnete Gesetzesbindung wird hier durch Verfassungstheorie ersetzt. Gegenstand der Interpretation ist nicht mehr der Normtext der Verfassung, wobei die Verfassungstheorie als ein Konkretisierungselement neben anderen von Bedeutung wäre. Sondern Gegenstand der Interpretation ist die Verfassungstheorie, wobei am fernen Horizont auch die Normtexte der Verfassung eine nicht ganz zu vermeidende, aber jedenfalls der Bedeutung nach geringe Rolle spielen 36 : „ I n dieser methodologischen Konzeption ist Verfassungstheorie von grundlegender Bedeutung. Dem verfassungstheoretischen Zugriff erschließt sich sowohl die allgemeine Funktion methodischer Formalität und Rationalität als auch die besondere Aufgabe, die der juristischen Methode durch den Rechtsstaat des Grundgesetzes normativ gestellt sein soll" 3 7 . Hier 33
Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 97 34 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 191 f. 35 Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267 f. 36 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 97. Vgl. auch 95 f. und die Ansätze zu einer vorsichtigen Differenzierung in Fn. 74 und 75 37 Ebd., S. 96 15 Christensen
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wird entgegen anderslautenden Abschwächungen die Verfassungstheorie einseitig zur „Maßgabe für die Bearbeitung des Grundgesetzes" 38 gemacht, denn die Inhalte der Verfassung werden allein von ihr bestimmt und finden in den Normtexten nur ihren unselbständigen Ausdruck. Danach gibt es also eine Verfassungstheorie, die unabhängig vom Verfassungsrecht gefunden werden kann, an diesem auch nicht überprüft werden muß, sondern im Gegenteil dessen Inhalt bestimmt. Wie gewinnt man aber diese von der positiven Rechtslage unabhängige Verfassungstheorie? Hier tauchen nur ganz vage zwei Gesichtspunkte auf: die Betrachtung des Verfassungstyps und die funktionale Rollenverteilung der Rechtsproduzenten 39. Beide Gesichtspunkte lassen sich aber kaum vom positiven Recht abtrennen. Die funktionale Rollenverteilung ist ganz offensichtlich ein politisches Problem, das die Verfassung u.a. mit Hilfe des Gewaltenteilungsgrundsatzes löst, und führt damit sofort wieder in das Verfassungsrecht. Es bleibt also nur noch die Verfassungstypologie, um den vom Verfassungsrecht unabhängigen Rationalitätsmaßstab zu begründen: „Der verfassungstheoretische Ausweis dieser Vorgabe (für die Rationalität praktischer Rechtsarbeit, R.C.) müßte den Verfassungstypus bestimmen, dem das Grundgesetz zugehört. Hieraus könnte dann die Basis entwickelt werden, an der die Aussagen über die Normgehalte nicht nur des Grundgesetzes zu bewähren und zu falsifizieren sind. Dem Normwortlaut oder Norm text z.B. wäre deswegen Basisfunktion zuzuschreiben, weil es sich beim Grundgesetz um eine Verfassungsordnung handelt, in der das Verfassungsrecht kodifiziert ist und in der auch das Unterverfassungsrecht in Normtexten festgelegt wird und verändert werden kann" 4 0 . Die angesprochene Grenzfunktion des Wortlauts ergibt sich allerdings noch nicht aus dem Typ der Verfassung als kodifizierter 41 . Die Grenzfunktion ist vielmehr eine Umsetzung des rechtsstaatlichen Gesetzesbindungspostulats42, das in Art. 1 III, 20 I I I und 971 GG ausgesprochen wird und in Grundsätzen wie dem des Vorrangs des Gesetzes bzw. der Verfassung zum Ausdruck kommt. Die Verfassungstheorie allein ermöglicht die „Etablierung der Basis" nicht. Erst die Anordnung des positiven Verfassungsrechts macht das Argument schlüssig. Und das kann auch nicht anders sein, weil weder typologische Betrachtungen noch gesellschaftliche Systemvergleiche oder andere empirische Betrachtungen zu einem Rationalitätsmaßstab führen, der unabhängig von einer politischen 38
Ebd., S. 97 Vgl. dazu auch noch Harenburg, Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 281 40 Vgl. dazu Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtwissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 94 41 Vgl. etwa das unterschiedliche Ausmaß von Rechtssicherheit und Normklarheit nach der Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz, welches Vorrang und stabilisierende Wirkung der geschriebenen Verfassung durch Verfassungsrecht stärker schützt. Vgl. dazu F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 118 42 Vgl. dazu Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267; F. Müller, ebd., S. 11 39
2. Struktur der Rechtserzeugung
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Entscheidung der Verfassung wäre. Die Entscheidung des politischen Souveräns über die Rationalitätsanforderungen, die er an praktische Rechtsarbeit stellen will, läßt sich durch historische, politologische oder soziologische Betrachtung nicht auf Null reduzieren. Etwas anderes zu behaupten, hieße in den gerade von Popper scharf kritisierten Historizismus 43 verfallen. Diese Schwierigkeiten machen nur den allgemeinen Zusammenhang deutlich, daß Verfassungstheorie als Theorie einer konkreten Verfassung immer auf dogmatische Aussagen hinausläuft. Auch der Umweg über die Verfassungstheorie muß also im Ergebnis zu dogmatischen Aussagen des Verfassungsrechts führen. Das Verfassungsrecht entscheidet damit letztlich auch hier über den Rationalitätsmaßstab praktischer Rechtsarbeit. Die am Kritischen Rationalismus orientierten Rechtstheoretiker können somit weder dartun, daß die verfassungsrechtliche Rückbindung juristischer Methodik in einen logischen Zirkel führt, noch daß es eine andere Möglichkeit gibt, den Rationalitätsmaßstab praktischer Rechtsarbeit zu begründen. Ihre Argumente bestätigen vielmehr ungewollt, daß die Rationalität juristischer Arbeit nur im Wege einer Entscheidung begründet werden kann. Einer Entscheidung, die nicht vom Schreibtisch des wohlmeinenden Theoretikers her erfolgen kann, sondern als Grundfrage vom politischen Souverän beantwortet werden muß. Die methodenbezogenen Normen des Bonner Grundgesetzes stellen eine solche Entscheidung dar. 2. Struktur der Rechtserzeugung: Kann die praktische Rechtsarbeit methodisch strukturiert werden? Im Rahmen der herkömmlichen Rechtsanwendungslehre ist die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns klar beantwortet: Die Geltung des Normtextes verlangt eine Beachtung seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung, und, soweit dies geschieht, reicht auch die Rechtfertigung richterlichen Sprechens. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung werden damit gleichgesetzt. Wenn aber der kategoriale Rahmen einer Rechtsanwendungslehre verlassen wird, treten diese kurzgeschlossenen Probleme wieder auseinander. Denn die Geltung kann dann nicht mehr mit der vorgegebenen Bedeutung in Eins gesetzt werden, und die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handeln bedarf einer neuen Formulierung. 2.1 Legitimationsstruktur: Wie muß die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns gestellt werden?
Die Neuformulierung der Rechtsfertigungsfrage verlangt zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Sprachtheorie des Positivismus, welche legitimatorische Funktionen übernommen hat. 43
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Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, 3. Aufl. 1974
D. Theorie der Rechtserzeugung
2.1.1 Die Sprachtheorie der herkömmlichen Lehre zielt auf Legitimationswissen Die bisherige Diskussion der juristischen Auslegungslehre hat gezeigt, daß Ausgangspunkt ihrer sprachlichen Reflexionen die positivistische Rechtsnormtheorie ist, wonach im Normtext die fertige Rechtsnorm schon vorgegeben ist. Diese apriorische Voraussetzung entfaltet sich über die Annahme einer notwendigen Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung zum Modell einer dem Sprechen vorausgehenden normativen Sprachordnung, welche gleichzeitig das Handeln der Juristen legitimiert 1 . Die notwendige Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung wird in der juristischen Bedeutungsspekulation zumeist mit dem Repräsentationsgedanken begründet. Der Normtext repräsentiert demnach einen ihm zugrundeliegenden Gedanken. Wie alle Menschen schreibt der Gesetzgeber einen Text, weil er etwas mitzuteilen hat, nämlich seine Vorstellungen oder Ideen. Erst jenseits der bloßen Schrift liegt als Meinen, Idee oder gemeinte Idee der volle Sinn des Textes2. Diese geistigen Entitäten gehen dem Schreiben voraus und werden vom Text nur nachgezeichnet oder ausgedrückt. Immer wieder nehmen juristische Methodiker das alte theologische Modell von der Sprache als Kleid des Gedankens auf 3 . Um einen Normtext vollständig zu verstehen, muß der Rechtsanwender den hinter dem Text verborgenen Grundgedanken oder Wert erfassen 4. Diese bis in die theoretischen Reflexionen der Rechtsprechung vorgedrungene Auffassung formuliert ein Oberstes Bundesgericht folgendermaßen: „(...) einer (...) allein auf sprachlicher Interpretation beruhenden Entscheidung würde (...) die innere Überzeugungskraft fehlen. Klarheit über den Inhalt des Gesetzes ist vielmehr nur durch eine Besinnung auf die tragenden Grundgedanken, den Sinn und Zweck der Vorschrift zu gewinnen" 5 . Auch Positionen außerhalb der klassi1
Vgl. zur Legitimationsstruktur der Rechtsarbeit die Darstellung von Friedrich Müller, in: ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, Teil III, Diskussion. Die Legitimationsstruktur kann hier nur insoweit angesprochen werden, als sie zu einer neuen Formulierung der Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns im Zusammenhang der Gesetzesbindung führt. 2 Vgl. zu den schon durch die Alltagssprache nahegelegten metaphysischen Annahmen über das Verhältnis von Schrift, Sprache und Text: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 55 ff. Zur Metaphysik der Präsenz als Kern eines die Stimme gegenüber der Schrift privilegierenden Phonozentrismus vgl. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 1987, S. 540 ff. 3 Vgl. dazu etwa die Formulierung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 194. Aus der Sicht der subjektiven Lehre findet sich eine typische Formulierung des Repräsentationsgedankens etwa bei Roth-Stielow, Umwelt und Recht, in: NJW 1970, S. 257 f., 258, der sogar die Theologen bemüht, um die Sprache als Leib des Geistes darzustellen. 4 Vgl. zum Einfluß der Interessenjurisprudenz und der Wertungsjurisprudenz auf dieses Theorem etwa Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985, S. 337ff. 5 BSG 5, 127ff., 135. Zur Verwendung von Wertgesichtspunkten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht vgl. etwa BVerfGE 7, 198 ff., 215; 27, Iff., 6; 30,
2. Struktur der Rechtserzeugung
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sehen Auslegungslehre teilen mit dieser den Bezug zum Repräsentationsmodell 6 . Wenn in der Methodenliteratur betont wird, daß die Norm nicht im Text liege7, dann nicht um die Erkenntnis auszudrücken, daß die sog. ursprüngliche Bedeutung eines Textes immer ein nachträgliches Erzeugnis des sprachlichen Zeichengebrauchs ist 8 , sondern nur, um sofort im Sinne des Repräsentationsmodells hervorzuheben, daß die Norm „dahinter" 9 liegt als vom Wortlaut bloß Bezeichnetes10. Der Gesetzestext ist demnach „Träger" 11 oder „Ausdruck" des als stabiler Referent hinter ihm stehenden Sinns. Die herkömmliche juristische Methodenlehre reduziert die Frage nach Gegenstand, Reichweite und Struktur der Gesetzesbindung damit auf ein einziges Problem: Eine dem richterlichen Sprechen von der Sprache vorgegebene Bedeutung soll unabhängig von den normativen Anforderungen und Regeln des juristischen Diskurses diese Frage entscheiden. Es geht nicht um ein Gestaltungs-, sondern um ein Erkenntnisproblem. Hat man einmal erkannt, daß der Autor, der Text oder eine Verbindung von beiden die Bedeutung des Textes begründen, so ist über den „Inhalt" des Gesetzes entschieden und damit zugleich auch über Gegenstand, Struktur und Reichweite des Gesetzesbindungpostulats. Die komplexe und von der sprachlichen Aktivität des einzelnen Sprechers gerade nicht unabhängige sprachliche Ordnung wird damit zu einem um Text, Autor oder Idee zentrierten abgeschlossenen Code. Im Hinblick auf die Suche nach einer dem Sprechen objektiv vorgegebenen Bedeutung kann man diese strategische Vorentscheidung der herkömmlichen Lehre als Suche nach einer normativen Sprachordnung bezeichnen.
173 ff., 193. Kritisch zu dieser Tendenz der Verfassungsrechtsprechung: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 48 f.; Böckenförde, Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Low (Hrsg.), Festschrift für Robert Spaemann, 1987, S. Iff., zu den praktischen Konsequenzen dieser Rechtsprechung insbesondere S. 16 ff. 6 Vgl. dazu auch Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 174f. und Fn. 166, der sogar zeichentheoretisch eine Abbild- oder Widerspiegelungstheorie begründen will. 7 Vgl. Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 21 Iff., 214 8 Vgl. dazu Bernet, Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität, in: Orth u.a., Studien zur neueren französischen Phänomenologie: Ricoer, Foucault, Derrida (Phänomenologische Forschungen Bd. 18), S. 51 ff., 58 9
Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 74f. Vgl. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 29, 72 f. und öfter; A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 49 f.; Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 105; Somló, Juristische Grundlehre, 2. Aufl. 1927, S. 379f.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1981, Rdnr. 66 10
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Vgl. die oft zitierte Wendung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 299. Vgl. auch A. Keller, ebd.; Hinderling, ebd.; Roedig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 282
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Die vom Repräsentationsgedanken ausgehende und zur normativen Sprachordnung erweiterte Semantik wird dann deduktiv auf die juristische Textarbeit angewendet12: Auslegung ist danach eine kontinuierliche und homogene Ableitung aus dem sicheren Ursprung einer objektiv vorgegebenen und im Text repräsentierten Bedeutung. Die Auslegung muß „reduktiv" 1 3 auf die Norm schließen. Indem sie das Gesetz präzisiert, drückt sie dessen vorgegebenen Sinn lediglich deutlicher aus, legt sie ihn, wie einen eingerollten Teppich, lediglich aus 14 . Ausgangspunkt für dieses Modell genetischer Derivation ist die alte metaphysische Vorstellung, daß die Schrift die Gegenwart eines Gedankens oder Meinens ersetze 15. Der Text ist demnach Ersatz oder Supplement für die volle Gegenwart des Sinns, welcher in der schriftlichen Mitteilung zum bloßen Zeichen abgeschwächt sein soll 1 6 . Die Aufgabe der Auslegung besteht dann darin, die ursprüngliche Gegenwart des Meinens, Gedankens usw. wiederherzustellen. Der ursprünglich mit sich selbst identische Sinn wird zwar durch die Schrift zunächst um seine Gegenwart gebracht, aber im Wege der Auslegung wird diese Gegenwart wieder restituiert 17 . Die von der positivistischen Rechtsnormtheorie ausgehende und auf die juristische Textarbeit deduktiv angewendete Sprachtheorie erweitert sich damit zu einem Legitimationsmodell juristischen Handelns: Weil die Juristen nur auslegen, was im Text bzw. der Sprache immer schon gesagt war, ist ihr Handeln gerechtfertigt, und etwaige Kritik am schließlich gefundenen Ergebnis kann höchstens auf Rechtsblindheit beruhen. 12 Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 13 ff., der seine Arbeit eröffnet mit einer Diskussion über das Verhältnis von Autor und Text in der Sprachphilosophie und der allgemeinen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik 13 Vgl. dazu Hassold, Struktur der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 21 Iff., 215f.; Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 282 ff. 14 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 299. Kritisch zu diesem Verständnis der juristischen Auslegung: F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 34; ders., , Richter recht', 1986, S. 46 ff. 15 Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 126ff.; ders., Grammatologie, 1983, S. 244ff. Vgl. zum dabei verwendeten Begriff der Schrift auch Brütting, „écriture" und „texte". Die französische Literaturtheorie „nach dem Strukturalismus", 1976, S. 45 ff. 16 Vgl. zu der mit der Entwertung des Zeichens verbundenen Metaphysik: Derrida, Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52ff., 53 ff. Vgl. auch Strasser, Von einer Husserl-Interpretation zur einer HusserlKritik. Nachdenkliches zu Jacques Derridas Denkweg, in: Orth u.a., Studien zur neueren französischen Phänomenologie: Ricoer, Foucault, Derrida (Phänomenologische Forschungen Bd. 18), 1986, S. 130ff., 144f., 160ff. 17 Vgl. dazu die Aufgabenbestimmung der Auslegung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 298 ff., 301: „Gesetz in seiner Wahrheit erkennen". Aus der Sicht der subjektiven Lehre vgl. Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: Engisch-Festschrift, 1969, S. 274ff., 274
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Aber die von der herkömmlichen Lehre hergestellte Verkettung von positivistischer Rechtsnormtheorie, Semantik und Legitimationsmodell weist eine entscheidende Schwachstelle auf: Die ganze Konstruktion beruht auf der Voraussetzung, daß sich eine volle und mit sich selbst identische Textbedeutung als sicherer Ausgangspunkt für weitere Ableitungen nachweisen läßt. Dieser entscheidende Nachweis ist aber nicht gelungen. Die im Rahmen der Rechtswissenschaft betriebene bedeutungstheoretische Spekulation führt nicht zu einem zwingenden Zusammenhang, welcher die Notwendigkeit der gefundenen Auslegung begründen könnte. Weder die Rechtsbegriffe, die juristische Methodik noch die Gerechtigkeitsidee vermochten eine volle Bedeutung als stabilen Bezugspunkt der Auslegung zu erweisen. Damit fallt der gesicherte Ursprung weg, der die Kontinuität der dogmatischen Ableitungen und die Homogenität des juristischen Diskurses gewährleisten sollte. Es wird vielmehr deutlich, daß jede Entscheidung den Normtext einem neuen Kontext aufpfropft 18 , welcher bei Erlaß des Textes nicht vorhersehbar war. Die mangelnde Einlösbarkeit der zur Semantik erweiterten Rechtsnormtheorie hat aber auch Folgen für das von der herkömmlichen Lehre vorausgesetzte Legitimationsmodell. Die Notwendigkeit zur Rechtfertigung juristischen Handelns wird mit dem Hinweis auf die normative Ordnung der Sprache nur scheinbar befriedigt. Denn die im Wege der „Erkenntnis" aus der normativen Ordnung der Sprache hervorgeholten Ergebnisse erweisen sich als vorher in die Sprache hineinprojiziert. Die Berufung auf die sprachliche Ordnung erfüllt nicht die Anforderungen zu einer Rechtfertigung juristischen Handelns, sondern verkürzt die Einlösung dieser Anforderungen zugunsten einer Scheinbegründung. Statt in der Sprache auf die Legitimität ihres Handelns überprüft zu werden, legen die Juristen als Sprachwächter die Bedingungen legitimen Sprechens selbst fest. Die verborgene Einheit von Positivismus und Dezisionismus findet ihre systematische Grundlage in einer Sprachtheorie, welche der ideale juristische Sprecher dem Wildwuchs laienhafter Rede entgegenhalten kann, ohne selbst an deren Standards überprüft werden zu können. Denn sobald man die Ordnung der Sprache unabhängig vom Wildwuchs des Sprechens festlegen will, wird eine subjektive und willkürliche Definition der sprachlichen Ordnung an die Stelle der wirklichen Zusammenhänge gesetzt. Tatsächlich hängt die Ordnung juristischen Sprechens von politischen Grundentscheidungen der Verfassung ab, ist nur in den entsprechenden Formen veränderbar und bedarf der beständigen Überprüfung in der öffentlichen Diskussion. Wenn man diese Ordnung zur normativen Sprachordnung überhöht, entzieht man sie jeglicher Kontrolle und überantwortet sie der Willkür zufalliger Machtkonstellationen. Der Versuch, die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns mittels eines zur Sprachtheorie aufgeblähten Gesetzespositivismus bedeutungstheore18 Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 136
D. Theorie der Rechtserzeugung
tisch zu entscheiden, muß daher als gescheitert angesehen werden. Es gibt keinen von der Sprache objektiv festgelegten Zusammenhang, der das richterliche Sprechen determinieren könnte. 2.1.2 Die Sprachreflexion der Strukturierenden zielt auf Produktionswissen
Rechtslehre
Aus diesem Scheitern läßt sich ableiten, daß die Herangehensweise der herkömmlichen Lehre an die Frage nach den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit umgekehrt werden muß: Man kann nicht eine apriorische Rechtsnormtheorie zu einer normativen Sprachtheorie erweitern und diese als deduktives Modell auf die juristische Textarbeit anwenden. Vielmehr muß man zunächst bei der unvoreingenommenen Analyse der juristischen Textarbeit selbst ansetzen, um so die sprachlichen Bedingungen überhaupt erst zu bestimmen. Erst dann kann man die Rechtsnormtheorie auf eine sichere Grundlage stellen. Die Umkehrung der apriorisch-deduktiven Herangehensweise führt zu der Konsequenz, die Frage nach den Regeln und der Rechtfertigung juristischen Handelns von einem vorausgesetzten Verständnis als Auslegung abzulösen und auf der Ebene praktischer Rechtsarbeit neu zu stellen. Statt nach der Erkenntnis einer im universellen Code vorgegebenen Rechtsnorm zu suchen und sich dabei in unlösbare Aporien zu verstricken, kommt dann der praktische Vorgang der Entscheidung und die Aktivität des Rechtsarbeiters in den Blick. Von den unlösbaren Scheinproblemen des Code-Modells führt der Weg damit zu den wirklichen Problemen der Praxis, welche die kurzschlüssige Verknüpfung von Legitimation und objektiver Textbedeutung nicht zulassen. So konnte schon bei der Untersuchung des Gesetzesbindungspostulats in der juristischen Praxis eine Diskrepanz festgestellt werden zwischen dem, was die Gerichte tun, und dem, was sie zu tun glauben. Praktisch geltende Regeln und ihre theoretische Formulierung stimmten nicht überein. Die Vorschläge zur Regelformulierung bezogen die Gerichte dabei aus der methodischen Literatur. Allerdings konnte sich die juristische Praxis nicht damit begnügen, psychologische Forschungen über einen dem Text zugrundeliegenden Willen des Gesetzgebers anzustellen, den vom Gesetzgeber geschaffenen einmaligen Sinn des Textes nachzuvollziehen oder gar auf die Inspiration durch den objektiven Geist zu warten. Das tatsächliche Vorgehen der Praxis ist wesentlich komplexer als die einlinig gefaßten Konstruktionen, welche die herkömmliche Methodenlehre aus ihren bedeutungstheoretischen Überlegungen ableitete. Während die Gerichte durch Einbeziehung anderer Normtexte oder der Materialien die Textbasis ihrer Entscheidung erweitern und damit die grammatische/systematische Auslegung sowie die historische/genetische Auslegung zur weiteren Profilierung der Bedeutung der fraglichen Ausdruckskette heranziehen, sollten sie von der methodischen Theorie darauf verpflichtet werden, eine hinter dem Gesetz liegende Substanz zu erfassen. Die Praxis juristischer Auslegung vollzieht sich
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damit außerhalb ihrer Theorie, und die Theorie juristischer Auslegung kommt in der Praxis nicht vor. Die Statik einer substantiell gefaßten Bedeutung und die Dynamik eines praktischen Herstellungsprozesses lassen sich auch nicht miteinander vermitteln, sondern als Gegensatz höchstens hinter rhetorischen Fassaden verstecken. Eine Theorie der Praxis muß deswegen den Bezugsrahmen herkömmlicher Methodik aufgeben: Man kann nicht von einer theoretischen Spekulation über die Textbedeutung aus die Regeln der juristischen Auslegung festlegen. Vielmehr gewinnt man umgekehrt über die Bedeutung juristischer Texte dadurch Klarheit, daß man die praktischen Regeln juristischer Textarbeit auf den Begriff bringt. Zu fragen ist nicht, wie die Bedeutungsstruktur juristischer Texte die Regeln der Auslegung determiniert, sondern wie die von den Juristen geübte Praxis der Textarbeit die Bedeutung juristischer Texte konstituiert 19 . Es wird damit deutlich, daß die juristische Textarbeit eine semantische Praxis darstellt. Juristen stehen als praktische Rechtsarbeiter vor dem Problem, ausgehend von einer Sachverhaltserzählung und einem Normtext zu einer Entscheidung zu gelangen20. Die sich aus den Kanones der juristischen Methodik ergebenden Fragerichtungen 21 verknüpfen diese Ausgangstexte mit weiteren Kontexten, um so durch Abgrenzung und Verbindung die Konstitution der Bedeutung des Normtextes zu ermöglichen. Die unvoreingenommene Analyse der juristischen Praxis ermöglicht damit auch eine endlich realistische Einschätzung der sprachlichen Bedingungen juristischen Handelns. Dabei läßt sich das Scheitern des positivistischen Modells an den sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit nicht länger über Mängel oder Unzulänglichkeiten der Sprache rechtfertigen 22 . Vielmehr ist die Vieldeutigkeit und Beweglichkeit, mit der sich die Sprache jeder geschlossenen Herrschaftsordnung entzieht, eine positive Voraussetzung dafür, daß man eine unabgeschlossene Fülle praktischer Streitfragen anhand der wenigen vom Gesetzgeber hergestellten Normtexte diskutieren kann. Statt von den Bedingungen des Subsumtionsmodells her Sprachtheorie zu betreiben, sollte man also die Bindungen richterlichen Handelns in den konkreten Argumentationsprozessen alltäglicher Rechtsarbeit einfordern. Jenseits der von der herkömmlichen Lehre entwickelten bedeutungstheoretischen Spekulation und damit im Diesseits alltäglicher Rechtsarbeit stellt sich nach wie vor das Problem, die verfassungsrechtlich vorausgesetzte Legitimation 19 Vgl. zu dieser Umkehrung der Fragestellung im Anschluß an sprachphilosophische Überlegungen Wittgensteins: F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 34 20 Zu den „Eingangsdaten" der Rechtsarbeit vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 264 21 Zu den Kanones als „abkürzende Bezeichnungen für bestimmte Untersuchungsrichtungen" vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 167 22 Vgl. zum Vorteil der sprachlichen „Schmiegsamkeit" des Rechts: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 44
D. Theorie der Rechtserzeugung
juristischen Handelns praktisch einzulösen. Nachdem die Legitimationsfrage aber von den Voraussetzungen einer zur Sprachtheorie ausgedehnten positivistischen Rechtsnormtheorie abgelöst ist, kann sie im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion neu formuliert werden. 2.1.3 Die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns muß im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion gestellt werden Natürlich haben auch die Vertreter des Positivismus erkannt, daß die herkömmliche Rechtsanwendungslehre weder zur Beschreibung noch zur theoretischen Anleitung der Praxis ausreicht. Trotzdem wurde diese Theorie nicht aufgegeben, sondern sogar gegen Kritik immunisiert: „Da die Reine Rechtslehre nur eine Erkenntnis des gegebenen positiven Rechts, nicht aber eine Vorschrift für seine richtige Erzeugung ist, will sie weder eine Anweisung dafür geben, wie man gute Gesetze macht, noch auch Ratschläge erteilen, wie man aufgrund oder im Rahmen der Gesetze gute Entscheidungen und Verfügungen treffen kann" 2 3 . In dieser Äußerung wird eine Trennung von zwei Bereichen deutlich: Einmal der wissenschaftliche Bereich bloßer Anwendung des vorgegebenen Rechts. Zum andern der irrationale, wissenschaftlich nicht strukturierbare Vorgang der tatsächlichen Erzeugung oder Verwirklichung von Recht. Der im Rahmen des positivistischen Normverständnisses nicht erfaßbare schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit wird damit kurzerhand aus dem Bereich der Wissenschaft hinausgeworfen. Diese Beschränkung wissenschaftlicher Rationalität auf das Statische und die Zuordnung der dynamischen Prozesse der Rechtsverwirklichung zum Bereich des Irrationalen will die Strukturierende Rechtslehre überwinden. Dort wo Kelsen meinte aufhören zu müssen, beginnt für eine in den Augen der Reinen Rechtslehre entschieden „unreine" Theorie erst die Arbeit. Der von der Strukturierenden Rechtslehre vollzogene Paradigma Wechsel zu einem nachpositivistischen Gesamtkonzept stellt das vom positivistischen Geschlossenheitsdogma ausgegrenzte Problem der Erzeugung von Recht ins Zentrum. Der Prozeß der Rechtserzeugung ist von rechtsstaatlichen Anforderungen her zu strukturieren. Ansatzpunkt ist dabei nicht eine abstrakte, unabhängig von der Rechtsverwirklichung erarbeitete Vorstellung von der Rechtsnorm, sondern die konkrete Verwirklichung des Rechts. Die Rechtsnorm ist nicht länger die apriorische Vorgabe 24 einer Rechtsanwendungslehre, sondern gewinnt ihre Struktur unter analytischer Verarbeitung der praktischen Erfahrungen in einer Rechtserzeugungsreflexion 25. 23
Kelsen, Juristischer Formalismus und Reine Rechtslehre, in: JW 1929, S. 1723 ff.,
1726 24 25
F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 194f., 226ff., 233,248, 331 f., 383 f. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 5 und öfter
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Damit kann juristisches Handeln als normorientiertes Entscheiden bestimmt werden. Für eine als Theorie juristischen Handelns verstandene Rechtslehre stellt sich die Aufgabe, die realen Entscheidungsvorgänge strukturell und funktionell auf den Begriff zu bringen 26 . Die Analyse setzt mit einer induktiven Beschreibung der Rechtspraxis an 2 7 . In einem zweiten Erkenntnisschritt wird dann das tatsächliche Vorgehen der Rechtsprechung bei der Lösung konkreter Rechtsfragen gemessen an den verfassungsrechtlich normierten Anforderungen des Rechtsstaatsgebots und anderen methodenrelevanten Normen 2 8 . Die Untersuchung entlang dieser Perspektive, von Friedrich Müller exemplarisch durchgeführt an der Einbeziehung von Wirklichkeitselementen in juristische Entscheidungsvorgänge 29, ergibt, daß der Ist-Zustand praktischer juristischer Tätigkeit weithin noch hinter den rechtsstaatlichen Anforderungen zurückbleibt 30 . Insoweit ist das Vorgehen der Praxis also erst noch auf den Begriff zu bringen, d.h. zu verallgemeinerungsfähigen Strukturen fortzuentwickeln. Erst dann ist den rechtsstaatlichen Anforderungen der Diskutierbarkeit und Überprüfbarkeit juristischer Entscheidungsvorgänge Genüge getan. Die in Gestalt einer dynamischen Rechtsnormtheorie gefaßte Reflexion der Praxis kann dann als arbeitsmethodische Anforderung wieder auf die Praxis zurückwirken. Die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Position erschöpft sich damit nicht in einer Kritik der herkömmlichen Auffassung, sondern mündet in einem neuen Ansatz, der die Bindungen praktischer Rechtsarbeit zwischen den Extremen vollständiger Fremdbestimmung und vollständiger Freistellung des Richters einzufordern versucht. Wenn das positivistische Rechtsanwendungsmodell kritisiert wird, dann setzt eine Rechtserzeugungsreflexion nicht einfach den Dezisionismus als sein abstraktes Gegenteil an diese Stelle 31 . Ihre Kritik am Gesetzespositivismus bezieht sich nicht darauf, daß dieser die praktische Rechtsarbeit überhaupt an das Gesetz binden will, sondern vielmehr darauf, daß er das Problem der Gesetzesbindung an der falschen Stelle aufwirft. Die Fragen, denen das positivistische Modell unterzogen wird, haben nicht das Ziel, die Bindungen praktischer Rechtsarbeit zu zerstören, sondern wollen deren wirklichen Angriffspunkt im juristischen Handeln sichtbar machen. 26
Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 225 f. Vgl. als Beispielsanalyse: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 26 ff. Einzelanalyse mit speziellem Blick auf die Bildung der Rechtsnorm bei dems., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 265 f. 28 Vgl. F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 87 ff., 123 ff., 232ff. 29 Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 114ff. 30 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 12f., 52f., 71 ff., 89, 92 31 Vgl. zur Kritik am Dezisionismus: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 28 ff., 194f., 266f. Zum komplementären Verhältnis von Positivismus und Dezisionismus vgl. schon F. Müller, Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 257ff., 259ff., insbes. 260f. 27
D. Theorie der Rechtserzeugung
Die Entwicklung einer Rechtserzeugungsreflexion verfolgt also ein doppeltes Ziel: Zum einen sollen die Bereiche, die im positivistischen Subsumtionsdenken notwendig unterbelichtet blieben, als schöpferische Komponenten in der Rechtspraxis sichtbar gemacht werden. Zum andern soll die aufgezeigte schöpferische Komponente auch den Bindungen eines demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats unterworfen werden 32 . Mit diesem Ansatz läßt sich genau explizieren, was unter dem oft beschworenen schöpferischen oder „rechtsfortbildenden" Anteil richterlicher Tätigkeit zu verstehen ist: Unveränderlich vorgegeben ist der Konkretisierung 33 nur der Normtext. Die Rechtsnorm muß demgegenüber in einem von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturierten Vorgang erst erzeugt werden. Daher ist richterliche Tätigkeit in jedem Normalfall schon schöpferisch oder normerzeugend. Weil eben die Rechtsnorm mehr und anderes ist als der bloße Normtext, beinhaltet jede Anwendung des Rechts grundsätzlich eine inhaltliche Anreicherung und Fortbildung 34 . Im Rahmen dieser Position kann die schöpferische Komponente praktischer Rechtsarbeit nicht mehr gegen die Gesetzesbindung ausgespielt werden. Richterliches Handeln ist über die bloße Subsumtion hinaus bei jeder sog. Rechtsanwendung ein schöpferischer Vorgang. Nicht der Text des Gesetzes ist automatisches Subjekt des Konkretisierungsvorgangs, sondern eben der praktisch arbeitende Jurist 35 . Die schöpferische Komponente praktischer Rechtsarbeit ist kein besonders zu erklärender Ausnahmefall außerhalb des Gesetzes, sondern sie ist der dem Gesetz nicht fremde Regelfall. Deswegen muß sie nicht außerhalb, sondern innerhalb der Gesetzesbindung diskutiert werden. Der Strukturierenden Rechtslehre gelingt damit eine Präzisierung der Problemstellung: Bisher wurde der schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit ins Jenseits abgeschoben, die Strukturierende Rechtslehre stellt den rechtstheoretischen Rahmen zur Verfügung, um ihn im Diesseits der Gesetzesbindung zu begreifen. Mit der Frage „Wie kann der schöpferische Anteil richterlicher 32 Vgl. zur Entwicklung dieser doppelten Zielvorgabe neben der schon zitierten Literatur noch F. Müller, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 145 ff., 162 f. und öfter. Zutreffend insoweit auch das Referat von Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 153ff., 156f. 33 Vgl. zum Begriff Konkretisierung: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 104ff., 146ff., 198 ff., 264ff.; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 184ff., 195ff, 199 ff.; ders., 'Richterrecht', 1986, S. 46ff. 34 Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 263 ff, 270 f. und öfter. Grundsätzlich zum schöpferischen Charakter der Rechtsverwirklichung schon F. Müller, Normativität und Normstruktur, 1966, S. 46, 192 35 Vgl. zur Diskussion von sprachtheoretischen und kommunikationstheoretischen Voraussetzungen und Grenzen für die Signalwirkung des Normtextes: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 114ff; ders., Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 32ff
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Tätigkeit rechtsstaatlich rückgebunden werden?" ist diese Komponente praktischer Rechtsarbeit nicht länger verdrängt, sondern im Rahmen eines dynamischen und über den Text hinausgehenden Normverständnisses der Diskussion um rechtsstaatliche Kontrollierbarkeit unterworfen. Was bisher als Restgröße nach Abzug des Subsumtionsmodell negativ bestimmt war 3 6 , kann jetzt positiv formuliert werden: Der handelnde Rechtsarbeiter findet den tragenden Leitsatz der Entscheidung, unter den er die Urteilsformel subsumiert, nicht im Normtext oder irgendeiner Ordnung der Gerechtigkeit vor, sondern er formuliert ihn unter Zuhilfenahme der Mittel juristischer Methodik selbst. Die schöpferische Komponente praktischer Rechtsarbeit liegt also positiv formuliert darin, daß der Rechtsarbeiter die Rechtsnorm nicht als vorgegebene Größe einfach anwendet, sondern sie in seinem sprachlichen Handeln aktiv herstellt. In der Spanne, die den vom Gesetzgeber formulierten Normtext von dem durch den Richter formulierten Leitsatz der Enscheidung trennt, muß sich das entfalten, was praktische Rechtsarbeit sinnvoll an Bindungen auferlegt werden kann. Die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns ist damit auf eine neue Grundlage gestellt: Das richterliche Handeln ist nicht legitimiert, weil es unselbständiges Handeln ist, sondern das richterliche Handeln muß sich legitimieren, weil es ein selbständiges und schöpferisches Handeln ist. Und die Maßstäbe dieser Legitimation sind nicht durch die Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen Textbedeutung erfüllt, sondern sie sind im Prozeß der Konstitution von Bedeutung einzulösen. 2.2 Textstruktur: Was heißt Geltung des Normtextes für die Rechtserzeugung?
Die Neuformulierung des Problems einer Rechtfertigung juristischer Entscheidungen führt in der Strukturierenden Rechtslehre zur Unterscheidung von Geltung und Bedeutung des Normtextes. Diese Unterscheidung wird in der Literatur mit verfassungstheoretischen und sprachtheoretischen Erwägungen in Frage gestellt. 2.2.1 Gesetzgebung ist nicht Rechtsnormsetzung, sondern Normtextsetzung Mit verfassungstheoretischen Argumenten will Ingeborg Maus dem Gesetzgeber ein Sinngebungsmonopol für den Normtext zuweisen. Wenn die Strukturierende Rechtslehre dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung noch keine Bedeutung zuerkennt, verstößt sie demnach gegen das Demokratieprinzip: „(...) Friedrich Müller (...) übernimmt von einem kommunikationstheoretischen Verständnis der Rechtssprache die These, juristischen Begriffen in Normtexten eigne nicht Bedeutung, entsprechenden Sätzen nicht Sinn nach der Konzeption eines vorgegebenen Inhalts, der gefunden oder verfehlt werden 36
Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 54 und öfter
D. Theorie der Rechtserzeugung
könnte, und richtet den ,Blick auf die aktive konkretisierende Leistung des Empfängers'. Hierauf bezieht sich ein zentraler Einwand: Eine Normtheorie, die die eigentliche Aktivität der sprachlichen Sinngebung vom Gesetzgeber auf die Rechtspraxis verlagert, hebt ihre eigene Forderung demokratischer Genese der Rechtsentscheidungen auf' 1 . Kann man aber die Forderung nach einer demokratischen Genese von Rechtsentscheidungen wirklich dadurch einlösen, daß man dem Gesetzgeber ein Monopol auf die Aktivität sprachlicher Sinngebung zuschreibt? Die Annahme eines solchen Sinngebungsmonopols setzt eine bestimmte Sicht des Kommunikationsverhältnisses 2 zwischen Gesetzgeber und Rechtsarbeiter voraus. Der Gesetzgeber wird hier mit dem Autor eines Textes gleichgesetzt, und der Autor wird gleichgesetzt mit dem Gravitationszentrum des Textsinns3. Aufgabe des Rechtsanwenders wäre es demnach, die im Text verkörperten Gedanken des Gesetzgebers nachzuvollziehen. Aber gerade dieser Nachvollzug erweist sich in der Praxis als uneinlösbare Fiktion. Der Normtext funktioniert vielmehr gerade dadurch, daß er von einer Bindung durch den „Sender" abgeschnitten ist 4 . Die Leitsätze konkreter Entscheidungen können ihm zugerechnet werden, weil bei jeder neuen Verwendung sein Sinn nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben wird, und weil dadurch der Normtext unter Bruch mit dem ursprünglichen Kontext neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft 5 werden kann. Der Normtext ist also nicht darauf angewiesen, daß ein Autor ihn mit der Fülle seines gegenwärtigen Meinens stützt, sondern er kann im Gegenteil als Zurechnungspunkt konkreter Entscheidung nur funktionieren, weil dies nicht der Fall ist und seine Bedeutung offen ist für Bestimmung und Anreicherung im Rahmen der semantischen Praxis. Führt nun aber der Abschied von den geschilderten kommunikationstheoretischen Vereinfachungen dazu, daß der Gesetzgeber bei der Konkretisierung der von ihm gesetzten Normtexte ganz außerhalb der Betrachtung bleiben muß? U m diese Frage zu beantworten, ist seine Rolle im Prozeß der Rechtsverwirkli1
Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/ Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 153ff., 161 2 Vgl. zum vorausgesetzten Kommunikationsmodell ebd., S. 161 f. Die Forderung, Gesetzgebung und Rechtsanwendung als kommunikatives Verhältnis anzusehen, wird auch erhoben bei Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 99 ff. 3
Vgl. dazu auch oben im Text Teil C Vgl. dazu Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 133 f. Allgemein zur Schrift als originales Supplement: ders., Grammatologie, 1974, S. 536 ff. 4
5 Vgl. zur Herauslösung aus dem Kontext und zur parasitären Aufpfropfung als Dementi einer wörtlichen Bedeutung: Derrida, Signatur..., ebd., S. 136. Vgl. dazu auch Gondek, Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten — Zur Infrastruktur kommunikativer Rationalität, in: Danielzyk/Volz (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne, 1986, S. 104ff., 114f.
