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German Pages 306 Year 2019
Katrin Menke »Wahlfreiheit« erwerbstätiger Mütter und Väter?
Gesellschaft der Unterschiede | Band 53
»Wir feministisch geprägte Frauen haben Leistungsdruck mit Freiheit verwechselt.« Laurie Penny in der taz-Sonderausgabe zum Weltfrauentag 2016
Katrin Menke, geb. 1983, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen und Mitglied der Forschungsgruppe »Migration und Sozialpolitik«. Die Sozialwissenschaftlerin studierte in Düsseldorf und Berlin und promovierte im Kolleg »TransSoz: Leben im transformierten Sozialstaat« der Universität Duisburg-Essen, der Technischen Hochschule Köln und der Hochschule Düsseldorf. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind soziale Ungleichheiten aus intersektionaler Perspektive, Familien-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik im Wandel sowie (kritische) Migrationssoziologie und Asylpolitik.
Katrin Menke
»Wahlfreiheit« erwerbstätiger Mütter und Väter? Zur Erwerbs- und Sorgearbeit aus intersektionaler Perspektive
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4709-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4709-3 https://doi.org/10.14361/9783839447093 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Dank | 7 Einleitung | 9 1.1 Forschungskontext: Leben im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat | 11 1.2 Fragestellungen und Forschungsperspektiven | 13 1.3 Gliederung des Buches | 15 1
2
„Wahlfreiheit“ intersektional denken Theoretische Perspektiven und Begrifflichkeiten | 19
2.1 Soziale Ungleichheiten intersektional gefasst | 19 2.2 Wohlfahrtsstaatlichkeit aus intersektionaler Perspektive | 46 2.3 Familienpolitik als Politik der „Wahlfreiheit“ | 65 3
„Wahlfreiheit“ intersektional erforschen Zur methodologischen und methodischen Vorgehensweise | 85
3.1 „Wahlfreiheit“ als Handlungsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen | 86 3.2 Die Rekonstruktion von „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen aus intersektionaler Perspektive | 88 3.3 Die Erhebung von Wahlmöglichkeiten durch episodische Interviews | 100 3.4 Feldzugang und Auswahl der Interviewpersonen | 103 3.5 Der deutsche Krankenhaussektor als Forschungsfeld | 107 4
Manifestationen von „Wahlfreiheit“ in der Empirie Zur Bedeutung von (Quasi-)Solidargemeinschaften, betrieblichen Tauschverhältnissen und Mehrfacherwerbstätigkeit | 125
4.1 (Quasi-)Solidargemeinschaften im Kontext von Paarbeziehung, Familien, sozialen Netzwerken und bezahlten Dienstleistungen im Privathaushalt | 125 4.2 Individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ | 173 4.3 Mehrfachbeschäftigung zwischen Alternativlosigkeit und Normalisierung | 214
5
„Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat aus intersektionaler Perspektive | 245
5.1 Klasse in ihren Verschränkungen | 246 5.2 Geschlecht in seinen Verschränkungen | 254 5.3 Ethnizität in ihren Verschränkungen | 261 6
Fazit | 267
Literaturverzeichnis | 279 Anhang | 301
Dank
Mein erster Dank gebührt denjenigen Müttern und Vätern, die mir aus ihrem Leben berichtet haben. Ohne deren Erzählungen und offenen Worte hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Ich verbinde damit den Auftrag, ihre Perspektive auf „Wahlfreiheit“ angemessen und sensibel gegenüber ihren individuellen Lebensgeschichten in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Diese Arbeit ist nicht im stillen Kämmerlein entstanden. Ich bin froh und dankbar, Mitglied des Promotionskolleg „TransSoz: Leben im transformierten Sozialstaat“ der Hochschule Düsseldorf, der Universität Duisburg-Essen und der Technischen Hochschule Köln gewesen zu sein, wo sich außergewöhnlich gute Arbeitsbedingungen mit einer guten atmosphärischen Zusammenarbeit gepaart haben. Die Vielfalt der dort beteiligten Personen sowie verhandelten Themen waren mir eine Bereicherung. Ein besonderer Dank gilt Christoph Gille und Christian Gräfe. Beide haben einen Anteil an dieser Dissertation. Prof. Dr. Monika Götsch danke ich in vielfacher Hinsicht. Die intersektionale Ausrichtung meiner Arbeit ist im Wesentlichen motiviert, begleitet und beeinflusst von unseren gemeinsamen Diskussionen, Textlektüren und Vorträgen. Ein großer Dank gilt meinen zwei Gutachter*innen Prof. Dr. Ute Klammer und Prof. Dr. Simone Leiber, sowie darüber hinaus Prof. Dr. Sigrid Leitner, die sich zeitintensiv und engagiert mit meinem Forschungsprojekt auseinandergesetzt haben. Die Rückfragen und manchmal auch geäußerte Skepsis gegenüber meiner intersektionalen Perspektive haben dazu geführt, diese noch intensiver darzulegen und zu begründen. Prof. Dr. Brigitte Aulenbacher hat mich als Gast im Promotionskolleg mit ihren wertschätzenden und zugleich kritischen Rückmeldungen vor neue (inzwischen hoffentlich gelöste) Denkaufgaben gestellt, mich jedoch zugleich in meiner intersektionalen Perspektive explizit bestärkt. Dafür danke ich.
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Der Zufall wollte es so, dass ich auf meinem beruflichen Weg in und außerhalb der Wissenschaft bisher vor allem Frauen als Vorgesetzte erleben durfte: Svenja Pfahl, Anja Weusthoff, Dr. Christina Klenner und Prof. Dr. Ute Klammer. Diese Frauen haben mich auf unterschiedliche Weise gefördert und gefordert. Sie waren mir stets Ansprechpartner*innen und Vorbild, auch in persönlichen Belangen. Den Grundstein für mein soziologisches Handwerk und feministisches Interesse haben Prof. Dr. Hildegard Maria Nickel und Dr. Christina Klenner gelegt. Ich danke für ihr jeweiliges Zutrauen in meine Fähigkeiten, ohne das ich sicherlich keine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hätte. Meinen Eltern verdanke ich, dass sie mir im Rahmen ihrer Möglichkeiten alle Türen geöffnet haben und mir stets Mut zugesprochen haben, ich könnte alles erreichen, was ich mir vornehme. Mein Erfolg ist auch ihrer. Ich danke Sebastian für seine Aufgeschlossenheit gegenüber meinem feministischen Denken und Arbeiten. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, die Motivation hochzuhalten und Zeit zu erübrigen, die Dissertation weiter zu denken und zu schreiben. Ich danke Matilda für die Momente der Ablenkung und des Zerstreuens. Ich danke darüber hinaus Marlies und Gerd für die tatkräftige Unterstützung im Alltag mit Kind und Beruf durch unermüdliche Einsätze, die es mir erlaubt haben, so manche Dienstreise, Interview- und Schreibphase zu meistern. Das Schreiben einer Dissertation ist nicht nur Arbeit, sondern auch eine besondere Lebensphase. Viele haben diese mitgestaltet, ohne dass sie genau verstanden haben, was ich tagtäglich tue: Judith, Claudia, Nina, Timo und Nina danke ich für die Zeiten, in denen wir nicht über die Forschungsarbeit gesprochen haben. Sie waren genauso wichtig wie die Gespräche, in der sie Thema war. In der Endphase dieser Arbeit habe ich weiteren Personen zu danken: Dr. Anouschka Strang für das Endlektorat und die gute Begleitung in der Abgabephase, Marlies und meiner Mutter für kurzfristige Großeltern-Einsätze und motivierende Worte auf den letzten Metern. Dem Transcript-Verlag danke ich für die Möglichkeit zur Buchpublikation und Anne Sauerland für die professionelle Begleitung während der Manuskripterstellung. Dieses Buch ist den Frauen meiner Familie und ihren unterschiedlichen Lebenswegen gewidmet: Else Vogt, Renate und Judith Menke.
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Einleitung
Soziale Ungleichheiten müssen sowohl mehrdimensional als auch relational betrachtet werden. Diese Erkenntnis scheint auch den soziologischen Mainstream erreicht zu haben. In jüngeren, viel beachteten Publikationen werden soziale Ungleichheiten wieder stärker in den Kontext kapitalistischen Wirtschaftens und damit politischer Ökonomie gestellt und auf die Verwobenheit von Klassengesellschaften mit geschlechts- und ethnienspezifischen Exklusionen sowie die damit einhergehenden wechselseitigen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse hingewiesen – ob es sich dabei um die Analyse der Abstiegsgesellschaft im Postwachstumskapitalismus (Nachtwey 2016) oder der Externalisierungsgesellschaft westlich-kapitalistischer Konsumgesellschaften (Lessenich 2016) handelt. Dabei knüpfen diese Analysen wenn überhaupt implizit als explizit an die feministische Gesellschaftskritik bzw. deren intersektionalen Weiterführungen an. Explizit intersektionale Perspektiven auf soziale Ungleichheiten insgesamt bzw. ihre einzelnen Aspekte stehen weniger im wissenschaftlichen Rampenlicht. Dies ist verwunderlich, bieten sie doch neue Zugänge und tiefgründiges Analysepotenzial für die gegenwärtigen komplexen und ambivalenten gesellschaftlichen Entwicklungen im Hinblick auf soziale Ungleichheiten. So verlaufen soziale Ungleichheiten in Deutschland nicht (mehr) entlang eines gedachten Oben und Unten einer Klassengesellschaft, sondern kreuz und quer durch die Gesellschaft. Passé scheint die vordergründige Spaltung der Arbeitsgesellschaft in die zahlreichen (männlichen, autochthon-deutschen) Beschäftigten mit unterschiedlichem beruflichen Status und Einkommen und Arbeitslose. Relevanter für soziale Ungleichheiten erscheinen die Unterschiede zwischen atypischen Beschäftigten und Personen in so genannten Normalarbeitsverhältnissen – dies jedoch zunehmend losgelöst von beruflicher Qualifikation, Berufserfahrung oder dem bis dato bekannten Leistungsprinzips. Zeitgleich bahnen sich neue Formen eines arbeitsgesellschaftlichen Leistungsprinzips ihren Weg innerhalb der Erwerbsarbeit (vgl. Aulenbacher et al. 2017: 21). Soziale Ungleichheiten verlaufen auch nicht
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(mehr nur) stur entlang von Geschlechtergrenzen, also zwischen heterosexuellen Männern und Frauen. Die erkämpften Emanzipations- und Gleichstellungsgewinne gebildeter, weißer Frauen der gehobenen Mittelschicht der letzten zwei Jahrzehnte scheinen sich – dies zeigt bereits das Zitat von Laurie Penny im Einband – vor allem auf die Partizipation von Frauen und Müttern an der bezahlten Erwerbsarbeit zu beschränken. Die Bedeutung von Geschlecht wird dabei neuerdings auch durch Sozial- und Familienpolitik auf widersprüchliche Art und Weise zugleich de- und reaktiviert (vgl. Pühl 2004), auch im Hinblick auf die darin eingelassenen Heteronormativismen (vgl. Woltersdorff 2008). Feministisch inspirierte Autor*innen sprechen wahlweise von einer selektiven oder exklusiven Emanzipation (vgl. Auth et al. 2010, Faharat et al. 2006). Die negativen Folgen dieser einseitigen Emanzipationsperspektiven werden jedenfalls von den Anderen – das sind u.a. nicht-weiße, nicht-deutsche, nicht-gebildete Frauen – getragen. Schließlich bleibt auch die Betrachtung sozialer Ungleichheiten allein im Hinblick auf nationalstaatliche Grenzen und rassistische Grenzziehungsprozesse unvollständig, wenn Personen ausschließlich entlang eines (zugeschriebenen) Migrationsstatus betrachtet, Ausländer*innen und Inländer*innen, Geflüchtete und Einheimische berücksichtigt bzw. unterschieden werden. Nationale Grenzen, allen voran jene innerhalb der Europäischen Union (EU), haben einerseits scheinbar ihre Bedeutung verloren und ungekannte Mobilitätsmöglichkeiten auf einem politisch konstruierten, kapitalistischen Binnenmarkt eröffnet. Andererseits hat das Europäische Grenzregime zeitgleich eine höchst selektive, mehrstufige und allen voran rassistische, sexistische sowie klassistische europäische Mobilitätsordnung nach Außen etabliert, deren Wirkung weit über die Grenzen der EU hinausreichen (Hess et al. 2017: 6). Personen verfügen über höchst selektive Möglichkeiten, mobil zu sein und sie überschreiten Grenzen bereits mit einer spezifischen sozialen Positionierung, als homosexuelle Frau oder heterosexueller Mann, mit viel oder wenig kulturellem, sozialen und/oder ökonomischen Kapital. Selbst die prinzipiell universal geltenden „Menschenrechte haben eine Nationalität, einen sozialen Status und nicht zuletzt ein Geschlecht“, befindet Scherschel (2015: 95). Was deutlich geworden sein sollte: Nicht erst seit den jüngeren politischen Transformationen und gesellschaftlichen Umbrüchen muss jede Analyse sozialer Ungleichheiten zu kurz greifen, die Personen ausschließlich entlang einer Facette ihrer sozialen Positionierung innerhalb der Gesellschaft betrachtet, als Frau, als asylantragstellende Person, als gesuchte Fachkraft. Eine Person ist stets alles zugleich – und noch viel mehr. Diese wechselseitigen Verwobenheiten verschiedener Facetten ein und derselben Person stehen in Relation zu den Anderen, werden im Kontext einer spezifischen politischen Ökonomie, kurzum einer kapi-
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talistisch-wohlfahrtsstaatlich verfassten Gegenwartsgesellschaft wie der unsrigen mal relevant gesetzt und mal nicht. Erst die intersektionale Betrachtung einer so gefassten sozialen Positionierung lässt, dies ist die hier vertretene Auffassung, ein ganzheitliches Bild im Hinblick auf soziale Ungleichheiten im deutschen Wohlfahrtsstaat zu. Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, soziale Ungleichheiten im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat konsequent intersektional zu erfassen und zu erforschen. Im Fokus der exemplarischen Analyse stehen abhängig beschäftigte Mütter und Väter im deutschen Krankenhaussektor sowie deren „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit. Inwiefern ermöglicht oder verunmöglicht die soziale Positionierung von Müttern bzw. Vätern entlang der Kategorien-Trias Geschlecht, Ethnizität und Klasse Wahlmöglichkeiten in einzelnen beruflichen und privaten Entscheidungssituationen? Und in welchem Zusammenhang stehen die unterschiedlichen Optionen der Lebensführung von Eltern mit dem gewandelten Wohlfahrtsstaat in Deutschland, der weiterhin nationalstaatlich verfasst, kapitalistisch organisiert und auf der Gegenüberstellung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Sorgearbeit beruht, sich gleichwohl neuen Paradigmen verschrieben hat?
1.1 FORSCHUNGSKONTEXT: LEBEN IM TRANSFORMIERTEN DEUTSCHEN WOHLFAHRTSSTAAT Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist eine spezifische Lesart des gegenwärtigen Wohlfahrtsstaates in Deutschland. Sozialpolitik in Deutschland hat sich transformiert1 und neuen Paradigmen verschrieben, die sich gegenseitig bedingen. Zu den neuen wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien zählen Aktivierung, Eigenverantwortung sowie Autonomie- bzw. Selbstbestimmung (vgl. Klammer et al. 2017, Götsch/Kessl 2017, auch Lessenich 2008). Im Paradigma der Aktivierung wird deutlich: „Ziel politischer Steuerung ist die pro-aktive Lebensführung jede_r Einzelnen“, schreiben Götsch/Kessl (2017: 182). Dabei kommt es zu einer unauflösbaren Verknüpfung von Eigeninteresse und Gemeinwohl nach dem Motto, gut für das Individuum ist, was im Interesse der gesellschaftlichen Gemeinschaft ist. Stephan Lessenich (2008) hat das die Neuerfindung des Sozialen genannt. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung von Erwerbsarbeit für
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Zum Begriff und Konzept der Transformation siehe Götsch/Kessl (2017): 187.
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den*die Einzelne*n gestiegen. Sie ist Voraussetzung der individuellen Existenzsicherung geworden. Sozialstaatliche Aktivierung bedeute folglich die (Re-) Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt (Götsch/Kessl 2017: 182). Im Rahmen der Hartz IV-Gesetzgebung werden neben Arbeitslosen und Jugendlichen inzwischen auch Eltern, allen voran autochthon deutsche Frauen und Mütter von Kindern ab dem Alter von drei Jahren aktiviert. Das Paradigma der Eigenverantwortung überträgt die Verantwortung u.a. im Hinblick auf Vorsorge (Alter, Gesundheit), Fürsorgeverantwortung und Integration in den Arbeitsmarkt zunehmend auf das einzelne Individuum. Zeitgleich folgen diese Bereiche immer mehr einer ökonomischen Logik. Ökonomisches Denken und Handeln von Subjekten wird zur Voraussetzung für das eigene Leben (vgl. Götsch/Kessl 2017: 183). Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einem Rückzug des Staates. Vielmehr werde der Markt als Orientierungsfolie für die Organisation von Gesellschaft und (Sozial-)Politik re-produziert (Götsch/ Kessl 2017: 184). Dies zeigt sich beispielhaft auch in der gegenwärtigen Familienpolitik, die sich zwar aktiv für eine familienfreundliche Arbeitswelt einsetzt, jedoch stets mit ökonomisierten Argumenten gegenüber der Wirtschaft auftritt und die Notwendigkeit für sorgegerechte Erwerbsarbeitsbedingungen u.a. mit dem Mangel an (weiblichen) Fachkräften begründet (vgl. Leitner 2008). Familienpolitik betrachtet Eltern als Wirtschaftssubjekte, weniger als Sorgetragende (vgl. Menke 2016). Das Autonomie- bzw. Selbstbestimmungsparadigma räumt den Adressat*innen von Sozialpolitik Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten ein, etwa durch die Ermöglichung von „Wahlfreiheit“ zwischen häuslicher und öffentlicher Kinderbetreuung (vgl. Klammer et al. 2017: 10). So fand diese gesellschaftliche Debatte zuletzt etwa rund um die Einführung des Betreuungsgeldes im Jahr 2013 statt. Zwar ist das Betreuungsgeld 2015 abgeschafft worden, der familienpolitische Begriff der „Wahlfreiheit“ – international unter dem Schlagwort „choice“ diskutiert – lässt sich jedoch auch in größere wohlfahrtsstaatliche Kontexte einordnen. Denn die Frage nach „Wahlfreiheit“ von Eltern berührt letztlich die grundlegende Frage der Organisation und Gestaltbarkeit paralleler Erwerbsund Sorgearbeit. Diskussionen seitens der Politik um Vereinbarkeitsarrangements von Familie und Beruf machen diese nicht nur möglich, sondern auch erwartbar – gerade im Kontext des vorher Beschriebenen. Entscheidungen von Müttern und Vätern wirken dann „wie das Ergebnis eines autonomen Entscheidungsprozesses und nicht mehr als Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen an Frauen und Männer, wie dies noch für die geschlechterspezifischen Positionszuweisungen im Sozialstaat der 1950er und 60er Jahre der Fall war“ (Götsch/ Kessl 2017: 185). Wohlfahrtsstaatliche Strukturen und die Frage, wem sie was
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ermöglichen und wem nicht, geraten durch das Autonomie- und Selbstbestimmungsparadigma und dem Schlagwort „Wahlfreiheit“ jedoch aus dem Blick. In der Zusammenschau der gewandelten wohlfahrtsstaatlichen Paradigmen ergibt sich ein höchst anspruchsvolles und zugleich widersprüchliches Bild für ein Leben im transformierten Wohlfahrtsstaat Deutschland. Subjektive soziale Praktiken sind mit sozialpolitischen Inkonsistenzen und Inkohärenzen konfrontiert (vgl. Klammer et al. 2017: 11) und werden durch sie gleichsam hervorgebracht. Offen bleibt die Frage, wie sich die Alltagspraktiken von Subjekten, auch im Lebensverlauf, unter diesen Umständen realisieren und mit welchen Nebeneffekten und Ambivalenzen sie einhergehen (Götsch/Kessl 2017: 185, Klammer et al. 2017: 11). Die Erforschung der Alltagspraxen und Bewältigungsweisen von Müttern und Vätern im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat als Adressat*innen von Sozialpolitik steht insofern im Zentrum dieser Forschungsarbeit.
1.2 FRAGESTELLUNGEN UND FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Das vorliegende Dissertationsprojekt fokussiert auf „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter mit schulpflichtigen Kindern, die Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachkommen. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die „Wahlfreiheit“ für Mütter und Väter im Hinblick auf parallele Erwerbs- und Sorgearbeit im gewandelten Wohlfahrtsstaat darstellt und inwiefern „Wahlfreiheit“ durch die intersektionalen Kategorien Geschlecht, Klasse und Ethnizität beeinflusst ist. Es wird davon ausgegangen, dass bestehende intersektionale Ungleichheiten im gegenwärtigen Wohlfahrtsstaat auf unterschiedliche und neuartige Art und Weise (re-)produziert werden. Daraus resultieren, so die Annahme, unterschiedliche Optionen der Lebensführung im Hinblick auf die Realisierung paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit sowie selektive Handlungsmöglichkeiten von Müttern und Vätern in konkreten Entscheidungssituationen. Elterliche „Wahlfreiheit“ wird insofern gleichzeitig ermöglicht und verunmöglicht und dies höchst selektiv. Das Begriffsverständnis von „Wahlfreiheit“ folgt in dieser Arbeit dabei einer eigenen Definition. Nach dem hier vorgelegten Verständnis bedeutet „Wahlfreiheit“ subjektiv wahrgenommene, individuelle Wahlmöglichkeiten von Müttern bzw. Vätern im Hinblick auf die Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit. Die Realisierung von elterlicher „Wahlfreiheit“ bewegt sich dabei grundsätzlich im wohlfahrtsstaatlichen Spannungsfeld von Staat, Markt und Familie (vgl. Esping-Andersen 1990, Orloff 1993), welches von spezifischen und zugleich gewandelten Geschlechter-, Erwerbsarbeits- und Migrati-
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onsregimen geprägt ist. Die gegenwärtige deutsche Familien- und Arbeitsmarktpolitik nimmt für die vorliegende Analyse insofern einen hervorgehobenen Stellenwert ein. Zentrale Forschungsperspektive zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellungen ist eine soziologisch-intersektionale Analyse. Wie bereits zu Beginn angedeutet, geht mit einer intersektionalen Analyse die Berücksichtigung sich wechselseitig bedingender sozialer Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität und Klasse einher, die gleichsam als historisch gewachsen und gesellschaftlich konstruiert gefasst werden. Verwoben sind diese Kategorien jedoch nicht nur untereinander, sondern auch mit bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen im Kontext kapitalistisch organisierter Gesellschaften. Soziale Ungleichheiten werden nicht als zufälliges Nebenprodukt verstanden, sondern als inhärenter Bestandteil und notwendige Voraussetzung für kapitalistisches Wirtschaften (vgl. Aulenbacher et al. 2012, Winker/Degele 2009). Als Forschungsperspektive kann darüber hinaus gelten, was zuvor als Adressat*innen-Perspektive angedeutet wurde. Gemeint ist, dass Subjekte zum konsequenten Ausgangspunkt der hier vorgelegten Forschung gemacht wurden. Dies ist angesichts des Forschungsgegenstandes, dem transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat, seiner Familien- und Arbeitsmarktpolitik, keine Selbstverständlichkeit, berücksichtigen sozialpolitische Analysen in der Regel die Wirkungsweisen sozialpolitischer Strukturen und Leistungen auf institutioneller Ebene (vgl. Klammer et al. 2017: 15, Götsch/Kessl 2017: 189). Damit werden die subjektive Sichtweise und deren häufig ambivalente, widersprüchliche oder auch widersinnige Praxen ausgeblendet. Demgegenüber verortet sich dieses Dissertationsprojekt im Umfeld der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit sowie der Arbeits- und Geschlechtersoziologie, die eine stärker akteur*innen- bzw. subjektbezogene Perspektive voranstellt. In der Perspektive der sozialpädagogischen Adressat*innenforschung wiederum stehen die Herausforderungen konkreter Adressat*innen(-gruppen) und Nutzer*innen(-gruppen) und damit deren Alltagsbewältigung im Fokus des Forschungsinteresses (vgl. ebd.), allerdings häufig ohne (ausreichende) Berücksichtigung eines sozialpolitischen bzw. wohlfahrtsstaatlichen Kontextes. Dieser ist jedoch nicht neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen, sondern setze durch die Ausgestaltung von Leistungen Anreize bzw. belohne oder bestrafe bestimmte Lebensformen und Lebensweisen (Klammer et al. 2017: 17). Auch die Arbeits- und Geschlechtersoziologie erforscht, ausgehend vom einzelnen Subjekt, die Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Widersinnigkeit von Alltagspraxen, allerdings häufig in größeren, gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, und selten mit Fokus auf (gewandelte) Wohlfahrtsstaatlichkeit. Das hiesige Forschungsinteresse gilt insofern der Rekonstruk-
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tion der Alltagspraxen und handlungsleitenden Deutungsmustern von erwerbstätigen Müttern und Vätern, die durch sozialstaatliche Leistungen und Programme neuerdings auf spezifische Art und Weise adressiert werden. Diese Rekonstruktion von Praxis mit Fokus auf Wahlmöglichkeiten in konkreten beruflichen und privaten Entscheidungssituationen wurde aus einem intersektionalen Blickwinkel realisiert. Empirische Grundlage der vorliegenden qualitativ-rekonstruktiven Forschungsarbeit sind 19 narrative Interviews mit heterosexuellen Müttern und Vätern mit und ohne Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Beschäftigtengruppen und mit unterschiedlichen beruflichen Qualifikationen im deutschen Krankenhaussektor, die methodologisch und methodisch mit der Grounded Theory, der intersektionale Mehrebenenanalyse nach Winker/Degele (2009) sowie dem intersektionalen Analyserahmen nach Riegel (2010) ausgewertet wurden.
1.3 GLIEDERUNG DES BUCHES Die Arbeit gliedert sich in vier Blöcke. Im Anschluss an die Einführung werden zunächst die theoretischen Perspektiven und Begrifflichkeiten dieser Forschungsarbeit dargestellt und erläutert. Wie lässt sich „Wahlfreiheit“ intersektional denken bzw. konzeptualisieren? In Kapitel 2 werden dafür das hier vertretene intersektionale Verständnis sozialer Ungleichheiten inklusive theoretische Erläuterungen zu den Ebenen und Kategorien dargestellt, die vor dem Hintergrund der intersektionalen Folie in dieser Studie relevant sind. Im Anschluss daran finden sich theoretische Perspektiven auf den hier verwandten Begriff von Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie Erörterungen zur gegenwärtigen Familienpolitik, die als Politik der „Wahlfreiheit“ gefasst wird. Neben einer Beschreibung der historischen Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Familienpolitik finden sich hier auch Verweise zu den Forschungssträngen im Hinblick auf betriebliche Familienpolitik sowie Debatten zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Bezug auf „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern. Abschließend findet eine Verortung des Konzeptes von „Wahlfreiheit“ im politisch-öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurs statt, auch unter Verweis auf internationale Debatten. Kapitel 3 wendet sich der empirischen Umsetzung der Forschungsfragen zu und etabliert eine eigene Begriffsbestimmung jenseits der aufgezeigten politischen Debatten. Wie lässt sich „Wahlfreiheit“ operationalisieren, um es erforschen? Zur methodologischen und methodischen Vorgehensweise zählt eine subjektbezogene Rekonstruktion von Wahlmöglichkeiten in Entscheidungssituatio-
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nen. Der intersektionale Analyseanspruch fand in dem intersektionalen Analyserahmen nach Riegel (2010) seine methodische Entsprechung. Schließlich wird erläutert, wie die Wahlmöglichkeiten von Müttern und Vätern erhoben und Interviewpersonen gesucht bzw. gefunden wurden. Kapitel 3.5 wendet sich im Anschluss daran dem deutschen Krankenhaussektor als spezifischem Forschungsfeld zu. In diesem Kontext wird unter anderem auch erläutert, warum es zu dieser Eingrenzung auf Beschäftigte des Krankenhaussektors in der Gesundheitsbranche kam. Die empirischen Ergebnisse als Manifestationen von mehr oder weniger „Wahlfreiheit“ werden in Kapitel 4 aufgeführt. Dabei gliedert sich die Empirie zunächst entlang der aus dem Material entnommenen Konzepte, die zu drei zentralen Ergebnissen verdichtet wurden. Von Bedeutung für die Frage elterlicher Wahlmöglichkeiten in beruflichen und privaten Entscheidungssituationen stellten sich insofern (Quasi-)Solidargemeinschaften im Kontext von Partnerschaft, Familien, sozialen Netzwerken und Dienstleistungen im Privathaushalt (Kap. 4.1.), individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ (Kap. 4.2.) sowie Mehrfachbeschäftigung zwischen Alternativlosigkeit und Normalisierung (Kap. 4.3) heraus. Diese Konzepte werden jeweils ausführlich in ihren jeweiligen Kontexten, Bedingungen, Interaktionen, Strategien und Konsequenzen beschrieben und in Relation zu den elterlichen Wahlmöglichkeiten gestellt. Kapitel 5 vollzieht dann eine intersektionale Wendung und gliedert die Ergebnisse entlang der drei, im Fokus stehenden intersektionalen Kategorien Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Dabei wird auch eine Brücke zu theoretischen Perspektiven geschlagen. Um den interdependenten Wechselwirkungen der Kategorien gerecht zu werden, werden diese in ihren jeweiligen Verschränkungen dargestellt. Dieser zusätzliche Analyseschritt macht deutlich, welchen Mehrwert eine intersektionale Perspektive auf empirische Ergebnisse bereithält. Das Fazit rekapituliert das Forschungsvorhaben und ordnet die Ergebnisse in einen größeren Kontext ein, unter anderem durch das Aufzeigen notwendiger Schlussfolgerungen für die verschiedenen Theoriestränge ebenso wie für die deutsche Familien- und Gleichstellungspolitik. Diese Arbeit, das sei abschließend gesagt, versteht sich als soziologische Perspektive auf die Lebensrealität erwerbstätiger Mütter und Väter im Kontext des transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat und räumt dem empirischen Material samt der Originalzitate der Interviewpersonen einen entsprechend großen Stellenwert ein. Die intersektionale Perspektive auf die Frage nach der „Wahlfreiheit“ von Eltern ist der Versuch, die bisher noch wenigen empirisch basierten intersektionalen Analysen anzureichern und den Forschungsgegenstand intersekti-
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onaler Ansätze auf wohlfahrtsstaatliche Strukturen, Leitbilder, Normen und Werte sowie dadurch möglich bzw. unmöglich gemachte Identitäten und Existenzformen auszuweiten. Inwiefern dies gelungen ist, müssen im Folgenden andere beurteilen.
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„Wahlfreiheit“ intersektional denken Theoretische Perspektiven und Begrifflichkeiten
Gegenstand dieses Kapitels ist der theoretische Zugang zu der Frage nach „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter im Hinblick auf die Organisation, Verteilung und Gestaltung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Dieser wird entlang von drei Strängen entfaltet: erstens entlang der hier vertretenen theoretischen Perspektive auf soziale Ungleichheiten, die in Form eines intersektionalen Ansatzes als eine spezifische daherkommt; zweitens entlang der Verankerung intersektionaler Ungleichheiten im deutschen Wohlfahrtsstaat, welcher durch ein eigenes Erwerbsarbeits-, Geschlechter- und Migrationsregime theoretisch erfasst werden kann; sowie drittens entlang von Transformationen der deutschen Familienpolitik im Hinblick auf „Wahlfreiheit“.
2.1 SOZIALE UNGLEICHHEITEN INTERSEKTIONAL GEFASST Mit der Einnahme einer intersektionalen Perspektive auf soziale Ungleichheiten gehen spezifische Grundannahmen einher: erstens ein konstruktivistischer Ansatz, zweitens das Zentralsetzen des Kapitalismus als spezifische Wirtschaftsweise und zugleich ungleichheitsevozierendes System sowie drittens das Betrachten unterschiedlicher Ebenen zählen, durch welche soziale Ungleichheiten (re-)produziert werden. Diese Grundannahmen erklären sich (auch) aus dem Ursprung von Intersektionalitätsdebatten, welcher in Form einer spezifischen Gründungsnarrative wiedergegeben werden kann. Im Folgenden werden daher
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zunächst Genese und Grundannahmen intersektionaler Ansätze1 erläutert und im Anschluss daran die damit in Verbindung stehenden Kategorien Geschlecht, Klasse und Ethnizität eingeführt bzw. definiert. Abschließend werden theoretische Analyseebenen benannt, die im Rahmen intersektionaler Forschung voneinander unterschieden werden können. 2.1.1 Genese und Grundannahmen intersektionaler Ansätze Ihren Ursprung fand Intersektionalität in der Kritik der US-amerikanischen schwarzen Feminismusbewegung an der weißen, mittelschichtsbezogenen Frauenbewegung, die für sich beanspruchte, die Lebensrealität aller Frauen zu repräsentieren. Neben dem (politischen) Kampf um Anerkennung von Differenzen zwischen Frauen gehört zur Genese von Intersektionalitätsdebatten zudem der Verweis auf Wechselwirkungen verschiedener Kategorien sozialer Differenzierung. So zeigte die Juristin Kimberlé Crenshaw in ihrem Aufsatz aus dem Jahr 1989 auf Basis juristischer Fallanalysen, dass amerikanische Antidiskriminierungsgesetze entweder zu Gunsten schwarzer Männer oder weißer Frauen operierten. Unter Rückgriff auf die Metapher einer Straßenkreuzung („intersection“) beschrieb sie, wie sich unterschiedliche Diskriminierungsformen bei schwarzen Frauen überschneiden und letztlich unsichtbar bleiben, wenn man sie ausschließlich als sexistische oder rassistische Diskriminierungen klassifiziere (vgl. Crenshaw 2013 [1989]). 2 In Deutschland waren die politischen Interventionen von Migrant*innen, schwarzen Deutschen, jüdischen Frauen sowie Frauen mit Behinderungen wichtige Impulsgeber*innen für intersektionale Perspektiven (vgl. Walgenbach 2012: 5). Diese politischen Interventionen fanden schließlich ihren Weg in die feministische Theoriebildung und akademische Debatte Europas. Davis fasst zusammen, dass Intersektionalität die Anerkennung von Differenzen zwischen Frauen thematisiere und die lange Geschichte der Exklusion innerhalb der feministischen Wissenschaft berühre (vgl. Davis 2013: 62). In der beschriebenen Genese zeigt sich, dass intersektionale Ansätze als Weiterentwicklung feministischer Theorien gelten können (vgl. Knapp 2005), in dem sie soziale Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Nation in ihrem Zusammenwirken und ihren Wechselwirkungen betrachten (vgl. Walgenbach
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Es ist in der Fachliteratur nach wie vor umstritten, ob es sich bei Intersektionalität um eine Theorie, ein Forschungsparadigma (vgl. Walgenbach 2012) oder eine Analyseperspektive (vgl. Riegel 2010) handelt und ob der Begriff der Intersektionalität seinen Gegenstand überhaupt angemessen erfasst (vgl. beispielsweise Soiland 2012).
2
Zur Gründungsnarrative des Intersektionalitätskonzeptes siehe Lutz et al. (2013): 9.
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2012: 81). Darüber hinaus knüpft Intersektionalität auch in ihren Grundannahmen an die Tradition (marxistisch) feministischer Theorien an, indem Kapitalismus als zentraler Generator sozialer Ungleichheiten im Fokus der Analyse steht und soziale Kategorien wie Mann/Frau bzw. deutsch/migrantisch als historisch gewachsene, gesellschaftliche Konstruktionen aufgefasst werden. 3 Zwar fokussieren auch klassische soziologische Theorien sozialer Ungleichheit nach Marx und Weber auf die Ungleichwertigkeit sozialer Lagen und setzen sich damit in Bezug zu einer kapitalistischen Organisationsform von Gesellschaft (vgl. Schwinn 2007: 11).4 Von Seiten der Frauen- und Geschlechterforschung wurde jedoch stets auf die inhärente Verwobenheit kapitalistischer Organisationsformen mit dem ungleichen Geschlechterverhältnis zwischen Frauen und Männern verwiesen. Kapitalismus wird in intersektionalen Ansätzen insofern nicht nur als eine spezifische Wirtschaftsweise begriffen, die Gesellschaften grundlegend entlang von Dynamiken ökonomischer Profitmaximierung strukturiert und in Folge dessen Ungleichheiten entlang sozialer Kategorien hervorbringt (vgl. Winker/ Degele 2009: 25). Diese sozialen Ungleichheiten entlang sozialer Kategorien sind dem Kapitalismus vielmehr strukturell inhärent, so die Grundannahme (vgl. Aulenbacher et al. 2012). Kapitalismus bedarf also dieser Ungleichheiten entlang von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, um sich als System zu erhalten und zu funktionieren. Beispielhaft führt Klinger die frühere koloniale bzw. imperialistische Ausbeutung außereuropäischer Gebiete durch außereuropäischer Großmächte an (vgl. Klinger 2008: 54). Im Zuge kapitalistischer Dynamiken und Krisen entstünden so jedoch nicht ausschließlich geschlechts-, klassen- und ethniebasierte Herrschaftsweisen, sondern auch Kontingenzen, die sich etwa in Form von Gleichstellungstendenzen zwischen Männern und Frauen in westlichen Gesellschaften beobachten ließen (Aulenbacher et al. 2012: 5). Aulenbacher et al. erklären dies mit Hilfe regulationstheoretischer Ansätze, die die wiederkehrende Notwendigkeit zur Herausbildung stetig neuer Akkumulationslogiken und veränderter Regulationsweisen im Kapitalismus heranziehen – etwa im Übergang vom Fordismus zum Postfordimus. Während das Akkumulationsregime die Produktions- und Konsumbedingungen im Kontext dominanter Produktions- und Konsumnormen sowie das
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Intersektionalität bedeutet dann auch, Gesellschaftstheorie als Kritische Theorie nach Horkheimer zu betreiben bzw. ihrer feministischen Reformulierung zu folgen (vgl. Klinger/Knapp 2007: 29).
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In Abgrenzung dazu behandelt die Systemtheorie soziale Ungleichheiten zunächst als Ungleichartigkeit der Ordnungen oder Teilsysteme, die nicht automatisch mit einer Ungleichwertigkeit einhergehen muss (Schwinn 2007: 11).
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Verhältnis von kapitalistischen und nicht-kapitalistischen Bereichen umfasse, beziehe sich die Regulationsweise auf das institutionalistische Rahmenwerk und Reglement zwecks Stabilisierung des kapitalistischen Systems (Aulenbacher et al. 2012: 8). Letzteres umfasst implizit nationale Ökonomien, erscheint also beispielsweise als eine spezifisch deutsche Regulationsweise. Die konkrete Ausgestaltung des jeweiligen Akkumulationsregimes und der entsprechenden Regulationsweise sei Ergebnis bzw. Gegenstand von sozialen Auseinandersetzungen (Aulenbacher et al. 2012: 11). Im Zentrum der Verknüpfung von Akkumulationsregime und Regulationsweise stehen das Lohnarbeitsverhältnis und seine besondere Ausgestaltung: „Der ‚rapport salarial‘ bildet die basisinstitutionelle Form, entlang derer sich die Art der Ausbeutung der Arbeitskraft, der sozialen Strukturierung, der politischen Regulierung und der Vergesellschaftungsform in der historischen Perspektive qualitativ voneinander unterscheiden. Er erfasst den jeweils dominanten Typus der Formen der Arbeitskraft in einem historischen Akkumulationsregime.“ (Aulenbacher et al. 2012: 9)
Durch die Fokussierung auf den Gebrauch der Arbeitskraft der Beschäftigten sowie deren Reproduktion geraten auch Familie und Wohlfahrtsstaat ins Blickfeld des Interesses. Letztlich ist das Ziel des Wohlfahrtsstaates der Erhalt und die Steuerung von Arbeitskräften, er vermittelt zwischen dem Arbeitssubjekt und dem Markt und erhält Konkurrenzen aufrecht. Hegemonie in Form einer Stabilität von Akkumulationsregimen und Regulationsweise, kapitalistische Expansionsdynamiken sowie globale Konkurrenz nehmen vor diesem Hintergrund nicht nur Einfluss auf die Wirtschaft, sondern „überformen auch die Sozialordnungen von Gesellschaften“ (ebd.: 10). Allerdings, so merken Aulenbacher, Meuser und Riegraf an, sei dies kein einseitiger Prozess (Aulenbacher et al. 2012: 10). Im Gegenteil zeigten sich Konkurrenzen und Interdependenzen entlang der Transformationsprozesse westeuropäischer Gesellschaften, zu denen die besagten Forscher*innen unter Verweis auf weitere Autor*innen explizit auch Wohlfahrtsstaaten zählen (vgl. z.B. Lessenich 2008). Feministische bzw. intersektionale Analysen stellen nun weniger die Kapitalakkumulation selbst in den Fokus, als vielmehr die weiteren gesellschaftlichen Prozesse, die ihr unterlegt sind und innewohnen (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 11). Intersektionalitätsansätze beziehen sich in Anlehnung an die feministische Gesellschaftsanalyse insofern auf die Moderne insgesamt. Kennzeichnend für die Moderne ist einerseits ein Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Ungleichheits- und bürgerlicher Gleichheitsordnung in vielfältigen historischen Variationen (ebd.: 12). Andererseits kennzeichnen die Moderne – spätere Ausfüh-
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rungen vorwegnehmend – zwei Herausforderungen, die jede Gesellschaft zu bearbeiten habe: die Herstellung und Verteilung der Mittel zum Leben sowie die Erzeugung und Erhaltung des Lebens (vgl. Klinger 2008). Feministische Theorien weisen der Kategorie Geschlecht insofern eine gesellschaftsübergreifende strukturelle Bedeutung zu, die sich nicht allein auf die Erwerbssphäre beschränkt (vgl. Aulenbacher 2005, Becker-Schmidt 1987): „Die Ungleichstellung der Geschlechter ist demnach eine im Prinzip alle gesellschaftlichen Bereiche […] und sozialen Verhältnisse (insbesondere den Staatsbürgerstatus, die Erwerbsposition, die privaten Beziehungen der Geschlechter) prägende Struktur, die als gesellschaftlich bzw. sozial hergestellte Struktur in einer umfassenden Analyse sozialer Ungleichheit Berücksichtigung finden müßte.“ (Gottschall 2000: 14)
Gleiches gilt in intersektionalen Ansätzen auch für die Kategorien Ethnizität und Klasse. Diese werden zusammen mit Geschlecht als „Strukturgeber und Platzanweiser der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen, in denen je eigenständige Herrschaftsformen zum Ausdruck kommen“ (Aulenbacher et al. 2012: 12). Gegenstand intersektionaler Analysen sind also stets Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse, die sich beispielsweise auch gegenüber Diversity-Ansätzen und den darin gesetzten Differenzkategorien explizit kritisch positionieren (vgl. Walgenbach 2012: 2, Aulenbacher/Riegraf 2012). Denn anders als in klassen- und kapitalismustheoretischen Ansätzen können die Kategorien in keine Rangordnung oder Reihenfolge gebracht werden. Intersektional zu denken und zu forschen bedeutet, die Wechselwirkungen sozialer Kategorien im Kontext kapitalistischer Gesellschaften zu analysieren. Neben dem Zentralsetzen des Kapitalismus bzw. vielmehr den damit in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Prozessen gehört zu den Grundprämissen intersektionaler Ansätze eine konstruktivistische Perspektive, die je nach Autor*in unterschiedlich und in Abhängigkeit der betrachteten Ebenen ausformuliert wird. So betonen etwa Klinger/Knapp (2007) oder Müller (2003) die historische Entwicklung der gesellschaftlichen Konstruktionen von Kategorien wie Geschlecht, Klasse oder Ethnizität, während Winker/Degele (2009) je nach betrachteter Ebene beispielsweise auch auf Doing- (West/Fenstermaker (1995) und performative Ansätze (Butler 2014 [1991]) etwa für die Identitätskonstruktion verweisen. Nicht selten verweisen intersektionale Ansätze vor diesem Hintergrund auch auf Möglichkeiten der Dekonstruktion von Kategorien. Sowohl Kategorien als auch Herrschaftsstrukturen werden jedoch in intersektionalen Ansätzen grundsätzlich aus dem Zusammenspiel von Struktur und Handlung und somit durch soziale Praxis erklärt.
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Schließlich gehört zu den Grundprämissen intersektionaler Ansätze das Berücksichtigen unterschiedlicher Ebenen, die für die (Re-)Produktion von Machtund Herrschaftsverhältnissen relevant erscheinen und insofern eine weitere Komplexitätssteigerung im Zuge intersektionaler Perspektiven bedeutet. Intersektionale Ansätze gehen von einem wechselseitigen Verhältnis zwischen Struktur auf der Makroebene und Handeln auf der Mikroebene aus. So schlagen sich nach Klinger gesellschaftliche Strukturen im Erfahren und Erleben der Individuen nieder, so wie umgekehrt das Denken und Handeln der Akteure die Entstehung und weitere Entwicklung der Strukturen beeinflusse (Klinger 2008: 38). Die Betrachtung alleine einer dieser Ebenen führe notwendigerweise zu systematischen Ausblendungen, denn beide Ebenen seien weder identisch noch spiegelten sie einander vollkommen wider (ebd.). Mit Verweis auf Hill Collins ist Intersektionalität daher immer zugleich auf der Mikro- wie der Makroebene angesiedelt: „First, the notion of interlocking oppressions refers to the macro level connections linking systems of oppression such as race, class, and gender. This is the model describing the social structures that create social positions. Second, the notion of intersectionality describes micro level processes – namely, how each individual and group occupies a social position within interlocking structures of oppression described by the metaphor of intersectionality. Together they shape oppression.“ (Hill Collins 1995, zitiert nach Klinger 2008: 39)
Im Hinblick auf die Frage, wie sich das hier verstandene Verhältnis von Struktur und Handlung konzeptualisieren und letztlich empirisch umsetzen lässt, ist der bloße Verweis auf die Existenz von Mikro- und Makrostrukturen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, unzureichend. Wie genau Subjekte, ihre soziale Positionierung, Strukturen und Praktiken zueinander ins Verhältnis gesetzt und welche (unterschiedlichen) Ebenen für die Reproduktion von Machtverhältnissen relevant werden, ist je Intersektionalitätsverständnis der*s Autor*in unterschiedlich (vgl. etwa Walgenbach 2006, Winker/Degele 2009, Riegel 2010) bzw. bleibt häufig diffus (Winker/Degele 2009: 18, vgl. auch Davis 2013). Ähnliches trifft auf die Theoretisierung der Kategorien zu, die es zu betrachten gilt. In den Diskurssträngen und Streitpunkten der deutschsprachigen Debatten um Intersektionalität in der Geschlechterforschung wird immer wieder die Frage gestellt, welche und wie viele Kategorien in intersektionalen Analysen mit welcher Gewichtung einbezogen werden müssten. Neben der klassischen Trias ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘ als wesentliche Ungleichheitsstrukturen (u.a. Klinger/Knapp 2007), plädieren etwa Winker/Degele dafür, diese um ‚body‘ zu erweitern, da diese für den aktuellen Kapitalismus äußerst relevant sei (ebd. 2009:
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49). Seitens der Queer Theory wird zugleich kritisiert, dass Sexualitäten in Intersektionalitätskonzepten verdrängt würden (Dietze et al. 2007). Helma Lutz (2001) schlägt vor, die Kategorien induktiv aus dem empirischen Datenmaterial zu generieren. In der Folge wird auch der Begriff der „intersection“ hinterfragt. So weist Katharina Walgenbach darauf hin, dass damit die Vorstellung verbunden sei, die Kategorien würden sich nur an der „Kreuzung“ überschneiden und seien „davor“ und „danach“ getrennt zu betrachten. Sie plädiert für den Begriff der interdependenten Kategorien und will damit verdeutlichen, dass „Differenzen bzw. Ungleichheiten nicht mehr zwischen (distinkt oder verwoben gedachten) Kategorien wirksam sind, sondern innerhalb einer Kategorie [Herv. i.O.]“ (Walgenbach 2007: 24). In Anlehnung an Winker/Degeles Plädoyer, die Auswahl der Kategorien vom untersuchten Gegenstand und der ausgewählten Untersuchungsebene abhängig zu machen (ebd. 2009: 16), werden in den folgenden Kapiteln sowohl die Kategorien als auch die Ebenen bestimmt und definiert, die in dieser Arbeit relevant erscheinen. Am Anfang steht die Beschreibung der historischen und sozialen Genese der Kategorien Ethnizität, Geschlecht und Klasse und ihren Verschränkungen als soziale Konstruktionen sowie deren Bedeutung für die damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisse im Rahmen der kapitalistischen Ordnung. 2.1.2 Die Kategorien: Klasse, Geschlecht und Ethnizität Geschlecht, Klasse und Ethnizität bezeichnen die Zugehörigkeit von Menschen zu sozial konstruierten Gruppen, was diese Kategorien relevant für die Frage nach sozialen Ungleichheiten macht und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. „Diese Kategorien können – unter bestimmten Umständen – auch zu (tatsächlichen oder vorgestellten) Gruppen mit kollektiver Identität und eigener Handlungsfähigkeit werden“ (Müller 2003: 6). Geschlecht, Klasse und Ethnizität werden in dieser Arbeit als soziale Konstruktionen erfasst, die historisch gewachsen sind und eine spezifische soziale Ordnung herstellen, die im Kontext kapitalistischer Gesellschaften als soziale Platzanweiser im Sinne einer Über- und Unterordnung fungieren (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 12). Gemeinsam ist ihnen also, dass sie Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse etablieren und Normierungen setzen, über die Ein- und Ausschlüsse organisiert sind. Die Frage nach „Wahlfreiheit“ schließt sich an diese Ein- und Ausschlüsse an. Gleichzeitig bieten sowohl Geschlecht als auch Klasse und Ethnizität Identitäts- und Identifikationsmöglichkeiten und werden von Subjekten beständig in sozialen Prozessen interaktiv hergestellt, was die Wahrnehmung bzw. Erwägung von Handlungsoptionen durch Mütter/Väter auch im Hinblick auf die Gestaltung, Organisation und Ver-
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teilung von Erwerbs- und Sorgearbeit prinzipiell (nicht) ermöglicht. Bei allen Gemeinsamkeiten existieren jedoch auch Unterschiede zwischen den sozialen Kategorien: Während beispielsweise Geschlecht und Ethnizität stets mit biologisierenden Argumenten und scheinbar „natürlichen“ Zuschreibungen einhergehen (vgl. Hall 2000, Hausen 1976) – man seinem „ursprünglichen“ Geschlecht bzw. Ethnizität und den damit assoziierten Merkmalen bzw. Eigenschaften also nur schwer entkommen kann –, haftet der Konstruktion von Klasse ein weniger statisches Bild an. Nach Bourdieu lässt sich die eigene relative Stellung im sozialen Raum prinzipiell verändern, wenngleich dem*der Aufsteiger*in die Kletterei stets anzusehen bleibe (Bourdieu 1985: 13). Im Folgenden wird in gebotener Kürze auf die historische Entstehungsgeschichte der Konstruktion der Kategorien-Trias Klasse, Geschlecht und Ethnizität eingegangen, um darauf im Rahmen ihrer Relevant- setzung innerhalb des deutschen Wohlfahrtsstaates an späterer Stelle zurückkommen zu können. Sowohl die Kategorien als auch die Herrschaftsverhältnisse werden in dieser Arbeit als genuin moderne gefasst, wie sie sich also im Zuge der Entstehung arbeitsteiliger europäischer Gesellschaften ausgebildet haben, wenngleich diese an vorherige Herrschaftsformen anknüpfen (vgl. Klinger 2003). Ethnie-, klassen- und geschlechtsbasierte Herrschaftsverhältnisse haben beim Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft eine enorme Erweiterung erfahren, wenn auch für die westliche Moderne weder das Entstehen noch das Vergehen der drei Arten von Herrschaftsverhältnissen signifikant und spezifisch gewesen sei, so Klinger (Klinger 2008: 44). So setzen die Konzepte Klasse, Rasse und Geschlecht „an vorgängigen Herrschaftsformen an, ohne sich unmittelbar aus ihnen herzuleiten. Es handelt sich um neuartige, spezifisch moderne Konfigurationen und Konstellationen, die gleichwohl auf alten Fundamenten basieren.“ (Klinger 2003: 37) Im Sinne intersektionaler Ansätze wird im Folgenden dafür die sich zunehmend durchsetzende kapitalistische Ordnung relevant gesetzt. Die Konstruktion von Klasse als Differenzkategorie Mit dem Übergang von einer feudalistisch-argarischen Ordnung mit ständischer Hierarchie und den damit einhergehenden Privilegierungen bzw. Benachteiligungen qua Geburt des 18. Jahrhunderts in eine industriell-kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhundert gehen ökonomische Modernisierung, funktionale Arbeitsteilung und kulturelle Säkularisierung einher (vgl. Klinger 2008). Die Kategorie Klasse stand vor diesem Hintergrund von Anfang an für eine theoretische Beschreibung und Zusammenfassung zweier Großgruppen im kapitalistischen System Europas des 19. Jahrhunderts: die Produktionsmittelbesitzenden und die
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Lohnabhängigen. Klassentheorien wie die marxistische erheben den Grundkonflikt innerhalb der kapitalistischen Akkumulation, nämlich den der ungleichen Verfügungsgewalt über knappe, jedoch begehrte Ressourcen, zum Ausgangspunkt sozial strukturierter Ungleichheit. Je nach Stellung im Erwerbsprozess, so die grundlegende Annahme, ergibt sich ein ungleicher Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Positionen, an deren Ende ungleiche Lebenschancen von Individuen bzw. Gruppen stehen (vgl. Winker/Degele 2009: 42, Kreckel 2004: 213). Lebenschancen spiegeln sich dabei nicht zuletzt in der Frage nach „Wahlfreiheit“ wider, etwa um Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachzukommen bzw. nachkommen zu müssen. Die Kategorie Klasse bezeichnete dabei jedoch stets mehr als die reine ökonomische Lage von Subjekten. Gemeinhin wurde darüber hinaus das Zusammenfallen von sozialstruktureller Lebenslage („Klasse an sich“) mit identischen oder zumindest ähnlichen Interessen und politischen Präferenzen („Klasse für sich“) postuliert (Bourdieu 1985: 14, vgl. auch Marx/ Engels 1971: 52/53). Mit dem Aufkommen des fordistischen Lohnarbeitsverhältnisses gehen neben einem klar definierten Bild des*der Erwerbstätigen, einem festen Arbeitsplatz, die Rationalisierung von Arbeitsprozessen und ein kollektiver Rechtsstatus für Arbeiter*innen auch individuelle soziale Sicherheit und die Teilhabe an Kollektivgütern sowie am Massenkonsum einher (vgl. Castel 2008: 283f). Mit der Vereinheitlichung der Erwerbsarbeitsbedingungen ergibt sich insofern die Vereinheitlichung von Milieus und Lebensweisen, weshalb abhängige Arbeit als Stütze sozialer Identität und gesellschaftlicher Integration gilt. Historisch überschreibt Castel diese Entwicklung als eine „vom Kontrakt zum Status“ (ebd.: 192). Zwar fand angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen in der Spätmoderne – zu nennen sind hier etwa Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen und Identitätskonstruktionen (vgl. Beck 2016 [1986]) – eine Diskussion um die Erklärungskraft der Kategorie Klasse statt, im Zuge dessen kam es jedoch eher zu einer Schärfung des analytischen Instrumentariums von Klassenkonzepten, statt Klasse als historisch obsolet zu betrachten (vgl. Weiß et al. 2001: 8). Die Funktion von Klassen für die kapitalistische Akkumulation steht dabei außer Frage: Klasse konstruiert Subjekte als „eine Gruppe von Menschen, denen ihre Stellung im Produktionsprozess gemeinsam ist“ (Winker/Degele 2009: 43). Aus dieser erwerbsarbeitsbezogenen Stellung ergeben sich ökonomische Ressourcen wie Vermögen und Einkommen. Mit Bourdieu (1985) lässt sich jedoch über eine ökonomische Betrachtungsweise der Kategorie Klasse hinauskommen. Bourdieu beschreibt Gesellschaft als einen sozialen Raum der Unterschiede und der Beziehungen, „die Verknüpfung von Klassenlage und Lebensführung ist Bourdieus zentraler Beitrag zur Klassendiskussion“ (Winker/Degele 2009: 43). Dies geschieht, indem er Gruppen im sozialen Raum nicht
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nur entlang ihres ökonomischen Kapitals, sondern auch des kulturellen und sozialen Kapitals verortet. Kulturelles Kapital umfasst dabei zusammengefasst die Möglichkeiten und Formen der Vermarktung der Arbeitskraft auf Grundlage von inkorporierter sowie zertifizierter Bildung und Beruf. Soziales Kapital ist zu verstehen als Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, deren Menge und Qualität ihrer weiteren sozialen Kontakte entscheidend den Umfang dieser Kapitalsorte prägen. „Demgemäß verteilen sich die Akteure auf der ersten Raumdimension je nach Gesamtumfang an Kapital, über das sie verfügen; auf der zweiten Dimension je nach Zusammensetzung dieses Kapitals.“ (Bourdieu 1985: 11) Subjekte mit einer ähnlichen Kapitalausstattung stehen im sozialen Raum gemäß dieser Logik nahe beieinander und weisen einen ähnlichen Handlungs- und Lebensstil auf. Daraus ergeben sich nach Bourdieu „soziale Klassen“, die möglicherweise, aber nicht zwangsläufig durch ähnliche politische Ideologien und Interessen gekennzeichnet sind (ebd.: 12). Die Klassenlage von Subjekten wird bei Bourdieu insofern zwar weiterhin primär durch die Stellung im Erwerbsprozess erklärt, wird aber zusätzlich auch durch ökonomisches und kulturelles Kapital sowie soziale Netzwerke bedingt. Im Umkehrschluss werde die augenscheinliche Vielfalt und Heterogenität kultureller Ausdrucksformen qua diverser Handlungsund Lebensstile jedoch nicht allein von der Stellung im Erwerbsprozess determiniert, obwohl sie konstitutiv auf die ihnen zugrundeliegenden Ungleichheitsstrukturen bezogen bleibe (Weiß et al. 2001: 14). Umkämpft ist bei Bourdieu neben der eigenen Stellung im sozialen Raum in Relation zu den Anderen mittels Distinktion auch der „common sense“ (Bourdieu 1985: 19), also die Macht, seine eigenen Deutungen durchzusetzen. Bourdieu spricht in dem Zusammenhang auch von einem „Monopol auf legitime Benennung als offizielle – das heißt explizite und öffentliche – Durchsetzung einer legitimen Sicht von sozialer Welt“ (ebd.: 23), welches er primär dem Staat als Akteur einräumt. Wohlfahrtsstaaten kann vor diesem Hintergrund symbolische Macht zugeschrieben werden, da sie durch sozialpolitisches Handeln Lebensentwürfe (nicht) ermöglichen und Wahlmöglichkeiten (nicht) herstellen. Im Ergebnis rückt auch Familienpolitik rückt vor diesem Hintergrund in den Fokus der vorliegenden Arbeit. Festzuhalten bleibt, dass soziale Ungleichheit in westlich-kapitalistischen Staatsgesellschaften bis heute als legitimierungsbedürftig gilt (vgl. Müller 2003: 12) und die Bedeutung von Klasse in marktförmig organisierten Gesellschaften westlicher Prägung Eingang gefunden hat in die so genannte „meritokratische Triade“ von Bildung, Beruf und Einkommen (Kreckel [1992] 2004: 97). Historisch betrachtet beruht die formalisierte Meritokratie auf Prozessen der Standardisierung, Homogenisierung und Institutionalisierungen von Bildungsabschlüs-
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sen, beruflichen Rangpositionen und Geldeinkommen.5 Der darauf aufbauende Statuswettbewerb ergibt in westlich-kapitalistischen Staatsgesellschaften ein gewichtiges System zur Legitimation von Ungleichheit in Marktökonomien und letztlich Herrschaftsordnungen, an deren Ende die individuelle Leistungsideologie steht. Entlang dieser Leistungsideologie werden die Ungleichheiten von Lebenschancen sowie unterschiedliche „Wahlfreiheiten“ gerechtfertigt und gesellschaftsfähig. Idealtypisch soll „die Qualifikation eines Individuums […] in eine entsprechende berufliche Position konvertierbar sein, die berufliche Position soll mit einem ihr angemessenen Einkommen ausgestattet sein [Herv. i.O.].“ (Ebd.: 97) Durch ihre Abkehr von der feudalen Ständeordnung hin zu Begabung und Leistungsfähigkeit ist die meritokratische Triade gleichbedeutend mit dem Versprechen von Gleichheit und Freiheit im Sinne der Aufklärung. Etabliert hat sich in modernen Gesellschaften insofern die Vorstellung, dass allein individuelle Leistungen jenseits der Kategorie Klasse zu gesellschaftlich akzeptierter Ungleichheit etwa in Form von Einkommensunterschieden avanciert ist. Die Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der eigenen Arbeitskraft hängen insofern scheinbar vor allem an Bildung, Beruf und Einkommen sowie im Kontext des transformierten Wohlfahrtsstaates zunehmend auch an der eigenverantwortlichen Leistung der Einzelnen. Klassenzugehörigkeiten erscheinen demnach nicht Effekt von Machtverhältnissen zu sein, sondern werden auf die persönliche Leistung oder das persönliche Versagen im Erwerbsarbeitsmarktkontext zurückgeführt (Götsch 2018). Die Zuweisung ungleicher gesellschaftlicher Positionen bzw. ungleicher Lebenschancen entlang askriptiver Merkmale wie Klasse, ebenso wie Geschlecht und Ethnizität erscheint vor diesem Hintergrund als nicht mehr zeitgemäß. Analog dazu erscheinen die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit, kurzum die Frage nach „Wahlfreiheit“ als individuelle, selbstbestimmte Entscheidung jeder einzelnen Mutter bzw. jedes einzelnen Vaters und nicht als (auch) strukturell determiniert. Aufbauend auf dem Vorherigen wird in dieser Arbeit unter Klasse in einer kapitalistischen Gesellschaft im Folgenden eine Gruppe von Menschen mit ähnlicher Stellung im sozialen Raum im Hinblick auf ihr ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital verstanden, welches sich meritokratisch vermittelt und in
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Kreckel will diese Prozesse explizit als Produkt historischer Verhältnisse – oder wie er es in Anlehnung an Marx nennt – „Realabstraktionen“ verstanden wissen, deren Kenntlichmachung als solche unabdingbar sei, um „die theoretisch bedeutsamere Frage nach den strukturell angelegten, aber mit einfachen vertikalen Skalen nicht erfaßbaren Kräfteverhältnissen zu stellen“ (Kreckel [1992] 2004: 106).
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ähnlicher Bildung, einem ähnlichen beruflichen Status und ähnlichem Einkommen widerspiegelt. Inwiefern der deutsche Wohlfahrtsstaat als legitime Benennungsmacht auftritt und dadurch die „Wahlfreiheit“ von Eltern unterschiedlicher Klassen in ihrer Verschränkung mit Geschlecht und Ethnizität beeinflusst, wird später Gegenstand des Kapitels sein. Die Konstruktion von Geschlecht als Differenzkategorie In modernen Gesellschaften westlicher Prägung ist die Konstruktion von Geschlecht mit der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit verknüpft, nach der es zwei (und nicht mehr) Geschlechter gibt. Männer und Frauen bzw. Männlichkeit und Weiblichkeit sind dabei durch Gegensätzlichkeit charakterisiert, ihnen werden üblicherweise vollkommen unterschiedliche, konträr zueinanderstehende Eigenschaften und Merkmale zugeschrieben, die jedoch gleichzeitig komplementär daherkommen – etwa aktiv/passiv oder rational/emotional (vgl. Gildemeister/ Wetterer 1992). Dadurch wird mit der Konstruktion von Geschlecht letztlich auch Heteronormativität begründet. Historisch betrachtet war dies jedoch nicht immer so und gilt auch heute nicht für alle Gesellschaften. Die frühere Frauenund spätere Geschlechterforschung hat vielfach gezeigt, „dass nicht alle Gesellschaften nur zwei Geschlechter kennen, nicht in allen Kulturen die Geschlechtszugehörigkeit lebenslang festgelegt ist und als unveränderbar angesehen wird, sondern Geschlechtswechsel durchaus möglich sind und es nicht in allen Gesellschaften die Genitalien sind, auf die Geschlechtszugehörigkeiten zurückgeführt werden.“ (Riegraf 2010: 62)
Laqueur (1992) zeigt etwa, dass bis in das 18. Jahrhundert hinein angesichts mangelnder medizinischer Normvorstellungen für den männlichen bzw. den weiblichen Körper ein Ein-Geschlecht-Modell die Vorstellungswelt bestimmte, nach dem Frauen als umgekehrte Männer verstanden wurden. In der vormodernen Zeit war vielmehr der soziale Kontext, also Standeszugehörigkeit und Familienstand, und nicht die Natur der Geschlechter primäre soziale Ordnungsprinzipien der vormodernen Gesellschaft (vgl. Müller 2003: 15). Darüber hinaus war in den feudalistisch-argrarischen Ordnungen damaliger europäischer Gesellschaften der gemeinsame Hausstand, der noch keine Trennung in Konsum und Erwerb kannte, Dreh- und Angelpunkt der familialen Lebensweise. Zwar existierten geschlechtlich bestimmte Aufgabenbereiche, die „Geschlechterhierarchie war aber nur sekundär und wurde durch die ständische Ordnung gebrochen“ (ebd.: 16). So war es etwa im Bürgertum üblich, dass Männer als Haushaltsvorstand gegenüber den eigenen Kindern umfangreichen Verpflichtungen nachka-
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men, zu denen die religiöse und moralische Erziehung sowie die Ausbildung für die zukünftigen Aufgaben zählten (vgl. Laslett/Brenner 1989: 386, vgl. auch Meuser 2014: 161). Beim Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert veränderte sich dieses ständische Bezugssystem jedoch, zunächst im Bürgertum, schließlich auch innerhalb der Arbeiter*innenklasse. Klinger (2008) beschreibt die Entstehung der europäischen Moderne im Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaften entlang der Herausforderung, zwei zentrale Aufgaben (neu) zu lösen: Zum einen sind damit die Herstellung und Verteilung der Mittel zum Leben sowie die Produktion und Distribution von Gegenständen und Gütern aller Art gemeint, der sie durch eine „Ordnung der Dinge“ (Klinger 2008: 42) nachkamen. Diese Ordnung der Dinge regelt die Organisation der Arbeit. Zum anderen werden die Erzeugung und Erhaltung des Lebens selbst qua Reproduktion, der eine „Ordnung des Lebens“ (Klinger 2008: 42) inklusive der Organisation von Körper 6 entsprang, genannt. Neben Arbeit und Körper bestimmt Klinger in diesem Zusammenhang Fremdheit als dritte Kategorie (Klinger 2008: 43), die im folgenden Unterkapitel aufgegriffen wird. Die sich historisch vollziehende Industrialisierung der Herstellung von Gütern kommt einer Revolution der Ordnung der Dinge gleich, die gleichzeitig die Konturen zwischen beiden Ordnungen verschärft. Es kommt nicht nur zu einer Sphärentrennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Erwerbsarbeit und Leben, sondern es entsteht auch ein hierarchisches Verhältnis zwischen beiden Ordnungen – „und zwar ein verkehrtes […] mit der langfristig gesehen fatalen Konsequenz, dass die Mittel/Objekte die Oberhand über die Zwecke/Subjekte gewinnen“ (Klinger 2008: 46). Diese Hierarchisierung der Sphären und der damit einhergehende (noch) nicht wohlfahrtsstaatlich regulierte Akkumulationsdruck auf Familien begründen den Konflikt zwischen der Erbringung und Koordinierung von Produktion und sozialer Reproduktion. „It was not the rise of industrial production, but its class character, which posed the difficulty […] Although the impact of the market on the household varied by class, by race, and by economic sector, families faced a new set of constraints as they pursued the tasks of subsistance and caring for family members.“ (Laslett/Brenner 1989: 387)
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Innerhalb der Intersektionalitätstheorie wird mitunter „Körper“ als eigenständige Strukturkategorie betrachtet, die quer zu anderen sozial konstruierten Kategorien betrachtet, i.S.v. Arbeitskörper, Geschlechtskörper oder gesunder Körper (Winker/Degele 2009: 49, vgl. auch Villa 2013, für Bezüge zwischen Sozialpolitik und Körperlichkeit siehe Kreisky 2008, Discher/Götsch 2017).