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chung zunächst unabhängig von abstrakt 6 vorausgesetzten demokratietheoretischen Postulaten zu betrachten. Dabei ergibt sich, daß der Normtext das Ergebnis eines politischen Entscheidungsprozesses7 ist. Dieser Prozeß führt weder zu einem homogenen gesetzgeberischen Willen noch kann er als einheitliche Handlung mit klar überschaubarer Finalität verstanden werden. Vielmehr ist die Gesetzgebung im parlamentarischen System nur zu begreifen im Rahmen einer Semantik kompetitiven Handelns 8 . In den verschiedenen Stadien des Verfahrens werden dabei einzelne Fallkonstellationen besprochen, bestimmte Formulierungen verworfen und die schließlich verabschiedete Formulierung in einzelnen Aspekten ihrer Verwendungsweise kontrastiv bestimmt 9 . Diese Kontexte 10 können den argumentativen Prozeß der Bedeutungskonstitution des Normtextes über das genetische Konkretisierungselement mitbestimmen. Aber sie können den Prozeß der Bedeutungskonstitution nicht vollständig determinieren und schon gar nicht die Anwendung des Normtextes auf eine unübersehbare Anzahl von Fällen im vorhinein festlegen 11. Deshalb muß man bei realistischer Einschätzung der sprachtheoretischen Bedingungen sagen, daß die Aktivität der Sinngebung auf der Seite des Rechtsarbeiters liegt 12 . Dieser muß zwar das genetische Konkretisierungselement, soweit es überhaupt für die Lösung seiner Probleme einschlägig ist, berücksichtigen, aber trotzdem bleibt der Rechtsarbeiter und nicht der Gesetzgeber Subjekt des Konkretisierungsvorgangs. Wenn man stattdessen den Gesetzgeber zum Subjekt des Sinngebungsprozesses macht, setzt man an die Stelle einer praktischen Einlösung der Forderung nach demokratischer Genese der Rechtsentscheidung eine bloße Fiktion. Erst unter der Voraussetzung, daß man die Möglichkeiten des Gesetzgebers, die Entscheidung eines konkreten Streitfalls zu beeinflussen, realistisch einschätzt, 6 Vgl. zur Kritik an einem bei Maus angesetzten abstrakten Rationalitätsmaßstab, der sich nicht auf die Strukturen der Entscheidungssituation einläßt: Christensen/Kromer, Zurück zum Positivismus?, in: KJ 1983, S. 41 ff., 53 7 Grundsätzlich zum Gesetzgebungsverfahren: F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 270ff., insbes. 271 8 Vgl. dazu ebd., S. 272: „Kampf um Wörter und Formulierungen". Ansätze in diese Richtung bei Autoren, die den politischen Sprachgebrauch insbesondere in Bundestagsdebatten analysieren: vgl. grundsätzlich Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung 9 Vgl. zum genetischen Konkretisierungselement auch Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 101 ff. 10 Vgl. dazu noch unten im Text zum Status der „mitgebrachten Verwendungsweisen" 11 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 138: Der Normtext „soll einen unbestimmten, in die Zukunft hinein weder abgeschlossenen noch abschließbaren Inbegriff praktischer Rechtsfalle regeln. Weder können noch sollen diese Rechtsfälle vom Gesetzgeber qualitativ und quantitativ vor-,vollzogen 4 werden. 44 12 Ebd., S. 139: „Das regelnde Subjekt ist nicht die Norm, sondern ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen."
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läßt sich auch bestimmen, was demokratische Genese der Rechtsentscheidung heißen kann: „Das direkte Setzen von Entscheidungsnormen ist politisch geprägten demokratischen Verfahren in aller Regel entzogen. Es bleiben nur demokratische Entscheidungen im Bereich der öffentlichen Gewalt, die vielfach vermittelt sind, die in solcher Abschwächung das direkte Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen in künftigen Einzelfällen vorweg zu beeinflussen versuchen. Jene die Fälle unmittelbar regelnden Akte sind dem Amtsrecht vorbehalten (...). Die ehrliche Verpflichtung auf eine rationale Arbeitsmethode der Juristen, die sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewußt unterwirft und dadurch ihre Verfassungsbindung zu verwirklichen bestrebt ist, kann dazu führen, daß die in Norm texten formulierten Ergebnisse demokratischer Politik dann auch tatsächlich den Rechtszustand in der Gesellschaft prägen. Das Amtsrecht darf das Volksrecht nicht überspielen, sich nicht von ihm abkoppeln, es nicht auszutricksen versuchen" 13 . Die demokratische Genese der Rechtsentscheidung wird also dadurch gewährleistet, daß die Gerichte die selbstgesetzten Rechts- und Entscheidungsnormen im Rahmen der Standards einer gegebenen Argumentationskultur den vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexten zurechnen. Verletzt wird das Prinzip der demokratischen Genese der Rechtsentscheidung dagegen durch ein gerichtliches Vorgehen, das wie in den spektakulären Fällen des sog. „Richterrechts" die Entscheidungen konkreter Streitfalle selbstformulierten Norm texten zurechnet 14 und damit die demokratisch entstandenen Normtexte überspielt. 2.2.2 Dem Normtext kommt nicht sprachliche Bedeutung, sondern rechtliche Geltung zu Aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive lassen sich gegen die Unterscheidung von Geltung und Bedeutung sprachtheoretische Argumente entwickeln, die an den Begriff des Kommunikationscodes anknüpfen. Von seiner Struktur her privilegiert ein Kommunikationsmodell den Sender, jedoch um den Preis, daß die Möglichkeiten seiner Sinnbestimmung durch den verwendeten Code festgelegt sind 15 . Vermittelt über den Sender ist es dann vor allem der Code, der den Inhalt der mitgeteilten Botschaft festlegt. Auch in der Argumentation von Maus soll nun der Code dazu dienen, die Sinngebungskompetenz der Rechtspraxis auszuschließen. Damit ergibt sich in ihrer Argumentation eine gewisse Verschiebung: Die Sinngebungskompetenz geht damit vom Gesetzgeber auf den sprachlichen Code über. Der Gesetzgeber kann die Rechtsanwendung nur insoweit beeinflussen, als er den sprachlichen Code und das damit gegebene Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit aufnimmt und höchstens präzisiert. Aus der Sicht von Ingeborg Maus 1 6 bestimmt der Gesetzgeber den Sinn des Normtextes vermittels des von ihm verwendeten 13 14 15
F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 90 f. Vgl. ebd., S. 100 Vgl. dazu Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, S. 112f.
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Codes sprachlicher Regeln. Diese sprachlichen Regeln legen ein bestimmtes Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit fest und entscheiden somit, auf welche Fälle der Normtext anzuwenden ist. Danach kann die Rechtspraxis den Sinn des Normtextes nicht aktiv bestimmen, weil dieser Sinn schon durch die Sprachregeln festgelegt ist, die der Gesetzgeber verwendet hat. Diese vom Kommunikationscode ausgehende Überlegung versucht Ingeborg Maus gegen die Strukturierende Rechtslehre zu wenden: „Einem gleichsam sprachlosen Gesetzgeber stünde die rhetorisch kompetente richterliche Rechtsfindung gegenüber — eine Konstellation, die übrigens der Logik entbehrte, da die Kritik vermeintlich ontologischer Sprachauffassungen dem Gesetz abspräche, was sie in der Sprache von Urteilsbegründungen, rechtswissenschaftlicher Literatur oder Methodik für möglich hält" 1 7 . Hier wird also ein Widerspruch behauptet. Einerseits billige die Strukturierende Rechtslehre der Praxis zu, darüber zu entscheiden, ob der Normtext auf den Fall angewendet werden kann, andererseits spreche sie dem Gesetzgeber diese Kompetenz aber ab. Aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre liegt hier aber kein Widerspruch vor, sondern eine Gegenüberstellung der unterschiedlichen Rollen, die Legislative und Judikative im Prozeß der Rechtsverwirklichung spielen. Nicht schon die sprachliche Bedeutung des vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtextes entscheidet darüber, auf welche Fälle dieser Text Anwendung findet, sondern erst die Rechtsprechungspraxis kann in einer unter bestimmten Anforderungen stehenden Kette von Referenzfixierungsakten über diese Anwendung entscheiden. Ein logischer Widerspruch wird aus dieser Gegenüberstellung erst, wenn die von der Strukturierenden Rechtslehre abgelehnte „ontologische Sprachauffassung" zugrundegelegt wird: „Müllers Vermittlung von Sein und Sollen in der Rechtsnorm geht davon aus, daß ein Abgrund zwischen Begriff und unmittelbarer Wirklichkeit zu schließen sei, was die Sprache des Gesetzes angeht, im Konkretisierungsprozeß aber eine Verbindung deshalb zustandekomme, weil Sachgehalte nur als,begriffene' in die Norm eingehen, die Vermittlung also nicht auf der Seite der ,Sachen4, sondern auf der Seite der Sprache vor sich geht" 1 8 . Der Konkretisierungsprozeß muß aus der Sicht von Maus eine Verbindung von Begriff und Wirklichkeit nicht erst herstellen, weil in der Sprache des Gesetzes diese Verbindung immer schon geleistet ist. Dieses Argument setzt die Annahme einer Namenstheorie 19 der Bedeutung voraus. Danach liegt die Bedeutung eines Zeichens darin, daß es für eine Sache 16
Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/ Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 153 ff., 161 f. 17
Ebd., S. 161 Ebd. 19 Vgl. zur Namenstheorie der Bedeutung und ihrer Verwendung in der Jurisprudenz die grundlegende Untersuchung von Schiffauer, der sich in seiner Kritik auf die Ansätze von Wittgenstein bezieht: Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, insbes. S. 80 ff. m.w.N. 18
16 Christensen
D. Theorie der Rechtserzeugung
steht 20 . Diese Bedeutung trägt das Zeichen aber nicht in sich selbst, sondern sie wird als Referenz erst vom Subjekt des Zeichengebrauchs hergestellt. Es wird also ein allgemeines Zeigehandlungsschema durch einen bestimmten Benutzer in einer bestimmten Situation in seiner Referenz präzisiert. Als kommunikationstheoretisches Ideal gilt dabei die ein-eindeutige Relation zwischen sprachlichen Zeichen und sog. außersprachlichen Objekten, welche der Gesetzgeber durch Normierung des Sprachgebrauchs herstellen kann 2 1 . Für die juristische Auslegung folgt daraus, daß sie herausfinden muß, welche Relationen der Gesetzgeber zwischen Zeichen und Sache hergestellt oder präzisiert hat. Vermittelndes Glied ist dabei die Sprachregel, in der sich die Namensgebung durch den Gesetzgeber verkörpert. So wie man bei Kenntnis der Sprachregel weiß, auf welche Gegenstände sich das Zeichen bezieht, so weiß man nach verständiger Lektüre der Normtexte, aufweiche Fälle sie anzuwenden sind. Hat der Gesetzgeber den Taufakt der Namensgebung erst einmal vollzogen, so ist die Referenz endgültig fixiert, und der Rechtspraxis bleibt außer der Erkenntnisanstrengung nichts mehr zu tun. Mit Hilfe dieser Bedeutungstheorie gelangt Ingeborg Maus zu einem Modell der Rechtsanwendung, das zumindest auf den ersten Blick ihren demokratietheoretischen Postulaten besser zu entsprechen scheint als die Analyse der Strukturierenden Rechtslehre: „Was hier (beim Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre, R.C.) freilich ausgeblendet bleibt, ist, daß Gesetzgeber und Rechtsanwender mit gleichen sprachlichen Verwendungsregeln und gleichem Wirklichkeitsverständnis operieren, weil (und sofern) sie sich im gleichen gesellschaftlichen Kontext befinden. Insoweit bilden die gelegentlich große historische Diskrepanz zwischen Gesetzgebung und -anwendung und die Tatsache, daß in abstrakter Zukunftsorientierung und in der Behandlung konkreter abgeschlossener Fälle sich für Normsetzung und -konkretisierung die Wirklichkeit in unterschiedlichem ,Aggregatzustand 4 befindet, das eigentliche Auslegungsproblem, nicht aber die durch unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug vermittelte bzw. sprachtheoretisch begründete Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Richter. Daß eine ,Botschaft 4 des Gesetzes beim anwendenden Juristen nicht ankomme, ist auch nach dem faktischen Ablauf von Gesetzgebungsverfahren kaum zu befürchten, wenn Gesetzesentwürfe von Verwaltungsjuristen erstellt und von Parlamenten verabschiedet werden, die noch immer zu einem hohen Anteil aus Juristen bestehen44 2 2 . Die 20 Vgl. als ausführliche Entfaltung dieser Position auf der Grundlage der Kommunikationstheorie: E. Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 163ff., insbes. 168ff. 21 Vgl. ebd., sowie ders., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., insbes. 395 22 Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/ Blanke/Preuß, Ordnungsmacht, 1981, S. 153 ff., 161 f. Zu der zwischen Gesetzgeber und Richter vermittelnden gemeinsamen Weltsicht vgl. auch Starck, Die Bindung des Richters
2. Struktur der Rechtserzeugung
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gleichen Sprachregeln sollen hier also eine Sinngebung des Normtextes in Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber garantieren. Der Zweck der Sicherstellung eines übereinstimmenden Verständnisses erfordert nicht nur, daß die im Normtext verkörperten Sprachregeln feste und objektiv vorgegebene Größen sind, sondern diese Regeln müssen auch eine gewisse Homogenität aufweisen. Immerhin werden für diese Homogenität Argumente gesucht und auch gewisse Schwierigkeiten zugegeben. Erstens ergeben sich die gleichen sprachlichen Verwendungsregeln und das gleiche Wirklichkeitsverständnis, „weil (und sofern)" Gesetzgeber und Rechtsanwender sich im gleichen gesellschaftlichen Kontext befinden. Dieser über die „Verhältnisse" hergestellte Zusammenhang wird aber zweitens noch durch die Erwägung verstärkt, daß den Rechtsanwendern auf der Seite des Gesetzgebers weitgehend Juristen gegenüberstehen. Die gemeinsame Sozialisation und Professonalisierung 23 scheint sicherzustellen, daß in dem Kommunikationsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter die Botschaft des Gesetzes mitten ins vollständige Verstehen des Rechtsanwenders trifft. Nur zwei Ausnahmen melden sich störend zu Wort: Einmal kann der historische Abstand zwischen Gesetzgebung und Anwendung zu Schwierigkeiten führen, und zum anderen muß man berücksichtigen, daß sich bei zukunftsorientierter Normsetzung und der vergangenheitsbezogenen Konkretisierung die Wirklichkeit in einem unterschiedlichen Aggregatzustand befindet. Beides sind aber Probleme, die mit Hilfe der Auslegung gelöst werden können und eigentlich nur die Decodierung der Botschaft des Gesetzgebers etwas zeitraubender machen. Damit ist alles klassifiziert, und nichts kann die Idylle des Kommunikationsmodells mehr stören. Oder doch? Wie wenn die genannten Schwierigkeiten sich nicht als brave Ausnahmen der biederen Regel fügen wollten? Der gelegentlich große historische Abstand und der unterschiedliche Aggregatzustand stören eine Regel, die folgendermaßen formuliert werden kann: Im Normalfall kommt die Botschaft, die der Gesetzgeber an den Rechtsanwender senden wollte, vermittelt über das Medium des Textes zweifelsfrei an 2 4 . Ausgehend von den Zeichen des Textes, gelangt man zu den „gleichen sprachlichen Verwendungsregeln" und kann so an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 43 ff., 60 ff., 90 Leitsatz 10; zu dem von Maus angesprochenen unterschiedlichen Aggregatzustand vgl. die Gesetzgebung und Rechtsprechung nach ihrer Zeitwirkung differenzierende Analyse bei Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 24 f. m.w.N. 23 Vgl. zur sozialen Charakterisierung der juristischen Sozialisation als Verwissenschaftlichung des Weltbilds der Mittelschicht: Rodingen, Pragmatik juristischer Argumentation, 1977, S. 37 und öfter 24 Diese Regel ließe sich auch für andere juristische Verwendungen und Verkürzungen des Kommunikationsmodells formulieren. Vgl. dazu oben im Text Teil C 2.2.3 die Auseinandersetzung mit Baden und Hegenbarth. 16*
D. Theorie der Rechtserzeugung
den jeweils vorliegenden Fall der zweifelsfreien Botschaft des Gesetzes gemäß entscheiden. Kann die Rechtsanwendung in der Regel des Normalfalls so funktionieren? Der hier als Ausnahme zum Regelfall des Verstehens erwähnte historische Abstand zwischen Gesetzgebung und Rechtsanwendung wurde schon diskutiert. Dabei hat sich gezeigt, daß die Abwesenheit eines den Textsinn garantierenden gegenwärtigen Meinens nicht Ausnahme, sondern konstitutive Bedingung für das Funktionieren des Normtextes ist. Wenn bei älteren Gesetzen Argumente aus der Entstehungsgeschichte häufiger als bei neueren Gesetzen an der Systematik der aktuellen Rechtslage scheitern, so begründet das keine methodische Ausnahmestellung entsprechender Argumente 25 . Genauso ist es mit der zweiten Ausnahme vom Regelfall übereinstimmenden Verstehens. Wenn man den „unterschiedlichen Aggregatzustand" der Wirklichkeit im Normtext und im Prozeß der Konkretisierung als erschwerende Ausnahme ansieht, die mit Hilfe sprachlichen Wissens überwunden werden kann, dann setzt man voraus, daß die Rechtsanwendung lediglich vorgegebene Sprachregeln aktualisiert. Diese Voraussetzung wird aber von der Realität praktischer Rechtsarbeit beständig dementiert. Allein die von Maus angesprochene Botschaft des Gesetzes reicht zur Entscheidung des Falles nicht aus. Denn der Normtext kann die Leitsätze aller künftig zu entscheidenden Fälle nicht in der sprachlichen Bedeutung seiner Oberbegriffe vorwegnehmen. Es ist also nicht einfach ein unterschiedlicher „Aggregatzustand" der Wirklichkeit, der den vom Gesetzgeber formulierten Normtext von den durch den Rechtsarbeiter formulierten Leitsätzen trennt. Schon logisch kann das Allgemeine die mögliche Ausprägung der Einzelfälle nicht vollständig enthalten. Es geht also nicht einfach darum, mittels Auslegung den unterschiedlichen Aggregatzustand der Wirklichkeit von Zukunft in Vergangenheit zu überführen, so wie man mittels Temperaturabsenkung Wasser zu Eis gefrieren kann. Es fehlt vielmehr schon auf der logischen Ebene am Gemeinsamen einer entsprechenden Substanz 26 . Was also bei Maus als Erschwerung des Regelfalls erscheint, ist in Wahrheit selbst der Regelfall. In dieser Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses werden die grundlegenden Probleme der von Maus vorausgesetzten Bedeutungstheorie sichtbar. Die „Namenstheorie" der Bedeutung soll hier garantieren, daß der Rechtsanwender, nachdem er den historischen Abstand und den unterschiedlichen Aggregatzustand der Wirklichkeit überbrückt hat, allein anhand der sprachlichen Regeln des Normtextes feststellen kann, auf welche Fälle das Gesetz anwendbar ist und auf welche nicht. Die Referenzfixierung durch den Gesetzgeber bildet damit die feste Basis der Rechtsanwendung. Indem der Gesetzgeber 25
So aber Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 64ff. Vgl. dazu P. Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 180ff., 187 26
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einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit dem Normtext zuordnet, die Zeichen mit einer Klasse von Gegenständen verknüpft, entscheidet er auch schon über die künftige Anwendung des Textes. Die Vorstellung, daß jemand eine gegebene Klasse von Gegenständen einem Zeichen zuordnet, setzt allerdings die Bedeutung, welche sie erklären will, schon voraus: „Sprechen heißt nicht nur Assoziieren oder ,Wortbilder' verketten, sondern setzt voraus, daß man in geregelter Weise Zeichen als Zeichen von ... verknüpfen und wiedergeben kann. Und dabei spielt vor allem diejenige Regel eine Rolle, die in der signitiven Zusammengehörigkeit eingeschlossen ist. Diese Regeln lassen sich nicht bloß als beschreibende Abstraktion verstehen, die aus dem tatsächlichen Sprechen in einem bestimmten Kollektiv gewonnen wäre, weil ein solches Sprechen ja erst auf der Grundlage jener Regeln stattfinden kann. Der einzelne vermag die Beziehung Zeichen/Objekt nur deshalb zu realisieren, weil die signitive Zusammengehörigkeit und deren Regeln gesellschaftlich instituiert, also nicht ,real' sind und weder im , Realen' noch in der ,Logik' über einen Ort verfügen" 27 . Wenn Maus also sprachliche Bedeutung als Beziehung zwischen den voneinander unabhängig gegebenen Elementen Zeichen und Sache begreifen will, übersieht sie, daß eine solche Bezeichnungsrelation nur auf der Grundlage einer schon gesellschaftlich institutionalisierten Regel funktionieren kann 2 8 . Fundiert ist diese Regel nicht durch sprachunabhängig gegebene Eigenschaften, die einer Klasse von Gegenständen gemeinsam wären, sondern nur durch die Praxis ihrer eigenen Anwendung auf eine prinzipiell unabgeschlossene Klasse von Anwendungsfällen 29 . Die gesellschaftliche Institutionalisierung der Bezeichnungsrelation führt dazu, daß ein Sprecher eine referenzkonstituierende Geschichte immer schon vorfindet und höchstens in diese eingreifen kann. Und selbst wenn sich im Einzelfall eine referenzkonstituierende Einführungshandlung nachweisen ließe 30 , wäre diese nicht aus einer isolierten Beziehung des Zeichens zu den Sachen heraus zu verstehen, sondern immer eingebunden in einen Äußerungszusammenhang und gegebenenfalls eine diskursive Strategie. Weil Maus diese gesellschaftliche Dimension der Referenz nicht erkennt, kann sie auch die Bindung praktischer Rechtsarbeit nicht richtig bestimmen. Der Gesetzgeber konstituiert nicht die Referenz, indem er ein allgemeines Zeigehandlungsschema einem sprachunabhängig gegebenen Sachbereich möglichst präzise zuordnet, sondern er kann nur durch die Profilierung des fraglichen Textes gegenüber anderen Texten in die referenzkonstituierende Geschichte bestimmter Zeichen mit mehr oder weniger großem Erfolg eingreifen 31 . Aber auch dann läßt sich eine gesellschaftlich 27
Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, 1984, S. 421 Vgl. dazu auch ebd., S. 419f. 29 Vgl. dazu Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 79 f. 30 Vgl. dazu Busse, Überlegungen zum Bedeutungswandel, in: Sprache und Literatur, 1986, S. 51 ff., 65 28
D. Theorie der Rechtserzeugung
gegebene Bezeichnungsrelation nicht einfach präzisieren, sondern der Gesetzgeber (Sprecher) muß damit rechnen, daß die Praxis der Referenzkonstitution inhomogen und konfliktbeladen ist 3 2 . Nur unter Voraussetzung einer intentionalistischen Perspektive kann Maus den Versuch unternehmen, die Referenz aus einer monologischen Beziehung eines isolierten Sprechers zur Sache heraus zu begründen. Zwar wird die Sprache von Menschen geschaffen, aber das heißt nicht, daß sie ein bloßes Instrument 33 für die Zwecke eines isolierten Subjekts darstellt. Wie die Spinnweben als Erzeugnis der Spinnen, ist die Sprache das nichtgeplante Ergebnis menschlicher Tätigkeit 34 . Sie weist daher eine gesellschaftliche Dimension auf, welche ihrer instrumentellen Verfügbarkeit Grenzen setzt 35 . Deswegen kann der Gesetzgeber die Referenz des Zeichens nicht einfach aus einer monologischen Beziehung zur Sache heraus konstituieren. Vielmehr muß er, um die referenzkonstituierende Geschichte der Ausdrucksverwendungen zu beeinflussen, an die gesellschaftliche Praxis anknüpfen und die fluktuierenden Regeln in charakteristischen Aspekten profilieren. Die Behauptung von Maus, daß über die Anwendung des Normtextes auf den Fall durch die vom Gesetzgeber verwendeten Sprachregeln schon entschieden sei, verfehlt deswegen die komplexe Beziehung, mit der ein Sprecher an eine gesellschaftlich institutionalisierte Sprachregel anknüpft. Das Referenzverhältnis ist keine von einem Subjekt gestiftete externe Relation zwischen Sprache und Sache. Sprache und Sache sind in der semantischen Praxis der Subjekte vielmehr intern relationiert. Nicht der Normtext kann damit die Referenz fixieren, sondern diese Leistung wird erst durch die semantische Praxis des juristischen Sprachspiels erbracht. Ansatzpunkt für den Versuch, die Gesetzesbindung im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu erfassen, kann deswegen nicht der isolierte Normtext sein. Wenn man mit der Untersuchung der Rechtserzeugung über den Positivismus hinausgelangen will, muß man auch dessen Beschränkung auf den bloßen Text überwinden. Entsprechend bestimmt die Strukturierende Rechtslehre das sprachliche Handeln der Juristen als den entscheidenden Ansatzpunkt für die Bedeutungskonstitution. 31
Vgl. zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Sprachpolitik ebd., S. 61 Vgl. dazu Wimmer, Referenzsemantik, 1979, S. 144 ff. 33 Vgl. zur Kritik am Instrumentalismus juristischer Sprachtheorien: Broekman, Juristischer Diskurs und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 1980, S. 17ff., insbes. S. 19 und öfter 34 Vgl. dazu Popper, Zur Theorie des objektiven Geistes, in: ders., Objektive Erkenntnis, 1974, S. 172ff., 179. Vgl. dazu auch aus linguistischer Sicht R. Keller, Zur Theorie sprachlichen Wandels, in: Z G L 10, 1982, S. Iff. 35 Vgl. dazu Heringer, Not by Nature nor by Intention: The Normative Power of Language and Science, in: Ballmer (Hrsg.), Linguistic Dynamics — Discourses, Procedures and Evolution, 1985, S. 251 ff. 32
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2.2.3 Die Geltungsanforderung richtet sich an das bedeutungskonstituierende Handeln des Rechtsarbeiters Die Frage, ob die Unterscheidung von Geltung und Bedeutung die Rationalität richterlichen Handelns zugunsten einer bloßen Bestätigung der Praxis aufhebe 36 , kann jetzt abschließend beurteilt werden. Maßstab muß dabei sein, inwieweit ein solcher Neuansatz im Unterschied zur klassischen Auffassung des Positivismus die sprachlichen Bedingungen praktischer Rechtsarbeit realistisch einzuschätzen vermag und damit auch den wirklichen Ansatzpunkt der Gesetzesbindung bestimmen kann. Der Versuch, vom spekulativen Textmodell des Gesetzespositivismus zur praktischen Theorie der Textstruktur zu gelangen, kann an den verfassungsrechtlich vorgegebenen Aufgaben der Rechtsprechung ansetzen. Die Aufgabe der in Art. 20 I I I und Art. 92 GG als Staatsgewalt bezeichneten Rechtsprechung besteht in der Ausübung und Rechtfertigung von gesellschaftlicher Gewalt. Recht ist dabei einerseits Instrument von Herrschaft, aber, indem es rechtsförmige Herrschaft spezifischen Formalisierungen unterwirft, auch Instrument zur Begrenzung von Herrschaft 37 . Zentral für diese Formalisierung von Herrschaft durch Recht ist die Sprache, welche Herrschaftsvorgänge der Kommunikation öffnet und damit der Möglichkeit sprachlicher Kritik und sprachlicher Rechtfertigung. Die Rechtsordnung bildet unter der Bedingung des geschriebenen Rechts ein Kontinuum von Texten und wird notfalls durch eine in spezifischen Verfahren wieder sprachvermittelte Gewalt sanktioniert. Der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke der Textstruktur 38 arbeitet in der Sprachform einer rechtsstaatlichen Ordnung bestimmte Unterscheidungen heraus, die es erlauben, das Kontinuum von Texten genauer zu strukturieren. Einmal ist dabei anzuknüpfen an die vom bürgerlichen Rechtsstaat angestrebte Berechenbarkeit des Staatshandelns. Diese doppelte Rationalität, welche nicht nur Herrschaft sichert, sondern auch Kontrollmöglichkeiten eröffnet, führt zu der Unterscheidung von anordnenden und rechtfertigenden Texten. Zum andern ist aber auch der Gedanke der Gewaltenteilung zu berücksichtigen. Danach kann der parlamentarische Gesetzgeber grundsätzlich keine Einzelfalle selbst entscheiden, sondern nur Vorgaben für die Einzelentscheidung durch andere Staatsorgane setzen. Dies führt zur Differenzierung zwischen Normtexten, welche der Gesetzgeber setzt, und den Texten von Rechtsnormen und Entscheidungsnormen, welche sich als Leitsatz bzw. Urteilstenor in den gerichtlichen Urteilen finden 39 . 36
Vgl. Maus, zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/ Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 153 ff., 153 37
Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 95 und
öfter 38
Vgl. dazu ebd., S. 95 ff., sowie ders., ,Richterrecht 4, 1986, S. 92ff.
D. Theorie der Rechtserzeugung
Diese Texte hängen nun in bestimmter Weise miteinander zusammen, wobei die Art und Weise, nach der diese Verknüpfung näher bestimmt wird, die Unterschiede der rechtstheoretischen Schulen bezeichnet. Der Gesetzespositivismus geht davon aus, daß die Rechtsnorm/Entscheidungsnorm im Normtext schon enthalten ist, und deswegen zwischen beiden eine notwendige Verknüpfung besteht, die der rechtfertigende Text lediglich nachträglich darstellt. Dieses geschlossene Modell reduziert die Rechtsanwendung darauf, im Normtext vorgegebene sprachliche Regeln zu befolgen. Es ist darin kein Platz für eine Anreicherung der textuellen Bedeutung vorgesehen, sondern die Auslegungstätigkeit des juristischen Funktionsträgers muß immer auf die als eindeutig gedachte Bedeutungsstruktur des Normtextes zurückführbar sein. Der Normtext als Ort stabiler Sprache steht in einem Eins-zu-einsVerhältnis zu seinem Inhalt, und der Richter muß ihn nur richtig erkennen 40 . Allein der Justizsyllogismus garantiert somit die notwendige Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm/Entscheidungsnorm. Die antipositivistische Doktrin 4 1 stellt demgegenüber zu Recht fest, daß der Justizsyllogismus allein die Notwendigkeit dieser Verknüpfung nicht garantieren kann. Aber daraus folgt für sie nicht die Anerkennung einer gegenstandskonstitutiven Komponente praktischer Rechtsarbeit. Vielmehr hält sie an dem Ziel einer notwendigen und von festen Regeln eindeutig determinierten Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm/Entscheidungsnorm fest. Erweitert wird hier lediglich das Arsenal von Regeln, welche die Verknüpfung sicherstellen sollen. So erscheint etwa bei Larenz an dieser Stelle die Rechtsidee, welche als Zentralregel die gleichmäßige Anwendung des Gesetzes garantiert. Die Theorie des praktischen Diskurses stellt ebenfalls fest, daß der Normtext allein die konkrete Entscheidung nicht vollständig bestimmen kann. Aber auch eine Determination durch die Idee der Gerechtigkeit lehnt sie als nicht einlösbar ab. Damit wird anerkannt, daß die praktische Rechtsarbeit nicht etwa nur Regeln anwendet, sondern auch Regeln hervorbringt. Aber dieses Hervorbringen soll seinerseits im Rahmen einer „anthropologisch tiefsitzenden" kommunikativen Kompetenz begriffen und so in einen regelgenerierenden Mechanismus eingefügt werden. Der schöpferische Anteil der Rechtsarbeit wird damit wieder in ein Begründungsdenken zurückgebogen, so daß sich das Subsumtionsmodell auf einer nochmals erweiterten Grundlage reproduziert. Mit einem zum Gesetzbuch der praktischen Vernunft erweiterten Regelsystem wird versucht, jede konkrete Entscheidung, wenn schon nicht aus dem Gesetz, so doch aus einem das Gesetz umgreifenden Regelwerk der praktischen Vernunft abzuleiten.
39 Vgl. zur Rolle des Gesetzgebers: F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 94, der Unterscheidung von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm die Beispielsanalyse bei F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 265 f. 40 Vgl. Broekman, Text als Institution, in: Rechtstheorie Beiheft 6,1984, S. 145 ff., 160 41 Vgl. zu deren Kritik F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 32ff., 54f. und öfter
. Struktur der Rechtserzeugung
Diese schrittweise Erweiterung der Determinationsbasis läßt aber als zentrales Glied des Gesetzespositivismus den Regelplatonismus unangetastet 42 , welcher jede Handlung entweder als Anwendung oder als Verstoß gegen eine Regel begreift. Auch die regelgenerierende Maschine der Theorie des praktischen Diskurses soll als zentrales Signifikat der Rechtsfindung nach wie vor sicherstellen, daß eine konkrete Interpretationsbehauptung entweder als Anwendung oder als Verstoß gegen Regeln beurteilt werden kann. Selbst in seiner entwickeltsten Form als Theorie des praktischen Diskurses bleibt dieses Denken noch einem Textmodell verhaftet, das aus dem sakralen Bereich in die Jurisprudenz eingewandert ist 4 3 . Danach gibt es ursprüngliche, echte oder offenbarte Texte und abgeleitete, sekundäre Kommentare. Die Auslegung muß dann mittels eines Wahrheitskriteriums kontrollieren, ob der abgeleitete Text den Inhalt des primären Textes verfehlt oder trifft. Tatsächlich können die vorgeschlagenen Wahrheitskriterien als Syllogismus, Gerechtigkeitsidee oder praktischer Diskurs aber die versprochene Leistung nicht erbringen. Denn Textarbeit oder konkretes Sprechen fügt sich eben nicht dem einfach gedachten Schema von Regelanwendung und Regelverletzung. Weil Regelverfehlung kein dem Sprechen äußerlicher, klar abgegrenzter Bereich ist, sondern als strukturelle Möglichkeit der Verschiebung konstitutiv für jede Wiederholung einer Regel, hat die Strukturierende Rechtslehre das apriorische Textmodell einer notwendigen Verknüpfung zwischen Normtext und Rechtsnorm/Entscheidungsnorm aufgegeben. Sie untersucht stattdessen die wirkliche Textarbeit in der Jurisprudenz entlang der Frage, was tatsächlich geschieht, wenn eine Rechtsordnung in Geltung ist 4 4 . Was gewinnt man mit diesem verfassungsrechtlich rückgebundenen Ansatz einer empirischen Analyse für die Beantwortung der Frage nach den Bindungen praktischer Rechtsarbeit? Zunächst ist mit der realistischen Einschätzung der Textstruktur die Stelle sichtbar gemacht, an welcher sich die Intentionalität des Rechtsarbeiters in den Text des Rechts einschreiben kann. Diese als Sprachnormierung begriffene Einschreibung kann zwar keiner geschlossenen Regeldetermination unterworfen werden, aber doch einem System historisch-relativer Bindungen aus dem Rechtsstaatsprinzip und anderen methodenrelevanten Normen. Der Rechtsarbeiter ist bei seinem Tun nicht einfach frei oder lediglich einer verinnerlichten Rechtsethik verpflichtet 45 . Er ist vielmehr an eine Ensemble von Direktiven gebunden, dessen formalisierbaren Teil die juristische Methodik untersucht und 42
Ebd., S. 32 Vgl. zu Parallelen zwischen theologischer und juristischer Denkweise im „Offenbarungsmodeir der Erkenntnis: Albert, Erkenntnis und Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, 1972, S. 80ff., 82f. 43
44 45
F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 15 F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 76
D. Theorie der Rechtserzeugung
präzisiert. Damit werden die normativen Grundlagen und die tatsächliche Verfaßtheit dessen herausgearbeitet, was man als Erkenntnisregel 40 von Recht unter rechtsstaatlichen Bedingungen bezeichnen könnte. Auf dieser Grundlage einer am immanenten Rationalitätsmaßstab des juristischen Sprachspiels orientierten Argumentationstheorie kann auch die Frage nach der Gesetzesbindung neu gestellt werden. Das Bindungspostulat, das bisher dadurch gesichert werden sollte, daß man die Texttheorie auf die Bedürfnisse juristischen Entscheidens zugeschnitten hat, verwandelt sich damit in das spezifisch juristische Problem einer normativen Anforderung an den Prozeß der Rechtserzeugung. Der Ort, an dem die Frage nach der Gesetzesbindung gestellt werden muß, ist damit nicht eine von den Anforderungen des Positivismus diktierte Theorie sprachlicher Bedeutung, sondern die praktische semantische Tätigkeit der Juristen. An die Stelle illusionärer Bindungen, die das richterliche Sprechen vollständig determinieren sollen, treten damit praktische Bindungen, die in den Prozessen der Bedeutungszuweisung und Aushandlung den Sprachkampf um die Satzverknüpfung kontrollierbar und diskutierbar machen. Im Rahmen einer Rechtserzeugungstheorie kann die sprachtheoretische Reflexion damit neben ihrer kritischen auch eine konstruktive Funktion entfalten 47 . Die kritische Funktion führt zunächst zu der desillusionierenden Feststellung, daß weder der Gesetzgeber noch der Normtext die Entscheidung eines konkreten Streitfalls vollständig determinieren können. Damit wird aber im doppelten Sinn der praktisch handelnde Rechtsarbeiter zur entscheidenden Instanz. In der semantischen Praxis seines Sprachhandelns kann die sprachtheoretische Reflexion Ansatzpunkte und Strukturen einer Bindung praktischer Rechtsarbeit sichtbar machen. Darin liegt die konstruktive Seite einer sprachtheoretischen Reflexion des juristischen Handelns, welche innerhalb der Jurisprudenz durch eine Rechtserzeugungstheorie aufgenommen werden kann. Es wird daran deutlich, daß die Strukturierende Rechtslehre die Rechtsarbeit nicht bloß bestätigend verdoppelt, sondern im Gegenteil den Ansatzpunkt wirklicher Bindungen im juristischen Handeln sichtbar machen kann. Die unfruchtbare Alternative von Positivismus und Dezisionismus, von Auslegungsrhetorik und freirechtlicher Praxis kann damit überwunden werden. Dabei zeigt sich die Überlegenheit einer Rechtserzeugungsreflexion gegenüber einer Rechtsanwendungslehre praktisch in der Diskussion um die Bindungen richterlichen Handelns: Die herkömmliche Lehre hatte hier zwei Bereiche unterschieden: Einmal den Bereich der Gesetzesbindung, wo der Richter auf den passiven Vollzug des Gesetzessinns beschränkt sein soll. Zum andern den Bereich des „Richterrechts", worin der Richter schöpferisch handelt und selbst 46
Vgl. zum Begriff der Erkenntnisregel: Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 142ff. Vgl. dazu am praktischen Beispiel der Zusammenarbeit von Rechtswissenschaftlern und Sprachwissenschaftlern auch F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989 47
2. Struktur der Rechtserzeugung
251
Recht setzt. Eine Rechtserzeugungsreflexion kann diese „Zweiweltenlehre" durch eine Präzisierung der Problemstellung überwinden. Der Richter ist Rechtsetzer, aber Rechtsetzer zweiter Stufe 48 . Das heißt die Rechtsnorm ist ihm nicht vorgegeben, sondern wird von ihm hergestellt. Aber er muß die von ihm hergestellte Rechtsnorm dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext zurechnen. Darin liegt die Geltungsanforderung des Normtextes, die über Art. 971 und andere Normen eine richterliche Dienstpflicht darstellt 49 . Geltung ist aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre etwas, „das dem »geltenden Recht', das heißt: der Normtextmenge (der Gesamtheit aller Normwortlaute in den Gesetzbüchern) zugeschrieben wird. Die Geltungsanordnung besteht darin, Rechtspflichten zu erzeugen: gegenüber den Normadressaten im allgemeinen darin, sich in ihrem Verhalten, soweit die Normtexte für dieses einschlägig erscheinen, an diesen verbindlich zu orientieren; und gegenüber den zur Entscheidung berufenen Juristen im Sinn einer Dienstpflicht, diese Normtexte, soweit für den Entscheidungsfall passend, zu Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit zu machen, sie also für das Erarbeiten einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm tatsächlich heranzuziehen und methodisch korrekt zu berücksichtigen" 50 . Obwohl der Richter also die Rechtsnorm selbst herstellt, ist er bei diesem Vorgang Bindungen unterworfen, die durch das Verfassungsrecht begründet sind und die von Rechtstheorie und juristischer Methodik formuliert und präzisiert werden. Das Konzept der Textstruktur erlaubt damit eine genauere Bestimmung des Ansatzpunktes richterlicher Bindungen. Während die herkömmliche Lehre Geltung und Bedeutung des Normtextes sowie Rechtfertigung juristischen Handelns in eins setzen, kann die Strukturierende Rechtslehre hier Differenzierungen sichtbar machen. Geltung kommt dem Normtext zu, insoweit er als Eingangsdatum des Konkretisierungsprozesses herangezogen werden muß. Seine Bedeutung steht demgegenüber nicht schon am Anfang, sondern erst am Ende des Konkretisierungsprozesses fest. Und die Frage, ob die vom juristischen Handeln konstituierte Bedeutung einer Rechtfertigung fähig ist, entscheidet sich nicht auf der Ebene semantischer Theorie, sondern anhand der spezifisch juristischen Legitimationsmaßstäbe in der semantischen Praxis.
2.3 Nonnstruktur: Können methodische Bindungen auf den Prozeß der Konstitution von Bedeutung bezogen werden?
Die Frage nach den Bindungen praktischer Rechtsarbeit entscheidet sich nicht auf der sprachlichen, sondern einer spezifisch juristischen Ebene. Auch auf 48 Vgl. zu diesem Stichwort als Kennzeichnung des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Modells: Sendler, Richterrecht — rechtstheoretisch und rechtspraktisch, in: NJW 1987, S. 3240 fT., 3240 49 50
Vgl. F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 51 Ebd.
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D. Theorie der Rechtserzeugung
dem Gebiet der Rechtstheorie gibt es allerdings eine Diskussion zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zur Entwicklung einer Rechtserzeugungstheorie. Diese Diskussion betrifft sowohl die rechtsnormtheoretischen Voraussetzungen der Gesetzesbindung als auch die Möglichkeit einer Bindung durch die juristische Methodik. 2.3.1 Die Bindungen entfalten sich im Prozeß der Herstellung einer Rechtsnorm In der Literatur wird der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Gedanke einer Rechtserzeugungsreflexion zum Teil aufgenommen, aber zugleich in spezifischer Weise eingeschränkt. So zieht etwa Peter Römer die Folgerung, „daß die Rechtswissenschaft zugleich ,Rechtserzeugungswissenschaft 4 zu sein hätte — eine Rechtserzeugungswissensch&ft und nicht lediglich eine Gesetzgebungswissenschaft, weil Recht nicht nur auf der Stufe der Gesetzgebung erzeugt wird ( . . . ) 4 4 D a b e i nennt er den bei Friedrich Müller aufgenommenen Terminus „Rechtserzeugungswissenschaft 44 einen „treffenden Ausdruck 442 , fügt aber hinzu, daß die Strukturierende Rechtslehre die Steuerungskraft der Rechtsnorm für die Rechtsanwendung unterschätze. U m die Gefahr zu vermeiden, daß der Richter zum Nebengesetzgeber kraft eigener Machtvollkommenheit werde 3 , müsse der Gedanke der Rechtserzeugungswissenschaft auf die Grundlage der Rechtsnormtheorie von Kelsen gestellt werden. Tatsächlich wurde, schon bevor Friedrich Müller das Programm einer Rechtserzeugungsreflexion entwickelt hatte, das Phänomen der Rechtserzeugung im Rahmen der Reinen Rechtslehre wahrgenommen: „Die auf dem Boden des anglo-amerikanischen ,Common Law 4 erwachsene Theorie, daß nur die Gerichte Recht erzeugen, ist ebenso einseitig wie die auf dem Boden des europäisch-kontinentalen Gesetzesrechts erwachsene Theorie, daß die Gerichte überhaupt kein Recht erzeugen, sondern nur schon geschaffenes Recht anwen1 P. Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 180ff., 196 2 Ebd., S. 209, Fn. 84 3 Ähnlich die allerdings vorwiegend sprachtheoretisch begründeten Bedenken bei Maus: „Diese Konzeption einer Methodologie indessen steht und fallt mit der Rechtsnormtheorie, auf der sie beruht. Ihr zufolge ist das Normprogramm im Wortlaut der Norm nur so unvollkommen enthalten, daß es nur im Ablauf des gesamten Konkretisierungsprozesses, einschließlich der Normbereichsanalyse zu erarbeiten ist. Damit aber würde der eruierte Wortsinn zum Ergebnis der Auslegung statt zu ihrer Grenze". Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: ebd., S. 153 ff., 161. Die Suche nach der von der Sprache vorgegebenen Wortlautgrenze zeigt hier das Festhalten am Positivismus, was oben anhand der Diskussion der sprachtheoretischen Prämissen schon festgestellt werden konnte. Vgl. im übrigen zur Auseinandersetzung mit der Position von Maus auch F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 293 f., 341 f., 351 f., 374; sowie Christensen/Kromer, Zurück zum Positivismus?, in: KJ 1983, S. 41 ff.
2. Struktur der Rechtserzeugung
253
den. Diese Theorie läuft darauf hinaus, daß es nur generelle, jene, daß es nur individuelle Rechtsnormen gebe. Die Wahrheit liegt in der Mitte (...). Die richterliche Entscheidung ist die Fortsetzung, nicht der Beginn des Rechtserzeugungsprozesses" 4. Hier wird die Realität richterlicher Rechtserzeugung anerkannt. Aber diese klare Wahrnehmung der Rechtserzeugung bleibt in der Reinen Rechtslehre ohne Folgen, weil sie die Rechtserzeugung als irrationale Dezision aus dem Bereich der Wissenschaft ausgrenzt: „Was wir — und zwar mit gutem Grunde — unter dem Titel der Rechtswissenschaft betreiben, ist im Grunde nur eine Wissenschaft vom Gesetze. Die Wissenschaft vom Gesetze kann nicht mehr beinhalten, als das Gesetz beinhaltet" 5 . Heute ist allerdings die Rechtserzeugung auch bei Positionen, die sich um eine Weiterentwicklung der Reinen Rechtslehre bemühen, als ein wissenschaftliches Problem anerkannt. Jedoch wirken dabei die Prämissen der positivistischen Rechtsnormtheorie als spezifische Schranken weiter. Denn der Mittelweg zwischen der Fiktion einer vollständig determinierten Rechtsanwendung und einer bindungslosen Rechtsetzung soll dadurch gefunden werden, daß man im Wege einer äußeren, etwa stufenförmigen Zuordnung beide Bereiche miteinander kombiniert. Der von Kelsen mit der „generellen Norm" gleichgesetzte Normtext soll dabei eine Rahmenfunktion für die Erzeugung der sog. „individuellen Norm" haben: „Die Bestimmung des Rahmens ist nur die erste, notwendige und wichtige Stufe des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; ihm müssen sich weitere Stufen anschließen, die mit anderen sozialwissenschaftlichen Methoden diesen Prozeß fortsetzen" 6 . Die positivistische Rechtsnormtheorie definiert damit den Rahmen der Rechtserkenntnis, während die Rechtserzeugungswissenschaft ihren Gegenstand in den diesen Rahmen ausfüllenden „Willenselementen" findet. In der Reinen Rechtslehre bleibt die Rahmenfunktion der Rechtsnorm, wie Römer selbst feststellt 7, allerdings ein bloßes Bild. Die Probleme dieser positivistischen Anbindung einer Rechtserzeugungsreflexion treten deshalb erst dort hervor, wo man sich um die rechtstheoretische und methodische Einlösung der Metapher von der Rechtsnorm als Rahmen der Rechtserzeugung bemüht. Diesen Anforderungen stellt sich der Ansatz Harenburgs, der die Rahmenmetapher dadurch einlösen will, daß er den positivistisch verstandenen Inhalt der Rechtsnorm als falsifizierende Instanz für die Prozesse der Rechtserzeugung begreifen will. Auch hier wird unter dem Stichwort der „normativen 4
Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 260 Merkel, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, in: Klecatsky/ Marcic/Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1968, S. 1167 ff., 1178 6 P. Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 180 ff., 197. Römer arbeitet klar das Scheitern des Positivismus an der Rechtserzeugung heraus, ohne allerdings die Notwendigkeit eines nachpositivistischen Neuansatzes zuzugestehen. Zur Strukturierenden Rechtslehre als prononciert nachpositivistischen Standpunkt vgl.: Chr. Müller, Die Bekenntnispflicht des Beamten, in: ebd., S. 21 Iff., 212 7 P. Römer, ebd., S. 199 5
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Produktion" 8 der Gedanke der Rechtserzeugung zunächst aufgenommen, um dann in spezifischer Weise modifiziert zu werden: „ D a es der Rechtsarbeiter ist, der entscheidet und die Rechtsnorm nicht vorentschieden hat, ist er es auch, der das geltende Recht in seiner Normumsetzung erst erzeugt" 9 . Fraglich ist allerdings, was man sich unter dem Stichwort „Normumsetzung" vorstellen soll. Heißt dies lediglich, daß der Rechtsarbeiter gewissen Bindungen an den Normtext und methodischen Standards unterliegt, oder ist ihm die zu erzeugende Rechtsnorm auch schon in irgendeiner unvollständigen Weise im Text vorgegeben? Der Fortgang der Argumentation macht deutlich, daß die zweite, den Abstand zum Positivismus wieder aufhebende Variante gemeint ist: „Sofern die (...) These, daß die Rechtsnorm keinen substantiell erfaßbaren Inhalt habe, besagen soll, daß die in verbindlichen Rechtstexten formulierte Norm noch keinen normativen Gehalt hat, dürfte sie zu stark sein" 10 . Und kurz darauf wird explizit die Annahme formuliert: „(...), daß die in verbindlichen Rechtstexten formulierten Normen durchaus schon normativen Gehalt haben und insofern auch Normen sein können. Wichtig und festzuhalten ist jedoch, daß unter der Perspektive der Rechtsproduktion im Verbund von Gesetzgebung und Rechtsprechung diese Normen nicht als etwas Vorentschiedenes nur zu ermitteln und anzuwenden, sondern in der weiteren Rechtsarbeit erst zu erarbeiten und auszugestalten sind" 1 1 . Diese „in Anlehnung an die Normtheorie von Müller" 1 2 entwickelte Position fallt allerdings hinter die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Rechtsnormtheorie zurück. Denn Harenburg geht deutlich von einer lex ante casum 13 aus, deren vorausgesetzte Geltungssubstanz eben nur noch nicht vollständig ist im Hinblick auf den zu lösenden Fall und deswegen durch dogmatische Aussagen ergänzt werden muß. Die herkömmliche Lehre von der Anwendung einer im Text vorgegebenen Rechtsnorm wird damit in ihrer Reichweite nur eingeschränkt, nicht aber zugunsten einer Rechtserzeugungsreflexion überwunden. M i t der Gleichsetzung von Normtext und (noch unentfalteter) Rechtsnorm bleibt dieser Ansatz letztlich doch im Rahmen der herkömmlichen rechtsnormtheoretischen Doktrin. Entsprechend wird auch die der Dogmatik zugewiesene Rolle normativer Produktion eingeschänkt. Ziel der Dogmatik soll es sein, das positive Recht zu ermitteln und das aufgrund des positiven Rechts geltende Recht zu erkennen. Danach gibt es also normative Gehalte, die einem 8 Vgl. zu diesem Stichwort: Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 6 und öfter. Vgl. auch zusammenfassend zur arbeitsteiligen Rechtsproduktion: ebd., S. 363 ff. 9 Ebd., S. 275 10 Ebd. 11 Ebd., S. 279 12 Ebd., S. 278. 13 Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S.
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aussageunabhängig bestimmbaren Gegenstand geltendes Recht in deskriptivempirischer Weise entnommen werden können und jeder normativen Produktion vorausgehen 14. Damit kehrt die nur scheinbar antipositivistische Zweiweltenlehre wieder, welche mit ihrem dualistischen Denken die Prämissen des Positivismus nicht überwindet, sondern nur verdoppelt 15 . Harenburg glaubt an der Theorie einer zumindest teilweise im Text vorgegebenen Rechtsnorm festhalten zu müssen, weil er befürchtet, der richterlichen Bindung sonst ihren Gegenstand zu entziehen. M i t dem Ziel, der richterlichen Bindung einen festen Bezugspunkt zu verschaffen, formuliert er: „Soweit diese Norm solchen (normativen, R.C.) Gehalt hat, kann sie auch mögliche Zurechnungen beschränken" 16 . Damit trifft sich der Ansatz Harenburgs mit dem Programm einer um die Rechtserzeugungswissenschaft ergänzten Reinen Rechtslehre. Die im Ansatz richtige Bestimmung des richterlichen Handelns wird in den zu engen Rahmen der positivistischen Rechtsnormtheorie gepreßt: „RechtsanWendung ist ein Vorgang des ,law in making', des ,law in action' und bleibt doch positivistisch gebunden an die höherrangige N o r m " 1 7 . Zu unterstreichen wäre hier das Wort „positivistisch". Die für eine Rechtsanwendungslehre entwickelte positivistische Theorie der Gesetzesbindung soll auch für eine Rechtserzeugungsreflexion den äußeren Rahmen richterlicher Bindung definieren. Aber warum soll man, wenn die Unzulänglichkeit des positivistischen Rechtsanwendungsmodells einmal erkannt ist, noch an der für dieses Modell gedachten Theorie der Gesetzesbindung festhalten? Wäre es nicht notwendig, im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion das Problem der Gesetzesbindung neu zu durchdenken? Diese Konsequenz zieht die Strukturierende Rechtslehre. Wenn die auf ihrer Grundlage entwickelte Rechtserzeugungsreflexion eine substantielle Bedeutung des Normtextes ablehnt, heißt dies nicht, daß das richterliche Handeln damit den Gegenstand seiner Bindung verliert. Denn Gegenstand der Bindung ist nicht der Text als Bedeutung, sondern der Text als Zeichenfolge. Wenn die Fiktion einer objektiv vorgegebenen Bedeutung verabschiedet ist, kann dieser Normtext in seiner Funktion als Durchzugsgebiet für konkurrierende Interpretationen 14 Vgl. zu dieser Zweiteilung: Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 44: „Eine dogmatische Aussage ist demgemäß die Behauptung einer Rechtsregel bzw. einer Norm, für die der Anspruch rechtlicher Geltung erhoben wird und die dem Gesetz in deskriptiv-empirischer Interpretation nicht zu entnehmen ist". Zum Ziel der Dogmatik allgemein vgl. S. 270 f. 15 Zu beachten ist allerdings, daß die Schwierigkeiten der Positivismuskritik bei Harenburg von dessen eigenen Voraussetzungen her kritisierbar sind und insoweit als Inkonsequenzen angesehen werden müssen, die vom Begriff der normativen Produktion her zu überwinden wären. 16 Vgl. dazu ebd., S. 275 17 P. Römer, Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 180ff., 198
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D. Theorie der Rechtserzeugung
erkannt werden. Unter rechtsstaatlichen Bedingungen wird sich dabei die Interpretation durchsetzen, welche das vom Text und den methodischen Vorgaben bestimmte Gelände am besten zu nutzen weiß. Dieses Modell einer Bindung an das Gesetz als Zeichenfolge hat gegenüber dem herkömmlichen Verständnis zwei Vorteile: Einmal kann klargestellt werden, daß die Formulierung eines Leitsatzes nie reiner Erkenntnisakt, sondern Gestaltungsakt oder Erzeugen von Recht ist. Zum andern wird deutlich gemacht, daß der Leitsatz als eine Interpretation des Normtextes neben anderen nicht den fraglosen Geltungsanspruch einer objektiv vorgegebenen Bedeutung hat. Während also das Modell einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes den Konflikt der Interpretationen hinter einer scheinbar objektiven Bedeutung des Normtextes verstecken will, kann das Modell einer Bindung an das Gesetz als Zeichenkette den Sprachkampfund die in der Entscheidung steckende Gewalt 18 sichtbar machen. Nur so kann diese gewaltenhemmenden Mechanismen der juristischen Methodik unterworfen werden. Es ergibt sich damit auf der Ebene der Rechtsnormtheorie, daß das Gesetzesbindungspostulat nur dann eingelöst werden kann, wenn man von der positivistischen Theorie einer ganz oder teilweise im Text schon vorgegebenen Rechtsnorm abgeht. 2.3.2 Die Bindungen werden von einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik formuliert Aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre sollen methodische Standards den Argumentationsprozeß kontrollierbar machen, der die Spanne zwischen Normtext und tragendem Leitsatz überbrückt. A n diese Funktion der Methodik knüpfen in der Literatur verschiedene kritische Fragen an. Ein globaler Einwand will die Möglichkeit, eine Selbstbindung juristischer Praxis über die Methodik zu erreichen, grundsätzlich in Zweifel ziehen 19 . Als 18 Vgl. zur Problematisierung dieser Gewalt F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 14 und öfter 19 Vgl. zur Skepsis gegenüber einer Steuerung der Rechtspraxis durch Methodik: Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1978; Scheuner, in: VVDStRL 34 (1975), S. 95. Präzise Fragen bei Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: ebd., S. 7 ff., 42 mit einer als Paradoxon formulierten Schlußthese Nr. 22 sowie differenzierter Einschätzung der Bedeutung juristischer Methodik auf S. 38. Starke Relativierung der Bedeutung juristischer Methodik bei Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 77 und ff. Wank weist dabei auch auf die Rolle der positivistischen Methodik im Nationalsozialismus hin. Eine ausführliche Erörterung der damit aufgeworfenen Fragen muß im gegebenen Rahmen unterbleiben. Die damalige Diskussion läßt allerdings entgegen der Einschätzung Wanks eine große Bedeutung der juristischen Methodik erkennen. Gerade der Einschnitt zwischen dem rechtsstaatlichen System von Weimar und dem totalitären System des Nationalsozialismus macht deutlich, welches entscheidende Gewicht den Standards juristischer Argumentation für die Prägung eines Rechtssystems zukommt. Nachdem die Nationalsozialisten die aus der Weimarer Zeit stammenden Ansätze einer
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Begründung w i r d unter anderem vorgebracht, daß die v o n juristischer M e t h o dik erarbeiteten Vorschläge nur den Charakter v o n Handwerksregeln 2 0 hätten. Aber selbst wenn m a n die Charakterisierung als Handwerksregel einmal übernimmt, ist damit über die M ö g l i c h k e i t einer Bindung richterlichen H a n delns noch nicht entschieden. D e n n nicht nur i n der Medizin, sondern auch i n der Jurisprudenz k a n n die Verletzung v o n Regeln der K u n s t 2 1 sehr w o h l Konsequenzen haben u n d zuweilen einer Beurteilung zugänglich werden. Weitergehend w i r d deswegen v o n einzelnen A u t o r e n behauptet, die juristische M e t h o d i k werde v o n der Praxis nicht als Instrument zur Begründung oder Überprüfung ihrer Interpretationen eingesetzt, sondern diene nur als rhetorische Fassade für anderweitig gefundene Ergebnisse 2 2 . Die Analyse der Praxis rechtsstaatlichen Argumentationskultur restlos beseitigt hatten, konnten Vorschriften, deren Normtext unverändert geblieben war, zu vollständig anderen Ergebnissen führen. Carl Schmitt hat 1935 die sog. Analogienovelle im Strafrecht folgendermaßen kommentiert: „Gesetze, die sich zwar äußerlich als bloße,Änderungen' geben, in der Sache aber das geänderte Gesetz im Ganzen umwandeln, indem sie tragende Bestimmungen des alten Gesetzes durch neue ersetzen (...). Sie schaffen kein neues Strafgesetzbuch, wohl aber ein neues Strafrecht, indem sie das Analogieverbot aufheben, durch ein Analogiegebot ersetzen und eine rechtsschöpferische Mitarbeit des Richters erwarten. Sie heben dadurch das bisherige Strafgesetzbuch aus den Angeln. Das ist eine fundamentale Wandlung, nicht eine bloße ,Änderung'. Ein Strafgesetzbuch mit Analogieserbot und ein solches mit Analogiegebot sind nicht mehr identisch dasselbe Strafgesetzbuch. Hier liegt ganz offensichtlich mehr als eine äußerliche ,Gleich-' oder ,Umschaltung' vor. Auch die mit unverändertem Wortlaut weitergeführten Regelungen stehen jetzt auf einer anderen Grundlage und in einem anderen juristischen Gesamtrahmen und erhalten dadurch einen neuen Inhalt" (C. Schmitt, Kodifikation oder Novelle?, in: DJZ 1935, Sp. 919ff., 923). Diese Aussage scheint mir hinreichend zu belegen, welche Bedeutung sowohl gesetzliche Auslegungsregeln als auch praktisch geltende argumentative Standards für eine Rechtsordnung haben. Dies wird auch bestätigt durch eine neue Untersuchung des nationalsozialistischen Strafrechts, die gerade im Hinblick auf solche argumentative Standards bloße Normtextkontinuität von Rechtskontinuität unterscheidet. Vgl. dazu G. Werle, Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Nationalsozialismus, im Erscheinen 1988, dort vor allem der Schlußteil. Insgesamt scheint mir eine Betrachtung dieses rechtsgeschichtlichen Einschnitts die Skepsis in bezug auf die Bedeutung der Methodik nicht zu bestätigen, sondern zu widerlegen. 20
Zur Methodenlehre als Handwerkslehre vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I: Frühe und religiöse Rechte/Römischer Rechtskreis, 1975, Vorwort S. X I X ; Wank, ebd., S. 78ff. 21 Vgl. zur Jurisprudenz und Regeln der Kunst sowie dem Bezug zur Medizin: Gröschner, Hippokratische techne und richterliche Kunst, in: M. Kilian (Hrsg.), Jurisprudenz zwischen techne und Kunst, 1987, S. 11 ff., insbes. 25ff. 22 Vgl. zur „Vorspiegelung": Haverkate, Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1978, S. 168; Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, in: AcP 172 (1972), S. 131 ff., 172; Eckold-Schmid, Legitimation durch Begründung, 1974, S. 19. Fraglich ist allerdings, ob sich „wirkliche" von anderen Gründen abschichten lassen. Vgl. dazu Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 1975, S. 41; Brecher, Scheinbegründungen und Methodenehrlichkeit im Zivilrecht, in: Festschrift für Nicklisch, 1958, S. 227ff., 246f. Vgl. zu Positivismus als rhetorischer Fassade auch Franssen, Positivismus als juristische Strategie, in: JZ 1969, S. 766 ff. 17 Christensen
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D. Theorie der Rechtserzeugung
läßt aber diesen Schluß nur für den Bereich der Wahl zwischen subjektiver und objektiver Auslegungsmethode zu 2 3 . Hier zeigt die Praxis trotz überwiegend objektiver Orientierung ein Schwanken, das methodischer Verallgemeinerung nicht zugänglich ist 2 4 . Aber juristische Methodik erschöpft sich nicht in den engen Grenzen, die subjektive oder objektive Lehre dem juristischen Argumentieren ziehen wollen. Wenn man über den vordergründigen Aspekt der Wahl zwischen den Auslegungslehren hinausblickt, kann man in der Art und Weise, nach der die Praxis zu auslegungsbedürftigen Normtexten weitere Kontexte erschließt, durchaus den Ansatz zu rationaler Gewichtung erkennen. Diese Ansätze sind auch methodischer Verallgemeinerung zugänglich und widerlegen insoweit die Behauptung vollständiger methodischer Beliebigkeit in der Rechtspraxis. Ein anderes Argument bestreitet die Möglichkeit einer Bindung der Rechtspraxis mittels der juristischen Methodik mit dem Hinweis auf die Vielzahl von Theorien und wissenschaftlichen Lehrmeinungen, die in diesem Bereich vertreten werden 25 . Dieser Pluralismus verschiedener methodischer Ansätze mache es für die Rechtsprechung unmöglich, sich an methodischen Grundsätzen zu orientieren. Tatsächlich gibt es auch eine Vielzahl wissenschaftlicher Ansätze in der juristischen Methodik. Doch dieser Pluralismus kann nicht als Schaden angesehen werden 26 . Wie insbesondere die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion betont, ist eine Vielzahl miteinander konkurrierender Erkenntnisprogramme eine der wichtigsten Bedingungen für wissenschaftlichen Fortschritt und die Möglichkeit wechselseitiger K r i t i k 2 7 . Wenn man aber aus dem begrüßenswerten wissenschaftlichen Pluralismus eine Erschwernis für die 23
Vgl. dazu etwa den durchaus an gängige Strategien anschliessenden Vorschlag, die Wahl des Auslegungsverfahrens vom Ergebnis her zu treffen: Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, in: Festschrift für Engisch, 1969, S. 274ff., 279. Die Empfehlung, die Methodenwahl jeweils im Hinblick auf ein befriedigendes Ergebnis zu treffen, wird noch von anderen Autoren ausgesprochen: Haverkate, ebd., S. 170; Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, 1978, S. 77; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 32, 64, 70, 72, 77,119, 126; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 172; A. Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlautes, 1960, S. 284 ff. Einzelne Autoren bezeichnen das Schwanken zwischen verschiedenen Auslegungskriterien auch als sachgemäß: Otte, Komparative Sätze im Recht. Zur Logik eines beweglichen Systems, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, 1972, S. 301 ff., 318 24 Vgl. dazu und zum folgenden oben im Text Teil C 1 25 So kann etwa aus der Sicht von Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, 1963, S. 49, die Auslegung nur auf eine einzige und endgültig festgelegte Weise erfolgen. 26 Der Pluralismus ist in der juristischen Diskussion noch immer verdächtig. Notfalls wird er zum Ausdruck unaufgelöster gesellschaftlicher Widersprüche erklärt. Vgl. dazu Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/Blanke/Preuß u.a., Ordnungsmacht, 1981, S. 153 ff., 156 27
Vgl. dazu nur Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, 1974, insbes. S. 74 ff.
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methodische Orientierung der Praxis ableiten will, dann setzt man die methodischen Anforderungen an die Praxis zu hoch an. Die Rechtsprechung ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, ein geschlossenes wissenschaftliches Gesamtkonzept für das Gebiet der juristischen Methodik zu entwickeln oder zu vertreten. Sie genügt rechtsstaatlichen Anforderungen vielmehr schon, wenn ihre Argumentation nachvollziehbare und kontrollierbare Strukturen aufweist 28 . Nur so kann die Praxis auch auf neue Erkenntnisse der juristischen Methodendiskussion reagieren und ihre eigenen Standards weiterentwickeln. Die Rechtsprechung lehnt es also mit guten Gründen ab, sich zu einem einheitlichen methodischen Konzept im Sinn einer bestimmten Rechtstheorie oder Wissenschaftstheorie zu bekennen 29 . Auch ohne diese einheitliche wissenschaftstheoretische Konzeption ist in der Art und Weise, wie Kontexte herangezogen werden, eine gewisse Rangfolge der Argumente zu erkennen 30 . Diese Ansätze zu verallgemeinern und am Verfassungsrecht zu messen, ist eine der Aufgaben 31 von Rechtstheorie und juristischer Methodik. Eine zweite Aufgabe liegt darin, neue Konzepte, Präzisierungen und Alternativen zu den praktischen Arbeitsweisen vorzuschlagen. Für die Lösung dieses Problems ist der Pluralismus eine unverzichtbare Voraussetzung. Gleichzeitig verhindert er aber in keiner Weise, daß die Methoden der Praxis das verfassungsrechtlich geforderte Maß an Rationaliät erreichen können. Auch wenn von der Rechtsprechung nicht erwartet werden kann, ein theoretisches Gesamtkonzept juristischer Methodik zu entwickeln, so ist doch zur Vermeidung von Willkür ein gewisses Ausmaß methodischer Rationalität erforderlich. Insbesondere kann die Überzeugungskraft und das Gewicht von Argumenten nicht entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse bestimmt werden, sondern bedarf objektivierbarer Kriterien und Vorzugsregeln. Solange diese Rangfolgeprobleme nicht gelöst sind 3 2 , gilt tatsächlich, „daß diese 28
Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, etwa S. 79 und öfter Wo sie solche weitgehenden Bindungen eingeht, kann sie in der daran anschließenden Entscheidungspraxis diese Verpflichtung nicht einlösen. Dies wurde oben im Text Teil Β für die objektive Auslegungslehre dargestellt. 30 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 28. Es handelt sich allerdings nur um Ansätze zu einer Rangfolgebestimmung, die noch rechtstheoretischer Reflexion und konsequenter Anwendung bedürfen. Vgl. zu diesbezüglicher Skepsis: Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, 1978, S. 72; einschränkend in der Weise, daß Präferenzregeln von der Rechtsprechung überwiegend einzelfallbezogen aufgestellt würden: Schroth, Zur Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 71 31 Vgl. dazu F. Müller, ebd., S. 20 f., 24 f. Zu den Aufgaben juristischer Methodik vgl. auch noch Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 21 Iff., 212ff. 32 In der juristischen Methodendiskussion werden die Schwierigkeiten einer Rangfolgebestimmung immer wieder hervorgehoben: So stellt etwa Bottke fest, die herkömmlichen Konkretisierungselemente seien nur eine ungeordnete Sammlung von Topoi: Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreien29
1*
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Methodologie die Rechtfertigung beliebiger Ergebnisse gestattet" 33 . Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich solche Kriterien und Vorrangregeln begründen lassen. Die sog. Auslegungstheorien haben versucht, eine Rangfolge juristischer Argumente vom Ziel der Auslegung her zu begründen 34 . Diese Versuche sind allerdings schon auf der immanent theoretischen Ebene gescheitert. Denn weder läßt sich ein einheitlicher Wille des Gesetzgebers aufweisen, noch war ein Wille des Gesetzes zu finden, der die Vielfalt der Interpretationen um ein festes Zentrum gruppieren könnte. Ohne die Basis des Auslegungsziels werden aber auch die von der Auslegungstheorie abgeleiteten Vorrangregeln gegenstandslos. Auch außerhalb der klassischen Auslegungstheorien läßt sich eine unterschiedliche Rangfolge in der Geltungshöhe von Argumenten nicht nachweisen. Insbesondere gibt es in der Argumentation kein formales Apriori, das den Teilnehmern eines konkreten Diskussionszusammenhangs die Beurteilung von Überzeugungskraft und Geltungshöhe der vorgebrachten Argumente abnehmen könnte 35 . Von einem alle Sprachspiele beherrschenden Metasprachspiel her lassen sich solche Regeln nicht entwickeln. Überzeugungskraft und Rang eines Arguments können nur beurteilt werden relativ zum Horizont eines bestimmten existierenden Sprachspiels 36. Nachdem weder der Begriff der Auslegung noch ein formales Apriori der Argumentation zu einer Lösung führen, bleibt nur noch zu fragen, ob sich im juristischen Sprachspiel selbst Anhaltspunkte für eine Lösung finden lassen. Dabei ist als Vorgabe des juristischen Sprachspiels insbesondere das relative Apriori seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen von Bedeutung 37 . Verfasden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 266, Fn. 40. Das Fehlen dieser Vorzugsregeln bilde einen Hauptmangel der herkömmlichen Methodenlehre: Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, 1958, S. 110; Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung,2. Aufl. 1960, S. 9 ff. 33 Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 124f. Tatsächlich wird auch manchmal vorgeschlagen, das Gewicht des Arguments im Einzelfall zu entscheiden. Vgl. dazu Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 52: „Der grundsätzlichen Funktion des Rechts, gerechte Lösungen von Rechtsproblemen zu finden, entspricht es, Wahl und Gewichtung konkurrierender Auslegungsargumente von der Frage nach der Gerechtigkeit leiten zu lassen, also diejenigen Argumente zu bevorzugen, die in dem zu beurteilenden Fall zu einem billigen Ergebnis führen". 34
Vgl. dazu oben im Text Teil C Vgl. dazu oben im Text Teil D 1 36 Vgl. zur Unübersetzbarkeit der Diskursgattungen und insbes. zur Inkommensurabilität des Wahrheits- und Gerechtigkeitdiskurses: Lyotard, Der Widerstreit, 1987, S. 200 f., 207, 208, 215 37 Vgl. neben dem Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre zur Notwendigkeit einer normativen Entscheidung methodischer Grundfragen auch Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes — subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192ff., 196f. Die Bedeutung der Verfassung, jedenfalls im Hinblick auf die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes im Zusammen35
2. Struktur der Rechtserzeugung
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sungsrechtliche Anforderungen würden damit als Strukturvorgaben für das juristische Sprachspiel aufgefaßt. Zu denken ist dabei vor allem an Vorschriften rechtsstaatlicher Art wie Tatbestandsbestimmtheit, Textklarheit der Verfassung, Rationalität und Kontrollierbarkeit 38 juristischen Arbeitens. Die Wirkungsweise dieser methodenbezogenen Verfassungsnormen macht das Beispiel der verfassungskonformen Auslegung deutlich. Danach werden aus verschiedenen methodisch vertretbaren Verständnisvarianten eines Normtextes diejenigen ausgewählt, welche allein im Einklang mit den für den Fall einschlägigen Verfassungsnormen stehen: „ I n dieser Fassung, die das Arbeiten mit sämtlichen Konkretisierungselementen (verfassungs-)juristischer Methodik nicht beschneidet, sondern die nur unter den genannten Voraussetzungen einen zusätzlichen Auswahlaspekt durch Heranziehen der betreffenden Verfassungsnormen auch als Sachnormen einführt, bietet die insoweit unbedenkliche methodische Figur verfassungskonformer Auslegung ein Beispiel für das Hineinwirken von Normen geltenden Rechts in den im übrigen mit nicht-normativen Elementen arbeitenden Vorgang der Konkretisierung. Noch weiter reichen die schon mehrfach genannten, teils geschriebenen, teils ungeschriebenen rechtsstaatlichen Klarheits- und Bestimmtheitsgebote und die Funktionsabgrenzungen des Grundgesetzes. Sie sind, da geltendes Recht, für eine Rangfolge der Elemente juristischer Methodik verbindlich" 39 . Die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verfassung stellen, soweit sie methodenbezogen sind, als normative Grundlage des juristischen Sprachspiels bestimmte Anforderungen an die juristische Argumentationskultur. Das Ergebnis der Einwirkung des Verfassungsrechts auf die juristische Argumentation läßt sich dann so formulieren: Hinter der vorgeblichen Objektivität der Bedeutung des Gesetzestextes oder des Systems der Gerechtigkeit findet eine kritische Reflexion der Rechtswissenschaft sich selbst, nämlich die auf die wissenschaftliche Einlösung des Rechtsstaatsgebots bezogene juristische Methodik. Aber, so lautet eine weitere an die Rechtserzeugungsreflexion gerichtete Frage, kann die juristische Methodik die verfassungsrechtlich vorgegebene Aufgabe, zu einer kontrollierbaren Rangfolge ihrer Argumente zu gelangen, wissenschaftlich überhaupt einlösen?
hang der Frage nach der Rangfolge der Auslegungsargumente, wird auch angesprochen bei Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7 ff., 39 38
Die skeptische Frage, ob Vorrangregeln wirklich zu einem Gewinn an Rechtssicherheit und Berechenbarkeit führen, stellt Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17. Bejaht wird diese Frage von Zöllner, Recht und Politik, in: Festschrift für die Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 131 ff., 146, Anm. 41. Weitere Nachweise für eine bejahende Stellungnahme bei Honsell, ebd., S. 5, Fn. 9. Honsell ist zuzugeben, daß Vorrangregeln keine Kontrollierbarkeit im Sinne einer absoluten Vorhersehbarkeit der Entscheidung gewährleisten können. Trotzdem führen sie aber zu einem relativ größeren Ausmaß an Vorhersehbarkeit. 39
F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 198 f.