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Wenig überraschend waren es insofern zunächst die Familien der bürgerlichen und Mittelklasse, die die aufkommende Trennung von zwei Sphären familial und geschlechtsspezifisch bewältigten: „The new properties class of industrial entrepeneurs and the new middle class of independent professionals and salaried employees were the first to develop a familiy household defined by its difference from the world of production.“ (Laslett/Brenner 1989: 387)
Demgegenüber waren Familien der Arbeiterschicht und/oder eingewanderte Familien aus ökonomischen Gründen nicht in der Lage, das gleiche Ausmaß der geschlechtsspezifischen Polarisierung zwischen Häuslichkeit und Arbeitsplatz bzw. Privatheit und Öffentlichkeit zu etablieren (vgl. auch Glenn 1985). „Working-class men and women did increasingly inhabit separate spheres, but unlike middle-class wives, working-class women’s spheres included a range of activities clearly crucial to the familiy’s economic survival. These women worked in a homosocial context – sharing networks of women kin and neighbours and laboring in predominantly female workplaces.“ (Laslett/Brenner 1989: 389)
Vor dem Hintergrund der menschenunwürdigen Ausbeutungsverhältnisse etwa afrikanisch-amerikanische Frauen als Sklavinnen haben Frauen die private Hausund Erziehungsarbeit weniger als Ort der Unterdrückung als vielmehr als ein Ort menschenwürdiger Arbeit im Kontext von Sorge und Liebe erfahren (vgl. West/ Fenstermaker 1995: 32). Trotz der nicht nur räumlichen Trennung beider Sphären, sondern der zunehmend auch einander widersprechenden Gesetzlichkeiten in beiden Ordnungen betont Klinger, dass diese im Sinne von Komplementarität und Kompensation im Kapitalismus eng aufeinander bezogen und verwiesen bleiben (Klinger 2008: 46). Denn ohne Erzeugung und Erhaltung des Lebens ist keine Herstellung der Mittel zum Leben möglich, ohne Produktion und Distribution von Gegenständen und Gütern keine Reproduktion. Die Sorgearbeit, darauf wird die feministische Forschung nicht müde hinzuweisen, ermöglicht insofern erst die kapitalistische Akkumulationslogik (vgl. exemplarisch Aulenbacher et al. 2014). Betont sei, dass nicht das Entstehen der Kategorien bzw. der damit in Verbindung stehenden Herrschaftsverhältnisse das Spezifische der Moderne ausmacht, sondern deren Modifikation in Form einer klassenübergreifenden Ausweitung und Nutzbarmachung vor dem Hintergrund bereits bestehender Fundamente, etwa Androzentrismus, als moderne Herrschaftsverhältnisse im Rahmen funktional differenzierter kapitalistischer Gesellschaften (vgl. Klinger 2003). So
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beschreibt etwa Karin Hausen (1976) die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ im Zuge der Aufspaltung in eine Produktions- und Reproduktionssphäre, in Folge derer Frauen aufgrund ihrer „natürlichen“ körperlichen Bestimmungen zur Fortpflanzung entsprechende geschlechtsspezifische Dispositionen und Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie gleichsam auf die private Sphäre häuslicher Arbeiten und damit der Reproduktion von Arbeitskraft verweisen. Diese Zuschreibungen von Weiblichkeit waren jedoch von Anfang an rassistisch und klassenspezifisch selektiv. So trugen weiße Frauen der Ober- und Mittelschicht einerseits selbst zur Konstruktion dieses Frauen- bzw. Mütterbildes bei. „The ‚cult of true womanhood‘ served to legitimate women’s demands for higher status and greater control over children and household at the same time that it justified women’s exclusion from the economy and reinforced their dependence on men.“ (Laslett/Brenner 1989: 388) Andererseits zeigt Glenn, dass farbige/migrantische Frauen von Seiten der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft seit ehedem vordergründig als Arbeiter*innen betrachtet wurden, während weiße Frauen höherer Schichten zunehmend durch ihre mütterliche, häusliche Rolle definiert wurden (Glenn 1985: 102). Ähnliches lässt sich auch für den deutschen Wohlfahrtsstaat konstatieren (vgl. Weckwert 2008, Goel 2013). Männern blieb demgegenüber aufgrund ihres zugeschriebenen „Geschlechtscharakters“ die öffentliche Sphäre der Erwerbsarbeit und bürgerlichen Rechte vorbehalten. Die moderne kapitalistische Produktionsweise und männliche Herrschaft stehen von Beginn an im Zusammenhang, wie die Men’s Studies bzw. die Geschlechterforschung betonen (vgl. Lengersdorf/Meuser 2016: 7). Der aufkommende Industriekapitalismus erscheint alles in allem als stabile Stütze (hegemonialer) Männlichkeitskonstruktionen (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 18) – mit exkludierender Praxis auch gegenüber anderen Formen von Männlichkeit. Wie später noch gezeigt wird, fand die Aufspaltung in eine Produktions- und Reproduktionssphäre im Rahmen europäischer Wohlfahrtssysteme eine weitere Institutionalisierung und ist eng verknüpft mit Fragen nach „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf den Zugang zu Erwerbsarbeit für Frauen bzw. Mütter sowie den Zugang zu Sorgearbeit für Männer bzw. Väter. In dieser Arbeit wird Geschlecht als soziale Konstruktion verstanden, die auf unterschiedlichen Ebenen verschiedentlich hergestellt wird und explizit nicht als vermeintlich natürliche oder biologisch eindeutige Tatsache aufgegriffen. 7 Ge-
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Butler (2014 [1991]) hat unlängst gezeigt, dass es sich bei Geschlechtlichkeit nicht um eine Dualität handelt, die sich durch die analytische Unterscheidung von „sex“ als biologisches und „gender“ als soziales Geschlecht dekonstruieren lasse. Sie geht vielmehr von einem Geschlechterkontinuum aus, welches sich entlang des sexuellen Be-
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schlecht in seinen Verschränkungen mit Klasse und Ethnizität geht einher mit heteronormativen Geschlechterverhältnissen, zu denen ein heteronormatives Zweigeschlechterregime und die Sphärentrennung in eine (mehr oder weniger) männlich konnotierte Produktions- und weiblich konnotierte Reproduktionssphäre zählen. Die beispielsweise daraus resultierenden geschlechtsspezifischen Segregationen des Arbeitsmarktes in vertikaler und horizontaler Hinsicht inklusive der damit einhergehenden Lohnunterschiede werden als relevant für die Herausbildung, Dynamik und Entwicklung der kapitalistischen, herrschaftsförmigen Ordnung betrachtet. Die Konstruktion von Ethnizität als Differenzkategorie Ähnlich wie Geschlecht beruht auch die Konstruktion von Ethnizität auf biologistischen, vermeintlich „natürlichen“ Argumentationen. Bis heute existiert von Ethnien die Vorstellung als „quasi-natürliche Gemeinschaften, deren Angehörige durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Geschichte auf immer und ewig miteinander verbunden sind“ (Müller 2003: 44). Bereits Weber verwies jedoch auf die Konstruktion der Kategorie Ethnizität. Diese basiere seinem Dafürhalten nach auf einem „subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft [Herv. K.M.]“ (Weber 2013 [1972: 237).8 Dabei etablierte sich Ethnizität wie Geschlecht historischen Untersuchungen zufolge erst mit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert als universelles Ordnungsprinzip und Differenzkategorie (vgl. Müller 2003: 12). „Ethnie“, „Rasse“ oder „Volk“ entstanden in Europa als soziale Konstruktionen während der Zeit der Aufklärung (vgl. Müller 2003: 45). So verband sich im 17. Jahrhundert mit dem Begriff der „Rasse“ noch eine Abgrenzung von Europa mit dem Rest der Welt entlang von sozialen Symbolen und Verhaltensweisen (etwa Religion und Kleidung), die gleichwohl bereits als ein Fehlen von Zivilisation und Kultur konstruiert waren (vgl. Müller 2003: 51). Die Unterordnung der aus europäischer Sicht fremden, exotischen „Anderen“ fand im Laufe des 18. Jahrhunderts neue
gehrens von Subjekten sowie der Annahme gesellschaftlicher Konstruktion auch der körperlichen Geschlechtsmerkmale ausdifferenziert. Vor dem Hintergrund der zufälligen Auswahl der Interviewpersonen mit ausschließlich heterosexuellen Vätern und Müttern kann die vorliegende Arbeit lediglich Aussagen über die Wahlfreiheit heterosexueller Elternpaare im deutschen Wohlfahrtsstaat treffen. 8
Während Weber auf den Aspekt der Selbstzuschreibung von Gruppen abstellt, thematisieren gegenwärtige soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie die daraus entstehenden Grenzziehungen und Spannungen (vgl. u.a. Cornell/Hartmann 2010).
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Legitimation, indem zunehmend vermeintlich körperliche Unterschiede wie Nasenform, Haarstruktur und Hautfarbe zu verschiedenen „Rassekategorien“ ausdifferenziert wurden und Moral und Intellekt als angeborene und damit unveränderliche Merkmale verstanden wurden (vgl. Müller 2003: 67). 9 Wie bei Geschlecht fanden soziale Merkmale auf diese Weise ihre scheinbar „natürlichen“ Begründungen und bereits bestehende Herrschaftsverhältnisse ihre nachträgliche Legitimation. „Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Abgrenzungsmerkmale genauer definiert und in der Natur verankert, dann erfolgte eine weitere Differenzierung und Verengung des ‚Rassebegriffs‘ – und zwar auch innerhalb Europas“ (ebd.: 53). Die sich herausbildenden Industriegesellschaften nehmen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die politische Gestalt von Nationalstaaten an. 10 Nationalstaatlichkeit wird zur alternativlosen politischen Organisationsform moderner Gesellschaften. Neben Arbeit und Körper steigt nach Klinger im aufkeimenden Nationalismus Europas „Fremdheit“ zum modernen Vehikel für Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse auf, wie etwa die Kolonialgeschichte Europas zeige (vgl. ebd.: 83). „So gut wie jede herrschaftlich organisierte Gesellschaft umfasst auch die Aneignungsund Verfügungsgewalt über ‚fremde‘, das heißt dem eigenen (wie und wodurch auch immer als ‚wir‘ definierten) Kollektiv nicht verwandtschaftlich abstammende, ‚angehörige‘ Arbeits- und Lebenskraft, und/oder die Ausbeutung nicht am eigenen Ort angesiedelter Ressourcen, nicht dem eigenen ‚Boden‘ entstammender ‚Schätze‘.“ (Klinger 2008: 44)
Fremdheit lässt sich insofern, wie Geschlecht und Klasse, nicht nur als Konstruktion begreifen, sondern auch als bedeutsam für die Herausbildung, Dynamik und Entwicklung der kapitalistischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund spricht Klinger von dem dritten modernen Herrschaftsverhältnis auf Grundlage der Kategorien-Trias. Historisch betrachtet verhält es sich also genau andersherum, als der Begriff der Ethnizität suggeriert: „Keine Nation besitzt von Natur aus eine ethnische Basis, sondern in dem Maße, wie die Gesellschaftsformationen einen nationalen
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Interessanterweise wurde etwa bei Durckheim (1992: 103) den „unzivilisierten“ Völkern die Geschlechterdifferenz abgesprochen, und dadurch im Umkehrschluss zum Merkmal „höher entwickelten“ Gesellschaften (vgl. Müller 2003: 66).
10 Eine nach Klinger paradoxe zeitgleiche Entwicklung, bedeutet Industrialisierung doch die ökonomische Ausdehnung auf Weltmaßstab, wohingegen Nationalstaaten als politische Eingrenzung von Territorien daherkommen (Klinger 2008: 61).
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Charakter bekommen, werden die Bevölkerungen ,ethnizisiert‘, (Balibar/Wallerstein 2017 [1990]: 118).11 Balibar/Wallerstein sprechen vor diesem Hintergrund von „fiktiver Ethnizität“ (ebd.: 118). Gleiches gilt für Nationalstaaten: Obwohl der Begriff des Nationalstaates eine Übereinstimmung von territorialen Staatsgebieten und der nationalen Bevölkerung suggeriert, war auch dies stets Fiktion (vgl. Yuval-Davis 2001: 26). Nationalstaaten lassen sich daher selbst als Konstruktion fassen, innerhalb derer Ethnizität zum zentralen Differenzierungsmittel avanciert. Die Konstruktion von Ethnizität ebenso wie Nationalität baut auf dem Glauben an eine gemeinsame Kultur und Natur (oder dessen Zuschreibung) auf und bildet fortan die Grundlage für nationale Staatsbürgerschaften. Dazu passt, dass Ethnizität bis heute auch als Identifikationsangebot, verstanden als selbst gewählte ethnische Identität im Sinne kultureller Unterscheidungen funktioniere, während die Kategorie der „Rasse“ auf der Annahme scheinbar physischer Differenzen als Fremdzuschreibung beruhe (Cornell/Hartmann 2010: 61, vgl. auch Klinger/Knapp 2007: 20). Vor allem in Europa sei die Kategorie der „Ethnizität“ historisch bedingt stark territorial geprägt und aufs Engste mit der Geschichte der Nationalstaatsbildung verknüpft (Klinger/Knapp 2007: 20). Lepsius zeigt jedoch, wie unterschiedlich nationale Kollektivität sich konstituiert. Entsprechend verschiedener Definitionskriterien lassen sich bestimmte Typen von Nationen unterscheiden, etwa die „Volksnation“ von der „Kulturnation“: Während erstere (vgl. Lepsius 1990: 235) sich über die ethnische Abstammung ihrer Mitglieder konstituiert und dafür Kriterien wie kulturelle Eigenschaften, Sprache, Religion oder – besonders uneindeutig – historische Schicksalsgemeinschaften bemüht, betont letztere (vgl. Lepsius 1990: 238) kulturelle Gleichheit zur Herstellung nationaler Identität. Insofern spielen kulturelle oder ethnische Eigenschaften der Staatsbürger*innen wechselseitig eine jeweils untergeordnete Rolle. Deutschland wird gemeinhin als Mischform einer Kultur- und Volksnation beschrieben (vgl. ebd.: 239)12, etwa in Abgrenzung zu Frankreich, welches als historisches Beispiel für eine „Staatsbürger*innennation“ gelten kann (vgl. Brubaker 1992). Damit gehen unterschiedliche Kriterien beim Zugang zur nationalen Staatsangehörigkeit einher (vgl. Brubaker 1992, Mohr 2005): Während im „ius soli“ (Recht
11 Beispielhaft lässt sich dies an der Geschichtsschreibung des Kongo nachzeichnen, wie van Reybrouck dies in seinem historischen Sachbuch „Kongo“ (2013) zeigt. 12 Für eine detailliertere Beschreibung der deutschen Volks- und Kulturnation als soziale Konstruktion des 18. und 19. Jahrhunderts und die darin eingelassene überhöhte Bedeutung einer gemeinsamen Sprache, die sich noch heute in der herausragenden Bedeutung von Sprachkompetenz in Zuwanderungs- und Integrationsdiskussionen in Deutschland erkennen lassen, siehe Müller (2003: 76ff).
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des Bodens) Rechte und Staatsbürgerschaft stärker nach dem Prinzip der Herkunft bzw. des Aufenthaltes verliehen werden, herrscht in Deutschland stärker das „ius sanguinis“ (Recht des Blutes), welches das Prinzip der gemeinsamen Abstammung bezeichnet. Wie sich noch zeigen wird, stehen nicht nur der Zugang zur nationalen Staatsangehörigkeit und damit letztlich der Zugang zu national regulierten Arbeitsmärkten im Zusammenhang mit der Konstruktion deutscher Nationalstaatlichkeit. Auch Zugang und Möglichkeiten der Inanspruchnahme sozialer Rechte des Wohlfahrtsstaates und somit Fragen der „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbsund Sorgearbeit werden in diesem Kontext relevant. Da sich die vorliegende Arbeit auf den deutschen Wohlfahrtsstaat als ein Konstrukt kapitalistischer Nationalstaaten bezieht, wird im Folgenden der Begriff der Ethnizität verwendet, der in Anlehnung an Scherschel (2010) als Sammelbegriff für verschiedene Grenzziehungsprozesse dient. Er umfasst sowohl nationalstaatliche Grenzziehungen als auch rassifizierende und ethnisierende Konstruktionen im Alltag. Rassifizierungen, entsprechende soziale (Selbst-)Positionierungen und Strukturierungen sind meist mit sogenannten Otheringprozessen seitens der hegemonialen weißen Mehrheitsgesellschaft verbunden (vgl. Winker/Degele 2009: 47). Die Konstruktion des ‚Anderen‘ stützt zugleich die prekären Zugangsmöglichkeiten zum Erwerbsarbeitsmarkt für Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft, was schlechtbezahlte Tätigkeiten von Migrant*innen als Haushaltshilfen, Pflegekräfte und Bauarbeiter*innen legitimiert. Deutlich geworden sein sollte, dass die Kategorien Klasse ebenso wie Geschlecht und Ethnizität als historisch und sozial konstruierte Differenzkategorien im Rahmen kapitalistischen Wirtschaftens modifiziert bzw. reguliert wurden und werden. Zwar folgen sie jeweils einer Eigenlogik, innerhalb arbeitsteiliger, kapitalistischer Gesellschaften bleiben sie jedoch wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verflochten und sind so nicht nur Folge des Kapitalismus, sondern seine inhärente Voraussetzung (vgl. Aulenbacher et al. 2012). Es wurde außerdem gezeigt, dass die Kategorien für die hier im Fokus stehende Frage nach der „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Elternteile Relevanz entfalten können, im Hinblick auf die Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der eigenen Arbeitskraft von Müttern und Vätern sowie den Möglichkeiten des Zugangs und der Inanspruchnahme sozialer Rechte im Wohlfahrtsstaat. Angedeutet war darüber hinaus in den voranstehenden Erläuterungen, dass die drei Kategorien auf unterschiedliche Ebenen der Differenzsetzung wirksam sind, sie begründen gesellschaftliche Strukturen der Ein- und Ausschließung, ermöglichen Identität und Identifikation und setzen Normierungen. Diese ver-
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schiedenen Ebenen werden im folgenden Kapitel in Anlehnung an Winker/Degele (2009) analytisch voneinander getrennt beschrieben. 2.1.3 Die Ebenen: Strukturen, Identitäten, symbolische Repräsentationen Zwecks Unterscheidung verschiedener Analyseebenen bezieht sich die vorliegende Arbeit auf die Mehrebenenanalyse von Winker/Degele (2009). Diese verknüpfen ihr theoretisches Verständnis von Intersektionalität mit einer empirischen Methodologie und Methode und unterscheiden dafür drei Ebenen voneinander: die gesellschaftlichen Sozialstrukturen, zu denen sie auch Organisationen und Institutionen – darunter Betriebe – auf der Mesoebene zählen, Prozesse der Identitätsbildung auf der Mikroebene und schließlich symbolische Repräsentationen in Form kultureller Symbole.13 Ausgangspunkt ihrer theoretischen Konzeptualisierung ist die Annahme einer „kapitalistisch strukturierten Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung“ (Winker/ Degele 2009: 25). Mit ihrer Mehrebenenanalyse begegnen Winker/Degele der jüngeren Kritik seitens der intersektional Forschenden selbst, soziale Ungleichheitskategorien strukturell an- bzw. rückzubinden und sich nicht ausschließlich mit der Pluralisierung von Identitäten zu beschäftigten, ohne die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen zu stellen. Haraway betont beispielsweise: „Some differences are playful; some are poles of world historical systems of domination“ (Haraway 1991: 161, vgl. auch Soiland 2012). Auf der Makroebene der Sozialstrukturen kapitalistischer Gegenwartsgesellschaften unterscheiden Winker/Degele vier Herrschaftsverhältnisse entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, Rasse 14 und Körper, namentlich Klassismen, Heteronormativismen,
13 Der Vorteil einer solchen Unterscheidung verschiedener Ebenen, auf denen sich Macht- und Herrschaftsstrukturen entlang sozial konstruierter Kategorien manifestieren, ist die deduktive Festlegung der für das hiesige Forschungsprojekt zunächst anvisierten Kategorien auf der Strukturebene – bei aller induktiven Offenheit gegenüber den im Material auftauchenden Relevanzen. Ausführlich hierzu im nachfolgenden Kapitel 3. 14 Winker/Degele lehnen es aufgrund der nationalsozialistischen Historie ab, den Begriff der Rasse im Deutschen durch vermeintlich weniger verfängliche Konstrukte wie Ethnie zu ersetzen, da sie darin die Gefahr der Verschleierung oder gar Rechtfertigung rassistischer Diskriminierungen und Ausgrenzungen sehen (Winker/Degele 2009: 47). Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zur historischen Konstruktion des
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Rassismen und Bodyismen (vgl. Winker/Degele 2009: 38).15 Von hierarchischen Verhältnissen im Plural sprechen Winker/Degele, um deutlich zu machen, dass die strukturellen Herrschaftsverhältnisse nicht statisch sind, sondern im Gegenteil kontinuierlichen dynamischen Verschiebungen und einem Bedeutungswandel unterliegen (vgl. ebd.: 37). Dies zeigen sie auch entlang der einzelnen Strukturkategorien. Auf der Mikroebene der Identitäten gehen Winker/Degele wie Klinger davon aus, dass die Kategorien gerade durch die Unabschließbarkeit ihres Gegenstandes, etwa im Hinblick auf die Anzahl von Diskriminierungsfaktoren – und somit relevanten Kategorien – charakterisiert seien (Klinger 2008: 40, Winker/Degele 2009: 59). Im Folgenden wird die theoretische Herleitung und Definition der drei Ebenen im Sinne Winker/Degele wiedergegeben, um diese abschließend für den hier verwandten theoretischen Rahmen fruchtbar zu machen. Die Ebene der Sozialstrukturen Unter Sozialstrukturen fassen Winker/Degele gesellschaftliche Institutionen und Organisationen, somit auch Betriebe auf der Mesoebene zusammen. Gemeint sind „all jene institutionellen Regulative, in denen die Verteilung und Organisation der gesamtgesellschaftlich notwendigen Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums erfolgt sowie auch langlebige und veränderungsresistente Entscheidungsstrukturen verankert sind“ (Winker/Degele 2009: 19). Wie bereits erwähnt, werden nach Winker/Degele auf dieser Ebene die vier Strukturkategorien Klasse, Geschlecht, Rasse sowie Körper mit ihren jeweiligen Herrschaftsverhältnissen relevant. Mit der kapitalistischen Akkumulationslogik westlicher Gesellschaften geht nach Winker/Degele auf der Strukturebene die Sicherung der sozio-ökonomischen Produktionsverhältnisse, die Wiederherstellung der Produktionsmittel und – im Kontext dieser Arbeit von besonderer Relevanz – die Reproduktion der Arbeitskräfte einher. Letzteres gelingt insbesondere, indem der Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt entlang von Strukturkategorien differenziert geregelt werde, etwa qua Durchsetzung ungleicher Löhne und Gehälter (Winker/Degele 2009: 38). Der Zugriff auf „kostengünstige“, flexible und zugleich qualifizierte Arbeitskräfte gelingt „durch einen flexibilisierten Zugang zum Arbeitsmarkt, durch Lohndifferenzierungen und durch kostengünstige Reprodukti-
Begriffs Ethnizität gerade im Kontext der europäischen Nationalstaaten, schließe ich mich dieser Argumentation für die vorliegende Arbeit allerdings nicht an. 15 Zur Begründung von Körper als eigenständige Strukturkategorie siehe Winker/Degele (2009): 40f. Diese findet in dieser Arbeit jedoch keine weitere Berücksichtigung auf der Strukturebene. Zur Begründung siehe auch Fußnote 17.
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onsarbeit. Letzteres erfolgt vor allem über die Auslagerung unbezahlter Reproduktionsarbeit an Frauen in Familien – möglichst zusätzlich zu ihrer Erwerbsarbeit“. (Ebd.: 26) Neben Geschlecht spielen aber auch Klasse und Ethnizität bei der Regulierung und Differenzierung im Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt, der ungleichen Verteilung von Löhnen und Gehältern sowie der Reproduktion von Arbeitskraft eine Rolle. So würden beispielsweise Migrantinnen oder ältere Personen herangezogen, um die Arbeitskraft von Personen günstig zu reproduzieren (ebd.: 38). Zusammenfassend lässt sich nach den Autorinnen die soziale Lage von Gesellschaftsmitgliedern auf der Strukturebene aus ihrer Stellung zum Arbeitsmarkt und ihrer Verantwortung für die Reproduktion der Arbeitskraft bestimmen (vgl. Winker/Degele 2009: 41). Die Kategorien dienen letztlich dem Zweck legitimierender Externalisierung von gesellschaftlich notwendiger Reproduktionsarbeit mit dem Ziel oder zumindest Ergebnis, den zu entrichtenden Preis für die geleistete Arbeit zu reduzieren (ebd.: 39). Zwar nennen sowohl Winker/Degele als auch Joan Acker (1990) explizit (Erwerbsarbeits-)Organisationen als sozialstrukturelle Orte der Produktion von Ungleichheiten, die theoretische Einbettung von Organisationen in ihren intersektionalen Analyserahmen bleibt jedoch unterbelichtet. Dass Erwerbsarbeitsorganisationen Relevanz für die Vermarktung der eigenen Arbeitskraft haben und mit Herrschaftsstrukturen entlang intersektionaler Kategorien einhergehen, zeigt vor allem die feministische Organisationsforschung (vgl. Kanter 2010 [1977], Acker 1990), die im US-amerikanischen Raum auch schon intersektional weitergedacht wurde (vgl. Acker 2006, 2010 und 2012).16 Auch die im Rahmen dieses Forschungsprojekts hervorgebrachte Empirie verweist auf die Relevanz intersektionaler Kategorien in Betrieben, wie sich noch zeigen wird. Mit der Strukturkategorie Klasse lassen sich nach Winker/Degele unterschiedliche Möglichkeiten und Formen der Vermarktung der Arbeitskraft entlang von Bildung, Herkunft und Beruf ausdifferenzieren. Kapitalistische Gesellschaften seien, ganz in der Tradition von Karl Marx, ohne Klassen und die damit einhergehende ungleiche Verfügungsgewalt über knappe Ressourcen nicht denkbar (Winker/Degele 2009: 42). Die Ungleichheiten entlang von Klasse ha-
16 Die theoretische und methodisch-methodologische Verknüpfung zwischen intersektionalen Ansätzen und der soziologischen Organisationsforschung lässt sich nichtsdestotrotz weiterhin als Forschungsdesiderat bezeichnen – zumindest im deutschensprachigen Raum. Im US-amerikanischen Raum finden sich vermehrte Versuche, intersektionale Ansätze mit empirischer Organisationsforschung zusammen zu bringen (vgl. Rodriguez et al. 2016).
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ben sich historisch stets verändert. Mit Verweis auf Castel (2008) heben die Autorinnen für die Gegenwart vor allem die Kluft zwischen unbefristet und in Vollzeit arbeitenden Normalbeschäftigten, prekär Beschäftigten und Erwerbslosen hervor (vgl. auch Nachtwey 2017). Klassismen sind demnach „Herrschaftsverhältnisse, die auf der Grundlage von sozialer Herkunft, Bildung und Beruf deutliche Einkommens- und Reichtumsunterschiede aufrechterhalten“ (Winker/Degele 2009: 44) und wirken in allen gesellschaftlichen Feldern, nicht nur innerhalb der Ökonomie. Charakteristisch für die Legitimation von Klassismen in kapitalistischen Gesellschaften sei darüber hinaus der Rekurs auf die persönlich zurechenbare Leistung. Die Strukturkategorie Geschlecht definieren Winker/Degele mit Verweis auf Butler (2014 [1991]) nicht nur vor dem Hintergrund einer unterstellten Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch im Hinblick auf sexuelle Orientierung (vgl. Winker/Degele 2009: 45). Gleichzeitig verweisen sie auf die weitgehende Zuweisung von Reproduktionsarbeit an Frauen. Entsprechend bezeichnen die Autorinnen Herrschaftsverhältnisse als Heteronormativismen, die auf hierarchischen Geschlechterbeziehungen sowie der unhinterfragten Annahme natürlicher Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit basiere (Winker/Degele 2009: 46). Heterosexuelle Paarbeziehungen stehen vor diesem Hintergrund als Paradebeispiel für eine kostengünstige Erbringung eines Großteils der notwendigen Reproduktionsarbeit innerhalb der Familie. Die Strukturkategorie Rasse schließlich diene der Differenzierung in ‚Wir‘ und ‚Andere‘ (ebd.: 47f). So würden Rassen einerseits durch spezifische, äußerlich wahrnehmbare oder behauptete physiologische Unterschiede sozial konstruiert, andererseits beruhe die Kategorie auf der Marginalisierung bestimmter Gruppen und geographischer Räume, die Winker/Degele als Zentrum-Peripherie-Beziehungen zusammenfassen. Auch hier zeichnen die Autorinnen jüngere historische Verschiebungen nach: Während im fordistischen System rassistische Ausgrenzungen zwischen europäischen Ethnien und Nationalitäten verliefen, sei gegenwärtig das Außen außerhalb der EU verlagert. So werde entlang der ökonomischen Belange zwischen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Migrant*innen mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnis und illegalisierte Migrant*innen unterschieden, letztere hätten allerdings weiterhin eine Funktion im kapitalistischen System, nämlich als gering entlohnte, prekär Beschäftigte etwa in Privathaushalten (vgl. ebd.: 48). Mit Rassismen werden dann auch Herrschaftsverhältnisse bezeichnet, die auf strukturelle Machtasymmetrien zwischen Menschengruppen beruhen, die zu Rassen gemacht würden. Auf diese Weise würden zu ‚den Anderen‘ gemachten Menschen innerhalb eines sozialen Raumes strukturell schlechter gestellt, sowohl durch einen beschränkten
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Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt als auch durch den möglichen Ausschluss aus dem nationalstaatlichen Raum. Im Hinblick auf die von Winker/Degele genannte vierte, hier jedoch nicht berücksichtigte Kategorie des Körpers sprechen die Autorinnen von „bodyismen“, mit denen sie Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschengruppen aufgrund körperlicher Merkmale wie Alter, Attraktivität, Generativität und körperlicher Verfasstheit umschreiben (vgl. Winker/Degele 2009: 51). Zusammengefasst ergibt sich, dass die genannten Kategorien auf der strukturellen Ebene gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen zu einer möglichst kostengünstigen Verwertung der Ware Arbeitskraft beitragen und den Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt steuern. Gesamtgesellschaftliche Ressourcen werden auf diese Weise ungleich verteilt und Reproduktionsarbeit unterschiedlich zugewiesen (vgl. ebd.: 51) – mit weitreichenden Folgen im Bereich der sozialen Teilhabe, des politischen Einflusses und der in Zentrum dieser Arbeit stehenden „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Die Ebene der Identitäten Auf der Ebene der sozial konstruierten Identitäten verankert der MehrebenenAnsatz von Winker/Degele Prozesse und Interaktionen der Herstellung von Identität. In Anlehnung etwa an die Konzepte des doing gender (West/Zimmerman 1987) bzw. doing difference (West/Fenstermaker 1995) seien Identitäten stets Ergebnis sozialen Handelns, zugleich eine interaktive Leistung und routinisiertes Tun (Winker/Degele 2009: 20). Identitätskategorien werden dabei systematisch aufgerufen, sie können aber auch außer Kraft gesetzt werden, wie die Arbeiten Hierschauers (2014) zeigen. Ob Frau bzw. Mann oder deutsch bzw. migrantisch: Es kann in bestimmten Lebens- und Entscheidungssituationen sowohl von Bedeutung sein als auch keine oder eine untergeordnete Rolle spielen. Insgesamt bestimme Identität das Verhältnis zu sich selbst und unterscheide zwischen dem Selbst und dem Anderen (Winker/Degele 2009: 59). Dabei entstehen Identitätskonstruktionen sowohl als Fremd- als auch als Selbstzuschreibung. Einerseits finden Fremdzuschreibungen über Abwertungen anderer, etwa entlang der Kategorien nationalstaatlicher Zugehörigkeit, Ethnizität und Religion, statt, bei der die eigene Identität über die Abgrenzung von Anderen erfolgt – und dabei paradoxerweise stets auf diese angewiesen bleibt (vgl. Hall 2000: 15). Andererseits entstehen Identitätskonstruktionen auch durch Selbstzuschreibung, indem sich eine Person einer Gruppe zuschreibt, sich ihr zugehörig fühlt. Beispielhaft führen Winker/Degele hier die Spaltung zwischen Müttern und Nicht-Müttern sowie zwischen Müttern und Vätern auf dem Arbeitsmarkt an. So sei es zunehmend
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unüblich, dass Frauen angesichts von Kindern ihre Erwerbstätigkeit gänzlich aufgeben, stattdessen verkauften Frauen ihre Entscheidungen als Ergebnis einer freien Wahl und nicht von Zwang (vgl. Winker/Degele 2009: 61). Identitätskonstruktionen wirken sich insofern auch auf die Frage nach „Wahlfreiheit“ aus und stehen im Zusammenhang mit dem Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft und mit der eigenen sozialen Positionierung. Innerhalb kapitalistischer Gesellschaften sichert der Verkauf der eigenen Arbeitskraft die eigene Lebensgrundlage sowie diejenigen weiterer Personen, etwa Kinder oder Partner*innen. Winker/Degele betonen in diesem Kontext allen voran die Verunsicherungen, die vor dem Hintergrund hoher Erwerbslosenquoten, prekären Beschäftigungsbedingungen und der Reduktion wohlfahrtsstaatlicher Ausgleichzahlungen stattfänden (ebd.: 26). In diesem Kontext würden jedoch nicht nur Handlungsmöglichkeiten verwehrt, auch neue entstünden (ebd.: 27). Zusammengefasst erfüllen Identitätskonstruktionen entlang verschiedenster Differenzkategorien nach Winker/Degele also zwei Funktionen: „Erstens […] die Verminderung von Unsicherheiten in der eigenen sozialen Positionierung durch Ab- und Ausgrenzung von Anderen, und zweitens […] die Erhöhung von Sicherheit durch Zusammenschlüsse und eine verstärkte Sorge um sich selbst.“ (Ebd. 2009: 61) Auf diese Weise tragen Individuen selbst zur Aufrechterhaltung eines Differenzierungssystems bei, welches gleichzeitig hegemoniale symbolische Repräsentationen und hierarchisierte Strukturen umfasst (vgl. Winker/ Degele 2009: 62). Eine Festlegung auf eine bestimmte Anzahl von Differenz- bzw. Identitätskategorien schließen die Autorinnen auf dieser Untersuchungsebene vor dem Hintergrund fortschreitender Individualisierungsprozesse prinzipiell aus (ebd.: 59, vgl. auch Klinger 2008: 39). Die Ebene symbolischer Repräsentationen Als dritte Ebene schließlich definieren die Autorinnen symbolische Repräsentationen, womit Normen, Werte, Stereotype und Ideologien gemeint sind, die Gesellschaften als kulturelle Ordnungen und Überzeugungen sinnhaft prägen (vgl. Winker/Degele 2009: 20). Die kapitalistische Logik zeigt sich auf dieser Ebene Winker und Degele zufolge vor allem in Form ideologischer Rechtfertigungen: „[...] denn warum sollten Erwerbstätige trotz geringen individuellen Nutzens und nur minimaler Sicherheit bis zum Umfallen arbeiten?“ (Ebd.: 26). Repräsentationen hätten vor diesem Hintergrund die Aufgabe, Legitimationen und Begründungen für die bestehenden Ungleichheiten entlang von Kategorien auf Grundlage beispielsweise von naturalisierenden und hierarchisierenden Bewertungen
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zu liefern. Symbolische Repräsentationen stützten Herrschaftsverhältnisse und andersherum (ebd.: 54). Als Ideologie bezeichnen die Autorinnen auch das individuelle Leistungsprinzip im Rahmen der Meritokratie, in der Bildung, Beruf und Vermögen scheinbar entlang von Leistung erreicht und bzw. verteilt werden. Die „Herrschaft von Leistung“ (ebd.: 55) spiele gegenwärtig eine besonders große Rolle und wird auch in den Kontext eines gewandelten (nicht nur deutschen) Wohlfahrtsstaates betrachtet: „Gerade heutige neoliberale Entwicklungen betonen immer wieder aufs Neue die Eigenverantwortung eines jeden Individuums. Mit der Abkehr von einem zumindest vom Anspruch her sozialorientierten Wohlfahrtsstaat sind alle gefordert, sich permanent zu verändern, lebenslang zu lernen und sich selbst zu ernähren.“ (Winker/Degele 2009: 54)
Als symbolische Repräsentation im Hinblick auf „Wahlfreiheit“ bezüglich paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit kann beispielsweise das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ von Connell (2005 [1995]: 76) gelten, das Männlichkeit in Industriegesellschaften eng an die Teilhabe von Männern an den Arbeitsmarkt knüpft. In kapitalistischen Gesellschaften fand und findet die soziale Konstruktion von Männlichkeit ihre Entsprechung in der Figur des männlichen Familienernährers. „Eine kontinuierliche Beschäftigung und ein Einkommen, von dem die Familie leben kann, sind weiterhin Anforderungen an eine männliche ‚Normalbiographie‘ in westlichen Wohlfahrtsstaaten“ (Lengersdorf/Meuser 2016: 8). Das Leitbild des männlichen Familienernährers legt Männern also auf Berufstätigkeit und die Erwirtschaftung eines Familienlohnes fest, Sorgearbeiten sieht dieses Leitbild hingegen nicht vor, was die „Wahlfreiheit“ von Männern bzw. Vätern einschränkt. Symbolische Repräsentationen wirken als Normen und Ideologien nach Winker/Degele sowohl struktur- als auch identitätsbildend (vgl. Winker/Degele 2009: 58). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das in dieser Arbeit verfolgte Verständnis von Intersektionalität geht einerseits mit der Anerkennung historisch gewachsener, sozial konstruierter Kategorien und ihrer Wechselwirkungen einher und fokussiert andererseits die Verwobenheit dieser Kategorien mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen im Rahmen kapitalistischer Gesellschaften auf den drei genannten Ebenen. Die Beschreibung intersektionaler Ungleichheiten entlang von Sozialstrukturen, symbolischen Repräsentationen und Identitäten, wie Winker/Degele sie vorschlagen, ist auch für die hier verfolgte Fragestellung gewinnbringend. Allerdings schließt sich dieses Projekt nicht dem methodischen
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Vorgehen der Mehrebenenanalyse an, wie in Kapitel 3 noch erläutert wird. Auf der Makroebene der Sozialstrukturen wird in Anlehnung an Klinger (2008) die Trias aus Geschlecht, Klasse und „Rasse“/Ethnizität als relevante gesellschaftsstrukturierende Prinzipien gesetzt (vgl. Klinger 2008: 40f), prägen diese doch „auf ebenso unterschiedliche wie nachhaltige Weise die Ungleichheitsstruktur nahezu aller Gesellschaften“ (Klinger/Knapp 2007). Auch Winker/Degele beschreiben diese drei Differenzlinien als Instrument ungleicher Ressourcenzuordnungen und damit Verteilung von Lebenschancen (vgl. Winker/Degele 2009: 39). Anders als Winker/Degele vorgeben, werden jedoch Körperverhältnisse bzw. Bodyismen nicht als weitere Strukturkategorie bzw. weiteres Herrschaftsverhältnis berücksichtigt. 17 Wie gezeigt wurde, lässt sich die Ausformung der Trias aus Geschlecht, Klasse und Ethnizität gesellschaftstheoretisch in die Entstehung der europäischen Moderne einbetten. Die (west-)europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert entstanden als „zugleich [Herv. i.O.] moderne, bürgerlich-patriarchale, nationalstaatlich verfasste, in unterschiedlichem Maße ethnisierte, kapitalistische Gesellschaften“ (Klinger/Knapp 2007: 27). Für die Frage nach „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf parallele Erwerbs- und Sorgearbeit wird im Folgenden insofern die Kategorien-Trias Klasse, Geschlecht und Ethnizität im Kontext einer kapitalistisch, androzentristisch und nationalstaatlich verfassten Gesellschaft im Mittelpunkt der Analyse stehen. Dessen institutionalisierte Entsprechungen im gegenwärtigen deutschen Wohlfahrtsregime sind Gegenstand des folgenden Kapitels.
17 Körper sind, wie die Autorinnen selbst sagen, ein sozialwissenschaftlich neues Thema, indem diese als Kulturprodukte betrachtet würden: „In diesem Zusammenhang interessiert weniger die Arbeit mit ‚dem Körper‘, sondern vielmehr die Arbeit an und die Arbeit der Körper – diese müssten [mit Verweis auf Schroer 2005 und Degele/Schmitz 2009, Anmerk.K.M.] ‚employable‘ sein“ (Winker/Degele 2009: 49). Die Strukturkategorie Körper bzw. die Herrschaftsverhältnisse Bodyismen im Kontext von Erwerbsarbeitsgesellschaften zu erforschen, stellt ein eigenständiges wissenschaftliches Unterfangen dar, welches in dieser Arbeit nicht aufgenommen wurde (vgl. zu diesem Unterfangen die Forschungen von Discher/Götsch 2017 sowie Discher/Hartfiel 2017).
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2.2 WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT AUS INTERSEKTIONALER PERSPEKTIVE Bisher gibt es nur wenige ausgearbeitete Theoriebezüge zwischen intersektionalen Ansätzen und Wohlfahrtsstaatenforschung (vgl. Lister et al. 2007, Williams 1995).18 Die existierenden theoretischen Vorarbeiten analysieren, ohne explizit auf den Begriff bzw. die Ansätze von Intersektionalität abzustellen, die Wechselwirkungen von Kategorien und betonen gleichzeitig die Notwendigkeit der Kontextualisierung ihrer Bedeutung: „Although, as a concept, citizenship is typically constructed in abstract, universal terms, the universal nevertheless is interpreted and articulated in specific national social and political contexts, reflecting historical traditions and institutional and cultural complexes.“ (Lister et al. 2007: 1, vgl. auch Williams 1995: 128)
Williams verweist zudem auf die Bedeutung intersektionaler Ungleichheiten für das Ausmaß individueller bzw. gruppenbezogener „Wahlfreiheit“ oder auch Risiken sowie die damit in Verbindung stehenden Möglichkeit, seine eigenen Bedürfnisse im Hinblick auf subjektive Wohlfahrt überhaupt zu artikulieren (ebd. 1995: 128). Das gering beachtete Verhältnis zwischen Wohlfahrtsstaatlichkeit und intersektionalen Ungleichheiten ist überraschend, sind Wohlfahrtsstaaten doch einerseits ein Produkt der genannten gesellschaftstheoretischen und -historischen Bezüge und insofern eng verwoben mit Kapitalismus, Nationalstaatlichkeit und der Trennung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Andererseits sind die in Wohlfahrtsstaaten eingelassenen Erwerbsarbeits-, Migrations- und Geschlechterregimes in jedem Staat spezifisch ausgestaltet und mit ihnen intersektionale Ungleichheiten, weshalb sich die Bedeutsamkeit und Konstitution von Ethnizität, Klasse und Geschlecht in jedem Wohlfahrtsstaat voneinander unterscheiden dürften. Gemeinhin wird die Entstehung der europäischen Wohlfahrtsstaaten vor dem Hintergrund einer notwendig gewordenen Bearbeitung der „sozialen Frage“ gedeutet, die sich vordergründig auf die Lebensumstände der zunehmenden Lohnarbeitenden bezog, also klassenspezifisch gelesen wurde. Wohlfahrtsstaaten ent-
18 Zwar finden sich auch bei Birgit Sauer theoretische Bezüge zwischen Intersektionalität und Staat, dort wo sie eine intersektionale Perspektive explizit macht, wird der Wohlfahrtsstaat jedoch nur am Rande erwähnt (vgl. Sauer 2012). Dort, wo der Wohlfahrtsstaat stärker im Fokus steht, steht eine intersektionale Analyse hinter einer feministischen hinten an (vgl. Sauer 2001: 117f).
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standen, um die Bürger*innen von dem Zwang, die eigene Arbeitskraft als Ware zu verkaufen zu befreien (Esping-Andersen 1990: 105). Andersherum gilt, dass Wohlfahrtsstaaten zwar durch die Gewährung sozialer Rechte soziale Ungleichheiten entschärfen, gleichzeitig aber Konkurrenzen aufrechterhalten und dem Markt bedarfsgerecht Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Esping-Andersen sah den Vorteil von Wohlfahrtsstaaten darin, dass dieser „class conflict into status competition“ (Esping-Andersen 1990: 55) überführe. Statuswettbewerb ist zugleich nur denkbar in marktförmig organisierten, das heißt kapitalistischen Gesellschaften. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung nimmt der Wohlfahrtsstaat insofern eine ambivalente Bedeutung für soziale Ungleichheit ein, ist er zugleich Ursprung sozialer Stratifikationen sowie Akteur ihrer Entschärfung. „The welfare state is not just a mechanism that intervenes in, and possibly corrects, the structure of inequality; it is, in its own right, a system of stratification. It is an active force in the ordering of social relations.“ (Esping-Andersen 1990: 23) Wohlfahrtsstaaten schaffen demnach ein eigenes System der Stratifizierung. Esping-Andersen (1990) entwirft in seiner international vergleichenden Forschung eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten, die sich durch feministische Analysen (vgl. Orloff 1993, Lewis 1992) und die kritische Migrations-, Asyl- und Fluchtforschung mit wohlfahrtsstaatlichen Bezügen (vgl. Mohr 2005, Scherschel 2015, Bommes 1999) ergänzen lässt. Zusammenfassend lassen sich Wohlfahrtsstaaten demnach in ihrem Grad der De-Kommodifizierung, dem wohlfahrtsstaatlichen Arrangement aus (National-)Staat, Markt und Familie und ihrem System der Stratifizierung unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen die Gewährung ziviler, politischer und soziale Rechte, deren Zugang über nationale Staatsbürgerschaft funktioniert (vgl. Marshall 1950). Wie sich dies konkret im deutschen Wohlfahrtsstaat darstellt, der als konservativ-korporatistisches Wohlfahrtssystem klassifiziert wurde (vgl. Esping-Andersen 1990: 27), wird in den folgenden Unterkapiteln Thema sein. Zur Kritik an Esping-Andersens Typologie zählt u.a., dass diese Wandel innerhalb von Wohlfahrtsstaaten nicht systematisch berücksichtige (vgl. Palier/Martin 2008, Lessenich 2005). So verharrt die Einordnung der Wohlfahrtsstaaten auf Analysen des Jahres 1990, berücksichtigte von Anfang an nicht die vergleichsweise jungen kapitalistischen Staaten Osteuropas und Inkohärenzen und Inkonsistenten innerhalb von Wohlfahrtsstaaten geraten erst gar nicht in den Blick. Transformationen sowohl einzelner Politiken als auch ganzer wohlfahrtsstaatlicher Architekturen haben seitdem jedoch stattgefunden und laufen EspingAndersens These der „frozen landscapes“ insbesondere im Hinblick auf die konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaaten zuwider. Sexistische und rassisti-
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sche Widersprüche zwischen den Leitbildern und (Teil-)Logiken eines einzelnen Wohlfahrtsstaates sind zudem offensichtlich nicht nur als ein gegenwärtiges Phänomen im Kontext von Transformationen zu klassifizieren (vgl. Bogedan et al. 2009), sondern lassen sich bereits während des „goldenen Zeitalters“ des deutschen Wohlfahrtsstaates in den 1960er Jahren aufzeigen (vgl. Weckwert 2008). Trotz der angesprochenen Kritik und der Fokussierung auf Klassenverhältnisse in Esping-Andersens Arbeiten, eignet sich sein Analyserahmen nach wie vor für eine differenzierte Betrachtung von Wohlfahrtsstaaten, betrachtete er diese doch erstmals als Regime. Auch Lister et al. greifen den Regime-Begriff auf, um der oben erwähnten Notwendigkeit zur Kontextualisierung von Kategorien, ihren Bedeutungen und Wechselwirkungen, gerecht zu werden (Lister et al. 2007: 2). Der Regime-Begriff mit Bezug auf Wohlfahrtsstaaten nach EspingAndersen umfasst wohlfahrtsstaatliche Leitbilder und Prinzipien, die institutionellen Arrangements zwischen (National-)Staat, Markt und Familie sowie die gesellschaftlichen Kräfte- und Ungleichheitsverhältnisse und bezieht auch die Rolle sozialer Akteure ein (Esping-Andersen 1990: 26, vgl. auch Weckwert 2008: 146). Esping-Andersen leitet die unterschiedlichen Regime aus ihrer historischen Entstehungsgeschichte ab, aus denen sich wiederum Pfadabhängigkeiten für mögliche zukünftige Herausforderungen ergeben. Im Folgenden wird der spezifische Analyserahmen Esping- Andersens genutzt, um neben dem charakteristischen Erwerbsarbeitsregime des deutschen Wohlfahrtsstaates auch das spezifische Geschlechter- und Migrationsregime zu betrachten. Nach Weckwert beinhaltet eine erweiterte Betrachtung von Wohlfahrtsstaaten die systematische Berücksichtigung von „geschlechts- und migrationsbezogenen Exklusionsmechanismen und Ungleichheitsschwellen […], die in die Architektur von Wohlfahrtssystemen […] eingelassen sind“ (Weckwert 2008: 148, vgl. auch Williams 1995: 130). Es kann davon ausgegangen werden, dass diese unterschiedlichen Regime zwar interagieren, aber zugleich eine Eigenlogik aufweisen (Weckwert 2008: 148). Vor diesem Hintergrund lassen sich auch Inkonsistenzen und Inkohärenzen sowie Wandel erfassen. Die Regime finden somit Eingang in unterschiedlichen Optionen der Lebensführung und wirken sich restringierend oder fördernd auf konkrete Handlungsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen aus – auf diese Weise werden sie relevant für die Frage nach „Wahlfreiheit“ zwischen Erwerbsund Sorgearbeit von Menschen mit Fürsorgeverpflichtungen.
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2.2.1 Das deutsche Erwerbsarbeitsregime Nach Esping-Andersen unterscheiden sich Wohlfahrtsstaaten in ihrem Grad der De-Kommodifizierung. Dieser bestimmt den Umfang, in dem der Wohlfahrtsstaat seine Bürger*innen vom Zwang befreit, die eigene Arbeitskraft als Ware im kapitalistischen System zu verkaufen, etwa im Falle von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder im Alter (vgl. Esping-Andersen 1990: 35). Durch die historisch betrachtet schon frühe sozialpolitische Gesetzgebung Bismarcks im Kaiserreich nahm Deutschland bei der Etablierung sozialer Versicherungssysteme eine Vorreiterrolle ein. Der Statuserhalt von Erwerbstätigen spielt(-e) in diesem System sozialer Sicherung eine hervorgehobene Rolle. Dieser ist qua rechtsförmiger Leistungsansprüche Einzelner gegenüber dem Sicherungssystem geknüpft an eine bestimmte Form von Erwerbstätigkeit, nämlich der dauerhaften Vollzeittätigkeit. Der Zugang zu sozialen Rechten organisiert sich entlang der erfolgreichen Teilnahme am Arbeitsmarkt, der dortigen beruflichen Position und dem Erwerbseinkommen. Soziale Stratifizierung ist auf diese Weise eingeschrieben in das System sozialer Sicherung (vgl. Esping-Andersen 1990: 48): Einerseits richtete sich die Sozialversicherung nur an eine begrenzte gesellschaftliche Teilgruppe, zunächst die der Arbeitenden, später auch die der Angestellten (vgl. Schmidt/Ostheim 2007: 134). Andererseits stand im Ergebnis die Aufrechterhaltung verschiedener Berufs- und Statusklassen innerhalb der Erwerbstätigen (vgl. Esping-Andersen 1990: 24), etwa zwischen Arbeiter*innen und Beamt*innen oder zwischen kontinuierlich Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitarbeitenden. Esping-Andersen sieht in dem Prinzip des Statuserhaltes den Erhalt der Loyalität zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Zugleich hält dieses System Konkurrenzen zwischen den Arbeitskräften aufrecht und trägt letztlich so dazu bei, dem kapitalistischen Markt bedarfsgerecht Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Statuswettbewerb – der Begriff des Wettbewerbs suggeriert dies bereits – ist nur denkbar in marktförmig organisierten Gesellschaften, die auf der so genannten „meritokratische[n] Triade“ (Kreckel 2004: 97) von Bildung, Beruf und Einkommen aufbauen. Scheinbar entlang von Geld, Zeugnis und beruflichem Rang lassen sich Gesellschaften in (nationale) Einkommens-, Bildungs- und Berufsschichten einteilen (vgl. Kreckel 2004: 98), auf der auch der deutsche Wohlfahrtsstaat mit seinem Erwerbsarbeitsregime aufbaut. Gemäß dieser „Leistungsideologie“ gilt: „Die Qualifikation eines Individuums soll in eine entsprechende berufliche Position konvertierbar sein, die berufliche Position soll mit einem ihr angemessenen Einkommen ausgestattet sein – so will es die Leistungsideologie [Herv. i.O.]“ (Kreckel 2004: 97). Auf diese Weise werden letztlich die Ungleichheiten von Lebenschancen in einem kapitalistischen System gerechtfertigt.
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Deutlich wird, wie verwoben Wohlfahrtsstaaten mit einer (funktionierenden) kapitalistischen Marktwirtschaft sind, wenn die Einbindung in (kontinuierlicher Vollzeit-)Erwerbstätigkeit die Grundlage sozialer Sicherungssysteme ist. Dies lässt sich auch historisch am deutschen Wohlfahrtsstaat nachzeichnen (vgl. Schmidt/Ostheim 2007, Butterwegge 2006): Ein in den 50er Jahren einsetzendes Wirtschaftswachstum begründete das so genannte „goldene Zeitalter“ des deutschen Wohlfahrtsstaates. Die steigenden Zahlen abhängig Beschäftigter füllten mit ihren Beiträgen die Kassen der Sozialversicherungssysteme. Vor dem Hintergrund eines wachsenden Sozialproduktes und hohen Staatseinnahmen kam es zu einem Ausbau der Sozialversicherungssysteme (Ostheim/Schmidt 2007: 159). „Unzweifelhaft verbesserten [diese] die Absicherung des Einzelnen gegen Risiken infolge von Alter, Krankheit, Invalidität und dergleichen erheblich. Sie halfen, den gesellschaftlichen Frieden [der noch jungen Bundesrepublik] zu sichern und die [durch den zweiten Weltkrieg] Entwurzelten oder ökonomisch ins Abseits Geratenen wieder zu integrieren.“ (Ostheim/Schmidt 2007: 159)
Der deutsche Sozialstaat erhielt seine Prägung als „sozialer Kapitalismus“ (Ostheim/Schmidt 2007: 162) bzw. „soziale Marktwirtschaft“, die mit einer bürgerlichen Gesellschaft einherging und einen immer größeren Bevölkerungsanteil zu Lohnarbeitenden machte (vgl. auch Butterwegge 2006: 38). Die „gesellschaftliche Integration“ durch das Erwerbsarbeitsregime im konservativen Wohlfahrtsstaat, von der hier die Rede ist, war freilich exklusiv-inklusiv. Wie noch gezeigt wird, inkludierte sie nichterwerbstätige Fürsorgeleistende, in überwiegender Anzahl Frauen und Mütter, unzureichend bzw. schloss beispielsweise gastarbeitenden Männer und Frauen aus dem europäischen Ausland aus, die in den 1960er Jahren angeworben wurden und deren Anrechte im System sozialer Sicherung nur zögerliche Anerkennung fanden. Die gesellschaftliche Integration bezog sich insofern primär auf die männlich-autochthone Erwerbsbevölkerung und verstärkte zugleich die Verknüpfung von Erwerbsarbeit und (hegemonialer) Männlichkeit. Historisch lassen sich unterschiedliche Phasen des Auf- und Abbaus des deutschen Wohlfahrtsstaates rekonstruieren, die in Zusammenhang mit ökonomischen Entwicklungen und politischen Machtkonstellationen gebracht werden können (vgl. Butterwegge 2006: 37), an dieser Stelle jedoch nicht in ihren einzelnen Phasen wiedergegeben werden. Festzuhalten bleibt, dass das wohlfahrtsstaatliche Erwerbsarbeitsregime in Deutschland mit seiner Fokussierung auf das Leitbild des so genannten „Normalarbeitsverhältnisses“ über diese Phasen hinweg seine Gültigkeit behalten hat. Die unbefristete, sozialversicherungspflichtige
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Vollzeiterwerbstätigkeit wirkt bis heute als wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte Norm nach und setzt damit eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen der bezahlten Erwerbsarbeit im öffentlichen Leben und der unbezahlten Sorgearbeit im Privaten voraus. Diese Arbeitsteilung wurde jedoch auch migrationspolitisch innerhalb nationaler Wohlfahrtsstaat bearbeitet, etwa durch eine Klasse migrantischer Dienstmädchen (vgl. Lutz 2007). Hinzu kommt nach Weckwert, dass sich die Zugangsbedingungen zum deutschen Arbeitsmarkt und somit die Chancen zur Kommodifizierung sowie die Unabhängigkeit gegenüber dem Markt oder einem männlichen Familienernährer für Frauen und Männer ebenso unterschiedlich gestalten wie für Personen mit unterschiedlicher Nationalität oder aufenthaltsrechtlichem Status (Weckwert 2008: 148). Gleichzeitig hat der wohlfahrtsstaatliche Paradigmenwechsel vom „welfare“ zum „workfare“ mit seiner Zentralsetzung von Erwerbsarbeit sowohl als normalisierte Form individueller Existenzsicherung als auch als Voraussetzung für gesellschaftliche Integration (vgl. Lessenich 2008) das deutsche Erwerbsarbeitsregime in seinen Grundzügen verändert. Neben dem Normalarbeitsverhältnis existieren zunehmend atypische, deregulierte und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die einen gesellschaftlichen Abstieg trotz Erwerbstätigkeit im deutschen Wohlfahrtsstaat nicht mehr unmöglich machen – auch für die männliche, weiße Stammbelegschaft (vgl. Castel/Dörre 2009, jüngst Nachtwey 2017). Insgesamt zeichnet sich ein Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsnormen ab, bei dem das Prinzip der erwerbsarbeitszentrierten Leistungsgerechtigkeit gegenüber dem der Bedarfsgerechtigkeit an Relevanz gewinnt (vgl. Leitner 2017). Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsbedingungen werden vor diesem Hintergrund nicht (mehr) als Versagen des Wohlfahrtsstaates, sondern als individuelles Versagen gedeutet. Soziale Ungleichheiten erscheinen so als legitime Ausschlüsse bzw. Abstiege derjenigen, die dem Leistungsprinzip im Rahmen der meritokratischen Triade von Bildung, Beruf und Einkommen nicht hinreichend entsprechen können oder wollen (Aulenbacher et al. 2017: 14). Das deutsche Erwerbsarbeitsregime hat sich insbesondere seit den HartzReformen Anfang der 2000er Jahre gewandelt. Grundlage der Veränderungen arbeitsmarktpolitischer Regelungen ist das Aktivierungsparadigma, welches Bürger*innen nach ökonomischen Prinzipien und im Sinne des Adult WorkerModells für den Arbeitsmarkt „aktiviert“. Danach soll jede*r Erwerbsfähige auch (möglichst voll) erwerbstätig sein, unabhängig seiner*ihrer Fürsorgeverpflichtungen oder sozialen (kategorialen) Positionierungen (vgl. kritisch Pühl 2004: 41). Seine arbeitsmarktpolitische Umsetzung fand das Paradigma u.a. in der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in Arbeitslosengeld II bzw. Hartz IV. Zuvor folgten Arbeitslosengeld und Sozialhilfe unterschiedlichen
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Logiken (vgl. Knuth 2006: 161). Nach der Gewährung eines lohnäquivalenten Arbeitslosengeldes I greift bereits nach (zumeist) einem Jahr Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld II mit einem niedrigen, lohnunabhängigen Regelsatz. Verbunden sind mit beiden Transferleistungen die nachzuweisende aktive Arbeitssuche, bei Arbeitslosengeld II auch unabhängig der eigenen beruflichen Qualifikation. In der Folge steht die auch eigenverantwortliche Aktivierung für den Arbeitsmarkt für jegliche Art von Erwerbsarbeit. Für die Frage nach „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern hinsichtlich der Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit im Lebensverlauf ist dies von Bedeutung. Denn einerseits steht offensichtlich nicht allen Erwerbsfähigen der Zugang zum (regulären) deutschen Arbeitsmarkt und damit zu einem Normalarbeitsverhältnis offen und andererseits unterscheidet das Erwerbsarbeitsregime in Deutschland zwischen den verschiedenen Statusgruppen entlang von Bildung, Beruf und Einkommen, von denen viele dem Normalarbeitsverhältnis nicht mehr entsprechen bzw. dies niemals konnten. Das vorliegende Dissertationsprojekt fragt daher, wie sich „Wahlfreiheit“ für Mütter und Väter im Lebensverlauf gestaltet, die vor dem Hintergrund von Bildung, Beruf und Einkommen unterschiedlich in das deutsche Erwerbsarbeitsregime integriert sind. 2.2.2 Das deutsche Geschlechterregime Lister et al. verstehen unter Geschlechterregimen das Zusammenwirken von Kultur, Institutionen, Machtverhältnissen und sozialen Praktiken, die bezahlte mit unbezahlter Arbeit verknüpfen, Sozialleistungen an Individuen bzw. Haushalte begründen und Zeitverteilungen sowohl zwischen Männer und Frauen als auch zwischen Haushalten und Erwerbstätigkeit lenken bzw. legitimieren (Lister et al. 2007: 3). Die feministische vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung ist früh auf die geschlechtsspezifischen Auslassungen von Esping-Andersens Typologie eingegangen, die durch ihren Fokus auf De-Kommodizifierung von Erwerbstätigen durch wohlfahrtsstaatliche Politiken implizit auf männliche Lebenskonzepte abstellt (vgl. u.a. Orloff 1993: 308). 19 So verfügen Frauen beispielsweise nicht über den gleichen Zugang zu zivilen, politischen und sozialen Rechten im Wohlfahrtsstaat wie Männer, da „Relations of domination based on
19 Vor dem Hintergrund feministischer Kritik erweiterte Esping-Andersen seine international vergleichende Typologie von Wohlfahrtsstaaten um die Unterscheidung zwischen familialistischen und de-familialisierenden Wohlfahrtsregimen (EspingAndersen 1999: 51, siehe auch Korpi 2000, Crompton 2006).
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control of women’s bodies in the family, the workplace, and public spaces undermine women’s abilities to participate as ,independent individuals‘ – citizens – in the polity“ (Orloff 1993: 309). Feministische Wohlfahrtsstaatsforscher*innen arbeiteten heraus, dass jedem Wohlfahrtsstaat vielmehr ein institutionelles Arrangement von (National-)Staat, Markt und Familie unterliege (Orloff 1993: 312), auf dem die Sozialsysteme und Erwerbsarbeitsregime aufbauen. So seien es Frauen innerhalb der privaten Familiensphäre, die wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungen unentgeltlich jenseits des Staates oder des Marktes erbrachten, indem sie Kinder großzögen und Kranke oder Alte pflegten (Orloff 1993: 313). Zudem sichern sie qua Haus- und Erziehungsarbeit die Reproduktion der (männlichen) Arbeitskräfte. Dank dieser Arbeitsteilung waren bzw. sind Männer überhaupt erst in der Lage, Vollzeit erwerbstätig zu sein. Demgegenüber tragen Wohlfahrtsstaaten zur sozialen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern bei. So leitet sich soziale Sicherung in erster Linie aus der bezahlten Erwerbstätigkeit ab. Der Ehe- oder Familienstatus als zweiter Strang der sozialen Sicherung in Wohlfahrtsstaaten besteht dagegen nur aus abgeleiteten und in der Regel deutlich geringeren Sozialversicherungsleistungen (Orloff 1993: 314). Frauen bzw. Mütter verfügen vor diesem Hintergrund bis heute über eine schlechtere soziale Sicherung als Männer und waren bzw. sind etwa auf eine bestehende Ehe angewiesen. Feministische Wohlfahrtsstaatsforscher*innen forderten daher eine eigenständige sozialpolitische Sicherung von Familienarbeitenden: Knijn und Kremer formulierten das „right to care“, also dem wohlfahrtsstaatlich abzusichernden Recht, gepflegt zu werden sowie dem Recht, Zeit für pflege zu erübrigen (Knijn/Kremer 1997: 334). Darüber hinaus müssten Wohlfahrtsstaaten Frauen als Erwerbstätige zunächst einmal anerkennen und entsprechende Unterstützungsstrukturen schaffen. Neben dem formulierten Recht auf Familienarbeit qua De-Kommodifizierung folgte die Forderung nach Entlastung von der Familienarbeit qua Kommodifizierung. Forscherinnen machten darauf aufmerksam, dass Frauen in einem ersten Schritt kommodifiziert, d.h. ihnen zunächst die Möglichkeit eingeräumt werden müsste, ihre Arbeitskraft überhaupt zu verkaufen (Orloff 1993: 317, vgl. auch Hobson 1990). Dafür sei es notwendig, Frauen von Familienarbeit freizustellen. McLaughin und Glendinning prägten dafür – in Anlehnung an De-Kommodifizierung als Freistellung vom Markt – den Begriff der Defamilialisierung. Dieser ist definiert als „the terms and conditions under which people engage in families, and the extent to which they can uphold an acceptable standard of living independent of (patriarchal) ,family‘ participation“ (McLaughin/Glendinning 1994: 65). Lewis brachte diesen Anspruch auf die knappe Formel „right not to care“ (Lewis 1997; 173), das ebenfalls wohlfahrtsstaatlich zu garantieren sei, etwa in-
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dem der Staat die Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit unterstütze (Orloff 1993: 317). Neben der beschriebenen geschlechtsspezifischen Ungleichverteilung hinsichtlich der (De-)Kommodifizierung sowie einer impliziten Arbeitsteilung zwischen privater, unbezahlter Familienarbeit und öffentlicher, bezahlter Erwerbsarbeit hat Jane Lewis das Leitbild des männlichen Familienernährers als weiteres Charakteristikum der Geschlechterregimes in den westlichen Wohlfahrtsstaaten etabliert. Auf diesem bauen im Prinzip alle Wohlfahrtsstaaten gleichermaßen auf, es sei innerhalb dieser aber unterschiedlich stark ausgeprägt (Lewis 1992: 162). „In its pure form we would expect to find married women excluded from the labour market, firmly subordinated to their husbands for the purpose of social security entitlements and tax, and expected to undertake the work of caring (for children and other dependants) at home without public support.“ (Ebd.: 162)
Das Leitbild des männlichen Familienernährers ist bis heute ein „Grundpfeiler der Geschlechterungleichheit im modernen Wohlfahrtsstaat“ (Leitner et al. 2004: 9) und fand in besonderer Weise im deutschen konservativen Wohlfahrtsstaat seine Entsprechung. So sahen die Geschlechter- und Familienleitbilder der 50er und 60er Jahre in der (westdeutschen) Bundesrepublik als Ideal die nicht-erwerbstätige Hausfrau und bürgerliche Familie in der Ehe eines heterosexuellen Paares als dessen Grundpfeiler vor. Die Erbringung von Kinderbetreuung oder auch Pflege von älteren Menschen war außerhalb der Familie oder des Häuslichen nicht vorgesehen. Eine Infrastruktur aus sozialen Diensten oder Pflege- und Betreuungsinstitutionen existierte nicht, da diese Arbeiten mehrheitlich unentgeltlich von (Ehe-)Frauen geleistet wurden. Im Gegenzug wurden Ehepaare bzw. Ehefrauen mit Kinder durch sozialpolitische Instrumente wie das Ehegattensplitting, die kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern in der Krankenund Pflegeversicherung oder der Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung auf spezifische Art und Weise adressiert und gefördert. Allerdings war bzw. ist das männliche Familienernährermodell ein klassenspezifisches Lebens- und Geschlechtermodell, das der jeweiligen autochthonen Bevölkerung vorbehalten war (Williams 1995: 134) und mit der Notwendigkeit eines ausreichend hohen Familienlohnes einherging, den vor allem (migrantische) Arbeiter der unteren Arbeiterklasse selten erwirtschafteten (vgl. Laslett/ Brenner 1989: 390). Der Familienlohn kann insofern nicht nur als wirkmächtige Normierung einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung gefasst werden (vgl. Gottschall/Schröder 2013), sondern muss vor dem Hintergrund seiner histori-
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schen Entwicklung intersektional eingebettet werden. Frauen bzw. Mütter aus der Arbeiterklasse waren aufgrund materieller Armut schon immer zu Erwerbstätigkeit gezwungen, wohingegen gehobene Schichten anfallende Haus- und Sorgearbeiten über haushaltsnahe Dienstleistungen und private Kinderbetreuungsformen zu kompensieren wussten – bis heute auch als Distinktionsstrategie interpretierbar (vgl. Koppetsch 2013: 7). Dennoch galt: Wie wenig Männer in der Arbeiter*innenklasse auch verdienten, Frauen derselben Klasse verdienten und verdienen noch immer weniger. Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo der sogenannte Gender Pay Gap bis heute besonders ausgeprägt ist (vgl. BMFSFJ 2016: 66). Darüber hinaus wurden ausländische Gastarbeiter*innen mit Kind(-ern) während der Anwerbephase in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren aktiv für Vollzeitstellen in der Industrie angeworben, um dem wohlfahrtsstaatlichen Bedarf an Arbeitskräften zu decken (vgl. Weckwert 2008: 24). Zwar stand dies in offensichtlicher Widersprüchlichkeit zu den familien- und geschlechterpolitischen Leitbildern der damaligen Bundesrepublik Deutschland, die in den 1960er Jahren für deutsche Frauen maximal eine Teilzeitbeschäftigung vorsahen. Die Vollzeiterwerbstätigkeit ausländischer Migrant*innen mit Kindern aus materieller Not heraus galt jedoch als legitim. Widersprüche wurden schlichtweg ausgeblendet. „Die parallele Rekrutierung von deutschen Frauen auf Teilzeit- und von Migrantinnen auf Vollzeitbasis ermöglichte es, das Angebot an weiblichen Arbeitskräften zu erweitern, ohne das auf die deutsche Bevölkerung bezogene Ernährermodell und die geschlechtlichte Segregation des Arbeitsmarktes zu gefährden.“ (Weckwert 2008: 156)
Zu dem gleichen Fazit kommt auch Williams (vgl. Williams 1995: 135). Hinzu kommt: In der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik war die Vollzeiterwerbstätigkeit von Frauen und Müttern bei gleichzeitiger Bereitstellung einer staatlichen Kinderbetreuungsinfrastruktur eine Selbstverständlichkeit (vgl. Nickel 1998). Doch die aufgezeigten klassen- bzw. milieuspezifischen Unterschiede mit Hinblick auf die weibliche Erwerbstätigkeit gehen nicht einher mit einer egalitäre(-re-)n Aufteilung von Haus- und Sorgearbeit innerhalb von Partnerschaften zwischen Frauen und Männern. Klassenübergreifend und unabhängig des Erwerbsumfangs bzw. der beruflichen Position im Erwerbsarbeitsregime übernehmen noch immer Frauen mehrheitlich die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit (vgl. Wimbauer 2010, Koppetsch/Burkart 2008), insbesondere nach der Familiengründung. Dieser Befund gilt auch für die damaligen Paare in der ehemaligen DDR, wo Frauen trotz ihrer Erwerbstätigkeit und der Normalität eines Zweiver-
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diener*innenmodells den Großteil der Haus- und Sorgearbeit leisteten (vgl. Klenner 1990: 867). Brüche im traditionellen Geschlechtermodell zeigen sich gegenwärtig am ehesten in prekären Lebens- und Paarkonstellationen im Arbeitermilieu, wie beispielsweise die Forschung zu Familienernährerinnen zeigen (vgl. Koppetsch/Speck 201520, Klenner et al. 2012, Klammer et al. 2012). Die Erwerbsbeteiligung von (Ehe-)Frauen stieg in Deutschland wie in den meisten westlichen Industrieländern seit den 1960er Jahren stetig an – zunächst als Zuverdienst zum Familieneinkommen, zunehmend aber auch als substanziell notwendiges zweites Einkommen im Haushaltskontext (vgl. Leitner et al. 2004: 12). Die Bedeutung von Teilzeiterwerbsarbeit ist für Frauen dabei jedoch anhaltend hoch und zumeist problematisch, da sie nicht zu einer eigenständigen Existenzsicherung im Risikofall wie Arbeitslosigkeit, Alter, Pflegebedürftigkeit führe (ebd. 2004: 14). Im Hinblick auf Teilzeit lohnt sich jedoch ein differenzierter (-er) Blick: Während einige Frauen dank einer hohen beruflichen Qualifikation bzw. einem hohen beruflichen Status auch mit einer Teilzeitstelle ihre Existenz eigenständig sichern können, bedeutet Teilzeit für andere Frauen ein niedriges Einkommen und/oder fehlende soziale Absicherung, etwa im Rahmen von Minijobs. Je nach Umfang der Teilzeit, ihrer Dauer im Lebensverlauf sowie ihrer Einbettung in die Erwerbsbiographie kann Teilzeit insofern unterschiedliches bedeuten. Was sich für Frauen im beschränkten Zugang zur beruflichen Sphäre zeigt, spiegelt sich für Männer bzw. Väter im begrenzten Zugang zur familiären Sphäre bzw. Sorgearbeit wider, etwa durch Hürden und Hindernisse bei der Inanspruchnahme von Elterngeldmonaten bzw. Elternzeit (Pfahl et al. 2014, Schutter/Zerle-Elsässer 2012). Studien weisen hier für die Nichtinanspruchnahme von Elternzeit durch Väter in erster Linie finanzielle Gründe und/oder betriebliche Hürden aus, schließen also ein traditionelles Familienbild als Hauptursache explizit aus (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung 2009; Trappe 2013). Auffällig ist zudem, dass überproportional viele Väter mit akademischen Bildungshintergrund die Elterngeldmonate in Anspruch nehmen – vorausgesetzt deren Partnerin verfügt ebenfalls über einen hohen Bildungsabschluss (vgl. Schutter/Zerle-Elsäßer 2012: 219f, auch Martinek 2010). Diese Befunde lassen sich auch wohlfahrtsstaatlich rahmen, denn die gegenwärtige und zwischenzeitlich stark transformierte Familienpolitik in Deutschland ist widersprüchlich. So fördert die sozialpolitische Gesetzgebung einerseits über
20 Erwähnenswert ist, dass die hier erwähnte Milieuforschung die unterschiedlichen Geschlechterleitbilder und Geschlechterverhältnisse als konstitutiv für die Definition und Abgrenzung unterschiedlicher Milieus begreifen (Koppetsch/Speck 2015).