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Unlösbar ist diese Aufgabe für die herkömmliche methodische Lehre 40 . Sie kann nicht zu einer Rangfolge juristischer Argumente kommen, weil es aus ihrer Sicht bei der Auslegung um die einheitliche Erkenntnis einer im Text vorgegebenen Bedeutung geht. Die Mittel dieser Erkenntnis sind natürlich gleichrangig, denn Erkenntnisinstrumente ordnet man nicht nach Gewicht, sondern höchstens nach Erfolg oder Mißerfolg. Bei einem Widerspruch zwischen den Ergebnissen verschiedener Konkretisierungselemente stellt sich dann nicht die Frage nach dem besseren Argument, sondern der Widerspruch wird verlängert in die Bedeutung, die dann als mehrdeutig, inkonsistent usw. gilt 4 1 . Etwas anderes ergibt sich aber für eine Position, die sich von der Fiktion der Ermittlung einer im Normtext vorgegebenen Bedeutung ablöst. Wenn die Bedeutung des Normtextes in einem Argumentationsprozeß erst hergestellt wird, dann stellt sich die Frage nach dem besseren Argument und auch die nach der Rangfolge mit systematischer Notwendigkeit 42 . Daß man die Frage nach der Rangfolge von Argumenten nach der Verabschiedung der herkömmlichen Bedeutungstheorie stellen kann, heißt aber noch nicht, daß die juristische Methodik sie auch in befriedigender Weise beantworten kann. Gegen die Möglichkeit einer rechtsstaatlich kontrollierbaren Rangfolge juristischer Argumente wird vorgebracht, daß eine solche Rangfolge nicht abstrakt und generell vorherbestimmt werden könne 43 , sondern sich nur aus dem Gewicht der Argumente im konkreten Einzelfall ableiten lasse44. Die Begründung dieser Auffassung arbeitet mit dem Argument, daß hinter den Konkretisierungselementen Interessen stünden, die im konkreten Fall in 40 Vgl. dazu A. Kaufmann, Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 ff., m.w.N.; Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 211 ff., 211 f.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 235f., Fn. 80; Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der BRD, in: Der Staat 1963, S. 425ff., 433, jeweils m.w.N. 41 Vgl. zum Ganzen oben im Text Teil C 42 Vgl. als Nachweis der bisherigen Versuche zur Erarbeitung von Rangfolgekatalogen Rahlf, Die Rangfolge der klassischen juristischen Interpretationsmittel in der strafrechtswissenschaftlichen Auslegungslehre, in: E.v.Savigny u.a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 14ff., 17ff. (Bejahung), 22f. (Leugnung), 23f. (unklare Stellungnahmen). Auch auf der Ebene der Argumentationstheorie wurde die Forderung, Argumente zu gewichten, wiederaufgenommen: E.v.Savigny, Die heterogene Basis als wissenschaftstheoretisch bedeutsames Merkmal der strafrechtsdogmatischen Argumentation, in: ders. u.a., ebd., S. 161 ff., 162; Clemens, Strukturen juristischer Argumentation, 1977, S. 20; Weinberger, Topik und Plausibilitätsargumentation, in: ARSP 1973, S. 17ff., 24 43 Vgl. dazu Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17 ff.; K. Lorenz, Die Überzeugungskraft von Argumenten, in: ARSP Beiheft 9, 1977, S. 15ff., 21 f. 44 Vgl. dazu auch Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 71
2. Struktur der Rechtserzeugung
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unterschiedlicher Intensität betroffen seien 45 . Die Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen ist dabei folgendermaßen durchgeführt: „Wird beispielsweise von einer Auslegungshypothese behauptet, sie verstoße gegen den Wortlaut einer Vorschrift zuungunsten eines Täters, so wird damit ein Vertrauensinteresse der Rechtsunterworfenen zur Geltung gebracht. Wird von einer Auslegungshypothese gesagt, sie führe im allgemeinen zu ungerechten Ergebnissen, so wird hiermit ein Interesse an Entscheidungen artikuliert, die allgemein akzeptiert werden. Wird der Wille des historischen Gesetzgebers an Auslegungshypothesen herangetragen, so wird das Interesse, Auslegungshypothesen an die gesetzgeberische Entscheidung zurückzubinden, zur Geltung gebracht. Auslegungshypothesen werden dann unter dem Gesichtspunkt der ,Authenzität' analysiert" 46 . Diese Zuordnung führt trotz ihrer Übersichtlichkeit zu gewissen Schwierigkeiten. Schon der grundlegende Ansatz einer Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen erscheint als Repräsentationsmodell fragwürdig. Aber selbst wenn man dies außer Betracht läßt, sind jedenfalls die Einzelheiten dieses Zuordnungsmodells durchaus problematisch. Daß die grammatische Auslegung das Vertrauen des Rechtsverkehrs schützt, ist ein altes Argument der objektiven Auslegungslehre. Wie in der neueren Literatur mehrfach gezeigt worden ist, ist dieses Argument nach dem Kenntnisstand heutiger Sprachwissenschaft nicht mehr zu halten 47 . Man müßte dann eine homogene Alltagssprache voraussetzen, in die sich der juristische Diskurs zudem noch bruchlos einzufügen hätte. Ebenso wenig läßt sich die Gerechtigkeit mit der allgemeinen Akzeptanz kurzschließen. Denn über die Frage, was als gerecht zu akzeptieren ist, herrschen in einer pluralistischen Gesellschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen. Auch die Zuordnung von historischem Gesetzgeber und „Authenzität" verkürzt die wirklichen Zusammenhänge. Zwar wird zugegeben, daß der Gesetzgeber kein Kollektivorgan ist und ihm auch kein einheitlicher Wille unterstellt werden kann. Aber in der Vorstellung einer einheitlichen gesetzgeberischen Handlung als Bezugspunkt 48 der „Authenzität" wirkt immer noch die Fiktion eines homogenen Gesetzgebers nach. Die komplexen Beziehungen zwischen Gesetzgebungsprozeß und Normtext sind jedoch nur durch eine Semantik kompetitiven Handelns zu erfassen und lassen sich keineswegs auf ein „Authenzitätsinteresse" nach dem Muster von Autor und Werk reduzieren 49. Die Konkretisierungselemente sind nicht Ausdruck isolierter Interessen, sondern Fragerichtungen, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen50. 45
Ebd., S. 70
46
Vgl. zur „Authenzität" ebd., S. 35 und öfter (Schreibung im Original)
47
Vgl. dazu Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, S. 191 ff.; Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: J. Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369ff., 387, jeweils m.w.N. 48 Vgl. dazu Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 87 und öfter 49 Vgl. dazu oben im Text Teil Β
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Wenn man die vergebliche Suche nach einem hinter den Konkretisierungselementen stehenden Wesen aufgibt, kann man erst die Frage stellen, was es heißt, daß die Ergebnisse der Konkretisierungselemente für die Entscheidung „im Einzelfall" verschiedene Aussagekraft haben. Der Einzelfall ist nicht etwa dadurch charakterisiert, daß in generelle Interessen in verschiedener Intensität eingegriffen wird, sondern ein Einzelfall ist dadurch charakterisiert, daß zwischen den Parteien Streit 51 besteht, um die Verknüpfung von Fallerzählung und Normtext. Es stehen sich damit mindestens zwei konkurrierende Interpretationen gegenüber, die sich in unterschiedlicher Weise auf die von den Konkretisierungselementen erfragten Kontexte beziehen können. Entscheidend ist aber, ob die von einer der Interpretationen vorgeschlagene Verknüpfungsweise eindeutig 52 ausgeschlossen wird durch das Ergebnis der Verwendung eines bestimmten Konkretisierungselements. Die fragliche Interpretation läßt sich dann nur dadurch „retten", daß ein höherrangiges Konkretisierungselement das die vorgeschlagene Verknüpfung unterbrechende Zwischenergebnis ebenso eindeutig aus dem Feld schlagen kann. Es stehen sich also nicht generelle, sondern konkret erfragte Kontexte gegenüber 53. Diese werden auch nicht abstrakt gegeneinander abgewogen oder untereinander verglichen, sondern nur unter der bestimmten Bedingung, daß ein Konfliktfall 5 4 vorliegt, d.h. daß sie das Schicksal einer der sich im Streit befindenden Interpretationen in gegensätzlicher Weise beeinflussen. Wenn man also den oft beschworenen „Einzelfall" näher betrachtet, wird deutlich, daß generelle Vorrangregeln nicht nur erforderlich, sondern auch möglich sind. Als Ansatzpunkt für die Gewinnung dieser Vorrangregeln kann die gerichtliche Praxis dienen. Trotz der problematischen und nicht einlösbaren Etikettierung ihres Vorgehens als objektive Auslegungslehre 55 lassen die Gerichte in der praktischen Verwendung der Konkretisierungselemente eine Rangfolge unterschiedlicher Argumentformen erkennen. Nach der sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch von anderen Bundesgerichten verwendeten Formel 5 6 ist
50
Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 198; ähnlich die Argumentation bei Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7 ff., 38 51 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt als „Regelkonflikt": Rottleuthner, Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973, S. 22 ff. 52
Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 81 Insoweit kann man Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17 zustimmen bei der Aussage: „Es gibt aber kein gängiges Argument, das generell durch ein anderes ausgeschlossen oder widerlegt würde". Ein genereller Ausschluß wäre ein Argumentationsverbot. Hier geht es aber um den Konflikt zweier Argumente. Dieser läßt sich nur konkret feststellen. Aber die Regel für seine Entscheidung muß generalisierbar sein. 53
54 55
Vgl. zum Begriff Konflikt: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 200ff. Vgl. dazu oben im Text Teil Β
2. Struktur der Rechtserzeugung
265
für die Auslegung der sog. objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, der sich aus Wortlaut und Systematik ergeben soll. Der Entstehungsgeschichte wird nur eine ergänzende Rolle zugewiesen, wenn Wortlaut und Sinnzusammenhang keine hinreichende Argumentationsgrundlage bieten. Die Gerichte bringen mit dieser formelhaften Wendung vom objektivierten Willen eine Rangfolge zum Ausdruck, wonach sie das genetische Konkretisierungselement bei der Bedeutungsprofilierung berücksichtigen wollen, soweit seine Ergebnisse Worlaut und Sinnzusammenhang der Vorschrift nicht widersprechen 57. In seiner Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schreibt Friedrich Müller dazu: „Ein gewisser, allerdings nicht näher begründeter Akzent scheint dabei auf Wortlaut und Sinnzusammenhang der Gesetzesbestimmung zu liegen. Das Bundesverfassungsgericht geht, wie es für alle praktische Normkonkretisierung nahe liegt, bei der ersten Suche nach vertretbaren Lösungsalternativen vom Wortlaut der zu konkretisierenden Vorschrift aus. Bereits die Formulierung vom, Sinnzusammenhang4 (...) deutet daraufhin, daß das Schwergewicht in aller Regel bei den systematischen und den teleologischen Aspekten liegt. Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich vordringlich, den , Sinnzusammenhang der Norm mit anderen Vorschriften und das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt', zu ermitteln" 58 . Die Rechtsprechungspraxis läßt also eine Rangfolge der verwendeten Argumente erkennen, ohne daß diese Rangfolge näher begründet würde. An dieser Stelle liegt der Ansatzpunkt der Strukturierenden Rechtslehre. Die „wenigstens im Ansatz kontrollierbare Rangfolge" 59 wird einer prinzipiellen Reflexion unterzogen. Von Bedeutung sind dabei auf der verfassungsrechtlichen Ebene nicht nur die Rechtsstaatsgrundsätze 60, sondern auch die formale Einheit der Verfassung als Urkunde, welche im Gesamtzusammenhang des formstrengen Grundgesetzes dem Normtext eine zentrale Stellung zuweist 61 . Wenn man über diese verfassungsrechtlichen Überlegungen hinaus noch die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Rechtsnormtheorie 6 2 berücksichtigt, dann wird deutlich, daß die von der Rechtsprechung angestellten Überlegungen zur Rangfolge an die Normtextnähe der betreffenden Argumente anknüpfen.
56 Vgl. zum Nachweis ebd. sowie M. Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1 1984, S. 73 ff., 75 57 Vgl. dazu auch Roth-Stielow, Umwelt und Recht, in: NJW 1970, S. 2057ff., 2057 m.w.N. 58 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 28 f. 59 Ebd. 60 Vgl. zur Tragweite des Rechtsstaatsprinzips für die juristische Methodik: F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 77 ff. 61 Vgl. F. Müller, Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 114ff. 62 Vgl. dazu und zum folgenden schon oben im Text Teil Β 3.3
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Dieser Gesichtspunkt der Normtextnähe erlaubt es nun, die von den Konkretisierungselementen ins Spiel gebrachten unterschiedlichen Kontexte zu gewichten, wobei etwa ein Argument aus der Systematik des betreffenden Gesetzes einem Argument aus den Materialien vorzuziehen ist 6 3 . Unter dieser Voraussetzung einer Rangfolge der Argumente kann die juristische Methodik die Verknüpfung von Normtext und tragendem Leitsatz an einem objektivierbaren Maßstab messen64. 2.3.3 Das Ergebnis der juristischen Interpretationstätigkeit kann auf die Einhaltung dieser Bindungen überprüft werden Ein Einwand, der juristische Methodik und wissenschaftstheoretische Überlegungen verbindet, richtet sich nicht gegen die Möglichkeit einer Rechtserzeugungsreflexion, sondern will deren praktischen Einsatz einschränken: „Ist die Norm in diesem Sinne erst zu erarbeiten und zu gestalten, so kann dies sowohl in einem Herstellungsmodell als auch in einem Modell der Ergebniskontrolle aufgenommen werden" 65 . Vorzuziehen ist aber das Modell der Ergebniskontrolle, denn vom „Herstellungsmodell" wird gesagt, daß „die vielfaltigen, iterativen und hermeneutisch verschlungenen Herstellungsschritte des Konkretisierungsschemas die letztlich entscheidende Kontrolle des Resultates der Konkretisierung und Aufarbeitung nicht nur unnötig belasten, sondern zum Teil auch verhindern können (,..)" 6 6 . Die Gesetzesbindung soll aus dieser Sicht eingelöst werden als Überprüfung dogmatischer Aussagen an Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Folgen 67 . Entscheidend ist für dieses „fallibilistische Modell" allein der Begründungszusammenhang. Deswegen wird das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte „Herstellungsmodell" als zu restriktiv im Entdeckungszusammenhang und nicht trennscharf im Begründungszusammenhang bezeichnet68. Tatsächlich stellt sich der Zusammenhang aber umgekehrt dar. Das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte dynamische Ablaufmodell der Konkretisierung ist im Entdeckungszusammenhang nicht restriktiv und im Begründungszusammenhang trennscharf 69 . Wenn Harenburg deshalb vorschlägt, die von Müller als Konkretisierungselemente entwickelten 63
Vgl. zu den entsprechenden Konfliktlagen ausführlich: F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 200ff. 64 Eine Rangfolge der juristischen Argumente wird auch begründet bei Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7ff., 38 f., allerdings ohne den Bezug zur Normtextnähe, aber mit der Andeutung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte, die etwa an die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes anknüpfen. 65
Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 275 Ebd. 67 Ebd., S. 294ff. 68 Ebd., S. 275. 69 Vgl. F. Müller, Rechtsstaatliche Methodik und politische Rechtstheorie, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., insbes. 285ff. 66
2. Struktur der Rechtserzeugung
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Gesichtspunkte als Kriterien der Überprüfung im Begründungszusammenhang zu reformulieren 70 , so stellt sich dieser Versuch als überflüssig dar. Die Trennung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang wird von der Strukturierenden Rechtslehre in keiner Weise bestritten 71 . Dies ergibt sich daraus, daß die Strukturierende Rechtslehre nicht behauptet, über einen Algorithmus zu verfügen, der die konkrete Entscheidung vollständig determinieren könnte. Die Differenz zu dem von Schlink und Harenburg vertretenen kritisch-rationalistischen Ansatz beginnt erst jenseits der Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Die Strukturierende Rechtslehre arbeitet den Grundsatz der Methodenehrlichkeit 72 als Konstituens einer rechtsstaatlich rückgebundenen Argumentationskultur heraus, welcher von den abstrakt wissenschaftstheoretisch ansetzenden Positionen gerade übersehen wird. Friedrich Müller schreibt dazu: „Meine Forderung nach 'Methodenehrlichkeit' betrifft insoweit eine andere Frage als die wissenschaftstheoretische nach dem Finden und dem Rechtfertigen von Aussagen. M i t der Forderung nach ehrlicher Methode ist über den Ansatz der Wissenschaftstheorie nicht vorentschieden. Nicht zuletzt der Kritische Rationalismus wird Ehrlichkeit der Aussagen für die Kommunikation voraussetzen. Es geht bei mir um die Handhabung praktischer Entscheidungsvorgänge: Auch derjenige Rechtsarbeiter, der 'falsifizierend' vorgeht, könnte gehalten sein, dem Adressaten der Entscheidung und der Rechtsöffentlichkeit genau das mitzuteilen, was seinen Arbeitsvorgang im Sinn der Bewährung geleitet hat; und es könnte ihm verwehrt sein, stattdessen diese leitenden Aspekte verdeckende Sprachfassaden von sich zu geben, die insoweit die prozessuale, wissenschaftliche und (rechts)politische Kontrolle abschneiden" 7 3 . Methodenehrlichkeit bezieht sich also darauf, daß die Gründe, die zum Verwerfen bzw. Vorziehen einer bestimmten Interpretationsweise führen, auch dargestellt werden müssen, weil der Rechtsstaat nicht von einer abstrakten Richtigkeit ausgeht, sondern von einem auf das funktionelle Geflecht verschiedener Entscheidungsprozesse bezogenen Begriff von Richtigkeit 74 . Die Textstruktur 75 des Rechtsstaats verlangt neben den anordnenden auch rechtfertigende Texte und geht damit über eine Vorstellung von Richtigkeit hinaus, welche sich im Rahmen der Wissenschaftstheorie entwickeln läßt. Wenn die vom Kritischen Rationalismus ausgehende Position den Entstehungs- und den Rechtfertigungszusammenhang streng trennen will, dann muß sie im Entdeckungszusammenhang zunächst die Verkettungsregeln freigeben und erst im Rechtfertigungszusammenhang einschränken. Man stelle sich zwei 70
Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 276 Vgl. F. Müller, Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: ders., Rechtsstaatliche Form — Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., 285 f. 72 F. Müller, ebd., S. 285 f. 73 Ebd., S. 285 f. 74 Ebd., S. 286f. 75 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 95 ff. 71
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D. Theorie der Rechtserzeugung
Spieler vor, die ohne Kenntnis der Regeln Schach spielen und erst nachträglich anhand eines Lehrbuchs beurteilen, welcher ihrer Züge zu diesem Spiel gehört. Sie müßten nach Lektüre des Lehrbuchs feststellen, daß sie bisher einfach noch nicht Schach gespielt haben und von vorn beginnen. Es wird daran deutlich, daß das hier angezielte Falsifikationsmodell unterkomplex ist. Den Normbehauptungen sollen isolierte Daten gegenübergestellt werden, die unabhängig vom Prozeß der Konkretisierung zu gewinnen sein sollen 76 . Die Falsifikation soll eine feste, von der Tätigkeit und den Einschätzungen des Rechtsarbeiters unabhängige Basis haben. Schon in den „empirischen" Wissenschaften ist diese feste Basis aber nicht zu haben. Gerade Popper hat in seiner Kritik am „Empirismus" des Wiener Kreises gezeigt, daß es keine von Theorie und pragmatischen Faktoren unabhängige feste Basis der Wissenschaft geben kann 7 7 . Dies wird auch bestätigt von der Entwicklung des Kritischen Rationalismus selbst, der zunächst das isolierte Sinnesdatum durch die sog. Theorie geringeren Allgemeinheitsgrades ersetzte und schließlich bei Lakatos zu einem an ästhetischen Kriterien von Einfachheit usw. orientierten Vergleich von Erkenntnisprogrammen führte 78 . Daß die von Theorien und deren pragmatischen Konventionen unabhängige Überprüfungsbasis auch in der Rechtswissenschaft nicht zu haben ist, sollte also gerade den Positionen einleuchten, die sich am Kritischen Rationalismus orientieren wollen. Es erscheint daher wenig plausibel, die Rechtserzeugungsreflexion auf die Konstruktion eines an isolierten Instanzen orientierten Überprüfungsmodells zu reduzieren. Natürlich muß eine Entscheidung an rechtsstaatlichen Standards überprüft werden. Aber die komplexe Überprüfung von Normtext und Rechtsnorm läßt sich nicht auf drei abgrenzbare Überprüfungsinstanzen reduzieren. Sonst würde unter anderem auch das Problem einer Rangfolge juristischer Argumente nicht diskutiert werden können. Entgegen den Intentionen des kritisch-rationalistischen Ansatzes würde die Trennschärfe der rechtsstaatlichen Maßstäbe damit verkürzt und der Willkür machtgeleiteter Entschei76 Vgl. dazu Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 269 und 294ff.; ebenso Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73ff., insbes. lOOff. 77 Vgl. dazu Popper, Logik der Forschung, 1976, S. 17 f., 60 ff. Harenburg, ebd., S. 188 und öfter, nimmt dies zwar auf, aber mit der Wendung: „Soll dem Grundgedanken des Popperschen Modells Rechnung getragen werden, dann sind die Basissätze unabhängig von subjektiven Wertungen der Dogmatiker zu konzipieren" (S. 289). Aus diesem Satz wird dann aber gefolgert, daß die sprachliche Bedeutung der Texte objektiv im Sinne der semantischen Theorie Kochs sein müsse (vgl. S. 227). Damit wird der „pragmatische" Charakter eines Basissatzes über die Sprache so sehr verkürzt, daß er in den PseudoEmpirismus Kochs übergeht (vgl. S. 227 „empirisch zu ermittelnde semantische Regeln"). Eine ausführliche Diskussion erfolgte schon oben im Teil C 1 und C 2 78 Vgl. dazu Lakatos, Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders./Musgrave, Kritik und Erkenntisfortschritt, 1974, S. 89 ff. Vgl. zur ganzen Entwicklung vom einfachen zum „sophisticated" Falsifikationismus: Chalmers, What is this thing called Science?, 2. Aufl. 1982, Abschnitte 4, 5 und 7
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düngen ein viel größerer Spielraum eingeräumt. Das Ergebnis der Konkretisierung kann nicht an isolierten „objektiven" Daten überprüft werden. Vielmehr ist zu fragen, ob der vorgeschlagene Leitsatz unter Einhaltung der komplexen verfassungsrechtlich und rechtsnormtheoretisch/methodisch zu entwicklenden Bindungen einem geltenden Norm text regulär zugerechnet werden kann. Die rechtstheoretischen Einwände gegen den Versuch der Strukturierenden Rechtslehre, die Gesetzesbindung im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion einzulösen, können daher nicht überzeugen. Wenn man die Rechtsnorm nicht als vorgegeben begreift, sondern den Prozeß ihrer Herstellung untersucht, verliert die Gesetzesbindung nicht etwa ihren Gegenstand, sondern sie gewinnt vielmehr in der Verknüpfung von Normtext und Leitsatz erst den Bereich ihrer Anwendung. Die für ihre Einhaltung erforderlichen Maßstäbe ergeben sich aus einer verfassungsrechtlich und rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik. Deren Standards erlauben es, das Ergebnis der juristischen Interpretationstätigkeit auf die Einhaltung der entsprechenden Bindungen zu überprüfen. 3. Grenze der Rechtserzeugung: Kann der Wortlaut verfassungsrechtlich-normative Grenze der Rechtserzeugung sein? Auf der Grundlage einer methodischen Strukturierung des juristischen Handelns kann nun das Problem der Wortlautgrenze im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion reformuliert werden. Dieses Problem führt von der Kritik in stärkerem Maße zur Konstruktion. Während bisher die sprachtheoretische Reflexion vor allem eine destruktive Kraft gezeigt hat, welche darin bestand, die von der herkömmlichen Auffassung in Anschlag gebrachten sprachlichen Vorgegebenheiten als Verdinglichungen ζμ denunzieren, kann im Rahmen der von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Rechtserzeugungstheorie die konstruktive Leistung einer sprachtheoretischen Reflexion hervortreten. Diese besteht allerdings nicht in einer endgültigen Antwort auf alle juristischen Fragen und Probleme, sondern zunächst in einer Präzisierung der Problemstellung. 3.1 Im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion kann das Problem der Wortlautgrenze sprachtheoretisch präzisiert werden
Der Normtext ist zunächst ein Textformular, das erst im juristischen Handeln seine Bedeutung erhält. Die nähere Bestimmung des Übergangs vom Zeichen zur Bedeutung ist Voraussetzung für eine Diskussion des Problems der Wortlautgrenze. 3.1.1 In der semantischen Praxis sind Sprecher und Sprache intern relationiert Der erste Schritt einer sprachtheoretischen Präzisierung bezieht sich auf den Ansatzpunkt der Untersuchung: Wo ist die Frage nach der Bedeutung des
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Normtextes, nach dem Übergang vom Textformular zur Textbedeutung zu stellen? Aus der Sicht der positivistischen Theorie kommt nur der geschriebene Gesetzestext und niemals das Sprechen des Richters als Ansatzpunkt für die Frage nach der Bedeutung in Betracht 1 . Das Verhältnis von Rechtsanwender und Bedeutung des Normtextes wird als zweistufig bestimmt: Der Richter stellt zunächst die objektiv vorgegebene Bedeutung des Normtextes im Wege der Auslegung fest und wendet diese dann praktisch an, indem er die Merkmale des Sachverhalts unter die Merkmale der gesetzlichen Oberbegriffe subsumiert. Die erste Stufe garantiert die richtige Erkenntnis, während die zweite Stufe die technische Verwertung dieser Erkenntnis darstellt. Sprecher und Sprache werden in diesem Konzept extern relationiert 2 : Die sprachliche Bedeutung ist in einem von praktischer Textarbeit unabhängigen System der (Rechts-)Sprache vorgegeben. Der Sprecher kann nur erkennen und technisch anwenden, ohne die schon feststehende Bedeutung im Hinblick auf die Gesetzesbindung verändern zu dürfen. Er kann lediglich die im Textformular schon enthaltene Textbedeutung aussprechen. Das geschriebene Recht als bloßes Textformular ist mit einer die juristische Auslegung determinierenden Rolle aber überfordert. Aus der positivistischen Überschätzung der Ordnungsleistung des geschriebenen Rechts wird deswegen in der Literatur zum Teil eine Bestätigung des dezisionistischen Einwands gegen die Möglichkeit der Gesetzesbindung abgeleitet3. Danach ist Ansatzpunkt für die Fragen nach der Bedeutung des Normtextes allein das gesprochene Recht. Der isolierte Akt richterlicher Entscheidung gilt als Quelle der sprachlichen Bedeutung, ohne daß sich der vom Richter gefällte Machtspruch noch in irgendeiner methodisch überprüfbaren Weise mit dem Normtext vermitteln ließe. Diese Auffassungen des Positivismus und des Dezisionismus schließen sich auf der theoretischen Ebene aus. Auf der praktischen Ebene können sich diese scheinbar gegensätzlichen Auffassungen aber trotzdem ergänzen. Die Analyse „richterrechtlicher" Entscheidungen hat gezeigt, daß sich hinter der positivistischen Rhetorik eine willkürliche Entscheidung verbergen kann 4 . Auf die Frage nach der Verortung der Textbedeutung und ihrem Verhältnis zum richterlichen Handeln gibt die herkömmliche Auffassung damit theoretisch gegensätzliche, aber praktisch komplementäre Antworten: Der klassische Positivismus bestimmt als Ansatzpunkt allein das geschriebene Recht. Schon der bloße Norm text legt unter Berücksichtigung des Sprachsystems die zwischen 1
Vgl. dazu oben im Text Teil C Vgl. zum Instrumentalismus juristischer Sprachauffassung: Broekman, Juristischer Diskurs und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 1980, S. 17ff., 19, 36f. und öfter 3 Vgl. dazu etwa Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, 1977, S. 148 f. Vgl. dazu oben im Text Teil Β 2
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den Parteien streitige Bedeutung objektiv fest. Auf den Sprecher bzw. Richter kann es von Rechts wegen nicht ankommen. Der Dezisionismus bestimmt als Ansatzpunkt für die Bedeutung dagegen ausschließlich das gesprochene Recht. Erst der Spruch des Richters kann als konkrete Einzeläußerung die Bedeutung des Normtextes bestimmen. Das Textformular kann demgegenüber vernachlässigt werden. Trotz ihrer vordergründigen Gegensätzlichkeit ist beiden Positionen gemeinsam, daß sie die Spanne, die das geschriebene Recht vom gesprochenen Recht trennt, aus der Betrachtung ausklammern. Diese Gemeinsamkeit ermöglicht das praktische Zusammenwirken der gegensätzlichen methodischen Theoreme. Positivismus und Dezisionismus treffen sich damit auf einem Gebiet, das man als implizite Sprachtheorie 5 bezeichnen kann. Diese Sprachtheorie abstrahiert von der Arbeit der Sprache im Recht, von der semantischen Praxis der Juristen. An die Stelle einer Analyse der Sprachpraxis tritt eine apriorische Bestimmung des Verhältnisses von Sprecher und Sprache. Sowohl Positivismus als auch Dezisionismus stellen zwischen Sprecher und Sprache eine externe Relation her, wonach eine Seite als die allein bestimmende gilt und die andere Seite auf ein bloßes Instrument reduziert wird. Die Annahme eines solchen instrumenteilen Verhältnisses führt aber sprachtheoretisch in eine Aporie, die Wittgenstein klar herausgearbeitet hat: „Wenn beim ersten Lernen der Sprache gleichsam die Verbindungen zwischen der Sprache und den Handlungen hergestellt werden — also die Verbindungen zwischen den Hebeln und der Maschine — so ist die Frage, können diese Verbindungen reißen; wenn nicht, dann muß ich jede Handlung als die richtige hinnehmen, wenn ja, welches Kriterium habe ich, die ursprüngliche Absicht mit der späteren Handlung zu vergleichen?" 6. Wittgenstein nimmt hier das herkömmliche Maschinenmodell einer technisch-instrumentellen Relation zwischen Sprecher und Sprache zunächst ernst, entfaltet seine Implikationen und zeigt dann, daß diese Vorstellung in die Aporie des fehlenden Kriteriums mündet 7 . Der juristische Ausdruck dieser sprachtheoretischen Aporie ist die Doppelung von Positivismus und Dezisionismus, die mit gegensätzlicher Rhetorik im Ergebnis beide das Fehlen eines sprachlichen Kriteriums für die Richtigkeit juristischer Streitentscheidungen eingestehen müssen. Wenn aber das Maschinenmodell als sprachtheoretische Verdinglichung durchschaut ist und das tatsächliche Funktionieren von Sprache ohne diese Vorentscheidung analysiert wird, dann kann die Relation zwischen Sprecher 5 Vgl. zu den impliziten Sprachtheorien aus linguistischer Sicht: Busse, Bedeutungsexplikationen in juristischen Texten, in Vorbereitung, Einleitung 6 Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, Schriften 2,1970, S. 64; vgl. auch ders., Philosophische Untersuchungen, 1971, §§ 201 -208 7 Vgl. zur Charakterisierung des von Wittgenstein gewählten Vorgehens als „Dekonstruktion" und Parallelen zu dem späteren Ansatz von Derrida: Staten, Wittgenstein and Derrida, 1984, S. 64ff. und öfter
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und Sprache genauer bestimmt werden: „Ist denn die Bedeutung wirklich nur der Gebrauch des Wortes? Ist sie nicht die Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift? Aber ist denn sein Gebrauch nicht Teil unseres Lebens?!"8. Wittgensteins Hinweis auf den Sprachgebrauch wiederholt nicht die technisch-instrumentelle Relation 9 , sondern weist auf die Sprachpraxis als Gegenstand der Analyse hin. Wenn die Bedeutung von Wittgenstein als „Teil unseres Lebens" bestimmt wird, dann sind Sprecher und Sprache in der Sprachpraxis nicht extern, sondern intern relationiert. Das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Konzept der Textstruktur nimmt diesen Gedanken auf. Entgegen der sowohl positivistischen als auch dezisionistischen Vereinfachung der Beziehung von Sprecher und Sprache zu einem einseitig linearen Kausalnexus werden in diesem Konzept Sprecher und Sprache in der Sprachpraxis intern relationiert. Die Bedeutung von Normtexten konstituiert sich danach im praktischen Handeln der Rechtsarbeiter. Dieses Handeln ist als semantische Praxis aber nicht freier Beliebigkeit überantwortet. Die Bedeutungskonstitution muß unter rechtsstaatlichen Bedingungen einem vom Gesetzgeber vorformulierten Textformular zugerechnet werden können. Daraus ergeben sich im Rahmen einer konkreten juristischen Argumentationskultur praktisch wirksame Einschränkungen für die Möglichkeit richterlichen EntScheidens. Das Konzept der Textstruktur verabschiedet damit die apriorische Bestimmung des Verhältnisses von Sprecher und Sprache und analysiert stattdessen das wirkliche Funktionieren und die tatsächlichen Bindungen des juristischen Sprachspiels. Damit kommt das von der herkömmlichen Auffassung ausgeschlossene Problem der Verknüpfung von gesprochenem und geschriebenem Recht durch die semantische Praxis in den Blick. Entgegen der impliziten Sprachtheorie des Positivismus ist die Rechtsnorm dem handelnden Rechtsarbeiter nicht als eine im Sprachsystem fixierte Bedeutung vorgegeben. Eingangsdatum ist vielmehr nur das in den amtlichen Sammlungen enthaltene Textformular oder, rechtstheoretisch gewendet, der Normtext. Dieser Ansatzpunkt für die Frage nach Bindungen richterlichen Handelns bleibt bestehen, auch wenn das abstrakte System sprachlicher Bedeutungen als Ansatzpunkt ausfallt. Eventuelle Bindungen müssen sich also in der richterlichen Textarbeit entfalten, 8
Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Schriften 4, 1973, S. 65 Vgl. zu einem entsprechenden „empiristischen" Mißverständnis: Lyotard, „Nach" Wittgenstein, in: ders., Grabmal des Intellektuellen, 1985, S. 68 ff., 73. Zur Gebrauchstheorie der Bedeutung vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, § 47; vgl. auch ders., Philosophische Grammatik, Schriften 4,1973, Teil I. Ausführliche Darstellung in der Sekundärliteratur: Wuchterl, Struktur und Sprachspiel, 1969, S. 89 ff.; Gebauer, Wortgebrauch, Sprachbedeutung, 1971; Kenny, Wittgenstein, 1974, S. 164 ff. Zusammenfassend: Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 18-27; zu der an Wittgenstein anschließenden Bedeutungskonzeption der praktischen Semantik vgl. Oelschläger, Linguistische Überlegungen zu einer Theorie der Argumentation, 1979, S. 7ff.; Wimmer, Referenzsemantik, 1979, S. 35-47 9
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die den Normtext als Eingangsdatum mit der konkret fallbezogenen Bestimmung seiner Bedeutung im tragendem Leitsatz der Entscheidung verknüpft. Entgegen der herkömmlichen Auffassung ist weder der Sprecher das bloße Organ eines vorgegebenen Sprachsystems, noch umgekehrt die Sprache das beliebig formbare Instrument des Sprechers. Als Phänomen der „dritten A r t " liegt sie vielmehr zwischen diesen Extremen 10 . Dem Dezisionismus ist daher zuzustimmen, soweit er gegen den Positivismus einwendet, daß das abstrakte Sprachsystem keine dem richterlichen Sprechen vorgegebene Textbedeutung garantieren kann. Der Dezisionismus ist aber abzulehnen, soweit er aus dieser Kritik die Folgerung ableitet, daß überhaupt keine sinnvolle oder methodisch überprüfbare Beziehung zwischen geschriebenem und gesprochenem Recht hergestellt werden kann. Zwischen der illusorischen Lösung und der abstrakten Abwehr der Frage nach der Textbedeutung liegt das Programm einer Analyse der praktischen Textarbeit. Die Konstitution der Bedeutung des Normtextes muß aus der Praxis der Textarbeit heraus verstanden werden. Weil mit Hilfe der Normtexte lebenspraktische Aufgaben bewältigt werden, kann und muß eine Regelhaftigkeit der Bedeutungskonstitution in den wirklichen Zusammenhängen der Ingebrauchnahme dieser Textformulare untersucht werden 11 . Das gesprochene Recht kann dabei vom geschriebenen nicht isoliert werden, denn der Inhalt der von den Juristen ausgeübten semantischen Praxis besteht gerade in der Verknüpfung dieser beiden Größen. M i t dem an der semantischen Praxis ansetzenden Konzept der Textstruktur geht die Strukturierende Rechtslehre über das von der herkömmlichen Auffassung vorausgesetzte Verständnis einer externen Relation zwischen Sprache und Sprecher hinaus und überwindet den Instrumentalismus der juristischen Sprachauffassung. Sie zeigt stattdessen, daß das Sprechen des Richters juristisches Handeln ist 1 2 . Die dabei über einen bestimmten Zeichengebrauch hergestellten Bedeutungen und Legitimationszusammenhänge sind den einschränkenden Bedingungen aus den methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts unterworfen und stellen insoweit keine willkürlichen Entscheidungen dar. In der experimentellen Kommunikation des juristischen Handlungsspiels kommt im Wege der Erfolgs- bzw. Mißerfolgsrückmeldung und über explizite gesetzliche Anforderungen und deren praktische Präzisierung als Argumentationskultur die eingeschränkte Objektivität der Sprache als „Phänomen der dritten A r t " zur Geltung. Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung des Streits um die Bedeutung des Normtextes kein abgesondertes Phänomen reiner 10
Vgl. dazu oben im Text Teil C 2.2.3 m.w.N. Vgl. dazu neben der schon oben zitierten Literatur zur Gebrauchstheorie: Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 79 f. und öfter 12 Vgl. zur Strukturierenden Rechtslehre als Handlungstheorie: F. Müller, 'Richterrecht', 1986, S. 94 11
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Erkenntnis oder isolierter Entscheidung ist, sondern eine unter anderem durch die Gesetzesbindung erschwerte konstitutive Leistung des handelnden Rechtsarbeiters. Auf der Grundlage des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Konzepts der Textstruktur läßt sich damit der Ansatzpunkt der Frage nach der sprachlichen Bedeutung des Normtextes bestimmen. Der Ansatzpunkt liegt bei der Spanne, die das geschriebene vom gesprochenen Recht trennt. In dieser Spanne entfaltet sich die richterliche Textarbeit, welche den Streit um die Textbedeutung unter den erschwerten Bedingungen verfassungsrechtlich-methodischer Anforderungen entscheidet. 3.1.2 Zwischen Normtext als Textformular und Rechtsnorm als Textbedeutung liegt das juristische Handeln als semantische Praxis Der zweite Schritt einer sprachtheoretischen Präzisierung muß das Feld juristischen Handelns zunächst einmal entlang sprachwissenschaftlicher Kategorien strukturieren. Dem dient die von der Überschrift nahegelegte Zuordnung juristischer und sprachwissenschaftlicher Begriffe. Der Normtext als Ausgangspunkt juristischer Tätigkeit wird dem Begriff Textformular zugeordnet, die Rechtsnorm als wichtiges Zwischenergebnis der Kokretisierung dem Begriff Textbedeutung13. Das Textformular bezeichnet dabei die bloße Zeichenkette, während Textbedeutung die Semantik der Zeichenkette darstellt. Zwischen beiden vermittelt das juristische Handeln, welches hier als semantische Praxis aufgefaßt wird. Diese begriffliche Zuordnung bewährt sich in der Analyse praktischer Rechtsarbeit. Die Betrachtung konkreter Rechtsentscheidungen ergibt, daß die Subsumtion unter Rechtsbegriffe nur der unproblematische Endpunkt einer sehr viel komplexeren Struktur ist, die sich in jedem wirklich problematischen Fall nicht in der Arbeit mit Begriffen erschöpft, sondern eine Arbeit am Begriff umfaßt. Während im Normalfall gelingender Kommunikation die Sprachregeln blind befolgt werden und nicht selbst Gegenstand der Kommunikation sind, liegt das Problem für praktische Rechtsarbeit anders. Eine wesentliche Schicht des zur Entscheidung vorgelegten Falls bildet der „Streit um Worte" (etwa die Formulierung eines Vertrags oder die Bedeutung eines gesetzlichen Ausdrucks). Die Aufgabe praktischer Rechtsarbeit liegt also in der Formulierung einer Regel, die diesen Streit entscheidet. Nun zeigt aber die linguistische Diskussion 1 4 , daß keine Regelformulierung in die bloße Erkenntnis des vorhandenen Systems der Sprachregeln aufgelöst werden kann. Weil das System der Sprachregeln kein geschlossenes System ist in der Weise, daß es unvorhersehbare 13
Vgl. zur Verknüpfung der Oppositionen Textformular/Textbedeutung und Normtext/Rechtsnorm: Wimmer, Bemerkungen zum Exposé von Christensen/ Jeand'Heur, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 13 ff. 14 Vgl. dazu R. Keller, Zur Epistomologie der Semantik, in: L. Jäger (Hrsg.), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 22ff., insbes. 34ff.
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Transformationen seiner Regeln ausschließen kann, beinhaltet jede Regelformulierung die strukturelle Möglichkeit einer solchen Transformation. Eine Regelformulierung ist deswegen kein bloßer Erkenntnisakt als Übergang vom Zeichen zur vorgegebenen und feststehenden Bedeutung, sondern ein Gestaltungsakt, der eine Zeichenkette durch eine andere ersetzt. Wenn diese Sprachgestaltung, wie im Falle praktischer Rechtsarbeit, mit einem Verbindlichkeitsanspruch gekoppelt ist, handelt es sich dabei um eine Sprachnormierung 15 . Diese kann auch nicht, wie die Theorie der kommunikativen Kompetenz annimmt, nach einem einheitlichen Schema abstrakt koordiniert werden. Eine wie immer formulierte Einheitsvorstellung unterschätzt die auch für die Sprache des Rechts konstitutive Differenz der Bedeutungsverhältnisse und Begründungsmöglichkeiten, welche die Vielfalt der oft neuen Probleme überhaupt erst entscheidbar machen. Es wird damit deutlich, daß der Normtext als Textformular die Textbedeutung nicht vorgeben kann. Die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette definiert keinen Ort stabiler Sprache, welcher als punktuelle Größe von der Auslegung nur verfehlt oder getroffen werden kann. Eher legt sie ein Durchzugsgebiet fest mit Raum für konkurrierende Interpretationen, welche höchstens topographisch verortet werden können. In diesem Rahmen gibt es keine notwendige Verknüpfung zwischen Normtext und vom Rechtsarbeiter hergestellter Rechtsnorm, zwischen Textformular und Text, sondern nur miteinander vergleichbare Plausibilitäten im Rahmen einer gegebenen Argumentationskultur. 3.1.3 Die Bedeutung des Normtextes wird nicht mechanisch angewendet oder frei erfunden, sondern durchgesetzt Der dritte Schritt einer sprachtheoretischen Präzisierung des Problems der Gesetzesbindung bezieht sich auf die nähere Bestimmung des Verhältnisses von juristischem Handeln und textueller Bedeutung: Wird die Textbedeutung vom handelnden Juristen angewendet, erfunden oder durchgesetzt? Aus der Sicht der positivistischen Theorie besteht die Leistung des handelnden Juristen nur darin, die vorgegebene sprachliche Bedeutung des Normtextes auf den Fall anzuwenden. Gesetzesbindung heißt aus dieser Sicht, daß anstelle der Personen die vorgegebenen Regeln herrschen, und zwar dadurch, daß die Rolle des Richters auf den Vollzug dieser Regeln beschränkt wird. Dort wo der 15 Vgl. zum Begriff der Sprachnorm: Wimmer, Sprachliche Normen, in: Heringer u.a., Einführung in die praktische Semantik, 1974, S. 40 ff., 45: „Normen sind Regeln, die vorgeschrieben werden. Sie haben - vorschreibenden Charakter (...), - eine Tendenz zur Ausweitung ihres Geltungsbereichs, - und sie zielen auf die Herstellung von Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Regeln ab." Vgl. zu einem engeren, an der textstrukturalistischen Sicht orientierten Begriff der Sprachnorm: Coseriu, System, Norm und Rede, in: ders., Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft, 1975, S. 11 ff. 18*
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Richter diese vorgegebenen Regeln mißachtet, verletzt er auch gleichzeitig das Postulat der Gesetzesbindung. Garantiert und vorgegeben werden diese Regeln durch die Sprache. Ihr kommt die zentrale, aber kaum thematisierte Rolle zu, das Sprechen des Richters zu binden. Damit werden die sprachlichen Regeln verstanden als ein hinter dem Sprechen des Richters verborgenes System gesetzmäßiger Regulierungen, das von der Auslegung aufgedeckt und in der richterlichen Subsumtion vollzogen wird 1 6 .Die Sprachregeln haben aus dieser Sicht eine objektive gegenstandsähnliche Existenz und können im Wege der juristischen Erkenntnis „entdeckt" werden. Damit mündet die gesetzespositivistische Sicht richterlichen Handelns in eine regelplatonistische Sprachtheorie. Demgegenüber führt die konsequent zu Ende gedachte dezisionistische Position auf dem Gebiet der Sprachtheorie in den Regelskeptizismus. Die Sprache ist demnach nicht nur außerstande, dem handelnden Rechtsarbeiter die juristische Regel für die Entscheidung vorzugeben,sondern sie ist schon außerstande, dem Sprecher überhaupt eine Regel seines Sprechens vorzugeben. Ebenso wie bei der Frage nach dem Ansatzpunkt des Bedeutungsproblems dem abstrakten Sprachsystem die isolierte Einzeläußerung entgegengesetzt wurde, so wird hier der vom Positivismus hervorgehobenen objektiven Konventionalität der Sprache von der dezisionistischen Position lediglich die subjektive Intention des Sprechers entgegengesetzt. A n die Stelle der positivistischen Behauptung einer vollständigen Bindung und Ablehnung einer schöpferischen Rolle des Richters tritt damit die Betonung seiner schöpferischen Rolle und die Ablehnung der Möglichkeit, sein Sprechen mittels des Gesetzes zu binden. Die positivistische Überschätzung der Rolle der Sprache im juristischen Entscheiden wird durch die dezisionistische Unterschätzung ihrer Rolle nur abstrakt negiert. Wenn die einseitige Betonung des Sprachsystems in Frage gestellt wird, aber gleichzeitig der Sprecher die Stellung der Sprache besetzt, bleibt die Einseitigkeit der Betrachtung selbst gerade erhalten. Auch sprachtheoretisch läßt sich eine Gegenüberstellung von objektiver Sprachkonvention und subjektiver Sprecherintention in der von der juristischen Diskussion immer wieder nahegelegten Weise nicht halten 17 . Sowohl in der Sprachphilosophie als auch in der Sprachwissenschaft wird sehr stark die wechselseitige Beziehung zwischen diesen von den Juristen gegeneinander isolierten Größen betont. Weder läßt sich die Regel formulieren, ohne Bezug auf subjektive Intentionen zu nehmen, noch läßt sich umgekehrt eine subjektive Intention ohne Bezug auf konventionelle Regeln formulieren 18 . Erst die Vereinseitigung des Regelbegriffs in regelplatonistischer bzw. regelskeptizistischer Weise legt diese Möglichkeit nahe und reißt mit unterschiedlicher Begründung, aber übereinstimmendem Ergebnis das auseinander, was in der sprachlichen Praxis einen organischen 16 Vgl. Busse, Bedeutungsexplikationen in juristischen Texten, in Vorbereitung, Einleitung 17 Vgl. dazu oben im Text Teil C 2 18 Vgl. dazu Busse, Historische Semantik, 1987, S. 122ff., 176ff. und öfter m.w.N.