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das Ehegattensplitting sowie die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartner*innen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung bis heute eine ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit innerhalb der Ehe. Leitner spricht in diesem Zusammenhang vom „ehezentrierten Familialismus“ (Leitner 2003: 159). Andererseits fordern sowohl das reformierte Scheidungsrecht als auch das Rentenrecht in Form der Hinterbliebenenrente die eigenständige Existenzsicherung von Ehepartner*innen mit Kindern (ab drei Jahren) im Falle von Scheidung oder Tod des*r Partner*in. 21 Die vormalige arbeitsmarktpolitische Leitfigur des männlichen Familienernährers im Ehekontext gehört im gewandelten deutschen Wohlfahrtsstaat scheinbar der Vergangenheit an. Vielmehr sind nun mit dem Adult Worker-Modells alle Erwachsenen unabhängig von Sorgeverpflichtungen aufgefordert, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbsarbeit zu bestreiten. Entsprechend wurden politisch Maßnahmen für eine familiengerechtere Gestaltung von Erwerbsarbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft gefördert, die allerdings nicht alle Beschäftigten gleichermaßen erreichen, wie sich noch zeigen wird (vgl. Weßler-Poßberg 2013). Die sozialpolitische Förderung eines väterlichen Engagements in der Sorgearbeit wird demgegenüber nur zögerlich gefördert bzw. gefordert. Für Frauen sei der wohlfahrtsstaatliche Wandel in Richtung „workfare“ statt „welfare“ insofern insgesamt folgenreicher als für Männer, so Lewis (Lewis 2004: 63). Allerdings bleibt das Aktivierungsparadigma klassenspezifisch gebrochen, Knuth spricht vielmehr von der „Aufkündigung des deutschen Ernährermodells ‚von unten‘“ (Knuth 2006: 164): „Gerade diejenigen, die ihm am tiefsten verhaftet sind – z.B. aus dem Ausland nachgezogene nicht erwerbstätige Ehefrauen ohne berufliche Qualifikationen und ohne Sprachkenntnisse – sollen dieses Modell nun nicht mehr praktizieren dürfen, während die [autochthon-deutschen, Anmerk.K.M.] Gattinnen von Führungskräften bequem vom Splittingvorteil leben können oder zumindest könnten. Gleichzeitig aber – darin liegt die Widersprüchlichkeit – werden langzeitarbeitslose Frauen, deren Ehemänner erwerbstätig sind, durch engere Grenzen bei der Bedürftigkeitsprüfung von deren Einkommen abhängiger gemacht als bisher, und durch fehlende Rentenbeiträge bei fehlendem Leistungsanspruch auch abgängig von abgeleiteter Alterssicherung. ‚Hartz IV‘ hat den Männern etwas genommen, ohne den Frauen etwas zu geben.“ (Ebd.: 164)
21 So erhält zum Beispiel ein*e Ehepartner*in, die nach 2001 geheiratet hat bzw. die Eheleute nach 1961 geboren sind, in den meisten Fällen nur die sogenannte „kleine Witwenrente“, die lediglich 24 Monate an den*die Hinterbliebene*n ausgezahlt wird.
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Wenngleich das Zitat eine stereotypisierende Perspektive wiedergibt, nämlich die Darstellung vermeintlich „nicht qualifizierter“ und „nicht berufstätiger“, aus dem Ausland nachgezogenen Ehefrauen ausländischer Gastarbeiter*innen,22 so stimmt doch die Analyse, dass das vormals im deutschen Erwerbsarbeitsregime institutionalisierte Modell des männlichen Ernährermodells nun (auch) keine Geltung mehr für die autochthon-deutschen Frauen hat. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das deutsche Geschlechterregime auch im transformierten Wohlfahrtsstaat ambivalent ist bzw. bleibt und dabei bestehende Differenzen erhält und neue hervorruft. Im Ergebnis sind widersprüchliche Anreize für die unterschiedlichen Adressat*innen von Familienpolitik im gegenwärtigen deutschen Geschlechterregime zu verzeichnen (vgl. Menke 2016, BMFSFJ 2011, Klammer/Klenner 2004). Die Frage nach „Wahlfreiheit“ stellt sich hinsichtlich der Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit also nicht nur für Frauen und Männern grundlegend unterschiedlich, sondern auch für Mütter und Väter je nach Position im Erwerbsarbeitsregime anders. Das vorliegende Dissertationsprojekt fragt daher, wie sich „Wahlfreiheit“ im gegenwärtigen deutschen Geschlechterregime für erwerbstätige Mütter und Väter darstellt, die im Anschluss an die Familiengründung verschiedene Phasen von Erwerbs- und Sorgearbeit durchlaufen (haben). Ein vollständiges Bild ergibt sich jedoch erst, wenn Mütter und Väter auch im Hinblick auf einen eventuellen Migrationshintergrund berücksichtigt werden, wie das folgende Unterkapitel zum deutschen Migrationsregime zeigt. 2.2.3 Das deutsche Migrationsregime Nach den geschlechtsspezifischen Erweiterungen des wohlfahrtsstaatlichen Regimebegriffs nach Esping-Andersen sind diese auch im Hinblick auf Ethnizität und Nationalität notwendig, basieren die post-fordistischen Wohlfahrtsstaaten nicht nur auf einer geschlechtsspezifischen, sondern auch auf einer internationalen, globalisierten Arbeitsteilung (Williams 1995: 130). Darüber hinaus spielt nicht nur die Frage des Geschlechts und der unbezahlten Sorgearbeit eine Rolle für die Frage der (De-)Kommodifizierung und des Zugangs zu sozialen Rechten im Wohlfahrtsstaat, sondern auch das Zusammenspiel aus Nationalität, Ethnizität und Staatsbürgerschaft (vgl. Williams 1995: 132). Entsprechend umreißen Lister et al. den Begriff des Migrationsregimes wie folgt: „It captures the combinations of formal/legal rules and political/cultural practices that govern the terms
22 Das Gegenteil ist häufig der Fall (vgl. Mattes 2005, Weckwert 2008)
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of entry to nation state citizenship for migrants“ (Lister et al. 2007: 4). Mit Verweis auf Williams gehen Migrationsregime darüber hinaus mit alltäglichen Erfahrungen von „racialisation and multiculturalism“ (Williams 1995: 132) einher. Nach Esping-Andersen und in Anlehnung an Thomas Marshall (1950) ist Grundlage eines jeden Wohlfahrtsstaates die Idee des „social citizenship“ (EspingAndersen 1990: 21), also der Staatsbürgerschaft als vollwertige Mitgliedschaft zu einer Gemeinschaft, die zivile, politische und soziale Rechte wie Pflichten ebenso zusichert wie ein Mindestmaß an sozialer Absicherung. 23 Zwar sei die Idee der Staatsbürgerschaft nach Yuval-Davis in hohem Maße integrativ, innerhalb von Nationalstaaten gehe sie dennoch mit Ausschließungen einher: „Der Idee nach kann jeder Mensch – gleich welcher Herkunft oder welcher Kultur – Mitglied des Staates werden. In der Praxis allerdings hängt diese Mitgliedschaft nicht nur von den sozioökonomischen Mitteln derjenigen ab, die sie beantragen wollen, sondern auch von einer Unzahl von Regeln und Vorschriften zu Immigration und Einbürgerung. Faktisch ist die Staatsbürgerschaft für manche Menschen leichter als für andere zu erringen.“ (Yuval-Davis 2001: 45)
Nationale Staatsangehörigkeit ist also eine Leitidee des Wohlfahrtsstaates, die gerade aufgrund ihres integrativen und Rechte zusichernden Charakters mit Exklusion und Differenz einhergehen muss.24 Wie es im Zitat von Yuval-Davis bereits anklingt, sind die Voraussetzungen für Migration ungleich verteilt. Wanderung und Migration setzten zur Überwindung politischer Migrationsschwellen ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital voraus. Ohne Zugang zu Geld, relevantem Wissen, familiären oder ethnischen Netzwerken im Zielland und/oder Organisationen, die legale oder illegale Transportmöglichkeiten und Arbeitsmöglichkeiten vermitteln, wäre Migration nicht möglich. Auf diese Wei-
23 Auch wenn Staatsbürgerschaft bei Esping-Andersen Relevanz für die Frage sozialer Stratifikation besitzt, formuliert er Staatsbürgerschaft nicht als nationale aus. Er schreibt: „The concept of social citizenship also involves social stratification: one’s status as a citizen will compete with, or even replace, one’s class position“ (EspingAndersen 1990: 21). 24 Zwar sind viele Freiheitsrechte als Grund- und Menschenrechte formuliert, doch letztlich sind es Staaten, die als Mitglieder internationaler Körperschaften die internationalen Rechtskodizes durchsetzen (vgl. Yuval-Davis 2001: 127).
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se würden Migrationsbedingungen „kommodifiziert“ (vgl. Bommes 1999: 189).25 Wohlfahrtsstaatliche Migrationsregime kontrollieren und begrenzen Zuwanderung und wirken insofern als Ungleichheitsmechanismus nach außen: „Ohne legalen Aufenthalt auf dem Territorium von nationalen Wohlfahrtsstaaten gibt es kein Recht auf soziale Gleichheit“ (Bommes 1999: 143). Nationalstaatliche Stratifikationen beruhen auf klaren Unterscheidungen zwischen einzelnen Zuwanderungsgruppen, die im Falle Deutschlands auf die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes mit der Unterscheidung in EU-Bürger*innen und Nicht-EUBürger*innen sowie die selektive Anwerbung qualifizierter Migrant*innen verweisen. Das deutsche Migrationsregime unterscheidet verschiedene aufenthaltsrechtliche Statuspositionen von Migrant*innen, aus denen sich unterschiedliche soziale Rechte und Ansprüche sowie Optionen auf (Re-)Kommodifizierung ergeben. Scherschel unterscheidet in Anlehnung an die aufenthaltsrechtlichen Statuspositionen der Migrant*innen fünf Hauptgruppen (Scherschel 2010: 243f). Dazu zählen als erste Gruppe die so genannten Spätaussiedler*innen, die mit dem Zugang zur Staatsbürgerschaft alle Bürgerrechte besitzen. So erfuhren Spätaussiedler*innen in Deutschland den vollen Einbezug in die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme (Bommes 1999: 177), obgleich diese Migrantenbiographien den wohlfahrtsstaatlich institutionalisierten Normalerwartungen – etwa kontinuierliche Vollzeiterwerbstätigkeit – nicht entsprachen (ebd.: 178). Auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten geht Bommes an diesen Stellen jedoch nicht ein. Diese Gruppe mache deutlich, dass der nationale Wohlfahrtsstaat nicht für jede Form der Zuwanderung Ungleichheitsschwellen aufbaue, vorausgesetzt diese werden als national oder ethnisch zugehörig definiert (ebd.: 177). Hier zeigt sich das bereits beschriebene deutsche Prinzip der vermeintlich gemeinsamen Abstammung („ius sanguinis“ oder Recht des Blutes), welches sowohl den Zugang zur nationalen Staatsbürgerschaft als auch zum wohlfahrtsstaatlichen System reglementiert. Als zweite Gruppe benennt Scherschel die Zuwander*innen mit gesichertem Aufenthaltsstatus, etwa Bürger*innen anderer EU-Staaten, lange ansässige Arbeitsmigrant*innen und anerkannte Geflüchtetelinge, die in die Systeme sozialer Sicherung integriert sind. Dennoch gab es immer wieder staatliche Willkür ge-
25 Bommes stellt fest: „Exklusionen im Gefolge von Bürgerkriegen und Vertreibungen führen in die Wälder und Flüchtlingslager. Nur die besser Ausgestatteten verfügen dann noch über Beziehungen und Geldmittel, die ihnen Leistungen von Organisationen zugänglich machen und damit Migration in dem genannten Sinne erlauben“ (Bommes 1999: 189).
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genüber diesen Migrant*innen, die eng verschränkt war und ist mit intersektionaler sozialer Ungleichheit. So rekrutierte (nicht nur) die damalige Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg im großen Umfang Gastarbeitende in ärmeren (europäischen) Staaten aufgrund fehlender autochthoner Arbeitskräfte, um später ein Anwerbestopp zu verhängen. Auf diese Weise wurden unter wohlfahrtsstaatlichen Prämissen die Prozesse der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration reguliert. Gleichzeitig verweigerte sich die Bundesrepublik lange Zeit gegenüber den erworbenen Rechten und sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen der Migrant*innen, deren Erzeugung der deutsche Wohlfahrtsstaat aus nationalen Interessen selbst in Gang gesetzt hatte (Bommes 1999: 183, vgl. auch Williams 1995: 139). Stattdessen sei eine Exklusion für Ausländer*innen in den Bereichen von Ökonomie, Recht, Bildung und Familie betrieben worden (Bommes 1999: 186). Für diese schrittweise Einebnung der Differenz zwischen Staatsbürger*innen und rechtmäßig auf dem Territorium des Staats befindliche Ausländer*innen mit Blick auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen haben Hammar (1989) und Brubaker (1989) den Begriff des „denizen“ als besondere Form der Staatsbürgerschaft etabliert (vgl. Bommes 1999: 187, Weckwert 2008: 147). Aus diesem Prozess des unbeabsichtigten Zugangs von Arbeitsmigrant*innen in den Status von „denizens“ ist nach Bommes eine enge Verknüpfung von Migrationsund Wohlfahrtsregime entstanden, die eine Wiederholung eines solchen politisch unkontrollierten Hineinwachsens der Zuwandernden in Rechtsansprüche verhindern und „damit die Wirksamkeit des Wohlfahrtsstaates als Ungleichheitsschwelle nach außen wieder herstellen“ (Bommes 1999: 188) sollte. Auch vor diesem historischen Hintergrund muss das gegenwärtige deutsche Migrationsregime verstanden werden. Zur dritten Gruppe zählt Scherschel nachziehende Familienangehörige sowie Arbeitsmigrant*innen, die wiederum in Hochqualifizierte sowie auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt nachgefragte Arbeitskräfte und in temporäre Arbeitsmigrant*innen mit an ein bestimmtes Arbeitsverhältnis gebundenen Aufenthalt unterschieden werden können. Hinsichtlich nachziehender Familienangehörige setzt das deutsche Migrationsregime voraus, dass ihr Unterhalt aus dem Einkommen der bereits in Deutschland lebenden Person(-en) bestritten werden kann und genügend Wohnraum zur Verfügung steht (Bommes 1999: 190). Nach Flucht- und Arbeitsmigration stellt Familienmigration die quantitativ bedeutendste Form von Migration dar (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 8). Auch Familienmigration entzieht sich im gegenwärtigen deutschen Migrationsregime nicht der wohlfahrtsstaatlichen Kontrollfunktion. Zwar genießen Familien einen besonderen rechtlichen Schutz, allerdings schränkte die Bundesregierung Anfang 2016 angesichts gestiegener Geflüchtetenzahlen im
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Jahr 2015 die Möglichkeiten zum Familiennachzug ein.26 Aus diesen Wanderungen entstünden transnationale Inklusionsstrukturen, die tendenziell zu einer Entwertung des wohlfahrtsstaatlichen Bezugsrahmens führen, etwa indem solche Netzwerke schwache Ansprüche auf Leistungen des Wohlfahrtsstaates kompensierten (Bommes 1999: 192). In der Familienmigration verschränken sich erneut Migrations- und Geschlechterregime, da die Eheschließung als heteronormatives Konstrukt die Möglichkeit zur Berufung auf das Recht des Schutzes der Familie begründet (vgl. Bommes 1999: 190). Im Falle von Arbeitsmigrant*innen erhalten vor allem Fragen der Anerkennung von Bildungsabschlüssen Relevanz, die gerade im deutschen Erwerbsarbeitsregime die tatsächlichen Arbeitsmarktchancen wesentlich beeinflussen (vgl. Nohl et a. 2010, Sommer 2015). Auch gegenwärtig soll mit Hilfe regulierter Arbeitsmigration im deutschen Migrationsregime den strukturellen Problemen von Wohlfahrtsstaaten entgegengetreten werden, etwa dem demografischen Wandel sowie dem Fachkräftemangel in Deutschland. Die (gesteuerte) Neuzuwanderung von Hochqualifizierten gehe mit einer rechtlichen Privilegierung dieser Migrant*innengruppe einher, stehe jedoch im Widerspruch zu dem realen Arbeitskräftebedarf, der sich auch im Niedriglohnbereich sowie im Privathaushalt stelle und im Zusammenhang mit dem deutschen Geschlechterregime gesehen werden müsse (vgl. Weckwert 2008: 159). Der deutsche Wohlfahrtsstaat begegnete diesen Anforderungen vor der EU-Osterweiterung 2004 bzw. 2007 mit bilateralen Vereinbarungen und Sonderbestimmungen, die gezielt in Arbeitsverhältnisse des Niedriglohnbereiches vermitteln und schlechte Arbeitsbedingungen sowie faktische Rechtlosigkeit im Aufnahmeland zur Folge hatten (vgl. Lepperhoff 2005). Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, etwa Geflüchtete, stellen nach Scherschel die vierte Gruppe dar, entlang derer das deutsche Migrationsregime Differenz konstruiert. Seit der weltweiten Zunahme von Asylbewerbenden und Geflüchteten haben die europäischen Wohlfahrtsstaaten, so auch Deutschland, die Bedingungen für Anerkennung als solche kontinuierlich erschwert, u.a. durch die europäische Harmonisierung der Asylpolitik und der Einführung einer Kategorie sicherer Drittstaaten (vgl. Bommes 1999: 188). Als fünfte Gruppe fügt Scherschel die Illegalisierten hinzu (vgl. Scherschel 2010: 244), die als unmittelbare Folge der nationalen Migrationsregimes zu se-
26 Seitdem gilt: Für subsidiär Schutzberechtigte mit einer erteilten Aufenthaltserlaubnis nach Mitte März 2016 ist der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt (Härtefälle ausgenommen). Asylberechtigte, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, haben weiterhin das Recht auf Familiennachzug (vgl. Bundesministerium für Migration und Flucht 2017).
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hen sind. Denn illegalisierte Migrant*innen leisten durchaus ihren Beitrag zum wohlfahrtsstaatlichen Funktionieren, beispielsweise indem sie das institutionelle Arrangement aus deutschem Nationalstaat, Markt und Familie inklusive seinen geschlechtsspezifischen Dimensionen aufrechterhalten. „In verschiedenen Produktions- und insbesondere Dienstleistungsbereichen entstehen Beschäftigungsverhältnisse, an deren Aufrechterhaltung sowohl Organisationen und Privathaushalte aufgrund niedriger Löhne für hohe Arbeitsleistungen als auch ein großer Teil der Migranten selbst aufgrund der aus der Illegalität selbst resultierenden Beschäftigungschancen interessiert sind.“ (Bommes 1999: 193)
Illegalität wird hier zur Ressource, als paradoxe Folge der staatlichen Ungleichheitsschwelle. Aus deren erfolgreichen Missachtung resultiere eine Inklusionschance für Migrant*innen, da deren Versuch der Einkommenserzielung sich gerade nicht an den Gleichheits- und Verteilungsstandards der Wohlfahrtsstaaten orientieren müsse. Wohlfahrtsstaatliche Ungleichheitsschwellen nach außen seien daher systematisch verwoben mit Verteilungsunterschieden und wahrgenommener Ungleichheit innerhalb eines Wohlfahrtsstaates (Bommes 1999: 193). Das wohlfahrtsstaatliche Migrationsregime wirkt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen im Rahmen von rassifizierenden Selektions- und Klassifikationsprozessen im Alltag. So sind zugewanderte Personen durch die aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen und Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt insbesondere mit Gefahren des Statusverlustes und Exklusion konfrontiert, die letztlich auch über das Ausmaß und den Grad der Inklusion entscheiden. Dies ist eine Folge der Wechselwirkungen von Migrations- und Erwerbsarbeitsregime, welches sich wie beschrieben an erwerbsarbeitsbezogenen Leistungssystemen, einkommensproportionalen Versicherungsleistungen und Statusdifferenzen orientiert. Mohr spricht vor diesem Hintergrund in Anlehnung an Morris (2002) auch von einem mehrfach stratifizierten System, welches die Rechte von Migrant*innen systematisch beschneide: aufenthaltsrechtlich, wohlfahrtsstaatlich und sozialstrukturell (Mohr 2005: 386). Eine fehlende Arbeitserlaubnis aufgrund eines unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status wirkt so dreifach exkludierend. Gleichzeitig macht Mohr darauf aufmerksam, dass man aufgrund der differenzierten Situation der unterschiedlichen Migrant*innengruppen nicht von den Rechten der Migrant*innen sprechen könne (Mohr 2005: 395). So erhalten Geflüchtete beispielweise nach Asylbewerberleistungsgesetz nur begrenzte Sozialleistungen und medizinische Versorgung. Von dem bereits beschriebenen wohlfahrtsstaatlichen Wandel von „welfare“ zu „workfare“ und der umfassenden Arbeitsmarktaktivierung sind zahlreiche Migrant*innen vor dem Hintergrund ihrer
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tendenziell schwachen Position auf dem Arbeitsmarkt allerdings insgesamt in besondere Weise betroffen (ebd.: 393), insbesondere migrantische Frauen. Häufig wird Frauen im Rahmen von Migrationsregimen, etwa als nachziehende Familienangehörige, eine andere Behandlung zuteil als Männern, weil sie meist als abhängig von den Männern ihrer Familie hingestellt würden und davon ausgegangen werde, dass sie diesen dorthin folgen, wo sie leben (Yuval-Davis 2001: 45). Dass dies in früheren wie gegenwärtigen Zeiten empirischer Evidenz entbehrt, zeigen beispielsweise Studien zum Phänomen weiblicher Gastarbeitender in der Bundesrepublik (vgl. Mattes 2005). Auch die hohe Anzahl illegal beschäftigter weiblicher Hausangestellter, die weltweit zur Verrichtung von Sorgearbeit gegenüber Kindern oder Pflegebedürftigen in andere Länder migrieren (vgl. Hess 2009, Lutz 2007), spricht gegen die Konstruktion von Frauen als wirtschaftlich von ihren Ehemännern Abhängige. Schließlich bewirkt das deutsche Migrationsregime Rassifizierungen im Alltag. Rassifizierende und ethnisierende Klassifikations- und Selektionsprozesse etwa zeigen sich in ihrer Verschränkung mit Geschlecht beispielsweise, wenn im Rahmen von Asylverfahren stereotype Einschätzungen im Hinblick auf Geschlecht oder die kulturelle Herkunft der Person relevant werden (Jubany 2011: 83f) und die Inanspruchnahme von formalen Rechten durch ethnische und geschlechtliche Diskriminierungen unterlaufen werden (Morris 2002: 123). So genannte Otheringprozesse, Konstruktionen des ‚Anderen‘ gehen meist von der hegemonialen weißen Mehrheitsgesellschaft aus. Wie das deutsche Geschlechterregime lässt sich zusammenfassend auch das deutsche Migrationsregime als historisch gewachsenes und sozial, kulturell und politisch spezifisches Charakteristikum des deutschen Wohlfahrtsstaates beschreiben, das Differenz erhält und schafft. Es ist naheliegend, dass Mütter und Väter je nach Migrationsstatus bzw. Aufenthaltstitel über unterschiedliche Optionen der Lebensführung im deutschen Wohlfahrtsstaat verfügen und sich somit auch die Frage nach „Wahlfreiheit“ hinsichtlich der Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit unterschiedlich stellt. Da das vorliegende Dissertationsprojekt die fördernden und restringierenden Bedingungen von „Wahlfreiheit“ zum Gegenstand hat, die sich aus den Verschränkungen des Erwerbs-, Geschlechter- und Migrationsregime ergeben, wird der Fokus im Folgenden auf Mütter und Väter begrenzt, deren Migrationsstatus bzw. Aufenthaltstitel (legale) Erwerbstätigkeit zulässt. Wahrscheinlich ist, dass vor dem deutschen Migrationsregime insbesondere der Status als EU-Bürger*innen bzw. Nicht-EU-Bürgerinnen Relevanz für die Frage nach „Wahlfreiheit“ hat (vgl. auch Menke/Klammer 2017). Gleichzeitig kann migrationspolitischen Phänomenen wie die illegale Beschäftigung von migrantischen Hausangestellten, die die
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„Wahlfreiheit“ der befragten Eltern vergrößern, vor dem Hintergrund der beschriebenen deutschen Regime begegnet werden. Nachdem die hier vertretene intersektionale Perspektive auf soziale Ungleichheiten entlang der Kategorien-Trias Geschlecht, Ethnizität und Klasse im deutschen Wohlfahrtsstaat mit seinen spezifischen Erwerbsarbeits-, Geschlechter- und Migrationsregimes erläutert wurde, wird im Folgenden den Begriff der „Wahlfreiheit“ näher betrachtet. Es lässt sich zeigen, dass „Wahlfreiheit“ für Eltern von der Familienpolitik schon früh und seitdem wiederkehrend aufgerufen wurde, was auch wissenschaftlich sowohl in Deutschland als auch international unter dem Schlagwort „choice“ verhandelt wurde. Dabei werden die Verknüpfungen zwischen einer vermeintlichen elterlichen „Wahlfreiheit“ und intersektionalen Ungleichheiten aufgezeigt, die bereits in den vorherstehenden Erläuterungen angeklungen haben.
2.3 FAMILIENPOLITIK ALS POLITIK DER „WAHLFREIHEIT“ Obgleich die Fragestellung dieser Arbeit in den Kontext der Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates insgesamt eingeordnet werden kann bzw. muss, spielt Familienpolitik eine herausragende Rolle im Hinblick auf die Frage nach „Wahlfreiheit“ für Eltern. Im Folgenden wird die historische Entwicklung der deutschen Familienpolitik, verstanden als Zeit, Geld und Infrastruktur, seit Gründung der Bundesrepublik in drei Zeitetappen skizziert. Im Anschluss daran steht die Bedeutung von „Wahlfreiheit“ im politisch-öffentlichen sowie sozialwissenschaftlichen Diskurs noch einmal explizit im Fokus. Dabei wird gezeigt, dass die Debatte zu „Wahlfreiheit“ exemplarisch herhalten kann für einen grundlegenden familienpolitischen Wandel in Deutschland, der im Hinblick auf soziale Ungleichheiten ambivalent zu bewerten ist (vgl. auch Leitner 2013: 23, deren Begriff der Optionalität mit dem der „Wahlfreiheit“ vergleichbar ist). Gegenwärtig scheint es Einigkeit in der Politik darüber zu geben, dass Familienpolitik größere Entscheidungsspielräume für Eltern schaffen und eine Vielzahl an Optionen bereithalten soll – sei es im Hinblick auf die Kombination paralleler Sorge- und Erwerbsarbeit, die Aufteilung von Sorgearbeit zwischen Elternteilen oder das Angebot an Kinderbetreuungsformen und -umfang.
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2.3.1 Familienpolitik in der Nachkriegsphase und im geteilten Deutschland In der Nachkriegsphase der 1950er und 1960er Jahre war der deutschen Familienpolitik zunächst daran gelegen, die Situation der Nachkriegsfamilien zu verbessern. Diese waren mit Vertreibung, Wohnraummangel und Arbeitslosigkeit konfrontiert. „Den allermeisten Politkern schien dazu die Restaurierung der ‚bürgerlichen‘ Familie mit der Dominanz des erwerbstätigen Vaters und einer Mutter geeignet, die sich auf Haushalt und Familie konzentrierte“ (Gerlach 2017: 16). Dieses Familienbild fand mit Gründung der Bunderepublik Eingang in die Familienpolitik, denn Müttererwerbstätigkeit galt in den alten Bundesländern in ihren Auswirkungen auf das Familienleben als problematisch betrachtet (vgl. Kolbe 2002: 148).27 Das seit 1957 existierende Ehegattensplitting, bei dem Eheleute ihre Einkommen gemeinsam veranlagen und versteuern können, sollte bei seiner Einführung jedoch eine neutrale Rechtslage gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen und Familienformen realisieren und schaffte insofern mehr „Wahlfreiheit“ für Familien. Es bewirkte Es bewirkte zu seiner Einführung vor allem, „dass auch bei einem Familieneinkommen beide Grundfreibeträge der Ehepartner steuerlich berücksichtigt wurden. Verwitweten mit Kindern gewährte das Steuerrecht bis einschließlich 1974 den Splittingtarif […], Alleinstehenden mit Kindern den sogenannten Haushaltsfreibetrag in Höhe des damaligen Grundfreibetrages“ (BMFSFJ 2011: 59). Der bis heute aus gleichstellungspolitischen Gründen kritisierte „Splitting-Effekt“ vor dem Hintergrund ungleicher Einkommen von Eheleuten wurde erst später bedeutsam(-er) (vgl. ebd.). Insofern profitierten im Nachkriegsdeutschland auch erwerbstätige Frauen und Mütter von dieser Form der Besteuerung. Denn trotz der gesellschaftlich kritisch betrachteten Müttererwerbstätigkeit hatten zu dieser Zeit zahlreiche Frauen bzw. Mütter ihre Familie zu ernähren, als Kriegswitwen oder aufgrund von abwesenden Ehemännern in Kriegsgefangenschaft. Ebenso dürften Arbeitslosigkeit oder ein geringes Erwerbseinkommen von Ehemännern der Arbeiterklasse die Notwendigkeit zu weiblicher Erwerbstätigkeit verstärkt haben. Im Jahr 1961 waren immerhin 13 Prozent der Mütter aus „Existenznot“ erwerbstätig, fast die Hälfte war erwerbstätig, um einen höheren Lebensstandard zu finanzieren (vgl. Kolbe 2002: 149). Im Widerspruch zur damaligen Familienpolitik und den traditionel-
27 Kolbe führt dies unter anderem auf die christdemokratisch geprägte bundesdeutsche Politik der Nachkriegsjahrzehnte zurück, die im konservativen deutschen Wohlfahrtsstaat von den evangelischen und katholischen Kirchen geprägt war (vgl. Kolbe 2002: 155).
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len Geschlechterleitbildern stand zudem die bereits erwähnte Anwerbepolitik um ausländische Gastarbeiter*innen, darunter auch Mütter, die aktiv in Vollzeiterwerbstätigkeit vermittelt wurden (vgl. Mattes 2005). Von einer politisch intendierten „Wahlfreiheit“ für Mütter oder gar Väter konnte trotz aller Widersprüchlichkeiten jedoch keine Rede sein. In den 1970er Jahren wurden familienpolitische Leistungen in der Bundesrepublik vielmehr durch die Neukonzeption des sogenannten Familienlastenausgleichs28 weiter ausgebaut und damit die steigende Bedeutung von Politik für das „Wohl der Familie“ unterstrichen (Bleses/Rose 1998: 580). Mit der Einführung bzw. Ausweitung und Erhöhung etwa der Kindergeldzahlungen für Familien ab dem ersten (nicht dem zweiten) Kind sowie die (phasenweise) Abschaffung steuerlicher Kinderfreibeträge, welche die besserverdienenden Eltern gegenüber den Schlechterverdienenden bevorzugt, verband sich der sozialpolitische Wunsch nach mehr Gleichheit in der Familienpolitik (ebd.). Die spätere Wiedereinführung der steuerlichen Kinderfreibeträge hob dagegen die ungerechte Gleichbehandlung von Familien und Paaren ohne Kinder auf und stellte einen Zustand der Begünstigung von Familien im Steuersystem wieder her (ebd.: 581). Unangetastet blieb allerdings das Ehegattensplitting samt seiner geschlechtsspezifischen Anreizwirkungen auf die Erwerbstätigkeit von Mütter. Im Kontrast zu dem „ehezentrierten Familialismus“ (Lessenich 2008: 159) des westdeutschen Wohlfahrtsregimes steht die Politik der DDR, die Müttererwerbstätigkeit von Anfang an förderte und forderte und Familien konsequent von Sorgetätigkeiten befreite (vgl. Nickel 1998). So entsprachen zwar die weiblichen Erwerbstätigenzahlen der DDR Ende der 1950er Jahren ungefähr denen Westdeutschlands, aber schon Ende der 1980er Jahre waren Frauen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ebenso aktiv wie Männer. Diese Entwicklung wurde flankiert durch eine umfassende staatliche Infrastruktur im Bereich der Kinderbetreuung – ab Mitte der 1980er Jahren existierte in der DDR Vollzeitkinderbetreuung für Kinder von null bis zehn Jahre (Kolinsky 1998: 11) – sowie entspre-
28 Mit Familienlastenausgleich sind alle Sozialleistungen, steuerlichen Förderungen sowie Sachaufwendungen gemeint, mit denen der Staat die „Lasten“ von Familien versucht auszugleichen. Darunter fallen gegenwärtig unter anderem das Kindergeld, die Kinder- und Betreuungsfreibeträge sowie die steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten, aber auch das Mutterschaftsgeld in der gesetzlichen Krankenkasse.
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chende familien- und gleichstellungspolitische Gesetzgebungen. 29 So empfahl bereits 1965 das damalige Familienrecht der DDR, dass Eltern die häuslichen und erzieherischen Pflichten untereinander aufteilen sollten (Kolinsky 1998:13), wenngleich sich in der häuslichen Realität heterosexueller Paare die Hauptzuständigkeit von Frauen für Haushalt und Kinder reproduzierte (Nickel 1998: 26). Festzuhalten ist, dass bereits ab den 1970er Jahren Frauenerwerbstätigkeit in der DDR als Norm galt (ebd.: 24). Die Geschlechtergerechtigkeit, so urteilt Nickel, war dabei jedoch insgesamt weniger ein Wunsch, der von den ostdeutschen Frauen selbst artikuliert bzw. eingefordert wurde, sondern vor allem ein Ergebnis von staatlicher Politik „von oben“ (ebd.: 26). In den westdeutschen Bundesländern gewannen Fragen der auch politischen Gestaltung paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit (von Müttern) dagegen erst mit der Übertragung des Diskriminierungsverbotes nach Artikel 3 des Grundgesetzes auf das Ehe- und Familienrecht 1976 an Bedeutung. Dieses räumte Ehepaaren die Freiheit ein, über die interne Arbeitsteilung zwischen Familie und Erwerbs selbst zu entscheiden (Gerlach 2017: 16). Angesichts der ab Ende der sechziger Jahre steigenden Erwerbstätigkeit auch autochthon deutscher Frauen und Mütter der Mittelschicht in der Bundesrepublik wurden die Rufe verschiedener sozialer Akteure – darunter Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Mediziner*innen – indes lauter, eine auf erwerbstätige Mütter mit Kleinkindern zugeschnittene Sozialleistung einzuführen, die es erwerbstätigen Müttern durch einen Ausgleich des Einkommensverlusts erlaubt, ihre Erwerbstätigkeit zwecks häuslicher Kinderbetreuung zu unterbrechen. „Damit trat der soziale- und familienpolitische Diskurs der Bundesrepublik in eine neue Phase ein: Zum ersten Mal diskutierte man eine wohlfahrtsstaatliche Leistung, die direkt an Mütter gerichtet sein sollte“ (Kolbe 2002: 157). Die Erfüllung der Mutterrolle und die damit in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Leistungen sollten sozial und finanziell honoriert werden, allerdings sei diese Umdeutung und Aufwertung eng mit dem Diskurs einer gesunden Entwicklung des Kindes durch die Anwesenheit der leiblichen Mutter verwoben gewesen (ebd.: 160). Arbeitsmarktpolitische oder ökonomische Erwägungen, wie sie heute dem familienpolitischen Diskurs wie selbstverständlich inhärent zu sein scheinen, spielten im Erziehungsgeld-Diskurs demgegenüber (noch) keine Rolle (Kolbe 2002: 162). Vielmehr verknüpfte die Bundesregierung von 1976
29 Ziel war es einerseits, die weibliche Arbeitskraft für den heimischen Arbeitsmarkt zu aktivieren, andererseits stellte das umfassende Kinderbetreuungssystem der DDR auch eine Kontroll- und Erziehungsfunktion für den sozialistischen Nachwuchs dar (Kolinsky 1998: 11).
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die Forderungen nach einem Erziehungsgeld erstmalig mit dem Ziel der „Wahlfreiheit“, da dieses „jungen Eltern eine verstärkte Wahlmöglichkeit zwischen Erwerbstätigkeit und häuslicher Tätigkeit während der ersten Lebensjahre ihres Kindes bieten, jungen Eltern dabei helfen, ihren Wunsch nach Kindern zu realisieren, und die Entwicklungsbedingungen von Kindern verbessern.“ (Zitiert nach ebd.: 192)
Allerdings kam es erst 1986 zur Einführung einer solchen Leistung für erwerbstätige Eltern von Kindern unter drei Jahren, dem Erziehungsurlaub, später Erziehungszeit. Dieses fokussierte das „Wohl des Kindes“ bzw. sein Recht auf Erziehung und Betreuung in den ersten Lebensjahren. „Die Person der Mutter war nur noch insofern von Interesse, als sie dieses Kindeswohl garantieren sollte“ (ebd.: 165), Männer kamen in ihrer Rolle als Vater gar nicht vor. Darüber hinaus handelte es sich bei dem Erziehungsgeld um eine vom Haushaltseinkommen abhängige, sehr niedrig dotierte Leistung (Gerlach 2017: 17). Trotz der geschlechtsneutralen Formulierung damaliger Jahre stellte die geringe Höhe des Erziehungsgeldes auf den Ersatz eines Zuverdienstes (der Mutter) und nicht des Familieneinkommens (des Vaters) ab (Kolbe 2002: 183, auch 199). Mit der schrittweisen sozialen und finanziellen Anerkennung fürsorgerischer Tätigkeiten (von Müttern) ging auch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung zunächst für ein Jahr (1987) und später für drei Jahre (1992) einher. „Fürsorgetätigkeiten wurden damit erstmals konzeptionell explizit anerkannt – statt nur implizit in Konstruktionen wie dem Ehegattensplitting oder kostenlosen Mitversicherung von Angehörigen in den Sozialversicherungen“ (Gerlach 2017: 17). Die Förderung beziehungsweise der Ausbau außerhäuslicher Betreuungsangebote stand dagegen nicht im Mittelpunkt von Familienpolitik, wenngleich Mitte der siebziger Jahre auf die Bereitstellung von Teilzeitarbeitsplätzen hingewirkt und ein gesetzlicher Anspruch auf Krankheitstage und Krankengeld für erwerbstätige Eltern bei Erkrankung des Kindes realisiert wurde. Diese Maßnahmen adressierten selektiv „Familien mit besonderen Problemen“, zu denen Alleinerziehende ebenso zählten, wie aus wirtschaftlichen Gründen doppelt erwerbstätige Elternteile. Außerhäusliche Betreuungsangebote stellten vor diesem Hintergrund eher einen Ausgleich für dadurch benachteiligte Kinder dar (Kolbe 2002: 193). Dennoch zeichnete sich insgesamt in diesen Jahren ein Wandel des Familienbildes ab. Das männliche Familienernährermodell verlor seinen Absolutheitscharakter in der politischen Deutung staatlicher Förderungswürdigkeit, so Ble-
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ses/Rose (1998: 585). Dafür machen die Autoren auch das Konzept der „Wahlfreiheit“ zwischen Familie und Beruf verantwortlich, welches mit der Anerkennung weiblicher Erwerbstätigkeit neben der Rolle als Hausfrau und Mutter einherginge, und eine bemerkenswerte Transformation allen voran der christdemokratischen Partei gewesen sei (Bleses/Rose 1998: 586). Gerlach beschreibt die 1980er Jahre als Perspektivenerweiterung der deutschen Familienpolitik und stellt auf die Verknüpfung der bis dato weitgehend getrennten und geschlechtsspezifischen Bereiche von Sorge- und Erwerbsarbeit ab (Gerlach 2017: 16). 2.3.2 Familienpolitik im vereinten Deutschland In den 1990er Jahren beeinflussten die deutsche Wiedervereinigung sowie verschiedene Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichtes u.a. zu Fragen des Verhältnisses von Erwerbs- und Familienarbeit und des Familienlastenausgleichs die Familienpolitik (ebd.: 17). Die deutsche Wiedervereinigung bedeutete in familienpolitischen Belangen eine Zusammenführung zweier höchst unterschiedlicher Logiken: „das Müttererwerbstätigkeit seit Jahrzehnten fördernde (und fordernde) der DDR und das eher mit monetären Maßnahmen arbeitende und die väterliche Haupterwerbstätigkeit stützende der Bundesrepublik“ (ebd.: 17). Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das westdeutsche Wohlfahrtsstaatsmodell den neuen Bundesländern weitestgehend „übergestülpt“. Nickel schreibt aus der Perspektive ostdeutscher Frauen, dass diese vor diesem Hintergrund ihren Gleichstellungsvorsprung gegenüber westdeutschen Frauen im Hinblick auf Partizipation am Arbeitsmarkt schnell einbüßten: „For many women, postcommunist developments consisted of a decline in social and economic status and negative adjustments to Western inequalities“ (Nickel 1998: 31). In der Frauen- und Familienpolitik kam es jedoch auch zu wichtigen Impulsen in die andere Richtung. Besonders deutlich wurde dies in den lauter werdenden Forderungen nach einer besseren außerhäuslichen Kinderbetreuungsinfrastruktur für erwerbstätige Eltern (Gerlach 2017: 17). 1996 wurde schließlich ein Rechtsanspruch auf Betreuung für Kinder von drei bis sechs Jahren geschaffen. Auch wenn der fünfte Familienbericht 1994 bereits den Begriff des „Humanvermögens“ im Titel trug und damit die volkswirtschaftliche Bedeutung von Familienarbeit unterstrich (BMFSFJ 1994), war Familienpolitik bis zu dem Paradigmenwechsel in den 2000er Jahren insgesamt von einer sozialpolitischen Umverteilungsnorm zugunsten einkommensschwacher Familien und der Förderung eines, wenn auch modernisierten, Ernährer*innenmodells mit weiblichem Zuverdienst im Kontext ehelicher Gemeinschaften. Familienpolitik beabsichtigte
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das Risiko von Armut im Falle der Geburt von Kindern zu reduzieren (vgl. Henninger et al. 2008; Faharat et al. 2006). Nach Althammer folgte diese Familienpolitik der Logik des Familienlastenausgleichs, nach dem Familien einen Ausgleich ihrer Kosten im Zusammenhang mit Kindern erhielten (Althammer 2009; 161, vgl. auch Gerlach 2017: 18). Dieser konnte je nach finanzieller Situation des Haushaltes unterschiedlich hoch ausfallen. „Vor diesem Hintergrund waren zahlreiche Maßnahmen der monetären Familienpolitik auch explizit einkommensabhängig ausgestaltet, wie bspw. das Kindergeld oder das Erziehungsgeld“ (Althammer 2009: 161). Adressat von Familienpolitik war der Haushalt in Gänze, nicht seine einzelnen Individuen. So erhielten Haushalte mit niedrigem Einkommen höhere und finanziell gut situierte Haushalte geringere Geldleistungen etwa im Rahmen des Erziehungsgeldes. Ziel war es, durch den Lastenausgleich allen Kindern ähnliche Startbedingungen zu ermöglichen (ebd.). Die beschriebene sozialpolitische Umverteilungsnorm ging jedoch zu Lasten einer stärker auf Geschlechtergerechtigkeit abstellende Familien- und Sozialpolitik. Durch die Fokussierung auf den Haushalt als Ganzes gerieten haushaltsinterne Ungleichheiten zwischen Mütter und Väter, Ehemänner und Ehefrauen im Hinblick auf Erwerbseinkommen und soziale Absicherung erst gar nicht in den Blick. Im Gegenteil: das Ehegattensplittting oder auch die Möglichkeiten einer geringfügigen Beschäftigung, die in den 1990er Jahren an Bedeutung gewannen (vgl. Oschmiansky/Obermeier 2014), setzen entsprechende Anreize einer nur reduzierten und damit nicht existenzsichernden Erwerbstätigkeit von Müttern und begründen unter anderem die in Deutschland bestehende hohe Entgeltungleichheit zwischen Männer und Frauen bzw. Väter und Mütter. 2.3.3 „Nachhaltige“ Familienpolitik – Paradigmenwechsel nach der Jahrtausendwende Zu Beginn des neuen Jahrtausends hielt vor dem Hintergrund der Transformation des Sozialstaates ein grundlegender Paradigmenwechsel Einzug in die Familienpolitik, der zu einem stärkeren Zusammenhalt von Elternschaft und Erwerbsarbeit führte. Vor dem Hintergrund einer aktivierenden Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik im deutschen Wohlfahrtsstaat seit der Jahrtausendwende sowie der scheinbaren Notwendigkeit zur Stabilisierung des Erwerbspersonen- und Fachkräftepotenzials gewannen Frauen bzw. Mütter als potenzielle Arbeitskräfte zunehmend an Relevanz. In der Debatte um eine „nachhaltige Familienpolitik“ innerhalb der ersten Dekade der 2000er Jahre wurden (neue) familienpolitische Ziele – namentlich die Erhöhung der Geburtenrate, die Erhöhung der Frauenerwerbsbeteiligung und
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der Ausbau frühkindlicher Bildung – mit ökonomischen Argumenten verknüpft (vgl. Leitner 2008, Henninger et al. 2008). In den Folgejahren kam es zu einem, im Vergleich zu anderen Sozialpolitikfeldern, erheblichen Aus- und Umbau von familienpolitischen Instrumenten, Leistungen und Ansprüchen in den Bereichen Zeit, Geld und Infrastruktur. 30 In dessen Zentrum standen die Ermöglichung bzw. Verbesserung der so genannten Vereinbarkeit von Familien und Beruf31, der Ersatz von Opportunitätskosten sowie die Schaffung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Innerhalb des familienpolitischen Diskurses wurde unter Bezugnahme auf die vermeintlich sinkenden Geburtenzahlen und eine alternde Gesellschaft Kindern als zukünftiges Humankapital und späteren Arbeitskräften sowie Beitragszahler*innen in die sozialen Sicherungssysteme eine zunehmende Bedeutung beigemessen. In dieser Argumentationslogik erscheint eine staatliche Familienpolitik legitim, die Familien für die Geburt und Erziehung von Kindern als gesellschaftlich und sozialpolitisch relevante (Vor-)Leistung eine Art „Gegenleistung“ (Althammer 2009: 162) zusichert. Diese Gegenleistungen fallen für jede Familie unabhängig ihrer finanziellen Situation zunächst einmal gleich aus. Familienpolitische Leistungen im System sozialer Sicherung, etwa die kostenlose Mitversicherung von Ehepartner*innen und Kindern in der gesetzlichen Krankenversicherung oder die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung können hier beispielhaft genannt werden. Umverteilungspolitische Aspekte zwischen einkommensstarken und einkommensarmen Familien verlieren in diesem Begründungszusammenhang dagegen an Bedeutung. Beispielhaft dafür stehen kann auch die Einführung eines Betreuungsgeldes im Jahr 2013 (bis 2015), welches (nicht nur) in Deutschland mit einer verstärkten familienpolitischen und öffentlichen Debatte um „Wahlfreiheit“ für Eltern verknüpft war. Das Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro monatlich wurde an diejenigen Elternteile ausgezahlt, die ihr Kind bis zum dritten Lebensjahr zu Hause betreuten und damit auf die Inanspruchnahme einer öffentlichen Kinder-
30 Zu nennen sind hier vor allem die Folgenden: Einführung eines Anspruches auf Teilzeit bei Fürsorgeverantwortung im Rahmen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (2001), Gesetze zum Ausbau der Kinderbetreuungsstrukturen (Tagesbetreuungsausbaugesetz 2005 und Kinderförderungsgesetz 2008), Einführung einer zwölfmonatigen Elternzeit mit individualisiertem Elterngeldanspruch sowie zwei zusätzlichen Partner*innenmonate (2007), Einführung eines Rechtsanspruches auf außerhäusliche Betreuung ab dem ersten Lebensjahr des Kindes (2013), Verbesserung von Teilzeiterwerbstätigkeit im Rahmen der Elternzeit durch Elterngeld Plus (2015). 31 Zum Euphemismus des politischen Begriffs der Vereinbarkeit von Familie und Beruf siehe Honig 2007.
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betreuungseinrichtung verzichteten. Das Betreuungsgeld wurde einkommensunabhängig bis zum Ende des dritten Lebensjahres des Kindes gezahlt und sollte Müttern und Vätern erklärtermaßen eine größere „Wahlfreiheit“ zwischen Erwerbstätigkeit und Fürsorgearbeit bescheren. Nach Ansicht der damaligen Bundesfamilienministerin Christina Schröder sowie der schwarz-gelben Regierungskoalition verwirklichte neben dem zeitgleich eingeführten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem ersten Lebensjahr des Kindes erst das Betreuungsgeld das Ziel, jungen Eltern eine umfassende, bestmögliche „Wahlfreiheit“ zu eröffnen, indem sie selbst entscheiden, wie ihr Kind betreut wird (CDU Pressemitteilung 01.08.2013). Das gleiche Instrument wurde von SPD, Bündnis 90/die Grünen und die Linksparteien als damalige Oppositionsparteien sowie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mit dem Hinweis kritisiert, dieses schränke gerade die „Wahlfreiheit“ von Eltern ein. Das Betreuungsgeld stelle keine angemessene Entlohnung für die Betreuungsleistung von Eltern dar und erschwere Frauen den Wiedereinstieg in den Beruf, so die Kritik. Darüber hinaus biete es für einkommensschwache Haushalte einen finanziellen Anreiz, ihre Kinder nicht in die Kita zu schicken, was zu bildungspolitischen Nachteilen der Kinder führen könne, so ein Aufruf von Oppositionsparteien und Verbänden gegen das Betreuungsgeld (Initiative „Nein zum Betreuungsgeld! Ja zu echter Wahlfreiheit!“ 2011) sowie eine gemeinsame Pressemitteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (DGB/BDA-Pressemitteilung 37/2011). Auch in den Medien wurde das Betreuungsgeld, als „Herdprämie“ verunglimpft, kontrovers und kritisch diskutiert.32 Statistiken zeigten, dass das Betreuungsgeld beinahe ausschließlich von Müttern bezogen wurde: Im Jahr 2015 waren es 95 Prozent. 18 Prozent aller Beziehenden besaßen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Auffallend war zudem, dass rund 79 Prozent aller Beziehenden verheiratet waren (vgl. Statistisches Bundesamt 13.03.2014, Statistisches Bundesamt 11.06.2015). Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vom 21. Juli 2015 wurde das bundesweite Betreuungsgeld wieder abgeschafft.33
32 Siehe stellvertretend für das Medienecho den Artikel „Gebt Eltern echte Wahlfreiheit“, der am 01.08.2013 in der Süddeutschen erschien (im Internet unter www.sueddeutsche.de/leben/krippenplatzgarantie-und-betreuungsfeld-gebt-eltern-echtewahlfreiheit-1.1735133, Zugriff am 11.08.2016). 33 Das Bundesverfassungsgericht bescheinigte dem Bund eine fehlende Gesetzgebungskompetenz für ein bundesweites Betreuungsgeld. In Bayern und Sachsen gibt es das Betreuungsgeld weiterhin als Landesleistung.
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In der Fachöffentlichkeit wurde die Einführung des Betreuungsgeldes als „Roll-back-Versuch“ gewertet (vgl. Gerlach 2017: 19), der nicht zur längst eingeläuteten Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates zu passen schien. Diese Transformation propagiert das Adult Worker-Modell, nachdem jede erwerbsfähige Person auch möglichst in Vollzeit erwerbstätig sein sollte – ungeachtet seiner*ihrer Sorgeverpflichtungen. Dieser Wandel von „welfare“ zu „workfare“ hatte auch familienpolitische Konsequenzen: Der familienpolitische Paradigmenwechsel seit Mitte der 2000er Jahre fand vor allem Ausdruck in der Einführung eines Elterngeldes als Entgeltersatzleistung im Jahr 2007. Dabei zielte Familienpolitik auf die Reduktion der mit der Geburt eines Kindes entstehenden Opportunitätskosten für erwerbstätige Eltern (Henninger et al. 2008: 106). Da sich die Leistungshöhe des Elterngeldes prozentual am vorherigen individuellen Einkommen ausrichtet, fällt die familienpolitische Leistung umso höher aus, je höher die vermeintlichen Lohnausfälle der berufstätigen Mütter und Väter durch Erwerbsunterbrechungen in Zeiten der Kinderbetreuung sind. Gut verdienende und/oder Vollzeit arbeitende Eltern erhalten dadurch ein höheres Elterngeld als Geringverdienende und Teilzeitkräfte.34 Während sich das vorherige Erziehungsgeld am Haushaltseinkommen der Familie orientierte und eine Einkommenshöchstgrenze kannte, ab der ein Anspruch sich zunächst reduzierte und schließlich ganz entfiel35, existiert in der auf das individuelle Nettoeinkommen des jeweiligen Elternteil abstellenden Elterngeldregelung eine Deckelung des Höchstbetrages bei 1.800 Euro monatlich. Der bezugsberechtigte Personenkreis wurde so erheblich ausgeweitet auf Mütter und Väter mit hohem Einkommen (Faharat et al. 2006: 986). Darüber hinaus wird die familienpolitische Leistung auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, so dass diese Elternteile de facto ausgeschlossen sind vom Elterngeldbezug. Ein weiteres Novum im Kontext der Elterngeldregelung war die direkte Adressierung von Vätern: Mindestens zwei Monate der familienpolitischen Geldleistung sind dem jeweils anderen Elternteil reserviert. Nehmen nicht beide Partner*innen innerhalb der ersten 14 Monate El-
34 Nach dem Geringverdiener*innenausgleich erhalten Geringverdienende pro 2 Euro, die ihr Einkommen unter 1.000 Euro liegt, 0,1 Prozent mehr Lohnersatz – bis maximal 100 Prozent. So bekäme ein Elternteil mit einem vorherigen Einkommen von 450 Euro eine Ersatzrate von 94,5 Prozent, das sind 425,25 Euro Elterngeld (eigene Berechnung). 35 In den ersten sechs Lebensmonaten durfte das Höchsteinkommen beider Partner*innen 30.000 Euro netto nicht übersteigen, ab dem siebten Lebensmonat 16.500 Euro. Über diesem Betrag wurde kein Erziehungsgeld gezahlt. Die Erwerbstätigkeit durfte maximal 30 Stunden pro Woche betragen (Schutterer/Zerle-Elsäßer 2012: 219).
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terngeldmonate in Anspruch, verfallen diese zwei Monate und mit ihnen die Entgeltersatzleistung. Damit wurde erstmals die Vorstellung einer partnerschaftlich geteilten Elternschaft wohlfahrtsstaatlich verankert, schreibt Leitner (Leitner 2017: 110). Die Einführung des Elterngeldes wurde auch deshalb unter gleichstellungspolitischen Aspekten von Vielen begrüßt. Allerdings kann gezeigt werden, dass die Form der Entgeltersatzleistung (bisher) nur wenigen Frauen ein existenzsicherndes Einkommen während des beruflichen Ausstiegs garantiert, darunter vor allem hochqualifizierte Frauen. Deren Partner nehmen auch überdurchschnittlich häufig Elterngeldmonate in Anspruch – vorausgesetzt, sie verfügen selbst über einen hohen Bildungsabschluss (vgl. Schutter/Zerle-Elsäßer 2012: 219f, siehe auch Martinek 2010). Zu einem gestärkten Zusammenhalt von Elternschaft und Erwerbstätigkeit im Rahmen einer ökonomisierten Familienpolitik zählt auch, dass die finanziell geförderten erziehungsbedingten Phasen des Erwerbsausstiegs von Eltern seit 2001 kontinuierlich verkürzt wurden, selbst wenn der gesetzliche Anspruch der dreijährigen (unbezahlten) Elternzeit davon unberührt blieb. Dies geschah zunächst im Rahmen der Möglichkeit, das zweijährige Erziehungsgeld auf ein Jahr zu budgetieren, ab 2007 fand dann eine generell verkürzte Bezugsdauer auf maximal ein Jahr Erziehungszeit im Zuge der Einführung des Elterngeldes Anwendung (Leitner 2008: 70). Die finanziellen Anreize, für die Erziehung und Betreuung von Kindern immer kürzer aus dem Beruf auszutreten, wurden jüngst durch die Einführung des Elterngeld Plus noch einmal erneuert (vgl. auch Menke/Klammer 2017). Wie lange es sich die einzelne Mutter bzw. Vater unter finanziellen Aspekten leisten kann, beruflich für Kinderbetreuung auszusteigen, hängt nicht zuletzt von der Höhe des individuellen Elterngeldanspruchs und damit dem vorherigen Erwerbseinkommen ab. Auch die Frage, in welchem Umfang Mütter bzw. Väter nach der Elternzeit beruflich wieder einsteigen und somit Zeit für Familie haben, ist eng verknüpft mit dem jeweiligen Erwerbseinkommen. Wer ein hohes Einkommen erzielt, kann davon auch in Teilzeit leben und/oder sich durch den Einkauf von haushaltsnahen Dienstleistungen von Sorgearbeit befreien. Auf diese Weise lässt sich auch bei weiteren Kindern bzw. beruflichen Auszeiten ein entsprechend hoher Elterngeldanspruch erzielen. Verschiedene Autor*innen fragen vor diesem Hintergrund zu Recht, ob das Elterngeld „Wahlfreiheit“ und Existenzsicherung tatsächlich für alle Elternteile böte (vgl. Menke/Klammer 2017, Schutter/Zerle-Elsäßer 2012, Martinek 2010). Soziale Rechte, wie der Anspruch auf Elterngeld und seine Leistungshöhe, werden auf diese Weise mit dem Zugang zu und den beruflichen Leistungen auf dem Arbeitsmarkt verknüpft und vorhandene soziale Ungleichheiten des nationalstaatlich begrenzten Arbeitsmarktes durch Familienpolitik aufgegriffen, fortge-
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schrieben und ggf. sogar verstärkt. Weiterhin gilt: Mütter nehmen häufiger Elternzeit in Anspruch als Väter. Althammer bilanziert vor diesem Hintergrund, dass die Ablösung des Erziehungsgeldes durch das Elterngeld „[d]er wesentliche Bruch mit dem gerechtigkeitsorientiertem Verständnis staatlicher Familienpolitik war“ (Althammer 2009: 163f). Richtig ist eher, dass die gegenwärtige Familienpolitik offenbar anderen Gerechtigkeitsnormen folgt als zuvor. Familienpolitik richtet sich inzwischen stärker an dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aus und weniger am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit36. Unter Leistungen werden dabei sowohl die Leistungen auf dem Arbeitsmarkt verstanden (wie bei der Entgeltersatzleistung Elterngeld), als auch Leistungen innerhalb der Familie im Rahmen fürsorgerischer Tätigkeiten (wie beim nach wie vor dreijährigen Anspruch auf Elternzeit oder der kostenlosen Mitversicherung von Ehepartner*innen und Kindern in der gesetzlichen Sozialversicherung). So finden sich in der deutschen Familienpolitik aktuell verschiedene und zum Teil widersprüchliche Gerechtigkeits- und Umverteilungsnormen wieder (vgl. Leitner 2017). Vor dem Hintergrund der gestiegenen Bedeutung von Leistungsgerechtigkeit innerhalb der Familienpolitik lässt sich aber sagen, dass sich „Wahlfreiheit“ einseitig zu Gunsten gut qualifizierter und einkommensstarker Elternteile verschoben haben. Prekär Beschäftigte, Geringqualifizierte, Arbeitslose, gesundheitlich Eingeschränkte, Ältere, Nicht-Heterosexuelle, und/oder (ethnische) Minderheiten stünden demgegenüber nicht im Fokus jüngerer Reformpolitiken der staatlichen Familien- und Gleichstellungspolitik (Auth et al. 2010: 9). Weiterer Gegenstand des familienpolitischen Paradigmenwechsels, in der wissenschaftlichen Literatur aber weniger stark rezipiert, ist die gewachsene Kooperation zwischen der staatlichen Familienpolitik und Betrieben in der Privatwirtschaft. Eine Vielzahl an Bündnissen und Aktionen zwischen Familienpolitik und Privatwirtschaft soll die Arbeitswelt familienfreundlicher gestalten und adressieren Eltern als Wirtschaftssubjekte und demographische Ressource (vgl. Veil 2010, Leitner 2008). Motor für das familienpolitische Engagement der Arbeitgeber ist der demografische Wandel sowie Prognosen zum zukünftigen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften (BMFSFJ 2016). Betriebswirtschaftliche Effekte
36 Gemeint sind direkte Transferleistungen wie das Kindergeld oder die Steuerfreibeträge für Familien, die nach der Logik des Bedarfs funktionieren. Diese bedarfsorientierten Transfers sind – anders als die Grundsicherungsleistung – nicht einkommensgeprüft. Leitner beschreibt sie daher auch als universelle Leistungen, die im deutschen Wohlfahrtsstaat eher untypisch seien (Leitner 2017: 108).
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einer familienfreundlichen Personalstrategie werden regelmäßig erforscht, öffentlichkeitswirksam publiziert und als „Wettbewerbsvorteil“ im „war for talents“ (Beste-Fopma/Baisch 2017: 34) dargestellt (vgl. zum Beispiel auch BMFSFJ 2005). Seit 2003 wird den Unternehmen regelmäßig steigendes Engagement beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf bescheinigt. Unternehmen bieten eine immer größere Anzahl von potenziell familienfreundlichen Maßnahmen an, die Beschäftigten mit Sorgeverantwortung gewissermaßen eine neue „Wahlfreiheit“ im Betrieb beschert.37 Über die Qualität der Angebote und welche Beschäftigten sie erreichen, ist mit der Anzahl vereinbarkeitsfreundlicher Maßnahmen jedoch wenig gesagt. Das betriebliche Engagement beruht zudem zu einem Großteil auf rechtlich unverbindlichen Grundlagen. Die WSI-Betriebsrät*innenbefragung zeigt, dass im Jahr 2011 nur 12 Prozent der Betriebe über eine Betriebsvereinbarung zu Elternzeit oder Vereinbarkeit verfügten (Klenner et al. 2013: 23). 38 Hinzu kommt, dass einige Rechtsansprüche, etwa das Recht auf Teilzeitarbeit, nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten gelten. Fest steht: Die steigende Anzahl von Betrieben mit potenziell familienfreundlichen Maßnahmen führt dazu, dass Verhandlungen von Vereinbarkeitsoptionen in den Betrieben insgesamt an Bedeutung gewinnen. Beschäftigte können bzw. müssen die Teilnahme an betrieblichen Vereinbarkeitsmaßnahmen sowie berufliche Ein- und Ausstiege direkt mit dem Betrieb bzw. Vorgesetzten aushandeln. Beobachtbar ist „eine Hinwendung der Unternehmen zu individualisierten Lösungen, bei denen die Beschäftigten entweder im Aushandlungsprozess ihre Vorstellungen mit einbringen können oder die Arbeitszeit in Selbstverantwortung regeln“ (BMFSFJ 2013a: 8). Es bleibt jedoch zu fragen, ob diese betrieblichen Möglichkeiten für alle beschäftigten Mütter und Väter gleichermaßen gelten. Seeleib-Kaiser/Fleckenstein
37 Laut Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit 2016 setzen die Unternehmen in Sachen Vereinbarkeit vor allem auf flexible Arbeitszeiten, etwa auf individuell ausgestaltete Arbeitszeiten (76 Prozent), flexibel Tages- und Wochenarbeitszeiten (gut 68 Prozent) und Vertrauensarbeitszeiten (knapp 47 Prozent) (vgl. BMFSFJ 2016: 18). 38 Die WSI-Betriebsrät*innenumfrage umfasst ausschließlich Betriebe mit Betriebsrat ab einer Größe von 20 Beschäftigten. Die Ergebnisse decken sich jedoch mit den Daten des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, nach denen im Jahr 2008 lediglich 8 Prozent der Privatwirtschaft Maßnahmen zur Chancengleichheit und besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Form von betrieblicher und tariflicher Vereinbarungen ergriffen (Kohaut/Müller 2009: 3).
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sehen einen systematischen Zusammenhang zwischen Qualifikationsstruktur von Beschäftigten und dem Angebot betrieblicher Vereinbarkeitsmaßnahmen: Betriebe mit hoch- und allgemeiner qualifizierten Arbeitskräften bieten häufiger familienfreundliche Maßnahmen an als solche, die auf eine firmenspezifische Qualifikation ihrer Beschäftigten setzen (Seeleib-Kaiser/Fleckenstein 2008: 10). Auch Betriebe mit einem hohen Anteil An- und Ungelernter sind seltener und weniger stark engagiert (BMFSFJ 2013a: 28) und große Betriebe sind häufiger (verbindlich) aktiv als kleine Unternehmen (Kohaut/Müller 2009: 4). Darüber hinaus lassen sich nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch innerhalb von Unternehmen Unterschiede in der Verfügbarkeit und Inanspruchnahme von Vereinbarkeitsmaßnahmen ausmachen. Weßler-Poßberg fand heraus, dass Beschäftigte eines Unternehmens in Abhängigkeit ihres Geschlechts, betrieblichen Status und ihrer Qualifikation unterschiedlichen Zugang zu Vereinbarkeitsoptionen erhalten: „In allen drei Fallstudien findet sich so jeweils eine Gruppierung von Beschäftigten, die im Fokus betrieblicher Vereinbarkeitsunterstützung und Maßnahmenkonzeption stehen und über ein mehr oder weniger breites Angebot an Maßnahmen verfügen. […] Dies geht einher mit einer anderen Gruppierung, deren Vereinbarkeitsbedarf kaum wahrgenommen und berücksichtigt wird.“ (Weßler-Poßberg 2013: 365)
Gering qualifizierte Beschäftigte werden von den Vereinbarkeitsinstrumenten, die sich an dem Qualifikationsniveau von Tätigkeitsbereichen orientieren, weitestgehend ausgeschlossen. Auf diese Weise finden Selektionsprozesse insbesondere unter Frauen statt, wenn beispielsweise Teilzeitarbeit mit festgelegten Arbeitszeiten von betrieblichen Führungskräften als Ausdruck einer Präferenz von weiblichen Angestellten mit geringer Qualifikation gedeutet wird und nicht als Zeichen eines unzureichenden betrieblichen Maßnahmenangebotes (WeßlerPoßberg 2013: 366). Weder gehe mit betrieblichen Vereinbarkeitsmaßnahmen zwangsläufig eine wachsende Wertschätzung der Reproduktionssphäre einher noch die Gleichstellung der Geschlechter, fand Weßler-Poßberg heraus (WeßlerPoßberg 2013: 365).