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Zusammenhang bildet. Dies zeigt, daß es eben nicht genügt, dem vom Positivismus sprachtheoretisch vorausgesetzten Regelplatonismus den Regelskeptizismus als sein abstraktes Gegenteil gegenüberzustellen 19. Für eine Kritik der vom Positivismus implizit vorausgesetzten Sprachtheorie genügt es nicht, einfach die Vorzeichen umzukehren und das Gegenteil zu behaupten. Seine regelplatonistischen Voraussetzungen müssen vielmehr im einzelnen kritisiert werden. Ansatzpunkt für diese Kritik ist die vom positivistischen Subsumtionsmodell vorausgesetzte objektive Regelhaftigkeit einer von der Sprachpraxis isolierten Sprache. Im Innern des positivistischen Modells der Gesetzesbindung zeigt sich damit die sprachtheoretische Annahme, daß das richterliche Sprechen von verborgenen Regeln determiniert werde. In der neueren Sprachphilosophie ist diese stillschweigende Voraussetzung einer positivistischen Sprachtheorie zunehmend problematisiert worden: „Die Vorstellung von Systemen von Regeln, die unter der von Regeln bestimmten Handlung, eine Sprache zu sprechen, verborgen sind, ist eine endemische Täuschung der Vernunft" 20 . Nur wenn es solche gebrauchsunabhängigen Sprachregeln gibt, kann das Verstehen und Anwenden der Gesetzestexte als determiniert durch die semantischen Eigenschaften und ihre grammatikalische Verknüpfung angesehen werden. Die endemische Täuschung, welche die Vernunft nach verborgenen Regeln der Sprache suchen läßt, hat also im Rahmen der Rechtstheorie ihre Wurzeln im Positivismus und den Inkonsequenzen seiner Kritik. Erst eine nachpositivistische Orientierung kann die sprachlichen Regeln der Rechtsarbeit gebrauchsorientiert analysieren. Zum einen wird damit die Sprachregel aus der Abstraktheit eines vorgestellten Systems ins konkrete Diesseits semantischer Praxis zurückgeholt: „Regeln besitzen keinerlei 'Existenz' über den Gebrauch durch Sprecher in Regel-Formulierungen, Bedeutungserklärungen, paradigmatischen Beispielen korrekten Sprechens usw. hinaus" 21 . Zum andern verlieren die sprachlichen Regeln im Zuge dieser Entwicklung auch den fraglosen Status objektiver Vorgegebenheit, und es wird an ihnen ein sprachgestaltendes, aktives Moment sichtbar: „Regeln werden genausowenig in der Natur vorgefunden wie Aussagen. Sie sind menschliche Schöpfungen oder Artefakte" 22 . Die Regeln der Sprache werden von den Sprechern nicht schlicht 19 Vgl. dazu auch Kemmerling, Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, in: Rechtstheorie 1975, S. 104ff. 20 G. Baker, Moderne Sprachtheorien aus philosophischer Sicht, in: Wimmer (Hrsg.), Sprachtheorie: Der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag, Jahrbuch 1986 des Instituts für deutsche Sprache, S. 20ff., 22. Vgl. auch Baker/Hacker, Language, Sense and Nonsense. A Critical Investigation into Modern Theory of Language, 1984, S. 275. Baker und Hacker sprechen dort von der „bizarre(n) Annahme, Regeln müßten bei jedem Sprecher ,im Geiste repräsentiert 4 sein, tief vergraben jenseits der Reichweite des Bewußtseins, in Erwartung ihrer Entdeckung durch den Linguisten". 21 Baker/Hacker, ebd., Übersetzung nach Busse, Bedeutungsexplikationen in juristischen Texten, in Vorbereitung, Einleitung
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vorgefunden, sondern sie werden in einer „komplexen sozialen Interaktion" 2 3 auch gestaltet. Die Sprache ist kein dem Sprecher fertig vorgegebenes und technisch-instrumentell anwendbares Regelwerk, sondern ein Verfahren zur Konstitution von Bedeutung 24 . Sie ist durchsetzt von Normierungen und Wertungen, welche die Geltung sozialen Handelns bestimmen und andererseits im sprachlichen Handeln auch verändert und gestaltet werden 25 . Und auch die genannten Normierungen und Wertungen sind nicht naturhaft fixiert und objektiv vorgegeben, sondern abhängig von konfligierenden Bestimmungsversuchen im öffentlichen Sprachkampf 26 . Gegenstand von Bindungen praktischer Rechtsarbeit können damit nicht durch die Sprache vorgegebene Regeln richterlichen Sprechens sein. Solche Bindungen können vielmehr nur in der Sprache durch praktische Normierungsvorgänge begründet werden. Nicht sprachliche Regeln binden den Richter, sondern durch die Sprache vermittelte Standards und Normierungen der Legitimität richterlicher Streitentscheidung. Der dezisionistischen Kritik am positivistischen Modell der Rechtsarbeit ist also beizupflichten, soweit sie sich gegen die vom Positivismus stillschweigend vorausgesetzte Verdinglichung sprachlicher Regeln wendet. Aber der Dezisionismus schießt über das Ziel hinaus, wenn er die Möglichkeit von Bindungen in der Sprache überhaupt bestreitet. Normierungen oder methodische Standards richterlichen Sprechens werden zwar nicht schon durch objektive Regeln der Sprache selbst gesetzt und garantiert. Aber Normierungen und verpflichtende Standards können an sprachliche Regeln und deren Veränderung im praktischen Sprechen anknüpfen. Wenn die dezisionistische Kritik nur die Veränderung des Sprachgebrauchs in der sprachlichen Praxis wahrnehmen will und die Kategorie sprachlicher Regeln als Gegenstand dieser Veränderung und als Bezugspunkt von sprachlichen Normierungsprozessen in Abrede stellt, dann setzt sie sich in Widerspruch zu den von ihr selbst in Anspruch genommenen 22 G. Baker, Moderne Sprachtheorien aus sprachphilosophischer Sicht, in: Wimmer (Hrsg.), Sprachtheorie: der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag, Jahrbuch 1986 des Instituts für deutsche Sprache, S. 20ff., (Nr. 2 Anfang) 23 Ebd. 24 Vgl. dazu Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 15 25 Vgl. dazu Busse, Historische Semantik, 1987, S. 192ff., dort insbesondere den Analogiebegriff als Verdeutlichung dieser Beziehung. Vgl. auch Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 26 und öfter; allgemein auch Göttert, Regelbefolgung, Regeldurchbrechung, Regelerneuerung, in: Z G L 1979, S. 151 ff. 26
Vgl. dazu Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 15 und öfter sowie zusammenfassend auch Busse, Chaoten und Gewalttäter. Ein Beitrag zur Semantik des politischen Sprachgebrauchs, in: Burkhardt/Hebel/Hoberg (Hrsg.), Sprache zwischen Militär und Frieden: Aufrüstung der Begriffe?, 1989, S. 93 ff.
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Voraussetzungen. Denn von Veränderungen des Sprachgebrauchs kann man überhaupt nur reden, wenn man den Begriff der Regel voraussetzt 27 . Mit der Auflösung des Regelbegriffs wäre auch zugleich die vom Dezisionismus selbst in Anspruch genommene Möglichkeit einer Sprache als Mittel intersubjektiver Verständigung aufgelöst. Denn der Begriff der Sprache ist mit der Möglichkeit der Wiederholung verknüpft und setzt damit einen Regelbegriff voraus, den Wittgenstein folgendermaßen formuliert: „Das Wort,übereinstimmen 4 und das Wort,Regel' sind miteinander verwandt. Sie sind Vettern. Lehre ich Einen den Gebrauch des einen Wortes, so lernt er damit auch den Gebrauch des anderen" 28 . Die Kritik am Regelplatonismus löst also gerade nicht den Begriff der sprachlichen Regel selbst auf. Der Fehler des Regelplatonismus besteht vielmehr nur darin, daß er die Regel von der sprachlichen Praxis isoliert, indem er sie als reine Konvention faßt, welche sich identisch in jeder Wiederholung reproduziert. Der entgegengesetzte Fehler des Regelskeptizismus liegt darin, daß er die sprachliche Praxis von der Regel isoliert. Die subjektive Intention gilt danach als alleinige Quelle einer bei jeder Zeichenwiederholung neuen Bedeutung. Die Produktion sprachlicher Bedeutung als praktischer zwischen Regelbefolgung und Regelerweiterung anzusiedelnder Prozeß 29 wird von beiden Positionen einseitig verkürzt. Diese Verkürzung prägt auch die impliziten sprachtheoretischen Auffassungen von Positivismus und Dezisionismus. Während der Positivismus einseitig die Regel hervorhebt und von jeder sprachpraktischen Verschiebung absieht, betrachtet der Dezisionismus allein die Veränderung und sieht dabei von der Regel ab. Eine realistische Einschätzung der Möglichkeit einer Bindung richterlichen Handelns muß demgegenüber sowohl den Regelplatonismus als auch den Regelskeptizismus vermeiden. Es stellt sich deswegen die Frage, ob zwischen den extremen Auffassungen des Verhältnisses von juristischem Handeln und textueller Bedeutung eine präzisere Bestimmung dieses Verhältnisses möglich ist. Ausgangspunkt für eine Präzisierung muß der geschilderte Streit um die Verknüpfung von Normtext und Sachverhaltserzählung mit dem tragenden 27
Vgl. zum Zusammenhang von Regel und Abweichung: Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 25. Wie Wittgenstein herausgearbeitet hat, kann das Abweichen nicht als Befolgen einer privaten Regel angesehen werden. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, §§ 199, 243-248, 261-280; sowie Kenny, Wittgenstein, 1974, S. 208 ff. 28 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, § 224. Vgl. auch ebd., § 225 und §§215 ff. Vgl. zu der Argumentation Wittgensteins gegen die Möglichkeit „privaten" Regelbefolgens neben der schon angegebenen Literatur noch Winch, Die Idee der Sozialwissenschaften und ihr Verhältnis zur Philosophie, 1974, S. 36-46 29 Busse, Historische Semantik, 1987, S. 103. Vgl. auch S. 193 ff. zum Begriff der Analogie als Regelbefolgung und Regelerweiterung verknüpfende Figur.
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Leitsatz der Entscheidung sein. Dieser Streit kann auch als Auseinandersetzung über die Bedeutung des Normtextes für den Fall aufgefaßt werden. Das Problem für die Parteien besteht darin, ein bestimmtes Verständnis der Textbedeutung gegen andere Verständnisweisen mittels spezifischer Argumente durchzusetzen. Der Streit dreht sich also im Kern um sprachliche Gebrauchsweisen, um unterschiedliche grammatische Bedeutungserklärungen. Ein solcher Gegensatz konkurrierender Bedeutungserklärungen läßt sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht als „semantischer K a m p f ' 3 0 beschreiben. Das Element des Kampfes liegt darin, daß die in der fraglichen Auseinandersetzung vorgeschlagenen Gebrauchsweisen des betreffenden Ausdrucks sich wechselseitig ausschließen31. Dabei stehen hinter dem Unterschied der grammatischen Bedeutungserklärung grundlegendere Differenzen: „Der Streit geht um Gegenstände und Tatsachen in der Welt, und er kann letztlich nur dadurch geführt werden, daß man sich über die Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke auseinandersetzt" 32. Gerade im Streit um die Bedeutung des Normtextes tritt dieses letzte Moment besonders klar hervor. Das Ziel der an dem semantischen Kampf Beteiligten liegt darin, den jeweils eigenen Interpretationsvorschlag auf Kosten des Gegners so durchzusetzen, daß die betreffende Bedeutungserklärung als einzig legitime Interpretation des Normtextes im Hinblick auf den Fall akzeptiert wird. Vor dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Kategorie des semantischen Kampfes läßt sich das juristische Handeln damit als Versuch zur Durchsetzung einer bestimmten Textbedeutung verstehen. Ein solches Durchsetzen33 vollzieht sich allerdings nicht als freie Erfindung ex tabula rasa. Die Durchsetzungshandlung knüpft an eine 'bestehende' Regel an, die ihrerseits mit anderen Regeln der sozialen Lebensform zusammenhängt34. Die genannten 30
Vgl. zu diesem Begriff Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 73; R. Keller, Kollokutionäre Akte, in: Germanistische Linguistik 1/2,1977, S. 1 ff.; Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, 1979, S. 107 ff. 31 Vgl. dazu R. Keller, ebd., S. 27 sowie Sokolowski, ebd., S. 76; auch Ivo, Der verweigerte Dialog, in: Fetscher/H.E. Richter (Hrsg.), Worte machen keine Politik, 1976, S. 20 ff. 32 Wimmer, Gebrauchsweisen, sprachlicher Ausdrücke, in: Heringer u.a., Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 24ff., 33 33 Vgl. zum Begriff „Durchsetzen" Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 83 f., 91 und öfter; R. Keller, Kollokutionäre Akte, in: Germanistische Linguistik 1/2, 1977, S. Iff., 28 34 Vgl. dazu auch den Kontext des Akzeptierens von Regeländerung: Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 26: „Das Akzeptieren geschieht natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern durch gemeinsames Handeln und darum auf der Basis schon anerkannter gemeinsamer Regeln. Also auch im Akzeptieren neuer Regeln ist ein Individuum abhängig von den Regeln, die es beherrscht und damit von einer sozialen Gruppe. Dabei wirken
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Regeln sind jedoch nicht sprecherunabhängig in der Weise vorgegeben, daß die Durchsetzungshandlung nur als Pochen auf ihre schlichte Anwendung zu verstehen wäre. Vielmehr werden diese Regeln in der Sprachpraxis erst festgelegt und ausgehandelt, ohne daß dabei ein kreatives Moment von vornherein ausgeschlossen werden könnte. Der Begriff „Durchsetzen" bezieht sich nun genau auf diese nicht auflösbare Verknüpfung von Regelwiederholung und Regeländerung in der Sprachpraxis. Dabei ergibt sich die Möglichkeit einer an sprachliche Regeln anknüpfenden Durchsetzungshandlung zunächst daraus, daß es sich bei diesen Regeln nicht um kausale Naturzusammenhänge handelt, sondern um gesellschaftliche Konventionen 35 . Das Befolgen solcher Konventionen durch die einzelnen Sprecher ist ein intentionaler Vorgang 36 . Da nun die Gesamtheit sprachlicher Konventionen im Hinblick auf ihre interne Unendlichkeit nicht als geschlossenes System klar und endgültig gegeneinander profilierter Elemente gedacht werden kann 3 7 , enthält jede intentionale Wiederholung der sprachlichen Konvention strukturell die Möglichkeit einer Verschiebung. Die sprachwissenschaftliche Analyse der semantischen Praxis führt damit zu dem Ergebnis, daß die Grammatik einer Lebensform fluktuierenden Gebräuchen unterworfen ist 3 8 und darin die potentielle Möglichkeit von Streit um die verbindliche Geltung angelegt ist. Das Fluktuieren der Grammatik einer Lebensform ist somit der Raum, worin sich die Durchsetzungshandlung entfalten kann. Die Durchsetzung einer bestimmten Bedeutungsauffassung wird um so leichter sein, je weniger die fragliche Deutung dem Rezipienten aufgezwungen werden muß und latent vorhandene Deutungsmöglichkeiten aktivieren kann: „Eine bestimmte Deutung ist leichter durchzusetzen, wenn die verwendeten auch vor allem Zwänge, gesellschaftliche Konflikte usw. mit, nicht etwa die freie Entscheidung freier Individuen." 35 „Die Möglichkeit der Veränderung von Regeln ist gegeben durch ihre Konventionalität" (Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 26). Zum Verhältnis von Naturgesetzen und Regeln vgl. Oelschläger, Einige Unterschiede zwischen Naturgesetzen und Regeln, in: Heringer (Hrsg.), Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 1974, S. 88 f f ; kritisch dazu Kasper, Einige Ähnlichkeiten zwischen Naturgesetzen und Regeln, in: L. Jäger (Hrsg.), Erkenntnistheoretische Grundfragen der Linguistik, 1979, S. 174 ff. 36 Vgl. zur Bedeutung des Elements der Intention für die Sprachtheorie: R. Keller, Zum Begriff der Regel, in: Heringer (Hrsg.), Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 1974, S. lOff., 11 f.; Heringer, Eine Regel beschreiben, in: ebd., S. 48ff. Zum Zusammenhang von Intention und Konvention vgl. Schnelle, Sprachphilosophie und Linguistik, 1973, S. 285-311; Strawson, Intention und Konvention in Sprechakten, in: ders., Logik und Linguistik, 1974, S. 56 ff. 37
Vgl. dazu die oben in Teil C und D schon nachgewiesene Strukturalismus-Kritik von Derrida 38 Diese Unabgeschlossenheit der Grammatik einer Lebensform hat Wittgenstein herausgearbeitet. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, § 68, § 83; ders., Über Gewißheit, 1970, § 96. Vgl. zum Ganzen auch Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 96
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Ausdrücke semantische Anschlußmöglichkeiten eröffnen, welche zu den insinuierten Sinnmöglichkeiten u.U. mehr beitragen, als die verwendeten Ausdrücke selbst. (...) Sprachbeeinflussung zielt deshalb nicht nur auf die Gebrauchsregeln einzelner Begriffe, sondern auf ganze Systeme von Gebrauchsregeln sprachlicher Ausdrücke, auf semantische Netze, auf Assoziationsfelder" 39 . Wenn man dieses Eingebundensein der Durchsetzungshandlung in semantische Felder und ihre Verwiesenheit auf Legitimationstransfer aus vorhandenen Deutungsmustern betrachtet, wird klar, daß die als „Durchsetzen" beschriebene Handlung weit entfernt ist von der Willkür dezisionistischer Bedeutungserfindung. Andererseits macht der im Begriff des Durchsetzens implizierte Streit um die Geltung auch auf eine aktive Handlungskomponente aufmerksam, die in der Vorstellung einer bloßen Anwendung der vorgegebenen Bedeutung nicht zum Ausdruck kommen kann. Der auf den Gegensatz der Deutungsmöglichkeiten bezogene Begriff der Durchsetzung erscheint daher als geeigneter Anknüpfungspunkt, um das Verhältnis von Textbedeutung und juristischem Handeln zu präzisieren. Allerdings ist der Sprachkampf um die Durchsetzung von Wirklichkeitsund Textinterpretation im Rahmen des juristischen Sprachspiels besonderen Anforderungen unterworfen. Diese Anforderungen, die unter den Streitenden eine gewisse „Waffengleichheit" 40 herstellen sollen, sind verfassungsrechtlich und einfachgesetzlich festgeschrieben und werden als methodische Standards von der Wissenschaft präzisiert. Unter der Vorgabe des mit dem Normtext gesetzten Textformulars und den an die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zur Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise schon viel stärker eingeschränkt als etwa in einem auf das politische Sprachspiel bezogenen semantischen Kampf 4 1 . So wird sich unter der Voraussetzung eines demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats die Interpretation am besten durchsetzen lassen, die das von den textuellen Vorgaben bestimmte Gelände am besten zu nutzen weiß. Wenn der Text auch keine objektiv feststehende Bedeutung hat, so gibt es doch zu der verkörperten Zeichenkette eine Anzahl von „mitgebrachten Verwendungsweisen" 42, welche als früher durchgesetzte Interpretationen in Gestalt von Entscheidungen oder juristischer Dogmatik das neu zu findende 39
Busse, Chaoten und Gewalttäter. Ein Beitrag zur Semantik des politischen Sprachgebrauchs, in: Burkhardt/Hebel/Hoberg (Hrsg.), Sprache zwischen Militär und Frieden: Aufrüstung der Begriffe?, 1989, S. 93 ff. 40 Vgl. dazu Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-JahrFeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 11 41 Vgl. zum semantischen Kampf im politischen Sprachspiel: Behrens/Dieckmann/ Kehl, Politik als Sprachkampf, in: Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 216 ff. m.w.N. 42 Vgl. dazu Sokolowski, Wenn zwei sich streiten, was versteht der Dritte? Zur praktischen Semantik kompetitiven Handelns als Grammatik politischen Sprechens, in Vorbereitung, Manuskript S. 102
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Verständnis beeinflussen. Wer seine Interpretation des Normtextes gegen eine andere durchsetzen will, kann an diesen „mitgebrachten Verwendungsweisen" der Regeln nicht vorbeigehen. Trotzdem haben diese Verwendungsweisen des Normtextes aber nicht den fraglosen Status einer substantiellen Bedeutung. In der juristischen Praxis sieht man das daran, daß sowohl Entscheidungen anderer Gerichte als auch dogmatische Aussagen nicht mechanisch angewendet werden, sondern in der Regel einer eigenständigen und selbstverantworteten Wertung unterzogen werden 43 . Zudem können die von historisch-genetischer Auslegung und Dogmatik erschlossenen mitgebrachten Verwendungsweisen von den Ergebnissen der grammatisch-systematischen Auslegung verdrängt werden. Aber alle diese die Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise erschwerenden Bedingungen sind nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache vorgegeben. Sie sind legitimatorische Standards eines bestimmten Sprachspiels und keine Vorgaben, die schon mit der Sprache selbst gesetzt sind. Im Ergebnis muß man damit das Verhältnis von Textbedeutung und juristischem Handeln sprachwissenschaftlich in den Kategorien einer „kompetitiven Semantik" 44 präzisieren: Das juristische Handeln setzt die Textbedeutung in einem semantischen Kampf durch. Diese Durchsetzung der Textbedeutung wird allerdings durch besondere Bedingungen erschwert, die sich als legitimatorische Standards aus den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das juristische Sprachspiel ergeben. Dieses Ergebnis zwingt allerdings dazu, die Frage nach der Grenze juristischer Auslegungstätigkeit neu zu stellen. Denn entgegen dem herkömmlichen juristischen Verständnis der Wortlautgrenze wird die Durchsetzung einer bestimmten Textinterpretation nicht von Grenzen erschwert, welche durch die Sprache selbst vorgegeben sind, sondern höchstens durch Grenzen, die in der Sprache errichtet sind. 3.2 Die Wortlautgrenze wird nicht durch die Sprache, sondern in der Sprache definiert
Die Wortlautgrenze soll die Bindung des richterlichen Sprechens an das Gesetz sicherstellen. Wie stellt der praktisch handelnde Rechtsarbeiter aber fest, daß er sich an die Grenzen des Gesetzes hält? Welche Kriterien muß er anlegen und mit welchen Größen seine Interpretation vergleichen? 3.2.1 Die Wortlaut grenze ist keine sprachliche Größe Die Antwort auf diese Frage war einfach, solange man an eine natürliche Grenze der Gesetzesinterpretation glauben konnte. Der Richter genügte danach 43 Das kommt zum Ausdruck im Begriff der „guten Gewohnheit" bei Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 19 44 Vgl. dazu Heringer, Praktische Semantik, 1974, S. 69
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der Gesetzesbindung, solange er mit seiner Interpretation nicht die Sprachgrenzen überschritt, die seinem Sprechen allein schon durch den Text vorgegeben sein sollten. Die Sprache des Gesetzes, notfalls ergänzt durch die hinter dem Gesetz liegende Gerechtigkeit, bildet danach eine umfassende und der Erkenntnis objektiv vorgegebene Ordnung, in welche sich das Sprechen des Richters lediglich richtig einfügen mußte. Für das auch die antipositivistische Doktrin prägende positivistische Normverständnis ist die Gesetzesbindung damit eine Bindung an eine vorgegebene Größe. Dies wird bestätigt, wenn etwa die Gesetzesbindung richterlichen Handelns als bloßes Textproblem entlang der Unterscheidung von „enger" und „weiter" Formulierung dargestellt wird 1 . Die rechtsstaatlichen Anforderungen an richterliche Konkretisierung bleiben damit rein textbezogen: Der Richter darf nicht gegen den eindeutigen Wortlaut entscheiden, und je enger ein Normtext formuliert ist, desto geringer ist der Wertungsspielraum des Richters 2 . Wo dem Gesetz dagegen keine eindeutige, d.h. subsumtionsfähige Aussage zu entnehmen ist, beginnt der richterliche Wertungsspielraum, dessen Grenzen sich unabhängig von der Frage der Gesetzesbindung nach der Leistungsfähigkeit der Rechtsprechung und der Konsensfähigkeit der Entscheidung bemessen sollen. Die Tragweite der richterlichen Gesetzesbindung wird damit verkürzt. Die Forderung an den Richter, den eindeutigen Normwortlaut strikt zu befolgen, läßt sich nämlich, abgesehen vom Grenzfall gesetzlicher Anordnungen über Fristen und Termine 3 , überhaupt nicht einlösen. Eindeutig wird der Wortlaut erst durch die Konkretisierung und bleibt es auch nur bis zum Auffinden neuer Argumente. Aber auch dann kann der Wortlaut nicht „befolgt" werden, sondern höchstens Interpretationshypothesen zu Fall bringen. Die These vom scheinbar vorgegebenen eindeutigen Wortlaut verkürzt die Normstruktur und deren Trennschärfe auf die Eindeutigkeit des grammatischen Konkretisierungselements4. Hier wirkt deutlich die positivistische Vorstellung einer Norm als anwendungsbereitem Set von Regeln nach. Verkannt wird von dieser Position, daß Juristen in jedem problematischen Fall nicht einfach mit Begriffen, sondern an Begriffen arbeiten. Gerade in 1 Vgl. H.P. Schneider, Die Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung, in: DÖV 1975, S. 443 ff., 450. Ähnliche Unterscheidungen finden sich auf der Ebene des Begriffs z.B. bei Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1984, S. 331 und öfter. Vgl. zu diesem Problem auch Christensen, Stichwort Begriff/Begriffsbildung, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Abt. Rechtsphilosophie, 1986 2
Vgl. H.P. Schneider, ebd., S. 452. Zum Wortlaut als Instrument der Distinktion von Richterrecht vgl. auch C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl. 1969, S. 104 3 Der Wortlaut hat zwar eine Grenzwirkung und auch eine Anregungswirkung für die Konkretisierung, aber mit einer Bestimmungswirkung ist er außer in seltenen Grenzfallen überfordert: vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 128, 148ff., 217ff., 224ff., 250ff., 267f. 4 Zur Kritik an der Gleichsetzung der Wortlautgrenze und grammatischem Element vgl. F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 78
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diesem Bereich sind die rechtsstaatlichen Bindungen richterlicher Tätigkeit einzulösen. Die richterliche Gesetzesbindung auf angeblich vorgegebene Begriffsinhalte zu beziehen5, würde damit die Wortlautgrenze nicht nur zur Bedeutungslosigkeit verurteilen, sondern auch die richterlichen Entscheidungsvorgänge hinter der Fiktion einer Begriffsermittlung verstecken. Auch haben sich die sprachtheoretischen Grundlagen des positivistischen Modells der Gesetzesbindung als uneinlösbar erwiesen 6. Der universelle Code als unbezweifelbare Grundlage richterlichen Sprechens blieb trotz der Bemühungen um eine Ausdehnung des Positivismus in die Sprachtheorie ein bloßer Traum. Weder die objektive Bedeutung der Rechtsbegriffe noch die Reformulierung dieser Theorien in Kategorien einer logischen Semantik konnten der Sprache die Vormundschaft für das Sprechen des Richters zuschieben. Die Wortlautgrenze ist also keine Sprachgrenze. Wörter haben nicht schon an sich selbst Schranken, welche bestimmte Weisen ihres Gebrauchs ausschließen könnten. Über Grenzen der Verwendung wird nicht von der Sprache entschieden. Über Grenzen wird vielmehr in der Sprache entschieden7, und zwar von Menschen, die eine Sprachgemeinschaft oder ein Sprachspiel bilden. Die Sprache kann deswegen nicht anstelle des Juristen und des politischen Souveräns das Problem lösen, die Standards einer bestimmten Rechtskultur festzulegen. 3.2.2 Die Wortlautgrenze
ist keine methodologische Größe
Aber auch der Begriff der Interpretation oder eine philosophisch begründete Argumentationstheorie können die Standards einer Rechtskultur nicht anstelle des politischen Souveräns und der die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen präzisierenden Rechtswissenschaft festlegen. Weder der methodologische Begriff der Interpretation noch der philosophische Begriff der Argumentation bilden einen apriorischen Grund der Sprache und eine Schranke für Varianten des Text verstehens 8. Beide Begriffe können vielmehr in den Semantisierungsvorgang einbezogen werden und unterliegen damit ebenfalls der Definition und Veränderung innerhalb der Sprache 9. Die Standards der 5 Vgl. dazu auch Priester, Zum Analogieverbot im Strafrecht, ι in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und Analytische Philosophie, 1976, S. 155 ff. 6 Vgl. dazu oben im Text Teil C 1 7 Ebd. 8 Vgl. dazu auch Wittgenstein, Über Gewißheit, 1970, § 105: „Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente." 9 Vgl. zum Ganzen oben im Text Teil C 2 zum Begriff der Interpretation sowie Teil D 1.1 zum philosophischen Begriff der Argumentation in der Diskurstheorie
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Rechtskultur sind auch insoweit nicht vorgegeben, sondern der Gestaltung aufgegeben. Der Legitimationsbedarf juristischer Entscheidung ist also nicht schon durch die Ordnung der Sprache, der Gerechtigkeit oder des Argumentierens abgedeckt. Es findet sich keine von den genannten Instanzen garantierte Grenze, kein Zaun, der es erlauben würde, einen inneren Bereich rechtlicher Ordnung von einem äußeren Bereich des willkürlichen Entscheidens klar abzuscheiden. Unordnung und Willkür ist immer Teil der Ordnung 10 des richterlichen Sprechens. Die gegensätzlichen Komponenten lassen sich nicht auf zwei klar voneinander getrennte Gebiete verteilen 11 . Trotzdem kann man im Wege der Sprachreflexion 12 die Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit von Entscheidungen thematisieren und einfordern. Auch wenn die richtige Interpretation nicht durch die Erkenntnis oder das Verfahren zu ihrer Gewinnung a priori festgelegt ist, so kann man doch bessere und schlechtere Interpretationen anhand der Maßstäbe einer gegebenen Interpretationskultur unterscheiden. Das richterliche Sprechen ist nicht durch eine äußere und objektiv vorgegebene Grenze an das Gesetz gebunden. Aber es kann, jenseits des abstrakten Gegensatzes von Ordnung und Unordnung, zu einer methodischen Selbstbindung gelangen, die zwar keinen vollständigen Algorithmus darstellt 13 , aber trotzdem die Maßstäbe der Entscheidung erkennen läßt. 3.2.3 Die Wortlautgrenze
ist eine normative Größe
Eine Grenze richterlichen Sprechens ist somit nicht als natürliche von der Sprache gezogen, sondern nur denkbar als künstliche, von der Rechtskultur festgelegte Grenze. Friedrich Müller führt dazu aus: „Der Wortlaut der Norm bildet aus verfassungsrechtlichen Gründen die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Das heißt nicht, die Entscheidung müsse ,sich aus dem Wortlaut ergeben', was eben nur in raren Grenzfallen feststellbar ist. Sie muß aber mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein. Das ist keine methodologische, sondern eine normative Aussage. Die Wortlautgrenze bildet die rechtsstaatlich-demokratisch angeordnete Linie nicht einer methodologisch mögli10 Vgl. zur Verschränkung des Ordnungsgedankens mit seinem Gegenteil: Bloch, Experimentum Mundi, GA Bd. 15, 1977, S. 156ff.; Waidenfels, Ordnung im Zwielicht, 1987, S. 173 f. und öfter; ders., Phänomenologie in Frankreich, 1987, S. 161 ff. Vgl. hierzu auch am Beispiel der Sprache: Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, 1984, S. 408 f. und 566ff. 11
Vgl. hierzu am Beispiel der Typologie von Sprechakten: Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124ff., 148 f. und öfter 12 Vgl. zu diesem Begriff Wimmer, Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Aspekte der Sprachkultur. Mitteilungen 10 des Instituts für deutsche Sprache, 1984, S. 7 ff., insbes. 20 ff.; ders., Sprachkritik und reflektierter Sprachgebrauch, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 1983, S. 3 ff. 13 Vgl. dazu auch Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 15
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chen, sondern einer positivrechtlich zulässigen Konkretisierung" 14 . Die Anzahl der möglichen Verständnisvarianten des Normtextes ist also weder von der Sprache noch von der Methodologie her begrenzt. Begrenzt ist sie vielmehr erst durch normative Gesichtspunkte, die hier solche des Verfassungsrechts sind. Die Grundlage der Wortlautgrenze liegt nicht in der Sprache oder Methodologie, sondern im Verfassungsrecht. Als normative und nicht sprachlich vorgegebene Größe unterliegt sie zwar der Disposition des Verfassungsgebers, aber nicht der des handelnden Rechtsarbeiters. Ob die Urteile von Gerichten Normtexten zugerechnet werden sollen und dabei an kontrollierbare Standards gebunden sind, ist eine Grundentscheidung, die allein der politische Souverän zu treffen hat. Wenn aber, wie im Falle des Grundgesetzes, eine solche Entscheidung getroffen wurde, dann definieren die betreffenden (methodenbezogenen) Normen der Verfassung und des einfachen Gesetzes den Rahmen einer Rechtskultur, der individuellem Belieben entzogen ist. Für die Definition der Rechtskultur kommt dem Verfassungsrecht also nicht lediglich eine deklaratorische Rolle zu. Es beschränkt sich nicht darauf, Spekulationen bedeutungstheoretischer oder philosophischer Natur nur nachträglich zu beglaubigen. Das Verfassungsrecht ist vielmehr konstitutiv für den Inhalt und die Reichweite einer Rechtskultur. Nicht nur die Praxis ist daran gebunden, sondern auch die Wissenschaft vermag diese politische Grundentscheidung nicht mit Schreibtischdekreten umzustoßen. Nach dem Grundsatz, daß Sollen ein Können impliziert, kann die Wissenschaft lediglich deutlich machen, wo die Grenzen von Grenzen liegen 15 . D.h. sie kann zeigen, daß der Wortlaut des Gesetzes allein die Entscheidung nicht determinieren kann: „Die Grenzfunktion des Wortlauts ist also nicht identisch mit der Konkretisierungsfunktion (Indizwirkung) des grammatischen Auslegungselements. Denn die Entscheidung klebt nicht am unvermittelten Wortlaut, beschränkt sich nicht auf Textinterpretation" 16 . Hier liegt also die Grenze des Wortlauts als Grenze; er kann die Entscheidung nicht determinieren. Das heißt aber nicht, daß der Wortlaut keinerlei Trennschärfe für die Vertretbarkeit von Interpretationen hat. Nur hat er diese Trennschärfe nicht allein schon für sich selbst, sondern erst in Verbindung mit methodischen Standards. Der Normtext kann nur in Verbindung mit den von Wissenschaft und Praxis erarbeiteten Standards der Interpretation bestimmte Verständnisvarianten als schlechter begründet ausschließen. In der Aussage, daß eine Entscheidung nicht einem Normtext des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden kann, „verknüpfen sich methodologische mit verfassungsrechtlichen Faktoren, sind mit anderen Worten methodenrelevante Normen, vor allem aus den Bereichen von Rechtsstaat 14
F. Müller, ,Richten-echt', 1986, S. 80f., m.w.N. in Fn. 197 Vgl. zu den Grenzen von Grenzen, insbesondere der Wortlautgrenze: Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. 15
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und Demokratie im Spiel. Das liegt an der Eigenart der sogenannten Wortlautgrenze einer demokratisch gebundenen, rechtsstaatlich geformten Arbeitsmethodik der Juristen" 17 . Die Wortlautgrenze ist damit eine komplexe Größe, die sich erst aus der Verbindung von methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts, Normtext und methodischen Standards ergibt. Der künstliche, normativ gesetzte und nicht objektiv vorgegebene Charakter dieser Grenze schließt jedoch nicht aus, daß sie in der Kritik von richterlichen Entscheidungen sehr wohl eine Trennschärfe zu entwickeln vermag. Insbesondere führt das Zusammenwirken der genannten Faktoren zum Ausschluß von Entscheidungen, die den Normtexten der geltenden Normtextmenge nicht regulär zugerechnet werden können. Diese von der Wortlautgrenze ausgeschlossenen Entscheidungen bezeichnet Friedrich Müller als Dezisionen 18 und faßt sie in zwei Hauptgruppen zusammen. In der ersten Gruppe ist die zu entscheidende Frage rechtlich geregelt und d.h. methodisch korrekt auf einen Normtext zurückführbar. In der Entscheidung wird aber das Fehlen bzw. eine inhaltlich abweichende Regelung behauptet: dies ist die Dezision durch Rechtsverbiegung. In der zweiten Gruppe ist die zu entscheidende Frage nicht geregelt, in dem Sinne, daß es keinen Normtext gibt, auf den die formulierte Rechtsnorm regulär zurückgeführt werden kann. Die Entscheidung unterstellt aber eine Regelung mit dem politisch erwünschten Inhalt. Dies ist die Dezision durch Rechtsunterstellung. Ob eine konkrete Entscheidung einer dieser Gruppen unterfallt und damit eine Dezision darstellt, kann nur beurteilt werden, wenn man die methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts, die von Wissenschaft und Praxis auf dieser Grundlage entwickelten methodischen Standards und die Menge der geltenden Normtexte in ihrem Zusammenwirken als Maßstäbe heranzieht. Die Entscheidung des konkreten Streitfalls ist nicht in der sprachlichen Bedeutung des Normtextes bereits vorgegeben. Sie wird vielmehr vom zuständigen Rechtsarbeiter getroffen. Aber die Entscheidung muß dem unveränderten Wortlaut des Gesetzes entsprechend den Standards einer verfassungsrechtlich rückgebundenen Argumentationskultur zugerechnet werden können. Auf dieser Grundlage können im Hinblick auf den vom Gesetzgeber hervorgebrachten Wortlaut zwei Funktionen unterschieden werden: „Der Wortlaut einer Vorschrift hat nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung" 19 . Während die Indizwirkung auf die mitgebrachten Verwendungsweisen des Normtextes aufmerksam macht, ohne die Bedeutung des Textes dadurch zu fixieren, ist die Grenzwirkung eine über die rein sprachliche Betrachtung hinausführende komplexe Größe. Sie kommt zur 17
Ebd., S. 80 Vgl. dazu und zum folgenden F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 21 19 F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 80 18
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Geltung, wenn man die vom Gericht erarbeiteten Rechts- bzw. Entscheidungsnormen daraufhin überprüft, ob sie den verfassungsrechtlich rückgebundenen methodischen Maßstäben zufolge einem bestimmten Normtext regulär zugerechnet werden können: „Die im Fall formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen müssen (...) mit dem im vorherigen Entscheidungsvorgang voll konkretisierten Normtext jedenfalls noch vereinbar sein; dieses Urteil verlangt im Falle der Verneinung — jedenfalls nicht mehr vereinbar' — Eindeutigkeit. Bleibt die Frage mindestens zweideutig, so kann eben nicht gesagt werden, der Spielraum jedenfalls noch möglicher Verständnisvarianten der interpretierten Sprachdaten sei verlassen" 20 . Die Ausgangsfrage, wie der handelnde Rechtsarbeiter feststellt, ob er sich mit seiner Argumentation noch innerhalb der Gesetzesbindung bewegt, läßt sich jetzt beantworten: Der Rechtsarbeiter muß die selbstformulierte Rechtsnorm daran überprüfen, ob sie einem vom Gesetzgeber in Geltung gesetzten Normtext regulär zugerechnet werden kann. Als Maßstab zieht er dabei methodologische Standards heran, die den verfassungsrechtlich gestellten Anforderungen genügen.