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2.3.4 Zur Bedeutung von „Wahlfreiheit“ im politischöffentlichen und sozialwissenschaftlichen Diskurs Offensichtlich wird: Die deutsche Familienpolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, wobei dem Schlagwort der „Wahlfreiheit“ für Eltern dabei eine wiederkehrende, jedoch nicht widerspruchsfreie Bedeutung zukommt. Es existieren unterschiedliche Definitionen von „Wahlfreiheit“ innerhalb des politischen Spektrums, die mit zum Teil widersprüchlichen familien- und sozialpolitischen Gesetzen und Instrumenten realisiert werden sollen. Was für die einen politischen Akteure Wegbereiter hin zu mehr „Wahlfreiheit“ für Eltern ist, führt für die Anderen scheinbar in die entgegengesetzte Richtung. In der wissenschaftlichen Rezeption zur politischen Debatte um „Wahlfreiheit“ wird auf die dahinter liegenden Familien- und Geschlechterrollenbilder der politischen Akteur*innen verwiesen (vgl. Schutter/Zerle-Elsässer 2012; Ellingsæter/Leira 2007): Vor allem wertkonservative Parteien nutzen das Leitbild der „Wahlfreiheit“ argumentativ für familienpolitische Forderungen nach einer Aufwertung von unbezahlter Familienarbeit in Form von finanziellen Kompensationen oder der Gewährung sozialer Rechte für Betreuungspersonen. „Wahlfreiheit“ stellt sich in diesem Verständnis ein, wenn Menschen mit Fürsorgeverantwortung Zugang zu Geldleistungen oder soziale Sicherungsansprüche (auch im Familienzusammenhang) jenseits von Erwerbsarbeit erfahren und so vom Zwang zu Erwerbsarbeit freigestellt werden.39 Was als geschlechtsneutrales Modell angelegt ist, wird von seinen Kritikern als implizite Unterstützung eines traditionellen Familienmodelles gewertet, in dem Frauen vordergründig Hausfrauen und Mütter sind und damit in finanzielle Abhängigkeit von einem (Ehe-)Partner geraten. Die Kritiker dieser konservativen Variante von „Wahlfreiheit“, zuvorderst im sozialdemokratischen bzw. linken Parteienspektrum zu finden, favorisieren dagegen ein „ZweiVerdiener/Zwei-Betreuer-Familienarrangement“ (Ellingsæter/Leira 2007: 549), welches sie durch den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt und die stärkere
39 Erwähnt werden muss an dieser Stelle, dass längere Phasen der Nichterwerbstätigkeit aufgrund von Sorgearbeit in Deutschland ohne die finanzielle Absicherung im Familienzusammenhang, meist über das Einkommen durch den Familienernährer, bisher nicht möglich waren. Erst das 2007 eingeführte Elterngeld bietet als Entgeltersatzleistung einigen (wenigen) Frauen erstmals eine eigenständige Existenzsicherung für maximal 12 bzw. für Alleinerziehende 14 Monate auf Grundlage von Sorgearbeit gegenüber Kindern.
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Einbeziehung von Vätern in Fürsorgearbeit verwirklicht sehen. 40 „Wahlfreiheit“ in diesem Zuschnitt wird durch die gleichberechtigte Aufgabenteilung von bezahlter und unbezahlter Erwerbs- und Familienarbeit zwischen Eltern gewährleistet. Dazu bedarf es zunächst der Entlastung der Frauen von Betreuungsarbeit, etwa mittels eines Ausbaus von Kinderbetreuungsstrukturen. Je nach vertretenem Familienleitbild kommt es so zu verschiedenen Bewertungen familienpolitischer Gesetze und Instrumente – jedoch mit dem gleichen Ziel, nämlich der Erweiterung von „Wahlmöglichkeiten“ für Eltern (Schutter/Zerle-Elsässer 2012: 218). Es herrscht also Einigkeit darüber, dass Familienpolitik größere Entscheidungsspielräume schaffen und eine Vielzahl an Optionen für Eltern bereithalten soll, wenn es darum geht, Sorge- und Erwerbsarbeit im Lebensverlauf zu vereinbaren, zwischen den Elternteilen aufzuteilen sowie Kinderbetreuung in Form und Umfang zu bestimmen. Anders als früher adressiert Familienpolitik zudem nicht mehr ausschließlich die Familie als Einheit, sondern durch die Bereitstellung individueller Ansprüche und Rechte ebenso die einzelnen Mütter und Väter. Damit kann Familienpolitik beispielhaft herhalten für den Wandel des deutschen Wohlfahrtsstaates insgesamt, in dem Aktivierung, Eigenverantwortung, Autonomie und „Wahlfreiheit“ zu sozialpolitischen Leitbildern insgesamt avanciert sind (vgl. Lessenich 2008). Auch der erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, der erstmals eine Bestandsaufnahme und Beurteilung der gegenwärtigen Situation in Sachen Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland aufarbeitete, beruft sich auf das Leitbild einer Gesellschaft mit Wahlmöglichkeiten (BMFSFJ 2011). Die dort formulierte Idee einer Gesellschaft mit „Wahlmöglichkeiten“ geht von einer Erwerbsgesellschaft aus und stellt auf die Bedeutung von Rechten auf Arbeitszeitanpassung und (kürzere) Erwerbsunterbrechungen für Sorgearbeit und andere gesellschaftlich wichtige Aufgaben sowie die soziale Absicherung dieser Phasen ab (vgl. ebd.: 48). Mit diesen familien- und sozialpolitischen Entwicklungen steht Deutschland nicht alleine da. Auch in anderen europäischen Ländern findet das Leitbild der „Wahlfreiheit“ bzw. „Choice“ Eingang in die familienpolitische Rhetorik, wie Debatten in Großbritannien und Frankreich zeigen (vgl. Milner 2010, Fleckenstein/Seeleib-Kaiser 2011). Milner stellt anhand ihrer Analyse des öffentlichen
40 Da die Arbeitgeberverbände in Deutschland vor dem Hintergrund des demographischen Wandels eine stärkere Partizipation von Frauen bzw. Müttern auf dem Arbeitsmarkt fordern, erklärt sich auf diese Weise auch der ungewöhnliche „Schulterschluss“ des Bundes der Arbeitgeber mit Gewerkschaften sowie den sozialdemokratischen und linken Parteien gegen das Betreuungsgeld.
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Diskurses41 in beiden Ländern fest, dass der Begriff der „Wahlfreiheit“ einerseits einseitig Frauen bzw. Mütter adressiert und Väter als Betreuende außen vor lässt. Die Verantwortlichkeit von Frauen für Familienarbeit werde dadurch implizit reproduziert, so ihr Vorwurf (Milner 2010: 13). Andererseits wird unter Bezugnahme auf „Wahlfreiheit“ die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre mit dem Ziel größerer staatlicher bzw. familienpolitischer Eingriffe in die Familie neu verhandelt, jedoch mit dem einseitigen Ziel arbeitsmarktpolitischer Aktivierung und Flexibilisierung von Eltern, wie vor allem der Fall Großbritanniens zeige (ebd.: 8, vgl. auch Fleckenstein/Seeleib-Kaiser 2011: 139). Im Ergebnis konstatiert Milner letztlich Einschränkungen und Ungleichverteilungen der individuellen bzw. elterlichen „Wahlfreiheit“: in Großbritannien, weil der Staat der Arbeitsmarktaktivierung von Eltern nicht ausreichend elterliche Rechte in der Erwerbssphäre zur Seite gestellt habe (Milner 2010: 9), in Frankreich, weil Frauen mit hohem Einkommen über Steuererleichterungen für individualisierte Kinderbetreuungsformen Anreize für einen schnellen beruflichen Wiedereinstieg erfahren, während sich viele Frauen mit Niedrigeinkommen öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen nicht leisten können und aus diesem Grund ihre Erwerbsarbeit aufgeben (ebd.: 11). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Leitner (2010) in einer international vergleichenden Perspektive. Sie zeigt, dass gerade konservative Wohlfahrtsstaaten wie Frankreich und Belgien, in denen Familien traditionell eine starke Rolle bei der Erbringungen von Fürsorgearbeit zufällt, „Wahlfreiheit“ bzw. Optionalität für Familien betonen. Die Kinderbetreuungs- und Altenpflegepolitiken weisen jedoch klare schichtspezifische Differenzierungen auf, denn „Wahlfreiheit“ in Bezug auf Kinderbetreuungsarrangements werde nur für diejenigen ermöglicht, die über ausreichend hohes oder weitere Einkommen im Familienzusammenhang verfügen. Deutschland, das zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten zählt, befördere ebenfalls schicht- und geschlechtsspezifisch unterschiedlich stark ausgeprägte „Wahlfreiheiten“, nicht nur hinsichtlich der Entscheidung über Eigen- und Fremdbetreuung von Kindern, sondern auch in Bezug auf eine geschlechtergerechte Aufteilung von Fürsorgearbeit während der Elterngeldmonate (Leitner 2010: 236). Auch die einzelnen skandinavischen Länder, die häufig als Vorbild für die deutsche Familienpolitik herangezogen werden, weisen eine gewisse Tradition
41 Milner nutzt dafür den Begriff der „frames of reference“, den sie wie folgt definiert: „a set of ideas (usually quiet simple) with symbolic or representative resonance, which […] are constructed through discourse, or ,whatever policy actors say to one another and to the public… to generate and legitimize a policy programme‘“, (Milner 2010: 4).
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bezüglich der Frage nach „Wahlfreiheit“ für Eltern auf (vgl. Ellingsæter/Leira 2007; Ellingsæter 2012). Inhalte und Bedeutungen des Begriffes haben sich dort mit der Zeit verändert: So wurde Eltern in den nordischen Ländern in den 1970er Jahren unter diesem Schlagwort die Möglichkeit eingeräumt, einen Großteil des Elternurlaubes untereinander aufzuteilen. In den 1990er Jahren dagegen betonte die Debatte um „Wahlfreiheit“ die Stärkung der Rechte von Familien, über Angebote und Zuwendungen des Wohlfahrtsstaates frei entscheiden zu können, etwa ihr Kind selber zu Hause oder in der Kita betreuen zu lassen (Ellingsæter/Leira 2007: 551). In Finnland, Norwegen und Schweden kam es mit Verweis auf die „Wahl-„ bzw. „Entscheidungsfreiheit“ für Eltern bereits frühzeitig zu der Einführung eines Betreuungsgeldes durch konservative Regierungen (Ellingsæter 2012: 3).42 In allen drei Ländern nehmen vor allem Mütter mit geringem Einkommen, niedrigem Bildungsniveau und Migrationshintergrund diese familienpolitische Leistung in Anspruch (Ellingsæter 2012: 12). Nach Einführung des Betreuungsgeldes verstummten die Debatten um „Wahlfreiheit“ für Eltern in den jeweiligen Ländern zudem nicht. Bei der Frage, entweder das Betreuungsgeld anzuheben oder den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur voranzutreiben, erfährt die „Wahlfreiheit“-Debatte in Schweden und Norwegen regelmäßig neuen Auftrieb (ebd.: 11). Auch dort hat sich also der Begriff der „‚Wahlfreiheit der Eltern‘ […] zu einer sehr einflussreichen Metapher entwickelt“ (Ellingsæter/Leira 2007: 551). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die politisch-öffentliche Debatte um „Wahlfreiheit“ für Eltern in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, mit der Einführung konservativer familienpolitischer Instrumente wie dem Betreuungsgeld verknüpft ist. Anklang findet die politische Forderung nach größerer Entscheidungsfreiheit für Eltern jedoch bei allen politischen Akteuren, sie wird nur je nach Familien- und Geschlechterrollenbilder unterschiedlich instrumentalisiert. In der (wenigen) wissenschaftlichen Literatur wird „Wahlfreiheit“ dagegen verknüpft mit gleichstellungspolitischen Ansprüchen. Nach Saxonberg ist „Wahlfreiheit“ nur unter der Bedingung von Geschlechtergerechtigkeit realisierbar. Seiner Auffassung nach ermöglicht eine gleichstellungsorientierte Familienpolitik die größten Wahlmöglichkeiten (Saxonberg 2009: 677). Auch Hammer und Österle verknüpfen mit dem Begriff der „Wahlfreiheit“ einen gleichstellungspolitischen Anspruch (Hammer/Österle 2003, vgl. auch Leitner 2010). Nach Ihnen werde der Fokus auf „choices and options“ für Eltern gewahrt, wenn „Wahlfreiheit“ sowohl das Recht auf Fürsorgearbeit als auch das
42 Finnland führte das Betreuungsgeld für Eltern bereits 1985 ein, Norwegen 1998 und Schweden 2008 (Ellingsæter 2012: 12).
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Recht, Fürsorgearbeit nicht zu leisten, umfasse (Hammer/Österle 2003: 41). Andere Autor*innen übersetzen Geschlechtergerechtigkeit mit der eigenständigen Existenzsicherung jeder*s Einzelnen (vgl. Schutter/Zerle-Elsässer 2012; Auth et al. 2010; Bothfeld/Klenner 2007). Familienpolitische Instrumente, die die finanzielle Abhängigkeit des einen Elternteiles vom anderen Elternteil befördern, werden als Einschränkung individueller „Wahlfreiheit“ gefasst.43 Relevant(-er) für das vorliegende Forschungsprojekt ist, dass in der Literatur zu „Wahlfreiheit“ eine systematische Auseinandersetzung mit den strukturellen Voraussetzungen angemahnt wird: „The discourse of parental choice has emerged as an influential policy paradigm in European countries, including in work-family initiatives […] [but it d.Verf.] tends to ignore or downplay structural constraints such as the gendering of family and parenting obligations.“ (Milner 2010: 5) Der Forschungsstand verweist nicht nur auf innerfamiliale Abhängigkeiten und Ungleichheiten, sondern auch auf bestehende soziale Differenzierungen im Rahmen familien- und sozialpolitischer Regelungen auf einem nationalstaatlich regulierten Arbeitsmarkt innerhalb von Wohlfahrtsstaaten sowie innerhalb des einzelnen Betriebes. All dies schlägt sich in unterschiedlichen Optionen der Lebensführung nieder. Die intersektionalen Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität, so zeigen die oben beschriebenen Studien bereits im Ansatz, erlangen auf diese Weise Bedeutung für die Frage nach der potenziellen „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern. Eine umfassende Analyse der „Wahlfreiheit“ von Eltern unter Berücksichtigung ihrer sozialen Positionierung steht in der Literatur jedoch aus. Verknüpfungen zwischen Fragen intersektional verstandener sozialer Ungleichheit und nationaler Familien- und Sozialpolitik werden (noch) zu unsystematisch gezogen und nicht vor dem Hintergrund möglicher Wechselwirkungen zwischen den für Deutschland spezifischen wohlfahrtsstaatlichem Erwerbsarbeits-, Geschlechterund Migrationsregimes reflektiert. Auch die konkrete berufliche Situation von Müttern und Vätern in den einzelnen Betrieben findet bisher in zahlreichen Studien wenig bis keine Beachtung, obwohl das Wechselspiel aus betrieblicher Vereinbarkeitspolitik der Privatwirtschaft und staatlicher Familienpolitik mit Blick auf eine ausbaufähige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der Realisierung
43 In dieser Arbeit steht die Frage der „Wahlfreiheit“ der einzelnen Elternteile im Zentrum. Diese ist sicherlich zu unterscheiden von der „Wahlfreiheit“ des Haushaltes bzw. der Familie oder des Paares als Ganzes.
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einer familienfreundlichen Arbeitswelt an Bedeutung gewonnen hat. Diese Forschungslücken sucht das vorliegende Dissertationsprojekt zu schließen.
3
„Wahlfreiheit“ intersektional erforschen Zur methodologischen und methodischen Vorgehensweise
Es hat sich gezeigt, dass Mütter und Väter vor dem Hintergrund des deutschen Erwerbsarbeits-, Geschlechter- und Migrationsregimes sowie deren Zusammenspiel unterschiedlich sozial positioniert sind, was grundlegend Relevanz haben dürfte für die Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit. Zur Beantwortung der Frage, wie sich „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern im Lebensverlauf konkret im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat darstellt und inwiefern diese durch die intersektionalen Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität beeinflusst ist, bedarf es der Klärung bzw. Operationalisierung des hier zugrunde gelegten Verständnisses von „Wahlfreiheit“. Eine solche Operationalisierung ist Gegenstand des ersten Unterkapitels. Die darauf folgenden Kapitel erläutern, warum der umschriebene Forschungsgegenstand aus der Perspektive rekonstruktiver Sozialforschung1 in den Blick genommen wird, welches konkrete Forschungsdesign daraus resultiert und inwiefern die intersektionale Perspektive dieser Arbeit auch methodologisch und methodisch eingelöst wurde. Die Arbeit knüpft im doppelten Sinne an die Grounded Theory an: Methodologisch bildet die von Glaser und Strauss (2010 [1967]) entwickelte Grounded Theory die Grundlage rekonstruktiver Forschung. Methodisch orientiert sich das Forschungsprojekt an der Grounded Theory-
1
Da die Bezeichnung der „rekonstruktiven Sozialforschung“ gegenüber der „qualitativen Sozialforschung“ die Unterscheidung zwischen hypothesenprüfender und rekonstruktiv-interpretativer Verfahren deutlicher macht, verwende ich im Folgenden bewusst den Begriff der „rekonstruktiven Sozialforschung“.
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Methode, wie sie von Strauss/Corbin weiterentwickelt wurde.2 Um der intersektionalen Perspektive des Forschungsvorhabens gerecht zu werden, wurde das methodische Vorgehen zudem durch methodologische Zugänge der Mehrebenenanalyse nach Winker/Degele (2009) sowie das methodische Instrumentarium der intersektionalen Analyseperspektive nach Riegel (2010) ergänzt. Anstelle einer detailreichen Darstellung allgemeiner Grundlagen und Prinzipien rekonstruktiver Sozialforschung liegt der Fokus auf dem Mehrwert der Grounded Theory bzw. der Grounded Theory-Methode in Ergänzung der Riegel’schen intersektionalen Analyseperspektive zur Beantwortung der formulierten Fragestellungen. Die Forschungsfrage wurde beispielhaft im Deutschen Krankenhaussektor in Nordrhein-Westfalen erforscht. Interviewpersonen waren Mütter und Väter, die an verschiedenen, zufällig ausgewählten Krankenhäusern angestellt waren und aus unterschiedlichen Beschäftigtengruppen stammen. So finden sich im Sample unter anderem Mütter und Väter, die als Ärzt*in, Hebamme oder Pflegekraft arbeiten, ebenso wie Verwaltungsangestellte und Angestellte im Bereich des Catering- oder Reinigungsdienstes. Die Gründe für diesen Branchenfokus werden in Kapitel 3.4 und 3.5 erläutert.
3.1 „WAHLFREIHEIT“ ALS HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN IN ENTSCHEIDUNGSSITUATIONEN Im Folgenden werden unter „Wahlfreiheit“ individuelle Handlungsmöglichkeiten von erwerbstätigen Müttern und Vätern in familialen und beruflichen Entscheidungssituationen bezüglich der Gestaltung, Verteilung und Organisation von Erwerbs- und Sorgearbeit verstanden. Phasen des Umbruchs und der Übergänge zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit im Lebensverlauf von Eltern sind von besonderem Interesse, weil dort wohlfahrtsstaatliche und betriebliche Strukturen, symbolische Repräsentationen und subjektive Identitäten erkennbar werden und den individuellen Handlungsspielraum der einzelnen Mutter bzw. des einzelnen
2
Ursprünglich von Barney Glaser und Anselm Strauss (Glaser/Strauss 2010 [1967]) in den sechziger Jahren gemeinsam entwickelt, lehnt sich die Verwendung der Grounded Theory als Erhebungs- und Auswertungsmethode in der vorliegenden Arbeit an den späteren methodologischen Weiterentwicklungen durch Strauss (Strauss 1998) und Strauss/Corbin (Strauss/Corbin 1996) an, in denen sie vor allem auf die Bedeutung theoretischen Vorwissens eingehen, während Glaser an einem rein induktivistischen Vorgehen festhielt (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 193, Kelle/Kluge 2010: 16f).
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Vaters abstecken. Es wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass sich beispielsweise in Phasen fürsorgebedingter beruflicher Ein- und Ausstiege, Veränderungen des Erwerbsarbeitsarrangements wie Dauer, Lage, Verteilung von Arbeitszeiten, Wechsel des Berufs oder des Arbeitsgebers sowie der vollständigen Aufgabe von Erwerbstätigkeit oder Form und Umfang der gewählten Kinderbetreuung Hinweise auf intersektional relevante Ungleichheiten artikulieren. Dabei wird nicht nur auf vorhandene familien- bzw. sozialpolitische Rechte abgestellt, sondern auf die Rekonstruktion von subjektiv wahrgenommenen Optionen in Entscheidungssituationen gezielt. „Wahlfreiheit“ stellt sich ein, wenn Handlungsalternativen verfügbar sind oder anders formuliert, wenn eine Auswahl aus mindestens zwei (oder mehr) Optionen besteht. Letztlich heißt das: „Wahlfreiheit“ ist ein relationales Konzept von subjektiv wahrgenommenen Handlungsoptionen in spezifischen Entscheidungssituationen und lässt sich nicht vorab objektiv-deduktiv bestimmen. Im Gegenteil gilt, dass „Wahlfreiheit“ sich nur in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Kontexten bestimmen lässt und auf Grundlage empirischer Evidenz ermitteln werden muss. Vollständige „Wahlfreiheit“ im Sinne von absoluter „Autonomie“ ist jedoch zugleich ein utopisches Ideal. Feministische Philiosophinnen haben den Autonomiebegriff in den 1980er Jahren bereits verworfen, indem sie auf die Existenz gegenseitiger, anteiliger und kontingenter Abhängigkeiten einer jeden Person aufmerksam machten. Sie machten deutlich, dass Subjekte sich in jeder Lebensphase in sozialen Bezügen bewegen und stets zugleich von Autonomie- und Abhängigkeitsverhältnissen geprägt seien. Subjekte sind so von Anderen abhängig, je nach sozialer Umwelt jedoch als mehr oder weniger autonom zu fassen (Friedmann 2003: 82, vgl. auch Anderson 2003, Rössler 2002). Übertragen auf „Wahlfreiheit“ bedeutet dies, dass bestehende Abhängigkeiten etwa von sozialpolitischen Transferzahlungen oder in partnerschaftlichen Kontexten nicht automatisch das Vorhandensein von „Wahloptionen“ ausschließen. Relevanter ist die Selbstbestimmtheit in konkreten Entscheidungssituationen. Je nach gesellschaftlichen Verhältnissen sowie subjektiven Autonomie- und Abhängigkeitsverhältnissen werden Personen auf diese Weise in Ihrer „Wahlfreiheit“ voneinander unterscheidbar. Die graduell verschiedenen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen für Wahlmöglichkeiten in Entscheidungssituationen machen die Frage nach „Wahlfreiheit“ zugänglich für die Analyse sozialer Ungleichheiten. Dies geschieht in der vorliegenden Arbeit aus intersektionaler Perspektive. Die Relationalität von „Wahlfreiheit“ bedeutet aber auch, dass Wohlfahrtsstaaten die Wahlmöglichkeiten in Entscheidungssituationen von Subjekten be-
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einflussen können. Dies geschieht durch einzelne bestehende Strukturen, machtvolle symbolische Repräsentationen und der Ermöglichung bzw. Verunmöglichung von Identitäten. Bestimmte Entscheidungen werden vor diesem Hintergrund auf Kosten anderer Entscheidungen privilegiert, etwa in Form materieller Ressourcen, der Bereitstellung von familienpolitischen Rechten oder eines privilegierten, legitimierten Status als Familienernährer*in oder Zuverdiener*in. Bestimmte soziale Gruppen oder Einzelpersonen in spezifischen Lebenssituationen sind angesichts bestimmter sozialer Risiken insofern sozialpolitisch besser abgesichert als andere. Bothfeld und Betzelt verdeutlichen die Einflussnahme von wohlfahrtsstaatlichen Politiken auf Entscheidungssituationen sowie deren selektiven Wirkungen auf verschiedene soziale Gruppen am Beispiel der deutschen Arbeitsmarktpolitik (Bothfeld/Betzelt 2013).
3.2 DIE REKONSTRUKTION VON „WAHLFREIHEIT“ IN ENTSCHEIDUNGSSITUATIONEN AUS INTERSEKTIONALER PERSPEKTIVE Grundprämisse der Grounded Theory als methodologische Grundlage rekonstruktiver Sozialforschung ist die Theoriebildung am Untersuchungsgegenstand sowie die prinzipielle Offenheit gegenüber dem empirischen Material und seinen Relevanzen. Ausgangspunkt sind dabei stets die Erzählungen der Untersuchten, ihre Interpretationen und Deutungsmuster. „Überall dort, wo die Annahme zugrunde liegt, daß menschliche Wirklichkeit interpretierte Wirklichkeit ist und daß diese Wirklichkeit in Interaktionsprozessen konstruiert wird, liefert die grounded theory das passende methodische Rüstzeug, das dort seinen Ansatzpunkt findet, ‚wo was los ist‘, um mit Goffman zu sprechen: im Alltagsleben selbst [Herv. i.O.].“ (Hildenbrand 1998: 17)
Damit steht die Grounded Theory einerseits in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus der interpretativen Sozialforschung, nach dem soziale Sinnstrukturen Produkte menschlichen Handelns sind, die kontinuierlichem Wandel unterworfen sind (vgl. Hildenbrand 1998: 16).3 Strübing formuliert dies so:
3
Der Begriff des Symbolischen Interaktionismus geht auf den US-Soziologen Herbert Blumer (1973) zurück. Nach dem Symbolischen Interaktionismus handeln Menschen auf Grundlage von symbolischen Bedeutungen, die Dinge in ihrer Umwelt für sie haben und gestalten bzw. verändern diese in Interaktion mit anderen.
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„Auch ohne zu bestreiten, dass sich Akteure aus divergierenden Interaktionskontexten im Kern mit derselben Natur auseinander zu setzen haben, können wir konstatieren, dass ihnen diese in ihrer jeweiligen Praxis in unterschiedlichen Ausschnitten und Intensitäten und folglich auch in unterschiedlichen Bedeutungen entgegentritt. Realität ist zwar objektiv, aber nicht universell, es gibt mithin auch keinen Anlass, ein universelles, akteursunabhängiges Wahrheitskriterium anzunehmen.“ (Strübing 2008: 39)
Andererseits verortet Strauss die Theorie selbst in der Denkschule der „Chicagoer Schule der Soziologie“, die stets die Notwendigkeit betonte, „die Standpunkte der Handelnden zu erfassen, um Interaktion, Prozeß und sozialen Wandel verstehen zu können“ (Strauss 1998: 30). Kurzum: Der Zugriff auf gesellschaftliches Geschehen findet über die Wirklichkeitskonzeption, die sich im sozialen Handeln von Individuen wiederfindet, statt (vgl. auch Hoffmann-Riem 1980: 343). Für das hier zu untersuchende Thema bedeutet dies, dass „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern stets subjektiv wahrgenommene Optionen oder Hemmnisse sind, die sich im sozialen Handeln in Entscheidungssituationen der Eltern zeigen und auf diese Weise rekonstruierbar werden. Hoffmann-Riem (1980) nennt für die rekonstruktive Sozialforschung zwei Prinzipien, die mit der Grounded Theory in eine eigene Methodenlehre überführt wurden: das Prinzip der Offenheit und das Prinzip der Kommunikation. Ersteres besagt, „daß die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat“ (Hoffmann-Riem 1980: 343). Hilfreich sei dafür die Unterstellung einer prinzipiellen Fremdheit zwischen Forscher*innen und Forschungssubjekt (ebd.: 344), also dem grundsätzlichen Hinterfragen von Begriffen, Bedeutungen, Wissen und Kontexten, sowie der Verzicht auf eine Hypothesenbildung ex ante (ebd.: 345). Die von Hoffmann-Riem postulierte Offenheit zeichnet sich in der Grounded Theory durch ihr Verständnis von Theoriebildung wieder. Theorie im Sinne von Glaser/Strauss ist Ergebnis eines zirkulären Prozesses (Glaser/Strauss 2010 [1967]: 26), der sich aus der parallelen Erhebung und Auswertung von Material ergibt. Erst auf Grundlage der subjektiven Interpretationen und Deutungsmuster der Untersuchten werden Kategorien, Eigenschaften dieser Kategorien sowie Hypothesen generiert und in der Folge zu komplexen Theorien, eben „grounded theories“ – also aus der Empirie emergierende Theorien – verdichtet (vgl. Glaser/Strauss 2010 [1967]: 46f). Dies geschieht im Rahmen eines theoretischen Samplings, also „den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind“
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(Glaser/Strauss 2010 [1967]: 61). Der Prozess der Datenerhebung wird insofern auch durch die erst entstehende Theorie geleitet und kontrolliert. Auf Grundlage von erstem Material werden vorläufige heuristische Hypothesen entwickelt, die die Erhebung und Auswertung weiteren Materials steuern. Vor dem Hintergrund des neuen Materials werden die entstandenen Hypothesen überprüft und weiterentwickelt. Feld- und Auswertungsphasen wechseln sich idealtypisch ab bzw. greifen ineinander (vgl. auch Strauss 1998: 44). Diese auf dem empirischen Material fundierten Theorien werden in vorhandene Theorien und dem bestehenden wissenschaftlichen Literaturkanon eingebettet bzw. vor diesem Hintergrund diskutiert. Die höchste theoretische Sensibilität fordert die Grounded Theory daher nicht im Vorfeld einer Untersuchung durch die Artikulation von Hypothesen oder Forschungsannahmen, sondern explizit erst bei der Auswertung des Materials, wenn es darum geht, die systematische Wiederkehr von Themen und Elementen innerhalb einzelner Fälle, aber auch über verschiedenen Fälle hinweg mit bestehenden Theorien zusammen zu bringen bzw. von diesen abzugrenzen. „Theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. […] Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptionell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln – und zwar schneller, als wenn diese Sensibilität fehlt.“ (Strauss/Corbin 1996: 25)
Die von ihnen geforderte theoretische Sensibilität der Forschenden entspringt dabei nicht nur den Kenntnissen der Fachliteratur, sondern auch beruflichen und privaten Erfahrungen sowie aus dem Prozess des Forschens selbst (vgl. Strauss 1998: 36). Das zweite Prinzip rekonstruktiver Sozialforschung, das der Kommunikation, soll den Zugang zu den Interpretationen und Konzeptionen von Wirklichkeit der Untersuchten sichern. „Das Prinzip der Kommunikation besagt, dass der Forscher den Zugang zu bedeutungsstrukturierten Daten im allgemeinen nur gewinnt, wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjektes in Geltung lässt.“ (Hoffmann-Riem 1980: 346)
Abgesehen von der Dokumentenanalyse ist der Zugang zu Daten stets auf eine Kommunikationsbeziehung zwischen Forscher*innen und Beforschten angewiesen. Fritz Schütze beschrieb in diesem Zusammenhang den kommunikativen
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Grundcharakter von rekonstruktiver Sozialforschung, die auf die „Ersthervorlockung, Aufrechterhaltung und Wiedererzeugung narrativer Strukturen in nichtstandardisierten situationsreflexiblen Interviews“ angewiesen sei (Schütze 1977: 1). Diese unvermeidliche Kommunikationsbeziehung beruht auf Strukturen der Verständigung und Kommunikation, mit der alltägliche Handlungspraxis von den Individuen selbst beschrieben und über das implizite und mit anderen geteilte Wissen zugänglich wird (Przyborskwi/Wohlrab-Sahr 2014: 23). Die interpretative Sozialforschung stellt insofern darauf ab, sich dem kommunikativen Regelsystem der Untersuchten anzupassen und mit Hilfe unterschiedlicher Erhebungsinstrumente – wenn auch in unterschiedlichem Maße – einen möglichst offenen Darstellungsspielraum für die Forschungssubjekte zu realisieren. Denn, so Hoffmann-Riem, „[n]ur wenn z.B. sinnerzeugende Handlungskontexte mit rekonstruiert werden können, läßt sich hoffen, daß die immer an die spezifische Forschungssituation gebundene Definition gesellschaftlicher Wirklichkeit Aussagekraft hat für faktische Handlungsabläufe, seien es vergangene, aktuelle oder geplante.“ (Hoffmann-Riem 1980: 347)
Die Grounded Theory verschreibt sich explizit keiner spezifischen Form der Datenerhebung, sondern begreift unterschiedliche Daten und Materialien als wertvolle und aussagekräftige Empirie. Ausgangspunkt ist jedoch stets das Kommunikationsprinzip bei der Analyse von Deutungen und Interpretationen der Beforschten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist demnach die Rekonstruktion subjektiver Interpretationen und Deutungsmuster erwerbstätiger Mütter und Väter im Hinblick auf die Frage nach „Wahlfreiheit“ hinsichtlich der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Im Rahmen von Interviews werden dafür subjektive Sichtweisen und Handlungsorientierungen erhoben, aus denen etwa Motivlagen, Bedingungen sowie Beurteilungen von Handlungsmöglichkeiten, aber auch Handlungsalternativen, in Entscheidungssituationen der erwerbstätigen Mütter und Väter herausgelesen werden können. Erst in einem zweiten Schritt werden diese subjektiv wahrgenommenen oder auch verwehrten Handlungsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen (durch den systematischen Vergleich sowohl zwischen den Fällen als auch innerhalb eines Falles) zu gegenstandsbezogenen Theorien im Hinblick auf die Forschungsfragen verdichtet, mit bestehenden Theorien verglichen und vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheiten aus intersektionaler Perspektive gedeutet.
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3.2.1 Die Analyse von Übergängen, Brüchen und Entscheidungen mit der Grounded Theory-Methode Ausgehend von diesen Prämissen rekonstruktiver Sozialforschung unter methodologischen Rückbezug auf die Grounded Theory nach Glaser/Strauss erscheint die Grounded Theory-Methode, wie sie von Strauss/Corbin (1990) weiterentwickelt wurde, als konkrete Erhebungs- und Auswertungsmethode geeignet, um der Frage nach „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern in Entscheidungssituationen nachzugehen. Notwendiger Gegenstand der Analyse zur Beantwortung der Forschungsfragen sind einzelne Entscheidungen in spezifischen Situationen im Lebensverlauf. So sind etwa Phasen der Übergänge und/oder Brüche in den Biographien der Befragten von besonderem Interesse. Die Grounded Theory-Methode ist für das Analysieren von Handlungsentscheidungen von Individuen besonders geeignet, da sie Subjekte als Akteure begreift, die in spezifische Kontexte eingebettet sind und im Rahmen ihrer subjektiv wahrgenommenen Umwelt handeln bzw. Entscheidungen treffen. „Rather, actors are seen as having, though not always utilizing, the means of controlling their destinies by their responses to conditions. They are able to make choices according to perceived options […] Thus, grounded theory seeks not only to uncover these conditions but also to determine how the actors under investigation actively respond to those conditions, and to the consequences of their actions.“ (Corbin/Strauss 1990: 419)
Mit Hilfe des Kodierparadigmas der Grounded Theory Methode lassen sich Handlungen bzw. Entscheidungen im Lebensverlauf im Kodierverfahren einerseits als solche rekonstruieren, ob diese nun bewusst oder vorbewusst stattfinden, und andererseits in vier bis fünf Elemente zerlegen, um die Entscheidungen zunächst einzeln zu analysieren (vgl. Strauss 1998: 56). „Beim axialen Kodieren liegt unser Fokus darauf, eine Kategorie (Phänomen) in Bezug auf die Bedingungen zu spezifizieren, die das Phänomen verursachen; den Kontext (ihren spezifischen Satz von Eigenschaften), in den das Phänomen eingebettet ist; die Handlungs- und interaktionalen Strategien, durch die es bewältigt, mit ihm umgegangen oder durch die es ausgeführt wird; und die Konsequenzen dieser Strategien [Herv. i.O.].“ (Strauss/Corbin 1996: 76)
Die Rekonstruktion von Bedingungen, Interaktionen sowie Strategien und Konsequenzen der einzelnen Übergänge oder auch Brüche im Lebensverlauf sowie der damit zusammenstehenden Entscheidungen der befragten Mütter und Väter
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zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit steht insofern im Analyseprozess an erster Stelle. Dafür werden die näher zu analysierenden Stellen im erhobenen Material im Rahmen des offenen Kodierens zunächst lokalisiert (Strauss 1998: 57f).4 Nach dem offenen Kodieren folgte das axiale Kodieren, dem das bereits erwähnte Kodierparadigma als Instrument intensiverer Analyse zu Grunde liegt. „Der Begriff axiales Kodieren ist für diesen Vorgang zutreffend, weil sich die Analyse an einem bestimmten Punkt um die ‚Achse‘ einer Kategorie dreht [Herv. i.O.]“ (Strauss 1998: 63). So stellte sich beim Kodieren des Materials bald heraus, dass Fragen von Partnerschafts- und Familienkonstellationen sowie soziale Netzwerke ebenso relevant erscheinen für die Frage von „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen wie individuelle Tauschverhältnisse und berufliche Leistungen im Betrieb. Diese ersten Hypothesen avancierten – neben anderen – im Verlauf der Analyse zu so genannten Schlüsselkategorien, nach denen dann systematisch im Material gefahndet wurde. „Selektiv kodieren heißt also, daß der Forscher den Kodierprozeß auf solche Variablen begrenzt, die einen hinreichend signifikanten Bezug zu den Schlüsselkodes aufweisen, um in einer auf einen spezifischen Bereich bezogenen Theorie verwendet zu werden.“ (Strauss 1998: 63) Auf diese Weise verdichten sich die herausbildenden Theorien entlang des Materials und leiten die weitere Datenanalyse sowie im Idealfall auch die weitere Datenerhebung. Im vorliegenden Forschungsprojekt hatten sich in der ersten Erhebungsphase vor allem Mütter und Väter zu Interviews bereit erklärt, die als Ärzt*innen, im Bereich der Pflege oder Verwaltung von Krankenhäusern tätig waren. Die Analyse dieser Interviews gab erste Hinweise auf die bereits erwähnten Schlüsselkategorien im Kontext der Organisation „Krankenhaus“. Auch stellte sich schnell heraus, dass haushaltsbezogene Ressourcen, also etwa Familienkonstellation und Haushaltseinkommen, relevanten Einfluss auf Fragen der „Wahlfreiheit“ haben. Vor diesem Hintergrund lag der Fokus für die zweite Feldphase auf Gesprächen mit Reinigungskräften, Kantinen-Personal und Angestellten im Service-Bereich der Kliniken, denen eine geringere Ausstattung mit den verschiedenen Kapitalsorten sowie eine andere symbolische Stellung innerhalb der Organisation Krankenhaus unterstellt werden konnte als etwa Ärzt*innen.
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Für Strauss ist Kodieren dabei gleichzusetzen mit der Konzeptualisierung von Daten: es bedeute, dass man über Kategorien und deren Zusammenhänge Fragen stelle und vorläufige Antworten darauf gebe. Ein Kode sei demnach ein Ergebnis dieser Analyse (Strauss 1998: 48).
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Über den gesamten Forschungsprozess empfiehlt die Grounded TheoryMethode, Memos bzw. Forschungsberichte zu verfassen. Die Memos dienen der Explikation und dem Festhalten theoretischer Fragen, Hypothesen und/oder zusammengehörender Kodes, die im Verlauf der Analyse aufkommen. Memos halten insofern Kodierergebnisse fest und regen neue Kodiervorgänge an. Darüber hinaus sind sie ein Mittel, um verschiedene Theorien zu integrieren, also miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Strauss 1998: 50). Im Rahmen dieser Arbeit wurden im Nachgang zu den ersten acht analysierten Interviews ausführlichere Falldarstellungen geschrieben, die fünf für die Fragestellung als relevant erachtete Phänomene aufgriffen.5 Einzelne Fälle dienten dabei zunächst als Schlüsselfall für die rekonstruierte Schlüsselkategorie. Im weiteren Vorgehen wurden diese Phänomene jedoch zu Konzepten ausdifferenziert, indem innerhalb des bestehenden Samples verglichen und kontrastiert wurde. Der beständige Vergleich von heuristischen Hypothesen und Theorien ist ein weiteres Charakteristikum der Grounded Theory-Methode. Dies geschieht über maximale bzw. minimale Vergleiche und Kontrastierungen der rekonstruierten Phänomene, durch die das empirische Feld nach und nach abgesteckt wird. Przyborski/Wohlrab-Sahr formulieren es wie folgt: „Ausgehend von ersten Befunden wird nach Ähnlichem und nach ganz anders Geartetem gesucht“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 206). Im Rahmen des kontinuierlichen Vergleichens und Kontrastierens konnte zudem die intersektionale Perspektive Eingang finden. Die Frage, wo der nächste Fall zu finden sei, wurde insofern auch entlang der sozialen Kategorien von Gender, Klasse und Ethnizität beantwortet.6
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Die Phänomene im Hinblick auf die anonymisierten Fälle lauteten: „Die Solidargemeinschaft als Erweiterung und Begrenzung der subjektiven Handlungsmöglichkeiten im Lebensverlauf. Der Fall Frau Hotic“; „Nachgefragte Fachkraft oder sorgender Vater? Die Wahlmöglichkeiten von Herrn Wilke zwischen Auf- und Abwertung“; „Frau Müller. Familienernährerin sein als einzige Wahloption“; „Hoffen statt planen. Herr Wiesners Wahlmöglichkeiten zwischen Schichtdienst, Ladenöffnungszeiten und Flexibilisierungsstrategien des Arbeitgebers“; „Alleinerziehender Vater und Arzt in Vollzeit. Herr Demirci und das ‚Au-Pair-Modell‘ als alles ermöglichende Option“.
6
Da die erste Interviewpartnerin eine Zuverdienerin mit Migrationshintergrund aus dem nicht-akademischen Verwaltungsbereich eines Krankenhauses war, wurde im Kontrast dazu ein männlich, autochthon-deutscher Arzt analysiert, der ebenfalls Zuverdiener seiner Familie war. Es folgten Frau Reinhard, als autochthon-deutsche alleinerziehende Pflegekraft in Kontrast zu Herrn Demirci, alleinerziehender Arzt und Kind von Gastarbeiter*innen; Herr Wiesner als autochton-deutscher Pfleger im Kontrast zu Frau Lohse, Ärztin ohne Migrationshintergrund, beide mit ähnlichem Ein-
„Wahlfreiheit“ intersektional erforschen | 95
3.2.2 Die intersektionale Erforschung von Praxis Charakteristisch für die Grounded Theory-Methode ist, dass diese für die eigene Forschungsarbeit modifiziert werden kann bzw. sogar werden sollte. So formuliert Strauss selbst die explizite Ermunterung, sich der Methode flexibel anzunehmen und an die eigene Forschungsfrage anzupassen. „Studieren Sie diese Faustregeln, wenden Sie sie an, aber modifizieren Sie sie entsprechend den Erfordernissen Ihrer Forschungsarbeit. Denn schließlich werden Methoden entwickelt und den sich verändernden Arbeitskontexten angepasst [Herv. i.O.]“ (Strauss 1998: 33). Da sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gemacht hat, „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern in Entscheidungssituationen aus einer Perspektive intersektionaler Ungleichheit zu rekonstruieren, erschien die Ergänzung der Grounded Theory-Methode um entsprechende Methodologien und Methoden intersektionaler Ansätze als notwendig und sinnvoll. Methodologisch haben sich die Arbeiten von McCall (2005) sowie die Mehrebenenanalyse von Winker/Degele (2009) und der darin eingelassene Zugang zur intersektionalen Erforschung von Praxis als fruchtbar erwiesen. Für die Zwecke eines konkreten Methodeninstruments wurde die intersektionale Analyseperspektive nach Riegel (2010) genutzt, die im weiteren Verlauf erläutert wird. Während das hier verfolgte theoretische Verständnis von Intersektionalität bereits in Kapitel 2 dargelegt wurde, erfolgt an dieser Stelle die Beschreibung der methodologischmethodischen Implikationen einer intersektionalen Analyse. Nach Riegel ist Intersektionalität gleichzusetzen mit dem „analytischen Blick auf das Zusammenwirken verschiedener sozial konstruierter, aber für die Strukturierung der sozialen Welt relevanten Differenzen“ (Riegel 2010: 66). So betonen intersektionale Perspektiven, dass gesellschaftliche Strukturkonflikte und Ungleichheiten nicht einseitig bzw. eindimensional zu betrachten sind, sondern in ihrer Verwobenheit. Die Existenz einer Masterkategorie bzw. die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwidersprüchen in der Gesellschaft werden so negiert (ebd.: 68, vgl. auch Winker/Degele 2009). Soziale Kategorien wie Gender, Klasse und Ethnizität und die damit verbundenen Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse werden darüber hinaus in ihrem jeweiligen historischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext analysiert (Riegel 2010: 66). Zwar ist umstritten, welche Ungleichheitskategorien im Rahmen von Intersektionalitätstheorien be-
kommen wie der/die Partner*in und schließlich eine Familienernährerin ohne Migrationshintergrund, als Hebamme im Funktionsdienst (Frau Müller) in Kontrast zu einem zugewanderten polnischen Arzt, der ebenfalls das Haupteinkommen seiner Familie erwirtschaftet.
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trachtet und erforscht werden sollen7, für die vorliegende Arbeit wurde die historische und gesellschaftliche Relevanz der Kategorien-Trias Ethnizität, Klasse und Gender im deutschen Wohlfahrtsregime jedoch bereits herausgearbeitet und dargelegt (vgl. Kapitel 2). So stehen vor allem diese drei Kategorien in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen im analytischen Fokus des methodischen Vorgehens. Das Forschungsprojekt interessiert sich insofern für die Bedeutung der Kategorien Klasse, Ethnizität und Geschlecht im Kontext von „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen erwerbstätiger Mütter und Väter im deutschen Wohlfahrtsstaat. Nichtsdestotrotz geht sowohl mit einem intersektionalen Forschungsblick als auch mit der Methode der Grounded Theory die Selbstverständlichkeit einher, allen Ungleichheitskategorien gegenüber sensibel zu sein, die im Rahmen des Forschungsprozesses auftauchen, und diese nicht aus der Analyse auszuschließen. Neben der Benennung ungleichheitsgenerierender Kategorien lassen sich mit Lesley McCall Unterschiede im analytischen Zugang und Umgang mit diesen aufzeigen. Sie unterscheidet anti-kategoriale Ansätze von intra-kategorialen und inter-kategorialen, um die Wechselbeziehungen und Vielschichtigkeit von intersektionaler Ungleichheit zu erforschen, und ordnet diese auf einem Kontinuum an (McCall 2005: 1773f): Auf der einen Seite des Kontinuums stünden antikategoriale Ansätze, die sozial konstruierte Kategorien zu dekonstruieren suchten, da diese der Komplexität sozialer Wirklichkeit (und somit eben auch sozialer Ungleichheiten) nicht angemessen seien bzw. diese unzulänglich vereinfachten. Auf der anderen Seite des Kontinuums ordnet McCall inter-kategorialen Ansätze ein, die aus strategischen Gründen existierende Kategorien aufgriffen – gleichwohl sie diese als sozial konstruierte Fiktionen begriffen –, um einerseits auf soziale Ungleichheitsverhältnisse zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zu blicken und andererseits (sich verändernde) Wechselverhältnisse zwischen verschiedenen Dimensionen und Ebenen zu betrachten. 8 Dazwischen ordnet McCall intra-kategoriale Ansätze ein, die darauf abzielten, die Differenzen und Vielschichtigkeit innerhalb einer Kategorie zu rekonstruieren, etwa indem den verschiedenen Lebenswirklichkeiten innerhalb einer sozial konstruierten Gruppe (beispielsweise Müttern) nachgespürt wird. Diese Unterscheidung McCalls ist,
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So sind Winker/Degele der Auffassung, dass die Kategorien vom untersuchten Gegenstand und der Untersuchungsebene abhängen sollten (vgl. Winker/Degele 2009: 15). Ebenso formuliert Yuval-Davis, dass die Kategorien Ergebnis eines analytischen Prozesses sein sollten (Yuval-Davis 2013: 210).
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McCall ordnet sich hier selbst beispielhaft mit ihrer Forschung ein (z.B. McCall 2001).
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wie sie selbst betont, idealtypisch zu verstehen und primär analytischer Natur (McCall 2005: 1774), jedoch für das Explizieren des vorliegenden Forschungsvorhabens durchaus hilfreich. Demnach wäre dieses Forschungsprojekt als interkategoriale Arbeit einzuordnen, die sozial konstruierte Kategorien, nämlich Mütter und Väter mit bzw. ohne Migrationshintergrund sowie mit hohem bzw. niedrigem beruflichen Status, strategisch aufgreift und primär die Ungleichheitsverhältnisse zwischen diesen verschiedenen sozialen Gruppen entlang der Frage nach „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen vergleichend analysiert. Gleichzeitig ließe sich der analytische Fokus dieser Arbeit auch weiterdenken als intra-kategorialer Ansatz, nämlich, wenn sich auf Grundlage der empirischen Befunde zu den inter-kategorialen Ungleichheiten Aussagen über intrakategoriale Differenzen ableiten lassen. Wie noch gezeigt wird, lassen sich durchaus unterschiedliche Formen von „Wahlfreiheit“ zum Beispiel in der Lebenswirklichkeit von Vätern entlang von Migrationshintergrund und beruflichem Status rekonstruieren. Diese Arbeit versucht demnach zweierlei: Sie greift bestehende Kategorien, die sie als historisch gewachsene und sozial konstruierte Fiktionen begreift, strategisch zur vergleichenden Analyse von Ungleichheitsverhältnissen auf und rekonstruiert gleichzeitig die intra-kategorialen Differenzen innerhalb der im Fokus stehenden Eltern auf. Insofern wird sich hier methodisch-methodologisch auf die Interdependenz von Kategorien in Anlehnung an Walgenbach bezogen, wie in Kapitel 2 theoretisch bereits angelegt (vgl. Kap. 2.1.1.): „Das heißt, es wird nicht mehr allein von Interdependenzen zwischen Kategorien bzw. wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Kategorien bzw. Machtverhältnissen ausgegangen, sondern soziale Kategorien werden zugleich als in sich heterogen strukturiert konzeptualisiert“ (Walgenbach 2012: 19). Neben den Kategorien und dem analytischen Umgang mit ihnen lautet eine weitere zentrale Frage, auf welcher Ebene soziale Ungleichheitsverhältnisse erforscht werden sollen. Hier spricht Riegel von der Notwendigkeit, nicht nur eine Ebene, etwa die der Sozialstrukturen zu betrachten, sondern einen MehrebenenAnsatz zu verfolgen, der auch Wechselverhältnisse zwischen den Untersuchungsebenen in den Blick bekommt (vgl. Riegel 2012: 74, ebenso Winker/Degele 2009: 18, Walgenbach 2005: 57). In Kapitel 2 wurden die Ebenen, die aus intersektionaler Perspektive für die hier verfolgte Fragestellung Relevanz haben, bereits umschrieben (vgl. Kap. 2.1.3.). Winker/Degele konzeptualisieren in ihrem intersektionalen Mehrebenen-Ansatz soziale Ungleichheiten auf drei unterschiedlichen, aber miteinander in Wechselwirkung stehenden Ebenen: die Ebene der Sozialstrukturen, die Ebene der Identitätskonstruktionen sowie die Ebene der symbolischen Repräsentationen. Diese drei Ebenen stehen schließlich in Wechselwirkungen miteinander (Winker/Degele 2009: 74). Für die vorliegen-
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de Forschungsarbeit übersetzt bedeutet dies, dass die Frage nach „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern auf der Ebene von Sozialstrukturen des Wohlfahrtsstaates (etwa familien- und sozialpolitischen Rechten) und Betrieben (z.B. betriebliche Vereinbarkeitsmaßnahmen) erforscht werden müssen. Darüber hinaus spielen die Identitäten der Interviewpartner*innen eine hervorgehobene Rolle; betrachten sich die erwerbstätigen Väter beispielsweise als für die Sorge der Kinder zuständige Personen, inwiefern wird der eigene Migrationshintergrund bzw. das eigene Deutschsein aufgerufen und welche Rolle spielen Identitäten im Kontext spezifischer Familienkonstellationen, etwa Alleinerziehende oder Familienernährende, für „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen? Schließlich müsste die Ebene der symbolischen Repräsentationen zur Beantwortung der Forschungsfragen berücksichtigt werden; interessant ist im Zusammenhang mit dem Forschungsinteresse etwa die Frage nach Werten und Stereotypen, die für die eigene Berufstätigkeit als Ärzt*in oder Pfleger*in in organisationalen Kontexten reproduziert werden. Neben der Benennung der drei relevanten Ebenen kann für die Analyse intersektionaler Ungleichheiten vor allem der methodologische Zugang fruchtbar gemacht werden, den Winker/Degele wählen. Denn sie erklären die Analyse beobachtbarer sozialer Praxen zum methodologischen Ausgangspunkt ihrer intersektionalen Mehrebenen-Analyse: „Über soziale Praxen, d.h. soziales Handel und Sprechen, entwerfen sich Subjekte durch Identitätskonstruktionen in sozialen Kontexten selbst, verstärken oder vermindern den Einfluss bestimmter symbolischer Repräsentationen und stützen gesellschaftliche Strukturen oder stellen sie in Frage. Umgekehrt bilden die drei angesprochenen Ebenen den Rahmen für soziale Praxen.“ (Winker/Degele 2009: 27)
Das alltägliche Tun ist demnach zugleich Ausgangspunkt praktischer Erkenntnis der Subjekte selbst als auch Grundlage der zu entwickelnden Theorien. Theorie müsse demnach der Logik der Praxis folgen, mit all ihren Widersprüchen und Ambivalenzen, die das Soziale stets auszeichne (ebd.: 64). Für diesen Ansatz greifen die Autorinnen auf Bourdieus Überlegungen zu einer Theorie der Praxis zurück, die sie als besonders anschlussfähig für eine intersektionale Analyse beschreiben. Bourdieu postuliere einerseits eine Theoriekonstruktion auf der Grundlage von Empirie, andererseits bediene er sich der methodischen Mittel der Relationierung und Kontextualisierung. Indem Praxen sozialer Positionierung im Schnittfeld der genannten drei Ebenen verortet werden könnten, ließen sich unterschiedliche Analyseebenen miteinander verbinden (Winker/Degele 2009: 63f, vgl. Bourdieu 1979).
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Allerdings greift die vorliegende Arbeit wie Eingangs bereits erwähnt nicht auf die konkreten methodischen Vorschläge der Autorinnen zurück, die für ihre Mehrebenen-Analyse ein eigenständiges Instrumentarium in acht Schritten bereitstellen (vgl. Winker/Degele 2009: 79). Anders als bei Winker/Degele dargestellt, wird hier nicht davon ausgegangen, dass jede der drei Analyseebenen eigenes, für sie spezifisches empirisches Material benötigt, etwa narrative Interviews für symbolische Repräsentationen und Gesetzestexte für die Strukturebene. Das Gegenteil wird unterstellt, nämlich dass narrative Interviews Rückschlüsse auf die Bedeutung von Kategorien und ihren Wechselwirkungen auf allen Ebenen bereithalten. Die im Gespräch beschriebenen sozialen Praxen basieren letztlich auf sozialen Positionierungen, die sich auf den drei Ebenen wiederspiegeln und durch diese geprägt werden. Darüber hinaus lassen sich die methodologischen Anliegen einer intersektionalen Analyse mit der Grounded TheoryMethode bereits größtenteils einlösen. Auch die Grounded Theory-Methodologie setzt, wie weiter oben beschrieben, auf der Ebene der Handlungen und Praxen der Akteure an, kontextualisiert diese vor dem Hintergrund des interpretativen Paradigmas, indem nach den Bedingungen, Interaktionen, Strategien und Konsequenzen gefragt wird, und stellt die Relationierung durch beständigen Vergleich und Kontrastierungen sicher. Allerdings bleibt die Grounded Theory bei der Betrachtung der Bedingungen von Handeln stehen und führt den Blick nicht systematisch weiter auf gesellschaftliche Strukturen. Für das vorliegende intersektionale Forschungsvorhaben ist die Analyse von in diesem Sinne dem Handeln übergeordneter Kategorien und Ebenen jedoch unabdingbar. Die intersektionale Analyseperspektive nach Riegel ermöglicht ein solches Anliegen durch die Bereitstellung eines strategischen Forschungsblickes, der „das Zusammenwirken von verschiedenen sozialen Differenzen und Dominanzverhältnissen sowie die damit verbundenen Strukturen sowie hegemonialen Praxen und Diskurse kritisch in den Blick [nimmt]“ (Riegel 2010: 77). Riegel verortet wie Winker/Degele Differenzlinien und Dominanzverhältnisse auf verschiedenen sozialen Ebenen, die denen von Winker/Degele stark ähneln, indem sie verschiedene Dimensionen voneinander unterscheidet: die Ebene gesellschaftlicher Bedingungen (Sozialstrukturen), die Ebene sozialer Bedeutungen, Repräsentationen und Diskurse (symbolische Repräsentationen) und schließlich die Ebene des Subjekts mit seinen Orientierungen und Handlungen (Identität) (ebd.: 71). Für die empirische Analyse müssten alle drei Ebenen in ihrem dynamischen und dialektischen Zusammenspiel betrachtet werden (ebd.: 74). Zu diesem Zweck formuliert Riegel analytische Forschungsfragen, die den Fokus im Material einerseits auf Differenzbildungen, Zuschreibungen, Ein- und Ausgrenzungssowie Bewertungsprozessen lenken, andererseits auf die Funktion und Folgen
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solcher Kategorisierungen und Praxen richten. Auch nach emanzipatorischem Potenzial werde das Material nach Auffassung von Riegel mit Hilfe ihres strategischen Forschungsblicks durchforstet, um Möglichkeiten der Veränderungen sozialer Verhältnisse auf die Spur zu kommen (Riegel 2010: 77). Konkret lauten die von ihr vorgeschlagenen Fragen wie folgt (vgl. ebd.): • Welche sozialen Kategorien und Dominanzverhältnisse werden relevant? Wie
wirken diese zusammen? • Wie werden diese sozialen Differenzen und Ungleichheitsverhältnisse (situa-
tiv, habituell, diskursiv) hergestellt und reproduziert? • Welche Funktionen und welche Folgen hat dies für die beteiligten Subjekte
und für die soziale Ordnung des Systems? • Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Reproduktionsprozess von ungleich
heitsstrukturierender Differenzbildung zu durchbrechen? Sie schlägt vor, diese Fragen systematisch an das empirische Material zu stellen, was in der vorliegenden Arbeit realisiert wurde, indem die Fragen des Riegel’schen strategischen Forschungsblicks auf das Kodierparadigma der Grounded Theory-Methode folgten. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass bereits die sich aus dem empirischen Material herauskristallisierenden Schlüsselkategorien einer intersektionalen Analyseperspektive unterzogen wurden. Im Nachgang zur Analyse des Materials wurden die einzelnen Theorien dann systematisch intersektional gewendet, indem die Theorien entlang der Wechselwirkungen und Interdependenzen der Kategorien Ethnizität, Klasse und Geschlecht sowie unter Berücksichtigung der drei Ebenen nach Winker/Degele verdichtet wurden. Im Ergebnis stehen im Material begründete, mit Hilfe der Grounded Theory-Methode extrahierte Theorien, die einer explizit intersektionalen Perspektive unterzogen wurden und Auskunft über die „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern im Kontext ihrer jeweiligen sozialen Positionierungen geben.
3.3 DIE ERHEBUNG VON WAHLMÖGLICHKEITEN DURCH EPISODISCHE INTERVIEWS Da die Grounded Theory-Methode nicht mit speziellen Datenformen und Erhebungsformaten verknüpft ist, müssen Fragen von Zugang und Erhebung zum qualitativen Material gesondert geklärt werden. Zur Beantwortung der Forschungsfragen sind Daten erforderlich, die einerseits nach dem oben erläuterten
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Prinzip der Offenheit erhoben werden, also die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte erheben (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 343). Andererseits sollte das Material dem Prinzip der Kommunikation entsprechen, das heißt dass die Daten reaktiv und dialogisch auf der Grundlage einer Kommunikationsbeziehung zwischen Forscher*in und Beforschten hervorgebracht werden, die das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjektes berücksichtigt (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 346). Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen von Einzelinterviews persönliche Gespräche mit erwerbstätigen Müttern und Vätern geführt. „Im Interview kommen in besonderer Weise Komponenten der Alltagskommunikation zur Geltung: Geschichten erzählen, einander zuhören, argumentieren, Standpunkte deutlich machen, von Erlebnissen berichten etc. Daher lassen sich mit diesem Erhebungsverfahren nicht nur die Perspektiven und Orientierungen, sondern auch die Erfahrungen, aus denen diese Orientierungen hervorgegangen sind, zur Artikulation bringen [Herv. i.O.].“ (Nohl 2012: 1)
Durch die Interviews wurden sowohl Narrationen als auch Argumentationen und Beschreibungen der Eltern erhoben. Zwar spielen Erzählungen als „höchste Form“ des Zugangs zu den Interpretationen der Subjekte für den Forschungsgegenstand eine wichtige Rolle, sie sind jedoch nicht die einzigen Ergebnisse von Kommunikation, die für die Beantwortung der Forschungsfragen als notwendig erachtet wurden.9 Argumente, Motive sowie Handlungsgründe und damit letztlich legitimierende Deutungsmuster spielen ebenso eine zentrale Rolle, so dass deren Explikation durch die Interviewpersonen im Rahmen der Datenerhebung ebenfalls gegeben sein musste. Episodische Interviews nach Flick (2011) wurden als Erhebungsinstrument gewählt, da in ihnen narrative Erzählelemente mit der Möglichkeit zur Themensetzung und Nachfragen durch einen Leitfaden verbunden werden können. Die im Leitfaden verankerten Nachfragen zielten stärker auf die Argumente und Motive der Interviewpersonen. Die Themensetzung im Leitfaden konzentrierte sich vor allem auf biographische Phasen des Umbruchs und der Übergänge zwischen sowie innerhalb von Erwerbs- und Sorgearbeit. Um-
9
Mühlfeld et al. unterscheiden drei verschiedene Textsorten als Produkte von Kommunikation (1981: 333) : Argumentationen liegen auf der Ebene der praktischen Erläuterungen und sekundären Legitimation; Beschreibungen fangen routinisierte Handlungsund Ereignisabläufe in Berichtform ein; Erzählungen unterliegen der Annahme, dass sie die Struktur der Orientierungen des Handelns und der Ereignisläufe in der Vergangenheit wie in der Gegenwart exakt abbilden (vgl. auch Lamnek 2010: 326).
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brüche und Übergänge sind für das vorliegende Forschungsprojekt von besonderem Interesse, da sie mit bewussten oder unbewussten Entscheidungen in Handlungssituationen zusammenstehen. Voraussetzung für eine so ausgelegte Datenerhebung ist eine entsprechende erzählgenerierende Formulierung von Anfangsfragen sowie ein offener und flexibel einzusetzender Leitfaden mit spezifischer Themensetzung und Nachfragen (vgl. Nohl 2012: 16). Die Konzeption des episodischen Interviews ermöglicht darüber hinaus die Erhebung zweier verschiedener Formen von Wissen, die Subjekte angesichts ihrer Erfahrungen mit dem Untersuchungsgegenstand besitzen (Lamnek 2010: 331): das narrativ-episodische Wissen, welches aus unmittelbarer Erfahrungsnähe hervorgegangen ist, sowie das semantische Wissen, welches sich aus den Erfahrungen ableitet und Generalisierungen, Abstraktionen und die Setzung bestimmter Zusammenhänge durch das Subjekt selbst möglich macht. Auch die Benennung und das Umreißen von Begriffen sowie das in Beziehung zueinander Setzen von Begrifflichkeiten spielen beim semantischen Wissen eine Rolle. Da das Forschungsinteresse auf die subjektiv interpretierten Wahlmöglichkeiten in Entscheidungssituationen im Lebensverlauf abzielt und sich für die alltäglichen Schilderungen von Eltern über ihre Erfahrungen mit, Orientierungen und Perspektiven auf verschiedene Entscheidungssituationen in Bezug auf die Gestaltung, Organisation und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit im Lebensverlauf interessiert, erschien das episodische Interview als geeignete Form des semi-strukturierten Leitfadeninterviews. Darüber hinaus werden im Rahmen des episodischen Interviews – wie im narrativen Interview – Darstellungen von Situationsabläufen erhoben. Ziel der Erhebung ist jedoch nicht zwangsläufig eine in sich abgeschlossene Erzählung, sondern die Orientierung an den „episodisch-situativen Formen des Erfahrungswissens“ (Lamnek 2010: 331). Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion würden dadurch erkennbar, setzten aber nicht auf den Zugzwang des Erzählens, so Lamnek. Zentral sei dagegen die Konzentration auf die Erfahrungen, die für das Forschungsinteresse relevant seien (ebd.: 331). Insofern ermöglicht das episodische Interview die Konzentration auf spezifische Situationen und Entscheidungen im Lebensverlauf, etwa Phasen von Übergängen und Brüchen auf der Schnittstelle von Erwerbs- und Sorgearbeit. Ein weiterer Vorteil des episodischen Interviews liegt in seiner Anschlussfähigkeit an Forschungsfragen, die Vergleiche zwischen verschiedenen Gruppen von Subjekten fokussieren. Durch die Erhebung sowohl von Erzählungen und Beschreibungen als auch Argumentationen sind Fragestellungen, denen es um „gruppenspezifische Unterschiedlichkeiten in Bezug auf Erfahrungs- und Alltagswissen“ (ebd.: 332) geht, besonders gut bearbeitbar.
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Den durchgeführten episodischen Interviews lag ein Leitfaden zu Grunde, der Erzählungen stimulierte, gleichzeitig aber Zwischenfragen des Interviewers nach subjektiven Definitionen oder Zusammenhängen zuließ. Die Motive, Erfahrungen und Bewertungen der Interviewpartner*innen hinsichtlich verschiedener Entscheidungssituationen wurden retrospektiv erfragt. Der Leitfaden war in fünf Themenblöcke gegliedert, die jeweils mit einer offen formulierten Erzählaufforderung begannen und verschiede Nachfragen beinhalteten, die angebracht wurden, wenn das jeweilige Thema von der Interviewperson aus selbst nicht angesprochen wurde. Die Themenblöcke sahen wie folgt aus: 10
• Block A: Genese der Vereinbarkeitssituation , biographische Umbrüche und • • • •
Übergänge Block B: Gegenwärtige Vereinbarkeitssituation Block C: Bewertungen, Alternative Lebenspläne Block D: Soziales Umfeld, Herkunft Block E: Zukunft und Ausblick
Der Interviewleitfaden, der im Anhang einsehbar ist, wurde durch einen soziodemographischen Fragebogen ergänzt, um personenbezogene bzw. haushaltsbezogene Fakten bezüglich des Einkommens, der beruflichen Situation, des Bildungsstandes, der Nationalität sowie Herkunft und Beruf der Interviewpersonen festzuhalten.
3.4 FELDZUGANG UND AUSWAHL DER INTERVIEWPERSONEN Im Rahmen des Dissertationsprojektes wurden 19 Mütter und Väter befragt, die zum Zeitpunkt des Interviews in einem (Akut-)Krankenhaus in NordrheinWestfalen mit unterschiedlichen Berufen abhängig beschäftigt waren und mit mindestens einem Kind im Haushalt lebten, welches nach dem 31.12.2006 geboren ist. Auf diese Weise konnte sichergestellt werden, dass die befragten Eltern-
10 Wenngleich diese Arbeit dem politisch aufgeladenen Begriff der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ kritisch gegenübersteht (s. Kap. 2.3), wurde dieser vor dem Hintergrund seiner Präsenz in der Alltagswelt von erwerbstätigen Müttern und Vätern für die Interviewführung bewusst verwand bzw. nicht ausgeschlossen. Tatsächlich zeigten sich im Zuge der Interviewführung sowohl ein intuitives Verständnis als auch der eigenständige Gebrauch dieses Begriffs durch die Gesprächspersonen selbst.
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teile über Erfahrungen mit dem 2007 eingeführten Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz verfügten und damit ein institutionelles Kernstück des familienpolitischen Paradigmenwechsels erlebten. In vielen Fällen existierten in den Familien der Gesprächspersonen ältere Geschwisterkinder, so dass in den Interviews auch vergleichend über die Erfahrungen und Entscheidungen im Kontext einer gewandelten Familienpolitik berichtet wurde. Um der intersektionalen Ungleichheitsperspektive des Forschungsprojektes gerecht zu werden, wurden sowohl Mütter als auch Väter bei den Interviews berücksichtigt. Darüber hinaus ergaben sich Interviews mit Müttern und Vätern mit und ohne Migrationshintergrund11 – entweder verfügten die Gesprächspersonen selbst über diese oder sie zählten zu der so genannten zweiten Generation, da ihre Eltern vor deren Geburt nach Deutschland migriert waren. So fanden sich im Sample beispielsweise Kinder aus Gastarbeiter*innen-Familien wieder, deren Eltern in den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen waren. Ebenso befinden sich auch zwei Gesprächspartner mit eigener Bildungsmigration im Kreis der Befragten. Die Kategorie der Klasse wurde in der vorliegenden Arbeit über Bildung und Berufsstand operationalisiert, weshalb bewusst verschiedene Beschäftigtengruppen in Krankenhäusern angesprochen wurden, um Personen mit möglichst heterogener beruflicher Qualifikationen und betrieblicher Stellungen zu erreichen. Dazu zählten Ärzt*innen, das Pflege- sowie Pflegehilfspersonal, Verwaltungsangestellte, Personal des medizinisch-technischen Dienstes (darunter Laborbeschäftigte, aber auch Physiotherapeut*innen), des Funktionsdienstes12 sowie des Versorgungsdienstes.13 Für einen Überblick über alle Gesprächspersonen nach sozio-demographischen Angaben siehe den Sample-Überblick im Anhang. Um den Feldzugang grundsätzlich zu gewährleisten, wurde zunächst ein Flyer entwickelt, der das Anliegen der Studie erläuterte (vgl. Anhang). Schließlich wurden zwei unterschiedliche Strategien des Feldzugangs gewählt. Erstens wur-
11 Unter Personen mit Migrationshintergrund werden üblicherweise folgende Personen gefasst: Eine Person hat dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist (vgl. Glossar des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), kritisch zu dem Problem der Reifizierung im Kontext von Migrationsforschung siehe Dahinden (2016). 12 Darunter fallen u.a. Hebammen und Entbindungshelfer, der Krankentransportdienst sowie Ergotherapeut*innen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, Blum et al. 2013). 13 Darunter fallen das Haus- und Reinigungspersonal, Küchen- und Cateringpersonal, Wirtschaftsbetriebe wie Metzgereien und Gärtnereien, Wäscherei und Nähstube (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, Blum et al. 2013).
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de Kontakt zu gewerkschaftlichen und betrieblichen Akteuren aufgenommen und um Unterstützung für das Projekt sowie die Suche nach Gesprächspersonen geworben. Ansprechpersonen waren Gewerkschaftsfunktionär*innen, Betriebsund Personalräte, Gleichstellungsbeauftragte sowie Mitarbeitende der Personalabteilung einzelner Krankenhäuser. Diese haben entweder Beschäftigte direkt angesprochen und auf die Gespräche im Rahmen eines Dissertationsprojektes aufmerksam gemacht oder den Flyer an zentralen Stellen in den Krankenhäusern ausgehangen, woraufhin sich Interessierte eigenständig melden konnten. Auf diese Weise konnten neun Beschäftigte erreicht und interviewt werden. Zweitens wurden vier private Kontakte in verschiedenen Krankenhäusern genutzt, um den Flyer direkt an verschiedene Beschäftigte als potenzielle Gesprächspersonen weiterzureichen, die sich dann eigenständig meldeten oder einem Erstkontakt zustimmten. Über die so entstandenen Interviews konnten zudem im Rahmen des Schnellballsystems weitere Gesprächspersonen akquiriert werden. Auf diese Weise wurden zehn Interviews realisiert. Sich das Feld zu erschließen, war aus verschiedenen Gründen nicht einfach. So war es notwendig, in der Kontaktaufnahme mit den betrieblichen Akteuren das Forschungsanliegen zwar zu erläutern, ohne aber auf den expliziten Forschungsfokus auf soziale Ungleichheit zwischen Eltern bzw. den unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen näher einzugehen. Aus diesem Grund wurde in der Außendarstellung des Projektes das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Krankenhaussektor betont. Dennoch stieß das Forschungsvorhaben nicht ausschließlich auf Unterstützungsbereitschaft im Feldzugang – vor allem dann nicht, wenn deutlich wurde, dass der Zugang zu prinzipiell allen Beschäftigungsgruppen im Haus angestrebt wurde. Nicht wenige Anfragen an die Personalabteilungen von Krankenhäusern führten ins Leere, weil die Geschäfts- oder Personalführung den Zugang zur Belegschaft insbesondere im Bereich der Reinigung, des Kantinenpersonals und der Wäschereien nicht oder nur unter Auflagen erlauben wollte, so dass ein offener und neutraler Zugang zum Personal nicht gewährleistet war. In Einzelfällen wurde zudem die Vermeidung von Mehrarbeit, die durch die Unterstützung bei der Suche nach Gesprächspersonen entsteht, gescheut. In anderen Krankenhäusern sowie bei den Gewerkschaften stießen das Dissertationsprojekt und sein thematischer Schwerpunkt allerdings auf großes Interesse und hohe Unterstützungsbereitschaft. Nach den Schwierigkeiten des betrieblichen Zuganges kam die Herausforderung, insbesondere die gering-qualifizierten und nicht autochthon-deutschen Elternteile zu einem Gespräch zu bewegen. Dazu zählten Sprachhemmnisse, die Zweifel, selbst etwas beitragen zu können zu einer wissenschaftlichen Arbeit bzw. die Angst, Fragen nicht „korrekt“ beantworten zu können und häufig auch
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schlichtweg die Unmöglichkeit, die notwendige Zeit für ein Gespräch (in Ruhe) zu erübrigen. Trotz vieler Bemühungen und mehrfacher Betonung, dass das Gespräch sich ausschließlich um den eigenen Alltag drehe, auch gebrochene Sprachkenntnisse ausreichen und die Gespräche zu Zeiten und an Orten der eigenen Wahl stattfinden können, fanden mindestens zwei vereinbarte Interviewtermine nicht statt, weil die Personen nicht erschienen und im Anschluss nicht mehr erreichbar waren bzw. ihre Zusage zu einem Gespräch zurückzogen. Insofern konnten nicht alle aufgezählten Beschäftigtengruppen gleichermaßen im Sample erreicht werden. Ausgerechnet der Zugang zu Beschäftigtengruppen, die überproportional häufig von schlechten Beschäftigungsbedingungen in Form von geringem Entgelt und/oder Outsourcing-Prozessen im Krankenhaus betroffen sind – darunter etwa das Pflegehilfspersonal, der Funktionsdienst und der Versorgungsdienst –, stellte sich als besonders herausfordernd dar. Nach mehrmaligen Anläufen, betrieblichen Zugang zu erhalten, konnten schließlich drei Gespräche mit Müttern geführt werden 14 , die im hauseigenen Reinigungs- bzw. Servicedienst eines öffentlichen Krankenhauses angestellt waren. 15 Voraussetzung für ein Gespräch mit Audioaufnahme von Seiten der Angestellten war, dass die Betriebsrätin dabei war, die den Kontakt vermittelt hatte und ein enges Verhältnis zu der Belegschaft pflegt. Dieser Bedingung wurde zugestimmt. Obgleich die Betriebsrätin sich während des Interviews nicht in das Gespräch eingeschaltet hat, muss davon ausgegangen werden, dass ihre Anwesenheit sich auf Gesprächsinhalte ausgewirkt hat. Die Mehrzahl der Gespräche fand jedoch mit der Interviewperson allein statt, überwiegend bei den Personen zu Hause, in Ausnahmefällen in einem Café oder wie oben beschrieben im Betrieb. Im Durchschnitt dauerten die Gespräche ein bis eineinhalb Stunden und wurden auf Audioband aufgezeichnet. Im Anschluss daran wurden diese von einem Schreibbüro zunächst transkribiert und die Transkripte schließlich anonymisiert. Die Interviewauswertung fand zudem Unterstützung durch die Software MaxQDA.
14 Eines dieser Gespräche wurde nicht ausgewertet, da die Gesprächspartnerin ältere Kinder hatte und damit nicht zu der einzigen formalen Vorgabe des Forschungsprojektes (ein nach dem 31.12.2006 geborenes Kind im Haushalt) passte. 15 Im Verlauf der Gespräche stellte sich heraus, dass neben dem hauseigenen Personal ein externes Dienstleistungsunternehmen für die Reinigung des Krankenhauses zuständig ist, so dass davon ausgegangen werden muss, dass es sich auch bei diesen Gesprächen um eine Positivauswahl handelt. Der Zugang zu diesen externen Beschäftigten war nicht möglich.
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Im Vorfeld des Gesprächs wurden darüber hinaus alle Beteiligten sowohl über die Tonbandaufnahme als auch die weitere Verwendung des Interviews als qualitatives Material für ausschließlich wissenschaftliche Zwecke in anonymisierter Form hingewiesen. Das Einverständnis jeder Interviewperson wurde eingeholt und diese explizit darauf verwiesen, dass das Gespräch an jeder Stelle auf Freiwilligkeit beruht, sie also allein darüber entscheidet, was sie erzählen möchte und was nicht.
3.5 DER DEUTSCHE KRANKENHAUSSEKTOR ALS FORSCHUNGSFELD Die vorliegende Arbeit erforscht die Frage nach „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen von erwerbstätigen Eltern aus intersektionaler Perspektive exemplarisch im deutschen Krankenhaussektor. Die Fokussierung auf einen Sektor der Gesundheitsbranche war einerseits notwendig, um das Forschungsfeld zu begrenzen und eine bessere Vergleichbarkeit zwischen den Interviewpersonen herzustellen. Andererseits ermöglichte dies, Ungleichheiten zwischen Müttern und Vätern mit unterschiedlichem betrieblichen Status und beruflichen Qualifikationsniveau innerhalb von Betrieben besser in den Blick zu bekommen. Der deutsche Krankenhaussektor wurde ausgewählt, weil er exemplarisch für eine Vielzahl an gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen im transformierten Sozialstaat sowie in unterschiedlichen Branchen stehen kann. So verzeichnen die Krankenhäuser in Deutschland als kontinuierlich wachsender Arbeitsmarkt einerseits Fachkräftemangel beim ärztlichen und qualifizierte Pflegepersonal sowie einen steigenden Anteil weiblichen Personals, der die Kliniken in einen Wettbewerb um Fachkräfte setzt und das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker in den Fokus rücken lässt. Andererseits fand vor dem Hintergrund politischer Reformen ein erheblicher Umbau der Gesundheitsbranche statt, der sich im Krankenhaussektor vor allem in der Deckelung des Krankenhausbudgets im Jahr 1993 niederschlug. Die Finanzierungsbegrenzung der Krankenhäuser führte zum Abbau der Personaldichte in einzelnen Berufsgruppen sowie der gezielten Personalkostenreduktion. Inzwischen ist die deutsche Krankenhauslandschaft durch eine Ausdifferenzierung der Beschäftigungsbedingungen nach Berufsgruppen und Trägerschaft geprägt. Vor diesem Hintergrund sehen sich erwerbstätige Mütter und Väter in diesem Sektor in doppelter Weise mit dem sozialstaatlichen Wandel konfrontiert: Als Beschäftigte von Organisationen, die unter neuartigen, nämlich ökonomisierten sozialstaatlichen Bedingungen agieren (vgl. Rothgang/Preuss 2008) und als erwerbstätige Elternteile, die
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von einer neu aufgestellten Familienpolitik unterschiedlich adressiert werden. Im Folgenden werden die Charakteristiken des Untersuchungsfeldes zusammenfassend dargestellt und die (unterschiedlichen) Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor aufgearbeitet. 3.5.1 Arbeitsmarkt im Zeichen von Fachkräftemangel Das deutsche Gesundheitssystem16 ist Arbeitsmarkt für zahlreiche Beschäftigte. So waren im Jahr 2015 rund 5,3 Millionen Menschen im Gesundheitssektor tätig (Statistisches Bundesamt 2016). Das entspricht in etwa jedem achten Beschäftigten. Seit 2000 sind die Beschäftigtenzahlen um über 27 Prozent gestiegen – eine Zunahme von rund einer Millionen Beschäftigten. Als Gründe für den „Jobmotor Gesundheitswirtschaft“ werden auf den Internetseiten des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) das Wachstum in den Berufen der Altenpflege und in weiteren Berufen, beispielsweise bei den Verwaltungs-, Reinigungs- und Betreuungskräften, aufgeführt (BMG 2016). Der Krankenhaussektor17 gilt als größter Arbeitgeber der Beschäftigten in der Gesundheitsbranche: Im Jahr 2015 waren knapp 1,2 Millionen Personen in deutschlandweit 1.956 Krankenhäusern beschäftigt, das entspricht 868.044 Vollkräften im Jahresdurchschnitt. Zusätzlich zu den Vollkräften mit direktem Beschäftigungsverhältnis wurden 2015 knapp 22.700 Vollkräfte ohne direktes Beschäftigungsverhältnis erfasst, die zum Beispiel über Formen der Leih- oder Zeitarbeit hinzugeholt wurden, 3.000 davon im ärztlichen Dienst, 19.600 im nichtärztlichen Dienst (vgl. Statistisches Bundesamt 2016: 28). Die Personalzuwächse unterscheiden sich je nach Berufsgruppe und Krankenhausträger voneinander, weshalb von einem ausgeglichenen Wachstum
16 Zum deutschen Gesundheitssystem gehören nach Statistischem Bundesamt und dem OECD-„System of Health Accounts“ neben der ambulanten und stationären Krankenversorgung und Pflege, für die u.a. Krankenhäuser zuständig sind, die Einrichtungen des Gesundheitsschutzes und der Verwaltung, die Unternehmen des Gesundheitshandwerks und -einzelhandels sowie die so genannte „Vorleistungsindustrie“, d.h. Pharmaindustrie sowie die medizinische und pharmazeutischer Großhandel etc. (vgl. Simon 2013: 121). 17 Welche Organisationen in Deutschland als Krankenhäuser gelten, ist gesetzlich im Sozialgesetzbuch V sowie im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) definiert. Seit 1991 lassen sich zudem „allgemeine Krankenhäuser“ von „sonstigen Krankenhäusern“ unterscheiden – letztere zeichnen sich durch ausschließlich psychiatrische und/ oder neurologische Betten aus oder sind reine Tages- und Nachtkliniken (vgl. Simon 2013: 367-368).
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an Arbeitsplätzen in dem Sektor nicht ausgegangen werden kann (vgl. auch Kap. 3.5.2). Insgesamt zeichnet sich die deutsche Krankenhauslandschaft durch eine vergleichsweise große Vielfalt an Beschäftigtengruppen mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern und Tätigkeitsmerkmalen in den einzelnen Häusern aus. So lässt sich das Personal im ärztlichen Dienst vom Personal im Pflegedienst unterscheiden (vgl. hier und folgend Statistisches Bundesamt 2013). Letzterer umfasst die Pflegedienstleitung sowie das Pflege- und Pflegehilfspersonal. Der medizinischtechnische Dienst umfasst u.a. das Apothekenpersonal, Krankengymnast*innen, Physiotherapeut*innen, Masseur*innen, medizinisch-technische Assistierende und Sozialarbeit. Zum Funktionsdienst zählt etwa das Krankenpflegepersonal für den Operationsdienst, die Anästhesie, in der Ambulanz und in Polikliniken, Hebammen und Entbindungshelfende, der Krankentransportdienst sowie Ergotherapeut*innen. Darüber hinaus existiert der so genannte Versorgungsdienst, der u.a. Reinigungskräfte, Hausmeister*innen, Catering, Küchen und Diätküchen (einschl. Ernährungsberater*innen), Wirtschaftsbetriebe (z.B. Metzgereien und Gärtnereien), Wäscherei und Nähstube bezeichnet. 18 Neben dem technischen Dienst (Betriebsingenieur*innen, Einrichtungen zur Versorgung mit Heizwärme, Warm- und Kaltwasser, Frischluft, medizinischen Gasen, Strom, Instandhaltung) existiert in jedem Krankenhaus ein Verwaltungsdienst. Dieser umfasst Personen der engeren und weiteren Verwaltung.19 Daneben existieren Sonderdienste20 und sonstiges Personal21. Es wird deutlich, dass Krankenhäuser Betriebe mit äußerst heterogenen Beschäftigtengruppen sind. Wie in anderen Branchen ist auch der Krankenhaussektor mit Fachkräftemangel am deutschen Arbeitsmarkt konfrontiert. Fachkräftemangel bedeutet, dass die Nachfrage nach Fachkräften, d.h. Personen mit einer anerkannten aka-
18 Das Statistische Bundesamt unterscheidet das klinische Hauspersonal, welches das Haus- und Reinigungspersonal der Kliniken und Stationen einschließt, noch einmal vom Versorgungsdienst, wohingegen in anderen Systematiken der Berufsgruppen das Reinigungspersonal zum Versorgungsdienst zählt (vgl. etwa Blum et al. 2013). In der vorliegenden Studie wird das Reinigungspersonal als Versorgungsdienst gefasst. 19 Darunter fallen zum Beispiel Aufnahme- und Pflegekostenabteilung, Bewachungspersonal, Postdienst, Kasse und Buchhaltung, Pförtner*innen, Statistische Abteilung, Telefonist*innen, Verwaltungsschreibkräfte. 20 Ober*innen, Seelsorgende, Krankenfürsorgende, Beschäftigte, die zur Betreuung des Personals und der Personalkinder zuständig sind. 21 Famuli, Schüler*innen, soweit nicht auf Stationen mit Pflegepersonal angerechnet, Vorschüler/-innen, Praktikant*innen jeglicher Art, soweit nicht anders angerechnet.
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demischen Ausbildung oder mindestens zwei Jahre dauernden Berufsausbildung, über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausreichend gedeckt werden kann. Von einem Fachkräftemangel oder -engpass wird wissenschaftlich betrachtet gesprochen, wenn die Besetzung einer neuen oder frei gewordenen Stelle deutlich länger als „üblich“ dauert.22 Um den Mangel an Arbeitskräften bzw. Fachkräften zu spezifizieren, wird je nach Anforderungsniveau der zu besetzenden Stelle in Fachkräfte, Experte und Spezialisten unterschieden (vgl. Obermeier 2014). In den unterschiedlichen Beschäftigtengruppen des Krankenhaussektors finden sich all diese Anforderungsniveaus wieder, die gemäß der obigen Definition auch von Fachkräftemangel betroffen sind. Für den Bereich der Fachkräfte in den Berufsgruppen Gesundheit, Krankenpflege, Rettungsdienst, Geburtshilfe (mit Berufsausbildung) konnten im Jahr 2012 beispielsweise freie Stellen im Durchschnitt 112 Tage nicht neu besetzt werden. Für den Bereich der Experten in der Berufsgruppe Human- und Zahnmedizin konnten (neue) Stellen sogar 174 Tage nicht besetzt werden. Bei den Spezialisten konnten zudem in der Berufsgruppe Krankenpflege (mit zusätzlichem Fachhochschulabschluss) überdurchschnittlich hohe Vakanzzeiten von 120 Tagen verzeichnet werden. Der Krankenhaussektor kann damit im Vergleich zu anderen Branchen überdurchschnittlich lange Stellen nicht neu besetzen (vgl. Obermeier 2014).23 Die Debatte um einen Fachkräftemangel im deutschen Gesundheitswesen bzw. im Krankenhaussektor wird auch durch einzelne Studien von Verbänden, Forschungseinrichtungen und Politik immer wieder neu belebt. Sowohl das Krankenhausbarometer 2016 des Deutschen Krankenhausinstituts24 als auch das Pflege-Thermometer 2009 des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung 25 sprechen von Stellenbesetzungsproblemen und einem chronischen
22 Als unüblich hohe Vakanzzeit gelten Werte von 40 Prozent über dem Durchschnitt und eine Zunahme um zehn Tage gegenüber dem Referenzjahr. Im Jahr 2012 lag die durchschnittliche Vakanzzeit bei 77 Tagen, eine „unüblich“ lange Vakanzzeit müsste demnach bei ca. 108 Tagen liegen (Obermeier 2014). 23 Das Kriterium der Zunahme von zehn Tagen gegenüber dem Referenzjahr trifft allerdings nur auf die Human- und Zahnmediziner zu. 24 Das Krankenhausbarometer ist eine jährlich durchgeführte Repräsentativbefragung deutscher Krankenhäuser zu aktuellen gesundheits- und krankenhauspolitischen Themen. 25 Da die nachfolgenden, bisher publizierten Pflege-Thermometer andere inhaltliche Fragestellungen fokussieren – etwa ambulante Pflegedienste im Jahr 2016 oder die Versorgung von an Demenz Erkrankten im Jahr 2014 – ist das Pflegethermometer 2010 für den Krankensektor die aktuellste Publikation des Instituts. Empirische
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Pflegemangel im Krankenhaussektor: So hätten im Frühjahr 2016 60 Prozent aller Kliniken Probleme bei der Stellenbesetzung im ärztlichen Dienst angegeben, der Spitzenwert im Vergleich zu den anderen Beschäftigtengruppen, wenngleich dies einer rückläufigen Tendenz entspricht (im Jahr 2011 lag der Wert bei 80 Prozent) (vgl. Blum et al. 2016: 17). Anders im Pflegedienst (auf den Normalstationen): dort gaben im Jahr 2016 51 Prozent der Krankenhäuser Stellenbesetzungsprobleme an, was gegenüber 2011 (37 Prozent) einem deutlichen Zuwachs entspricht (vgl. Blum et al. 2016: 20). Auch bei der Besetzung von Stellen für Hebammen hatte beinahe jedes zweite Krankenhaus Probleme (46 Prozent), bei einer Verdopplung dieses Wertes in nur zwei Jahren (2014: 20 Prozent) (vgl. Blum et al. 2016: 26). Dazu passt, dass fast 60 Prozent der befragten Krankenhäuser im Jahr 2015 Honorarärzt*innen beschäftigt haben, um ihrem Fachkräftemangel zu begegnen.26 Auch im Bereich der Pflege (auf Normalstation) wurde von Seiten der Krankenhäuser mit Honorarkräften gearbeitet: Gut ein Viertel der befragten Kliniken (27 Prozent) beschäftigte 2015 Pflegekräfte auf Honorarbasis. Dabei nimmt der Einsatz von Honorarkräften mit steigender Krankenhausgröße zu (vgl. Blum et al. 2016: 27). Auch das Pflege-Thermometer 2009 spricht – allerdings auf Grundlage älterer Zahlen – von einem chronischen Mangel an Pflegepersonal im Krankenhaus (Isfort/Weidner 2010: 5). Grundlage für diese Einschätzungen ist nicht nur der Personalabbau im Bereich der Pflege bis 2008, sondern auch die erhöhte Zahl der behandelten Patient*innen, sogenannte Fälle, in den Häusern. Demnach habe sich „die Pflegekraft-Patienten-Relation seit 2007 [...] von 59 auf 61,5 Fälle pro Pflegekraft [im Jahr 2008, Anmerk. K.M.] verändert“ (Isfort/Weidner 2010: 5). Roth berechnete auf Grundlage etwas aktuellerer Zahlen 22 Fälle auf eine Vollkraft für das Jahr 2009 (Roth 2011: 15). Weitere Gründe, die im Pflege-Thermometer 2009 für den Pflege-Fachkräftemangel angeführt werden, sind ein beschleunigter berufsdemographischer Wandel, da der Abbau der Stellen vor 2008 überwiegend bei jüngeren Mitarbeiter*innen realisiert wurde (vgl. hierzu auch Bräutigam et al. 2014: 26), die stark körperlichen Belastungen im Beruf, die zu hohen Krankenständen oder verfrühten Austritten aus dem Beruf im höheren Alter führten sowie sinkende Ausbil-
Grundlage des Pflege-Thermometers war eine bundesweite Befragung von Pflegekräften in den Krankenhäusern mit einem Rücklauf von über 10.600 vollständigen Datensätzen (Isfort/Weidner 2010: 12). 26 Als Honorarärzt*innen werden Ärzt*innen bezeichnet, die ohne gleichzeitig bestehendes Angestelltenverhältnis gegen Honorar im Krankenhaus tätig werden (vgl. Blum et al. 2016: 27).
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dungszahlen im Gesundheits- und Krankenpflegebereich zumindest bis 2008 (Isfort/Weidner 2010: 6f). Prognosen zum zukünftigen Fachkräftemangel geben die Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesinstituts für berufliche Bildung (BIBB) (vgl. Helmrich et al. 2012). Darin werden Angebot und Nachfrage für zwölf Berufshauptfelder mit spezifischen Tätigkeitsmerkmalen bis zum Jahr 2030 prognostiziert, die zeigen, dass sich der bereits bestehende Personalengpass für den Krankenhaussektor in den nächsten Jahren und Jahrzehnten fortschreiben lässt. Vorausgesetzt, das Ausbildungsverhalten entwickelt sich im Trend der vergangenen Jahre weiter, stünden vor allem im Bereich der „Gesundheits- und Sozialberufe, Körperpfleger*innen“ mehr Arbeitsplätze als Arbeitskräfte zur Verfügung. Darüber hinaus werden „Gastronomie- und Reinigungsberufe“ aufgeführt, zwei Beschäftigtengruppen, die im Versorgungsdienst eines Krankenhauses ebenfalls eine wichtige Rolle spielen (ebd.: 6). Gleichzeitig sind Krankenhäuser wie andere Arbeitgeber zunehmend mit Fragen und Anforderungen im Hinblick auf familienfreundliche Maßnahmen konfrontiert. Diese Relevanz erscheint auch vor dem Hintergrund eines hohen Frauenanteils in dem Sektor als wahrscheinlich. So waren im Jahr 2014 81 Prozent aller beschäftigten Personen im nichtärztlichen Krankenhausdienst Frauen (Statistisches Bundesamt, 08.03.2016) und auch der ärztliche Dienst in den deutschen Krankenhäusern wird zunehmend weiblicher: im Jahr 2013 waren 46 Prozent aller Krankenhausärzt*innen weiblich – ein Plus von knapp 10 Prozent seit 2004 (vgl. Statistisches Bundesamt, 03.03.2015). Bestehende Studien und Publikationen von Seiten der Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeber*innen und Verbänden greifen allerdings Fragestellungen rund um die Thematik paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit gar nicht oder nur sehr eindimensional auf.27 Beispielhaft angeführt werden können die Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit zu den Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor aus Sicht der Beschäftigten (Roth 2011), die Gesundheitsberichterstattung des Bundes (etwa das Themenheft „Beschäftigte im Gesundheitswesen“ von Juni 2009) oder das jährlich veröffentliche Krankenhausbarometer. Letzteres beinhaltet ein Kapitel zu familienfreundlicher Arbeitszeitorganisation. Im Fokus stehen in diesen Studien die flexiblen Arbeits(-zeit-)anforderungen
27 Überraschend erscheint zudem vor diesem Hintergrund, dass es kaum wissenschaftliche Studien zu Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Krankenhaussektor gibt. Eine Ausnahme stellt die Dissertationsarbeit von Sarah Vader (2015) dar.
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oder die Gesunderhaltung der Beschäftigten angesichts stark körperlicher Anforderungen. Eine Ausnahme stellt die Studie „Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Krankenhaus“ des Bundesfamilienministeriums von 2013 dar, die Vereinbarkeitsfragen jedoch vor allem ökonomisch aufgreift und „handfeste betriebswirtschaftliche Effekte“ (BMFSFJ 2013b: 8) wie Imagegewinn, zufriedenere Beschäftigte, weniger Fehlzeiten und eine schnellere Rückkehr nach Familienpausen als Argument für familienfreundliche Maßnahmen aufführt. Auch Studien von Seiten des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Ver.di beschäftigen sich zwar mit den Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern, Fragen von Familienfreundlichkeit tauchen darin jedoch nicht bzw. selten auf. 3.5.2 Ökonomisierung des Krankenhaussektors In den letzten Jahrzehnten war der Gesundheitssektor sowie die Krankenhausbranche starken Veränderungen unterworfen. Zwar kam es 1972 zu einer ersten gesetzlichen Regelung der Krankenhausfinanzierung, die Vorbereitung auf einen stärker marktwirtschaftlich orientierten Umbau des Krankenhaussektors führt Simon jedoch auf die 1980er Jahre zurück (vgl. Simon 2016: 32). Seit Mitte der 1980er Jahre werden Krankenhäuser „zunehmend als Wirtschaftsunternehmen behandelt, die sich an ihren einzelwirtschaftlichen Zielen zu orientieren und aus dem ‚Verkauf‘ ihrer Leistungen selbst zu finanzieren haben“ (Simon 2016: 29). In den 1990er Jahren bedeutete die Einführung einer Budgetdeckelung sowie eines neuen Entgeltsystems letztlich den Ausbau von Wettbewerb. Mit Hilfe kosteneffizienter Steuerungsmaßnahmen sollten Kostensteigerungen vermieden werden. In der Literatur werden die gewandelten Begründungsmuster, Zielsetzungen und policies im Gesundheitssektor vielfach unter dem Begriff der Ökonomisierung diskutiert (vgl. Simon 2016: 34, auch Rothgang/Preuss 2008, zur Ökonomisierung speziell der Geburtshilfe siehe Jung 2017: 33f). Seit der Deckelung des Krankenhausbudgets 1993 orientieren sich die Budgets nicht mehr an den Kosten der Krankenhäuser, sondern an der Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (Simone 2013: 374). Ziel war der kurzfristige Schutz der Krankenkassen vor überproportionalen Steigerungen der Krankenhausausgaben in den Jahren 1993 bis 1995. Entgegen der ursprünglichen Pläne, dass die Deckelung 1995 endet, hält sie in verschiedenen Modifikationen bis heute an (vgl. Simon 2008: 5). 2009 wurde im Krankenhaussektor zudem die Umstellung der Vergütung auf ein fallpauschalierendes Patientenklassifikationssystem abgeschlossen (vgl. Rau et al. 2009, kritisch Braun et al. 2009).
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Der gestiegene Kostendruck auf die Krankenhäuser führte unter anderem zu Maßnahmen, die die Personalkosten reduzieren sollten, da diese rund zwei Drittel der Krankenhauskosten ausmachen (Simon 2013: 382). Dies geschah einerseits durch einen Abbau der Personaldichte, etwa durch Wiederbesetzungssperren, Befristung von Arbeitsplätzen, Umwandlung von Voll- in Teilzeitstellen sowie die dauerhafte Nichtbesetzung frei gewordener Stellen. So sank die Anzahl der Vollkräfte in den Jahren 1994 bis 2009 um 8,2 Prozent auf 807.874 Beschäftigte (Statistisches Bundesamt 2013: 12). Besonders stark betroffen waren der Wirtschafts- und Versorgungsdienst der Häuser (Küche, Reinigungsdienst, Wäscherei) sowie der Pflegedienst: Ersterer erlebte in den zehn Jahren ab 1999 eine Reduktion der Vollkräfte um rund 38 Prozent, der Pflegedienst um immerhin neun Prozent. Der ärztliche Dienst wurde in den Jahren dagegen um rund 22 Prozent aufgestockt. Die Zahl der Vollzeitkräfte im Verwaltungsdienst erlebte dagegen keine Veränderungen (Roth 2011: 13f, siehe auch Simon 2013: 383). Aktuelle Zahlen zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten im ärztlichen Dienst seit 2014 um 2,9 Prozent zunahm, im nichtärztlichen Dienst lediglich um 0,9 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2016: 8). Andererseits kam es zum Personalkostenabbau durch Kürzungen übertariflicher Zahlungen, Ausstieg aus dem Tarifgefüge, Abschluss eines Haustarifvertrages sowie Outsourcing28, beispielsweise nicht-medizinischer Aufgaben wie der Essensversorgung, Reinigung oder Labortätigkeiten (Roth 2011: 18, Simon 2008: 16, Blum et al. 2013: 40). Auslagerungsprozessen gingen in der Regel mit dem Abbau betrieblicher Sozialleistungen, dem Ausstieg aus bestehenden Tarifverträgen mit dem Ziel der Tarifsenkung sowie der Schwächung der betrieblichen Interessenvertretung einher (vgl. Simone 2013: 383, Müller/Prangenberg 1997). Laut Selbstauskunft der Häuser haben seit 2008 im Prinzip jedes zweite Krankenhaus bestimmte Aufgaben oder Bereiche outgesourct (49 Prozent). Dies geschehe vor allem in kleineren und mittleren Krankenhäusern mit weniger als 600 Betten. Dabei konzentrieren sich die Auslagerungsprozesse auf ganz bestimmte Beschäftigtengruppen. Betroffen sind vor allem der Wirtschafts- und Versorgungsdienst sowie der medizinisch-technische Versorgungsdienst. 29 In
28 Beim Outsourcing, Ausgründen oder Auslagern gründet ein Krankenhaus gemeinsam mit einem Privatunternehmen ein neues Unternehmen, welches dann bestimmte Dienstleistungen im Krankenhaus übernimmt. Den bisherigen Beschäftigten der Klinik wird zwar eine Weiterbeschäftigung in dem neuen Unternehmen angeboten, zumeist jedoch zu schlechteren Beschäftigungsbedingungen. 29 Mit 80 Prozent der Einrichtung sind am häufigsten Wäschereien in Krankenhäusern auslagert, gefolgt vom Reinigungsdienst (66 Prozent) und der Küche (41 Prozent). Im
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früheren Erhebungen des Krankenhausbarometers (im Jahr 2000) wurden als Ziele des Outsourcings von Seiten der Krankenhäuser insbesondere die Reduktion von Personal- und Sachkosten, eine erhöhte Flexibilität sowie eine verbesserte Qualität der Leistungserbringung angegeben (vgl. Blum et al. 2013: 44). Diese Erwartungen wurden jedoch nur teilweise erfüllt, wie die Ergebnisse aus dem Jahr 2013 zeigen. Zwar erreichten 78,9 Prozent der befragten Häuser nach eigenen Angaben mit der Auslagerung eine Personalkostenreduktion, bei den Sachkosten konnte dies jedoch nur gut jedes zweite Krankenhaus bestätigen (50,7 Prozent). Erfüllt haben sich zudem die Erwartungen an eine höhere Flexibilität, dies bestätigten insgesamt 70,3 Prozent der Befragten. Jedoch gaben immerhin 57,6 Prozent der befragten Häuser auch an, dass das Outsourcing die Qualität der Leistungen gar nicht bis wenig verbesserte (vgl. Blum et al. 2013: 45). Ob Beschäftigte direkt beim Krankenhaus angestellt sind oder indirekt über Tochterfirmen oder Fremdfirmen, wirkt sich unmittelbar auf ihre Beschäftigungsbedingungen aus. Insgesamt fallen die Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor je nach Beschäftigtengruppen höchst unterschiedlich aus. Dadurch ergeben sich für Beschäftigte mit Kindern in Krankenhäusern auch unterschiedliche Ausgangssituationen für die Möglichkeiten, Erwerbs- und Sorgearbeit parallel nachzukommen – etwa weil sich ein niedriges Gehaltsniveau nachteilhaft auf familienpolitische Leistungen wie das Elterngeld auswirkt oder eine gewerkschaftliche Interessensvertretung nicht existiert. Ein weiteres Charakteristikum der Krankenhauslandschaft in Deutschland ist schließlich ihre zunehmende Pluralisierung bezüglich der Trägerschaft: 2015 war bereits gut jedes dritte Krankenhaus in privater (35,8 Prozent) bzw. freigemeinnütziger Trägerschaft30 (34,7 Prozent) und 29,5 Prozent aller Krankenhäuser noch öffentlich31. Allerdings handelt es sich bei den nicht-öffentlichen Kran-
medizinisch-technischen Bereich sind besonders häufig die Apotheken und das Labor von Auslagerungen betroffen – dies trifft auf 53 Prozent bzw. 39 Prozent der Einrichtungen zu (vgl. Blum et al. 2013: 42). 30 Freigemeinnützig bedeutet: in Trägerschaft kirchlicher und freier Wohlfahrtspflege, Kirchengemeinden, Stiftungen oder Vereinen, die mit dem Betrieb des Krankenhauses religiöse, humanitäre oder soziale Zwecke verbinden (Simon 2013: 369). 31 Öffentliche Krankenhäuser fallen in die Zuständigkeiten kommunaler Gebietskörperschaften – vor allem Gemeinden, Landkreise, etc., die allgemeine Krankenhäuser betreiben –, der Länder (Universitätskrankenhäuser) und des Bundes (ausschließlich Bundeswehrkrankenhäuser). Darüber hinaus existieren Kliniken von Körperschaften des öffentlichen Rechts. Unterscheiden lassen sich Krankenhäuser zudem nach privatoder öffentlich-rechtlicher Form. Ist eine kommunale Klinik in eine GmbH umgewan-
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kenhäusern mehrheitlich um kleinere Einrichtungen, so dass immerhin knapp jedes zweite Krankenhausbett (48,2 Prozent) in einer öffentlichen Klinik stand (vgl. Statistisches Bundesamt 2016: 9). Der Sektor befindet sich somit in einem kontinuierlichen Wandel hin zu einer insgesamt stärkeren Privatisierung der vormals öffentlich-freigemeinnützigen Einrichtungen. 3.5.3 Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor So vielfältig wie die Berufe im Krankenhaus sind (inzwischen) auch die Bedingungen, unter denen dort gearbeitet wird. Dies liegt zum einen an der bereits angesprochenen pluralisierten Trägerschaft von Krankenhäusern – die Beschäftigten kirchlicher Häuser unterliegen beispielsweise aufgrund des eigenständigen kollektiven Arbeitsvertragsrechts der Kirchen in Deutschland nicht per se den tarifvertraglichen Regelungen. Zum anderen kam es in den letzten Jahren vermehrt zu den beschriebenen Auslagerungsprozessen bestimmter Krankenhausbereiche. Im Ergebnis existieren neben dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes Dienstvereinbarungen und Haustarifverträge mit unterschiedlichen Beschäftigungsbedingungen. Für manche Berufsgruppen gelten zudem Tarifverträge anderer Wirtschaftszweige.32 Für einen systematischen Überblick werden die Arbeitsbedingungen im Krankenhaussektor im Folgenden entlang von drei Dimensionen erläutert, zu denen das Einkommen, die Arbeitszeiten sowie Arbeitsdichte mit den daraus resultierenden Belastungen zählen. Das Einkommen von Klinikbeschäftigten Die Einkommenssituation einzelner Beschäftigtengruppen im Krankenhausbereich stellt sich aufgrund vielfältiger Einzelregelungen in dem Sektor und der zunehmenden Erosion des Tarifvertrags des öffentlichen Dienstes heterogen dar. Die in den letzten Jahren laut des Krankenhausbarometers 2013 zahlreich durchgeführten Auslagerungsprozesse bestimmter Tätigkeitsbereiche (Blum et al.
delt, zählt sie trotzdem als öffentliches Haus, „wenn die entsprechende Gebietskörperschaft mit mehr als 50 % des Kapitals oder des Stimmrechts beteiligt ist“ (Simon 2013: 368). 32 Vor diesem Hintergrund existieren zumindest unklare, wenn nicht konkurrenzhafte Zuständigkeiten der Gewerkschaften. Neben den DGB-Gewerkschaften ver.di und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) treten etwa der Deutsche Handelsund Industrieangestellten-Verband des Christlichen Gewerkschaftsbundes und der Marburger Bund für die Ärzteschaft als gewerkschaftliche Akteure im Krankenhaus auf (vgl. Roth 2011: 18).
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2013: 40) sind in der Regel mit dem Ziel der Tarifabsenkung oder Ausgliederung in eine Tochtergesellschaft ohne Tarifbindung verbunden. Dies wird etwa durch den Wegfall von Urlaubs- und Weihnachtsgeld und/oder der Zahlung niedrigerer Gehaltsniveaus realisiert (Roth 2011: 18). Dennoch lassen sich (nicht repräsentative) Aussagen zum Einkommen für einige, weniger stark ausdifferenzierte Berufsgruppen in den Krankenhäusern treffen. Bräutigam et al. betrachten im Arbeitsreport Krankenhaus die Nettoeinkommen der Pflegeberufe, der Ärzt*innen und „sonstiger Berufe“ (Bräutigam et al. 2014: 27f). 33 Deutlich wird, dass niedrige Einkommen für die Berufe jenseits der Ärzteschaft im Krankenhaus häufig vertreten sind. Für die Pflegeberufe zeigt sich beispielsweise ein Median der Einkommensverteilung von 1.500 Euro bis unter 2.000 Euro netto monatlich. 22,9 Prozent der Befragten in der Studie gaben an, sogar weniger als 1.500 Euro netto monatlich zu verdienen. Bei der Berufsgruppe der Ärzt*innen liegt der Median der Einkommensverteilung dagegen bei 3.000 bis 3.500 Euro netto monatlich. Dieses Einkommen erzielten 21,5 Prozent der Befragten. Die größte Gruppe (24,1 Prozent) unter den Befragungsteilnehmenden des ärztlichen Dienstes erzielte ein Nettoeinkommen von 5.000 Euro und mehr. Die Autor*innen der Studie unterstreichen die Notwendigkeit weiterer und stärker ausdifferenzierter Forschung zum Einkommen in der Gesundheitsbranche, etwa die Einkommenslage und „Entwicklungstrends sowohl innerhalb als auch zwischen einzelnen Berufsgruppen des Krankenhauses […] aber auch zwischen Teilbranchen des Gesundheitswesens insgesamt“ (Bräutigam et al. 2014: 27). Für den Krankenhaussektor gilt darüber hinaus wie für die deutsche Wirtschaft insgesamt: Frauen verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen. So weist der WSI-Lohnspiegel (2009-2013) einen Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern in der Gesundheitsbranche von 21 Prozent aus (Bräutigam et al. 2014: 30). Betrachtet man den Gender Pay Gap für einzelne Berufsgruppen, zeigt sich zwar ein unterschiedlich hoher, dennoch durchgängiger Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern einer Berufsgruppe ab: So erzielte ein Arzt bei einer 40-Stunden-Woche ohne Berücksichtigung von Weihnachts-, Urlaubsund Sonderzahlungen ein durchschnittliches Medianeinkommen von 4.640 Euro netto, eine Ärztin demgegenüber 4.191 Euro. Betrug der Monatslohn eines Krankenpflegers 2.965 Euro netto, bekam eine Krankenschwester 2.489 Euro (ebd.: 29). Hinzu kommt eine Ungleichbehandlung der unterschiedlichen Be-
33 Empirische Grundlage des Arbeitsreports ist eine nicht-repräsentative OnlineUmfrage unter mehr als 2.500 Krankenhausbeschäftigten. Zusätzlich wurden Daten des Lohnspiegel.de der Hans-Böckler-Stiftung ausgewertet, eine fortlaufende, ebenfalls nicht repräsentative Online-Erhebung (vgl. Bispinck et al. 2010).
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schäftigtengruppen von Seiten der Krankenhäuser. So macht das PflegeThermometer 2009 deutlich, dass „die tariflichen Erhöhungen [im Pflegebereich, Anmerk.K.M.] seit 2002 alleine durch den Abbau der Stellen im Pflegebereich aufgefangen“ (Isfort/Weidner 2010: 6) wurden. Und Roth schließt sogar nicht aus, dass sich vor dem Hintergrund der Budgetdeckelung eine Einkommenserhöhung im ärztlichen Dienst negativ auf die Lohnentwicklung in anderen Bereichen ausgewirkt habe (Roth 2011: 32). Rechtliche Arbeitszeitregelungen und Arbeitszeitrealitäten Die rechtliche Grundlage für die Arbeitszeiten im Krankenhaus ergibt sich aus dem 2004 für Deutschland novellierten und für Krankenhäuser 2006 wirksam gewordenen Arbeitszeitgesetz (ArbZG).34 Nach diesem umfasst die tägliche Arbeitszeit acht Stunden. Eine Verlängerung auf zehn Stunden täglich ist möglich, wenn „innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt alle acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden“ (§3 ArbZG). Ein erheblicher Umfang von Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst darf die Arbeitszeit auf über zehn Stunden ausweiten. Voraussetzung ist ein festgelegter Ausgleichszeitraum, der im Rahmen eines Tarifvertrages bzw. einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung geregelt ist. Ähnliche Regelungen und Abweichungen gelten für die Arbeitszeiten in Nacht- und Schichtarbeit (§6 ArbZG). Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz sind für Beschäftigte dann möglich, wenn diese in einem Haushalt „mit den ihnen anvertrauten Personen zusammenleben und sie eigenverantwortlich erziehen, pflegen oder betreuen“ (§18(1)3 ArbZG). Anspruch auf einen Arbeitsplatz ohne Nachtarbeit haben Beschäftigte, die entweder mit einem Kind unter 12 Jahren oder einem schwerpflegebedürftigen Angehörigen in einem Haushalt leben, wenn diejenigen nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person betreut bzw. versorgt werden kann (§6 (4) ArbZG). Allerdings gilt: Eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit auf über acht Stunden ist prinzipiell auch ohne Ausgleich möglich. Voraussetzung dafür ist die schriftliche Einwilligung des/der Beschäftigten sowie ein entsprechender Tarifvertrag bzw. eine entsprechen Betriebs- oder Personalvereinbarung. Die Freiwilligkeit einer solchen individuellen Erklärung einzelner Arbeitnehmer*innen muss jedoch vor dem Hintergrund des Machtgefälles zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerschaft kritisch eingeschätzt werden. Die so genannte Opt-Out-Re-
34 Zu den Ausnahmen vom ArbZG nach §18 gehören „leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes sowie Chefärzte“, Leiter öffentlicher Dienststellen und deren Vertreter sowie Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, die selbstständig Personalangelegenheiten entscheiden dürfen (vgl. ArbZG).
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gelung ist dem Deutschen Krankenhausbarometer 2013 zufolge in deutschen Krankenhäusern mehrheitlicher Standard (Blum et al. 2013: 48f). Grundsätzlich gilt: In größeren Einrichtungen (ab 300 Betten) wird die Opt-Out-Regelung häufiger (80 Prozent) genutzt als in kleineren Einrichtungen (weniger als 60 Prozent). Bezogen auf die Berufsgruppe der Ärzt*innen mit regelmäßigem Bereitschaftsdienst – das Krankenhausbarometer schätzt deren Anteil auf rund zwei Drittel – haben auch rund zwei Drittel des ärztlichen Personals in die Opt-OutRegelung schriftlich eingewilligt (Blum et al. 2013: 50). Die dann zulässige Höchstarbeitszeit richtet sich nach dem jeweils gültigen Tarifvertrag des Krankenhauses. Laut Selbstauskunft der Häuser erreichten 64 Prozent der Ärzt*innen im Opt-Out diese jeweilige Höchstarbeitszeit. In kleineren Einrichtungen (unter 300 Betten) fällt der Anteil sogar um zehn Prozent höher aus (Blum et al. 2013: 51). Konkrete Angaben dieser Höchstarbeitszeiten macht das Krankenhausbarometer nicht. Es ist zu vermuten, dass die geleisteten Arbeitszeiten der Ärzteschaft im Opt-out – und damit zwei Drittel der Ärzte – unverhältnismäßig hoch sind. Zu den Arbeitszeitrealitäten im Krankenhausbereich zählt vor dem Hintergrund des hohen Frauenanteils ein hoher Anteil an Teilzeitbeschäftigung: so waren beispielsweise 33,8 Prozent der Krankenhausärztinnen im Jahr 2015 teilzeitoder geringfügig beschäftigt (vgl. Statistisches Bundesamt am 07.03.2017). Betrachtet man nur die Pflegeberufe, gaben im WSI-Lohnspiegel 44 Prozent der Frauen und 17 Prozent der Männer an, in Teilzeit zu arbeiten (Bispinck et al. 2013: 22).35 Die Gründe für Teilzeitarbeit sind vielfältig, einerseits wollen bzw. können Beschäftigte zum Teil nicht in Vollzeit erwerbstätig sein, andererseits schätzen Krankenhäuser die Flexibilität von Teilzeitarbeit und verweigern auch schon mal die Aufstockung von Arbeitszeiten. Es sind noch immer mehrheitlich Frauen, die mit einer reduzierten wöchentlichen Arbeitszeit Möglichkeiten für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Alltag suchen. Auch in der vorliegenden Studie wird Teilzeitarbeit und die Aushandlung einer konkreten Ausgestaltung im Betrieb noch eine Rolle spielen. Teilzeitarbeit macht ein geringeres monatliches Einkommen, eine schlechtere soziale Sicherung vor allem im Alter sowie die Benachteiligung bei Qualifizierungsprozessen und Karrieresprüngen von Frauen wahrscheinlicher (vgl. Keller/Seifert 2006). Nach Roth spielen auch Bemühungen der Gesunderhaltung durch die Beschäftigten eine Rolle bei der Reduktion
35 Betrachtet wurden hier Pflegende aller Einrichtungen des Gesundheitswesens. Die Mehrzahl der Beschäftigten arbeitet in dem Datensatz jedoch in Krankenhäusern (vgl. Bispinck et al. 2013: 8).
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von Arbeitszeiten. Das trifft vor allem und überwiegend auf das Pflegepersonal zu. Das Pflegethermometer 2009 bestätigt diese Einschätzung: Mit 28,1 Prozent strebte mehr als ein Viertel der Befragten aufgrund von Überforderung eine Reduzierung des Stellenanteils an (Isfort/Weidner 2010: 7). Insofern kann Teilzeitarbeit in der Pflege auch eine mögliche Strategie darstellen, überhaupt bis zur Rente in dem Beruf durchzuhalten (vgl. auch Roth 2011: 51). Neben der Frage von Voll- und Teilzeit haben für Vereinbarkeitsmöglichkeiten und -hindernisse auch Arbeitszeitmodelle Relevanz. Einzelne Publikationen zeigen, dass durchaus innovative und familienfreundliche Arbeitszeitmodelle für Beschäftigte mit Fürsorgeverantwortung gegenüber Kindern oder Pflegebedürftigen in einzelnen Krankenhäusern existieren (vgl. BMFSFJ 2013b). Das Krankenhausbarometer 2013 macht aber deutlich, dass zumindest für den ärztlichen Dienst und den Funktions- sowie medizinisch-technischen Dienst als Berufsgruppen mit Bereitschaftsdienst das traditionelle Bereitschaftsdienstmodell nach wie vor überwiegt. „Dieses Modell sieht zwei Dienste vor: einen Tag-, Normaloder Regeldienst von ca. 8 Stunden und im Anschluss daran einen Bereitschaftsdienst von bis zu 16 Stunden.“ (Blum et al. 2013: 55) Über 90 Prozent der Krankenhäuser halten laut Selbstauskunft für die drei genannten Beschäftigtengruppen sowie den Pflegedienst Teilzeitstellen vor, über 80 Prozent bieten diese zeitlich befristet an. Weiterbildungen in Teilzeit ist in 54,3 Prozent der Kliniken, ein Angebot, das sich jedoch vor allem an den ärztlichen Dienst richtet. Teilzeit in Führungsposition ist dagegen vor allem im Pflegedienst möglich: 42,3 Prozent der Häuser bieten eine solche Regelung an. Für die drei übrigen Berufsgruppen halten dies rund 35 bis 36 Prozent vor (Blum et al. 2013: 67). Erwähnenswert sind darüber hinaus noch die Angebote an Beschäftigte mit Kind, etwa die Gewährung von Sonderurlaub aus familiären Gründen (50 Prozent der Einrichtungen) und betriebliche Elternzeit (rund 30 Prozent), d.h. eine Verlängerung der Elternzeit über den gesetzlichen Anspruch von drei Jahren hinaus. Im erhobenen qualitativen Material fanden sich aber beispielsweise auch finanzielle Anreize des Arbeitgebers, die Elternzeit zu verkürzen. Für den Pflegedienst sind zudem in jedem zweiten Krankenhaus temporäre Dienstpläne in Form von dauerhaften Früh- oder Spätschichten für Eltern möglich. Dieses Angebot wird den anderen Berufsgruppen im Krankenhaus deutlich seltener unterbreitet, nämlich nur in 32 bis 38 Prozent der Häuser und am seltensten dem ärztlichen Dienst (Blum et al. 2013: 69f). Auch wenn das Repertoire, das die Häuser anbieten, vielfältig erscheint; die formalen Angebote von Seiten der Krankenhäuser sagen noch wenig über die tatsächliche Inanspruchnahme von Seiten der Beschäftigten und eventuelle informelle Hürden aus (vgl.
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Weßler-Poßberg 2013). Darüber hinaus wird nicht verständlich, warum bestimmte Arbeitszeitmodelle für einzelne Berufsgruppen möglich scheinen, für andere aber nicht. Fest steht: Für unterschiedliche Beschäftigtengruppen werden verschiedene Arbeitszeitangebote gemacht. Auch im vorliegenden qualitativen Material zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Personalgruppen hinsichtlich ihres Einflusses auf die eigene Arbeitszeitdauer, -lage und -verteilung. Es wird sich noch zeigen, dass dafür unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. Zu den Arbeitszeitrealitäten in deutschen Krankenhäusern gehört schließlich, dass der tatsächliche Arbeitsumfang meist deutlich über dem der vereinbarten Arbeitszeit liegt. Dafür sprechen nicht nur die bereits angesprochenen hohen Zahlen der Ärzt*innen, die eine Opt-Out-Regelung unterschrieben und damit überlangen Arbeitszeiten individuell zugestimmt haben. Auch im Pflegebereich gibt der WSI-Lohnspiegel für das Jahr 2013 an, dass rund 53 Prozent aller befragten Beschäftigten in Pflegeberufen 36 Mehrarbeit leistet. Zwar erhält ein Großteil der Pflegenden die Mehrarbeit ausgeglichen – durch Freizeiten oder eine Vergütung der Überstunden. Bei rund 14 Prozent wird die zusätzliche Arbeit jedoch nicht vergütet bzw. zeitlich vergolten (vgl. Bispinck et al. 2013: 22). Da die Arbeitszeitrealitäten häufig mit gesundheitlichen Konsequenzen einhergehen, sind körperliche und psychische Belastungen des Krankenhauspersonals Gegenstand im folgenden Unterkapitel. Arbeitsdichte von Krankenhauspersonal Mit der Finanzierungsumstellung der Krankenhäuser im Jahr 1993 sowie der Einführung eines fallpauschalierenden Patientenklassifikationssystems (DRG) stieg der wirtschaftliche Druck auf die Krankenhäuser und führte, wie bereits beschrieben, zu einer Veränderung der Arbeitsdichte für das Personal. So beschrieben Braun und andere bereits 2009 die Konsequenzen der DRG-Einführung auf Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität wie folgt: „Kostendämpfung wurde vielfach nicht primär durch sinnvolle und mindestens qualitätsneutrale Rationalisierungen, sondern über kurzfristig realisierbare und wirksame Maßnahmen – vor allem Personaleinsparungen – angestrebt“ (Braun et al. 2009: 72). Während in den Jahren zwischen 1994 und 2009 Krankenhauspersonal reduziert wurde, kam es zeitgleich zu höheren Patient*innenfallzahlen bei sinkender
36 Siehe Hinweis in Fußnote 35.
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durchschnittlicher Verweildauer der Patient*innen in den Häusern. 37 Zudem stieg die Anzahl besonders pflegeintensiver Patient*innen. 2009 musste jede/r Beschäftigte fast 26 Prozent mehr Patient*innen versorgen als noch 1994 (Roth 2011: 15). Diese Entwicklungen betrafen jedoch nicht alle Beschäftigtengruppen gleichermaßen. Die Anzahl der zu versorgenden Fälle sank für den ärztlichen Dienst beispielsweise – von 149 in 1998 auf 134 in 2009 –, während sie im Pflegedienst erheblich anstieg, nämlich von 47 auf 58 im gleichen Zeitraum. Neben einer berufsgruppenspezifisch hohen Arbeitsdichte in bestimmten Krankenhäusern sind die Gesundheitsberufe im Allgemeinen sowie die spezifischen Krankenhausberufe, die unmittelbar mit der Versorgung der Patient*innen zu tun haben, in ihrem Arbeitsalltag häufig Belastungen ausgesetzt. Überlange Arbeitszeiten, Schichtarbeit sowie nicht eingehaltene Ruhephasen in und zwischen den Diensten führen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und verstärken beispielsweise die psychischen Belastungen (vgl. Lohmann-Haislah 2012, Kap. 5.2). Darüber hinaus schränken die beruflichen Rahmenbedingungen die Möglichkeiten für Sozialkontakte sowie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf stark ein. Fragt man die Beschäftigtengruppen im Krankenhaus nach Arbeitsintensität und Belastungen, erhält man unterschiedliche Antworten (vgl. Roth 2011: 31f). Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass das Pflegepersonal derart überlastet ist, dass nur durch Abstriche bei der Qualität der Arbeit das Arbeitspensum überhaupt bewältigt werden kann. Darüber hinaus gaben 60 Prozent der Beschäftigten an, in (sehr) hohem Maße körperlich schwer zu arbeiten (Roth 2011: 35). Auch der Funktionsdienst im Krankenhaus bemängelt in erster Linie die hohen körperlichen Anforderungen, auch wenn die Berufsgruppe ihre Arbeitsbedingungen insgesamt im Vergleich zu den anderen Beschäftigtengruppen als überdurchschnittlich gut bewertet (Roth 2011: 38). Für den medizinisch-technischen Dienst spielen vor allem berufliche Zukunftsängste und Fragen der Arbeitsplatzsicherheit eine Rolle, was für die psychischen Belastungen in einem Beruf ebenfalls relevant sein dürfte. Nur 21 Prozent der Befragten sagten aus, sich noch nie Angst um ihre berufliche Zukunft gemacht zu haben (Roth 2011: 40). Ängste hinsichtlich beruflicher und damit auch Einkommens- und sozialer Sicherheit waren wiederkehrende Themen auch in den für diese Arbeit geführten Interviews. Die körperlichen Anforderungen sind in der Berufsgruppe dagegen vergleichsweise gering(-er). Schließlich äußern sich auch die Beschäftigten im Wirtschafts- und
37 Im Jahr 2015 betrug die durchschnittliche Verweildauer der Patienten statistisch gesehen 7,3 Tage, die Patienten-Fallzahlen lagen bei 19,2 Millionen (Statistisches Bundesamt 2016: 8).
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Versorgungsdienst negativ über zu hohe körperliche Anforderungen, hier werden vor allem körperlich schwere und einseitige körperliche Belastungen genannt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beinahe alle Beschäftigtengruppen im Krankenhausbereich durch ihre Arbeit belastet sind. Abschließend lässt sich zusammenfassen: Die Frage nach der „Wahlfreiheit“ von Eltern wird für das vorliegende Forschungsprojekt als rekonstruktive Sozialforschung im Sinne der Grounded Theory mit Hilfe einer intersektionalen Methodologie in Anlehnung an McCall (2005) und Winker/Degele (2009) und einer intersektionalen Methodik nach Riegel (2010) erhoben und analysiert. Grundlage sind 19 episodische Interviews mit Müttern und Vätern aus unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Krankenhaussektor Nordrhein-Westfalens. Der Branchenfokus dieser Studie resultiert sowohl aus forschungspraktischen Erwägungen wie einer notwendigen Begrenzung des Forschungsfeldes und einer besseren Vergleichbarkeit der Empirie. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, dass der deutsche Krankenhaussektor exemplarisch für den sozialstaatlichen Wandel Deutschlands insgesamt steht.
4
Manifestationen von „Wahlfreiheit“ in der Empirie Zur Bedeutung von (Quasi-)Solidargemeinschaften, betrieblichen Tauschverhältnissen und Mehrfacherwerbstätigkeit
In diesem Kapitel werden die empirischen Ergebnisse im Hinblick auf „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter vorgestellt. Bei der Rekonstruktion von Handlungsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit hat sich herausgestellt, dass insbesondere (Quasi-)Solidargemeinschaften, betriebliche Tauschverhältnisse und Mehrfachbeschäftigung von Bedeutung für die unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten der Interviewpersonen einnehmen.
4.1 (QUASI-)SOLIDARGEMEINSCHAFTEN IM KONTEXT VON PAARBEZIEHUNG, FAMILIEN, SOZIALEN NETZWERKEN UND BEZAHLTEN DIENSTLEISTUNGEN IM PRIVATHAUSHALT Solidarität ist nicht nur als makrosoziologisches Konzept fassbar, welches im Kontext nationaler Wohlfahrtsstaaten herangezogen wird , sondern findet auch Anwendung auf einer mikrosoziologischen Ebene zur Beschreibung des Handelns von Individuen in spezifischen Bezügen, etwa der von Familie. 1 „Solidarität ist […] primär eine Kategorie des Beobachters von Handlungen, nicht der 1
Für Solidaritätsformen außerhalb familiärer Bezüge siehe beispielsweise Gille/ Klammer 2017.
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Handelnden selbst. Aber sie bezieht sich auf soziale Zusammenhänge, die durchaus im Alltagsleben verankert sind“ (Kaufmann 2004: 52). Solidarität gilt in der Soziologie zwar als Schlüsselbegriff zum Verständnis moderner Gesellschaften, wird dabei jedoch höchst unterschiedlich gefüllt.2 Hinzu kommt, dass Solidarität bezogen auf persönliche Beziehungen, etwa in familialen oder partnerschaftlichen Kontexten zwar häufig attestiert, dabei jedoch selten inhaltlich expliziert wird (Maiwald 2013: 324, Huinink et al. 2001). So wird beispielsweise in der Familiensoziologie der Begriff der Solidargemeinschaft häufig im Rahmen von Familie und Partnerschaft verwendet, etwa wenn Familie als eine auf Dauer angelegte, in der Regel generationenübergreifende Solidargemeinschaft (Peuckert 2012: 593) oder als spezifische Kooperationsund Solidaritätsbeziehung (Nave-Herz 2004: 32) umschrieben wird. Oder es wird in der Frauen- und Geschlechterforschung auf die Relevanz sozialer Netzwerke vor allem für erwerbstätige Frauen sowie Alleinerziehende und Familienernährerinnen hingewiesen (vgl. Ludwig/Schlevogt 2002: 135, Klammer et al. 2012: 231, Klenner et al. 2012: 242). Unbearbeitet bleibt dabei jedoch meist, was Solidarität innerhalb von Paar- und Familienbeziehungen sowie sozialen Netzwerken ist und wie diese funktioniert, welche Prinzipien ihr also zu Grunde liegen. Auch in der Geschlechtersoziologie, die die alltägliche Kooperation zwischen Männern und Frauen in Hausarbeit, Erwerbs- und Sorgearbeit für Kinder oder ältere bzw. kranke Personen in ihrer Verschränkung u.a. erstmals zum wissenschaftlichen Gegenstand erhob, finden sich kaum geschlechtersensible theoretische Annäherungen an den Begriff der Solidarität auf Ebene der persönlichen Beziehungen und wie sie konzeptionell zu fassen ist. Die bestehende geschlechtersoziologische Literatur betont allerdings die Zusammenhänge und Wechselwirkungen „gesellschaftlicher“ und „familialer“ Solidarität (Ostner 2004: 78, vgl. auch Knijn/Komter 2004), die auch für die vorliegende Forschungsarbeit Relevanz haben. So lässt sich familiale Solidarität und die durch sie erbrachte notwendige Sorgearbeit im Privaten im Verhältnis zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Erwerbsarbeit im öffentlichen Raum denken (vgl. Martin 2004) und Wohlfahrtsstaaten lassen sich entlang ihres Grades der „Familisierung“ unterscheiden (vgl. Leitner 2013), welche Leistungen also solidarisch von der Gemeinschaft (etwa der Versicherungsgemeinschaft) erbracht werden und welche von der Familie. Martin spricht vor dem Hintergrund des wohlfahrtsstaatlichen
2
Erstmals beschrieb Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts Solidarität soziologisch als Zusammenhalt durch Moral (Durkheim 1992), wohingegen beispielsweise Kaufmann Solidarität als Typ sozialer Steuerung betrachtet (Kaufmann 2004) oder Honneth Solidarität zu einer von drei Anerkennungsformen erklärt (Honneth 1994).
Manifestationen von „Wahlfreiheit“ in der Empirie | 127
Umbaus im Sinne von Einschnitten in das Netz sozialer Sicherheiten von der Wiederentdeckung familialer Solidarität (Martin 2004: 9), die allerdings geschlechts- und klassenspezifisch daherkomme (ebd.: 10, 12f). Zwar wurden im Zuge der Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates familienpolitische Leistungen und Infrastruktur um- und ausgebaut, die zu einer Entlastung familialer Solidarität durch den Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie der Verankerung eines Rechtsanspruches auf Betreuung für Kinder ab dem ersten Lebensjahr geführt haben. Doch nach wie vor – dies zeigen die Gespräche mit den Interviewpersonen – sorgt die Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit für Handlungsprobleme von Eltern, die sowohl kurzfristig im Alltag als auch längerfristig im Lebensverlauf bearbeitet werden müssen. Während im familialen und beruflichen Alltag Ausnahmesituationen auftreten können, die punktuell oder wiederkehrend Vereinbarkeitsprobleme hervorrufen, entstehen andere bzw. neue Handlungsprobleme vor dem Hintergrund paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit erst im Verlauf der Zeit. Diese können sich zu kontinuierlichen Sorgekonflikten im Lebensverlauf verdichten. Im Folgenden wird ein differenzierter Blick auf die Herausforderungen von erwerbstätigen Eltern geworfen, als dieser gemeinhin mit dem wissenschaftlichen wie politischen Schlagwort der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ verknüpft wird.3 Anstatt alle Handlungsherausforderungen unter diesem Schlagwort zu subsumieren, werden im Folgenden alltägliche Vereinbarkeitsprobleme von Sorgekonflikten im Lebensverlauf unterschieden. Nicht alle alltäglichen, vielleicht nur punktuell auftretende Vereinbarkeitsprobleme von erwerbstätigen Eltern – etwa die Erkrankung des Kindes und damit ein Ausfall der Nutzung von Betreuungseinrichtungen – müssen sich zu langfristigen Sorgekonflikten verdichten. Gleichzeitig haben alle im Material auftauchenden dauerhaften Sorgekonflikte ihren Ausgangspunkt in wiederkehrenden und ungelöst bleibenden Vereinbarkeitsproblemen im Alltag. Zahlreiche der zu lösenden Handlungsprobleme halten sowohl eine alltägliche als auch eine lebenszeitliche Dimension bereit und verweisen nicht zuletzt auf fehlende gesellschaftliche Solidarität bzw. wohlfahrtsstaatliche Leistungen: Wer betreut wie und zu welchen Zeiten im Alltag und im Lebensverlauf den Nachwuchs? Welche beruflichen Konsequenzen gehen damit kurzund langfristig einher? Wer erledigt wann lebensnotwendige Arbeiten wie kochen, waschen, putzen und einkaufen? Was erledigen die Eltern selbst und wo werden andere Familienmitglieder oder das soziale Umfeld, Freundeskreis und
3
Zum Euphemismus des Begriffs, der verdeckt, dass Sorge- und Erwerbsarbeit in weiten Teilen nicht nur unterschiedliche, sondern gar gegensätzliche gesellschaftliche Bereiche im Alltag darstellen, siehe Honig 2007.
128 | „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter?
Nachbarschaft, partiell oder dauerhaft einbezogen? Wann werden Aufgaben als bezahlte Dienstleistungen im Privathaushalt ausgelagert? Was passiert, wenn ein Kind erkrankt? Ob nun im Alltag oder im Lebensverlauf, für alle Handlungsprobleme vor dem Hintergrund paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit gilt: Sie müssen von Eltern irgendwie bearbeitet werden. Im Material zeigt sich, dass die befragten Interviewpersonen die aufkommenden Handlungsprobleme stets mit der Hilfe anderer, in Kooperation mit diesen, zu bearbeiten suchen. Entweder greifen sie dafür auf soziale Beziehungen im Kontext heterosexueller Paarbeziehungen, Familie oder sozialer Netzwerke zurück. Oder sie gehen vertragliche Beziehungen durch die Anstellung von Haushälterinnen, Babysitterinnen, Tagesmüttern, Au-pair-Frauen und Reinigungskräften ein, die bestimmte Aufgaben übernehmen und so die Eltern von Handlungsproblemen entlasten sollen. 4 Die auf diese Weise entstehenden Kooperationen im Rahmen sozialer und vertraglicher Beziehungen werden im Folgenden als Solidargemeinschaften bzw. im Kontext vertraglicher Beziehungen als Quasisolidargemeinschaften beschrieben. (Quasi-)Solidargemeinschaften, dies wird im Folgenden zu zeigen sein, sind dabei für die Frage nach „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern von Relevanz. Unter (Quasi-)Solidargemeinschaften wird eine begrenzte Gemeinschaft gefasst, die sich durch Zusammenhalt und Solidarität auszeichnet. Das hier verwendete Solidaritätsverständnis lehnt sich an Maiwald an: „Solidarität in diesem Sinne kennzeichnet jegliche Form der Vergemeinschaftung und unterscheidet sie von vertragsförmigen Beziehungen vor allem dahingehend, dass dort die reziproken Leistungen zweckgebunden und festgelegt sind“ (Maiwald 2013: 325). Das bedeutet auch, dass die Gegenseitigkeit im Rahmen von Solidargemeinschaften nicht immer offen formulierbar oder einforderbar ist, sie entspricht eben keinem Vertrag mit offen gelegten Rechten und Pflichten, sehr wohl aber mit wechselseitigen Verpflichtungszusammenhängen. Maiwald weiter folgend ist Praxis dann als solidarisch zu bezeichnen, wenn die Handlungsprobleme des/der Einen die Handlungsprobleme der/des anderen sind und umgekehrt (Maiwald 2013: 338). Im Fokus stehen damit nicht Leitbilder oder Normen, die als verbalisierte Absichtserklärungen und artikulierte Überzeugungen der Interviewperso-
4
Die Nutzung der ausschließlich weiblichen Form außer bei den Reinigungskräften verweist darauf, dass es sich bei den Personen im Sample auch ausschließlich um Frauen handelt.