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E. Gesetzesbindung heißt Bindung an den Text des Gesetzes durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt Die Untersuchung des Gesetzesbindungspostulats ging von drei Fragen aus : 1. Was ist der Gegenstand der Gesetzesbindung? 2. Welche Aufgabe stellt die Verfassung der Gesetzesbindung? 3. Wie kann die Gesetzesbindung praktisch eingelöst werden? Auf der Grundlage einer Rechtserzeugungsreflexion ergibt sich zur Beantwortung dieser Fragen folgende Hypothese : — Gesetzesbindung heißt Bindung an den Text des Gesetzes durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt. Die Hypothese stellt als Gegenstand der Gesetzesbindung den vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtext vor. Damit wird die Konsequenz gezogen aus der sprachlichen Reflexion der Bedingungen praktischer Rechtsarbeit. Auf dieser Grundlage kann der Ansatzpunkt des Gesetzesbindungspostulats bei der rechtserzeugenden Gewalt bestimmt und der Streit um das Verständnis der verfassungsrechtlichen Grundlagen beurteilt werden. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer arbeitsteiligen Rechtserzeugung stellt schließlich für Rechtstheorie und juristische Methodik die Aufgabe, die praktische Wirkungsweise der Gesetzesbindung so zu präzisieren, daß die in der richterlichen Rechtserzeugung liegende Gewalt geteilt und kontrolliert werden kann. 1. Gegenstand der Gesetzesbindung ist der vom Gesetzgeber geschaffene Text als Zeichenfolge Aus der Untersuchung der impliziten sprachtheoretischen Voraussetzungen der juristischen Methodendiskussion ergeben sich nunmehr die Voraussetzungen zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage : Ist die Gesetzesbindung zu denken als Bindung durch den Inhalt des Gesetzes oder als Bindung durch den Text des Gesetzes? Die Diskussion der beiden konkurrierenden Modelle der Gesetzesbindung führte zu dem Ergebnis, daß die Theorie einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes in die Doppelung von theoretischer Gerechtigkeitsbindung und praktiziertem Dezisionismus mündet. Im Gegensatz dazu konnte die Theorie einer Bindung an den Text des Gesetzes das schöpferische Element innerhalb der Gesetzesbindung begreifen und gelangte so zu praktisch einlösbaren Bindungen richterlichen Handelns. Daraus ergibt sich die Folgerung, daß praktische Rechtsarbeit nicht vorgegebene Rechtsnormen anwendet, sondern unter Bin-
2. Inhalt der Gesetzesbindung
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dung an den vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext Recht erzeugt. Die zu Beginn der Untersuchung festgestellte grundlegende Ambivalenz löst sich damit zugunsten des Modells einer Bindung an den Text des Gesetzes auf. 2. Die Rechtsprechung ist nicht zur Setzung einer gesetzestranszendenten Gerechtigkeit ermächtigt, sondern an eine gesetzesvermittelte Gerechtigkeit gebunden Auch die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gesetzesbindung kann nach Klärung der rechtstheoretischen und methodischen Implikationen dieses Problems erneut aufgenommen werden. Ausgangspunkt für die herkömmliche Auffassung der richterlichen Bindung war die Vorstellung, daß anstelle von Menschen mit dem Gesetz eine Regel herrschen sollte 1 . Wenn das Gesetz diese Regel nicht bereitstellen kann, soll die Gerechtigkeit die objektive Grundlage richterlichen Sprechens sichern. Als dogmatische Konsequenz führt dieses Anwendungsmodell in der herkömmlichen Lehre zu einer von Art. 20 I I I GG ausgehenden Interpretation des Gesetzesbindungspostulats: „Daß Art. 20 Abs. 3 von ,Gesetz und Recht', Art. 97 Abs. 1 dagegen nur von ,Gesetz' spricht, bedingt keinen inhaltlichen Unterschied" 2 . Damit ist der erste Schritt getan, nämlich die Gleichsetzung der Bindungsformeln in Art. 20 I I I und Art. 97 I GG. Der zweite Schritt ist eine inhaltliche Auffüllung des Begriffs Recht, dessen weittragende Konsequenzen dann auch auf Art. 97 I GG übertragen werden können. Die Auffüllung des Rechtsbegriffs beginnt mit einer scheinbaren Wendung gegen das Subsumtionsmodell des Gesetzespositivismus, wonach „sowohl die Bestimmung des Art. 20 Abs. 3 wie diejenige des Art. 97 nicht ausschließlich positivistisch' gedeutet werden darf' 3 . Es ist aus dieser Sicht „unrealistisch" 4 , den Richter nur an das geschriebene Gesetz binden zu wollen: „Denn wie immer man sich zu diesem Begriff (des Rechts, R.C.) stellen mag, so steht er doch in größerer Nähe zum Begriff der Gerechtigkeit als der Gesetzesbegriff. Gerechtigkeitsvorstellungen 1 Vgl. dazu Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in : Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-JahrFeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 11 2 Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Rdnr. 5. Vgl. zur Verknüpfung von Art. 97 I und Art. 20 I I I GG sowie zur inhaltlichen Auffüllung des Begriffs Recht auch noch: Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 24; Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, S. 9 ff. ; Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 48ff.; Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, 1956, S. 105 ff. ; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 175 und öfter ; Flume, Richter und Recht, in : Verhandlungen des 46. DJT (1967), Teil K , S. 5ff., 14ff.; Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 99 ff. ; E. Stein, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung, in: NJW 1964, S. 1745ff., 1748f. 3 Holtkotten, in : Bonner Kommentar, Art. 97 I I 2 b 4 Herzog, in : Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Rdnr. 5 19*
292
E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
fließen aber naturgemäß mehr durch die Rechtsprechung als durch Verwaltung und Regierung in die Rechtswirklichkeit ein" 5 . Zwischen den schon im Original hervorgehobenen Begriffen Gerechtigkeit und Rechtsprechung vermittelt hier nicht das Gesetz, sondern das Wort „naturgemäß", welches mit seinem unklaren Assoziationsfeld das Bild des salomonischen Richters gegen den gesetzesgebundenen Richter ausspielt6. Erneut wird hier der Positivismus mit der Gesetzesbindung kurzgeschlossen und mit der Verwerfung des wirklich unrealistischen Subsumtionsmodells auch gleich die Bindung an das geschriebene Gesetz verworfen. An dessen vakanter Stelle erscheint nun das Stichwort Gerechtigkeit, das eine zweite hinter dem Gesetz liegende Ordnung suggeriert und dem richterlichen Handeln die geforderten „neue(n) Halterungen" 7 geben soll: „Für die das Gesetz übersteigende Rechtsfortbildung, die nicht mehr nur Lückenfüllung ist, müssen dann andere Kriterien gelten, die nicht mehr allein dem Gesetz, sondern nur der Rechtsordnung als einem Sinnganzen entnommen werden können. Darauf, daß es derartige Kriterien gibt, weist insbesondere die Formel des Grundgesetzes (Art 20 Abs. 3) hin, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung seien an,Gesetz und Recht' gebunden. In dieser Formel kommt zum Ausdruck, daß ,Gesetz' und ,Recht' zwar keine Gegensätze sind, dem Recht aber gegenüber dem Gesetz ein überschießender Sinngehalt zukommt" 8 . Auf der methodischen und dogmatischen Ebene erscheint diese Interpretation des Art. 20 I I I GG wenig überzeugend 9. Zunächst wird schon gar nicht erklärt, warum eine so zentrale Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht in dem für die Rechtsprechung systematisch einschlägigen Art. 97 I GG vom Verfassungsgeber nicht wiederholt wird. Vor allem ist es aber unplausibel, dem in Art. 20 I I I GG auf das Verfassungsgewohnheitsrecht 10 bezogenen Begriffs des Rechts einen so weitreichenden Inhalt zu unterstellen 11 . Denn ein solcher, über die positiven Gesetze hinausreichender Begriff der Gerechtigkeit würde als holistisches Konzept die Systematik der grundgesetzlichen Bindungen richterlichen Handelns vollständig auflösen. Weil die Gerechtigkeit als holistisches Konzept gerade nicht handhabbar ist 1 2 , läuft sie in der Praxis auf eine Ermächtigung 13 der jeweils letzten Instanz der Handlungskette zu einer subjektiv willkürlichen 5
Ebd. Vgl. allgemein zum Begriff der Gerechtigkeit im Grundgesetz: BVerfGE 3, 225 ff., 233 sowie Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1980 6
Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 122f. Wassermann, in : Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 97 Rdnr. 50 8 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 353 9 Vgl. F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 69ff., 117f. 10 Vgl. F. Müller, ebd., S. 118 11 Kritisch dazu auch Merten, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in : DVB1. 1975, S. 677ff., 678 12 Vgl. dazu oben Teil C 3.2 13 Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 118 7
2. Inhalt der Gesetzesbindung
293
Definition der Gerechtigkeit hinaus. Die den Richter verpflichtende Größe wäre damit gleichgesetzt mit der letztendlichen Zuständigkeit zu ihrer Definition. Das Grundgesetz hat sich demgegenüber gerade nicht für eine Ermächtigung des Richters zur Definition der Gerechtigkeit entschieden, sondern geht von dem Modell einer Bindung richterlichen Handelns an eine über das Gesetz vermittelte und dadurch subjektivem Belieben entzogene Gerechtigkeit aus. U m diese Bindung inhaltlich zu präzisieren, muß man sich von den Voraussetzungen der Rechtsanwendungslehre ablösen und das Grundgesetz zunächst ohne rechtstheoretische Vorentscheidungen aus sich selbst heraus untersuchen. Ansatzpunkt ist dabei Art. 97 I GG, welcher die den Richtern übertragene Gewalt an das Gesetz bindet. Die Zielrichtung dieser Bindung ergibt sich, wenn man den Normtext des Art. 97 über die Konkretisierungselemente aus seinem Kontext heraus versteht. Als historischer Zusammenhang ist dabei zu berücksichtigen, daß das Gesetzesbindungspostulat von Anfang an ein zentrales Element der deutschen Rechtstradition war 1 4 . Seine Zielrichtung tritt besonders klar hervor, wo die Kontinuität dieser Tradition gerade verlassen werden soll. Als Negativfolie 15 zur Bestimmung der Funktion des Gesetzesbindungspostulats kann man daher die in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte Kritik an diesem Grundsatz heranziehen 16. Das Gesetzesbindungspostulat in seiner strafrechtlichen Ausprägung 17 als Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege" ist aus dieser Sicht der Aufklärung und ihrem Freiheitsideal zuzurechnen 18. Der Rechtsstaatsge-
14
Vgl. Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986, S. 11 ff.; sowie F. Neumann, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Sozialismus, in: Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd.l, 1979, S. 118ff., 119ff. 15 Vgl. zum Zusammenhang der rechtsstaatlichen Garantien mit „den Erfahrungen des Totalitarisme": Bähr, Rechtsstaat und Strafgerichtsbarkeit, in: Tohidipur, ebd., S. 565 ff., 567 f. Allgemein zum historischen Konkretisierungselement als Negativfolie oder Kontrastargument in der Rechtsprechung: Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1983, S. 118ff. 16 Entsprechende Einschränkungen des Gesetzesbindungspostulats gibt es auch in den Rechtssystemen des real existierenden Sozialismus. Die sozialistische Gesetzlichkeit dient nicht dem Schutz individueller Freiheit, sondern der Durchsetzung sog. objektiver gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze. Vgl. dazu Svensson, Schöpferische Rechtsanwendung als Realisierung der sozialistischen Gesetzlichkeit, in: Mollnau (Hrsg.), Die eigenverantwortlich-schöpferische Komponente in der Rechtsanwendung und ihr Einfluß auf die gesellschaftliche Wirksamkeit des sozialistischen Rechts, 1986, S. 348 ff., 348 und öfter. Vgl. zu dieser Parallele von herrschaftsfunktionaler Überwindung des Rechtsstaats im Nationalsozialismus und dem real existierenden Sozialismus auch : Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986, S. 11 ff., 12 17
Zur Ausprägung rechtsstaatlicher Garantien im Bereich des Strafrechts vgl. Bähr, Rechtsstaat und Strafgerichtsbarkeit, in : Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd. 2, S. 565 ff., 568
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
danke, welcher sowohl die Staatsmacht als auch die Rechtsordnung dem Schutz individueller Freiheit untergeordnet habe, betrachte das Gesetz als das „beste und einzige Mittel zur größtmöglichen Wahrung der Individualsphäre" 19 . In diesem durch die Aufklärung geprägten Rechtsstaatsgedanken habe das Gesetz damit eine Doppelfunktion als einerseits „Eingriff in die Freiheit" und andererseits „Schutz dieser Freiheit" durch richterliche Bindung 20 . Das Ideengut des Nationalsozialismus sei dem dargestellten Denken der Aufklärung „auf der ganzen Linie" 2 1 entgegengesetzt. Der Zweck von Staat und Rechtsordnung liege hier nicht mehr im Schutz individueller Freiheit, sondern in der überindividuell-ganzheitlich gedachten „Zusammenfassung und Förderung der Volkskräfte" 22 . Dementsprechend ist in der nationalsozialistischen Rechtstheorie der Begriff der Rechtssicherheit nicht mehr auf die individuelle Freiheit bezogen, sondern wird bestimmt als „Gewißheit der Durchsetzung des Rechtes im Sinne des Rechtsdenkens der Volksgesamtheit" 23 . Die staatliche Macht begrenzende Funktion des Gesetzes als Magna Charta des Bürgers wird damit umgewendet in eine „Magna Charta der Volks- und Staatsinteressen" 24. Die unter den Bedingungen des Rechtsstaats festgestellte Dialektik einer Doppelfunktion des Rechts als Instrument der Macht und Instrument zur Begrenzung der Macht 2 5 wird damit suspendiert zugunsten einer einseitigen Bestimmung des Rechts als verlängertem Arm der Staatsmacht. Die Gesetzesbindung soll im nationalsozialistischen Rechtsdenken nur so weit reichen, als sie das Ineinandergreifen der Zahnräder des Machtapparats garantiert; ihre freiheitsschützende Funktion fallt weg 26 . Demgegenüber wird im Grundgesetz gerade diese zweite freiheitsschützende Seite besonders hervorgehoben. Das gilt nicht nur im Hinblick auf Art. 103 GG, der die Geltung der Grundsätze „nullum crimen, nulla poena sine lege" verfassungsrechtlich festschreibt. Sondern auch im Hinblick auf Art. 1 I I I GG, der die Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte nochmals ausdrücklich
18 Henkel, Strafrichter und Gesetz im neuen Staat, 1934 ; ders., Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, 1934. Vgl. dazu und auch zum folgenden die Darstellung der damaligen rechtstheoretischen Diskussion um die sog. Analogienovelle : Werle, Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Nationalsozialismus, im Erscheinen 1988 19
Henkel, Strafrichter..., ebd., S. 17 Ebd. 21 Ebd., S. 23. 22 Vgl. dazu ebd., S. 43 ff. die Betrachtung der sog. Staatstypen 23 Ebd., S. 66ff. 24 Ebd., S. 47f. 25 Vgl. zu dieser Dialektik Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, GA 6, 1977, S. 155 ff. sowie Holz, Logos spermatikos, Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt, 1975, S. 149 und ff. . 26 Vgl. Bloch, ebd., S. 163 20
2. Inhalt der Gesetzesbindung
295
betont 27 . Die Gesetzesbindung soll nicht lediglich das reibungslose Funktionieren und die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns für eine Marktgesellschaft sicherstellen, sondern die Ausübung staatlicher Macht wird auch eingeschränkt zugunsten der Garantie individueller Freiheit und des aus ihr entwachsenden gesellschaftlichen Pluralismus 28 . Ein weiteres „Kontrastargument" zur Funktionsbestimmung des Gesetzesbindungspostulats läßt sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 97 I herleiten 29 . Der Herrenchiemseer Entwurf sah für die Gesetzesbindung folgende Formulierung vor: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz und ihrem Gewissen unterworfen." Die Wendung „und ihrem Gewissen" wurde jedoch später mit der Begründung verworfen, daß „dadurch der grundfalsche Anschein erweckt werde, als ob das Gewissen des Richters eine dem Gesetz gleich- oder übergeordnete Rechtsquelle sei" 3 0 . Auch im weiteren Verlauf der Entstehungsgeschichte wurde diese Tendenz bestätigt. Eine im Hauptausschuß vorgebrachte Anregung, die zitierte Wendung wieder einzufügen, wurde mit folgendem Argument abgelehnt: „Natürlich wird der Richter gelegentlich in seinem Gewissen mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Aber diesen Konflikt muß er dann in sich austragen und muß notfalls die Konsequenzen tragen." 31 Der Artikel wurde dann einstimmig ohne den genannten Zusatz aufgenommen. Aus der Entstehungsgeschichte ergibt sich somit ein gewisser Hinweis darauf, daß die Verfassungsgeber dem Richter keine Möglichkeit zu selbstverantworteter Normtextsetzung im Sinne einer Herstellung eigener Rechtsquellen einräumen wollten 32 . Vielmehr sollte er an die vom zuständigen Organ gesetzten Normtexte gebunden werden. Auch die interne Systematik des Grundgesetzes ist für die Frage nach Aufgabe und Zielrichtung der in Art. 97 I GG erwähnten Gesetzesbindung
27
Vgl. H. P. Schneider, Eigenart und Funktion der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Pereis (Hrsg.), Grundrechte als Fundament der Demokratie, 1979, S. 11 ff., 15 f. 28 Vgl. dazu Pereis, Vorwort, in: ebd., S. 7ff., 7 29 Vgl. zur Entstehungsgeschichte die Darstellung bei Holtkotten, in: Bonner Kommentar, Art. 971, Entstehungsgeschichte. Kurz auch bei Wassermann, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 9 ff. 30
Vgl. dazu Holtkotten, ebd. Vgl. Hauptausschuß, Zweite Lesung, 38. Sitzung vom 13.1.1949, steonographischer Bericht S. 481 32 Vgl. zu diesen Konsequenzen Wassermann, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 59 m. w. N. Unabhängig von der Entstehungsgeschichte ist die Rolle des richterlichen Gewissens aber immer noch umstritten. Vgl. Ebsen, Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, 1974, S. 57; Maihofer, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: Annales Universitatis Saraviensis, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Bd. V I I I , 1960, Fase. 1/2, S. 5ff., 32. Vgl. zum Ganzen auch v. Unruh, Richteramt und politisches Mandat, 1971; weitere Nachweise bei Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 159 31
296
E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
aussagekräftig. Ansatzpunkt ist insoweit Art. 20 I I G G 3 3 , wonach die Rechtsprechung neben gesetzgebender und ausführender Gewalt zu den drei Staatsgewalten zählt. Die Ausübung aller drei Formen der Staatsgewalt ist mittels grundlegender Mechanismen und Prinzipien an die Souveränität des Volkes zurückgebunden. Art. 97 I GG befindet sich in dem Art. 20 konkretisierenden Abschnitt über die Rechtsprechung. Das systematische Konkretisierungselement stellt das Gesetzesbindungspostulat damit in den Kontext dreier schon in Art. 20 GG erwähnter Verfassungsprinzipien, nämlich Gewaltenteilungsgrundsatz, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip 34. Wie in der Literatur allgemein betont wird, kann der Gewaltenteilungsgrundsatz zur präziseren Fassung des Gesetzesbindungspostulats35 beitragen. Allerdings muß man sich auch hier von der zu einfachen Vorstellung gewaltenteilender Rechtsanwendung freimachen, wonach Judikative und Exekutive Gesetze lediglich im Wege der Subsumtion anwenden 36 . Wenn man von diesem positivistischen Vorurteil abrückt und den komiexen Prozeß der Rechtsverwirklichung nach den Stationen NormtextRechtsnorm (Leitsatz)-Entscheidungsnorm (Urteilsformel) differenziert, läßt sich auch die Gewaltenteilungslehre wirklichkeitsnäher fassen 37. Der Gesetzgeber hat demnach nur, aber auch ausschließlich, die Kompetenz zur Setzung von Normtexten. Die Judikative hat demgegenüber die Kompetenz zur Setzung von Rechtsnormen und Entscheidungsnormen unter der einschränkenden Bindung an die vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexte. Die Gesetzgebungsorgane können damit nur in normativ besonders erwähnten Bereichen wie etwa der Immunität, Einzelfalle bis hin zur Entscheidungsnorm gestalten 38 . Im Regelfall ist der Gesetzgeber auf die Setzung von Normtexten beschränkt und kann höchstens durch möglichst präzise Formulierungen die Berücksichtigung seiner Vorstellung bei der Entscheidung des Einzelfalls gewährleisten. Umgekehrt 33
Vgl. zum Zusammenhang von Art. 20,92, 97: Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 6 34 Vgl. F. Müller, ,Richterrecht\ 1986, S. 88 ff. Zur Gewaltenteilung: Herzog, ebd., Rdnr. 2; Th. Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz im gewaltenteilenden Staat, 1969, S. 92ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 128 ff. Zum Zusammenhang von Gesetzesbindung und Demokratieprinzip vgl. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 1970, S. 46ff., 63 f.; Redeker, Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtssetzung, in: NJW 1972, S. 409ff.; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 194ff. Vgl. zum Ganzen auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, Kap. 3, 6, 7 35 Vgl. zusammenfassend zum Gewaltenteilungsprinzip: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985, S. 184ff., 192ff. m.w.N. 36 Vgl. zum Subsumtionsdenken als historischem Hintergrund für die Vorstellung des Gesetzesvollzugs: Wassermann, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 43 f. sowie Berkemann, Gesetzesbindung und Fragen einer ideologiekritischen Urteilskritik, in: Festschrift für Willi Geiger, 1974, S. 299 ff., 301 37
Vgl. dazu und zum folgenden F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 88 und ff. Vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 22; Holtkotten, Bonner Kommentar I l b m.w.N. 38
2. Inhalt der Gesetzesbindung
297
kann die Judikative nur in normativ begründeten und eng begrenzten Ausnahmefällen selbst Normtexte setzen. Im Regelfall ist sie darauf beschränkt, Rechtsund Entscheidungsnormen so zu setzen, daß sie auf legislatorisch vorgegebene Wortlaute rückführ bar sind. Wenn der Richter seine die Entscheidung tragenden Leitsätze selbst gesetzten Quasi-Normtexten 39 zurechnet, verletzt er damit auch das von Art. 97 I GG geschützte Prinzip der Gewaltenteilung. Die im Rahmen der Gewaltenteilungslehre angedeuteten Gesichtspunkte richterlicher Bindung werden noch verstärkt durch die Berücksichtigung des Demokratieprinzips. Dabei kann man an den „Kreislauf rechtlicher Normierung zwischen Normtextsetzung, Normverwirklichung und Setzung von Rechts- und Entscheidungsnormen und erneuter Rechtsetzung beziehungsweise -änderung" 40 anknüpfen. Ausgangspunkt ist in diesem Kreislauf die Normtextsetzung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Die dem richterlichen Handeln vorgegebenen Normtexte sind politisch entschieden, aber bleiben weiterhin durch die Verfahren entsprechender Willensbildung politisch disponibel. Die politische Möglichkeit, über die jeweilige Fassung des Normtextes zu disponieren, läßt sich allerdings nicht in das Handlungssystem der Rechtsordnung hinein verlängern 41 . Der Normtext ist in seiner jeweiligen Fassung Ergebnis der politischen Willensbildung, aber Vorgabe und Eingangsdatum für die richterlichen Entscheidungen. Er verknüpft damit zwei nicht wesensverschiedene, aber in Formalisierung, Kontrolle und Rechtfertigungstypik unterscheidbare Teilsysteme der Steuerung von Gesellschaft 42. Praktische Rechtsarbeit ist an die politisch durchgesetzten Normtexte gebunden und auch an die politischen Entscheidungen, welche als methodenbezogene Normen in der Verfassung enthalten sind. Ihre praktischen Ergebnisse in Form von tragenden Leitsätzen als Rechtsnormen bzw. Urteilsformeln als Entscheidungsnormen muß sie an diesen Texten regulär ausweisen. Die Entscheidung von Einzelfällen steht nach dem Grundgesetz bestimmten Funktionsträgern zu, die nicht direkt dem Volk verantwortlich sind, sondern dem über das Legislativorgan demokratisch legitimierten Gesetz. Deswegen dürfen ihre Entscheidungen nicht die zu Norm texten formalisierten Ergebnisse demokratischer Politik überspielen 43. Wenn der Richter durch die einschlägigen Normtexte und entsprechende methodische Direktiven an der Findung eines Ergebnisses gehindert ist, das aus seiner Sicht gerecht erscheint, kann er trotzdem nicht seine persönliche Vorstellung von der Gerechtigkeit zur Entscheidungsgrundlage machen. Vielmehr muß er dem Gesetz gemäß entscheiden und versuchen, seine abweichenden rechtspolitischen Vorstellungen im Handlungssystem der Politik durchzusetzen. Im Kontext des Demokratieprinzips bringt die in Art. 97 I GG enthaltene 39 40 41 42 43
Vgl. zu diesem Begriff F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 61, 67, 96, 118 f. Ebd., S. 90 F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 15 Ebd., S. 16 Vgl. F. Müller, ,Richterrecht', 1986, S. 90 ff.
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
Gesetzesbindung damit den Formalitäts- und Geltungsvorsprung 44 des demokratisch legitimierten Normtextes zur Geltung. Das Gesetzesbindungspostulat berührt das Rechtsstaatsprinzip im Zusammenhang der Unterscheidung von aktueller und konstitutioneller Gewalt 45 . Der schon in Art. 20 GG zum Ausdruck gebrachte Gedanke, daß es bei der Rechtsprechung um das Ausüben und Rechtfertigen von staatlicher Gewalt geht, wird in dem die allgemeinen Grundsätze präzisierenden Abschnitt über die Rechtsprechung wiederaufgenommen. Der diesen Abschnitt einleitende Art. 92 GG spricht von einer den Richtern übertragenen „Gewalt". Auf das Mediatisieren dieser Gewalt ist das Rechtsstaatsprinzip bezogen. Es fordert, daß beim Ausüben staatlicher Gewalt gewisse Legitimitätsmaßstäbe eingelöst werden: „Seine Legitimität findet der bürgerliche Rechtsstaat gerade darin, möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierte ,bloße4, d.h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen" 46 . Die Legitimierungsweise des Rechtsstaats ist hier als eine doppelte gedacht: Einmal als Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit im Sinne der Betriebsrationalität. Dann aber auch als inhaltliche Legitimität, wonach die individuellen Interessen der „bürgerlichen Gesellschaft" von staatlichen Eingriffen abgeschirmt werden und in den grundrechtlich garantierten Aktionsformen ihre Eigengesetzlichkeit als Pluralismus verschiedener Lebensformen entfalten können 47 . Auf der Ebene praktischer Rechtsarbeit entfaltet sich der Anspruch des Rechtsstaatsprinzips als Forderung nach Rationalität und Kontrolle statt sprachloser Gewalt. Ein Urteil als rechtspolitische Dezision vom Ergebnis her wäre in diesem Sinne als bloße Gewalt anzusehen, als Herrschaft von Menschen über Menschen, statt Herrschaft, die durch Recht und Prozesse sprachlicher Vermittlung mediatisiert ist. Ein Richter als apokrypher Gesetzgeber, der seine Entscheidung nicht an die vom Gesetzgeber formulierten Normtexte in methodisch nachvollziehbarer und verallgemeinerungsfähiger Weise rückbindet, zerstört neben der stabilisierenden Funktion der Rechtsordnung auch die rechtsstaatliche Legitimität 4 *. Der Richter soll stattdessen „rechtmäßig" entscheiden, nicht als Dezision 49 kraft selbstgesetzter Gewalt, sondern kraft abgeleiteter Gewalt. Der vom Gericht erarbeitete und die Entscheidung tragende Leitsatz muß daher in methodisch nachvollziehbarer Verbindung zu dem vom Gesetzgeber erlassenen Normtext stehen. Nur dann hat das Gericht die in der Entscheidung steckende Gewalt nicht geschaffen, sondern funktionell vermittelt. Nur dann handelt es sich um 44 45 40 47 48 49
24 ff.
Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 15 f. F. Müller, Recht — Sprache — Gewalt, 1975, S. 9, 28 ff., 31 Ebd., S. 31 F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 13 ff. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 16 f. Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 19ff.,
2. Inhalt der Gesetzesbindung
299
konstitutionelle Gewalt, welche allein rechtsstaatlich legitim ist. Im Kontext des Rechtsstaatsprinzips ergibt sich somit, daß die Gesetzesbindung den Richter auf eine normtextorientierte Entscheidung verpflichtet, welche den tragenden Leitsatz mittels kontrollierbarer und nachvollziehbarer methodischer Maßstäbe am Normtext legitimiert. Die Berücksichtigung des historischen, genetischen und systematischen Kontextes von Art. 97 I GG erlaubt damit, die Konturen der richterlichen Gesetzesbindung deutlicher zu zeichnen. Schon der historische Zusammenhang gibt einen Hinweis auf die Funktion dieses Postulats: Im Nationalsozialismus wurde die Geltung der Gesetzesbindung zugunsten einer politischen Instrumentalisierung des Rechts suspendiert. Diese Negativfolie läßt eine machthemmende Funktion der Gesetzesbindung im Interesse der individuellen Freiheit und des gesellschaftlichen Pluralismus erkennen. Die Entstehungsgeschichte präzisiert den freiheitsschützenden Gesichtspunkt, indem sie den Richter an die vom Gesetzgeber demokratisch entschiedenen Normtexte bindet und ihm einen unmittelbaren Zugrifff auf holistische Gerechtigkeitskonzeptionen unter Berufung auf sein Gewissen verwehrt. Die Zielrichtung der Gesetzesbindung wird noch weiter verdeutlicht durch die Systematik des Grundgesetzes. Gewaltenteilungsgrundsatz und Demokratieprinzip beschränken die Rolle des Richters auf die Setzung solcher Rechts- und Entscheidungsnormen, die sich auf die vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexte zurückführen lassen. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt für diese methodische Rückführung überprüfbare und verallgemeinerungsfähige Maßstäbe. Unter der Geltung des Grundgesetzes kann die rechtliche Regelung gesellschaftlicher Konflikte somit nicht unmittelbar auf substantiell und holistisch gedachte Gerechtigkeitskonzepte zurückgreifen 50 . Die Entscheidung solcher Konflikte ist vielmehr auf unterschiedliche staatliche Funktionen und mehrere Stadien der Rechtserzeugung verteilt. Das Zusammenspiel der genannten Prinzipien führt zu einem Ergebnis, das Friedrich Müller folgendermaßen formuliert: „Das Anstreben inhaltlicher Gerechtigkeit ist im Staat vom Typus des Grundgesetzes durch Gewaltenteilung gebrochen und arbeitsteilig differenziert" 51 . Die Gesetzesbindung soll in diesem Rahmen dafür Sorge tragen, daß auch noch die Gewalt geteilt und gehemmt wird, die in den Texten und ihrer Interpretation steckt 52 . Deswegen wird auch 50 Die herkömmliche Position versucht teilweise, diesen arbeitsteiligen Prozeß dadurch zu entdifferenzieren, daß sie Art. 20 I I I GG gegen Art. 971 GG ausspielt und die in Art. 20 I I I enthaltene Wendung „und Recht" als Verpflichtung auf die Gerechtigkeit interpretiert. Vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 97 Rdnr. 5; Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 97 I I 2 b; vgl. auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 87 ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 117 ff. jeweils m.w.N. Vgl. zu diesem Problem schon weiter oben im Text 51 F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 121 52 Vgl. zu diesem Problem auch aus der Sicht einer philosophischen Hermeneutik: Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, 1987, S. 117 ff., 134
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
der nach den Stadien Normtext-Rechtsnorm-Entscheidungsnorm zu unterscheidende Prozeß der Rechtsverwirklichung noch unter verschiedenen Gewalten aufgeteilt und mittels verallgemeinerungsfähiger methodischer Maßstäbe im rechtsstaatlichen Sinne kontrollierbar gemacht. Als Ort oder Angriffspunkt der Gesetzesbindung wurde schon oben der Raum bestimmt, welcher Sätze voneinander trennt. In diesem Raum entfaltet sich zwischen den Prozeßparteien ein Sprachkampf darum, wie die Eingangsdaten der anstehenden Entscheidung weiter zu verketten sind. Unter Berücksichtigung des Kontextes von Art. 97 I GG läßt sich nun auch die Richtung näher bestimmen, mit der die Gesetzesbindung in den Sprachkampf um die Satzverkettung eingreift: Der Widerstreit um die Verknüpfung von Fallerzählung, Leitsatz und Normtext soll nicht entlang von vorgegebenen Machtgefällen entschieden werden, sondern durch Einführung gewaltenteilender und rechtsstaatlicher Standards kontrollierbar und diskutierbar werden. Die machthemmende Funktion der Gesetzesbindung ist damit entsprechend dem Grundsatz „divide et liberaliter vive" 5 3 eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit, ohne Angst anders sein zu können. Und die Einlösung des von Art. 971 GG formulierten Postulats erscheint als wichtige Ermöglichungsbedingung für den von den Grundrechten der Bonner Verfassung angestrebten gesellschaftlichen Pluralismus.
3. Die praktische Wirkungsweise der Gesetzesbindung liegt in der Teilung und Kontrolle rechtserzeugender Gewalt Für die praktische Einlösung der Gesetzesbindung sind zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: Einmal das gewaltenteilende Moment, wonach der Richter seine Entscheidung dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext zurechnen muß. Zum andern das gewaltenkontrollierende Moment, wonach diese Zurechnung an verfassungsrechtlich rückgebundenen methodischen Standards zu überprüfen ist. Die gewaltenteilende Rolle des Normtextes wird deutlich, wenn seine Geltung als Zeichenkette von seiner Bedeutung als Rechtsnorm unterschieden wird. A m Anfang der Konkretisierung kommt dem vom Gesetzgeber verabschiedeten und in den Gesetzessammlungen veröffentlichten Normtexten nicht schon Bedeutung, sondern Geltung zu 5 4 . Das heißt sie sind für den Rechtsarbeiter als Eingangsdatum 55 und Zurechnungsgröße seiner Entscheidung im Sinne einer Dienstpflicht 56 verbindlich. Die Bedeutung des fraglichen Normtextes steht dagegen erst fest, wenn der Rechtsarbeiter am Ende des Konkretisierungspro53 54 55 56
Vgl. dazu ebd., sowie Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, in: ebd., S. 4ff., 19 Vgl. dazu F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 51, 106f. Ebd., S. 50f., 57, 116 Ebd., S. 51, 71
3. Praktische Wirkungsweise der Gesetzesbindung
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zesses das Textformular so weit „ausgefüllt" hat, daß er den tragenden Leitsatz der Entscheidung formuliert und damit die Rechtsnorm hergestellt hat. Der Normtext kann mit seiner Signalwirkung 57 die Konkretisierung anregen, aber er kann die normative Anweisung nicht substantiell enthalten. Entgegen der positivistischen Annahme einer Subsumtion unter vorgegebene Bedeutungen kann der Text nicht das automatische Subjekt einer formallogischen Ableitung sein, sondern nur die aktive Leistung des wirklichen Subjekts beeinflussen. M i t dieser Unterscheidung von Geltung und Bedeutung des Normtextes wird auf der Achse Norm-Fall 5 8 der komplexe Semantisierungsvorgang sichtbar, den der Positivismus hinter der rhetorischen Fassade vorgegebener Textbedeutung versteckt hat. Die gewaltenteilende Grenzwirkung des vom Gesetzgeber formulierten Normtextes besteht nun darin, daß der entscheidende Richter seine Bedeutungshypothesen als Leitsätze bzw. Rechtsnormen gerade dieser Zeichenkette, und nicht etwa einer selbst formulierten Zeichenkette zurechnen muß. Die Grenzwirkung des Normtextes wird eingelöst durch gewaltenkontrollierende Mechanismen einer verfassungsrechtlich rückgebundenen Methodik. Um deren Maßstäbe zu gewinnen, bedarf es aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre einer rechtsnormtheoretischen Grundlage, welche den Gesetzespositivismus endgültig verabschiedet. Diese Grundlage wird von der Strukturierenden Rechtslehre in zwei Schritten entwickelt : Als statisches Strukturmodell der Rechtsnorm ist es der induktive Zwischenschritt aus der rechtsstaatlich konsequenten Verallgemeinerung der Praxis. Es stellt das theoretische Gerüst für den zweiten Schritt einer methodischen Wendung zu einem dynamischen Ablaufmodell der Konkretisierung dar. Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Strukturmodells ist die Kritik an der positivistischen Gleichsetzung von Normtext und Normativität. Bei realistischer Betrachtung kann Normativität als die verbindliche Regelung sozialen Lebens nicht den Normtexten, sondern erst den vom Rechtsarbeiter geschaffenen Rechtsnormen zukommen. Normativität heißt die dynamische Eigenschaft der als sachgeprägtes Ordnungsmodell aufgefaßten Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität) und dabei durch diesen Ausschnitt von Realität selbst wieder beeinflußt und strukturiert zu werden (sachbestimmte Normativität) 59 . Normativ heißt in diesem Rahmen für die Strukturierende Rechtslehre alles, was dem Entscheidungsprozeß Richtung gibt und damit alle Elemente, die nicht entfallen können, ohne daß der Fall anders entschieden würde. Diese Elemente lassen sich in zwei Gruppen ordnen : Einmal die primär sprachlich vermittelten Daten aus Normtexten und anderen Texten (abkürzend : Sprachdaten). Zum andern die sekundär sprachlich vermittelten Daten über die Zusammenhänge der Wirklichkeit (abkürzend: 57
Ebd., S. 85 Vgl. dazu ebd., S. 43 ff. Ergänzend dazu vgl. noch die Achse Norm-Wirklichkeit, ebd., S. 49ff. 59 F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 256 ff. 58
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
Realdaten). Normstruktur bezeichnet den Zusammenhang zwischen den dargestellten Bestandteilen einer Rechtsnorm 60 . Hier ist die Zeichenkette also die Spitze eines Eisbergs 61. Diese Metapher wendet sich gegen die positivistische Überschätzung der Rolle des Normtextes. Er ist nicht Träger oder Behälter von Normativität, sondern nur Anknüpfungspunkt für ihre praktische Herstellung. Die Wendung des Strukturmodells zu einem dynamischen Ablaufmodell wird als Konkretisierung bezeichnet. Dieser Begriff bezieht sich hier allerdings nicht auf die Illusion einer lex ante casum 62 , es handelt sich nicht um das Verengen einer substantiell vorgegebenen Rechtsnorm auf den Fall hin, sondern um das methodisch überprüfbare Erzeugen einer Norm. Konkreter werden dabei nur die Arbeitselemente. Diese können allerdings von der Strukturierenden Rechtslehre zu einem systematischen Rahmenmodell der praktisch verwendeten und wissenschaftlich anerkannten Gesichtspunkte zusammengefaßt werden. Zunächst ist die Normtextauslegung von der auf Realdaten bezogenen Normbereichsanalyse zu unterscheiden. Auf die Normtextauslegung sind die methodologischen Elemente im engeren Sinne bezogen, mit den Realdaten arbeiten die Normbereichselemente. Weiterhin finden in die Konkretisierung die dogmatischen Elemente, Theorieelemente, lösungstechnische und rechtspolitische Elemente Eingang 63 . Die Normtextauslegung erfolgt nach den in der Rechtswissenschaft entwickelten Kanones. Die grammatische Auslegung trägt selten allein, denn die normative Anweisung ist nicht im Normtext substantiell vorgegeben. Aussagen können nicht verdinglichen, sie können nur auf ihren Gebrauch untersucht werden. Zwar ergeben sich Entscheidungen nicht aus dem Wortlaut, aber dieser ist die äußerste Grenze zulässiger Konkretisierung. Die Normbereichsanalyse wird unter funktioneller Arbeitsteilung mit den Sozialwissenschaften durchgeführt, wobei der Jurist mit der Formulierung der Fragestellung die Verantwortung trägt. Der Gesetzespositivismus, welcher nur implizit und methodisch unreflektiert Realelemente in den Vorgang der Konkretisierung einführen konnte, soll durch ein kontrolliertes Einbeziehen der sozialen Realität überwunden werden, ohne daß die juristische Konkretisierung hinter seine Technizität zurückfällt. Methodologisch gewendet heißt,Normbereich 4, daß die Sachgehalte der Konkretisierung nicht versteckt, sondern in kontrollierbarer und generalisierbarer Form in die Konkretisierung einbezogen werden 64 . 60 61 62 63 64
Ebd., S. 250 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 107 Vgl. F. Müller, ,Richterrecht 4, 1986, S. 46ff. Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 146 ff. Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 238
3. Praktische Wirkungsweise der Gesetzesbindung
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Im Unterschied zur herkömmlichen Theorie ist die Strukturierende Rechtslehre in der Lage, aufgrund ihrer Rechtsnormtheorie zu einer generalisierbaren Rangordnung der Konkretisierungselemente zu gelangen. Im Konfliktsfall hat dabei das jeweils normtextnähere Argument den Vorrang vor dem normtextferneren Argument. Das heißt, bei widersprüchlichen Ergebnissen der einzelnen Konkretisierungselemente schlägt etwa ein auf den Normtext bezogenes methodologisches Element im engeren Sinne ein bloß rechtspolitisches oder nicht direkt normbezogenes dogmatisches Element aus dem Felde 65 . Auf der Grundlage dieses dynamischen Ablaufmodells juristischer Konkretisierung kann dann der gewaltenkontrollierende Aspekt der Gesetzesbindung bestimmt werden. Die herkömmliche Lehre versteht diesen Aspekt nur als Bindung an die sprachlich vorgegebene Bedeutung einer mit dem Text gleichgesetzten Rechtsnorm. Damit wird die rechtsstaatliche Wortlautgrenze nicht nur zur praktischen Bedeutungslosigkeit verurteilt, sondern es werden auch die eigentlichen Entscheidungsvorgänge hinter der Fiktion bloßer Begriffsermittlung versteckt. Die Strukturierende Rechtslehre richtet demgegenüber ihr Augenmerk auf die aktive Leistung des handelnden Juristen. Die Betrachtung wird damit gedreht, und zwar um die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Rechtsstaatsgebots als Angelpunkt. Die Gesetzesbindung kann sich nicht auf die Rechtsnorm als etwas Vorgegebenes beziehen, sondern sie bezieht sich auf die Struktur eines Herstellungsprozesses. Bisher war die Diskussion in einem falschen Bild richterlicher Tätigkeit gefangen (ein Bild vernebelt bekanntlich mehr als tausend Worte) : Der Abstand zwischen Normtext und Fallentscheidung sollte durch die Brücke juristischer Auslegung überwunden werden, deren Grundpfeiler fest in der vorgegebenen Rechtsnorm ruhten. Die Doktrin vom Richterrecht hat mit ihrer zunehmenden Ausdehnung ungewollt deutlich gemacht, wie brüchig dieses vorgeblich feste Fundament tatsächlich ist. Aber sie hat nicht die Konsequenz gezogen, das immer weiter eingeschränkte rechtsnormtheoretische Paradigma des Positivismus durch ein neues zu ersetzen. Die Strukturierende Rechtslehre macht demgegenüber klar, daß keine schon vorhandene Brücke uns die Anstrengung abnehmen kann, den Abstand zwischen Normtext und konkreter Entscheidung zu überwinden. Gefordert ist vielmehr eine Konstruktion, die den vom Rechtsstaatsprinzip vorausgesetzten technischen Maßstäben genügt. Die Anforderungen an praktische Rechtsarbeit werden dadurch nicht geringer, sondern höher. Denn der Rechtsarbeiter muß bei der Herstellung der Rechtsnorm aus Normprogramm und Normbereich die aus der Normstruktur abzuleitende Rangfolge der Konkretisierungselemente beachten und dem jeweils normtextnäheren Argument den Vorrang einräumen. Nur dann kann er die hergestellte Rechtsnorm dem einschlägigen Normtext rechtsstaatlich kontrolliert zurechnen. Es gibt damit zwar nicht mehr das automatische Förder65
Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 198 ff.