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nen dahergekommen5, Kaufmann würde von solidarischen Semantiken sprechen (Kaufmann 2004: 52), sondern im Material aufgefundene Alltagspraktiken, die auf solidarisches Handeln verweisen. Im Folgenden wird einzeln auf das solidarische Handeln der im Material vorgefundenen unterschiedlichen mikrosoziologischen (Quasi-)Solidargemeinschaften eingegangen und es werden deren charakteristische Prinzipien analysiert. 4.1.1 Solidarität in (heterosexuellen) Paarbeziehungen „Wir haben uns dann gemeinsam überlegt, wie wir das irgendwie möglich machen könnten für uns.“ (Z. 20, Frau Grosse)
Solidarität in Paarbeziehungen zu ergründen, mutet eventuell befremdlich an, da die gegenseitige und kontinuierliche Unterstützung und Hilfe zwischen Partner*innen im Alltag als Selbstverständlichkeit erscheint. Die Forschung der Geschlechtersoziologie zeigt jedoch wiederkehrend, dass dies nicht der Fall ist. So hindern beispielsweise latente, milieuspezifische Geschlechterstereotype Väter daran, die Betreuung der Kinder als geteiltes Handlungsproblem mit ihrer erwerbstätigen Partner*innen zu begreifen, oder Familienernährerinnen daran, vor dem Hintergrund ihres Hauptverdienstes die Haus- und Familienarbeit stärker auf den Mann umzuverteilen (vgl. Meuser 2016, Koppetsch/Speck 2015, Klenner et al. 2012).6 Wie Maiwald selbst im Hinblick auf solidarisches Handeln innerhalb von Paarbeziehungen gezeigt hat, lässt sich auch an der hier vorliegenden Empirie rekonstruieren, dass solidarische Praxis – also meine Handlungsprobleme sind deine Handlungsprobleme und umgekehrt – nicht allen Paaren
5
Die Geschlechterforschung macht seit langem auf die Diskrepanz zwischen latenten Geschlechtsnormen und -leitbildern und der alltäglichen Arbeitsteilung in Paaren aufmerksam (vgl. beispielsweise im Milieuvergleich Koppetsch/Burkart 2008).
6
Koppetsch konstatiert eine Wiederkehr des bürgerlichen Familienmodells und verknüpft dieses mit einer kollektiven Sehnsucht nach Sicherheiten, Traditionen und Gemeinschaft sowie einer auch von den Frauen mitgetragenen klassenspezifischen Distinktionsstrategie, die vor dem Hintergrund der „Delegation von Haus- und Familienarbeit durch das Reservoir billiger Haushaltskräfte aus Osteuropa und den Schwellenländern“ (Koppetsch 2013: 360) nicht zwangsläufig mit dem Autonomieverlust der deutschen Frau einhergehen muss.
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gleichermaßen zu eigen ist. Im Gegenteil: alltägliche Vereinbarkeitsprobleme und Sorgekonflikte im Lebensverlauf werden nicht unbedingt als geteilte Handlungsprobleme beider Elternteile begriffen, sondern häufig(-er) als das der Frau beziehungsweise Mutter. Exemplarisch zeigt sich dies am Fall Herrn Reuschenbachs. Herr Reuschenbach arbeitet, wie seine Frau, als Arzt in einer öffentlichen Klinik. Die beiderseitige Erwerbstätigkeit auf hohem Niveau mit doppelten Karriereambitionen ist eine Selbstverständlichkeit innerhalb der Paarbeziehung. Dies ändert sich auch nicht, als das erste Kind geboren wird. Zwar erscheint die Übernahme der Sorgearbeit innerhalb des ersten Jahres unhinterfragt als alleinige Aufgabe seiner Frau, was vor dem Hintergrund der Elterngeldregelung eben kein Handlungsproblem darstellt und insofern auch keine solidarische Praxis auf Seiten Herrn Reuschenbachs erfordert. „Und dann wurde Emil im August 2008 geboren. Und es war klar, dass meine Frau ein Jahr in diese sogenannte Babypause geht. Und ich ganz normal weiter arbeiten gegangen bin“ (Z. 55, Herr Reuschenbach). Mit dem beruflichen Wiedereinstieg seiner Frau jedoch, der ebenso unhinterfragt daherkommt, stellt sich das Handlungsproblem der Kinderbetreuung. Einerseits wird das Betreuungsproblem als geteiltes durch Herrn Reuschenbach wahrgenommen, andererseits wird dieses nicht innerhalb der Paarbeziehung verhandelt und schließlich gelöst, sondern durch den Rückgriff auf die Großeltern im Alltag vorzeitig anderweitig behoben. „Und ja, das war auch so klar, dass die Pause meiner Frau auf ein Jahr limitiert ist und dann der Wiedereinstieg anstand. Und wir ja irgendwo Unterstützung für die Kinderbetreuung brauchten. Die haben die ersten drei Jahre die Großeltern komplett geleistet für Emil.“ (Z. 58, Herr Reuschenbach)
Durch die Verlagerung der Betreuungsarbeit auf die Großeltern kann Frau Reuschenbach nach der einjährigen Elternzeit wieder in ihren Beruf als Ärztin in Teilzeit zurückkehren, auch ohne dass sich in der beruflichen Praxis Herrn Reuschenbachs etwas ändert. Herr Reuschenbach ist also mit Kind als Arzt erwerbstätig wie zuvor. Lebenszeitlich betrachtet handelt es sich jedoch um ein Aufschieben einer grundsätzlich zu beantwortenden Frage innerhalb der Paarbeziehung, nämlich die der Sicherstellung von Sorgearbeit bei doppelter Erwerbstätigkeit im vollzeitnahen Bereich. Deutlich wird an dem Zitat darüber hinaus, dass das Ausbleiben einer paarinternen Aushandlung durch das Einspannen der Großeltern einseitig mit beruflichen Konsequenzen von Frau Reuschenbach einhergeht. Sie ist es, die im Anschluss an ihre berufliche Rückkehr Teilzeit arbeitet und den Sohn sowohl zu den Großeltern hinbringt als ihn auch abholt.
Manifestationen von „Wahlfreiheit“ in der Empirie | 131
„Das hat dann ab dem zweiten Jahr so funktioniert, dass wir morgens um halb sieben aus dem Haus sind. Damals haben wir etwa so 100 Meter von den Schwiegereltern entfernt gewohnt. Und meine Frau hat Emil dann da rüber gebracht. Wir sind arbeiten gegangen und meine Frau kam dann zurück.“ (Z. 60, Herr Reuschenbach)
Bei dem Ehepaar Reuschenbach bildet sich zu diesem Zeitpunkt im Lebensverlauf also keine solidarische Praxis vor dem Hintergrund des Wiedereinstiegs der Frau aus. Selbst die Inanspruchnahme der zwei Partnermonate durch Herrn Reuschenbach ändern daran nichts. Sie steht explizit nicht im Kontext des alltäglichen Betreuungsproblems oder des dauerhaften Sorgekonfliktes der Familie, sondern wird schlichtweg als außergewöhnliche – und insofern nicht notwendige – Zeit markiert. „Dann allerdings im April 2009, nachdem Emil also ein gutes halbes Jahr war, habe ich zwei Monate Elternzeit genommen. Das war eine sensationelle Zeit, das war super“ (Z. 56, Herr Reuschenbach). Das Ausbleiben der Verhandlung solidarischer Paarpraxis innerhalb der Paarbeziehung wiederholt sich als Muster nach der Geburt des zweiten Kindes. Familie Reuschenbach stellt eine Haushälterin und Tagesmutter ein, die die Großeltern bei der Kinderbetreuungsarbeit entlastet – und eine möglicherweise solidarische Praxis innerhalb der Paarbeziehung überflüssig erscheinen lässt (vgl. dazu Kap. 4.3.4).7 Festzuhalten gilt: Die ausbleibende solidarische Praxis innerhalb der Paarbeziehung muss irgendwie ausgeglichen werden. Im Fall Reuschenbach geschieht dies zunächst durch das solidarische Handeln der Großeltern, später durch eine vertragliche Kooperation mit der Tagesmutter. Ein ähnliches Beispiel ist die Paarbeziehung von Frau Zimmer. Frau Zimmer ist Pflegekraft in einer 50 km entfernt liegenden Klinik und Zuverdienerin der Familie. Ihre beruflichen Wiedereinstiege nach den Elternzeiten für die Kinder realisierte sie nicht mittels der solidarischen Praxis innerhalb ihrer Ehe, sondern stets mit Hilfe ihres sozialen Umfeldes und einer engagierten Nachbarin. Für den Ehemann von Frau Zimmer, der Vollzeit in der Lebensmittelindustrie angestellt ist, ergaben sich aus der Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit keinerlei Konsequenzen – weder durch die im Alltag aufgeworfenen Vereinbarkeitsprobleme, noch vor dem Hintergrund grundsätzlicher Sorgekonflikte im Lebensver-
7
Zwar ist es grundsätzlich denkbar, dass Herr Reuschenbach die solidarische Praxis gegenüber seiner Frau in anderen Bereichen als der Kinderbetreuung oder zu einem späteren Zeitpunkt im Lebensverlauf ausübt bzw. ausüben wird. Dagegen spricht jedoch, dass sich Praxen und Leitsemantiken innerhalb von Paarbeziehungen im Verlauf der Paarbildung ausbilden, die dann nicht ohne weiteres verworfen oder durch neue ersetzt werden können (vgl. Gräfe 2017, Koppetsch 2001).
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lauf. So hat Herr Zimmer weder auf der Arbeit gefehlt, wenn eines der Kinder erkrankt war, noch seine Arbeitszeiten an die Betreuungszeiten der Kinder angepasst oder im Lebensverlauf Elternzeiten in Anspruch genommen. Bis in die Gegenwart, die Kinder sind inzwischen neun und sieben Jahre alt, beschränkt sich Herrn Zimmers Anteil darauf, am Abend und in der Nacht zugegen zu sein, wenn Frau Zimmer beispielsweise Nachtdienst hat. „Also wenn ich Nachtdienst habe, komme ich nach Hause und dann gehen die [Kinder, Anmerk.K.M.]. Dann schlafe ich, bis die nach Hause kommen, und abends, wenn die dann ins Bett gehen, dann gehe ich halt wieder. Dann ist mein Mann ja auch da. Ich bin ja zum Glück nicht alleinerziehend. Das ist ja schon mal … kann man wirklich nur so sagen. Und ich habe ein gutes soziales Umfeld, die auch mal die Kinder stundenweise aufnehmen können und Freunde und eine sehr, sehr gute Nachbarin, ohne die die letzten Jahre nicht funktioniert hätten, muss ich ganz ehrlich sagen.“ (Z. 74, Frau Zimmer)
Eine solidarische Praxis zwischen ihr und ihrem Mann im Hinblick auf Hausund Betreuungsarbeiten ist nicht vorhanden, deren Fehlen wird im Alltag von Frau Zimmer weder bemerkt, noch eingefordert. In ihren Schilderungen wird vielmehr deutlich, dass aus ihrer Sicht sowohl die alltäglichen als auch die Handlungsprobleme im Lebensverlauf allein vor dem Hintergrund ihrer Erwerbstätigkeit entstehen und insofern auch allein durch sie – und unter Rückgriff auf die Nachbarin – gelöst werden mussten. Während das obige Zitat den Eindruck erweckt, Frau Zimmer habe dabei stets nur punktuelle Vereinbarkeitsprobleme im Alltag zu bewältigen gehabt, die gelöst wurden, weil ihr soziales Umfeld „auch mal die Kinder stundenweise aufnehmen“ kann, werden diese punktuellen Vereinbarkeitsprobleme im Alltag an anderer Stelle aus lebenszeitlicher Perspektive zu grundsätzlichen und dauerhaften Sorgekonflikten von Schichtdienstarbeitenden. „Da ist überall eine Riesenlücke drin, wie kriege ich den Schichtdienst mit dem Kindergarten versorgt. Das ist bei Leuten, die im Büro arbeiten, die geregelte 8 bis 16 Uhr Dienstzeiten haben, ist das gut gemanagt. Aber bei den Schichtdienstlern, Wochenenddienstlern, da ist eine Riesenlücke. Und da ist wirklich … da braucht man einfach ein Umfeld außen rum.“ (Z. 559, Frau Zimmer)
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die solidarische Praxis durch die Nachbarin Frau Zimmer vor grundsätzlichen Sorgekonflikten im Lebensverlauf bewahrt hat (mehr dazu in Kap. 4.1.3). Wie bei dem Paar Reuschenbach macht die ausbleibende solidarische Praxis im Kontext der Paarbeziehung anderweitige
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Solidargemeinschaften notwendig – und ermöglicht damit nicht zuletzt eine unhinterfragte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der mögliche Rückschluss, solidarisches Handeln im Rahmen von Paarbeziehungen mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, etwa in Zuverdiener*innen-Konstellationen, sei ohnehin unwahrscheinlich, ist zu kurz gegriffen. Im Kontrast dazu zeigt Frau Grosse, dass Solidarität in Paarbeziehungen „trotz“ einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung durchaus Relevanz haben kann. Ihr beruflicher Wiedereinstieg als Pflegekraft nach zwei Elternzeiten im Lebensverlauf wirft ähnliche Handlungsprobleme auf wie bei Frau Zimmer. „Und vorher habe ich das immer so abgetan. Ach, das ist eh nicht möglich als Krankenschwester mit Schichtdienst und so weiter, das funktioniert nicht. Mein Mann ist Arzt. Er hat auch sehr schwierige Arbeitszeiten und keine Kita in Deutschland macht das so“ (Z. 17. Frau Grosse). In den weiteren Ausführungen von Frau Grosse zeigt sich jedoch die gemeinsame und solidarische Bearbeitung der Betreuungsprobleme vor dem Hintergrund ihres beruflichen Wiedereinstiegs, was letztlich zu einer Anpassung der Arbeitszeiten ihres Ehemannes führt. „Wir haben uns dann gemeinsam überlegt, wie wir das irgendwie möglich machen könnten für uns und hatten dann den Plan, dass mein Mann einen festen Dienst in der Woche hat, einen festen Nachtdienst. Was bedeuten würde, dass er erst um 15 Uhr anfängt zu arbeiten an diesem Tag. Das hat er mit seinem Chef auch besprochen, der da auch gar kein Problem mit hatte.“ (Z. 20, Frau Grosse)
Ähnliches solidarisches Handeln lässt sich in der Mehrzahl der Zuverdienerinnen-Konstellationen im Sample aufzeigen, gleiches gilt für die Familienernährerinnen-Paare im Sample, in denen die Frau das Haupteinkommen erwirtschaftet. So lässt sich auch das Ehepaar Wilke, in dem er den Zuverdienst zum Haupteinkommen seiner Frau erwirtschaftet, als Solidargemeinschaft rekonstruieren, in der die Erkrankung der Tochter als punktuelles Handlungsproblem im Alltag gemeinsam gelöst wird. „Jeden Freitag hat die [meine Frau, Anmerk.K.M.] frei und ich jeden Dienstag. Wir hatten uns außerdem gedacht, dass jeweils ein Partner einen Tag frei nimmt für den Fall, dass unsere Tochter krank ist. Die war anfangs auch viel krank. Dann ist es so, dass wir da nur, falls die eine Woche krank ist, dass nur drei Arbeitstage flöten gehen müssten.“ (Z. 23, Herr Wilke)
Solidarisches Handeln in Paarbeziehungen muss insofern nicht zwangsläufig mit einer geschlechterunspezifischen Arbeitsteilung im Paar oder der gemeinsamen
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Orientierung auf Gleichheit oder Geschlechtergerechtigkeit einhergehen (vgl. auch Maiwald 2013). Gleichzeitig zeigt sich, dass kontinuierliche Solidarität im Alltag die „Wahlfreiheit“ der Elternteile im Lebensverlauf erhöht. So streichen einige Interviewpartner*innen die hohe Bedeutung der fortwährenden solidarischen Praxis innerhalb ihrer Paarbeziehung bei der Organisation, Gestaltung und Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit im Alltag besonders hervor, die ihnen die Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit im Lebensverlauf erst ermöglichte. Ein Beispiel ist Frau Scholz. Während sie zum Zeitpunkt des Interviews als Assistenzärztin Vollzeit arbeitet, ist ihr Mann als Grafiker in Teilzeit angestellt und arbeitet zu öfter im Home Office. „Ich habe zwei Kinder, sechs und vier, die habe ich während des Studiums bekommen. Während des Studiums hat mein Mann immer Vollzeit gearbeitet. Das war zum Teil ein bisschen schwierig, das so zu vereinbaren, weil ich auch nebenbei immer noch gearbeitet habe. Und jetzt, seit ich fertig bin, haben wir getauscht. Also mein Mann arbeitet Teilzeit, bringt die Kinder, holt die Kinder ab, so dass ich jetzt erst mal mich aufs Arbeiten konzentrieren kann.“ (Z. 16, Frau Scholz)
Auffällig ist, dass jedem Vereinbarkeitsarrangement im Lebensverlauf, welches Frau Scholz seit der Geburt des ersten Kindes beschreibt, gemeinsame Handlungsprobleme zu Grunde lagen, die folglich auch innerhalb der Solidargemeinschaft der Paarbeziehung gelöst wurden. „Und dann hat mein Mann irgendwann seinen Job gewechselt, weil ich sage, ich muss das [Studium] jetzt fertig machen, ich werde sonst unglücklich! Und ja, dann hat er den Job gewechselt, ich habe das PJ [Praktische Jahr, Anmerk.K.M.] Vollzeit gemacht.“ (Z. 61, Frau Scholz) „Als der Lasse geboren wurde, [habe ich] ein bisschen reduziert, weil mein Mann war damals auch noch in der Ausbildung. Und wir hatten halt dann überlegt, dass erst mal … einer wird fertig. Das war er, weil es einfach bei ihm absehbar war, das Ende […] In dem Moment war es halt so, dass er arbeitet, seine Ausbildung möglichst schnell fertig kriegt, ich ihm den Rücken frei halte.“ (Z. 43, Frau Scholz)
Im Zuge der gemeinschaftlichen Bewältigung hat das Ehepaar die Zuständigkeiten für die Erwerbs- und Sorgearbeit im Lebensverlauf immer wieder neu verteilt – mal geschlechtertypisch, mal geschlechteruntypisch. Bestimmte, besonders stressige Lebensphasen wurden zudem allein durch die Solidargemeinschaft er-
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möglicht, so Frau Scholz Darstellung. „Wir haben alle Rollenmodelle eigentlich schon durch“ (Z. 46, Frau Scholz). Und: „Davor war ja dann eben PJ und dann Lernzeit, die Examenszeit, das war sehr hart für uns alle, das war auch so ein Gemeinschaftsprojekt, also da hat mein Mann wirklich alles gemacht und mir komplett den Rücken freigehalten“ (Z. 393, Frau Scholz). Das alltägliche solidarische Handeln innerhalb der Paarbeziehung ermöglichte so die kontinuierliche Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit für beide Partner*innen im bisherigen Lebensverlauf und ist eine der Grundlagen für die anhaltend hohe „Wahlfreiheit“ beider Elternteile. Wenig überraschend ist Frau Scholz gewünschtes Familienmodell der Zukunft stark auf eine partnerschaftliche Gleichverteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit ausgerichtet und wird somit von der gegenwärtigen deutschen Familienpolitik besonders stark gefördert. „Also ich glaube, auf Dauer ist mein Wunsch, dass wir beide Teilzeit arbeiten. Ich fände das viel schöner einfach, weil so können sich beide irgendwie mit einer Stundenzahl um die 30 Stunden oder so, finde ich, doch noch beruflich wirklich … ja, ausleben und verwirklichen. Ich glaube, das ist mit einer Halbtagsstelle dann zum Teil schon echt schwer. Und man hat viel mehr Zeit gemeinsam und als Familie.“ (Z. 562, Frau Scholz)
Interessant erscheint die Solidargemeinschaft des Paares Scholz noch aus einem weiteren Grund. Für Frau Scholz ist die partnerschaftliche Solidarität ein Garant für die Unabhängigkeit von weiteren Solidargemeinschaften mit anderen Personen, etwa den Großeltern. Frau Scholz stellt damit einen Kontrast zu Herrn Reuschenbach und Frau Zimmer dar, die ihrerseits auf das solidarische Handeln weiterer Personen angewiesen sind. „Meine Schwiegermutter hat ein bisschen geholfen, wobei das leider nicht gut geklappt hat zwischen uns mit der Betreuung“ (Z. 53, Frau Scholz). Sie ergänzt: „Das hatten wir immer mal probiert wieder, aber auf Dauer klappt das irgendwie für uns nicht so gut. Das ist … ich finde, das macht das ganze Modell wackeliger, wenn da noch eine dritte oder vierte Person im schlimmsten Fall ist, das macht das Ganze wesentlich labiler und gefährdeter. Deswegen, für uns ist das so die beste Lösung, dass wir das im Alltag zu zweit machen und wenn irgendwelche Ausnahmesituationen sind, dann springt jemand ein. Also so klappt das für uns zumindest sehr, sehr gut.“ (Frau Scholz, Z. 357)
Auf der einen Seite wird entlang der Zitate deutlich, dass die partnerschaftliche Solidargemeinschaft den Alltag zu zweit zu organisieren vermag, in Ausnahmesituationen im Alltag oder auch im Lebensverlauf bleibt sie trotzdem auf die Kooperation und Solidarität mit weiteren Personen angewiesen. Auf der anderen
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Seite deutet Frau Scholz eine Kehrseite von Solidargemeinschaften an, nämlich neben der erfahrenen Hilfe und Unterstützung sich in wechselseitige Verpflichtungszusammenhänge und Abhängigkeiten zu begeben, die „Wahlfreiheit“ auch einzuschränken vermögen.8 Während bei den Paaren Reuschenberg und Zimmer solidarische Praxis vor dem Hintergrund paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit ausblieb, weil paarinterne Aushandlungen trotz eines gemeinsam wahrgenommenen Handlungsproblems aufgeschoben (Herr Reuschenbach) oder aufgrund einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie der Umdeutung von Sorgekonflikten in punktuelle Vereinbarkeitsprobleme im Alltag als nicht notwendig erachtet wurden (Frau Zimmer) – in beiden Fällen kommt es zu einer Verlagerung von Betreuungsarbeit auf Dritte – , zeigen die Fälle Frau Grosse und Frau Scholz, wie solidarische Praxis im Paar unabhängig der Frage nach einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowohl im Alltag als auch im Lebensverlauf aussehen kann. Dennoch erscheint die solidarische Praxis in Paarbeziehungen nicht als vollkommen unabhängig von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, denn männliches solidarisches Handeln im Sample findet sich im Alltag bei einzelnen Paaren auch dort, wo vordergründig eine traditionelle Arbeitsteilung zu herrschen scheint. Ein solcher Fall ist Frau Hotic, Mutter zweier Kinder. Auf der alltagspraktischen Ebene mit ihrem Mann lassen sich mehrere Beispiele für solidarisches Handeln beider Elternteile rekonstruieren. Herr Hotic, der als angestellter Kellner zu atypischen Arbeitszeiten erwerbstätig ist, unterstützt beispielsweise seine Frau bei dem Wunsch nach Arbeitszeitaufstockung, in dem er die Kinder bis nachmittags betreut, sie zur Kita bzw. Schule bringt und abholt sowie deren Mittagsverpflegung übernimmt. Die Übernahme von Sorgearbeit durch den Mann wird im Interview jedoch nicht offen gelegt, sondern verschleiert. So beschreibt Frau Hotic beispielsweise mehrfach, dass ihre Mutter ihre Tochter im Kleinkindalter ab mittags betreut hat, um ihr den beruflichen Wiedereinstieg zu ermöglichen. Nur nebenbei erwähnt wird jedoch, dass ihr Mann vormittags für
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Dazu passt, dass jüngere Studien für Paare des familistischen Milieus zeigen, dass bzw. wie diese ihre alltägliche und geschlechtsunspezifische Kooperation und Solidarität in der Haus- und Betreuungsarbeit zur Aufrechterhaltung einer symbolischen Geschlechterordnung negieren bzw. verschleiern (vgl. Koppetsch/Speck 2015, Klenner et al. 2012). In gewisser Weise handelt es sich dabei um das ‚umgekehrte‘ Phänomen zu Paaren des individualisierten Milieus der Akademiker*innen, die – obwohl auf Gleichheit in der Paarbeziehung orientiert – in der alltäglichen Arbeitsteilung stark traditional daherkommen und insofern einer „Illusion der Emanzipation“ anhängen (vgl. Koppetsch/Burkart 2008).
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die Tochter zuständig war und damit einen ebenso großen Anteil an ihrer Rückkehr in den Beruf hatte. Oder die Übernahme von Sorgearbeit durch Herrn Hotic wird ausführlich begründet. „Mein Mann, der kocht Mittagessen, weil ich einfach zu spät nach Hause komme. Das ist so, von vorn herein haben wir das so gesagt, weil das für die Kinder zu spät ist, wenn ich um 2 Uhr anfange Mittag zu kochen […] dann [ist das] kein Mittagessen mehr“ (Z. 1060). Eine solche Verschleierung der männlichen Sorgearbeit lässt sich als Strategie zur Aufrechterhaltung einer symbolischen geschlechtsspezifischen Ordnung werten, die zum Statuserhalt beider Partner*innen in der Solidargemeinschaft beiträgt: dem Mann als vordergründig Erwerbstätigen und der Frau als vordergründig Sorgender. Im alltäglichen Handeln kommt es jedoch zu einem Aufbrechen traditioneller Geschlechterrollen. Dieses Aufbrechen hat klare Grenzen. Zwar wird der Alltag in der Familie pragmatisch organisiert und Betreuungsarbeiten im Zusammenhang mit den Kindern wandern in Teilen an den Vater, die Erstzuständigkeit für die regelmäßig anfallenden Haus- und Putzarbeiten verbleibt jedoch in weiblicher Hand. So erledigt Frau Hotic alle Putz- und Wäschearbeiten sowie die Zubereitung der meisten Mahlzeiten. Auch für die anderen partnerschaftlichen Solidargemeinschaften muss gesagt werden, dass sich die solidarische Praxis der Väter in erster Linie auf den Bereich der Kinderbetreuung bezieht. Kaum eine/r der Interviewpartner*innen berichtete von einem wiederkehrenden solidarischen Miteinander in der Paarbeziehung in Bezug auf Reinigungsarbeiten oder Waschen. In einigen seltenen Fällen wurde die Zubereitung der Mahlzeiten oder das Einkaufen von Lebensmittel als solidarischer Akt durch den Mann übernommen oder Einkaufen wird als Familienaktivität praktiziert, wie das folgende Zitat belegt. „Und wir gehen dann alle zusammen einkaufen, aber putzen, waschen, mache ich das immer, weil ich bin ja den ganzen Tag zu Hause. Der arme Mann, was soll der machen? Der arbeitet zehn Stunden, wenn der kommt, ist der schon müde und kaputt“ (Z. 556, Frau Günes). Zwar zeichnet auch das Paar Günes zweifelsohne solidarisches Handeln aus9, Frau Günes Darstellung, sie sei den ganzen Tag zu Hause, entspricht vor dem Hintergrund ihrer Doppelerwerbstätigkeit jedoch nicht dem Alltag. Ganz gleich ob oder in welchem Umfang die Partner*innen also erwerbstätig sind, die partnerschaftliche Solidargemeinschaft umfasst mehrheitlich keinerlei Tätigkeiten im Haushalt. Diese verbleiben als weibliche Domäne in der Verantwortung der Mütter oder werden ausgelagert an bezahlte Dienstleistungen im Privathaushalt,
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So stimmte Herr Günes einem vom Arbeitgeber eingeforderten Schichtwechsel mit neuen Arbeitszeiten erst zu, nachdem das Paar gemeinsam im Betrieb von Frau Günes neue Arbeitszeiten verhandelt hat.
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auch innerhalb einer auf Egalität und solidarischen Praxis ausgerichteten Paarbeziehung wie der von Frau Scholz: „Aber ohne Putzmann […] ja, würde es glaube ich weniger gut klappen. Das hatten wir ja vorher auch, als wir es uns einfach finanziell nicht leisten konnten, und das finde ich dann schon blöd, wenn ein Tag am Wochenende eigentlich komplett für Haushalt draufgeht. Das macht keinen Spaß. Das ist ein Luxus, den wir uns gönnen wollten.“ (Z. 440, Frau Scholz)
In jedem Fall werden sie so der Notwendigkeit einer alltäglichen Kooperation im Paar entzogen. 4.1.2 Solidarität in Mehrgenerationenbeziehungen und Verwandtschaft „Musste mit meiner Mama aber vorher abklären, dass meine Mama […] damals die Kleine nimmt. […] Sie ist kürzer getreten in ihrem Beruf, um uns zu unterstützen.“ (Z. 179, Frau Hotic)
Neben den (heterosexuellen) Paarbeziehungen, die als Solidargemeinschaften daherkommen, wird solidarisches Handeln auch in Mehrgenerationenbeziehungen bzw. in der erweiterten Verwandtschaft relevant. Die Betreuung der Kinder durch die Großeltern spielt im vorliegenden Material eine hervorgehobene Rolle, die auch in der sonstigen Literatur häufig aufgegriffen wird.10 Betreuungsarrangements mit den Großeltern werden eingegangen, etwa in Ausnahmefällen,
10 So stellt Nave-Herz vordergründig auf den Transfer von materiellen und immateriellen Leistungen zwischen familialen Generationen ab (Nave-Herz 2004: 212) und Peuckert unterscheidet zum Beispiel zwischen materiellem, instrumentellem, kognitivem und emotionalem Austausch (Peuckert 2012: 610). Nach Peuckert zeichnen sich Betreuungsarrangements mit den Großeltern durch spezifische Vorteile aus, nämlich „dass sich diese ohne finanzielle Gegenleistungen um ihre Enkel kümmern, dass sie zeitlich flexibler sind als Kindertageseinrichtungen, dass sie die Kinderbetreuung mit großer emotionaler Hingabe leisten und häufig auch keine zusätzlichen Wege anfallen.“ (Peuckert 2012: 614). Die dieser Literatur zu Grunde liegenden austauschtheoretischen Prämissen müssen für die hier verfolgte Frage nach Solidarität jedoch zunächst grundsätzlich geklärt werden.
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wenn das Kind im Krankheitsfall gehütet wird, oder im Rahmen dauerhafter solidarischer Praxis. Erneut soll solidarische Praxis als solche bezeichnet werden, wo sie einer Logik der wechselseitigen Verpflichtung im Alltag und im Lebensverlauf – deine Handlungsprobleme sind meine Handlungsprobleme und umgekehrt – folgen. Beispiel einer dauerhaften Solidargemeinschaft mit den Großeltern sind Herr Reuschenbach und seine Frau. Die Großeltern leisten alltäglich Kinderbetreuung für das erste Kind, eine solidarische Praxis die innerhalb der Paarbeziehung nicht erbracht wird (vgl. Kap. 4.1.1). Die Verlagerung von Sorgearbeit auf die Großeltern ermöglicht Frau Reuschenbach den beruflichen Wiedereinstieg in hoher Teilzeit und Herrn Reuschenbach, weder im Alltag noch zunächst im Lebensverlauf mit prinzipiell geteilten Handlungsproblemen konfrontiert zu werden. Dies ändert sich auch nicht mit der Geburt des zweiten Kindes. Allerdings stößt das Paar bezüglich der solidarischen Praxis im Rahmen der mehrgenerationalen Solidargemeinschaft an Grenzen. „Und ja, das ist dann so drei Jahre gelaufen, bis dann Kindergartenzeit anstand für Emil und auch schon während seines zweiten Jahres wir halt Moritz erwartet haben, wo dann aber auch klar war, dass die Belastung der Großeltern mit zwei Kindern zu groß ist. Das haben die uns zum einen gesagt, zum anderen war uns das aber auch klar, so dass wir dann eine neue Lösung brauchten.“ (Z. 68, Herr Reuschenbach)
Das bereits beschriebene Muster – ein Ausbleiben solidarischer Praxis im Rahmen der Paarbeziehung wird verdeckt durch die solidarische Praxis und Kooperation mit anderen – verstetigt sich. Der aufgeschobene Sorgekonflikt der Familie Reuschenbachs – doppelte Erwerbstätigkeit im vollzeitnahen Bereich bei gleichzeitiger Sorgearbeit – taucht in verschärfter Form wieder auf. Es zeigt sich, dass Solidarität zwischen Eltern und Großeltern nicht bedingungslos erscheint, sondern nur in gewissen Maßen beansprucht werden kann. Die Grenzen der solidarischen Praxis im Rahmen der Mehrgenerationengemeinschaft gehen einher mit den Belastungen bzw. Überlastungen einer alltäglichen Kinderbetreuung von zwei Kindern durch die Großeltern. Die Grenzen, an die Herr Reuschenbach und seine Frau stoßen, werden durch den Zukauf bezahlter Dienstleistungen im Privathaushalt gelöst, neben der Verlagerung kommt es zusätzlich zu einer Auslagerung sowohl von Betreuungs- als auch von Hausarbeit. „Die [Lösung, Anmerkung K.M.] aktuell auch immer noch so aussieht, dass wir Hilfe von einer Tagesmutter haben. […] Die quasi die Vervollständigung aus Kindergarten, jetzt Schule für Emil und Kindergarten für Moritz und den Großeltern bildet“ (Z. 71, Herr Reuschenbach).
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Die Tagesmutter erscheint dabei nicht als Entlastung des Paares Reuschenbachs, sondern als Entlastung der Solidargemeinschaft mit den Großeltern. Die Eltern tauchen in dem obigen Zitat gar nicht (mehr) auf. Gelöst wird also in erster Linie die Überlastung der Großeltern, um die Solidargemeinschaft mit diesen nicht zu gefährden, nicht der grundsätzliche Sorgekonflikt im Lebensverlauf von Herrn Reuschenbach und seiner Frau. Die alltäglichen Handlungsprobleme, die sich vor dem Hintergrund der parallelen Erwerbs- und Sorgearbeit beider Elternteile ergeben, werden fortan weiterhin durch die mehrgenerationalen Solidargemeinschaft mit den Großeltern sowie zusätzlich der Kooperation mit einer Tagesmutter gelöst. Dabei wird die Tagesmutter als „Vervollständigung“ des Betreuungssystems Teil der Solidargemeinschaft. Solche Quasi-Solidargemeinschaften, in denen solidarische Praxis mit dem Zukauf bezahlter Dienste kombiniert wird, finden sich im Sample häufiger und sind Gegenstand von Kapitel 4.1.4. Auffällig ist zudem, dass die solidarische Praxis zumindest zu diesem Zeitpunkt im Lebensverlauf als einseitig beschrieben werden kann; unmittelbare „Gegenleistungen“ gegenüber den Großeltern erbringen Herr Reuschenbach und seine Frau jedenfalls nicht. Auch Frau Hotic lebt in einer mehrgenerationalen Solidargemeinschaft, die durch eine alltägliche Kooperation zwischen drei Generationen geprägt ist: zwischen dem Paar Hotic und ihrer Mutter sowie mit der Tochter. 11 So übernimmt die achtjährige Tochter beispielsweise regelmäßig Hausarbeiten mit der Absicht, die Mutter im Alltag zu entlasten. „Und das Staubsaugen versucht sie [die Tochter, Anmerk.K.M.] jetzt auch. Jetzt nicht, weil sie muss, sondern weil sie einfach sagt, ich möchte Dir helfen. Finde ich auch schön […] Jetzt macht sie nicht nur ihr Zimmer mit dem Swiffer, jetzt macht sie halt alle Zimmer. Ich sage, ist doch schön! Hilft dir das? Kommt immer als Frage. Hilft dir das? Ich sage, natürlich hilft mir das.“ (Z. 1076f, Frau Hotic)
Die Eltern von Frau Hotic treten im Lebensverlauf erstmals als Solidargemeinschaft in Erscheinung, als Frau Hotics beruflicher Wiedereinstieg als Arzthelferin in die Arztpraxis nach der ersten Elternzeit ansteht. Vor dem Hintergrund der
11 Die Äußerungen von Frau Hotic in Bezug auf die Unterstützungsleistungen innerhalb der Solidargemeinschaft folgen einem klar geschlechtsspezifischen Muster, indem die Mädchen bzw. Frauen für Haus- und Sorgearbeit verantwortlich bleiben und Autorität innerhalb der häuslichen Ordnung ausüben. Verdeckt wird damit die Sorgearbeit ihres Mannes (vgl. Kap. 4.1.1).
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Praxiszeiten, die von einer langen Mittagspause und Öffnungszeiten bis in den Abend hinein (18 Uhr) geprägt sind, ist ihr beruflicher Wiedereinstieg nur als generationenübergreifendes „Familienprojekt“ möglich: Ihr Mann betreut die Tochter vormittags zu Hause und bringt diese vor seinem Schichtbeginn im Restaurant am Nachmittag zur Großmutter, die dafür ihrerseits ihre Stelle als Reinigungskraft auf Teilzeit reduziert. Am Abend holt Frau Hotic ihre Tochter dort wieder ab. Da der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur zum damaligen Zeitpunkt erst beginnt, existieren keine passenden öffentlichen Kinderbetreuungsangebote, so dass Frau Hotic auf die solidarische Praxis ihrer Familie verwiesen bleibt.12 Dass der Wiedereinstieg in Vollzeit realisiert wird, erklärt sich mit dem Wunsch nach einem weiteren Kind und dem 2007 eingeführten Elterngeld. „Wir haben aber immer gesagt, nach der Ersten gehe ich danach wieder Vollzeit arbeiten. Wir ziehen das durch. Weil wir sowieso ein zweites Kind geplant haben. Und natürlich war das Finanzielle auch ein Aspekt. Man hat halt Vollzeitgeld und danach ist man in Elternzeit, dann kriegt man das volle Elterngeld.“ (Z. 22, Frau Hotic)
Da Frau Hotic als Arzthelferin keinen hohen Stundenlohn verzeichnet, versucht sie ein hohes Erwerbseinkommen durch den vollen Arbeitszeitumfang zu realisieren und so der Logik des Elterngeldes gerecht zu werden. Darüber hinaus erscheint ein substanzieller Beitrag durch Frau Hotic zum Familieneinkommen – ob in Form eines Erwerbseinkommens oder in Form eines möglichst hohen Elterngeldanspruchs – als unverzichtbar. „Ohne Geld, nur der Mann arbeitet. Das ist heutzutage nicht mehr so einfach.“ (Z. 58, Frau Hotic). Nach Geburt des zweiten Kindes nimmt Frau Hotic erneut Elternzeit. Den darauffolgenden Wiedereinstieg ermöglicht ihr Arbeitgeber ihr erneut nur in Vollzeit. Zwar bietet Frau Hotics Mutter dieser erneut ihre alltägliche Unterstützung bei der Betreuung beider Enkelkinder an, doch dieses solidarische Angebot lehnt Frau Hotic ab. „Die Mama hat gesagt: Mach’s! Ich nehme die Kinder. Aber ich war für mich damit unzufrieden. Ich bin angewiesen auf die Mama, ich bin angewiesen auf Betreuung für die Kinder. […] Also das habe ich von vorn herein gesagt. Nein, mache ich nicht“ (Z. 45, Frau Hotic). Frau Hotic wünscht sich stattdessen eine Rückkehr in Teilzeit mit mehrheitlicher Arbeitszeitlage am Vormittag. Einen solchen Wiedereinstieg in die Arztpraxis kann sie jedoch nicht realisieren, ein Aufhebungsvertrag und eine einjäh-
12 Vor dem Hintergrund der atypischen Arbeitszeiten des Paares Hotic decken jedoch auch die gegenwärtigen Kinderbetreuungszeiten – mehrheitlich von 7 bis 17 Uhr – den Bedarf der Familie nicht.
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rige Arbeitslosigkeit folgen im Lebensverlauf.13 Deutlich wird: Die solidarische Praxis innerhalb der Mehrgenerationenfamilie, die im Kontrast zu Herrn Reuschenbach als bedingungslos daher kommt, ermöglicht Frau Hotic erst den beruflichen Wiedereinstieg und hätte auch die zweite Rückkehr in die Arztpraxis getragen. „Wir hätten ja wieder das Gleiche machen können und sagen können, Oma, übernimmst du? Sie hat auch angeboten, sie macht … sie gibt ihre Stelle komplett auf, um uns zu helfen. Das war aber für mich irgendwo … sie gibt ihr Leben auf, nicht nur die Stelle. Sie muss ja jeden Tag … es ist ja nicht einmal die Woche, dass man sagen kann, Oma, mach mal. Es ist ja von montags bis freitags jeden Tag. Und dann zwei Kinder, nicht ein Kind. Kinder werden größer, Schule ist da. Das heißt auch von der Schule mal abholen, wenn beide arbeiten sind. Das war für mich nicht drin. Also Mama hat immer gesagt, mach dir keinen Kopf. Passt schon. Machen wir schon. Wir kommen ursprünglich aus Bosnien. Ich sage, was ist, wenn ihr mal vier Wochen wegfahrt? Was mache ich dann?“ (Z. 259, Frau Hotic)
Frau Hotics Ablehnung gegenüber dem erneuten Betreuungsangebot ihrer Mutter verweist auf vielfältige Weise auf die impliziten Verpflichtungszusammenhänge und Abhängigkeitsbeziehungen, die der Solidargemeinschaft mit der Großmutter zu Grunde liegen. Erstens möchte Frau Hotic ihre Mutter nicht übermäßig mit der alltäglichen Kinderbetreuung durch zwei Kinder belasten. Wie im Fall Herrn Reuschenbachs gibt es insofern Grenzen der Solidarität innerhalb mehrgenerationaler Solidargemeinschaften in Form zeitlicher und körperlicher Belastbarkeiten der älteren Generation, die nicht überschritten werden (sollen). Bei Herrn Reuschenbach weisen die Großeltern darauf hin, im Fall Frau Hotics antizipiert sie diese eigenständig. Zweitens widerstrebt es Frau Hotic, ihr regelmäßiges Betreuungsarrangement erneut allein auf ihrer Mutter aufzubauen. Die befürchteten Überlastungen und zu starken alltäglichen Einschränkung ihrer Eltern gehen dabei Hand in Hand mit einer verbleibenden Unsicherheit und Instabilität des Arrangements im Lebensverlauf, etwa zu Urlaubszeiten oder wenn ihre Mutter erkrankt. Drittens möchte Frau Hotic nicht, dass ihre ungelösten Sorgekonflikte mit beruflichen Konsequenzen für die Großmutter einhergehen, nämlich der Aufgabe der eigenen Erwerbstätigkeit. Solidarität innerhalb von Mehrgenerationen, so könnte eine daraus resultierende Annahme lauten, muss – anders als innerhalb von Paarbeziehungen – ohne weiterreichende Konsequen-
13 Eine detaillierte Fallbeschreibung von Frau Hotic wurde bereits an anderer Stelle publiziert (Menke 2016: 49f).
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zen für die*den Solidaritätgebenden bleiben. Der Prämisse, dein Handlungsproblem ist mein Handlungsproblem und umgekehrt, sind insofern Grenzen gesetzt. Anders als im Fall Herrn Reuschenbachs wird der Sorgekonflikt Frau Hotics, der aus ihren überlangen und den atypischen Arbeitszeiten ihres Mannes resultiert, im Folgenden grundsätzlich gelöst und nicht länger durch die Verlagerung der Betreuungsarbeit auf die Großmutter verdeckt. Im Anschluss an die Arbeitslosigkeit findet Frau Hotic eine Anstellung im Krankenhaus in hoher Teilzeit sowie mit Arbeitszeiten, die die eigenständige Betreuung der Kinder im Alltag durch sie und ihren Mann ermöglichen. Nach der täglichen Einbindung ihrer Solidargemeinschaft folgt ein Zurückgreifen auf Solidarität nur noch in Ausnahmesituationen. Das Betreuungsnetzwerk für Notfälle umfasst neben ihrer Familie auch Personen außerhalb der Familie, also im Kontext von sozialen Netzwerken mit Freund*innen, Nachbar*innen oder Eltern anderer Kinder. Dies erscheint Frau Hotic wichtig und notwendig, ist aber nicht länger Voraussetzung ihrer Erwerbstätigkeit. Zwar berichtet Frau Hotic davon, dass ihre Tochter regelmäßig bei den Großeltern oder ihrem Bruder und seiner Frau übernachtet. Dies stellt sie jedoch nicht als notwendiges Betreuungsarrangement dar, sondern in den Kontext der engen Bindung zwischen der Tochter und den Großeltern. „Also sie hat ihre festen Zeiten grundsätzlich von Samstag und Sonntag schläft sie bei meinen Eltern, das ist so eingetrichtert schon. Und wenn sie nicht bei meinen Eltern schläft, dann schläft sie bei meinem Bruder und seiner Frau“ (Z. 1329, Frau Hotic). Die Begrenzung von Solidargemeinschaften, etwa über die Einschränkung des Personenkreises oder über die Beschränkung auf Ausnahmesituationen im Lebensverlauf, steht für die Vermeidung dauerhafter wechselseitiger Verpflichtungszusammenhänge und einseitigen Abhängigkeitsverhältnissen im Alltag. Mehrgenerationale Solidargemeinschaften lassen im Lebensverlauf solidarisches Handeln von Seiten der erwerbstätigen Eltern notwendig werden, dies zeigt sich im Material bei der alleinerziehenden Frau Kröger. Frau Kröger hat zwei Töchter und lebt mit diesen in dem Eigenheim ihrer Mutter und deren Lebensgefährten. Wie bei Frau Familie Hotic übernahm die Mutter von Frau Kröger trotz eigener Erwerbstätigkeit regelmäßig Betreuungsarbeit für die Kinder und stützte dadurch Frau Krögers Erwerbstätigkeit im Servicedienst eines Krankenhauses in Vollzeit. „Da war meine Mutter zu Hause, die hatte Früh und Spät, da war es gut. Ja.“ (Z. 196, Frau Kröger). Die Frage zeitlicher Verfügbarkeit der Großmütter aufgrund einer eigenen Erwerbstätigkeit wird im Sample immer wieder relevant für einzelne Eltern und ist häufig als Hinweis auf das Herkunftsmilieu der Interviewpartner*innen zu beobachten. Sowohl im migrantisch geprägten Gastarbeiter*innenmilieu als auch im autochthon-deutschen Arbeitermilieu war die Frauen- bzw. Müttererwerbstä-
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tigkeit schon immer ökonomische Notwendigkeit sowie häufig auch normative Selbstverständlichkeit (vgl. Mattes 2005). Inzwischen ist Frau Krögers Mutter schwer erkrankt, was nicht nur zum Wegbrechen des alltäglichen Betreuungsarrangements innerhalb der Solidargemeinschaft führt, sondern auch die Übernahme von Pflegetätigkeiten durch Frau Kröger zur Folge hat. „Jeden Tag runter gehe ich gucken, nach der Arbeit, ich gehe direkt rein. Ja.“ (Z. 242, Frau Kröger) Um die neu aufgeworfenen Sorgekonflikte zu lösen und die Betreuung ihrer beiden Töchter alleine bewerkstelligen zu können, ist Frau Kröger gezwungen, ihre Arbeitszeiten zu ändern. Da eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit finanziell nicht tragbar wäre, arbeitet sie fortan täglich eine Stunde länger. „Jetzt, da arbeite ich von 7 bis um 15 Uhr, weil ich aber Wochenende und Feiertage nicht mehr kann. Meine Mutter ist krebserkrankt letztes Jahr und […] deswegen kann ich aber nicht mehr, weil ich habe ja nur meine Mutter“ (Z. 48, Frau Kröger). Die verbleibenden Betreuungslücken können nicht alle von Frau Kröger aufgefangen werden, so dass es auch zu unbetreuten Zeiten der Kinder in der Wohnung kommt bzw. die elfjährige Tochter allein am Morgen ihre sechsjährige Schwester beaufsichtigt. „Dann gehe ich … um fünf vor sechs gehe ich aus dem Haus. Dann sind die noch zu Hause. Die Große bringt dann die … um 7 Uhr 20 bringt sie sie vor die Tür, bis sie abgeholt wird, dann geht sie noch mal hoch. Und dann kommt sie … geht sie runter, die wird um 8 Uhr abgeholt“ (Z. 303, Frau Kröger). Erwähnenswert ist, dass der Lebensgefährte der Mutter offensichtlich keine oder nicht im selben Maße Betreuungsleistungen für die Töchter übernimmt, weil dieser offensichtlich nicht der Solidargemeinschaft von Frau Kröger und ihrer Mutter angehört. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zeigt sich auch darin, dass Frau Kröger seit der Erkrankung ihrer Mutter zusätzlich Reinigungsarbeiten im Haushalt der (Stief-)Eltern übernommen hat, obwohl der Lebensgefährte der Mutter für die Pflege von seiner Erwerbstätigkeit freigestellt ist.14 „Frau Kröger: Ja. Aber auch schon ab und zu mal helfen, die Spülmaschine einräumen und ausräumen, also saugen, das mache ich auch schon mal. Interviewerin: Auch unten dann bei den Eltern?
14 Für den Verbleib von Hausarbeit in weiblicher Hand spricht auch der dargestellte Fall von Frau Hotic, die ihre Tochter bewusst – und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen in einem Haushalt mit zwei erwerbstätigen Elternteilen, die als Gastarbeitende beide Vollzeit gearbeitet haben – in die Hausarbeit einführt sowie der alleinerziehende Herr Hotic, dessen Mutter regelmäßig das Reinigen der Fenster übernimmt, obgleich diese über 100 Kilometer entfernt von ihrem Sohn wohnt.
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Frau Kröger: Jaja. Ja.“ (Z. 379, Frau Kröger) „Ja, mein Stiefvater ist jetzt zu Hause, der braucht nicht mehr arbeiten, der hat die Pflege. Ja, aber der ist auch fix und fertig. Ja.“ (Z. 234, Frau Kröger)
Deutlich wird, dass für alleinerziehende Familienernährende wie Frau Kröger Solidarität meist nicht nur auf Not- bzw. Ausnahmesituationen im Lebensverlauf beschränkt bleiben, sondern kontinuierliche und alltägliche solidarische Handlungen durch Dritte anders als bei Müttern oder Vätern in Paarbeziehungen eine notwendige Bedingung für die Parallele aus Erwerbs- und Sorgearbeit darstellen. Im Leben von Frau Kröger übernimmt kein Partner bzw. einer der Väter Betreuungsarbeiten für die Kinder. Der grundsätzliche Sorgekonflikt Frau Krögers bleibt nur so lange verdeckt, wie die Mutter Betreuungsarbeiten übernehmen kann. Für Alleinerziehende bedeutet die notwendige solidarische Praxis durch Dritte im Alltag eine besondere Herausforderung, da sie der impliziten Wechselseitigkeit der Verpflichtungszusammenhänge nur unter großer Anstrengung gerecht werden können. Im Fall Frau Krögers bricht mit der Erkrankung der Mutter der ungelöste Sorgekonflikt auf und stellt sie mit der Kinderbetreuung vor alte Vereinbarkeitsprobleme und mit der Pflegetätigkeit für die Mutter vor neue Sorgekonflikte. Neben den mehrgenerationalen Solidargemeinschaften im Sample zeigen sich in einigen wenigen Fällen auch Solidargemeinschaften im Rahmen der erweiterten Familie. So stellt Frau Günes, Mutter eines Sohnes, eine Solidargemeinschaft mit ihrem Schwager und ihrer Schwägerin dar, die selbst drei Kinder haben. „Dann bringe ich [ihn, den Sohn, Anmerk.K.M.] zu meinem Schwager. Und die haben ja auch drei Kinder und die haben auch Tiere zu Hause, diese Vögel, dann die machen irgendwas, mit den Vögeln spielen und so“ (Z. 520, Frau Günes). Die gegenseitige solidarische Praxis innerhalb der Solidargemeinschaft bezieht sich jedoch nicht allein auf die Kinderbetreuung, sondern ermöglicht auch die gemeinsame Ausübung eines Zweitjobs der beiden Mütter, die sich eine 450Euro-Stelle als Reinigungskraft in einem Kindergarten teilen. Während Frau Günes und ihre Schwägerin dem Zweitjob nachgehen, betreuen die Väter die Kinder. Anders als in den beschriebenen mehrgenerationalen Solidargemeinschaften, in denen die erwerbstätigen Eltern im Alltag einseitig durch die Großeltern unterstützt werden und die Eltern der Wechselseitigkeit solidarischer Praxis gegenüber den Großeltern (bis auf Ausnahmen) vermutlich erst mit größerem zeitlichen Abstand im Lebensverlauf gerecht werden, zeichnet sich die Solidargemeinschaft mit der erweiterten Familie durch ihre unmittelbare Gegenseitigkeit aus.
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Sogar über nationalstaatliche Grenzen hinweg existieren Solidargemeinschaften im Familienkontext, um als erwerbstätige Mutter oder Vater der Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachkommen zu können. Diese entstehen, weil Eltern mit eigener Migrationserfahrung häufiger mit Fragen räumlicher Verfügbarkeit familialer oder auch partnerschaftlicher Solidargemeinschaften konfrontiert werden.15 So berichtet Frau Mafany, Mutter zweier Söhne, von einer Bekannten, deren Sohn in ihrem Herkunftsland Kamerun betreut wird. „Ja, doch, ich habe eine Bekannte, die ist auch Krankenschwester. Sie hat drei Kinder. Einer geht zur Schule in Kamerun, aber zwei sind hier. Ja, und sie macht fast genauso wie ich. Sie ist glaube ich auch … sie war erst mal Teilzeit und jetzt ist sie wieder Vollzeit“ (Z. 490, Frau Mafany). Das Phänomen transnationaler Solidargemeinschaften, die nationalstaatlich grenzüberschreitend solidarische Praxis erbringen, wurde bereits in der Literatur zu Familienernährerinnen mit Migrationshintergrund in prekären Lebenslagen als alternativlose Bearbeitung von Sorgekonflikten beschrieben (vgl. Amacker 2011: 413).16 4.1.3 Solidarität innerhalb sozialer Netzwerke „Und ich habe ein gutes soziales Umfeld, die auch mal die Kinder stundenweise aufnehmen können und Freunde und eine sehr, sehr gute Nachbarin, ohne die die letzten Jahre nicht funktioniert hätten, muss ich ganz ehrlich sagen.“ (Z. 79, Frau Zimmer)
Die bisher beschriebenen Solidargemeinschaften im Kontext von Partnerschaft und Familie sind durchgängig von familialen und somit spezifischen persönlichen Beziehungen zwischen Subjekten getragen. Familienbeziehungen erscheinen ebenso unkündbar wie exklusiv. Neben diesen partnerschaftlichen und fami-
15 So verweist Baykara-Krumme auf Unterschiede in der Art und im Ausmaß der Unterstützungsleistungen innerhalb von Familien mit und ohne Migrationshintergrund, die einerseits aus den geographischen Distanzen vor dem Hintergrund transnationaler Beziehungen, etwa wenn die Eltern im Herkunftsland leben, resultieren, andererseits auf geringere finanzielle Ressourcen der Elterngeneration basieren. Unterschiede in der Beziehungsqualität zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund zeichnen sich dagegen nicht ab (Baykara-Krumme 2007: 46f). 16 Ähnliche Phänomene beschreiben auch die sogenannten „Care-Chains“ (Ehrenreich/Hochschild 2004).
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lialen Solidargemeinschaften tauchen in der Empirie jedoch auch soziale Netzwerke mit Freund*innen, Nachbar*innen und Eltern anderer Kinder auf, die der hier verwandten Definition von Solidargemeinschaft – dein Handlungsproblem ist mein Handlungsproblem und umgekehrt – entsprechen. Die sozialen Netzwerke spielen sowohl in Ausnahmesituationen im Lebensverlauf als auch wiederkehrend im Alltag eine wichtige Rolle. So helfen sich beispielsweise Eltern untereinander aus, um eine wechselseitige Begleitung bei gemeinsamen Hobbies der Kinder oder Fahrdienste zu den Betreuungseinrichtungen bzw. Schulen zu gewährleisten. Die Familienernährerin Frau Bergmann berichtet von einer solchen Fahrgemeinschaft, durch die alle Eltern von den täglichen Abhol- und Bringfahrten entlastet werden. „Um 20 nach sieben macht sich unsere Große dann langsam so fertig. Die wird dann um fünf vor halb / halb acht herum entweder von der Fahrgemeinschaft abgeholt, oder mein Mann ist mit Fahren dran. Das sind drei Elternhäuser, die sich hier aus der Wohnsiedlung abwechseln, Richtung Schule zu fahren. Und er ist alle zwei Wochen für drei Tage dran.“ (Z. 681, Frau Bergmann)
Gleichzeitig entstehen auf diese Weise Verpflichtungszusammenhänge, die der hier verwandten Definition von Solidarität entsprechen: in diesem Fall ist das alltägliche Handlungsproblem der einen Eltern das alltägliche Handlungsproblem der anderen Eltern und umgekehrt. Frau Hotic greift etwa bei der Organisation des Schwimmtrainings ihrer Tochter regelmäßig auf die Eltern der Freundin als Betreuungspersonen zurück, während sie den jüngeren Bruder zum zeitgleich stattfindenden Fußballtraining begleitet. „Weil sie ja nur bis fünf Schwimmen hat, ich aber da [vom Fußballtraining des Bruders, Anmerk.K.M.] nicht weg komme. Dann geht sie meist mit ihrer Freundin mit. Die schwimmt mit ihr und der Mann passt dann auf die Mädels auf“ (Z. 860, Frau Hotic). Ebenso greift sie sporadisch auf die Unterstützung von anderen Müttern zurück, etwa wenn Kindergeburtstage anstehen, bzw. erbringt diese selbst. Gleichzeitig verwehrt sich Frau Hotic vor dem Eindruck, regelmäßig auf Unterstützung anderer Eltern angewiesen zu sein. „Die eine [Freundin, Anmerk.K.M.] feiert von ihrer Tochter nächste Woche Kindergeburtstag. Die Tochter ist genauso alt wie meine. Der Sohn ist genau so alt wie der Kleine. Sie hat jetzt gefragt, ob ich den Kleinen nehmen kann und auf die Jungs aufpassen, dass der Kleine den Mädchen nicht in die Quere kommt, weil die wollen zu Hause feiern. Natürlich. Man kommt immer in die Situation, dass man immer wieder jemanden braucht, und ich bin da immer die Letzte, die dann sagt, nein […] Und dann hilft man sich eigent-
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lich untereinander. Also ich habe auch immer zwischendurch jemanden, der was übernimmt. Jetzt nicht so häufig, weil ich versuche es immer alleine. Aus dem Grund, weil ich immer so der Meinung bin, das sind meine Kinder. Und ich will jemanden nicht zu sehr mit einbinden.“ (Z. 1422, Frau Hotic)
Auch wenn die solidarische Praxis Frau Hotics anders aussieht und sie de facto immer wieder – sowohl regelmäßig im Alltag als auch sporadisch im Lebensverlauf – auf das solidarische Handeln eines sozialen Netzwerkes angewiesen bleibt, besteht offensichtlich ein grundsätzlicher Wunsch, unabhängig von Solidargemeinschaften zu sein. Diesen begründet sie folgt: „Nicht, weil ich es nicht möchte, sondern einfach, weil andere Leute auch ihr eigenes Leben haben und ihren eigenen Stress haben. Man hat auch ohne Kinder Stress. Es ist ja nicht so, dass man keine Kinder hat und zu Hause die Füße auf den Tisch legt und sagt, was mach ich jetzt?! Es sind Leute, die dann Vollzeit arbeiten gehen, die abends nach Hause kommen, kaputt, müde, die dann keine Lust haben, zwei Stunden auf einen Vierjährigen aufzupassen. Das werden die nicht sagen. Mein Bruder würde nicht sagen, mache ich nicht. Der würde sagen: Klar! […] Aber das ist so für mich, ich muss damit klar kommen. Ich wollte es. Wenn es gar nicht geht, klar, kommt man darauf zurück. Aber so im Großen und Ganzen versuche ich immer selbst damit auszukommen.“ (Z. 1435, Frau Hotic)
Einerseits entspringt dieser Wunsch der Wahrnehmung, andere Personen mit der Übernahme von Betreuungsarbeit zu überlasten, andererseits vermeidet Frau Hotic durch das Umdeuten solidarischer Praxis im Alltag auf Kooperationen nur in lebensverlaufsspezifischen Ausnahmesituationen langfristige wechselseitige Verpflichtungszusammenhänge. Letztere kann oder möchte sie zumindest langfristig nicht eingehen (vgl. auch Kap. 4.1.2). Solidarität innerhalb sozialer Netzwerke im Alltag scheint durch eine stärker unmittelbare Wechselseitigkeit geprägt zu sein, deren Verpflichtungszusammenhänge ggf. nicht zu dauerhaften Abhängigkeitsverhältnissen führen müssen, was die Umdeutungen alltäglicher in „nur“ sporadisch notwendige Kooperationen bedingt. So berichtet beispielsweise die Familienernährerin Frau Müller, die mit ihrer Familie in einem mehrgenerationalen Wohnprojekt lebt, von den „Vorzügen“ einer solidarischen Nachbarschaft. „Das kann unsere Wohnsituation … inzwischen gibt die das her, dass dann der Nachbar mal Mensch ärger dich nicht spielt oder von unten die hoch kommt, da können die Kinder zum Essen gehen. Das ist natürlich eine Idealsituation“ (Z. 798, Frau Müller).
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Wie Frau Hotic deklariert Frau Müller die solidarische Praxis im Rahmen der sozialen Netzwerke als Ausnahme („dass dann der Nachbar mal“) und benennt zudem die gegenseitige Unterstützung und gemeinsame Kooperation innerhalb der Hausgemeinschaft explizit. Ebenso unverdeckt – und somit im Kontrast zu den impliziten Verflechtungs- und Verpflichtungszusammenhängen in Paarbeziehung und Familie – kommen die engen und kontinuierlichen Verflechtungen zwischen Frau Zimmer und ihrer Nachbarin daher. Frau Zimmer ist Pflegekraft in einem Krankenhaus, zu dem sie über 100 km (hin und zurück-)pendeln muss, und hat zwei Kinder im Grundschulalter. Eine Rückkehr in die Berufstätigkeit wäre aus Frau Zimmers Perspektive ohne das alltägliche solidarische Handeln ihrer Nachbarin nicht möglich gewesen (vgl. auch Kap. 4.1.1). „Und ich habe ein gutes soziales Umfeld, die auch mal die Kinder stundenweise aufnehmen können und Freunde und eine sehr, sehr gute Nachbarin, ohne die die letzten Jahre nicht funktioniert hätten, muss ich ganz ehrlich sagen. […] Das war, weil wir halt auch keine Großeltern hier in der Ecke haben, der Oma-Ersatz. Wenn mal krank, oder wenn wir beide arbeiten waren und ein Kind krank geworden ist, hat sie die Kinder zur Betreuung abgeholt und auch übergangsweise betreut, bis einer wieder gekommen ist von uns. Oder zum Spätdienst brauche ich sie zum Beispiel auch. Also am Donnerstag gehen die Kinder nach der Schule zu ihr und warten dann da, bis Papa kommt. Also machen Hausaufgaben, spielen da, treffen ihre Freunde. Aber sie ist halt einfach da.“ (Z. 79, Frau Zimmer)
Erneut wird hier die alltägliche Kooperation in eine sporadische umgedeutet („auch mal“, „stundenweise“, „übergangsweise“), was sich jedoch spätestens mit dem Hinweis bricht, dass Frau Zimmer die Nachbarin zu jedem Nachtdienst braucht. Während Frau Zimmer die deutsche Familienpolitik explizit während des Interviews kritisiert, die Schichtdienstarbeitenden kaum Betreuungsangebote mit passenden Betreuungszeiten anböte, bleibt Frau Zimmers Mann und dessen solidarische Praxis als Vater unerwähnt (vgl. auch Kap. 4.1.1). Die Nachbarin ist ein „Oma-Ersatz“, da Frau Zimmer eine alltägliche Solidargemeinschaft mit den Großeltern aufgrund geographischer Distanzen nicht zur Verfügung steht, bleibt damit aber stets nur zweite Wahl. Als Person bleibt sie in den Schilderungen von Frau Zimmer im gesamten Interview namenslos und blass. „Die ist in einer Zwischengeneration […], das heißt, die ist knapp über 50, ihre Kinder waren aus dem Gröbsten raus, und da hat sich das echt gut ergeben. Und sie ist selber nicht berufstätig und dementsprechend ist sie halt wirklich für uns da. Das ist echt gut“ (Z. 93, Frau Zimmer).
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Frau Zimmer ist stattdessen vor allem auf die Funktion des „Daseins“ der Nachbarin angewiesen, welche klar weiblich definiert wird und insofern nicht durch den Vater erbracht werden kann. „Ich finde es wichtig, dass die Kinder jemanden haben, wo sie einen Ansprechpartner haben, auch wenn sie größer werden und schon selbstständiger werden und nicht mehr so bemuttert werden müssen, brauchen sie trotzdem jemand, wo sie wissen, wo ich klingeln kann [Herv. K.M.].“ (Z. 87, Frau Zimmer)
Wie eine Großmutter verfügt auch die Nachbarin über die Erfahrung, in der Vergangenheit selbst Kinder großgezogen zu haben. Darüber hinaus zeichnet sich die Nachbarin durch zeitliche Verfügbarkeit aus, die sich nicht zuletzt aus deren Nichterwerbstätigkeit ergibt.17 Wie in den oben beschriebenen Betreuungsarrangements mit den Großeltern (vgl. Kap. 4.1.2), ist die Nachbarin also zeitlich flexibel, verlangt keine finanziellen Gegenleistungen und wohnt in unmittelbarer Nähe. Der solidarischen Kooperation zwischen Frau Zimmer und der Nachbarin wird so insgesamt der Anstrich einer familialen Mehrgenerationen-Solidargemeinschaft verliehen, deren wechselseitiger Verpflichtungszusammenhänge impliziter daher kommen als die bis hierhin beschriebenen Kooperationen innerhalb sozialer Netzwerke bei Frau Bergmann oder Frau Hotic. Auf diese Weise ist Frau Zimmer in der Lage, zwar intensiv die Betreuungsleistungen der Nachbarin, von denen sie abhängig ist, in Anspruch zu nehmen, ohne gleichzeitig auf ihre Verpflichtungen gegenüber der Nachbarin oder das implizite Abhängigkeitsverhältnis einzugehen. Das Quasi-Familiale macht es jedoch im gewissen Umfang wahrscheinlich, dass Frau Zimmer im späteren Lebensverlauf auch gegenüber der Nachbarin solidarisch handeln wird, etwa durch die Übernahme von alltäglichen Pflege- und Unterstützungsleistungen für die Nachbarin, wie dies bei Frau Kröger und ihrer erkrankten Mutter der Fall war. Im Hinblick auf Solidargemeinschaften im Kontext von sozialen Netzwerken zeigt sich erneut, dass vor allem Alleinerziehende in besonders umfassender Weise auf diese zur Aufrechterhaltung der Erwerbsarbeit zurückgreifen müssen – sowohl in Krisenzeiten als auch im Alltag. So ermöglichte Frau Schubert das
17 Auf diese Weise werden auch intersektionale Kategorien relevant gesetzt; nämlich das weibliche Geschlecht sowie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten autochthondeutschen Milieu, in dem eine Erwerbstätigkeit der Frau bei Mutterschaft nicht ausgeübt wurde, weil dies finanziell nicht notwendig war und den geltenden Normen widersprach (vgl. Weckwert 2008).
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solidarische Handeln nicht nur der Familie, sondern auch der Freund*innen ihren im Lebensverlauf ungeplant frühen beruflichen Wiedereinstieg als Physiotherapeutin, der notwendig wird, weil der Vater des Kindes während der Schwangerschaft zu Tode kommt. „Alle haben sich Urlaub genommen, meine Mutter ihren Jahresurlaub, mein Vater, meine Freundinnen. Wer war noch dabei? Ich weiß es gar nicht.. mein Bruder. Die haben dann die ersten Monate überbrückt und dann haben wir zum Sommer, sie ist im Januar geboren, das war dann, wann habe ich angefangen? Ich glaub, im April und dann zum August oder September werden immer die Kindergartenplätze frei und dann habe ich da den U3-Platz gekriegt.“ (Z. 85, Frau Schubert)
Doch auch im Anschluss daran bleibt Frau Schubert auf ein, wie sie selbst sagt, Helfersystem angewiesen, um die unzureichenden Betreuungszeiten der öffentlichen Kindertagesstätte auszugleichen: „Vorher hatten wir nur einen Standardkindergarten, der hatte nur bis vier Uhr auf. Das war unendlich schwierig, da musste man ein ganz großes Helfersystem immer installieren, ne? Oben bei Nachbarn und gedöns“ (Z. 18, Frau Schubert). Ebenfalls ein Beispiel für die alltägliche Verwiesenheit auf Kooperation innerhalb von sozialen Netzwerken ist die Pflegekraft Frau Reinhard, der sich trotz eines späteren Arbeitszeitbeginns im Krankenhaus mit der Einschulung ihres Sohnes neue Handlungsprobleme stellen. Um pünktlich zum Dienst zu erscheinen und den Weg von Grundschule zum Krankenhaus zu Fuß zu bewältigen, ist Frau Reinhard auf die Mutter eines anderen Kindes angewiesen. „Ich habe jetzt netterweise eine Mama da, die kommt dann auch schon früher, steht dann halt noch mit den Kindern da, bis dass die in die Klasse gehen, weil es ist halt kein Lehrer da oder keiner, der die Kinder beaufsichtigt“ (Z. 46, Frau Reinhard). Ohne diese solidarische Praxis der anderen Mutter könnte Frau Reinhard auch einen Schichtbeginn um 8 Uhr nicht einlösen. Dass Frau Reinhard nicht selbst ihren Sohn bis zum Schulbeginn beaufsichtigen kann und niemand anderes dafür in Frage kommt, zeigt, wie fragil dieses Arrangement ist. Letztlich ist Frau Reinhard abhängig von einer ihr hauptsächlich fremden Person, auf deren Zuverlässigkeit und solidarisches Handeln sie sich prinzipiell „blind“ stützen muss. Wahrscheinlich ist, dass sich Frau Reinhard, wie Frau Schubert, im Rahmen des geschaffenen sozialen Netzwerks gemäß des hier verwandten Solidaritätsbegriffs, dein Handlungsproblem ist mein Handlungsproblem und umgekehrt, eines Handlungsproblems der anderen Mutter früher oder später annehmen wird.
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Auffällig für die Solidargemeinschaften im Kontext von sozialen Netzwerken ist zweierlei: zum einen kommen diese als ethnisch und milieuspezifisch geschlossen daher. Offensichtlich beruhen die sozialen Netzwerke im Material auf Nähe; geographischer Nähe durch die bestehende Nachbarschaft oder stadtteilbezogene Anlaufstellen wie Schulen und Sportvereine. Nähe aber auch in Bezug auf ähnlichen Einstellungen (vgl. Peuckert 2012: 620) sowie einer ähnlichen oder dergleichen ethnischen Herkunft. 18 So berichtet beispielsweise Frau Mafany, aus Kamerun migrierte Deutsche, nicht wie andere Mütter oder Väter im Sample von Kontakt zu den Eltern der Schulkamerad*innen ihrer Söhne. Ihr soziales Netzwerk besteht überwiegend aus Freunden und Bekannten mit ebenfalls kamerunischen Wurzeln. Auch Frau Günes Sozialkontakte als in Deutschland lebende Türkin sind deckungsgleich mit ihren Familienangehörigen. Andersherum verfügen die autochthon-deutschen Interviewpersonen überwiegend über Sozialkontakte mit Personen ohne Migrationshintergrund.19 Zum anderen scheinen nicht alle Interviewpersonen des Samples auf Solidargemeinschaften innerhalb eines sozialen Netzwerkes überhaupt angewiesen zu sein. Nur wenige der Interviewpersonen, darunter allen voran die Alleinerziehenden berichten von regelmäßiger solidarischer Praxis innerhalb ihres sozialen Netzwerkes bzw. deuten diese um in sporadische Hilfeleistungen, eventuell um langfristige Verpflichtungszusammenhänge oder einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden. Nicht wenige erwerbstätige Eltern verschaffen sich stattdessen Entlastung durch den Einkauf haushaltsbezogener Dienstleistungen und zusätzlicher Betreuungsleistungen.
18
Da der Zugang zu Wohnräumen in Ballungsgebieten durch soziale Ungleichheiten geprägt ist (vgl. Knabe/Leitner 2017), ergeben sich in der Konsequenz daraus homogene Bewohnerschaften.
19
Eine diesbezügliche Ausnahme ist Frau Hotic, Deutsche, deren Eltern als bosnische Gastarbeitende einwanderten.
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4.1.4 Quasi-Solidargemeinschaften im Kontext bezahlter Dienstleistungen im Privathaushalt „Und die ist jetzt seit zweieinhalb Jahren bei mir. Formal erst als Sprachschülerin, jetzt studiert sie hier an der Universität. Wir haben das so als … ja, lassen das als Au-pair laufen. Es ist praktisch eine WG, könnte man fast sagen, wo ich jemanden dafür noch bezahle.“ (Z. 459, Herr Demirci)
Vor dem Hintergrund der Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit von Müttern und Vätern werden auftauchende Handlungsprobleme mitunter auch durch den Einkauf bezahlter Dienstleistungen im Privathaushalt bearbeitet, die als entsprechende Unterstützung für anfallende Hausarbeit auf der einen und Betreuungsarbeiten auf der anderen Seite fungieren. Die im Sample auftauchenden vertraglichen Beziehungen zwischen Tagesmüttern, Babysittern, Au-pairs sowie Haushalts- und Reinigungskräften und den erwerbstätigen Eltern entziehen sich dabei einer eindeutigen Beschreibung. Zwar handelt es sich bei bezahlten Dienstleistungen im Privathaushalt eigentlich um vertragliche Arbeitsverhältnisse mit zweckgebundenen und zugleich festgelegten Rechten und Pflichten, die Solidarität wie im hier verstandenen Sinne als implizite und wechselseitige Verpflichtungs- und Abhängigkeitsverhältnisse eigentlich ausschließen. Vertragliche Beziehungen sind auch nicht wie familiale Beziehungen durch Unfreiwilligkeit, Unkündbarkeit und Exklusivität charakterisiert. Im Gegenteil: Arbeitsverträge mit Reinigungskräften sind kündbar, Babysitter*innen gehen eine freiwillige Beziehung zu den Elternteilen ein, indem er oder sie das Babysitting für ein Kind (oder mehrere) übernimmt und Tagespflegepersonen sind prinzipiell ersetzbar. Dennoch zeigen sich im Material Parallelen zwischen der auf persönliche Beziehungen beruhenden solidarischen Praxis im Kontext von Paarbeziehung, Familie oder sozialem Netzwerk und dem Handeln zwischen den interviewten Müttern/Vätern und dem bezahlten Personal im Privathaushalt. Neben einer bestimmten Diffusität, die charakteristisch für vertragliche Beziehungen im Privathaushalt zu sein scheint, führen diese Parallelen zu solidarischem Handeln, das sich Als-ob-Solidarität oder auch Quasi-Solidarität fassen lässt. Ob eine solche Quasi-Solidarität verfügbar ist oder nicht, wirkt sich dabei auf die „Wahlfreiheit“ der Elternteile aus. Bereits das Eingangszitat von Herrn Demirci macht dies deutlich. Einerseits fällt es ihm schwer, das Arbeitsverhältnis mit einer Au-pair-Frau in seinem
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Haushalt auch nur zu benennen. Andererseits deuten sich implizite und wechselseitige Verpflichtungszusammenhänge an, da es eine gemeinsame Vergangenheit sowie eine „formale“ gegenüber einer „praktischen“ Version des Zusammenlebens zu geben scheint. Ähnlich wie Herrn Demirci geht es auch weiteren Interviewpartner*innen im Sample, die im Bereich der Hausarbeit Reinigungskräfte und Haushaltshilfen sowie im Bereich der Kinderbetreuung Tagesmütter, Babysitter*innen und Au-pairs im Privathaushalt angestellt haben. Die QuasiSolidarität trägt einerseits dazu bei, bestehende Machtasymmetrien und in Teilen ökonomische Ausbeutungsverhältnisse zwischen den Eltern und dem bezahlten Personal zu verschleiern. Andererseits – und dies ist eine im Vergleich zur bisherigen Literatur neue(-re) Perspektive – führen die quasi-solidarischen Beziehungen eben auch zu (wenn auch begrenzten) wechselseitigen Verpflichtungszusammenhängen und Abhängigkeitsverhältnissen.20 Dies soll im Folgenden expliziert werden. Zunächst einmal sind die Bedingungen für die als Quasi-Solidargemeinschaften bezeichneten Arbeitsverhältnisse im Privathaushalt die gleichen wie für die bereits oben beschriebenen Solidargemeinschaften: Sie entstehen entweder dauerhaft oder partiell zur Lösung bzw. Bewältigung der anfallenden Handlungsprobleme im Kontext von paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit im Alltag. So bezahlen zahlreiche Interviewpartner*innen (mit einem hohen Haushaltseinkommen) beispielsweise regelmäßig Reinigungskräfte, um sich selbst von Putzund Reinigungsarbeiten freizustellen.21 „Die ganzen Putzarbeiten, muss ich ehrlich sagen, dadurch dass Nasri alle zwei Wochen da ist und einen großen Grundputz macht, sind wir da schon mal ein bisschen befreit.“ (Z. 748, Frau Weber)
20
Die Machtasymmetrien und Ausbeutungsverhältnisse im Kontext von Arbeitsverhältnissen im Privathaushalt wurden bereits an anderer Stelle in der Literatur beschrieben und auch kritisiert (vgl. Lutz 2007). Obgleich Lutz in einigen Fällen von einer starken gegenseitigen Abhängigkeit von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen spricht (ebd.: 116), stehen die wechselseitigen Prozesse nicht im Fokus ihrer Arbeit. Die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen im Privathaushalt angestellten Pflegekräften mit Migrationshintergrund und den pflegenden Angehörigen betrachtet auch Verena Rossow in ihrer Dissertationsarbeit, die erste Teilergebnisse publiziert hat (Rossow/Leiber 2017).
21
Ob es sich dabei um formale Arbeitsverhältnisse handelt oder um irreguläre Beschäftigung, ist aus dem Material nicht immer rekonstruierbar.
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„Und mit der Putzfrau ist es einfach, ich habe zwei Tage die Woche frei, montags und freitags […] , bis August war es halt so, dass freitags mein Sohn dann auch noch zu Hause war, den ich zu betreuen hatte. Also hatte ich eigentlich nur den Montag. Und der war voll mit allem, was so drum herum noch organisiert werden musste, und am Wochenende sind wir unterwegs, da habe ich keine Lust, mit beiden Kindern und meinem Mann hier zu Hause die große Putzaktion zu starten.“ (Z. 535, Frau Grosse) „Ansonsten haben wir eine Haushaltshilfe, weil die beschriebenen Freizeitspannen jetzt mit einem Haus auch noch … ich meine gut, die Größe haben wir uns irgendwie auch ausgesucht, aber doch so viel auffressen würde, dass wir da sehr gerne Hilfe auch in Anspruch nehmen.“ (Z. 421, Herr Reuschenbach)
Die Nutzung bezahlter Dienstleistungen in spezifischen Ausnahmesituationen wird zumindest in dem vorliegenden Material nicht relevant. Anders stellt sich dies für Betreuungsarbeiten dar. Die Bezahlung einzelner Personen zur Beaufsichtigung oder Holen bzw. Bringen der Kinder von den Betreuungseinrichtungen beziehungsweise der Schule taucht im Material häufiger auf. Dies kann im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Freizeitaktivitäten der Eltern stehen. „Oder wir hatten jetzt eine ganze Zeit lang dienstags abends immer noch einen Segelkurs, da war unsere Babysitterin hier und wir sind in die Stadt gefahren.“ (Z. 402, Frau Grosse) „Wir wollen uns aktiv um einen Babysitter kümmern und zusehen, dass man dann abends auch wirklich regelmäßig … klar, wir machen das ab und zu, dass wir dann auch essen gehen. Aber man muss das wirklich aktiv … und da wollen wir gerne auch einen Tag die Woche eigentlich nehmen, der dann für uns ist.“ (Z. 701, Frau Weber)
Demgegenüber werden jedoch auch alltägliche Handlungsherausforderungen durch den Zukauf Betreuungsoptionen gelöst und so ansonsten notwendig gewordene solidarische Praxis im Kontext von Paarbeziehung, Familie oder sozialem Netzwerk ersetzt. So hat Frau Lohse, Assistenzärztin und Mutter zweier Kinder bereits in der Vergangenheit regelmäßig auf eine Babysitterin gesetzt, die ihre Tochter in die Betreuungseinrichtung brachte, während sie selbst zur Arbeit gependelt ist. „Und da war es dann wieder schwierig, weil ich ja … weil der Kindergarten erst … ich glaube, 7 Uhr 30 erst begonnen hat und wir … ich aber dann nicht … das nicht geschafft hätte mit der Fahrzeit, so dass wir dann noch jemanden unter Vermittlung einer Nachbarin da jemanden dazwischen geschaltet haben, die die Miriam genommen hat früh und dann
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in den Kindergarten gebracht hat und davon eben … was von uns bekommen hat .“ (Z. 107, Frau Lohse)
Auch im zum Zeitpunkt des Interviews gegenwärtigen Betreuungsarrangement erscheint immer wieder eine Babysitterin, die regelmäßig in bestimmten Ausnahmesituationen Betreuungsarbeit übernimmt. „Und jetzt gerade haben wir wieder eine gefunden, die auch relativ flexibel ist, wenn wir … die dann eben die Kinder abends nimmt oder auch mal in der Woche oder so, oder von der Schule abholt, wenn mein Mann nicht da ist. Ja, dann hat sie das eben auch schon gemacht, dass sie sie dann von Kindergarten und Schule abgeholt hat.“ (Z. 581, Frau Lohse)
Zwar existiert eine gemeinsame solidarische Praxis innerhalb der Paarbeziehung im Hinblick auf die Kinderbetreuung („wenn mein Mann nicht da ist“), in Ausnahmesituationen, etwa wenn Herr Lohse auf Dienstreise ist, wird sein solidarisches Handeln durch eine bezahlte Dienstleistung der Babysitterin ausgeglichen. Entlastung erfährt also nicht nur Frau Lohse, sondern auch der Mann. Eine extensive(-re) Auslagerung von Sorgearbeit, die sowohl die Kinderbetreuung als auch Hausarbeiten umfasst, betreiben Herr Reuschenbach und seine ebenfalls berufstätige Frau (vgl. Kap. 4.1.1). Das Ehepaar hat neben einer Reinigungskraft eine Haushaltshilfe eingestellt, die täglich Kinderbetreuung, Essensversorgung und im Zusammenhang mit den Kindern anfallende Tätigkeiten im Haushalt übernimmt. „Das sieht also so aus, jene kommt zu uns, wir bringen unsere Kinder nicht weg. Lisa kommt hier morgens um halb sieben hin, wir verabschieden uns, gehen zur Arbeit. Lisa bringt … hat früher Emil in den Kindergarten gebracht und Moritz hier gehabt. Und weil es den Großeltern zwei Kinder zwar zu wenig, aber kein Kind … äh zwei Kinder zu viel, kein Kind zu wenig war, treffen die sich beim … zum Mittagessen immer noch bei den Großeltern mittags. Und manchmal bleibt einer von den beiden da, manchmal wollen auch beide auf jeden Fall mit zurück. Und Lisa macht mit denen dann was, spielt mit denen hier und betreut die hier, bis wir wieder kommen, was bis dann abends um … zwischen fünf und sechs immer so ist.“ (Z. 75, Herr Reuschenbach)
Nur auf diese Weise ist beiden Elternteilen möglich, auf hohem Stundenniveau erwerbstätig zu sein: Herr Reuschenbach arbeitet Vollzeit, während seine Frau einer hohen Teilzeitstelle von knapp 80 Prozent nachkommt. Anders als bei Frau Lohse charakterisiert sich die Paarbeziehung von Herrn Reuschenbach jedoch nicht durch ein Nichtvorhandensein partnerschaftlicher Solidarität, sondern
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dadurch, dass die Ausbildung partnerschaftlicher Solidarität stets aufgeschoben und überlagert wurde durch die Solidargemeinschaft mit den Großeltern bzw. der Quasi-Solidargemeinschaften mit der Tagesmutter (vgl. Kap. 4.1.1). Die Anstellung der Tagesmutter, die im Privathaushalt die Kinder betreut und für die Familie kocht, erscheint insofern als Entlastung und „Vervollständigung“ der mehrgenerationalen Solidargemeinschaft zwischen Herrn Reuschenbachs Frau und den Großeltern. Herr Reuschenbach selbst kommt innerhalb dieser gar nicht vor. Alleinerziehende stehen zumeist ohnehin alleine in der Verantwortung, sowohl einer Erwerbsarbeit als auch den Sorgeverpflichtungen gegenüber dem Kind/den Kindern nachzukommen. Herr Demirci, Oberarzt in Vollzeitanstellung, beschäftigt zur Bewältigung seiner alltäglich anfallenden Sorgekonflikte in seinem Haushalt eine Au-pair-Frau, die den Großteil der Kinderbetreuungs- und Haushaltsarbeit übernimmt und ihm trotz seines Alleinerziehendenstatus eine Vollzeiterwerbstätigkeit ermöglicht. Herr Demirci sagt selbst zu seiner QuasiSolidargemeinschaft mit der jungen Frau: „Es bringt einem sehr, sehr viele Freiheiten für wenig Geld.“ (Z. 501) Das Ausbleiben von solidarischer Praxis in Paarbeziehungen oder Familie sowohl im Alltag als auch im Lebensverlauf – ob nun durch ein grundsätzliches Nichtvorhandensein, einer nicht ausgebildeten solidarischen Praxis oder dessen Fehlen in Ausnahmesituationen – erscheint insofern als eine Bedingung für das Angewiesensein auf Quasi-Solidarität im Rahmen von haushaltsnahen Dienstleistungen. Auffällig ist zudem, dass mit dem Zukauf von haushaltsnahen Dienstleistungen einerseits den Müttern eine Teilzeiterwerbstätigkeit ermöglicht werden soll, andererseits den Vätern ihre Vollzeiterwerbstätigkeit erhalten bleibt, sogar einem zweifachen alleinerziehenden Vater wie Herrn Demirci. Die Nutzung bezahlter Dienstleistungen ersetzt also nicht nur ausbleibende solidarische Praxis im Rahmen der Paarbeziehung bzw. macht eine (Neu-)Verhandlung überflüssig, sondern erhält gleichzeitig eine traditionelle geschlechtsspezifische Geschlechterordnung, in der die Haus- und Betreuungsarbeit als weiblicher Zuständigkeitsbereich verstanden wird. „Heute ist Nasri ja da, die kommt alle zwei Wochen einmal und unterstützt mich, putzt [Herv. K.M.]“ (Z. 660, Frau Weber). Putz- und Reinigungsarbeiten werden in den vorliegenden Fällten von migrantischen Frauen erledigt, während die Kinderbetreuungsarbeit zwar ebenfalls als weiblich, aber ethnisch geschlossener Tätigkeitsbereich erscheint. So ist es Herrn Demirci wichtig, kulturelle Nähe über die geteilte Sprache mit den Aupair-Frauen vorzugeben und Herr Reuschenbach stellt auf die Vorzüge der weiblichen Charaktereigenschaften der Tagesmutter Lisa ab. Auch die folgenden Zi-
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tate anderer Fälle im Sample bestätigen dies, in dem die Interviewpartner*innen ihre männliche Reinigungskraft oder muslimische Tagesmutter als Besonderheit darstellen und damit die Abweichungen von der Regel und eben auch die Regel selbst beschreiben: „Aber ohne Putzmann – wir haben einen Putzmann, keine Putzfrau – ja, würde es glaube ich weniger gut klappen.“ (Z. 440, Frau Scholz) „Was dann halt aber auch noch sehr interessant war, das ist, dass sie Muslimin … also sie [die Tagesmutter, Anmerk.K.M.] ist konvertiert. Sie ist Deutsche, ist aber konvertiert, hatte auch ein Kopftuch an. Auch auf ihren Fotos von den Flyern habe ich gedacht, hm-hmhm […] Dann habe ich die angerufen, bin dann zum Frühstücken dahin, da habe ich dann … man denkt dann schon, das ist so verrückt, naja, hm, Kopftuch … Wo ich dann nachher gedacht habe: Hallo, du hättest keine andere Tagesmutter gefragt, sind Sie evangelisch oder katholisch?“ (Z. 166, Frau Reinhard)
Erwähnenswert ist zudem, dass Frau Reinhard betont, dass es sich bei der muslimischen Tagesmutter nicht um eine Person mit Migrationshintergrund handelt, sondern um eine „deutsche“ Konvertierte. Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist, dass die Auslagerung von Haushaltsarbeit im Material von Seiten der Frauen als „Luxus“ deklariert wird, den sie sich allerdings regelmäßig leisten. „Und das finde ich dann schon blöd, wenn ein Tag am Wochenende eigentlich komplett für Haushalt draufgeht. Das macht keinen Spaß. Das ist ein Luxus, den wir uns gönnen wollten.“ (Z. 440, Frau Scholz) „Sie kam alle 14 Tage einmal, um einfach groß rein zu machen, einfach weil ich sagte okay, […] … ja, und das ist auch kein Job, den ich gerne mache, deswegen [lacht] habe ich mir da jemand gegönnt, das mal so gesagt. Das war ein Luxus.“ (Z. 637, Frau Zimmer)
Auf diese Weise nivellieren die Eltern, insbesondere die Mütter, ihre herausgehobene soziale Situation als Arbeitgeber*innen beziehungsweise die sozialen Unterschiede zwischen sich und den Angestellten. Es wird suggeriert, dass eben dieser „Luxus“ eigentlich nicht zu ihrem sozialen Status passe. Darüber hinaus zeigen die Zitate, dass Frauen sich für die Auslagerung von originär weiblichen Tätigkeiten stärker rechtfertigen müssen, weil sie zunächst erklären, warum sie dieser selbst nicht nachkommen können. Allerdings erfährt auch Herr Demirci kritische und geschlechtsspezifische Reaktionen aus seinem beruflichen Umfeld
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für sein Au-pair-Modell. „Ist manchmal sicherlich die Frage, Au-pair bei einem alleinerziehenden Vater. Dann denkt man ja immer sofort, der Mann fällt natürlich sofort über das Au-pair her. Ich glaube schon, dass … also Kollegen machen da zumindest immer Witze drüber“ (Z. 472, Herr Demirci). Herrn Demirci wird sogleich ein sexualisiertes Verhältnis zu der, bei ihm im Haushalt angestellten und lebenden, jungen Frau unterstellt, während die Arbeitskollegin von Frau Lohse gerade vor der (partiellen) Auslagerung von Betreuungsverpflichtungen als beruflich erfolgreiche und gut organisierte Ärztin gilt. „Und diese Kollegin hat drei Kinder. Ja, also die hat noch viel mehr … und die ist sehr, sehr ehrgeizig, sehr strukturiert. Also die hat das super hinbekommen dafür, dass ihr Mann weniger Möglichkeiten hat als meiner. Also der ist noch Außendienstmitarbeiter, was weiß ich, der ist also immer unterwegs. Das heißt, sie muss immer jemand anders mit einschalten, Kindermädchen und so, und dafür … also die kam nie … fast nie zu spät, also die hat das super hinbekommen.“ (Z. 429, Frau Lohse)
Charakteristisch für die im Sample vorgefundenen Quasi-Solidargemeinschaften ist im Ergebnis eine Negierung der existierenden ökonomischen Beziehung zwischen den Elternteilen und derjenigen Person, die diese Dienstleistungen erbringt. So werden die Reinigungskräfte, Haushaltshilfen, Babysitter*innen und Tagesmütter zu Mitbewohner*innen, Freund*innen oder gar Familienmitgliedern erklärt, die als „gute Seele des Hauses“ fungieren, mit in den Urlaub fahren, traditionelle Familienstrukturen ersetzen und ein hohes Vertrauen genießen. In der Literatur wird die Konstruktion quasi-familialer Beziehungen und freundschaftlicher Zuneigung vor dem Hintergrund bezahlter (migrantischer) CareArbeit im Privathaushalt als fictive kinship diskutiert (vgl. Karner 1998). Das Narrativ stehe für das Bemühen der Arbeitgeber*innen, die existierenden Differenzlinien und sozialen Unterschiede herunterzuspielen, was sich auch an der Nennung der Arbeitnehmer*innen beim Vornamen ablesen lasse (Lutz 2007: 101). All dies lässt sich auch an dem hier vorliegenden Material aufzeigen. Relevant für die hier untersuchten Quasi-Solidargemeinschaften ist aber darüber hinaus: Die Konstruktion einer familialen oder freundschaftlichen Gemeinschaft verschleiert nicht nur die Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse, sondern verleiht den ökonomischen Beziehungen auch den Anstrich einer solidarischen und insofern freiwilligen Praxis. „In der Zeit, wo ich auf der Arbeit war, war meine Putzfrau hier. Meistens treffe ich die dann hier noch. Das ist meine Freundin. Dann trinken wir noch einen Kaffee und unterhalten uns kurz.“ (Z. 389, Frau Grosse)
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„Und es war auch menschliches Glück, weil das ist ein vollständig … also Lisa … ist Lisa nett? Ja, ne, ist ein vollständiges Familienmitglied geworden, die halt sehr großes Vertrauen genießt.“ (Z. 363, Herr Reuschenbach) „Das ist ein Mädel gewesen […] und die hat da ihr FSJ gemacht und hatte da viel Kontakt zu meinen Kindern, und ich habe mich gut mit ihr verstanden. Und dann habe ich sie irgendwann gefragt, ob sie nicht Lust hätte, auch mal aufzupassen. Und die macht das großartig, die macht das ganz, ganz wundervoll. […] Also mittlerweile sind wir wirklich auch befreundet und sie hat uns im Urlaub besucht.“ (Z. 500, Frau Grosse) „Und hat man früher ja auch gehabt. Da haben Oma, Opa noch gewohnt, oder man hat irgendwie auf dem Dorf gewohnt und hatte eine kinderlose Tante, die da irgendwie mitgeholfen hat oder sonst irgendwas.“ (Z. 517, Herr Demirci)
Die beschriebene soziale Praxis durch die bezahlten Personen werden zugleich durch die Eltern bewertet („Genießt sehr großes Vertrauen“, Herr Reuschenbach; „Sie macht das großartig“, Frau Grosse), ein Umstand der innerhalb von Solidargemeinschaften im Kontext persönlicher Beziehungen im Material nicht auftaucht. Darüber hinaus lässt sich im Material eine Subjektivierung von Arbeit entlang von intersektionalen Kategorien rekonstruieren. Als besonders geeignet werden Personen beschrieben, mit denen man sich gut verstehe, wie das obige Zitat von Frau Grosse deutlich macht. Darüber hinaus werden Kategorien wie das Geschlecht, die Ethnizität, aber auch das Alter relevant gesetzt. Während Herr Reuschenbach die Tagesmutter Lisa vor allem entlang ihres Alters und ihrer Geschlechtlichkeit in Kombination mit spezifischen Charaktermerkmalen beschreibt, stellt Herr Demirci vor dem Hintergrund seines eigenen türkischen Migrationshintergrunds explizit auf die Herkunft und einer vermeintlich kulturellen Verbundenheit über die geteilte Sprache mit den Au-pair-Frauen ab.22
22
Durch die Herkunft der Au-pair-Frauen aus Drittstaaten wird gleichzeitig eine spezifische rechtliche Situation geschaffen, denn die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen unterscheiden solche Au-pairs von Au-pairs aus EU/EWR-Mitgliedsstaaten und der Schweiz. Nur für die erste Gruppe gelten arbeitsgenehmigungsrechtliche Bestimmungen: sie benötigen einen Aufenthaltstitel (Visum/Aufenthaltsgenehmigung), die wiederum an ein Alter unter 27 Jahre geknüpft ist (Bundesagentur für Arbeit 2015: 6). Zudem dürfen sie nur in Familien tätig sein, die Deutsch als Muttersprache
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„Eine Dame Mitte 50 / Ende 50, in sich ruhend, an der Grenze zum Phlegma, wie sie selber sagt, aber was für Kinder eine total große Sache ist. Die quasi die Vervollständigung aus Kindergarten, jetzt Schule für Emil und Kindergarten für Moritz und den Großeltern bildet.“ (Z. 72, Herr Reuschenbach) „Ich habe gern Au-pairs aus den zentralasiatischen Staaten geholt, weil die alle auch Turksprachig sind, das heißt, ich kann mich mit denen auf Türkisch teilweise dann auch verständigen.“ (Z. 451, Herr Demirci)
Spezifische, von der Person losgelöste Qualifikationen oder Fähigkeiten werden demgegenüber nicht erwähnt und erscheinen in diesem Kontext ohne Bedeutung. So werden Grenzen in Bezug auf Ethnie, Klasse und Geschlecht einerseits nivelliert, andererseits werden diese subtil relevant gemacht und bleiben auf diese Weise erhalten (vgl. Lutz 2007: 103). Ambivalenzen und Brüche in der Darstellung des bezahlten Personals als Quasi-Solidargemeinschaften zeigen sich jedoch spätestens in der Interaktion zwischen den erwerbstätigen Eltern und den für ihre Dienstleistungen bezahlten Personen. So tritt bei Herrn Reuschenbach und Herrn Demirci, die beide eine intensive Auslagerung beider Formen der Care-Arbeit betreiben, das vertragliche Angestelltenverhältnis deutlich zu Tage, wenn diese klare Arbeitsanweisungen erteilen oder die (Mit-)Bestimmung über die Arbeitszeiten der Angestellten durch sie erfolgt. „Und ja, schicke Lisa in den Feierabend, spätestens um sechs und dann kommt meine Frau meistens auch so um sechs zurück.“ (Z. 287, Herr Reuschenbach) „[Spätdienst] ist natürlich für hier zu Hause auch mal super. Neben den Effekten, dass ich Emil in die Schule und Moritz in den Kindergarten bringen kann, geht das auch damit einher, dass ich unserer Tagesmutter mal sage: So Lisa, morgen wird ausgeschlafen, ich muss erst mittags ins Krankenhaus.“ (Z. 160, Herr Reuschenbach)
Auch bei Herrn Demirci wird das asymmetrische Machtgefälle zwischen ihm und der Au-pair-Frau innerhalb der Quasi-Solidargemeinschaft durch seine spezifischen Arbeitsanweisungen sowie der Beschreibungen der alltäglichen Routinen (über-)deutlich.
sprechen. Dagegen für alle Au-Pairs gilt ein Mindestalter von 18 Jahren und Grundkenntnisse der deutschen Sprache (ebd.: 5).
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„Ich habe dem Au-Pair jetzt auch immer gesagt, Mensch, du musst schon auch mal so Toilette und so was putzen, weil wie gesagt, die Wohnung muss zumindest so sauber sein, dass wenn mal unangekündigt Besuch kommt, dass der nicht direkt nach hinten umfällt.“ (Z. 647, Herr Demirci) „Dann stehe ich irgendwie auf und schleppe mich zu meinem langen Esstisch in meinem Wohnzimmer und setze mich dahin und mache gar nichts. Auch die Kinder werden dann angezogen vom Au-pair. […] Dann macht uns unser Au-pair das Frühstück und Kaffee und Tee und setzt sich dann zu uns, so dass wir alle ganz entspannt frühstücken.“ (Z. 530, Herr Demirci)
Die Schilderung des morgendlichen Ablaufs steht in starken Kontrast zu Herrn Demircis weiter oben aufgeführten Darstellung einer Wohngemeinschaft mit der Au-pair-Frau. Gegenstand des Arbeitsverhältnisses im Privathaushalt ist zudem die extensive Ausdehnung der Tätigkeitsbereiche und Arbeitsaufgaben der jungen Frau. So ist das derzeitige Au-pair für die Zubereitung des gemeinschaftlichen Frühstücks und Abendessens zuständig, macht am Morgen die Kinder fertig, holt diese manchmal von der Schule ab und/oder spielt mit ihnen am Nachmittag. Wenn Herr Demirci bei seiner Lebensgefährtin übernachtet oder Hintergrunddienste für die Klinik macht, ist das Au-pair darüber hinaus nachts mit den Kindern alleine bzw. auf Abruf, falls Herr Demirci ins Krankenhaus gerufen wird. Tagsüber hält sie das Haus in Ordnung. „In der Realität ist es eigentlich so, dass Wäsche waschen, Spülmaschine, Staubsaugen mit allem Drum und Dran, das macht eigentlich dann das Au-pair“ (Z. 606, Herr Demirci). Letztlich stellt Herr Demirci die vollständige Übernahme der Hausarbeiten durch das Au-Pair als Gegenstand des aktuellen gemeinsamen Deals dar. Die ‚Sprachschülerin‘ wird so zur „Putzfrau“. „Das ist aber auch so ein bisschen das Agreement jetzt, weil die schon so lange da ist, dass man das so macht, sonst könnte man sich auch eine Putzfrau holen und das dann irgendwie machen lassen“ (Z. 616, Herr Demirci). Aufgrund früherer Erfahrungen mit Au-pair-Frauen weiß Herr Demirci um die rechtlichen Rahmenbedingungen, die klaren Vorgaben für den Zweck des Au-pair-Aufenthaltes, seine Rechten und Pflichten sowie die Art und Umfang der Tätigkeiten im Haushalt, die Au-pairs übernehmen dürfen.23 Dass das aktuel-
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So nutzte Herr Demirci mit seiner früheren Ehefrau und der Mutter seiner Kinder bereits Au-pair-Konstellationen als Vereinbarkeitsmodell, die intensiv genutzt wurden. „Aber allein, da waren die Kinder zwei und ein Jahr alt, den ganzen Tag auf diese Kinder aufzupassen, darf man auch gar nicht so. Wir haben danach ihr zwei
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le Arbeitsverhältnis den (wenigen) gesetzlichen Bestimmungen zu Au-pairAufenthalten24 nicht entspricht, ist Herrn Demirci bewusst. Er macht es offenbar, wenn er über die steuerrechtliche Absetzbarkeit der Kosten für die Au-pairFrauen spricht: „Kann man bei der Steuererklärung auch schön angeben. Kost 200 Euro pro Monat, Logis 200 Euro pro Monat. Kriegen Sie gut von der Steuer dann auch wieder Geld zurück, als Kinderbetreuung. Sie müssen sagen, dass das Au-pair auch wirklich nur Kinderbetreuung macht und nicht Haushalt. Vielleicht nicht alles reinschreiben. Ob das dann wirklich so ist … [lacht]“ (Z. 488, Herr Demirci) „Also für die Steuer macht das Au-pair gar nichts mit dem Haushalt.“ (Z. 604, Herr Demirci)
Bei der aktuellen Quasi-Solidargemeinschaft handelt es sich insofern um die illegale Ausnutzung eines Au-pair-Aufenthaltes, der offiziell jedoch gar keiner mehr ist, weil die junge Frau inzwischen studiert. „Und die ist jetzt seit zweieinhalb Jahren bei mir. Formal erst als Sprachschülerin, jetzt studiert sie hier an der Universität. Wir haben das so als … ja, lassen das als Au-pair laufen“ (Z. 459, Herr Demirci).
Monate bezahlt frei gegeben, um das überhaupt zu kompensieren, dass sie so viel aufgepasst hat. Also wir waren da schon fair, muss man sagen. Also wir waren jetzt nicht irgendwie hier die Ausbeuter“ (Z. 748, Herr Demirci). 24
Laut Merkblatt der Bundesagentur für Arbeit (August 2015) erhalten Au-pairSprachschüler*innen aus dem Ausland für mindestens sechs bis maximal zwölf Monate im Privathaushalt freie Kost und Logis bei Übernahme von Kinderbetreuungsarbeiten und leichten Hausarbeiten, die zusammen 30 Stunden nicht überschreiten dürfen. Dafür erhält das Au-pair ein Taschengeld in Höhe von 260 Euro im Monat. Die Gastfamilie muss dem Au-pair zudem den Zugang zu einem Sprachkurs ermöglichen und sich an den Kosten mit monatlich 50 Euro beteiligen. Ebenso gehen die Beiträge für Kranken- und Unfallversicherung zu Lasten der Familie. „Ziel und Zweck eines Au-Pair-Verhältnisses ist die Vervollständigung der Sprachkenntnisse sowie die Erweiterung des Allgemeinwissens über das Gastland“ (ebd.: 4). Zwar gibt es einem Arbeitsvertrag ähnelnde Rechte und Pflichten beider Parteien (etwa auf Erholungsurlaub), der Au-pair-Aufenthalt wird jedoch explizit nicht als Arbeitsverhältnis eingestuft. De facto handelt es sich bei Au-Pair um unzureichend geregelte Arbeitsverhältnisse im Privathaushalt (vgl. Orthofer 2008) sowie eine Migrationsstrategie vor allem junger Frauen (vgl. Hess 2009).
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Allerdings, und dies soll im Folgenden herausgearbeitet werden, führt die Negierung der ökonomischen Beziehung nicht nur zu einer Verschleierung des Arbeits- und zum Teil auch Ausbeutungsverhältnisses, wie gezeigt wurde. Die Darstellung der vertraglichen Beziehungen als Quasi-Solidargemeinschaft mit freundschaftlichem oder familialem Antlitz wirkt auch auf die eingegangen Arbeitsverhältnisse im Haushaltskontext zurück, indem aus den vertraglichen Arbeitsverhältnissen mindestens wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, die noch selten im Fokus der bisherigen Literatur standen.25 So berichten die erwerbstätigen Mütter und Väter im Interview davon, auf dem ‚grauen Markt‘ der haushaltsnahen Dienstleistungen 26 zunächst einmal eine geeignete Person zur Anstellung finden zu müssen, was angesichts der Konkurrenz erwerbstätiger Eltern untereinander offensichtlich gar nicht so einfach erscheint. „Also wir haben auch eine Babysitterin nach langem Suchen, ist gar nicht so einfach gewesen. Da haben wir immer versucht über Bekannte das zu finden, das war … die hatten dann immer irgendwie ganz schnell doch was anderes“ (Z. 579, Frau Lohse). Auch Herr Reuschenbach berichtet davon, dass sich die Suche nach einer Tagesmutter in einer Stadt, in der nicht genügend Betreuungsplatzangebote existieren, schwierig gestaltete. „Also die Stadt hat da ein Profil erfragt, wer eine Tagesmutter sucht im Hinblick auf, ja, wir würden gerne haben, dass sie zu uns kommt. Wir würden gerne, dass sie kocht. […] Und es war eigentlich … es war nur mit Glück zu bezeichnen, wenn für eine Stadt von 80.000 Einwohnern mit … ich kenne jetzt nicht die Bevölkerungsstruktur, aber auf jeden Fall vier registrierte Tagesmütter deutlich zu wenig sind.“ (Z. 358, Herr Reuschenbach)
Was Herr Reuschenbach im oben stehenden Zitat mit „Glück“ bezeichnete, muss entlang des Materials jedoch auch mit der guten Einkommenssituation des Familienhaushaltes verknüpft werden.
25 26
Vgl. Fußnote 20 in diesem Kapitel. Als ‚grauer Markt‘ wird das Arbeitsmarktsegment im Privathaushalt deshalb bezeichnet, weil dieses nur teilweise legalisiert und von umfangreichen Rechtsunsicherheiten, Regulierungs- und Kontrolldefiziten geprägt ist. Die bestehenden minimalen Schutzstandards werden zudem häufig unterlaufen. Beschäftigt sind dort überproportional häufig Frauen mit Migrationshintergrund (vgl. Rossow/Leiber 2017: 3, Amelina/Lutz 2017: 91f).
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„Und dazu muss man auch sagen, die Stadt zahlt brutto pro Kind 4 Euro 20 pro Stunde. Das sind bei zwei Kindern 8 Euro 40 brutto pro Stunde. Wer davon wie leben soll, weiß ich nicht. Wir zahlen unsere Tagesmutter übertariflich. Das hat sie mit uns am Anfang auch offen angesprochen.“ (Z. 571, Herr Reuschenbach)
Familie Reuschenbach war schlichtweg finanziell in der Lage, der von der Tagesmutter eingeforderten (!) übertariflichen Bezahlung Folge zu leisten. Das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis resultiert also einerseits aus dem Mangel an geeigneten Tagesmüttern, die ein derart zeitintensives Betreuungsmodell im Privathaushalt der Eltern zu erbringen vermögen, andererseits aus der quasifamilialen Beziehung, zu der das vertragliche Arbeitsverhältnis zwischen den Eltern und der Tagesmutter durch Herrn Reuschenbach gemacht wird. Lisa ist als Tagesmutter nicht so schnell ersetzbar: weder in ihrer Funktion auf dem knappen Markt der Tagespflegepersonen, noch als Person in ihrer Rolle innerhalb der Familie und gegenüber der Kinder. Ihr dauerhafter Ausfall käme einer Art Systemzusammenbruch im Betreuungsarrangement der Familie Reuschenbach gleich. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass auch die Tagesmutter bestimmte Forderungen durchzusetzen weiß, wenngleich dies die Asymmetrie nicht vollständig aufhebt. Ähnliches zeichnet sich für Herrn Demirci ab. Das Au-pair-Modell ermöglicht ihm ungeachtet seines Alleinerziehenden-Status für zwei Kinder eine Vollzeiterwerbstätigkeit als Arzt. Die eingegangene Quasi-Solidargemeinschaft mit der Au-pair-Frau ersetzt die Arbeitsteilung innerhalb einer traditionellen Paarbeziehung, in der die Frau sich um jegliche Sorgearbeit in der privaten Häuslichkeit kümmert. Herr Demirci selbst vermag weder Hausarbeit, noch dem Großteil der Betreuungsarbeit für seine Kinder nachzukommen. Letztlich ermöglicht ihm die Au-pair-Frau, an seinen Vorstellungen einer „intakten“ Familie mit einer geschlechtsspezifischen und gleichzeitig geschlechterdifferenten Arbeitsteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit festhalten zu können und nach außen seine „männliche“ Rolle des Familienernährers und erfolgreich berufstätigen Arztes zu leben. Auf diese Weise trägt Herr Demirci zu der Aufrechterhaltung einer hierarchischen Bewertung von Erwerbs- und Sorgearbeit bei: seine Tätigkeit als Arzt ist gesellschaftlich relevant und ersetzbar, Hausarbeit und Kindererziehung bzw. -betreuung fällt an und kann von einer anderen weiblichen Person erledigt werden. 27 Lutz spricht in dem Kontext einer ähnlich gelagerten Au-pairKonstellation von einer „strukturell genderkonformen Ersatzlösung, in der die
27
Siehe hierzu auch die sehr ähnlich gelagerten Fallbeispiele bei Lutz (Lutz 2007: 104ff, 109ff).
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Migrantin die Rolle der Ehefrau erhalten hat: Sie übernimmt die reproduktiven Aufgaben, entwickelt keine eigenen beruflichen Ambitionen oder stellt sie zurück“ (Lutz 2007: 113). Auch bei Herrn Demirci erscheint die gewachsene Beziehung zwischen ihm und der Au-pair-Frau insofern als unkündbar und exklusiv – ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis „gesellt sich“ zu dem einseitigen Ausbeutungsverhältnis. Jedoch wird nicht nur das vertragliche Arbeitsverhältnis zur QuasiSolidargemeinschaft mit freundschaftlichem oder familialem Antlitz verklärt, sondern umgekehrt erfährt auch die Quasi-Solidarität und die damit einhergehende Wechselseitigkeit der vertraglichen Beziehungen eine Verschleierung, indem sie zu einer ökonomischen Win-Win-Situation erklärt wird.28 Die Inszenierung der Arbeitsverhältnisse im Haushaltskontext als beidseitiger, unmittelbarer ökonomischer Vorteil durch die Eltern ermöglicht so zweierlei: das Verdecken der Asymmetrie bzw. des Ausbeutungsverhältnisses, aber eben auch das Verdecken der wechselseitigen Verpflichtungszusammenhänge im Kontext der eingegangenen Beziehungen. Die Verschleierung erfolgt insofern in beide Richtungen. So ist Herr Demirci bemüht, die Vorteile für die jungen Au-pair-Frauen hervor zu streichen, die sich für diese aus ihrem Aufenthalt generell ergeben. „Und deswegen war mir auch immer wichtig für meine Au-pairs, dass ich… Und das ist ja auch letztendlich trotzdem egoistisch gedacht. Wenn die glücklich sind, das Gefühl haben, sie kommen weiter, werden sie gute Arbeit machen, sage ich mal, platt formuliert. Also ich habe denen auch hier über die Uni Sprachkurse organisiert, die die dann als formales Familienmitglied sogar kostenlos besuchen durften.“ (Z. 502, Herr Demirci)
Deutlich wird in dem Zitat sein Bemühen, seinen Pflichten als Arbeitgeber nachzukommen. Dabei nutzt er seine Anstellung an einer Uniklinik, um den Au-pairFrauen „sogar kostenlos“ Zugang zu universitären Sprachkursen zu ermöglichen. Dass er daraus selbst einen finanziellen Vorteil zieht, indem er sich den gesetzlich vorgeschriebenen Zuschuss zum Sprachkurs spart, verschweigt er indes. Darüber hinaus stellt er den Au-pairs die Möglichkeit in Aussicht, auch über die-
28
Auch Rossow/Leiber (2017) sprechen in ihrem Artikel von einer Inszenierung von Win-Win-Situationen durch die erwachsenen Kinder der Pflegebedürftigen vor dem Hintergrund migrantischer Pflegearbeit im Privathaushalt – allerdings im Kontext eines transnationalen Geschäftsfeld für Vermittlungs- und Entsendeagenturen. Ein derart vermarktliches Feld lässt sich in dem hier vorliegenden Material nicht rekonstruieren.
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sen Weg zu einem Studienplatz in Deutschland zu kommen – ein häufiges Ziel von Frauen aus Drittstaaten, die als Au-Pair arbeiten (vgl. Hess 2009). „Und habe die dann auch immer wieder ermuntert, dass sie auch ruhig hier länger bleiben können und dann auch studieren können. Da muss man dann immer gucken, geht es, geht es nicht? Ein ehemaliges Au-pair, das wir noch zu der Zeit hatten, wo wir zusammengelebt haben, die ist jetzt mittlerweile Medizinstudentin im sechsten Semester hier bei uns an der Universität. Ja, also es gibt nichts, was irgendwo nicht geht.“ (Z. 507, Herr Demirci)
Diese Passage offenbart, dass Herr Demirci sich über die eigentlichen Ziele und Hoffnungen der Au-Pairs sehr genau bewusst ist. Dass es sich bei seinem Arrangement jedoch um ein illegales Arbeitsverhältnis im Privathaushalt handeln könnte, erwähnt Herr Demirci gar nicht. Der Gewinn aus Sicht der jungen Frauen ergibt sich für Herrn Demirci zudem aus dem Vergleich mit den Erfahrungen weiterer Au-Pairs in anderen Haushalten und Regionen, was die Inszenierung der Gewinnsituationen für beide Parteien noch unterstreichen soll. „Das ist für die auch toll, muss man sagen, weil ich wohne ja relativ nah an der U-Bahn, die kann an die Uni gehen, Sprachschule, das ist natürlich viel attraktiver, als wenn sie irgendwo, ich sage mal, auf dem Land wohnen. Das für die dann super.“ (Z. 470, Herr Demirci) „Und die sind da sehr, sehr glücklich. Also die kriegen von ihren … Ich habe auch schon mal zwei Au-pair-Freundinnen sozusagen, die haben bei uns Asyl gehabt, weil die bei anderen Familien so derart unglücklich waren, dass ich die dann temporär für ein, zwei Wochen aufgenommen habe.“ (Z. 477, Herr Demirci)
Auch wenn Herr Demirci aus der besonderen Migrationssituationen der Frauen aus Drittstaaten Kapital schlägt, indem er bewusst deren Hoffnungen auf einen Studienplatz anspricht, steckt in seinen „Bemühungen“ um eine längere Bleibeperspektive für die jungen Frauen eben auch das implizite Wissen, dass er darauf selbst ein Stück weit angewiesen ist. In diesen Kontext lässt sich auch die scheinbar selbstlose und hilfsbereite Empfehlung an eine ehemalige Au-pairFrau einordnen, in einem anderen Land den Zugang zum Universitätsstudium zu suchen. „Ich wusste, dass es für die ganz schwer war in Deutschland zu bleiben und hier zu studieren. Ich habe gesagt, es wäre viel besser, wenn sie in die Türkei geht. Da hat sie sich informiert und hat gesagt, sie würde dann gern dahin gehen. Deswegen war sie nur drei Mo-
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nate da. Ich habe sie sozusagen selber abgeworben, weil ich dann so ehrlich war.“ (Z. 454, Herr Demirci)
Letztlich greift Herr Demirci dem Eingehen einer Quasi-Solidargemeinschaft mit einer jungen Frau zuvor, deren Handlungsproblem – der Wunsch nach dem Zugang zu einer Universität – früher oder später zu seinem Handlungsproblem geworden wäre. Wie bei Familie Reuschenbach würde das Wegbrechen der Aupair-Konstellation bei Herrn Demirci ein Zusammenbruch seines Vereinbarkeitsarrangements bedeuten. Der verdeckte grundsätzliche Sorgekonflikt vor dem Hintergrund seiner Vollzeittätigkeit würde sichtbar. Anders als jedoch bei Familie Reuschenbach, die sich auf dem städtischen bzw. kommunalen ‚Markt‘ der Tagespflegepersonen bewegen, erscheint der Nachstrom junger Au-pair-Frauen aus Zentralasien allerdings unerschöpflich – die Verknüpfung von Geschlecht und Nationalität macht hier den Unterschied. Auch vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass Herr Demirci die junge Frau das gesamte Interview über nicht mit Namen einführt, sondern von einem sich selbst produzierenden System der Ware Arbeitskraft, welches im Beruf häufiger Gegenstand von Witzen ist: „Und manchmal in der Klinik, die sagen, ich habe so einen kleinen Kirgisenring jetzt aufgebaut. [lacht] Die produzieren sozusagen immer ihren Nachfolger dann für sich selber schon“ (Z. 469, Herr Demirci). Nicht von ihr als Person, sondern von ihrer Funktion ist Herr Demircis Lebensführung grundsätzlich abhängig. Tatsächlich exklusiv ist die Quasi-Solidargemeinschaft also nur aus Sicht der jungen Au-pair-Frau. Am Horizont zeichnet sich allerdings ein Ende des wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses ab: Herr Demircis Beziehung zu seiner Freundin verfestigt sich. „Meine Freundin ist, […] sie hat von ihrer Art einen sehr natürlichen Umgang. Also so, wie sie auch die Kinder kennengelernt hat, das war alles derart ungezwungen und auch ganz langsam und auch wirklich mehr so im Sinne von, das ist eine gute Freundin, ja, […] Sie ist natürlich auch jünger. […] Genau. Und wobei man auch ganz klar sagen muss, die Überlegung ist natürlich schon, wenn wir irgendwann zusammenziehen, dass man auch zusammen noch mal Kinder kriegt, ne?“ (Z. 677, Herr Demirci)
Erwartbar ist, dass die Quasi-Solidargemeinschaft mit der Au-pair-Frau durch eine zukünftige Solidargemeinschaft innerhalb der Paarbeziehung ersetzt wird und die Lebensgefährtin von Herr Demirci seinen Vorstellungen einer „natürlichen“, geschlechterspezifischen sowie geschlechterdifferenten Arbeitsteilung gerecht wird.
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Betont werden muss daher, dass die Unwägbarkeiten der Angestellten im Privathaushalt durch das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis ungleich höher sind als das Risiko der erwerbstätigen Eltern, die als Arbeitgeber*innen auftreten – insbesondere vor dem Hintergrund eines nicht gesicherten Aufenthaltsstatus. Während Herr Demirci als alleinerziehender Mann und Arzt mit einem hohen Haushaltseinkommen seinen grundsätzlichen Sorgekonflikt unter Rückgriff auf ethnizitäts- und geschlechtsspezifische Herrschaftsverhältnisse bearbeitet, steht dies alleinerziehenden Vätern und Müttern ohne entsprechende finanzielle Ressourcen nicht zur Verfügung. Sie bleiben in ihrem alltäglichen Handeln dem grundsätzlichen Sorgekonflikt dauerhaft unterworfen, wie der Fall von Frau Reinhard zeigt. Frau Reinhard ist Pflegekraft, zu Beginn ihrer Erwerbstätigkeit als Mutter im Dreischichtsystem tätig und benötigt vor diesem Hintergrund – vergleichbar mit Herrn Reuschenbach oder Herrn Demirci – eine zeitlich intensive, gleichzeitig flexible Betreuung für ihren Sohn. Vor dem Hintergrund ihres geringen Erwerbseinkommens bleibt Frau Reinhard allerdings auf die Angebote der öffentlichen Betreuungsinfrastruktur verwiesen und kann sich weder eine übertarifliche Bezahlung einer Tagespflegeperson leisten, wie Herr Reuschenbach, noch eine Au-pair-Konstellation wie Herr Demirci. Frau Reinhard findet schließlich eine Tagesmutter, die ihren Sohn auch zu ungewöhnlichen Zeiten und über lange Zeiten hinweg betreut. Steht zu Beginn dieses Betreuungsarrangements eine vertragliche Beziehung entwickelt sich in der Darstellung von Frau Reinhard im Zeitverlauf eine Freundschaft, die einer Solidargemeinschaft gleicht, wie sie zu Beginn des Kapitels beschrieben wurde: Das Handlungsproblem der (ehemaligen) Tagesmutter wird so zum Handlungsproblem von Frau Reinhard – und umgekehrt. „Und nachher ist das so gelaufen, dass das auf Freundschaftsbasis war so jetzt die letzten zwei, drei Jahre. Da war es aber auch so, ja, dass ich, weil wenn sie halt Not am Mann hat, sie hat halt jetzt auch einen anderen Job, sie hatte vorher den Tagesmutterjob, macht jetzt halt wieder was anderes, und dann nehme ich den Karmal auch, wenn irgendwas ist. Es ist halt so ein Geben und Nehmen.“ (Z. 190, Frau Reinhard)
Die zusätzlichen Verpflichtungen, die Frau Reinhard sich einhandelt, resultieren nicht zuletzt aus ihrem Zwang, die Betreuungsdienstleistungen der Tagesmutter zu ungewöhnlichen Zeiten und überlang in Anspruch nehmen zu müssen. „Und mittlerweile sind wir gute Freundinnen und dann … das war auch wie gesagt, im Nachhinein, wenn ich das so sehe, war es das Beste, was mir passieren konnte, weil eine Institution hätte mir niemals das bieten können praktisch diese Freiheit mit Spätdienst, und
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überhaupt, da wäre immer dieses gewesen von halb acht bis um vier. Das sind die Grenzen.“ (Z. 175, Frau Reinhard)
Während das Ausbleiben solidarischer Praxis in Paarbeziehungen durch den Einkauf haushaltsbezogener Dienstleistungen ausgeglichen wird – und in der Folge Quasi-Solidargemeinschaften entstehen –, findet sich hier der umgekehrte Fall: Die von Seiten von Frau Reinhard erbrachte solidarische Praxis gegenüber der Tagesmutter gleicht ihre ‚übermäßige‘ Inanspruchnahme der vertraglichen Betreuungsleistungen aus, die einzukaufen oder entsprechend zu entlohnen sie nicht in der Lage ist. 4.1.5 Zusammenfassung: „Wahlfreiheit“ durch (Quasi-)Solidargemeinschaften? Die Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit wirft Vereinbarkeitsprobleme im Alltag sowie Sorgekonflikte im Lebensverlauf auf. Nur unter Rückgriff auf solidarische Praxis – verstanden als dein Handlungsproblem ist mein Handlungsproblem und umgekehrt – innerhalb einer definierten Gemeinschaft können die alltäglichen und lebenszeitlichen Handlungsprobleme mal mehr, mal weniger gut bearbeitet oder gelöst werden. Während der Rückgriff auf solidarische Praxis in Partnerschaft, durch Großeltern, im erweiterten Familienkreis oder durch soziale Netzwerke als Verlagerung von Sorgearbeit erscheint, können Quasi-Solidargemeinschaften, also der Zukauf haushaltsnaher Dienstleistungen im Privathaushalt, als Auslagerung umschrieben werden. Diese Phänomene verweisen auf Sorgekonflikte im Lebensverlauf, denen familienpolitische bzw. wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen und Dienstleistungen nicht (ausreichend) gegenüberstehen, etwa im Angebot der öffentlichen Kinderbetreuung. Alle im Material rekonstruierten (Quasi-)Solidargemeinschaften gehen mit wechselseitigen Verpflichtungs- und Abhängigkeitsverhältnissen einher. Im Kontext von Paarbeziehungen und Mehrgenerationenbeziehungen kommen diese implizit daher. In Paarbeziehungen hängt eine solidarische Praxis zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit davon ab, ob Solidarität überhaupt vorhanden ist oder im gemeinsamen Lebensverlauf des Paares ausgebildet wurde. Dabei läuft eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einer solidarischen Praxis in Paarbeziehungen nicht zwangsläufig zuwider, da diese nicht von einer auf Egalität ausgerichteten Partnerschaft abhängt. Dennoch bleiben geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Relevanz für die Frage heterosexuell-partnerschaftlicher Solidarität: weil männliche solidarische Praxis im Bereich der Betreuungsarbeit verschleiert (und damit abgewertet) wird oder weil
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als vergeschlechtlicht wahrgenommene Tätigkeiten das Aushandeln im Paar verhindern bzw. nicht notwendig erscheinen lassen. Solidarische Praxis in Paarbeziehungen erscheint im vorliegenden Material daher entweder als dauerhaft an- oder abwesend – je nachdem, ob diese in der Praxis ausgebildet wurde oder nicht (vgl. hierzu auch Gräfe 2017). Alltägliches solidarisches Handeln in der Paarbeziehung erhöht dabei die „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter hinsichtlich der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbsund Sorgearbeit im Lebensverlauf und vermag grundsätzliche Sorgekonflikte zu vermeiden. Sie reduziert zudem das Verwiesensein auf anderweitige Solidargemeinschaften oder umgekehrt formuliert: Wo solidarische Praxis im Paarkontext ausbleibt, müssen anderweitige (Quasi-)Solidargemeinschaften geschaffen werden. Mehrgenerationale Solidargemeinschaften entlasten erwerbstätige Mütter und Väter von alltäglichen Vereinbarkeitskonflikten und tragen so zur Lösung von dauerhaften Sorgekonflikten im Lebensverlauf bei. Die solidarische Praxis von Großeltern zeigt sich im Material besonders im Bereich der Kinderbetreuung und zeichnet sich prinzipiell durch eine erst im Lebensverlauf sichtbare Wechselhaftigkeit in den Verpflichtungszusammenhängen und Abhängigkeitsbeziehungen aus. Gleichzeitig werden auch Grenzen der Solidarität offenbar, die sich auf körperliche Belastbarkeiten der Großeltern sowie deren geographische und zeitliche Verfügbarkeit beziehen. Letzter Aspekt verweist auch auf intersektionale Verwobenheiten (vgl. Kap. 5). Schließlich bleiben die Solidargemeinschaften insbesondere mit den Großeltern von Unsicherheit und Instabilität geprägt, etwa wenn diese erkranken oder selbst pflegebedürftig werden. Insbesondere für alleinerziehende Frauen aus sozialen Klassen, die durch eine traditionelle Geschlechterordnung geprägt sind und auf wenig finanzielle Ressourcen zurückgreifen können, entstehen so im Lebensverlauf neue Sorgekonflikte. Die solidarische Praxis in sozialen Netzwerken kommt im Vergleich zu den partnerschaftlichen oder familialen Beziehungen stärker explizit daher und ist von unmittelbarer Wechselseitigkeit im solidarischen Handeln geprägt. Alltägliches solidarisches Handeln in sozialen Netzwerken erfährt dabei jedoch häufig eine Umdeutung in nur sporadische wechselseitige Hilfeleistungen in Ausnahmesituationen. Auf diese Weise werden dauerhafte Abhängigkeitsverhältnisse vermieden bzw. ausgeblendet. Insbesondere für alleinerziehende Frauen ohne hohem Haushaltseinkommen sind soziale Netzwerke jedoch notwendig, um alltägliche Vereinbarkeitsprobleme zu lösen und Sorgekonflikte im Lebensverlauf zu vermeiden. Soziale Netzwerke kommen dabei als ethnisch und klassenspezifisch geschlossen daher. Sie haben letztlich eine ambivalente Wirkung auf die „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Eltern. Einerseits vergrößern sie diese, indem
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sie Eltern entlasten und beispielsweise bestimmte Freizeitaktivitäten der Kinder ermöglichen. Andererseits begeben sich Mütter und Väter in Abhängigkeits- und Verpflichtungszusammenhänge, wenn sie regelmäßig auf Solidarität innerhalb eines sozialen Netzwerkes angewiesen sind, die die „Wahlfreiheit“ im Alltag oder im Lebensverlauf auch einschränken kann. Insgesamt gilt für Solidargemeinschaften: Sie funktionieren nicht immer lücken- oder reibungslos, ihr Erhalt und die Koordination solidarischer Praxis bedeutet zusätzliche Belastung. Neben den auf persönlichen Beziehungen beruhenden Solidargemeinschaften konnten im Material auch Quasi-Solidargemeinschaften rekonstruiert werden, indem einige Mütter und Väter vertragliche Beziehungen im Kontext haushaltsnaher Dienstleistungen eingehen. Die vertraglichen Arbeitsverhältnisse mit Reinigungskräften, Tagesmüttern und Au-pair-Frauen sind für die Vereinbarkeitsprobleme im Alltag und die Sorgekonflikte im Lebensverlauf von Relevanz, da sie solidarische Praxis im Kontext der Paarbeziehung, der Familie und der sozialen Netzwerke bzw. deren Ausbleiben ausgleichen, ersetzen oder obsolet machen. Haushaltsnahe Dienstleistungen tragen dabei zum Erhalt einer traditionellen Geschlechterordnung und -orientierung bei den erwerbstätigen Müttern und Vätern bei und verfestigen intersektionale Herrschaftsverhältnisse (vgl. dazu Kap. 5). Als quasi-solidarisch kommt das Konstrukt zwischen den Eltern und dem bezahlten Personal zum einen daher, weil die vertragliche Beziehung oft in eine familiale oder freundschaftliche Gemeinschaft umgedeutet wird, in der das asymmetrische Arbeits- und in Teilen auch Ausbeutungsverhältnis als solidarischer Akt erscheint. Zum anderen wird das Konstrukt von Seiten der erwerbstätigen Mutter bzw. des Vaters mitunter auf eine ökonomische Win-Win-Situation reduziert, um die wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse mit der Arbeitnehmerin zu verschleiern, die im Verlauf der Zeit vor allem dort entstehen, wo es zu einem zeitintensiven Betreuungsmodell durch bezahltes Personal kommt. Zumindest von der Funktion der Dienstleistung, in Teilen auch von der konkreten Person bleiben die Eltern insofern abhängig. Alles in allem lassen sich fließende Grenzen zwischen den Solidargemeinschaften und den Quasi-Solidargemeinschaften konstatieren. Die „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern in Bezug auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit stellt sich vor diesem Hintergrund für die Interviewpersonen unterschiedlich dar. Differenzen zeigen sich zunächst einmal zwischen den Elternteilen, die regelmäßig auf Solidargemeinschaften außerhalb der Paarbeziehung angewiesen sind und solchen, die nur sporadisch oder in Ausnahmesituationen Vereinbarkeitsprobleme mit Hilfe anderweitiger Solidargemeinschaften lösen (müssen). Elternteile,
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die über ein hohes Haushaltseinkommen verfügen, können dagegen fehlende oder ausbleibende solidarische Praxis durch bezahltes Personal ausgleichen. Inwiefern erwerbstätige Mütter und Väter auf (Quasi-)Solidargemeinschaften angewiesen bleiben, hängt nicht zuletzt mit der öffentlichen Kinderbetreuungsinfrastruktur zusammen, die vor dem Hintergrund von Schichtdienst und atypischen Arbeitszeiten zahlreicher erwerbstätiger Elternteile noch immer lückenhaft erscheint. Die Beispiele im Sample zeigen, dass der Erhalt und die Koordination von Solidargemeinschaften zusätzliche Belastung bedeutet und die wechselseitigen Verpflichtungszusammenhänge sich auch jederzeit umkehren können. Wenngleich das Eingebundensein in partnerschaftliche, familiale und freundschaftliche Sozialbeziehungen eine Selbstverständlichkeit ist, bleiben letztlich zahlreiche der aufgefundenen punktuellen Vereinbarkeitsprobleme und dauerhaften Sorgekonflikte im Sample im Rahmen von Solidargemeinschaften nur vorläufig und/oder oberflächlich gelöst.
4.2 INDIVIDUELLE TAUSCHVERHÄLTNISSE IM BETRIEBLICHEN „MIKROKOSMOS“ Für die Frage elterlicher „Wahlfreiheit“ zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit taucht neben den Solidargemeinschaften auch der Betrieb als relevanter Ort immer wieder in den Gesprächen mit den erwerbstätigen Müttern und Vätern auf – mal als die „Wahlfreiheit“ einschränkende Bedingung, mal als „Wahlfreiheit“ ermöglichender Rahmen. Im Mittelpunkt der Erzählungen der Interviewpersonen standen dabei vor allem Verhandlungen zwischen den Elternteilen und der*m Vorgesetzten über die Dauer, Lage und Verteilung von Arbeitszeiten sowie die Frage, wie flexibel und selbstbestimmt diese von Arbeitnehmer*innen im Krankenhaussektor vor dem Hintergrund von Sorgeverpflichtungen (mit-)bestimmt werden können. Rekonstruiert werden konnten diese in großen Teilen informellen Verhandlungen als individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“. Die Handlungsoptionen der einzelnen Elternteile im Kontext dieser Tauschverhältnisse sind dabei aus Perspektive der Befragten maßgeblich durch die jeweilige Stationskultur, einem persönlichen Verhältnis zur*m Vorgesetzten sowie Narrationen der beruflichen Performanz bestimmt.