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
band der Begriffsexplikation, das den Rechtsarbeiter vom Normtext zur Entscheidung bringt. Aber der Rechtsarbeiter muß diese Divergenz in methodisch kontrollierter Weise überwinden. M i t diesem Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre kann die Illusion, im Normtext sei die Entscheidung für alle denkbaren Streitfälle schon vorgegeben, überwunden werden, ohne daß freirechtliche Beliebigkeit an deren Stellt tritt. Statt einer alle wirklichen Entscheidungsprozesse verbergenden Fiktion bloßer Rechtserkenntnis wird damit ein von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturiertes Modell der Erzeugung von Recht vorgeschlagen. Tatsächlich vorgegeben ist dem praktisch arbeitenden Juristen danach nicht die anwendungsbereite Rechtsnorm, sondern nur der vom Gesetzgeber geschaffene Normtext als Zeichenkette, sowie der zur Entscheidung vorgelegte Sachverhalt. Ausgehend von den Elementen des Sachverhalts wählt der Jurist unter Zuhilfenahme seines trainierten Vorverständnisses 66 Normtexthypothesen 67 aus der Menge der in den amtlichen Sammlungen veröffentlichten Normtexte aus. Die Normtexthypothese verweist aber schon auf einen bestimmten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit, den Sachbereich : die Menge aller empirischen Gegebenheiten, von denen anzunehmen ist, daß sie mit der Norm in Zusammenhang stehen. Aber erst nach einer umfassenden Verarbeitung sämtlicher Sprachdaten des Normtextes kann der Jurist mit Hilfe des Normprogramms die Teilmenge empirischer Zusammenhänge auswählen, der normative Bedeutung zukommt, und somit den Normbereich bilden. Damit erst ist als Zwischenergebnis der Konkretisierung die aus Normprogramm und Normbereich zusammengesetzte allgemeine Rechtsnorm hergestellt. Erst jetzt steht der Obersatz einer Subsumtion fest und kann der Vorgang einsetzen, den der Gesetzespositivismus allein beschrieben hat, d.h. die Rechtsnorm wird zur Entscheidungsnorm individualisiert. Mit dieser Präzisierung ist auch der Weg gewiesen für die Beantwortung der Frage, wie methodische Bindungen richterlicher Tätigkeit eingelöst werden können. Entgegen dem Positivismus, der mit seinem apriorischen Modell der Rechtsnorm die nur noch zu entfaltende normative Instanz an den Anfang stellte, muß der Konkretisierungsvorgang zwar ohne Eingangsdaten auskommen, die selbst schon normativ sind 68 , aber nicht ohne rechtsstaatliche Bindungen beim Erzeugen der normativen Instanz. Der Normtext ist dabei nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch rechtsstaatliche Grenze der Konkretisierung 69 . Je näher ein Argument diesem Eingangsdatum Normtext steht, um so größer ist sein Gewicht in der Argumentation. 66
Vgl. dazu ebd., S. 133 ff., 136ff. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 264f. 68 Vgl. dazu F. Müller, ebd., S. 256 ff. 69 Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 252, 255; ders., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 15, 27 67
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Die Untersuchung der tatsächlichen Prozesse der Rechtsverwirklichung führt die Strukturierende Rechtslehre also von einer Analyse der Rechtsprechung zu einem verallgemeinerungsfähigen Modell der Normstruktur. Von dieser Struktur aus lassen sich die verschiedenen Elemente der Normativität begrifflich unterscheiden 70, und sie bildet damit die Grundlage, um die verschiedenen Konkretisierungselemente in eine hierarchische Ordnung entsprechend ihrer Nähe zum Normtext zu bringen. Die Wortlautgrenze 71 der Konkretisierung ist dabei keine absolute, sondern eine relative Größe, die vom Rechtsarbeiter fordert, dem jeweils normtextnäheren Argument Vorrang zu geben, oder umgekehrt formuliert, einem normtextferneren Element nur präzisierende, nicht aber derogierende Wirkung zuzugestehen. Wenn die Bonner Verfassung in Art. 971 GG bestimmt, daß der Richter „nur dem Gesetz unterworfen" sei, so ist dieser rechts(norm)theoretisch gesprochen also Normtexten unterworfen. Die vom Richter gesetzten Rechtsnormen müssen sich rechtsstaatlich rational und methodisch nachvollziehbar den vom Gesetzgeber geschaffenen Normtexten zurechnen lassen. Wenn diese Zurechnung scheitert und der Richter, wie in den spektakulären „Richterrechtsentscheidungen" selber Normtexte setzt, denen er seine Entscheidung zurechnet, handelt es sich dabei um eine rechtsstaatswidrige Entscheidung contra legem. M i t dem dynamischen Rechtsnormverständnis der Strukturierenden Rechtslehre kann der schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit im Rahmen der rechtsstaatlichen Normbindung begriffen werden. Antworten auf ein gesellschaftliches Regelungsbedürfnis können demnach nur im Rahmen der positivierten Rechtsordnung gegeben werden. Diese Antworten in Form von Entscheidungsnormen sind zwar in jedem gegebenen Fall mehr als die bloße Anwendung des Gesetzes, aber ihr schöpferischer Anteil wird an den methodengerecht festgestellten primär und sekundär vermittelten Sprachdaten überprüft. An die Stelle der Spekulation über gesetzestranszendente Maßstäbe kann die Ausarbeitung von Methodik und Bereichsdogmatik alltäglicher Rechtsarbeit treten. Die Strukturierende Rechtslehre garantiert zwar keine vollständige Determination der konkreten Entscheidung, aber sie bietet doch einlösbare Maßstäbe, um eine unter Beachtung verfassungsrechtlicher Anforderungen dem Normtext nicht zurechenbare Dezision von einer rechtsstaatlich legitimen Entscheidung abzugrenzen. Auf der Grundlage der normtheoretisch erarbeiteten Vorzugsregeln werden konkurrierende Interpretationen untereinander vergleichbar. A n die Stelle der Forderung einer nicht einlösbaren objektiven Grundlage richterlichen Sprechens als Rechtsanwendung tritt damit der Vergleichsmaßstab einer rechtsstaatlich relativen Gerechtigkeit.
70 71
Vgl. dazu F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 257 ff. Vgl. dazu F. Müller, Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 78 ff.
20 Christensen
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E. Bindung durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt
Insgesamt ergibt sich zum Problem der praktischen Einlösbarkeit der Gesetzesbindung damit folgendes : Der Normtext als Zurechnungsgröße teilt die rechtserzeugende Gewalt zwischen Gesetzgeber und Richter. Die verfassungsrechtlich rückgebundenen Standards der methodischen Zurechnung kontrollieren die vom Richter ausgeübte rechtserzeugende Gewalt.
Zusammenfassung Teil A der vorliegenden Arbeit stellt zum Zwecke der Problemfixierung drei Fragen: 1. Was ist der Gegenstand der Gesetzesbindung? Diese Frage führt zu einer grundlegenden Ambivalenz in Formulierung und Verständnis des Bindungspostulats. Die Gesetzesbindung kann verstanden werden als Bindung des richterlichen Sprechens durch den Inhalt des Gesetzes oder als Bindung an den Text des Gesetzes. 2. Welches ist die verfassungsrechtliche Aufgabe der Gesetzesbindung? Die angesprochene Ambivalenz setzt sich auch in der dogmatischen Diskussion fort: Einmal wird die Bindung der Gerichte auf eine gesetzestranszendente, den „Inhalt" der Gesetze ergänzende oder sogar berichtigende Gerechtigkeit bezogen. Zum andern wird die Bindung auf eine gesetzesvermittelte Gerechtigkeit gestützt, welche das zwischen Textformular und Textbedeutung vermittelnde richterliche Handeln an den vom Gesetzgeber verabschiedeten Normtext und methodische Standards bindet. 3. Wie kann die Gesetzesbindung praktisch eingelöst werden? Die Theorie einer Bindung durch den Inhalt des Gesetzes begreift das richterliche Sprechen als Rechtsanwendung, welche sich auf der ersten Stufe als Erkenntnis und auf der zweiten Stufe als technisch-instrumentelle Anwendung entfaltet. Diese Verständnisvariante führt von der Textbedeutung in die semantische Theorie als Versuch zum Aufweis einer objektiv vorgegebenen Ordnung. Die Theorie einer Bindung an den Text des Gesetzes löst das Problem der Gesetzesbindung nicht in eine Erkenntnisfrage auf, sondern stellt die Aufgabe, das zwischen Textformular und Textbedeutung vermittelnde juristische Handeln von den methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts her zu strukturieren. Diese Sicht führt dazu, die Frage nach der Ordnung richterlichen Sprechens in der semantischen Praxis zu stellen. Die anhand dieser Fragen profilierten gegensätzlichen Verständnisvarianten von Gesetzesbindung werden in drei Schritten untersucht: Zunächst wird die Rechtsprechungspraxis dargestellt, welche Elemente aus beiden Konzeptionen aufweist. Dann erfolgt eine getrennte Diskussion von einerseits Rechtsanwendungslehre und andererseits Rechtserzeugungsreflexion. Teil Β stellt die tatsächliche Handhabung des Gesetzesbindungspostulats in der Rechtsprechung dort vor, wo diese sich in besonders trennscharfer Weise auf die Frage nach den sprachlichen Bedingungen einläßt. Entsprechend dem Ziel, die funktionierenden Selbstbindungen der Rechtsprechung hinter den gesetzes20*
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Zusammenfassung
positivistischen Fiktionen sichtbar zu machen, ist dieser Teil in vier Abschnitte untergliedert: Der Ausgangspunkt liegt bei den programmatischen Aussagen der Gerichte zum Gesetzesbindungspostulat. Die Gerichte gehen von einer Bindung durch den „Inhalt" des Gesetzes aus und wollen diesen mit Hilfe der klassischen Methodenlehren feststellen. Die Praxis der Gerichte wird zunächst anhand von grammatischem und systematischem Konkretisierungselement untersucht. Die Gerichte schränken hier die Reichweite der Gesetzesbindung auf die Trennschärfe des Gesetzeswortlauts ein, behaupten eine darüber hinausreichende Kompetenz des Richters zur Rechtsfortbildung und fangen das Anliegen des Bindungspostulats dadurch auf, daß sie die Rechtsfortbildung an eine dem Richter objektiv vorgegebene Gerechtigkeit binden. Zwar noch nicht auf der Ebene des Gesetzes, aber jedenfalls unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit ergibt sich damit ein in sich geschlossenes Verständnis gebundenen richterlichen Sprechens im Rahmen einer Rechtsanwendungslehre. Weder die Substantialisierung des grammatischen Elements zum eindeutigen Wortlaut noch des systematischen Elements zur Ordnung der Gerechtigkeit lassen sich allerdings praktisch einlösen. Denn tatsächlich funktionieren diese Konkretisierungsschritte als Instrumente zur Überprüfung von Bedeutungshypothesen. Auch historisches und genetisches Konkretisierungselement können das Modell eines dem richterlichen Sprechen substantiell vorgegebenen Rechts nicht einlösen. Weder wird das programmatische Bekenntnis zur objektiven Auslegungslehre in der Praxis durchgehalten, noch kann die subjektive Auslegungslehre diese Praxis annähernd erklären. Die Rechtsprechung legt nicht objektiv vorgegebene Bedeutungssubstanzen aus, sondern verwendet historisches und genetisches Konkretisierungselement zur Profilierung der Bedeutung des fraglichen Normtextes. Aus dem Umstand, daß die Gerichte nicht tun, was sie sagen, aber auch nicht sagen, was sie tun, ergibt sich in einem vierten Schritt die Frage nach einer Veränderung des kategorialen Rahmens für die Diskussion der richterlichen Bindungen. Die aktive, bedeutungskonstituierende Rolle des Richters wirft das Problem einer über die rhetorische Fassade bloßer Rechtsanwendung hinausgehenden Rechtserzeugungsreflexionen auf. Teil C diskutiert die in den programmatischen Erklärungen der Gerichte sichtbar gewordene Rechtsanwendungslehre als systematischen Zusammenhang. Das zentrale Problem ist dabei der Aufweis einer dem richterlichen Sprechen objektiv vorgegebenen Ordnung. Die Theorien der Rechtsanwendung versuchen diesen Nachweis in je unterschiedlicher Weise auf der Ebene der Rechtsbegriffe, der juristischen Methodik und der rechtsphilosophischen Ebene der Gerechtigkeitsidee zu führen. 1. Die sprachliche Grenze: Ausgangspunkt ist dabei die Idee einer dem richterlichen Sprechen im Text vorgegebenen Wortlautgrenze. Diese soll mittels
Zusammenfassung
der Trennschärfe der Rechtsbegriffe definiert werden, wobei schon innerhalb der herkömmlichen Lehre der eindeutige Rechtsbegriff zum immer weiter eingeschränkten Regelfall einer zunehmend längeren Liste von Ausnahmen wird. Auch der Versuch, mit Hilfe von Kategorien der logischen Semantik zu einer realistischen Einschätzung der Trennschärfe von Rechtsbegriffen zu gelangen, führt über eine bloße Klassifikation von Ausnahmen zu dem vorausgesetzten Eindeutigkeitsideal nicht hinaus. Eine Reflexion der sprachlichen Bedingungen macht demgegenüber deutlich, warum das von juristischen Légitima tionszwängen her entwickelte Eindeutigkeitsideal sprachtheoretisch nicht einlösbar ist. Durch Nachschlagen im Wörterbuch läßt sich diese Grenze nicht ergründen, weil die Lexikographie keine Sprachgesetzbücher hervorbringt. Auch die Bestimmung des Zeichenwerts im Sprachsystem beruht auf methodischen Vereinfachungen zu bestimmten Forschungszwecken, welche sich nicht auf die legitimatorischen Zwecke der Juristen übertragen lassen. Schließlich muß der Versuch, empirische Grenzen des Sprachgebrauchs aufzuweisen, den linguistischen Begriff der Empirie radikal verkürzen. In der Sprachwissenschaft wird hervorgehoben, daß auch eine auf Datenkorpora beruhende Regelformulierung ein normatives Element enthält, das sich nur relativ zu den Standards eines bestimmten Sprachspiels begründen läßt und damit gerade keine dem Sprechen vorgegebene sprachliche Ordnung begründet. 2. Die methodologische Grenze: Mit dem Scheitern des Konzepts einer sprachlich vorgegebenen Wortlautgrenze verschiebt sich das Problem auf die methodologische Ebene. Die subjektive Auslegungslehre fordert eine Bindung des Richters an den gesetzgeberischen Willen. Zu Recht weist aber die objektive Lehre darauf hin, daß der gesetzgeberische Wille mit einer die Auslegung determinierenden Rolle an der Unendlichkeit des sprachlichen Sinnzusammenhangs scheitert. Die objektive Lehre kann allerdings selbst diesen Sinnzusammenhang nur dadurch vereindeutigen, daß sie mit dem objektiven Geist des Gesetzes eine hypostasierte Autorenfunktion wiederholt. Die klassische Auslegungslehre löst sich damit in der dikursiven Endlosschleife wechselseitiger Kritik auf. Das Decodierungsmodell expliziert die sprachtheoretischen Prämissen des klassischen Auslegungsdenkens und ersetzt den Willen als Bezugspunkt juristischer Erkenntnis durch eine als vorgegeben verstandene sprachliche Bedeutung. Allerdings kann weder das Sprachsystem noch der Sprecher eine identische Bedeutung des Textes garantieren. Der Versuch zur sprachtheoretischen Reformulierung der Auslegungslehre scheitert an der Komplexität sprachlicher Ordnung. Diese stellt weder eine quasi-natürliche Vorgegebenheit von Konventionen dar noch ein von subjektiven Intentionen vollständig definiertes Kunstprodukt. Als „Phänomen der dritten Art", vergleichbar den Marktgesetzen und der „invisible hand", liegt die sprachliche Ordnung vielmehr zwischen diesen Vereinseitigungen und ist deswegen für juristische Legitimationsbedürfnisse nicht funktionalisierbar.
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Zusammenfassung
Das Konkretisierungsmodell führt von der juristischen Wende der Sprachphilosophie in die Richtung einer sprachphilosophischen Wende der Jurisprudenz. Weder die an Schleiermacher noch die an Gadamer anknüpfende Hermeneutik können jedoch eine Sinntotalität als objektive Grundlage richterlichen Sprechens garantieren. Eine konsequente Hermeneutik löst die Sinntotalität stattdessen in eine Vielfalt von Verständnismöglichkeiten auf, so daß das Konkretisierungsmodell entweder in eine Rechtserzeugungsreflexion mündet oder den Versuch unternehmen muß, die gesuchte Sinntotalität auf rechtsphilosophischer Ebene mittels der Gerechtigkeitsidee zu stabilisieren. 3. Die rechtsphilosophisch-normative Grenze: Das Scheitern sowohl der Lehre vom Rechtsbegriff als auch der juristischen Methodik in ihrer Rolle als Garantieinstanzen für die juristische Auslegungstätigkeit führt die am Rechtsanwendungsmodell festhaltende Lehre in einer Rückzugsbewegung vom Gesetz zur Gerechtigkeit. Da weder auf der sprachlichen noch auf der methodologischen Ebene eine dem richterlichen Sprechen vorgegebene Ordnung nachzuweisen ist, bildet ein rechtsphilosophisch begründeter Maßstab von Gerechtigkeit die letzte Auffanglinie für die Rettung der Rechtsanwendungslehre. Der Rückzug der herkömmlichen Lehre ersetzt nicht nur das Gesetz durch die Gerechtigkeit, sondern auch die juristische Methode durch spekulative Rechtserkenntnis und das sogenannte „Gesetzesrecht" durch ein sich immer weiter ausdehnendes „Richterrecht". Der Begriff einer objektiv vorgegebenen Gerechtigkeit läßt sich allerdings nicht mit der hermeneutischen Kategorie der Totalität begründen, weil sich die Unterscheidung gerecht/ungerecht schon innerhalb der Sphäre rechtlichen Sinns vollzieht. Auch der Versuch, die Gerechtigkeit über eine deskriptive Semantik zu begründen, hat in seine vorausgesetzte Sprachtheorie schon normative Prämissen eingebaut, welche in der sog. Beschreibung nur expliziert werden und die Realität der Sprache zu einem Gesetzbuch idealen Sprechens verkürzen. Es zeigt sich somit, daß die Gerechtigkeit als zentraler Maßstab entweder nicht verfügbar ist oder als verfügbarer Maßstab nicht zentral ist. Die Verbindung einer den Positivismus abstützenden Gerechtigkeitsidee als rhetorische Fassade mit einem in der konkreten Entscheidung praktizierten Dezisionismus macht das Scheitern des Rechtsanwendungsmodells offensichtlich. Teil D zieht daraus die Konsequenz, daß eine Theorie der Praxis die in den gerichtlichen Entscheidungen tatsächlich verwendeten Maßstäbe einer prinzipiellen Reflexion unterziehen muß. Dies führt in den kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion, welche zwar nicht mehr eine objektiv vorgegebene Ordnung begründen muß, aber statt dessen vor der Frage steht, wie die richterliche Bindung an das Gesetz noch aussehen kann, wenn man dem Richter die Kompetenz zur Rechtserzeugung einräumt. Dementsprechend ist der Maßstab, die Struktur und die Grenze richterlicher Rechtserzeugung zu untersuchen.
Zusammenfassung
1. Frage nach dem Rationalitätsmaßstab schöpferischer Rechtsarbeit: Die Diskurstheorie erkennt die Realität der Rechtserzeugung an und versucht diese an einen philosophisch begründeten Rationalitätsmaßstab zu binden. Das Gesetzesbindungspostulat wird dabei von einer normativen Argumentationstheorie ersetzt, und an die Stelle des wirklichen Gesetzbuchs tritt das ideale Gesetzbuch der praktischen Vernunft. Die zunächst anerkannte Regelerzeugung wird an „anthroplogisch tiefsitzende" Strukturen gebunden, welche mit dem Gedanken des idealen Konsensus jeder Interpretation einen gemeinsamen Fluchtpunkt verschaffen. Der Traum von einem „immer schon" vorausgesetzten universalpragmatischen Code, welcher die richterliche Regelgenerierung durch eine bestimmte Begründungsdynamik überwachen könnte, scheitert allerdings an der Vielfalt sprachlicher Möglichkeiten. Während die Diskurstheorie die empirische Vielfalt der sprachlichen Möglichkeiten zugunsten von normativen Prämissen verkürzt, versucht eine an die Topik anknüpfende „postmoderne" Rechtstheorie aus der sprachlichen Vielfalt eine Rechtfertigung des Dezisionismus abzuleiten. M i t dem Uhrwerkmodell der Gesetzesbindung scheitere auch der Versuch einer vertikalen Vernetzung der unterschiedlichen Sprachspiele, so daß die dann erforderliche horizontale Vernetzung auf jede über die einzelfallbezogene Abwägung hinausgehende Bindung verzichten müsse. Dieser Vorschlag zur bloßen Beschreibung eines Spiels der Macht verkürzt allerdings die normative Realität des juristischen Diskurses. Denn zu dessen das Spiel erst konstituierenden Regeln gehören auch die Gesetzesbindung und andere methodenbezogene Normen des Verfassungsrechts. An den Verfassungsnormen als sprachspielimmanentem Maßstab setzt eine Theorie der Argumentationspraxis an, welche sich darum bemüht, empirischanalytische und verfassungsrechtlich-normative Gesichtpunkte zu verbinden. Dabei zeigt sich, daß zwischen den Extremen einer universalpragmatischen Wahrheitsordnung und eines sprachkritisch begründeten Dezisionismus die Möglichkeit liegt, die von der Rechtsprechung ausgeübte Gewalt entlang den Maßstäben des Verfassungsrechts zu reflektieren und zu kritisieren. Die Theorie der Argumentationspraxis kann den Einwand, eine verfassungsrechtliche Rückbindung juristischer Methodik führe in einen logischen Zirkel, entkräften und auch dartun, daß weder Wissenschaftstheorie noch Verfassungstheorie diesen Maßstab zu ersetzen vermögen. 2. Struktur der Rechtserzeugung: Im Rahmen der herkömmlichen Rechtsanwendungslehre ist die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns klar beantwortet: Die Geltung des Normtextes verlangt eine Beachtung seiner objektiv vorgegebenen Bedeutung, und soweit dies geschieht, reicht auch die Rechtfertigung richterlicher Entscheidungen. Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung werden damit gleichgesetzt. Wenn aber der kategoriale Rahmen einer Rechtsanwendungslehre verlassen wird, treten diese kurzgeschlossenen Probleme wieder auseinander. Denn die Geltung des Normtextes kann nicht mehr mit
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Zusammenfassung
einer vorgegebenen Bedeutung in eins gesetzt werden, und die Frage nach der Rechtfertigung juristischen Handelns bedarf einer neuen Formulierung. Das von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Konzept der Legitimationsstruktur reformuliert die Rechtfertigungsfrage im kategorialen Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion. Die Sprachtheorie wird in diesem Zusammenhang nicht auf die Erzeugung von Legitimationswissen festgelegt in der Weise, daß sie die Notwendigkeit der vom Richter hergestellten Verknüpfung zwischen Normtext als Zeichenkette und Rechtsnorm als Bedeutung nachträglich mit Hilfe einer semantischen Theorie begründen soll. Vielmehr wird die Sprachtheorie hier mit dem Interesse an Produktionswissen aufgenommen und soll durch Hinweis auf sprachliche Alternativen die spezifisch juristischen Begründungslasten sichtbar machen. Es wird dann deutlich, daß die schöpferische Komponente der Rechtsarbeit kein besonders zu erklärender Ausnahmefall außerhalb der Reichweite der Gesetzesbindung ist, sondern der im Diesseits rechtsstaatlicher Gesetzesbindung zu begreifende Regelfall. Im Rahmen des von der Strukturierenden Rechtslehre erarbeiteten Konzepts der Textstruktur kann die Rolle des Normtextes für die Rechtsentscheidung realistisch eingeschätzt werden. Der Gesetzgeber setzt demnach keine Rechtsnormen, worin die Entscheidung aller künftigen Fälle schon vorvollzogen ist. Er bringt vielmehr Normtexte hervor, deren aus der Entstehungsgeschichte mitgebrachte Verwendungsweisen die Bedeutungskonstitution zwar beeinflussen, aber nicht endgültig festlegen können. Insoweit kommt dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung lediglich Geltung und nicht schon Bedeutung zu. Indem das Konzept der Textstruktur das herkömmliche Verständnis einer notwendigen Verknüpfung von Normtext und Rechtsnorm aufgibt, wird der diese Verknüpfung aktiv herstellende Rechtsarbeiter als Adressat der Geltungsanforderung erkennbar. Für ihn besteht eine gesetzlich festgelegte Dienstpflicht, die erzeugte Rechtsnorm dem amtlichen Normtext zuzurechnen und nicht etwa in 'richterrechtlicher' Manier selbst einen Normtext als Zurechnungspunkt zu erzeugen. M i t Hilfe des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Konzepts der Normstruktur können die methodischen Bindungen richterlichen Sprechens innerhalb des Prozesses der Bedeutungskonstitution eingefordert werden. Aus der Verbindung verfassungsrechtlicher Vorgaben mit der Analyse der Normstruktur läßt sich die Forderung ableiten, daß der Richter bei einem Konflikt um die weitere Verknüpfung dem normtextnäheren Argument den Vorrang einzuräumen hat. Mittels einer rechtsnormtheoretisch rückgebundenen Methodik lassen sich damit kontrollierende Standards für die juristische Interpretationstätigkeit entwickeln. 3. Grenze der Rechtserzeugung: Auf der Grundlage einer Reformulierung der Rechtfertigungsfrage, einer Unterscheidung von Geltung und Bedeutung des Normtextes sowie der Bestimmung von Adressat und Inhalt methodischer
Zusammenfassung
Bindungen kann schließlich die Frage nach den Grenzen richterlicher Rechtserzeugung neu diskutiert werden. Eine Analyse der zwischen Normtext als Zeichenkette und Rechtsnorm als Bedeutung liegenden semantischen Praxis kann zeigen, daß der Richter die sprachliche Bedeutung in der Entscheidung weder mechanisch anwendet noch frei erfindet. Die Bedeutung des Normtextes wird vielmehr im Rahmen eines als „Phänomen der dritten A r t " strukturierten Sprachspiels unter den erschwerenden Bedingungen von Verfassungsrecht und juristischer Argumentationskultur in der Entscheidung durchgesetzt. Die Wortlautgrenze juristischer Auslegung ist damit entgegen der herkömmlichen Auffassung weder eine sprachliche noch eine methodologische Grenze. Sie ist vielmehr eine normative Grenze, welche als komplexe Größe verfassungsrechtliche und rechtstheoretisch/methodologische Anforderungen miteinander verbindet. Teil E beantwortet die eingangs gestellten Fragen. Aus dem Vergleich der theoretischen Implikationen von Rechtsanwendungslehre und Rechtserzeugungsreflexion ergibt sich, daß die Gesetzesbindung nicht als Bindung durch den Inhalt des Gesetzes, sondern als Bindung an den Text des Gesetzes verstanden werden muß. Weil damit der schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit im Diesseits der Gesetzesbindung begriffen werden kann, besteht auch keine Notwendigkeit, entgegen der Verfassung eine Bindung des Richters an eine jenseits der Gesetze liegende Gerechtigkeit anzunehmen. Die verfassungsrechtliche Aufgabe der Gesetzesbindung besteht vielmehr in der Gewährleistung einer arbeitsteiligen Rechtserzeugung, wobei die Gesetzesbindung praktisch eingelöst wird durch Teilung und Kontrolle der rechtserzeugenden Gewalt.
Literaturverzeichnis U m die Übersicht zu erleichtern, wurden die Texte in drei Gruppen eingeteilt. Es handelt sich nicht um eine Bibliographie, sondern um ein Verzeichnis der herangezogenen Literatur. I. Rechtswissenschaftliche Texte Aarnio: Denkweisen der Rechtswissenschaft, 1979. Adomeit: Juristische Methode, in: Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, Bd. 1, 1972, S. 217 ff. — Der gerichtliche Prozeß in Sicht der Rechtstheorie, in: AcP 1974, S. 407ff. Alexy: Theorie der juristischen Argumentation, 1978. — Eine Theorie des praktischen Diskurses, in: Oelmüller (Hrsg.), Normenbegründung, Normendurchsetzung, Materialien zur Normendiskussion, Bd. 2, 1978, S. 22 ff. — Aarnio, Perelmann und Wittgenstein: Einige Bemerkungen zu Aulis Aarnios Begriff der Rationalität der juristischen Argumentation, in: Peczenik/Uusitalo (Hrsg.), Reasoning on Legal Reasoning, 1979, S. 121 ff. — Teleologische Auslegung und Gesetzesbindung, in: Ermert (Hrsg.), Loccumer Protokolle. Sprache und Recht, 1980, S. 143 ff. — Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie, Beiheft 2, 1981, S. 177ff. — Juristische Argumentation und praktische Vernunft, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1982, S. 29 ff. — Ermessensfehler, in: JZ 1986, S. 701 ff. — Theorie der Grundrechte, 1986. — Rechtssystem und praktische Vernunft, in: Rechtstheorie 1987, S. 405 ff. Alternativkommentar zum GG, Stand 1984. Arndt: Gesetzesrecht und Richterrecht, in: NJW 1963, S. 1273 ff. Bachof: Grundgesetz und Richtermacht, 1959. Baden: Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff. — Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977. Bähr: Rechtsstaat und Strafgerichtsbarkeit, in: Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, Bd. 1, 1979, S. 565 ff. Bär: Zeitgemäßes Recht, Dies Academicus, 1973.
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aerzeichnis Aarnio 195 Adomeit 89 Albert 149, 196, 224, 249 Alexander 194 Alexy 106, 183 -187, 189-199, 201 Apel 144 Arndt 13, 164 Austin 14, 193 Bachof 179, 291 Baden 59,64,90,92 - 97,102,108,118, 133 f., 229, 242 f., 263 Bähr 293 Bär 93 Baker 277 f. Ballmer 83, 246 Ballweg 203 f., 208 Bartholomeyczik 162, 260 Baumann 69 Behrens 282 Belaid 180 Bentele 120 Berkemann 296 Bernet 229 Betti 88, 171 Bickes 75 Bieck 67 Binding 69, 96 Birke 291 Bleicher 127 f. Bloch 18, 29, 97, 139, 170, 286, 294 Bockelmann 161, 179 Böckenförde 229 Boeckh 90 Bohnen 109 Bollnow 102 Bottke 89, 259 Brand 84 Braunroth 117, 140 Brecher 257 Brekle 80 Brinckmann 114
Broekman 179f., 191, 204, 207f., 246 - 249, 270 Brüggemann 164 Brütting 179 f., 230 Buchwald 185 Busse 60,62 f., 67,74 f., 78,85, 99,108,118, 120, 125, 135, 138, 140, 157, 245, 271, 276-279, 282, 287 Burkhardt 14 Bydlinski 128, 162 Bystrina 120 Canaris 149 Carnap 75, 122 Castoriadis 245, 286 Cattepoel 71 Chalmers 224, 268 Cherubim 176 Chryssogonos 24 f., 45, 202, 223 Cicourel 120 Clauss 91 Clemens 262 Cohen 105 Coing 130 f., 133 f., 143, 165, 228, 284 Conrad 13 Coseriu 82, 116, 176, 206, 275 Coulmas 67 Deleuze 101, 141, 213 Derrida 30 f., 67, 82, 85,98 f., 106,130, 136, 138 f., 142 f., 167,172 ff., 180,193 f., 198, 200,228 - 231, 238, 271,281, 286 Descombes 119, 240 Dieckmann 17, 282 Dilthey 90 Dittmar 67 Ebsen 13, 19, 21, 65 - 68, 182, 291, 295 Eckold-Schmid 257 Ehmke 144 Eichenberger 13 Engisch 29,68 - 72,89 - 95,98,128,133,230, 258, 262, 291
338
Namenverzeichnis
Ennecerus 88 Esser 88, 100, 102, 127, 159, 164, 170, 222, 229, 258 Evers 291 Fetscher 280 Feyerabend 224 Fikentscher 257 Fischer 164 Flume 291 ForsthofF 98 Foucault 90, 101 f., 138, 229 f. Frank 82,99,121,131-141,143,167,180,193 f. Frankenberg 215 Franssen 257 Frommel 100, 133, 144, 167, 169 ff. Gadamer 69, 95,127 f., 133,144 f., 150,171, 173 Garstka 80, 115 f. Gast 32, 150, 202 f., 213 f. Gebauer 272 Geiger 15, 165 f. Germann 45, 164 f. Gizbert-Studnicki 79, 88,127 f., 144 f., 150, 152 Glaser 73 Gloy 86, 176 Gmelin 92 Gnaeus Flavius 165 Göldner 296 Göttert 278 Gondek 189, 194 f., 238 Grewendorf 84 f. Grice 198, 218 Grimm 217 Gröschner 32, 69, 128, 257 Großfeld 113 f. Gropp 91 Habermas 94, 137, 173, 188-192, 194 f., 197 f., 200 f. Hacker 277 Haft 206 Hanack 164, 179 Harenburg 18, 75, 83 f., 102, 106, 127, 221-226, 254 f., 266 ff. Hart 84, 222, 250 Hartmann 114 Hassemer 88, 109, 145, 151-156 Hassold 42, 47, 88, 95 f., 222, 229 f., 259 f.,
262
Hattenhauer 47 f. Haug 90, 102, 105 Haverkate 256 ff. v. Hayek 124 Heck 33 Hegenbarth 36,42,48,63,68 f., 75,78 f., 88, 102, 108, 118 f., 243, 263 Henkel 294 Hellebrand 133 Herberger 70, 111, 222 Heringer 16f., 83, 218, 246, 272, 275, 278-283 Herschel 72 Herzog 13, 19, 291 f., 296, 299 Hesse, H. 200, 202 Hesse, IC 34, 62, 296 Hill 62 Hinderling 128, 145, 229 Hirsch 99, 165 Höffe 15 f., 173 ff., 177 Hoerster 206, 222 Holtkotten 66, 291, 295 f., 299 Holz 139, 294 Honsell 13, 31,50,52f., 56f., 90 ff., 95,123, 261 f., 264, 293 Horaz 97 Horn, D. 16, 203 Horn, N. 202 Hruschka 69, 144f., 149 f., 229 Hungerland 199 Husserl 99, 229 f. Hymes 67 Ipsen 20, 34, 296, 299 Isay 164, 166 Ivo 280 Jakobs 69 Jäger 83 f., 274, 281 Jeand'Heur 215, 274 Kallmeyer 76 Kasper 84, 281 Kaufmann, A. 85, 88, 109, 128, 146, 150-157, 164, 262 Kaufmann, E. 97 Kehl 282 Keller, A. 19, 41, 68, 100, 162, 229, 258 Keller, iL 83 f., 123 ff., 246, 274, 280 f. Kelsen 15, 128, 165, 207 f., 234, 244, 252 f., 255 Kemmerling 85, 277
aerzeichnis Kennedy 215 f. Kenny 272, 279 Kilian 257 Kimmerle, G. 192, 200 f. Kimmerle, H. 174 Kindhäuser 72 Kirchhof 25, 97, 109, 123 f., 243, 282 f., 291 Kitschelt 188 Klein 76 Klug 69 Knittel 164 Koch 18,25,36, 67,74 f., 77, 79, 81, 83-88, 106, 108, 110-113, 122, 166, 206, 215, 258, 268 Köbl 26, 47 f., 50 f., 55 f., 58, 60, 63, 93, 98 Kohler 97 Kolde 176 Koselleck 280 Kramm 71, 76 Krawietz 258 f. Kriele 18, 296 Kripke 130 Kromer 116, 239, 252 Krüger 92, 94 Kruse 164 Kuhlen 72, 74 Kunz 152 v. Kutschera 122 Labov 67 Ladeur 207-213 Ladnar 69 Lakatos 166, 268 Larenz 31,34,36,52, 69, 72,79f., 88f., 100, 109, 112, 144-148, 151 f., 160, 163 f., 167-171,202, 228 ff., 262, 292 Leicht 144 Less 164 Lohmar 62 Lorenzen 222 v. Lucius 62 Lüdtke 123 Lyotard 14, 20, 98, 137, 139, 141, 180, 195, 21 Iff., 216, 260, 272
Meier-Hayoz 165 Mennicken 88, 91, 96,105 Merten 294 Meyer-Hermann 76 Mitteis 70 Müller, Chr. 253 Müller, H. J. 52 Müller-Dietz 156 f. Munzer 97, 107 f. Naucke 89, 134, 230, 258 Netzer 76 Neumann, F. 293 Neumann, U. 16, 79, 88,128,152,154,171, 187, 189 f., 195 f., 199, 202 f., 205 Nickel 97, 107 f. Nipperdey 88 Noll 62, 94 Novalis 170 Nozick 123 Nyiri 137 Oelschläger 272, 281 O'Hair 198 Olivecrona 222 Olzen 164 Opp 66 f., 260 Orth 229 f. Ossenbühl 162 Otte 258 Pawlowski 229 Pelz 85 Perelmann 94 Pereis 295 Perrot 114 Pestalozza 262 v. Plottnitz 69 Podlech 75, 114 v. Polenz 17 Popper 123, 125, 143, 227, 246, 268 Priester 84 ff., 156, 285 Prümm 34 Quirk 176
Maas 176 MacCallum 59, 93 Maihofer 295 Marquard 158, 299 f. Mates 84 Maus 236, 238 f., 241 ff., 247, 252, 258, 293 Meggle 84, 218
339
Habel 88 Radbruch 100, 102 ff., 113 Rahlf 50 f., 59, 262 Rawls 173 Raz 222 Redeker 296
340
Namenverzeichnis
Richter 280 Rink 188 Robbers 294 Rodingen 16, 84, 109, 203 ff., 243, 270 Rödig 25, 59, 64, 89 ff., 94-97, 229 f., 242, 263 Roellecke 256, 261, 264, 266 Römer 244, 252 f., 255 Rorty 67, 127 f. Ross 165, 222 Roth-Stielow 105, 228, 258, 265 Rottleuthner 47, 83 f., 88, 144, 149, 160, 264 Rüb 189, 211 Rüßmann 18,25,36,74 f., 77,79,83,88,106, 111, 113, 258 Rüthers 165 Sachs 23, 25, 27, 49 ff., 54, 59, 265 Savigny, E. v. 73, 84 f., 99, 140, 262 Savigny, F. C. v. 24, 133 Scheuner 256 Schiffauer 41, 43,68-74, 81, 86, 183,189 f., 201, 241, 286 Schleiermacher 82, 102, 128, 132 Schlieben-Lange 67 Schlink 18, 45, 63, 75-78, 84, 106, 207, 221-226, 239, 268 Schlothauer 25 Schlüchter 68 f. Schmitt 13, 92, 107, 215, 257, 284 Schmitt-Vockenhausen 62 Schneider, H. J. 117, 161 Schneider, H.-P. 159 f., 162, 284, 295 Schnelle 281 Schreckenberger 203 f. Schroth 13, 43, 59, 78, 80, 84, 90-95, 100, 122, 127 ff., 133 f., 136, 144 f., 154, 158, 230, 238, 259, 262 f., 291 Schünemann, B. 69 Schünemann, H.-W. 144 Schwemmer 222 Searle 82, 194 Seel 198, 200 Seibert 202-205, 208 Sendler 251 Siebert 76, 260 Sieckmann 184 Simitis 257 Simon, D. 70, 222, 295 Simon, H. 13 Simon, J. 16
Sohm 70 Sokolowski 94, 198, 239, 273, 278, 280 ff. Somló 229 Spinner 223 f., 258 Starck 34, 242 Staten 136, 139, 271 Steger 176 Stein 164, 291 Steinvorth 30 Steinwedel 34 Strasser 230 Stratenwerth 45, 58 Strawson 281 Struck 202 Summers 59 Svensson 293 Tettinger 62 Thaler 70 Thoma 23 Topitsch 15 Toulmin 257 Trapp 75, 166 Tugendhat 99 v. Unruh 295 Vanberg 123 Van de Vate Jr. 224 Viehweg 202, 204 Vogel 296 Volz 211, 238 Wächter 90 Waismann 80, 104 Waldenfels 228, 286 Wandruszka 85 Wank 20, 29, 34, 56, 70, 72, 92, 221, 244, 256 f., 296, 299 Wassermann 19, 21, 159, 162, 292, 295 f. Weinberger 262 Weinkauff 164 Wellmer 99, 138 ff., 142, 196, 212, 245 Wenger 70 Werle 257, 294 Wetzel 200 Wieacker 160, 162, 164 f. Wiegand 79 Wimmer 14, 16, 176, 185, 215, 246, 272, 274 f., 277 f., 280, 286 Winch 279 Windscheid 100
Namenverzeichnis Wittgenstein 69, 72, 99f., 103,122,128, 135 f , 140, 142 f., 198, 216, 241, 271 f., 277, 279, 281, 285 Wolski 79 Wunderlich 83 f. Wundt 96 f.
Zimmermann 49, 69, 83, 163 Zippelius 73, 86, 97, 164 f., 219, 233,
260 Zöllner 261 Zweigert 164
averzeichnis Absicht 93, 99 s. a. Intention Abwägung 206, 209 f. s. a. Güterabwägung Achse Norm-Fall 301 Änderungsantrag 62 Äußerungsbedeutung 142 Akte 205 f. Alltagssprache 263 Alternativentwürfe 62 Amtsrecht 240 Analogieverbot 23, 39 ff., 84, 257 (Fa) Analyse, zuhörerbezogene 84 Andeutungstheorie 47 f., 54 Applikation 142 Argumentation 260 - Begriff 285 Argumentationstheorie - deskriptive 183, 187, 214, 218 f. - normative 183, 202, 218, 311 - rhetorische 202 Art. 1 ΙΠ GG 226, 294 Art. 20 GG 298 Art. 20 I I GG 296 Art. 20 ΠΙ GG 20,33 ff., 151,226,247,291 f. Art. 92 GG 247 Art. 97 GG 66 Art. 971 GG 19 f., 162,217,226,251,291 ff., 295 ff., 299 f , 305 Art. 103 I I GG 40, 294 Asymmetrie, epistemische 137, 140 Aufklärung 293 f. Auslegung 27, 31 f., 78, 88, 119, 134, 151, 171, 230, 244, 249, 303 - Aufgabe der 230 - Begriff der 122 - Bild der 87 - genetische 42-63, 89, 93-96, 106, 130, 232, 239, 299, 308 - grammatische 27 f., 34,38 - 42,68 ff., 75, 78 - 82, 106, 113,184,232,263,284,302, 308 - historische 44, 52,62,232,293,299,308
— systematische 27 f., 37 ff., 42, 44, 60 f., 81 f., 113, 296, 299, 308 — subjektiv-teleologische 96 ff. — teleologische 49, 56 — verfassungskonforme 24, 261 — vergeistigende 171 s. a. Konkretisierung Auslegungslehre 110, 258 — klassische 24ff., 45,57,64,108 -112,121, 126 f. — objektive 25,45 - 49, 53, 55,57,64,89 f , 95,100,103 -107,124 -127,130,147,258, 263, 308 f. — subjektive 47 - 58,64,88 - 93,96,98,100, 105,107,117,119 ff, 124,126 f , 134,258, 308 f. Auslegungsmetapher 26, 87,107,121,159, 230 Auslegungsmodell 38, 105, 151 Auslegungstheorien 260 Auslegungsziel 25, 45, 87, 260 Autor 90,95 f., 100 f., 105,130,132,134,140, 143, 238 s. a. Intention, auktoriale — sinnstiftender 89 — verschwiegener 107 Autorschaft, Prinzip der 89f., 101,106,117,
126 s.a. Verknappung, diskursive; Kommentierung, Prinzip der Basis 225, 268 — Etablierung 226 Basissätze 83, 268 (Fn.) Basissemanteme 115 Bedeutung, sprachliche 21, 31,35,39 f., 64, 68, 73 - 78, 85, 89, 95, 110ff, 115, 139, 142 f., 150,152,166 f., 180,194,205,227, 230, 233, 238, 241, 245, 250 f., 262, 270, 272, 303,309, 311 f. — als Rechtsnorm 300 — atomistische 80 — Begriff 84, 135
averzeichnis
— Bestandteile 115 — Durchsetzung der 275, 280 — Erklärung der 37, 124, I I I , 280 — handlungsbezogene 156 — legitime 144 f. — lexikalische 78, 204 — metaphorische 156 — Namenstheorie der 241, 244 — objektiv vorgegebene 21, 75, 111, 118 — Offenheit der 142 — Profilierung der 42, 232, 308 — Psychologisierung der 135 — sprachsystembezogene 156 — Streit um die 280 — ursprüngliche 229 — wörtliche 84, 156 Bedeutungsermittlung 67,75,83,111 f., 185 Bedeutungsfestsetzung 75, 83, 112, 185 Bedeutungshypothesen 39, 43, 301 Bedeutungskonsütution 41 f., 44, 183, 233, 237, 239, 246 f., 251, 272 f., 312 — différentielle 81; s.a. Handeln, bedeutungskonstituierendes Bedeutungsprofilierung 55, 61, 80, 82, 136 Bedeutungssubstanz 41 Bedeutungstheorie 21, 69, 76, 87ff., 123, 126, 149 f., 220, 231, 242, 244, 262 — hermeneutische 132 f. — vorausgesetzte 107 Bedeutungsverstehen 128 Bedeutungswandel 65, 67, 182 Bedeutungswissen 76 Begriff 69, 274 — eindeutiger 70 — funktionsbestimmter 72 — juristischer 68-73,76,86, 156,168,203, 309 — klassifikatorischer 72 — komparativer 72 — mehrdeutiger 74 — normativer 71 — poröser 81, 156 — unbestimmter 70, 74 — und Typus 72 — vager 74 Begriffsbildung 73 Begriffshof 71, 74 f. Begriffsjurisprudenz 70 - 73, 76 Begriffskern 71, 74 f. Begriffspyramide 71 Begründungsdenken 149 Begründungsdynamik 189, 196, 311
343
Begründungszusammenhang 266 f. Berechenbarkeit 247, 298 Bereichsdogmatik 305 Betriebsrationalität 298 Bewußtsein 137 — gegenstandskonstitutives 120 Bezeichnungsrelation 245 f. Bindung — Gegenstand 19, 65, 307 — Mittel 19, 307 — Ausmaß 19, 307 Bundesarbeitsgericht 28 f. Bundesgerichtshof 26, 29, 47, 51, 55, 57 Bundessozialgericht 47 f., 51, 61 Bundesverfassungsgericht 23-26, 33-39, 41-50, 53 ff., 57, 59 ff., 65, 182, 264 f. Bundesverwaltungsgericht 61 Code 38, 121, 148, 182, 229, 240 f. — objektiver 29 — pragmatischer 193 ff. — Unabgeschlossenheit des 137 — universeller 33, 77,114,117,122,140 f., 146 f., 232, 235 Common Law 252 contra legem 148, 305 Decodierung 243 Decodierungsmodell 108, 121, 126, 309 Definition, komplexe 66 Dehiszenz 143 Dekonstruktion 139, 174 Demokratie 217, 288 Demokratieprinzip 220, 237, 296 f., 299 Derivation, genetische 230 Determination 305 Dezision 35, 181, 189, 212, 253, 305 — rechtspolitische 298 Dezision durch Rechtsunterstellung 288 Dezision durch Rechtsverbiegung 288 Dezisionismus 33, 211 ff., 235, 250, 270273, 276-279, 290, 310f. — Rechtfertigung des 210, 214 — sprachkritische Begründung des 210, 214, 311 Diachronie 115 Dialektik 30, 132, 294 Dienstpflicht, richterliche 300, 312 Differenzen, semantische 177, 187 s. a. Oppositionen, semantische; Semantik
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averzeichnis
Diskurs, juristischer 89, 180, 186 f., 196, 214-218, 229 Diskurs, praktischer 186, 190, 196 Diskursethik 178, 211 Diskursgattungen 211 Diskurstheorie 183 f., 190-201, 211, 219, 248 f., 311 Divination 133 Dogmatik, juristische 82,102,222,255,282 Drei-Eben en-Modell 186 Durchsetzungshandlung 280 ff. Durchsetzen der Bedeutung 191, 313 - Begriff 280 ff. s. a. Bedeutung Effizienz, ökonomische 213 Eindeutigkeit 39, 54, 73, 78 - des Wortsinns 35 f., 284 Eindeutigkeitsideal 309 Eingangsdaten der Konkretisierung 20,251, 300, 304 Einheit der Verfassung 265 Einschreibung 143, 249 Empirismus 268 Entdeckungszusammenhang 266 f. Entscheidungsnorm 20,158,240,289,296299, 304 f. Entstehungsgeschichte 41-64, 244, 265, 295, 299 s. a. Auslegung, genetische Erkenntnisprogramme 258 - Vergleich 268 Erkenntnisregel von Recht 250 Erkenntnistheorie 137 f. Ermessensbegriff 71 s. a. Begriff Ersatzdienst-Entscheidung 41 - 43 Ethik, kommunikative 218 f. Exekutive 296 Experiment, semantisches 174 Extension 75 Fachsprache 67 f., 81 Fallgerechtigkeit 167, 180 s. a. Gerechtigkeit Fallibilismus 224 Falsifikation 77, 84, 268 Falsifikationsmodell 223, 268 Felder, semantische 282 s.a. Netz, semantisches; Semantik Formalitätsvorsprung des Normtextes 298 Freiheit 201 f., 211
— individuelle 294 f., 299 — Schutz individueller 294 Freiheitsbilanz 177 f. Fundamentalphilosophie 173 Gebrauchsbeispielerzählung 40 ff, 78 f. Gegenwart, ursprüngliche 230 Geist, objektiver 104, 108, 130, 148, 170 Geltung 227, 237, 251, 300 f., 311 Geltung und Bedeutung 237, 240,247, 301 Geltungsanforderung 247, 251, 312 Geltungsanordnung 251 Geltungsvorsprung des Normtextes 298 Generierungsregeln 116 Generative Transformationsgrammatik 122 Genetische Auslegung 42 - 63, 89, 93 - 96, 106, 130, 184 f., 232, 239, 299, 308 — Art und Weise der 57 - 63 — Bezugspunkt der 52 - 55 — Gegenstand der 57 Genre 131 Gerechtigkeit 17, 20 f., 29, 32, 36, 38, 154, 158, 161, 164-173, 177, 179ff, 211 f., 248, 263, 291 ff, 297, 308,310 — Begriff 175, 212 — dezisionistisches Konzept 211 ff. — distributive 175 -179 — holistisches Konzept 180, 299 — prozeduralistische 188 ff. — rechtsstaatlich relative 305 — wahrheitsfunktionale 213 Gesamtkonzept, nachpositivistisches 234 Gesetz 30 ff., 34 f., 294 — Inhalt 229 — Steuerungsfähigkeit 15 — Steuerungskraft 188 Gesetz als Regel 291 Gesetz und Recht 34, 148, 151, 153, 292 Gesetzbuch 170 ff. — der praktischen Vernunft 184, 248, 311 — ideales 171 Gesetzeslücke 35 Gesetzesmaterialien 45 f. Gesetzespositivismus 20, 75,113,118,151, 216, 248f., 291; s.a. Positivismus — Auslegungsmodell des 28 — Rechtsnormtheorie des 29 — Sprachauffassung des 29 Gesetzessystematik 44 — Substantialisierung 33 s. a. Konkretisierungselement, systematisches; Auslegung
averzeichnis Gesetzesvorlage 62 Gesetzgeber 20, 25, 46, 53, 57-63, 89 ff., 96-102, 118, 130, 228, 237-247, 250, 263, 272, 296 f., 299, 305 f., 312 — Absichten des 130 — als Autor 108 — diskursive Strategie des 63 — Diversifikation des 91 — Gesamtplan des 168 — Grundentscheidungen des 58 f. — Handlung des 93 — Wille des s. Wille des Gesetzgebers — Zweck des 56, 98, 153 s. a. Konkretisierungselement, genetisches — zweiter Stufe 153 Gesetzgebung 63, 239 — als arbeitsteiliger Prozeß 94 — als kompetitives Handeln 94 f. — als kooperatives Handeln 94 — Begriff 237 — vernünftige 201 Gesetzgebungslehre 94 Gesetzgebungsverfahren 53,56,59 - 62,242 Gewalt 17, 21 f., 158, 215, 220, 247, 256, 298 ff. — aktuelle 298 — Begriff 43 — der Interpretation 299 — formalisierte 298 — konstitutionelle 298 f. — rechtserzeugende 290, 300, 306, 313 — richterliche 21, 212 — sprachlose 298 — sprachvermittelte 247 — staatliche 216 Gewaltenteilung 220, 226, 247, 296-300 Gewissen 295 Grammatische Auslegung 27 f., 34, 38-42, 68 ff., 75, 78-82, 106, 113, 184 f., 232, 263, 284, 287, 302, 308 Grammatik 114 f., 117, 139, 180, 281 — strukturalistische 117 Grenze der Rechtseizeugung 312 Grundnormen des vernünftigen Sprechens 187 Grundrechte 300 — Auslegung 24 Güterabwägung 209 f. s. a. Abwägung Handeln
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— bedeutungskonstituierendes 247 — juristisches 127ff, 152, 154f., 157, 202, 218, 227, 233, 237, 274, 283, 307 — kommunikatives 124 f. — richterliches 37 f., 112, 121, 155, 160, 163-167, 182, 206, 212, 236, 250, 255, 276, 303, 307 — strategisches 196 — Theorie des juristischen 235 Handlungsspiel, kompetitives 94 Handlungstheorie 205 Handwerksregeln 257 Hermeneutik 88,127 f., 132 ff, 144, 149ff, 158, 171, 188, 310 — i.S.v. Gadamer 144-158 — i.S.v. Schleiermacher 129-143, 145 — Sprachtheorie der 141, 143 Herrschaft 17, 188, 247, 298 Heterogonie der Zwecke 96 Historische Auslegung 44,52,62, 232, 293, 299, 308 Historizismus 227 Idealsprache 75 Identität, semantische 101, 120, 167, 179 — logische 74, 122 Individualität 141 f. — Rettung der 141 Inspirationslehre 102 Intension 75, 122 (Fn.) Intention 99 f., 107, 126 f., 129, 143, 276, 309 — auktoriale 126, 130 f., 136, 143 — ausfüllende 129 — des Autors 126 — des Gesetzgebers 121 — des Sprechers 108 Intentionalität 99, 140, 249 Interdisziplinarität 16 lnteressenjurisprudenz 71-74 Interpretation 20, 120, 132, 158 — Begriff der 285 — letztverbindliche 17 — richtige 214 f. s. a. Auslegung, Konkretisierung Interpretationsbehauptungen 190 Intersubjektivität 120 intra ius 148 Invisible-hand-Erklärung 123 f. Iteration 142 f. s.a. Wiederholung ius argumentandi 214
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averzeichnis
Judikative 241, 296 f. Jurisprudenz 17 Kalkülbegriff 103 Kampf — um die Verknüpfung 210 f. — um Rechtsbegriffe 63 s. a. Sprachkampf Kampf, semantischer 60-63, 280, 282 s.a. Sprachkampf; Semantik Kampfcharakter des Sprechens 210 f., 214 Kanones 24, 28, 78, 146, 302 — Substantialisierung der 26 f. Klassenbegriff 72 Kommentierung, Prinzip der 101 f., 106, 113, 117, 126, 249 s. a. Verknappung, diskursive; Autorschaft, Prinzip der Kommunikation 218, 242 — experimenteller Charakter 157, 273 Kommunikationscode 240 Kommunikationsgeschichte 119 Kommunikationsmodell 118 f., 240, 243 Kommunikationstheorie 118 f. Kommunikationsverhältnis 238 Kompetenz, kommunikative 192-195,218, 248, 275 Konfliktfall 264 Konkretisierung 20, 128 f., 151, 154, 157 f., 236, 238, 244, 261, 301 ff. — Begriff der 157, 302 — dynamisches Ablaufmodell der 301 ff. — genetische 42-63, 89, 93-96, 106, 130, 184, 232, 239, 299, 308 — grammatische 27 f., 34, 38 - 42, 68 ff, 75, 78-82,106,113,184f., 232,263,284,302, 308 — historische 44, 52, 62, 232, 293, 299, 308 — systematische 27 f., 37 ff, 42, 44, 60 f., 81 f., 113, 296, 299, 308 s. a. Auslegung Konkretisierungselemente 262 f., 265, 305 — Rangfolge 303 s. a. Rangfolge — Widerspruch zwischen 262 Konkretisierungsmodell 127, 130, 152, 310 Konkretisierungsprozeß 300 f., 304 Konsens 189 f., 195, 206 — als Wahrheitskriterium 196 — faktischer 186
— idealer 195 f., 311 — wahrer 191 Konsensustheorie der Wahrheit 122 (Fn.), 195 f. s. a. Wahrheit Konsequenzanweisung 76 s. a. Referenz Kontext 85 f. — totaler 143 Kontinuum von Texten 247 Konvention 100, 107, 126 f., 129, 194, 279, 281, 309 — als soziale Norm 85 — und Intention 126 Kreislauf rechtlicher Normierung 297 Kritischer Rationalismus 84, 221-227, 267 f. Kunstsprache 75 langue 79 f. Lebensform 135, 140, 281 — Begriff der 195 Legislative 241 Legitimation 232, 237 Legitimationsfrage 174 f. Legitimationsstrategie, fundamentalphilosophische 175 Legitimationsstruktur 227, 228 (Fn.), 312 Legitimität 188 Lehnstuhlmethode 79 Leitsätze 20,28,30,36,38,68,162,217,237, 247, 256, 269, 280, 296, 298, 301 s. a. Rechtsnorm — subsumtionsfahige 31 lex ante casum 129, 151, 157, 302 Lexikographie 79, 310 Lexikon 68, 79 linguistic turn 15, 109, 127 Linguistik 109, 123 — strukturalistische 117, 192 Logik 72 Lücke 36, 148, 165 Macht 213-218, 294, 300 — nicht legitimierbare 216 — rechtsförmige 216 Machtökonomie 213 f. Materialien 56, 58, 60f., 90-94, 97, 266 — als Überprüfungsinstanz 60 s. a. Gesetzgeber; Auslegung, genetische — Substantialisierung der 53
averzeichnis Meinen 99, 130, 140, 228, 238, 244 Metasprache 208, 221 f. Metasprachspiel 195, 260 methodenbezogene Normen 18, 21, 125, 146, 185 ff., 199, 218 ff, 222, 227, 249, 273, 282, 288, 297, 307 methodenbezogene Verfassungsnormen
261 Methodenehrlichkeit 267 Methodik, juristische 86 f., 160, 168, 219, 221, 237, 249, 257 ff, 290, 305 — im Nationalsozialismus 257 — Rationalitätsmaßstab der 222 f. — rechtsnormtheoretisch rückgebundene 256, 269, 312 — verfassungsrechtlich rückgebundene 221 f., 227, 301, 311 Moral 188 f. „moral common sense" 177 Multifinalität 57 s.a. Gesetzgebung Mund des Gesetzes 154 Nachvollzug 129f., 130, 133, 142, 238 Namenstheorie der Bedeutung s. Bedeutung Nationalsozialismus 293 f., 299 Naturzustand 174 Netz, semantisches 62, 282 s.a. Felder, semantische; Semantik Nominaldefinition 67 Normativität 301 f., 305 — konkrete 301 — sachbestimmte 301 Normbereich 302 ff. Normbereichsanalyse 302 Normbereichselemente 302 Normprogramm 303 f. Normstruktur 251, 303, 305, 312 Normtext 20, 30f., 38, 68, 108, 111, 148 f., 226,228,231, 236 ff, 241,247,250,254, 256,269 f., 279,282 f., 289,296 -301,305, 311 — als Durchzugsgebiet 255 — als Eingangsdatum 251, 273, 297, 304, 312 — als Ort stabiler Sprache 248 — als Tenor politischer Entscheidung 60 — als Textformular 87, 183, 274 f. — als Zeichenkette 309, 312 f. — als Zurechnungsgröße 306 — gewaltenteilende Rolle 300
347
— — — —
Signalwirkung 301 Überschätzung der Rolle des 302 und Normativität 301 und Rechtsnorm 30, 90, 151-154, 157, 248, 254,312 s.a. Wortlaut Normtexthypothese 157, 304 Normtextkontinuität und Rechtskontinuität 257 Normtextnähe 265 f., 303, 305, 312 Normtextsetzung 237, 295, 297 Notwendigkeit, sprachliche 76, 198, 216 nulla poena sine lege 293 f. Obersatz 304 Oberste Bundesgerichte 24,26,47 f., 51,55, 59, 61, 228 Objektivität 83 Objektsprache 221 f. „Offenbarungsmodell" juristischer Methodik 204 Ontologisierung 203 Oppositionen, semantische 138, 171, 190,
201 — entgrenzte Ökonomie der 82 s. a. Differenzen, semantische Ordnung der Sprache s. Sprache, Ordnung der; Sprachordnung Ordnung und Unordnung 286 Organismus des Rechts 97 Paktentheorie 94 f. Paraphrase 115 f., 179 Paraphrasenbeziehungen 117 Parlamentsdebatten 60 — als kompetitives Handlungsspiel 95 parole 80 Performanz 116 Phänomen der dritten Art 123, 141, 157, 273, 309, 313 s. a. Sprache, Ordnung der Pluralismus 212 f., 259, 295-300 — in der Wissenschaft 258 Positivismus 34, 147 ff, 161, 166, 215, 247, 250, 270 f., 273, 276, 278 f., 303 — Auslegungslehre des 111 — Rechtsanwendungsmodell des 163 — Rechtsnormtheorie des 26, 35, 39, 73, 107, l l l f . , 121, 163, 166, 186, 213f., 228-231,253, 255 — Sprachtheorie des 277
348
averzeichnis
— Subsumtionsmodell des 162 Postmoderne Rechtstheorie 202, 207-218, 311 Präsupposition 199 f. Präskription 211 Präzisionspostulat 74 Pragmalinguistik 118 Pragmatik 115,117,123,191 -194,204 f., 210 pragmatische Wende 117, 176 Praxis, semantische 107,112,125,127,233, 238, 246, 250 f., 269 - 274, 277, 281, 307, 313 s.a. Semantik; Tätigkeit, praktisch-semantische Prinzip 169 f., 186 — konkretisierungsbedürftiges 72 — überpositives 160 Produktion, normative 253 ff. Quasi-Normtexte 297 Rangfolge der Konkretisierungselemente 147, 159 f., 186 f., 259-265, 303 Rationalität 184,189,201,210,219,224,261 — Begriff 223 — doppelte 220, 247 — im Plural 223 — juristische 225 Rationalitätsmaßstab 183, 226, 311 — immanenter 250 — philosophischer 186 Realdaten 301 f. Recht 32 f , 35,208,213 — Begriff 149, 291 — Doppelfunktion 294 — politische Instrumentalisierung 299 Recht auf Differenz 141 Rechtfertigung 227, 234, 251, 311 f. s. a. Legitimationsstruktur Rechtsanwendung 15, 32, 307 Rechtsanwendungslehre 21, 24, 26, 39, 68, 86 f., 125, 129, 159, 164, 179 f., 227,234, 308-311,313 Rechtsarbeit, praktische 17, 22, 112, 148, 180, 183, 200 f., 218 f., 226 f., 232, 236, 245, 247, 297, 303 — als diskursive Strategie 207 — Bindungen der 251 — dualistische Konzeption der 159, 161 — Konzeption 163 — Rationalitätsmaßstab der 221, 226 f. — schöpferische Komponente der 236 f.
Rechtsarbeiter 239, 247, 250 Rechtsbegriff s. Begriff, juristischer Rechtsbewußtsein 148, 170 Rechtsdogmatik 155 s. a. Dogmatik, juristische Rechtserkenntnis 168, 304 Rechtserzeugung 15, 212, 218, 253, 310 - arbeitsteilige 290 - Grenze 269 - Maßstab 183 - richterliche 39 - Struktur der 311 Rechtserzeugungsreflexion 22, 38, 52,125, 129, 157 f., 182 f., 234 ff., 246, 250-255, 266-269, 310, 312 f. Rechtsetzer zweiter Stufe 251 s. a. Gesetzgeber zweiter Stufe; Richter Rechtsfortbildung 151, 163 f., 292, 308 - gesetzesändernde 148 - richterliche 148, 160 Rechtsfortbildungskompetenz 35 Rechtsidee 104,169, 172 Rechtslinguistik 14 Rechtsnorm 28,30 f , 38,68,111,121,147 f., 157, 164, 209, 217, 228, 234, 236, 241, 247, 251, 254 ff., 272, 289, 296-299, 303 ff., 312 - als textuelle Bedeutung 87, 183, 274, 312 f. - Begriff 165 - Bestandteile der 302 - Herstellung der 252 Rechtsnormtheorie 153, 157, 163, 232, 256 - dynamische 235 - von Kelsen 252 f., 301 Rechtsnotstand 148 Rechtsordnung 37, 170, 294 - als Sinnganzes 172, 292 Rechtsprechung 25, 146 ff., 235, 247, 259, 292 - Begriff 298 s. a. Gewalt, rechtsprechende Rechtsprechungsanalyse 187 Rechtsprinzipien 168 ff. s. a. Prinzip Rechtssicherheit 146f., 261 (Fn.), 294 Rechtssprache 76 Rechtsstaat 146, 185 ff., 199, 214, 217-220, 223, 225, 235 f., 249, 261, 265, 267, 282, 287, 293 f., 296 - 299, 303 - bürgerlicher 247, 298 - Legitimität des 298
averzeichnis — Rationalität des 186 s. a. Rationalität Rechtstheorie 16, 252, 259, 290 — nationalsozialistische 294 Rechtsverweigerungsverbot 27, 36 Rechtswissenschaft 108 f., 252 f., 261 — als Handlungswissenschaft 152 Referenz 75, 242, 245 f. s.a. Sprache; Normbereich Referenzanweisung 76 Referenzfixierung 143, 241, 244 ff. Regel 77 ff., 94, 103 f., 132-143, 241-248, 274, 276, 278, 280 f. — Begriff der 103, 134, 142, 191 ff., 198, 207, 276-279 — Determination durch 249 — dynamischer Aspekt der 138 ff., 143 — Erzeugung der 218 — Existenzweise der 277 — fluktuierende 246 — Orientierung an 157 — praktischer Aspekt der 135-138, 143 — Psychologisierung der 135 — semantische 77, 83, 100, 184 ff. s. a. Semantik — sozialer Aspekt der 120, 140 -143 — Veränderung der 157, 198, 281 — verborgene 277 — Verletzung der 249 — Wiederholung einer 249 Regelformulierung 135, 143, 274 f., 309 Regelplatonismus 67, 161, 186, 194 f., 214, 216, 218, 249, 276 f. Regelskeptizismus 214-218, 276-279 Regelungszwecke 55, 58 Reichsgericht 57 Reine Rechtslehre 252-255 Repräsentationsmodell 64, 69, 90 (Fn.), 98 ff., 121, 228 ff., 263 Rhetorik 202, 206 Richter 19 f., 153, 179-183, 211 f., 235,275, 295, 298 f., 306 f. — als Gesetzgeber zweiter Stufe 153, 251 — als Nebengesetzgeber 252 — als Subsumtionsautomat 71 — Bindung des 155, 292 — Dienstpflicht des 251 — Sprechen des 25, 125, 229, 278 s. a. Handeln, richterliches Richterpositivismus 165 f. Richterrecht 155, 161, 164, 166, 182, 240, 250, 303, 310
349
Richterrechtsentscheidungen 305 Richtigkeitsanspruch 190, 196 f., 199 Richtigkeitsvorstellungen, letzte 167, 180 Rollenverteilung, funktionale 226 Sachbereich 157, 304 Sache Recht 149-152, 158, 167, 169 Sachverhalt 157, 304 Sachverhaltserzählung 279 Satzverknüpfung 250 Schachspiel 103 Schallplatten-Urteil 47 Schrift 230 Sein und Sollen 241 Semantik74-77,109, l l l f . , 117,122f., 156, 179, 189, 191, 204 f., 230 f., 274 - der Gerechtigkeitsdiskussion 174 - des Gesetzes 188 - deskriptive 175, 177, 310 - différentielle Kraft 174 - juristische Rezeption der 113 - kompetitiven Handelns 94,239,263,283 - lexikalische 79 - logische 76, 125, 309 - praktische 112,123 (Fn.), 127,161,238, 270, 272, 277 - realistische 123 (Fn.), 203 - Theorie der 312 - vertikale 210 s.a. Regel; Praxis, semantische Semantisierungsvorgang 154 f., 157, 174, 180, 199 f., 285, 301 Sender 238, 240 sensus litteralis 156 sensus spiritualis 156 f. Signifikant 121 Signifikat 121 - zentrales 119, 167, 174, 249 Sinn 194, 228 f. - objektiver 167 Sinn des Gesetzes 149 Sinnganzes 37, 42 Sinngebungsmonopol 237 f. Sinntotalität 167 Situationsbezug 203 f. Skepsis 217 Soraya-Entscheidung 182 Sozialwissenschaften 302 Soziologie 119 f. Spracharbeit 207 Sprachdaten 301, 305
350
averzeichnis
Sprache 14ff., 29,41,67,98,103 -108,115 f., 127, 155, 163, 216, 228 - 233, 246f., 273, 278, 283, 287 — Alltagsannahmen über 16 — als gesellschaftliche Tätigkeit 135 — als Gesetz 132 — als Legitimationsinstanz 125 — als Phänomen der dritten Art 124, 126, 273 — als quasi-natürliche Ordnung 124 ff. — als sprecherbezogenes Artefakt 124,126 — Begriff der 277, 279 — dynamischer Charakter 137 — homogene 85 f. — Ordnung der 121-127, 157, 176, 190, 229-232, 286, 309 — subversive Kraft der 139 — System der 140 s. a. Sprachsystem — Unabgeschlossenheit der 81 — und Recht 114 — und Sache 246 — und Sprecher 124 ff., 269-273 — und Welt 150, 240 f. — unendlicher Sinnzusammenhang der 82, 104, 130 — Zweidimensionalität der 155 f. Sprachgebrauch 16, 62, 64, 67, 78, 86, 113, 122 (Fn.), 176, 272, 278 — abweichender 17 — empirische Feststellung des 83 — Pluralität des 14 — Veränderungen des 279 Sprachgesetzbuch 77 Sprachgrenze 39 f., 284 f., 308 Sprachhandeln 117, 215 f., 237, 246, 250 Sprachkampf 180, 250, 256, 282, 300 — öffentlicher 278 s. a Kampf, semantischer Sprachkompetenz 78 f., 81, 180, 184 — selbstreflexive 14 Sprachkonvention 108, 276 Sprachkritik 17, 203 ff., 210, 218 — postmodern radikalisierte 214 Sprachnormen 86, 176, 218 — Begriff 275 (Fn.) Sprachnormierung 124,157,185,218 f., 249, 275, 278 — Normierungskonflikt 86 — Normierungskritik 129, 176 Sprachphilosophie 109,112,125 f., 142,173, 310
— analytische 77, 110 f. Sprachphilosophische Wende 122,125,138, 173, 208 Sprachreflexion 219, 232, 286 Sprachregel s. Regel Sprachspiel 86,103,117,122 (Fn.), 125,135, 139, 150, 156, 216 f., 260, 283, 311 — Begriff des 218 — immanenter Rationalitätsmaßstab 218 f., 311 — juristisches 93,112,127,157,197,207 f., 250, 260 f., 272, 282 — Ordnung des 125, 138-143 — Pluralität des 212 — Vielfalt des 213 Sprachstruktur 105, 115, 131 f. Sprachsystem 80, 99, 104, 108, 137 f., 161, 273, 276, 309 — Einheit 141 — geschlossenes 81 Sprachtheorie 76,112 f., 155 f., 172 f., 178 f., 230-233, 272-277, 310,312 — apriorische 127 — der Hermeneutik 141, 143 — des Positivismus 272 — der Rhetorik 207 — empirische 175 — instrumentalistische 204, 273 — juristische 126, 206, 273 — ontologische 241 — pragmatische 204 Sprachwächter 123, 231 Sprachwidrigkeit 40, 86 Sprachwissenschaft 14 -17,84,108,115,123 — Aufgabe der 176 — Empirie der 83 f., 309 — Instrumentalisierung der 113 f. s. a. Linguistik Sprechakt 136, 161, 190, 193, 198 f. — mißglückter 193, 197 Sprechakttheorie 122, 193 f. Sprecher 143, 276, 309 — Intention des 276 s. a. Intention — und Sprache 124 ff., 269-273 s.a. Sprache Staat 294 Stü 132 Strategie, diskursive 207, 245 Streitentscheidung als Sprachnormierung 157 Strukturalismus 30, 82, 117, 176, 178, 192
averzeichnis — Sprachbegriff des 117 — Sprachtheorie des 115 ff., 122, 161 — taxonomischer 125 — Textlinguistik des 115, 122 Strukturierende Rechtslehre 60,218 ff, 232, 234-237, 241 f., 246 f., 249-252, 254 f., 265 ff, 269, 273 f., 301-305, 312 Subjekt 130, 246, 301 — des Konkretisierungsvorgangs 236, 239 — des Zeichengebrauchs 242 — Rolle des interpretierenden 142 — sinnstiftende Rolle des 131, 136 — verdrängtes 105 Substantialisierung 55 Substanz, normative 23, 26, 28, 42 Subsumtion 115, 163 Subsumtionsideal 76 Subsumtionslogik 30 Subsumtionsmodell 20, 75, 149, 151, 153 Supplement 230 Synchronie 116 Syntax 205 System 172 — äußeres 168 f. — inneres 168, 172 Systematik 265 f., 299 — Substantialisierung 44 Systematische Auslegung 27 f., 37 ff, 42,44, 60 f., 81 f., 113, 296, 299, 308 Systemlinguistik 117 Tätigkeit, praktisch-semantische 117, 250 s. a. Praxis, semantische Taufakt 242 Teleologische Auslegung 49, 56 — subjektive 96 ff. telos einvernehmlicher Verständigung 194 Text 31, 64, 102, 131, 247, 267 — als Tatsache 131 — als Zeichenfolge 255 s. a. Textformular — anordnender 247, 267 — Begriff des 118, 131,230 — ohne Sinnzentrum 180 — rechtfertigender 247, 267 — sinnstiftender 100 — sprechender 187 — und Autor 96 s. a. Autor — und Bedeutung 96 s.a. Bedeutung; Textbedeutung
351
— Wahrheit des 171 Textarbeit, juristische 26 f., 112,126 f., 152, 157, 204, 230, 232, 274 — als semantische Praxis 233 Textbedeutung 129, 231, 233, 274f. — individuelle 135 s. a. Text; Bedeutung — Profilierung 41 Textformular 101, 269, 271 f., 274,282, 301 — und Textbedeutung 87,89,270,275,306 Textklarheit 261 Textlinguistik 116 — strukturalistische 115, 122 Textmodell, sakrales 249 Textproduzent 118 Textsorte 131 Textstruktur 237, 247, 249, 251, 267, 273 f , 312 Tiefenstruktur 114 Topik 202-205,311 Totalität 104, 170, 172 f., 310 Transformationsgrammatik 80 — generative 114 type/token-Unterscheidung 195 Typuslehre 72 ff. s. a. Begriff Überlieferungsgeschehen 145 Übersetzung 207 Umgangssprache 66 — als Therapeutikum 67 — Verdinglichungen 40 Universalpragmatik 191, 194 Unparteilichkeit 188 Ursprung 231 Urteilsformel 20, 237, 296 Urteilstenor 199 f. Utilitarismus 175 Vagheit 156 — potentielle 81 s. a. Begriff Valenz, pragmatische 216 f. Validierung 216 (Fn.) Varietäten 176 Verfahrensrationalität 188 Verfassung 18f., 21, 217, 219f., 224, 259, 297, 305 Verfassungsgewohnheitsrecht 292 Verfassungsrecht 41, 125, 147, 183, 186 f., 218-223, 225f., 251, 259, 287f., 311 Verfassungstheorie 223 -227, 311
352
averzeichnis
Verfassungstyp 226 Verfassungstypologie 226 Verkettung 217 Verkettungsregeln 216, 267 Verknappung, diskursive 90, 101 s. a. Autorschaft, Prinzip der; Kommentierung, Prinzip der Verknüpfung 264, 272, 300, 312 — Streit um die 279 Vernunft, praktische 186 Verschiebung 138, 142, 249 s. a. Bedeutung; Regel Verständigung 191 Verstehen 119 f., 142, 144 f., 152, 194 — Ermöglichungsbedingungen 144 — sachbezogenes 149 Verstehenstheorie 172 — romantische 91 Verwendungsgeschichte 142 Verwendungsweise, mitgebrachte 282 f., 312 Volksrecht 240 Vorentwurf 145 Vorgriff 167, 170 Vorhersehbarkeit 295 Vorrang des Gesetzes 226 — bzw. der Verfassung 226 Vorrangregeln 260, 264, 303, 305 s. a. Konkretisierung Vorurteil 144 Vorverständnis 304 Waffengleichheit 282 Wahrheit 187 -190, 200 f., 208, 214, 216 — Begriff der 200 — Selbstaffektion der 171 — Theorie der 184 Wahrheitsfahigkeit von Interpretationsbehauptungen 187 Werte 210 Wertungsjurisprudenz 146-149, 153 f. Widerspruch, performativer 197-200 Widerstreit 216 (Fn.) Wiederholung 85 f., 101, 102 (Fn.), 113, 193 f., 198, 279, 281 — einer Regel 249 — Struktur 142 Wille — einheitlicher 54 — objektivierter 25, 47, 265 Wille des Gesetzes 24, 47, 49, 89
Wille des Gesetzgebers 47,50,52 - 57,88 bis 91,98-101,106,118-121, 239, 263, 309 — einheitlicher 91, 260 — substantieller 56 f., 60, 64 s. a. Gesetzgeber Wille des Verfassungsgebers 184 Willenstheorie 64 Willkür 19, 31, 39, 153, 159, 180, 231, 259 Wirklichkeit 245 Wirklichkeitsverständnis 117 Wissenschaftsgeschichte 224 Wissenschaftslehre 72 Wissenschaftstheorie 83 f., 223 f., 259, 267, 311 — analytische 66, 91 Wörterbuch 77 ff., 86, 184, 309 Wörtlichkeit 79 Wort 105 Wort-Sache-Zusammenhang 150 Wortlaut 24, 28, 30, 38 f., 41, 43, 184, 221, 263, 265, 288 — fehlende Bestimmungswirkung 287 f. — Grenzwirkung 221,287 f. — Indizwirkung 42, 287 — Substantialisierung des 28 — und Systematik 43 — und Wortsinn 28, 30 s. a. Normtext Wortlautgrenze 39, 43, 68, 70, 73, 76f., 79, 82 - 85, 269, 283 - 288, 305, 308, 313 — als methodologische Größe 285 f. — als normative Größe 286-290 — als sprachliche Größe 283 ff. — empirische Einlösung der 77 — rechtsstaatliche 303 s. a Normtext Wortsemantik 76, 78 Wortsinn, möglicher 156 Wortsinngrenze 68 Zeichen 28, 30, 87, 228, 230, 245 — für etwas 69 — und Bedeutung 28, 30, 87, 89, 208, 228 s. a. Bedeutung — und Sache 242 s. a Referenz Zeichenkette — als Spitze eines Eisberges 302 Zeigehandlungsschema 242, 245 Zentrum einer Struktur 172 Ziel der Auslegung 260 Zirkel 145, 221, 225
averzeichnis - logischer 219, 222, 227 Zurechnung 305
Zusatzantrag 62 Zweiweltenlehre 251, 255