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4.2.1 Teilzeit als ungleiches Tauschverhältnis „Ich bin ja super dankbar, dass ich diese Dienstzeiten habe […] Und ich probiere dann schon auch immer möglich zu machen, wenn jetzt einer irgendwie tauschen will oder so, dass ich dann irgendwas organisiere.“ (Z.358, Frau Reinhard, examinierte Pflegekraft)
Im Sample erscheinen die Rahmenbedingungen der Beschäftigungsverhältnisse wiederkehrend als Tauschverhältnisse zwischen den erwerbstätigen Müttern und Vätern und ihrem jeweiligen Arbeitgeber bzw. konkreten Arbeitsumfeld. Wie Goedicke und Brose gezeigt haben bereits gezeigt haben, erscheinen Beschäftigungsverhältnisse als wechselseitiger Handlungszusammenhang von Beschäftigten und Erwerbsarbeitsorganisationen, der einerseits von Machtasymmetrien, Interessengegensätze und Konflikten zwischen Arbeitskraftanbietenden und Nachfragenden geprägt ist. Andererseits müssen die Unbestimmtheiten des Arbeitsvertrages im Erwerbsarbeitsalltag mit Hilfe von Kooperation, wechselseitiger Anerkennung und gemeinsamer Orientierung beider Vertragsparteien überbrückt werden. Dies erzeuge, so die Forschungsgruppe, unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen für die einzelnen Beschäftigten im Betrieb und resultiere in so genannten Paketlösungen von Beschäftigungsangeboten, deren Dimensionen (Arbeitsaufgaben und -belastungen, Arbeitszeiten, Kooperations- und Kontrollformen, Formen der Leistungsbewertung und Gratifikation) nicht unabhängig voneinander wählbar oder veränderbar seien (vgl. Goedicke/Brose 2008: 183). Dieser Befund spiegelt sich auch im vorliegenden Material wieder, kann aber vor dem Hintergrund der Erzählungen der Interviewpersonen weiter ausdifferenziert und spezifiziert werden. Denn die Bedingungen für die betrieblichen Tauschverhältnisse hängen nicht, wie die Autor*innen schreiben, ausschließlich von der familialen Lebensform der Beschäftigten – also beispielsweise der häuslichen Arbeitsteilung, den biographischen Entwürfen oder verfügbaren Ressourcen – ab, sondern stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der Arbeitskraft, also beispielsweise auch der beruflichen Qualifikation und erbrachten betrieblichen Leistungen des jeweiligen Elternteils bzw. der Performanz dessen. Zudem lassen sich strukturell unterschiedliche Tauschverhältnisse rekonstruieren, die jeweils mit verschiedenen Konsequenzen einhergehen. Darüber hinaus zeigt das vorliegende Material, dass neben den formalen Bedingungen von Beschäftigungsangeboten auch informelle Absprachen innerhalb bereits bestehender Beschäftigungsbedingungen Gegenstand
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von betrieblichen Tauschverhältnissen werden und sich als notwendig und besonders wirkmächtig für die Frage nach betrieblichen Handlungsspielräumen zeigen. Dies gilt insbesondere dort, wo staatliche Familien- und Sozialpolitik soziale Rechte zwar geschaffen hat, die konkreten Umsetzungsfragen jedoch der Personal- und Vereinbarkeitspolitik der einzelnen Betriebe überlassen wurden. Besonders deutlich wird dies im Material an stattfindenden Tauschverhältnissen rund um das Thema Arbeitszeiten. Das soziale Recht auf Teilzeiterwerbstätigkeit vor dem Hintergrund von Sorgeverpflichtungen wurde zuletzt wohlfahrtsstaatlich im Rahmen der Elterngeldregelung 2007 und Elterngeld Plus-Regelung 2015 ausgebaut. Während der Anspruch auf die Reduzierung der Arbeitszeit rechtlich verbrieft ist, verbleiben Fragen der Arbeitszeitlage und -verteilung als individuelles Aushandlungsproblem der einzelnen Arbeitnehmenden mit dem Betrieb. Bedingungen und Gegenstand der Tauschverhältnisse sind dabei verschieden und gehen mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Mutter bzw. den Vater einher. So zeigt sich bei manchen Elternteilen ein Tausch von weniger Erwerbsarbeitsstunden gegen ein Mehr an arbeitgeberbestimmter Flexibilität, während andere Interviewpersonen die Disposition ihrer Arbeitskraft insgesamt gegen mitbestimmbare Arbeitszeitbedingungen eintauschen. Die Konsequenz des Tausches ist im ersten Fall ein nicht begrenzbares Geben von Seiten der erwerbstätigen Mutter bzw. dem Vater bei einem zeitbezogenen, einmaligen Nehmen, dem Akt der Stundenreduktion. Im zweiten Fall, wo die Arbeitskraft in Gänze zur Disposition gestellt wird, gilt der Tausch zwischen Betrieb und Elternteil bereits mit dem Akt der Stundenreduktion als (größtenteils) abgeschlossen. Deutlich wird daran bereits: Die Norm der Reziprozität erweist sich als strukturbildend für die Ausgestaltung der Teilzeit-Tauschverhältnisse. Mit Hilfe soziologischer Theorien zu Reziprozität lassen sich die im Material vorgefundenen Tauschverhältnisse in der Logik des Gebens, Nehmens und Erwiderns beschreiben, nachvollziehen und weiter ausdifferenzieren (vgl. Adloff/Mau 2005). In der Theorie wird Reziprozität mit Gegenseitigkeits- und Verpflichtungsbeziehungen verknüpft, zu deren Entstehen und Aufrechterhaltung sie beiträgt. Idealtypisch kann der Gabentausch von einem wirtschaftlichen Tausch unterschieden werden: Während bei letzterem im Rahmen eines Vertrages beispielsweise Geld gegen Ware oder Arbeitskraft getauscht wird, erscheint die Gabe im Gabentausch als einmaliger symbolischer Akt, der niemals folgenlos bleiben kann. Nach Mauss (2005) „verpflichtet“ eine Gabe zu Dank und Erwiderung, während ein wirtschaftlicher Tausch in diesem Sinne folgenlos bleibt. Die damit einhergehende Dichotomie der Tauschkonzepte und ihre Verknüpfung mit Eigeninteresse im wirtschaftlichen Tausch einerseits und sozialen Motivationen bei-
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spielsweise im privaten Schenken andererseits gilt in der Literatur jedoch als überholt, besteht Reziprozität doch gerade aus der unaufhebbaren Verbindung aus beidem, so Adloff und Mau (Adloff/Mau 2005: 47). Die vorliegende Empirie bestätigt dies. Hier weist Teilzeit als Tauschverhältnis zwar grundsätzlich die zwei Dimensionen auf, diese vermischen sich aber innerhalb dieses einen Tauschverhältnisses. Als formeller wirtschaftlicher Tausch erscheint die Reduzierung des Arbeitszeitumfanges zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in, was als schriftliche Vereinbarung Eingang in den Arbeitsvertrag findet. Als Gabentausch im Teilzeit-Tauschverhältnis erscheinen zugleich die konkrete Arbeitszeitlage an den einzelnen Arbeitstagen und die Arbeitszeitverteilung innerhalb der Erwerbsarbeitswochen. Diese, aus der Perspektive der Mütter und Väter durchaus relevanten Aspekte der Teilzeiterwerbstätigkeit werden nicht schriftlich mit der Organisation abgestimmt, sondern müssen von der einzelnen Mutter bzw. dem einzelnen Vater informell mit den direkten Vorgesetzten auf der jeweiligen Station oder in Absprache mit den Arbeitskolleg*innen ausgehandelt werden. Frau Reinhard ist ein Beispiel dafür. Sie ist alleinerziehend und arbeitet seit der Rückkehr auf ihre Station als examinierte Pflegekraft mit reduzierter Arbeitszeit und zu täglich festen Dienstzeiten. Während erstes vertraglich festgelegt wurde, ist letztes Gegenstand informeller Vereinbarung mit der Stationsleitung und dem Arbeitsteam. „Dann habe ich wieder nach einem halben Jahr auf der jetzigen Station angefangen zu arbeiten und habe dann da direkt den Bonus bekommen, dass ich halt von sieben bis 15 Uhr arbeiten konnte.“ (Z. 20, Frau Reinhard) Dass der „Bonus“ als Alleinerziehende, den Frau Reinhard im Zuge ihres Teilzeit-Tauschverhältnisses auf der Station erhält, nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Bürde ist, klingt im folgenden Zitat bereits an. „Also ich finde schon, dass ich da komplett anerkannt bin. Es ist manchmal so ein bisschen […], dass ich denke, boah ey, du hast den Bonus, von acht bis zwei bist du da, die denken jetzt bestimmt, ach guck mal hier, die hat jetzt hier wieder den Bonus.“ (Z.379, Frau Reinhard) In einer ähnlichen Situation befindet sich Herr Wiesner, ebenfalls examinierte Pflegekraft. Er arbeitet seit seiner Ausbildung in Teilzeit in einer Klinik und benötigt, seit er Vater geworden ist, wechselnd andere Dienste vor dem Hintergrund der Erwerbstätigkeit seiner Frau, die im Einzelhandel mit Ladenöffnungszeiten konfrontiert ist. „So dass ich dann schauen muss, dass ich an diesen Tagen, wo meine Frau arbeitet, einfach dementsprechend früh Feierabend mache. Ich habe das bis jetzt geschafft so zu regeln, dass ich dienstags früher dementsprechend Feierabend machen kann und donners-
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tags. Und dann manchmal meine Frau samstags arbeitet. Da können wir nur hoffen, dass das nicht auf den gleichen Tag fällt.“ (Z. 67, Herr Wiesner)
In der Folge muss Herr Wiesner jedes Mal aufs Neue mit den Arbeitskolleg*innen in Verhandlungen treten. Damit ist er zwar grundsätzlich erfolgreich, dennoch entbehrt dieses Arrangement Verlässlichkeit – statt zu planen, bleibt nur zu hoffen, dass er seine individuellen Arbeitszeitwünsche im Team wiederkehrend durchsetzen kann. „Es ist zwar nicht immer so, dass ich nur den optimalen Dienst habe, aber an Tagen, wo mir das wichtig ist, setze ich mich dafür ein und dann bekomme ich den Tag auch. Dafür bin ich dann an anderen Tagen nicht so vehement“ (Z. 222, Herr Wiesner). Das Tauschen von Diensten innerhalb des Arbeitsteams unterliegt zudem selbst impliziten Regeln, wie auch Frau Zimmer, examinierte Pflegekraft, verdeutlicht: „Man versucht schon Wochentag gegen Wochentag und Wochenende gegen Wochenende zu tauschen“ (Z. 272, Frau Zimmer). Als Konsequenz aus dem Teilzeit-Tauschverhältnis zeigen die Interviewpersonen eine dauerhafte Dankbarkeit gegenüber ihrem Arbeitgeber bzw. dem Arbeitsteam. Das Teilzeitarbeitsverhältnis mit spezifischer Lage und Verteilung der Arbeitszeiten erscheint nicht als soziales Recht und damit Selbstverständlichkeit, sondern kommt als großzügige Geste daher. Seltener wird sich vor dem Hintergrund des Faktes dankbar gezeigt, dass eine reduzierte Arbeitszeit (im Sinne eines wirtschaftlichen Tausches) überhaupt ermöglicht wird. Eine Ausnahme ist Herr Wilke, der als Facharzt mehrere Monate Elternzeit in Anspruch genommen hat und im Anschluss daran in Teilzeit zurückkehrt, dafür aber Station und Tätigkeitsfeld wechselt. Für dieses offensichtlich unübliche Tauschverhältnis von Seiten des Arbeitgebers zeigt sich Herr Wilke als bisher in Vollzeit erwerbstätiger männlicher Oberarzt dankerfüllt. „Der Professor war da sehr kulant und auch alle Oberärzte.“ (Z. 39, Wilke) „Meinem Chef rechne ich das alles sehr hoch an und… sehr, sehr hoch, bin da sehr dankbar.“ (Z. 116, Herr Wilke)
Die generalisierte Dankbarkeit der Interviewpersonen gegenüber dem vollzogenen Teilzeit-Tauschverhältnis spricht dafür, dass Teilzeiterwerbstätigkeit im Krankenhaussektor scheinbar keine Selbstverständlichkeit ist: entweder, weil man als teilzeiterwerbstätiger Mann und Arzt wie Herr Wilke bestimmten Normen von Vollzeiterwerbsarbeit, beruflichem Ehrgeiz und Männlichkeit widerspricht oder weil teilzeitarbeitende Ärzt*innen und Pflegekräfte mit spezifischen
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Arbeitszeitbedürfnissen die etablierte/routinierte Organisationsstruktur des Krankenhauses heraus- bzw. überfordern. Für Pflegekräfte, die im Dreischichtsystem arbeiten, werden geringere Arbeitszeitumfänge üblicherweise in Form von weniger Diensten im Monat realisiert, nicht über kürzere Arbeitszeiten am eigentlichen Arbeitstag oder dem Wegfall von Wochenend- oder Nachtdiensten. So beschreibt es auch Frau Zimmer, die als Pflegekraft sogar mit einer 20Prozent-Stelle aus dieser Dienststruktur nicht herausgenommen wurde. „Weil im Krankenhaus ist es einfach üblich, dass man – egal, wie viel Prozent man arbeitet – jedes zweite Wochenende Schicht macht. Und da geht schon sehr viel Familie verloren“ (Z. 143, Frau Zimmer). Eine aus Sicht der erwerbstätigen Mütter und Väter mit- oder selbstbestimmte Teilzeiterwerbstätigkeit ist im Krankenhaussektor insofern nur als folgenreiches informelles Tauschverhältnis zu realisieren, auf das sich Mütter bzw. Väter niemals offiziell berufen oder dieses gar einfordern können. Mündliche Vereinbarungen sind nur auf Widerruf und unter Vorbehalt gewährt und entziehen sich einer zuverlässigen Planung. Dies berichtet Frau Zimmer, die sich auf mündlich gemachte Zusagen nicht verlassen konnte. „Sie versprechen dann einem schon mal, wir machen das so, aber im Endeffekt kriegt man jeden Monat wieder gezeigt, dass es doch wieder anders läuft. Also damals hatte ich abgesprochen, wurde mir auch zugesagt, natürlich nicht schriftlich, weil das können sie mir nicht zusagen, das wurde natürlich nur alles mündlich zugesagt, dass ich nur Nachtdienst arbeite. Das wollte ich damals. […] Und das hat noch keinen Monat geklappt in den letzten Jahren.“ (Z. 189, Frau Zimmer)
Teilzeitarbeit mit mit- oder selbstbestimmter Arbeitszeitlage und -verteilung innerhalb der Organisation Krankenhaus ist insofern weder selbstverständlich noch allen Beschäftigten gleichermaßen zuverlässig zugänglich. Ausgenommen sind davon allein die befragten Mütter im Reinigungs- und Versorgungsdienst. Ihnen ist vergleichsweise folgenlos möglich, ihre Arbeitszeitbedingungen jenseits informeller Absprachen mit Vorgesetzten zu verändern. So beantragte die Reinigungskraft Frau Günes mit Unterstützung der Personalrätin erfolgreich ganz offiziell eine neue Arbeitszeitlage und -verteilung im Betrieb, ohne ein entsprechendes Tauschverhältnis eingehen zu müssen. „Ich bin erst bei Frau Bollmer gegangen und hab mit ihr gesprochen […] Ich und mein Mann, sind wir dahin gefahren wegen den Uhrzeiten, wie kann man das ändern. Da hatten wir so ein Gespräch und da hatte Frau Bollmer mir glaube ich, so fünf Sachen hat die fer-
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tig gemacht, hat sie dann überall gefaxt und geschickt.“ (Z. 288, Frau Günes, Reinigungskraft)
Interessant ist, dass die Befragten des Reinigungs- und Versorgungsdienstes als einzige befragte Beschäftigtengruppe im Sample über regelmäßigen Kontakt und Austausch zur betrieblichen Interessensvertretung verfügt. Ein persönliches Verhältnis zu den Vorgesetzten hat für sie, anders als bei den Interviewpersonen in der Pflege oder im ärztlichen Dienst, keine Relevanz. Hinzu kommt, dass die besagte Personalrätin die Gestaltung einer familienfreundlichen Arbeitswelt als ein relevantes Thema und eigenes Aufgabenfeld begreift. Vor diesem Hintergrund erscheint es weniger überraschend, dass Frau Günes ebenso wie Frau Kröger bei den Anpassungen der Beschäftigungsbedingungen im Lebensverlauf stets den formalen Weg innerhalb der Organisation beschreiten, anstatt informelle Tauschverhältnisse einzugehen. Der Zugang zu betrieblicher Interessenvertretung wirkt sich insofern günstig auf die Mitbestimmung der Arbeitszeiten durch die Elternteile aus. Für alle anderen interviewten Beschäftigtengruppen zeigt sich, dass ein persönliches Verhältnis zur*m Vorgesetzten relevant für den Zugang zu informellen Tauschverhältnissen hinsichtlich Lage und Verteilung der Arbeitszeiten ist. So berichten alle Teilzeitkräfte in der Pflege und im ärztlichen Dienst von den individuellen Fähigkeiten und dem persönlichen Charakter der jeweiligen Führungskraft, die bedeutend dazu beigetragen hätten, dass die konkreten Arbeitszeitbedingungen überhaupt ermöglicht wurden. Ob die Option auf selbst- oder mitbestimmte Arbeitszeiten besteht, hängt im Wesentlichen von Einzelpersonen in den verschiedenen Abteilungen und Stationen innerhalb des Krankenhauses ab. Eine diesbezügliche gleiche „Wahlfreiheit“ für alle beschäftigten Mütter und Väter wird so unterlaufen. Das formale Einfordern oder gar das rechtliche Einklagen von spezifischen Arbeitszeiten widerspräche jedoch der Informalität der Tauschverhältnisse. So unternimmt die Mehrheit der teilzeitarbeitenden Interviewpersonen keinerlei Versuche, eine schriftliche Bestätigung der Klinik zu erhalten. Die Pflegekraft Herr Wiesner scheut sich, eine solche Forderung überhaupt zu stellen. „Ich glaube, im Unternehmen haben das wenige, wenn überhaupt. Eine schriftliche Zusage, wie ihre Arbeitszeit liegt. Und das jetzt im Nachhinein zu bekommen, ist schwierig“ (Z. 87, Herr Wiesner). Frau Zimmer, ebenfalls examinierte Pflegekraft, die einen solchen Versuch unternommen hat, trifft damit auf Ablehnung in der Führungsebene der Organisation – zu ihrem eigenen Unverständnis.
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„Die Pflegedienstleitung sagt natürlich […] eigentlich kann ich dir gar nichts versprechen, weil eigentlich möchte ich nicht der Stationsleitung in die Finger mauscheln […] Ich finde, da sollte man schon als Pflegedienstleitung auch mal einer Stationsleitung sagen: Hey, versuch mal was möglich zu machen. Und nicht einfach sagen, ach, ich möchte den Betriebsfrieden nicht stören.“ (Z. 202f, Frau Zimmer)
Zwar erwägt die examinierte Pflegekraft den Schritt des rechtlichen Einklagens kurzzeitig, verwirft ihn letztlich aber wieder. „Und da habe ich mich dann auch mal bei einer Rechtsanwältin erkundigt. Es gibt nicht nur das Recht auf Teilzeit, sondern es gibt ja auch das Recht auf Vereinbarkeit und Arbeitsverteilung. Ja, aber geht man dann hin und klagt gegen den Arbeitgeber? Dann habe ich es durchgeklagt, dann sagt mein Arbeitgeber, natürlich, klar, ich kann dir so einen Job anbieten, aber dann bist du nicht mehr im Schichtdienst, dann bist du nicht mehr auf Intensiv […] Sie können mich ja versetzen, wohin sie immer wollen. […] Und da habe ich ja eine finanzielle Einbuße, weil ich kriege jetzt momentan die Dreischichtzulage, ich kriege die Intensivzulage, und da mal eben drauf verzichten.“ (Z. 216, Frau Zimmer)
Das Einklagen wird nicht nur aufgrund befürchteter finanzieller Einbußen gemieden, es widerspräche darüber hinaus der Funktionslogik von informellen Tauschverhältnissen innerhalb der Organisation, in der sich Frau Zimmer als Angestellte auch danach bewegen müsste. Nach Bourdieu sind Tauschverhältnisse an soziale und nicht an rechtliche Beziehungen gebunden (vgl. Bourdieu 2005 [1995]: 146). Eine Klage käme daher einem Tabubruch gleich, der das implizite, informelle System zunächst offen legen müsste. Die (unbewusste) Verschleierung der Tauschakte ist nach Bourdieu jedoch grundlegendes Prinzip von Tauschverhältnissen (vgl. Bourdieu 2005 [1995]: 140). Ohne es zu wissen, arbeiten „der Gebende und der Empfangende […] gemeinsam an einer Verschleierung […] die der Verneinung der Wahrheit des Tauschs dient“ (Bourdieu 2005 [1995]: 140). Im Umkehrschluss leitet sich daraus ein „Tabu der expliziten Formulierung“ ab, aus der sich auch die Unmöglichkeit einer Rechtsklage erklärt. 29 In der Logik der Reziprozität, in der die informell verhandelte Arbeitszeitlage und -verteilung als eine Gabe von Seiten der Organisation erscheint, folgt nach dem Geben und Nehmen ein Erwidern von Seiten der beschäftigten Elternteile. Diese Erwiderung nimmt im Material unterschiedliche Formen an: Sie
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Bourdieu formuliert dies wie folgt: „Wer ausspricht, woran man ist, wer die Wahrheit des Tauschs […] verkündet, macht den Tausch zunichte.“ (Bourdieu 2005 [1998]: 141).
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zeigt sich beispielsweise in der Anspruchslosigkeit und Kritiklosigkeit der Teilzeitkräfte gegenüber den mit der Teilzeit einhergehenden sonstigen Arbeitsbedingungen. So wird Herr Wilke als Facharzt beispielsweise auf eine andere Station und in einen anderen Fachbereich versetzt, um seine Teilzeittätigkeit zu ermöglichen. Obwohl er dort nicht mehr als behandelnder Arzt an Patient*innen, sondern lediglich beratend im Bereich integrativer Medizin tätig ist, wertet Herr Wilke diese Versetzung nicht als berufliche Degradierung, sondern als „kleines Minus zugunsten des unglaublichen Plus, dass es [die Teilzeitbeschäftigung, Anmerk.K.M.] überhaupt möglich ist“ (Z. 460). Auch das Verständnis gegenüber der Argumentationslogik der Organisation bzw. die Übernahme dieser kann als eine Form der Gabenerwiderung gelten. So pflichtet Herr Wilke seinem Arbeitgeber bei, dass eine verlässliche Interaktion mit den Patient*innen ausschließlich in Vollzeit gegeben und Teilzeitkräfte nur schwer in den Ablauf einer Krankenhausabteilung integrierbar seien. „Und jetzt mit der halben Stelle ist das nicht mehr möglich, da passt das nicht mehr in den Ablauf und in die Organisation, die ganzen Besprechungen“ (Z. 51, Herr Wilke). Zwar gibt es in der Abteilung Ärztinnen, die aufgrund von Sorgeverpflichtungen gegenüber ihren Kindern Teilzeit arbeiten, eine weitere Teilzeitstelle für Herrn Wilke erschien dagegen als zu große Belastung für das Team. Am auffälligsten und folgenreichsten ist jedoch die Erwiderung des informellen Tausches durch das Aufzeigen von Flexibilität als Zeichen der Dankbarkeit. Paradoxerweise führen die eingegangenen Teilzeit-Tauschverhältnisse nicht selten zu weniger mit- oder selbstbestimmten Arbeitszeiten hinsichtlich Lage und Verteilung, da die Teilzeitkräfte die „eingegangene Schuld“ des Tauschverhältnisses durch die kurzfristige Übernahme von zu besetzenden Schichten zu tilgen versuchen, wie die alleinerziehende Frau Reinhard. „Ich bin ja super dankbar, dass ich diese Dienstzeiten habe, das finde ich total nett. Und ich probiere dann schon auch immer möglich zu machen, wenn jetzt einer irgendwie tauschen will oder so, dass ich dann irgendwas organisiere mit meinen Eltern oder sonst irgendwie was.“ (Z. 358, Frau Reinhard) Oder Elternteile zeigen sich angesichts anstehender Umstrukturierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen in der Klinik besonders einsatzbereit, wie die Pflegekraft Herr Wiesner. „Und man möchte natürlich auch gerne Flexibilität zeigen.“ (Z. 91, Herr Wiesner) Diese inhärente Verknüpfung zwischen ‚reduziert erwerbstätig sein‘ und ‚sich flexibel zeigen‘, taucht nicht nur bei den Befragten in Pflege und im ärztlichen Dienst auf, sondern erscheint auch als unausgesprochene Erwartung oder gar Strategie von Seiten der Organisation, wie die Ausführungen von Herrn Wiesner andeuten.
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„Ich habe mit einem Teilzeitvertrag angefangen mit 75 Prozent damals in der Ausbildung. Man kann natürlich irgendwie zu einem Teilzeitvertrag auch eine Vereinbarung abschließen, wie die Arbeitszeiten gelegt sind, aber das war nie Interesse des Arbeitgebers.“ (Z. 89, Herr Wiesner) „Je höher man kommt, desto weniger hat man das Gefühl, dass eine schriftliche Zusage zu bekommen ist, dass man Anspruch auf diese Arbeitszeiten hat. Kriegt man so weniger.“ (Z. 76, Herr Wiesner)
Ein prägnantes Beispiel dafür ist auch Frau Lohse, die als Fachärztin nach einjähriger Elternzeit zunächst wieder in Vollzeit einsteigt, aufgrund von unzureichenden Öffnungszeiten der Betreuungseinrichtungen am Morgen jedoch häufig nur mit Verspätung zum Dienst erscheint und deswegen ihre Arbeitszeit auf 80 Prozent reduziert. Den Anstoß zur Arbeitszeitreduzierung erhält Frau Lohse von ihrer Chefärztin, die die Teilzeitbeschäftigung als Lösung des Problems betrachtet. „Und ich habe ihr [meiner Chefin, Anmerk.K.M.] das dann noch mal so deutlich gemacht, dass das [Zuspätkommen, Anmerk.K.M.] für mich wirklich ein Problem ist, ich mich da aber bemühe und … genau, aber dann war das dann auch die Zeit, wo dann eben von ihr aus so auch ein bisschen kam, dass das [eine Arbeitszeitreduzierung, Anmerk.K.M.] vielleicht doch besser wäre.“ (Z. 414, Frau Lohse)
Auf eine Festlegung von Arbeitszeitlage und -verteilung möchte sich die Chefärztin im Zuge der Teilzeitbeschäftigung allerding nicht einlassen. Die Wünsche von Frau Lohse hinsichtlich eines freien Arbeitstages in der Woche werden daher zurückgewiesen. „Also es ging ja am Anfang von meiner Chefin aus, ja, da möchten wir dann gerne bestimmen, welchen Tag Sie dann in der Woche frei haben. So. Also heißt, wo wir Sie nicht brauchen, oder wo am wenigsten los ist, möchten wir einsetzen. […] Da möchte man dann doch die höchste Flexibilität von seinem Arbeitnehmer.“ (Z. 435, Frau Lohse)
Bemerkenswert daran ist, dass die strukturellen Unvereinbarkeiten aus dem pünktlichen Erscheinen auf der Station und der morgendlichen Betreuung der Kinder bis zur Öffnung der Betreuungseinrichtungen durch das Teilzeitarrangement an vier Tagen gar nicht gelöst werden – weder durch den Wunsch Frau Lohses, noch in dem Vorschlag der Chefärztin. Frau Lohses Vereinbarkeitsproblem wird insofern lediglich überdeckt mit einer „guten Tat“ des Arbeitgebers,
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die weder eingefordert wurde noch zu den eigentlichen Bedürfnissen passt. 30 In der Konsequenz individualisiert sich das Vereinbarkeitsproblem, da das Einfordern einer weiteren Gabe der Organisation (oder auch eines wirtschaftlichen Tausches) durch die in der „Bringschuld“ stehenden Frau Lohse unmöglich wird. Allerdings ist Frau Lohse, wie sich später noch zeigt, in der Lage, der eingeforderten Flexibilität etwas entgegenzusetzen. Für alle Teilzeitbeschäftigten gilt jedoch zunächst: es existiert ein allgemeingültiger Zwang zum sich flexibel zeigen. Die Tauschverhältnisse bleiben für die in Teilzeit erwerbstätigen Mütter und Väter im Sample also nicht ohne Folgen. Neben dem Zwang eines Erwiderns der Gabe resultieren aus den Tauschverhältnissen nach Bourdieu symbolische Herrschaftsverhältnisse, die ihrerseits verschleiert werden: „Die Verneinung der Ökonomie vollzieht sich in einer Arbeit, die objektiv der Verklärung der ökonomischen Beziehungen und vor allem der Ausbeutungsbeziehungen (Mann/Frau, Erstgeborener/Nachgeborener, Herr/Knecht usw.) dient, eine Verklärung durch Worte (mit dem Euphemismus), aber auch Taten“ (Bourdieu 2005 [1995]: 144f).
Die empfangende Person wird zum*r Verpflichteten und damit zum*r Beherrschten. Voraussetzung dafür seien die gleichen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien beider Parteien, also Akte des Erkennens und Anerkennens dessen, was Norm und was Abweichung ist. Empirisch findet dies seine Entsprechung in den Äußerungen der Interviewpersonen, als Folge der Stundenreduktion in der betrieblichen Sphäre ‚symbolische Reduzierungen‘ zu erfahren. Einerseits findet diese Reduktion der Anerkennung in Form ‚objektiv‘ veränderter Arbeitsinhalte wie bei Herrn Wilke (s.o.) oder durch geringere Aufstiegschancen statt. So fühlt sich die Fachärztin Frau Lohse als Teilzeitkraft beispielsweise nicht mehr gleichermaßen anerkannt im Beruf und fürchtet um ihre notwendigen Fortbildungen im Rahmen der Facharztweiterbildung. „Aber man wird sofort reduziert auch … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, also nicht inhaltlich, ist das falsche Wort, sondern man wird reduziert auf … naja, dann gucken wir
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Kühl macht darauf aufmerksam, dass der deutsche Organisationssoziologie Horst Bosetzky in Anlehnung an den Mario Puzo-Roman „Der Pate“ (1969) von dem Don-Corleone-Prinzip in Verwaltungen, Unternehmen, Krankenhäusern und Parteien spricht, wenn Vorgesetzte die Loyalität ihrer Beschäftigten durch „gute Taten“ erzeugen (vgl. Kühl 2010: 10).
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mal, wo wir Sie noch reinschieben können sozusagen. Nicht mehr so ernst genommen. Und das ist schon für … ich bin jetzt keine, die anstrebt eine Oberarztstelle später mal zu nehmen, aber ich möchte schon den vollen Umfang meiner Weiterbildung mitnehmen. Und da auch ernst genommen werden. So. Ja, also nicht abgeschoben – die hat Kinder und deswegen muss man sie jetzt nicht mehr … [ …]“ (Z. 390, Frau Lohse)
Andererseits tragen die jeweilige Mutter bzw. der jeweilige Vater zur eigenen ‚symbolischen Reduzierung‘ bei, indem sie ihre spezifische Lebens- und Erwerbssituation als Ausnahmesituation (von der Regel) inszenieren und sich selbst einen subjektiven Sonderstatus zuschreiben. So spricht Frau Reinhard, alleinerziehende Pflegekraft, von ihrem „Bonus“ auf Station, Herr Wilke nimmt als teilzeitarbeitender Arzt in der integrativen Abteilung eine „Sonderrolle“ ein und Herr Wiesner bezeichnet die Möglichkeit, seine Schichten innerhalb des Arbeitsteams zu tauschen als „Luxus“. Damit unterwerfen sich die Interviewpersonen unbewusst der Organisationslogik und übernehmen die dort üblichen Deutungsmuster und Konstruktion bzw. führen diese fort. Dazu passt, was Bourdieu für die symbolischen Herrschaftsstrukturen, von denen er spricht, voraussetzt: „das Vorhandensein von sozialen Akteuren […], die in ihrem ganzen Denken so konstituiert sind, dass sie erkennen und anerkennen, was sich ihnen bietet, und ihm Glauben schenken, und das heißt in bestimmten Fällen: Gehorsam, Unterwerfung“ (Bourdieu 2005 [1995]: 149). Dennoch lässt sich theoretisch mit Bourdieu der Gabentausch unter Gleichen vom Gabentausch zwischen Ungleichen unterscheiden. So könne der Gabentausch zwischen Gleichen auch zu einer Stärkung der „Solidarität, die den sozialen Zusammenhang schafft“ (Bourdieu 2005 [1995]: 145) führen, wohingegen der Tausch zwischen Akteuren, die potenziell ungleich seien, zu dauerhaft symbolischen Herrschaftsverhältnissen führe (ebd.). Tatsächlich lassen sich in den Konsequenzen der Tauschverhältnisse, d.h. in den Handlungsoptionen in bestimmten Entscheidungssituationen, Unterschiede zwischen den Elternteilen im Sample aufzeigen. Beispielhaft können dafür die Ärzt*innen Herr Wilke, Frau Lohse und Frau Weber stehen, die in der Konsequenz ihrer eingegangenen Tauschverhältnisse über vergleichsweise gute alltägliche Vereinbarkeitskonstellationen verfügen. So schafft es Frau Lohse, dem seitens der Chefärztin nahegelegten Teilzeitvertrag ihre eigene Forderung eines festen, freien Tages gegenüberzustellen und letztlich umzusetzen. Allerdings dauert das ‚Abtragen der Bringschuld‘ über ein Jahr und verlangt auch danach in seltenen Fällen noch Flexibilität:
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„Wo ich gesagt habe: Nee, so nicht! Da haben aber auch meine Kollegen dann zu mir gehalten und haben gesagt, nee, lass dich da nicht drauf ein! Und am Anfang habe ich da so ein bisschen mitgemacht, ja, so die Übergangszeit, einfach weil man ein netter Mensch ist, so. [lacht] […] aber das hat jetzt ein Jahr gedauert, aber ist jetzt schon. Mein Freitag ist Pflicht, ja, ist überhaupt kein Problem. Und wenn ich Dienst habe an einem Freitag, was ja auch mal sein muss, dann nehme ich mir einen anderen Tag in der Woche.“ (Z. 438, Frau Lohse)
Relevant erscheint dennoch, dass Frau Lohse es schafft ihre ‚Schuld‘ abzutragen und sich von der eingegangenen Verpflichtung, sich flexibel zu zeigen, entbindet. Dies stattet sie im Hinblick auf weitere betriebliche informelle und formelle Verhandlungen mit einer größeren „Wahlfreiheit“ aus als Mütter und Väter mit anhaltender ‚Bringschuld‘. Frau Lohse unterscheidet sich diesbezüglich von den Teilzeitkräften im Pflegebereich, etwa der alleinerziehenden Frau Reinhard, Herrn Wiesner oder Frau Zimmer, deren Wahloptionen stets unter der Prämisse der Gabenerwiderung erscheinen. Auch das reziproke Tauschverhältnis von Herrn Wilke erscheint im Vergleich zu den übrigen Teilzeitkräften in einem anderen Licht: Einerseits ist Herr Wilke der einzige, der einen Arbeitsplatzwechsel inklusive eines veränderten Tätigkeitsfeldes im Zuge seiner Teilzeittätigkeit hinnehmen muss. Dies geht mit einer symbolischen Abwertung einher, da Herr Wilke nicht mehr als erstbehandelnder Arzt mit Patien*innen arbeitet, sondern ‚nur‘ noch additiv im Bereich integrativer Medizin. Er sagt selbst: „Insofern ist das organisatorisch gut, aber fachlich ist es so, dass ich die andere Stelle doch lieber gemacht habe. […] Also auch das hier ist interessant, aber trotzdem, in der vorherigen Stelle, es war noch interessanter meiner Meinung nach.“ (Z. 64, Herr Wilke) Andererseits hat Herr Wilke mit diesem inhaltlichen Kompromiss das eingegangene Tauschverhältnis abgegolten und ist wie Frau Lohse von einer ‚Bringschuld‘ im Nachgang zum Gabentausch befreit. Im Gegenzug erhält er nicht nur informelle, sondern formale Mitgestaltungsmöglichkeiten und selbstbestimmte Arbeitszeiten auf einer für ihn eigens neugeschaffenen Stelle. Herr Wilke hält seine aktuelle berufliche Situation als Teilzeitkraft zudem für reversibel und ist sich sicher, dass er jederzeit auf eine volle Stelle zurückkehren könnte: „Wenn […] ich sage, bomms, ich will jetzt aber voll arbeiten und eine halbe Stelle mehr, dann müsste er gucken, wie das machbar gemacht werden kann. Aber prinzipiell denke ich, dass das gehen würde“ (Z. 533, Herr Wilke). Diese Selbstsicherheit Herrn Wilkes steht im Kontext seiner guten Arbeitsmarktpositionierung als Facharzt in einer vom Fachkräftemangel geprägten Gesundheitsbranche. Zumindest positioniert sich Herr Wilke entsprechend. Hinzu kommt, dass der symboli-
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schen Abwertung durch die Versetzung Herrn Wilkes eine symbolische Aufwertung als teilzeiterwerbstätiger aktiver Vater gegenübersteht. So gilt er seinem Chefarzt fortan als ‚Trendsetter‘ im Betrieb und wird namentlich auf der Weihnachtsfeier genannt. Die symbolischen Auf- und Abwertungen im Nachgang zu den Entscheidungen von Herrn Wilke im Lebenslauf stehen insofern in einem engen Verhältnis zu Männlichkeitsnormen und -erwartungen, denen Herr Wilke einerseits entspricht, andererseits widerspricht. Diese Ambivalenzen zeigen sich bei der teilzeitarbeitende Pflegekraft Herr Wiesner nicht. Weder erfährt Herr Wiesner betriebliche Aufwertungen aufgrund seiner Übernahme von Sorgearbeit als Vater, noch scheint er aufgrund einer vorteilhaften Arbeitsmarktposition in der Lage, bessere Teilzeitarbeitsbedingungen auszuhandeln, trotz eines auch in der Pflege existierenden Fachkräftemangels. Auch Frau Webers spezifisches Tauschverhältnis erinnert an einen Gabentausch unter Gleichen, in dessen Folge Solidarität und keine symbolischen Herrschaftsverhältnisse entstehen: Sie verhandelt nach Rückkehr aus der Elternzeit formal und entgegen der üblichen Teilzeitverhältnisse im Betrieb eine reduzierte Stelle mit zwei festen Arbeitstagen. „Und man wollte mich anfänglich auch gerne in diese Vier-Stunden-Regelung, dass ich meine 50 Prozent immer morgens vier Stunden sollte ich hinkommen. Habe ich gesagt, okay, das kriege ich nicht hin mit der Versorgung der Kinder“ (Z. 602, Frau Weber, Assistenzärztin). Für Frau Weber resultiert aus dem Tausch Flexibilität nicht im Hinblick auf zeitliche Anforderungen von Seiten des Arbeitgebers, sondern im Hinblick auf die Station, auf der sie an ihren Arbeitstagen eingesetzt wird – ein Kompromiss, den sie gerne eingeht. „Ich konnte dann halt entsprechend auch hin und her springen, verschiedene Stationen bedienen, auf Intensiv eingesetzt werden. Und von daher war das eigentlich für mich einfacher, klare Tage zu haben und das Krankenhaus war auch froh, entsprechend jemand zu haben, der so einsetzbar war.“ (Z. 133, Frau Weber, Assistenzärztin)
Diese Form der Teilzeitbeschäftigung betrachtet sie auch im Nachhinein als positiv, da sie ihr vollen und uneingeschränkten Arbeitseinsatz an zwei Tagen ermöglicht. „Dadurch konnte ich eigentlich immer ganz normal im Krankenhaus so weiter funktionieren wie vorher auch. Das heißt, es waren zwar nur 50 Prozent, aber ich habe genauso Überstunden gemacht, ich war genauso parat, ich war genauso abrufbereit. Ich musste nicht früher gehen, weil ich ein Kind irgendwo abholen musste.“ (Z. 564, Frau Weber, Assistenzärztin)
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Kolleg*innen dagegen, die täglich kürzer arbeiten, haben im beruflichen Alltag mit Konflikten und Stress zu kämpfen, dem Frau Weber sich vor dem Hintergrund ihres Teilzeitmodells offensichtlich entzieht. „Und die Frau, die ich so im Kopf habe, die immer um […] um 3 Uhr raus musste, weil sie um halb vier ihre Tochter von der Kita abholen musste, die ist verrückt geworden, weil die einfach ihr Tagespensum nicht erledigen konnte […] Man macht sich keine Freunde und ist selber bei der Arbeit total unzufrieden, weil man nicht … ja, das passt nicht da rein. Dann hätte man ihr viel weniger Patienten geben müssen. Das funktioniert aber nicht, weil aufgrund des Ärztemangels wird man immer alles versuchen maximal auszuschöpfen.“ (Z. 608, Frau Weber)
Es scheint insofern berufliche Teilzeitstrategien zu geben, die erfolgreicher sind als andere. Voraussetzung bei Frau Weber ist, dass sie an den zwei vollen Arbeitstagen ihre nicht erwerbstätige Mutter in die Kinderbetreuung einspannen kann und aufgrund dieser Solidargemeinschaft befreit bleibt von Sorgearbeit. Doch auch unter den Pflegekräften gibt es ein außergewöhnliches Tauschverhältnis im Hinblick auf Teilzeitarbeit. Frau Grosse, examinierte Pflegekraft, realisiert ihre Rückkehr in den Beruf als Teilzeitkraft von Anfang an mit selbstbestimmter Arbeitszeitlage und -dauer. Die Entscheidung, als Ehefrau eines Arztes mit eigenen atypischen Arbeitszeiten wieder erwerbstätig zu werden und dies im Dreischichtsystem zu bleiben, steht von Beginn an unter deutlich selbstbestimmt formulierten Bedingungen: „Wo ich dann meinem potenziellen Arbeitgeber anbieten konnte, ich kann Mittwoch immer einen Frühdienst machen, Donnerstags immer einen Spätdienst. Egal, ob die Kinder krank sind oder nicht, weil die Betreuung ja dann durch meinen Mann gewährleistet ist […] Und zusätzlich habe ich gesagt, könnte ich noch ein Wochenende im Monat arbeiten. Und damit habe ich mich dann beworben.“ (Z. 24, Frau Grosse)
Nach längerem Suchen wird Frau Grosse auf einer 50 Prozent-Stelle zu diesen Bedingungen als examinierte Pflegekraft angestellt. Zunächst gelten dabei für sie die gleichen Tauschmechanismen wie beschrieben. Sie erhält einen Arbeitsvertrag mit der schriftlich fixierten Arbeitszeitdauer; Lage und Verteilung der Arbeitszeiten sind mündliche Absprachen mit der Stationsleitung, zu der Frau Grosse von Beginn an ein gutes Verhältnis pflegt. Nach einem halben Jahr möchte Frau Grosse den monatlichen Wochenenddienst jedoch nicht mehr übernehmen, da dieser vor dem Hintergrund der Wochenenddienste ihres Mannes zu viel Familienzeit fordert. Anders als beispielsweise Frau Zimmer, die auch mit
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geringeren Wochenarbeitszeiten noch Wochenenddienste übernehmen muss, befreit sich Frau Grosse von diesen durch eine informelle Absprache mit ihrer Stationsleitung. „Und dann habe ich mit meiner Chefin gesprochen und habe ihr gesagt, ich habe zwei Möglichkeiten. Entweder, ich hänge es ganz an den Nagel, oder wir gucken, dass diese Wochenenden irgendwie weggehen. Ich kann ihr anbieten, beispielsweise dienstags noch einen halben Tag dazu zu nehmen und dafür die Wochenenden wegzulassen, dann komme ich auf die gleiche Stundenzahl. Und sie meinte, nein, also sie möchte mich gerne als Mitarbeiterin behalten. Und hat sich darauf eingelassen.“ (Z. 50, Frau Grosse)
Das neue informelle Tauschverhältnis zwischen Frau Grosse und der Stationsleitung beruht nicht auf einem Gabentausch wie bei den anderen Teilzeitkräften, sondern unterliegt einer rein wirtschaftlichen Logik. So ist es nicht Frau Grosse, die um etwas bittet, sondern die ihre qualifizierte Arbeitskraft unter diesen spezifischen Bedingungen zum Tausch anbietet bzw. als Ganzes zur Disposition stellt. Auch Konflikte innerhalb des Arbeitsteams begegnet Frau Grosse mit der gleichen ökonomischen Logik, in dem sie sich als qualifizierte Fachkraft ins Feld führt, die nicht erwerbstätig sein muss bzw. dies nur unter selbstformulierten Bedingungen ist. So äußerten Kolleg*innen Unmut über ihre informelle Absprache mit der Stationsleitung, einen Tag in der Woche früher zu gehen, um ihre Tochter rechtzeitig von der Kita abzuholen. „Und ich habe irgendwann auch ganz klare Worte benutzt und habe gesagt: Passt auf, wenn euch das so sehr stört, ich kann auch gar nicht kommen. Aber dann habt ihr hier eine examinierte Kraft weniger, die mittwochs den Frühdienst macht. Wenn ihr das wollt? Ich kann auch gucken, dass ich weiter reduziere und um eins gehe. Aber dann habt ihr niemanden, der hier den kompletten Bereich übernimmt, sondern dann habt ihr nur jemanden, der zuarbeitet. Und das überlegt euch, ob euch das so sehr hilft.“ (Z. 309, Frau Grosse)
Deutlich wird, dass Frau Grosse sich stets als Marktsubjekt durchzusetzen weiß, dem in allen Entscheidungssituationen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dies wird jedoch nicht nur möglich, weil sie den Fachkräftemangel im Bereich examinierter Pflegekräfte für sich zu nutzen weiß, sondern auch weil sie auf die konkrete Stelle beziehungsweise auf Erwerbstätigkeit an sich nicht angewiesen ist. Frau Grosse ist bereits im Haushaltskontext über ihren erwerbstätigen Ehemann finanziell abgesichert. In dieser Hinsicht ähnelt Frau Grosse Herrn Wilke, ebenfalls Zuverdiener seiner beruflich erfolgreichen Ehefrau. Demgegenüber sind die Einkommen der ebenfalls examinierten Pflegekräfte Frau Reinhard
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und Herrn Wiesner im Haushaltskontext unverzichtbar: Frau Reinhard ist alleinerziehende Familienernährerin und Herr Wiesner trägt zum Haushaltseinkommen den gleichen Betrag bei wie seine Ehefrau. Andere Elternteile im Sample, deren Arbeitskraft schnell ersetzbar scheint, scheitern dagegen auch schon mal auf dem Arbeitsmarkt an dem Versuch, ein ungleiches Tauschverhältnisse einzugehen. So schaffte es die ehemalige Arzthelferin Frau Hotic – inzwischen als Stationssekretärin im Krankenhaus – nicht, ihren beruflichen Wiedereinstieg in die Arztpraxis nach einer Elternzeit in Teilzeit bei ihrem Vorgesetzten durchzusetzen, weil sie auf eine spezifische Arbeitszeitlage und -verteilung angewiesen war. Ihr Vorgesetzter ersetzte sie durch eine vollzeitarbeitende Auszubildende und eine 450-Euro-Kraft. In der Folge unterschrieb sie einen Aufhebungsvertrag und war ein Jahr arbeitssuchend. Zur Realisierung der informellen Teilzeit-Tauschverhältnisse im Betrieb bedarf es verschiedener Bedingungen, die im Material rekonstruiert werden konnten. Dazu zählen neben einem persönlichen Verhältnis zur*m Vorgesetzten auch die jeweiligen Stationskulturen, die von einer Interviewperson als „Mikrokosmos“ bezeichnet wurde. Im Folgenden wird dieser „Mikrokosmos“ dargestellt. 4.2.2 Die Stationskultur als „Mikrokosmos“ „Nein, das ist [...] fast ausschließlich unsere Abteilung. […] Das ist etwas, was sich unser Team an Oberärzten und so, was die sich explizit so ausgedacht haben. Das halten die auch aufrecht.“ (Z. 287, Herr Peters, Assistenzarzt)
Organisationen bestehen nicht nur aus hierarchischen Strukturen, formalen Vorgaben und einem niedergeschriebenen Regelwerk, sondern auch aus spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, informellen Handlungen und ungeschriebenen Regeln (Kühl 2010: 3). Das haben die Ausführungen zu den informellen Tauschverhältnissen bereits gezeigt. Dieses „Unterleben“ einer formalen Organisation jenseits der offiziellen Regeln, wie Goffman es einst nannte (Goffman 1973: 194), wurde von Pettigrew (1979) unter dem Begriff der Organisationskultur in die Organisationssoziologie eingeführt und als maßgeblich für das Handeln in Organisationen benannt. Mit Kühl gesprochen, sind Organisationskulturen Entscheidungsprämissen, also „Voraussetzungen, die für eine Vielzahl von Entscheidungen in Organisationen gelten“ (Kühl 2010: 3). Unterscheidbar wird die Organisationskultur von der jeweiligen Organisationsstruktur, wenn die mit der Kultur einhergehenden Erwartungen, beispielsweise die Erwartung von
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Vorgesetzen an die Beschäftigten Überstunden zu leisten, „nicht mit Bezug auf die Mitgliedschaftsbedingungen formuliert werden (oder werden können)“ (Kühl 2010: 3). Gleichwohl können informelle Erwartungen innerhalb einer Organisation mit Hilfe positiver wie negativer Sanktionierungen durchgesetzt werden, für welche das Prinzip von Tauschverhältnissen eine zentrale Rolle spielt. Dennoch ist es wichtig, die Organisationskultur von der Informalität bzw. dem informellen Handeln innerhalb von Organisationen zu unterscheiden: während die Organisationskultur die „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ (ebd.: 12) innerhalb von Organisationen wiederspiegelt, bezeichnet Kühl die Informalität in Organisationen als die „prinzipiell entscheidbaren, aber nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ (ebd.: 4). Die oben dargestellten informellen TeilzeitTauschverhältnisse im Hinblick auf Arbeitszeitlage und -verteilung können somit als „nicht entschiedene Entscheidungsprämissen“ aufgefasst werden, was erstens deren prinzipielle Regulierbarkeit unterstreicht und zweitens auf die betrieblichen bzw. sozialpolitischen Regulierungslücken verweist. Die Informalität in Organisationen gehe nicht selten mit einer Abweichung vom offiziellen Regelwerk einher, so Kühl (Kühl 2010: 4ff). Informelle Handlungen in Organisationen sind somit Teil der Betriebskultur, diese geht aber nicht vollständig in ihnen auf. Die implizite Unterstellung des Begriffs der Organisationskultur ist die der universellen Gültigkeit für die Organisation als Ganzes. Dies steht jedoch im Wiederspruch zu jüngeren empirischen Studien (vgl. Klenner/Lott 2016, Weßler-Poßberg 2013)31 und lässt sich auch mit dem vorliegenden Material für den deutschen Krankenhaussektor wiederlegen. Wie das Eingangszitat des Assistenzarztes Herrn Peters verdeutlicht, sind Krankenhäuser als große Organisationen viel mehr durch eine Vielzahl an Stationskulturen geprägt, die zum Teil sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Wie die Dienstpläne auf den Stationen erstellt werden, ob mit oder ohne Mitbestimmung der Pflegekräfte und Ärzt*innen, oder wie bzw. ob dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf Relevanz beigemessen wird, ist von Station zu Station verschieden. Nicht selten gehen zudem einzelne medizinische Fachabteilungen Hand in Hand mit bestimmten Stereoty-
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So haben Klenner/Lott (2016) unterschiedliche Arbeitszeitnormen und Werte im Sinne des „ideal workers“ für unterschiedliche Beschäftigtengruppen aufgearbeitet (Klenner/Lott: 6f) und Weßler-Poßberg hat in ihren empirischen Fallstudien nachgewiesen, dass je nach Qualifikationsstruktur und Tätigkeitsfeld der Beschäftigten innerhalb unterschiedlicher Unternehmen und Verwaltungen verschiedene Vereinbarkeitsinstrumente zum Einsatz kommen und somit auch verschiedene Kulturen der Vereinbarkeit ihre Gültigkeit haben (Weßler-Poßberg 2013: 365).
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pen, die auch, aber nicht nur geschlechtsspezifisch relevant sind: So taucht die Chirurgie wiederholt im Sample als renommierte, gleichzeitig stark männlich konnotierte Fachabteilung auf, die von starren Arbeitszeiten und einer hohen Anwesenheitspflicht gekennzeichnet ist (vgl. Vader 2016: 39). „Das muss einfach weg gehen von starren Arbeitszeiten, sondern hin mehr so zu mehr Flexibilität, was das angeht. Und es muss auch einfach akzeptierter werden, also generell. Weil so diese Chirurgen, die realisieren das nicht. Das ist denen … man muss sein Leben in der Klinik fristen, ja, wenn man was erreichen will, muss man die ganze Zeit arbeiten.“ (Z. 631, Herr Peters, Assistenzarzt)
Demgegenüber erscheinen alternative, integrative medizinische Abteilungen als weniger anerkanntes, da nur additives Fach, welches überwiegend von Ärztinnen ausgeübt wird und gut mit Fürsorgeverpflichtungen vereinbar sei (ebd.). Ob in die eine oder andere Richtung, die unterschiedlichen Stationskulturen kommen wie die Organisationskultur als „unentscheidbare Entscheidungsprämissen“ daher. Sie sind nichts Statisches oder Gegebenes, sondern reproduzieren sich im Handeln der betrieblichen Akteure vor dem Hintergrund kultureller Wahrnehmungs- und Deutungsschemata und nehmen so Einfluss auf die betriebliche „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter hinsichtlich der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Stationskulturen können in Anlehnung an das Zitat von Herrn Reuschenbach als „Mikrokosmos“ umschrieben und begriffen werden: „Ich gehe da gerne hin. Das macht jetzt aber nicht den Arbeitgeber aus, sondern das hat natürlich ganz viele indirekte Einflüsse. […] Aber das macht wirklich mehr die Funktionalität dieses Mikrokosmos eigene Abteilung aus, zu dem, was es für mich ist [Herv. K.M.]“ (Z. 217, Herr Reuschenbach, Oberarzt). Der Mikrokosmos, ein Begriff, der aus dem Griechischen auch mit „kleiner Weltordnung“ übersetzt werden kann, steht in der Philosophie für einen Ausschnitt aus der Welt, in dem sich die Ordnung des Makrokosmos wiederspiegelt (vgl. Gatzemeier/Holzey 1980). Gleichzeitig funktioniert der Mikrokosmos für sich allein und bleibt für andere, vermeintlich Nichtmitgliedern der Organisation bzw. Station unzugänglich. Die Stationskulturen lassen insofern als ‚kleine Weltordnung‘ durchaus Rückschlüsse auf die Funktionslogik der Organisation Krankenhaus als ‚große Weltordnung‘ insgesamt zu. Indem die eigene Stationskultur stets von der Organisationskultur als spezifisch anders abgegrenzt wird, kommt die Abweichung der jeweiligen Stationskulturen als Charakteristikum der organisationsübergreifenden Betriebskultur im Krankenhaus daher. Das gilt auch für die organisationsübergreifenden Abteilungen, wie die Verwaltungen.
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„Nein, das ist nur unsere Abteilung. Also das ist fast ausschließlich unsere Abteilung. […] Das ist etwas, was sich unser Team quasi an Oberärzten und so, was die sich explizit so ausgedacht haben. Das halten die auch aufrecht. Genau. Da haben wir starke Interessenvertreter. Auch vor der Verwaltung, die natürlich wollen, dass wir hier … ja, denen ist das wurscht.“ (Z. 287, Herr Peters, Assistenzarzt)
Prägend für die spezifische Stationskultur sind einzelne Persönlichkeiten, ihre Handlungen, aber auch ihr Charakter. Überwiegend sind das die jeweiligen Vorgesetzten der Station, in seltenen Fällen auch mal ein*e besonders engagierte*r Personalrät*in, wie bei den interviewten Müttern im Reinigungs- und Versorgungsdienst. Aber auch die Zusammensetzung des Teams auf der jeweiligen Station wird als prägend für die Stationskultur genannt. „Ich glaube aber, dass sie [die Stationsleitung, Anm.K.M.] da auch sehr offen ist, gerade auch für so was, wie verteile ich Arbeit, wie strukturiere ich Arbeit, um … Das ist ja oft, ich finde, im Krankenhaus sind die Leute da sehr unflexibel. Das ist total verrückt. Ich meine, die Arbeit ist ja immer da, ne? […] Und es ist aber total schwierig, da andere Dienstzeiten und das so ein bisschen offener zu ziehen. Das liegt natürlich auch an Stationsleitungen, natürlich, aber es liegt auch an den Leuten, die da arbeiten.“ (Z. 262, Frau Reinhard, examinierte Pflegekraft)
Die Relevanz des Arbeitskollegiums tauchte bereits bei den informellen TeilzeitTauschverhältnissen auf, etwa wenn informell Dienste untereinander getauscht werden (vgl. Kap. 4.2.1.). Prägend für die Stationskulturen erscheinen auf Ebene der Arbeitskolleg*innen darüber hinaus spezifische nationalstaatliche Stereotype und Vorurteile. So glaubt die Hebamme Frau Müller beispielsweise, dass ihre polnischen Arbeitskolleg*innen weniger standfest beim Artikulieren gemeinschaftlicher Arbeitnehmer*inneninteressen gegenüber der Klinikleitung seien. „Wir haben viele polnische Kolleginnen, die sind natürlich noch so ein bisschen obrigkeitshöriger, die trauen sich dann nicht so. Oder es dann wirklich auch nicht nur untereinander, sondern [die berufliche Überlastung, Anmerk.K.M.] nach oben zur Pflegedienstleitung, zur Chefin zu transportieren.“ (Z. 347)
Für die Frage von kollektivem Handeln innerhalb von Organisationen ist eine solche Wahrnehmung jedenfalls nicht bedeutungslos. Je nachdem, welche Wertschätzung dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Beispiel durch die Vorgesetzten beigemessen wird, eröffnen oder verschließen sich Handlungsoptionen für die befragten Elternteile. So blieb eine
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Teilzeitbeschäftigung für Herrn Wilke auf seinen vorherigen beruflichen Stationen bisher immer unvorstellbar: „In meinen Jobs zuvor hätte ich es mir nicht vorstellen können. Ja, also als normaler Internist war ich ein halbes Jahr und einmal fünf Jahre im Krankenhaus, und dann war ich ein halbes Jahr in der Chirurgie. Und dann als Hausarzt ist es ja sowieso dann anders. […] Aber mit allen Krankenhausabteilungen, diesen drei, die ich da kennengelernt habe, hätte ich es mir gar nicht vorstellen können.“ (Z. 117, Herr Wilke, Oberarzt)
Erst auf der integrativen medizinischen Station, auf die er nach seiner Rückkehr aus der Elternzeit versetzt wird, ist eine Teilzeitbeschäftigung für ihn als männlicher Arzt denkbar und von Seiten des Krankenhauses realisierbar. Das dortige gute und persönliche Verhältnis mit dem Kolleg*innenkreis sowie die Persönlichkeit seines Chefarztes, dem familienfreundliche Arbeitsbedingungen wichtig erscheinen, prägen die dortige Stationskultur: „[Auf den vorherigen Krankenhausabteilungen, K.M.] wurden keine Oberärzte geduzt, geschweige denn Chefärzte. Die haben auch nichts aus dem Urlaub erzählt oder was Persönliches. Und ich weiß noch, als ich neu war hier, hat es mich echt überrascht, dass die sich duzen und dass die dann auch fragen: Wie war’s im Urlaub? Und dann auch tatsächlich einen angucken und eine Antwort erwarten und einen ausreden lassen. Und nicht so bloß als Floskel so – schön, ja gut, machen wir weiter … Und dieses Klima war da ganz anders.“ (Z. 124, Herr Wilke, Oberarzt)
Während die Art und Weise, wie oder ob Kolleg*innen über private Angelegenheiten reden, tatsächlich als von der Organisation „unentscheidbare Entscheidungsprämissen“ daherkommen, sind auch Aushandlungen von informellen Handlungsoptionen zwischen der*m Vorgesetzten und einzelnen Beschäftigten fester Bestandteil des „Mikrokosmos Stationskultur“ in den Krankenhäusern. Diese umfassen Themen, die von Seiten der Gesamtorganisation prinzipiell ungeregelt geblieben sind. Die Wahrnehmung der Interviewpersonen, dass betriebliche Handlungsoptionen primär durch den*die Vorgesetzten zugänglich sind, spiegelt sich auch im organisationalen Handeln der Elternteile wieder. Diese suchen zuerst den Kontakt zu den direkten Vorgesetzten – beim ärztlichen Personal sind dies die Chefärzt*innen, beim Pflegepersonal die Stationsleitungen, beim Verwaltungspersonal die*der Abteilungsleitende – und vermeiden sogar Kontakt mit den formalen Ansprechpersonen. Das führt dazu, dass im Material kaum von persönlichem Kontakt zwischen den Beschäftigten und den formalen Organisationsabteilungen, wie der Personalabteilung oder betrieblichen Interessensvertre-
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tungen, die Rede ist. Diese werden im Gegenteil nicht als Unterstützung im Hinblick auf die Gestaltung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen wahrgenommen. „Auch vor der Verwaltung, die natürlich wollen, dass wir hier … ja, denen ist das [Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Anmerk.K.M.] wurscht […] Also zumindest macht das den Eindruck. Man kennt die nicht. Die sind relativ anonym.“ (Z. 290, Herr Peters, Assistenzarzt) „Und zur Not halt die Pflegedienstleitung, dass man da vielleicht … Aber mit der Pflegedienstleitung ist immer so eine Sache, da geht man ja nicht so gerne hin.“ (Z. 821, Frau Hotic, Stationssekretärin)
Die Elternteile in der Verwaltung, der Pflege und im ärztlichen Dienst schreiben im Umkehrschluss die betrieblichen Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf allein dem individuellen Handeln der Vorgesetzten zu. „Aber das liegt an meinem persönlichen Chef. Das hat nichts mit der Klinik zu tun, sondern das ist tatsächlich der persönliche Vorgesetzte“ (Z. 370, Frau Schubert, Physiotherapeutin). Eine erwähnenswerte Ausnahme stellen die interviewten Mütter im Versorgungsdienst (Reinigung und Catering) dar, deren Anliegen hinsichtlich von Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sich an die betriebliche Interessensvertretung richten. Erstaunlicherweise handelt es sich hierbei um die einzige Verknüpfung von Themen einer familienfreundlichen Arbeitswelt mit Betriebsund Personalrät*innen von Seiten der befragten Elternteile im Sample. 32 Übereinstimmungen aller Beschäftigtengruppen zeigen sich in den Schilderungen und Bewertungen der Gesamtorganisation Krankenhaus darin, dass die Mütter und Väter im Sample glauben, dass eine Unterstützung von Seiten ihres
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Auch wenn sich hier eine stärkere Relevanz von betrieblicher Interessenvertretung bei Beschäftigtengruppen mit geringer Qualifikation andeutet, muss darauf hingewiesen werden, dass die befragten Beschäftigten im Versorgungsdienst (im Bereich Reinigung und Catering) eine Positivauswahl darstellen, nicht zuletzt weil der Kontakt zu den Interviewpersonen über gewerkschaftliche Kontakte hergestellt wurde. Im gleichen Krankenhaus sind weitere Reinigungskräfte über eine ausgelagerte Tochtergesellschaft beschäftigt, deren Beschäftigungsbedingungen sich von den interviewten Elternteilen unterscheiden dürften. Der betriebliche Zugang zu diesen Angestellten war nicht möglich.
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Arbeitgebers stets eigeninitiativ eingefordert werden müsse. „Und es ist auch nicht so, dass das vermittelt wird, sondern da musst du dann, wenn du da […] eine Problematik hast betreuungsmäßig […] da müsstest du dich selber praktisch dranhängen. Und ich denke auch nicht, dass da irgendwie da großes Entgegenkommen ist“ (Z. 190, Frau Müller, Hebamme). Hinzu kommt, dass die Krankenhäuser als an Profitmaximierung orientierte Wirtschaftsunternehmen wahrgenommen werden, die nicht per se ein Eigeninteresse an einer arbeitnehmerorientierten oder gar familienfreundlichen Personalpolitik hätten. „Im ganz Großen ist es im Endeffekt ein Betrieb wie jeder andere, wo es um … also das ist, wo es auch um Geld geht. Und da wird nicht so viel Rücksicht auf die Familie genommen“ (Z. 490, Frau Reinhardt, examinierte Pflegekraft). Vor diesem Hintergrund werden selbst die Organisationen, die familienfreundliche Maßnahmen wie Betriebskitas im Programm haben, kritisch beurteilt: „Also.. es ist ein wirtschaftlicher Konzern. […] Und das merkt man, ne? Die sparen, wo es geht. Klar, die machen da ihre Anreize, aber das machen die aus reinem Egoismus. Das ist jetzt nicht irgendwie so’n.. Freudentaumel. Die machen das gut, keine Frage oder für meine Situation gut. Grundsätzlich glaub ich aber, sind die sich selbst am nächsten.“ (Z. 419, Frau Schubert, Physiotherapeutin) „Na ja, das ist ein Konzern, der sehr daran interessiert ist, dass die Leute schnell wieder kommen, dass sie wenig Ausfälle haben und sie zahlen deswegen.. ich glaube, 150 Euro im Monat extra, wenn man […] nicht die ganze Elternzeit ausschöpft. […] Grundsätzlich glaube ich, haben die das mit der Betriebskita auch schon gemacht, damit die Leute kommen und flexibel sind und da arbeiten und die nicht so viel Ausfälle haben und so weiter.“ (Z. 405, Frau Schubert, Physiotherapeutin)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Mikrokosmos der Stationskultur in Krankenhäusern über Abgrenzung funktioniert, Abgrenzung von anderen Stationen, aber auch Abgrenzung von der Gesamtorganisation, ihren offiziellen Strukturen und formellen Regeln. Zwar werden individuelle Regelungen und informelle Lösungen für beispielsweise eine flexiblere Handhabung der Arbeitszeitgestaltung auf den Stationen gefunden – wie man an den informellen TeilzeitTauschverhältnissen sehen kann. Voraussetzung dafür ist aber, dass der*die jeweilige Vorgesetzte dies ermöglicht oder es besonders engagierte Betriebs- oder Personalrät*innen gibt. Darüber hinaus trägt der „Mikrokosmos“ der Stations-
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kultur durch die Ermöglichung solcher Ausnahmen in erster Linie zu ungleichen „Wahlfreiheiten“ für Mütter und Väter im Betrieb bei. In welcher Form ein persönliches Verhältnis zur*m Vorgesetzten den betrieblichen „Mikrokosmos“ der Stationskulturen prägt, informelle TeilzeitTauschverhältnisse (nicht) ermöglicht und somit Einfluss auf die „Wahlfreiheit“ der Mütter und Väter nimmt, ist Gegenstand des folgenden Unterkapitels. 4.2.3 Gleiche Regeln für alle? Das persönliche Verhältnis zur*m Vorgesetzten „Ich habe eine wundervolle Chefin, also meine Teamleitung ist sehr verständig, was dieses ganze Familie und so weiter angeht. Die hat selber vier Kinder.“ (Z. 42, Frau Grosse, examinierte Pflegekraft)
Organisationen sind hierarchisch aufgebaute Gebilde, die sich über die Zugehörigkeit von Organisationsmitgliedern von ihrer Umwelt abgrenzen und idealtypisch entlang bürokratischer Regeln funktionieren. Max Weber sah vor allem in der ‚Unpersönlichkeit‘ (bürokratischer) Organisationen eine historische Errungenschaft (Weber 2080 [1972]: 125), durch die Organisationen ein Bild scheinbarer Neutralität anhaftete. Auch Krankenhäuser sind wie öffentliche Verwaltungen oder Unternehmen der Privatwirtschaft hierarchische Organisationen, innerhalb derer beispielsweise das Verhältnis zwischen den Beschäftigten und den jeweiligen Vorgesetzten rollenförmig organisiert und strukturiert ist. Gleichzeitig sind Organisationen Orte, an denen Strukturen auf handelnde Akteure treffen (und umgekehrt). Die feministische Organisationsforschung wies zuerst darauf hin, dass Organisationen letztlich als das Zusammenspiel von Strukturen und Akteuren und deren Praxis verstanden werden müssten (z.B. Kanter 2010 [1977], Acker 1990, Halford et al. 1997). Demnach sind Organisationen das Ergebnis sozialer Praxis, innerhalb der auch Kategorien sozialer Ungleichheit relevant werden, wie Acker dies für die „gendered substructures“ (Acker 1990: 146) beschrieben hat. Die Erkenntnis, dass Organisationen durch spezifische organisationale Praktiken geprägt sind und weniger durch bürokratische Strukturen, spiegelt sich auch im vorgefundenen Material wieder. Dort erscheint ein persönliches und kein rollenförmiges Verhältnis zur*m unmittelbar Vorgesetzten immer wieder als relevante Bedingung für die Ausgestaltung der individuellen „Wahlfreiheit“ der befragten Mütter und Väter, etwa für die Ausgestaltung und Mitbestimmung
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von Teilzeitarbeit. Dies gilt jedoch nicht für alle Beschäftigtengruppen gleichermaßen: Anders als beim befragten Personal in Pflege, ärztlichem Dienst und Verwaltung, lässt sich bei den befragten Müttern im Versorgungsdienst kein persönliches Verhältnis zu dem oder der Vorgesetzten rekonstruieren, wenngleich in diesem Fall ein ähnlich personalisiertes Verhältnis zu der Personalrätin besteht. Für das Personal in Pflege, ärztlichem Dienst und Verwaltung sind nach Darstellung der Interviewpersonen die jeweiligen Stationsleitungen, Chefärzt*innen und Abteilungsleitungen die ersten Ansprechpersonen innerhalb des Krankenhauses, wenn es etwa um die Inanspruchnahme und Ausgestaltung von beruflichen Ein- und Ausstiegen geht. So erläutert Herr Wilke: „Also formal muss natürlich der Professor dann zuerst angesprochen werden, der Chefarzt als Chef der Abteilung und der delegiert das dann natürlich an seine Oberärzte“ (Z. 78, Herr Wilke, Oberarzt). Frau Hotic erläutert: „Also für mich ist dann die Stationsleitung, die Jutta immer … für alles eigentlich ist sie mein Ansprechpartner. Ob nun Gutes oder Schlechtes“ (Z. 650, Frau Hotic, Stationssekretärin). Aber auch persönliche Probleme und individuelle Belange werden in der organisationalen Praxis häufig zuerst mit der*m Vorgesetzten besprochen. So berichtet zum Beispiel Herr Demirci früh von der anstehenden Trennung von seiner Frau und den damit einhergehenden Konsequenzen, der Alleinverantwortung gegenüber den beiden Kindern: „Genau, ich bin zu meinem Chef gegangen und habe gesagt: Eine Mega-Kack-Situation. Da wusste ich aber auch noch gar nicht, wie sich das so entwickelt. Also das habe ich relativ am Anfang schon [gemacht]“ (Z. 306, Herr Demirci, Oberarzt). Vor dem Hintergrund des „Mikrokosmos“ Stationskultur, in dem stations- oder abteilungsübergreifende Ansprechpersonen so gut wie keine Rolle im betrieblichen Alltag spielen, erhält die Ausgestaltung und Intensität der Beziehung zur Führungskraft als eine persönliche für die Elternteile eine besondere Konnotation – mit ihr steht und fällt der Zugang zu formalen und informellen Handlungsoptionen im Betrieb. Als Bedingung für ein gutes persönliches Verhältnis zur*m Vorgesetzten wird im Material wiederkehrend soziale Ähnlichkeit genannt. Diese kann sich, wie im Eingangszitat von Frau Grosse deutlich wird, auf eine ähnliche persönliche Lebens- bzw. Familiensituation beziehen, weil Sorgeverantwortung gegenüber Kindern existiert und gelebt wird. Unterstellt wird dabei, dass eine ähnliche Lebenssituation (Mutter/Vater sein) Verständnis erzeugt für sorgebedingte Einschränkungen der Erwerbsarbeit oder zu ähnlichen beruflichen und betrieblichen Bedürfnissen führen, etwa dem Wunsch nach mitbestimmten Dienstplänen.
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„Und ich denke aber auch, dass das [Verständnis für Familienfragen, Anmerk.K.M.] etwas ist, was meine Oberärzte auch erkannt haben, wo ich jetzt arbeite. Die machen das … das sind selber alles Väter und Mütter, also von daher, die wissen schon genau, wie das ist.“ (Z. 256, Herr Peters, Assistenzarzt) „Also ich habe das [die Teilzeitbeschäftigung, Anmerk.K.M.] mit meinem Chef abgesprochen. Wie gesagt, der hat ja seine acht Kinder. […] Also drei mit der ersten Frau und dann aktuell fünf Kleine aber auch. Der ist sehr familienorientiert, sehr familienfreundlich und hat sofort gesagt: Natürlich, das machen wir möglich!“ (Z. 201, Frau Weber, Assistenzärztin) „Der [Chef, Anmerk.K.M.] hat sogar einen Sohn im Alter meiner ältesten Tochter. Da hatte man auch immer mal bei irgendeiner Fahrt zu einem Termin wieder das Gespräch, was die so alles tun und lassen.“ (Z. 598, Frau Bergmann, Juristin in der Verwaltung)
Umgekehrt stehen fehlende Ähnlichkeiten in der familialen Lebenssituation einem persönlichen Verhältnis zur*m Vorgesetzten in der Wahrnehmung der Interviewpersonen entgegen. So ist sich Frau Weber sicher, dass ihre Anfrage nach einer Teilzeitstelle im Nachgang zu ihrer Elternzeit von ihrem neuen Chef anders gehandhabt werden würde: „Jetzt der neue Chef ist ein anderes Kaliber, hat auch gar keine Kinder. Es würde da gar nicht mehr ankommen, die ganze Nummer“ (Z. 276, Frau Weber, Assistenzärztin). Soziale Ähnlichkeit und damit ein gutes persönliches Verhältnis zur Führungskraft beruht im Sample zumindest bei den hochqualifizierten Vätern aber auch auf beruflicher Performanz, also dem Erbringen beruflicher Leistungen. So berichtet der Oberarzt Herr Reuschenbach beispielsweise von einem ‚freundschaftlichen‘ Verhältnis zu seinem Chefarzt, der ihn bei einem Klinikwechsel mitgenommen hat an das neue Haus. „Und ja, da fühle ich mich auch sehr wohl, weil es […] ein super Chef ist. Der hätte mich auch nachts um drei Uhr anrufen können, dann hätte gesagt, ja … Also zu dem auch eher schon ein freundschaftliches Verhältnis gewachsen ist, nettes Kollegium, sehr gute Stimmung“ (Z. 35, Herr Reuschenbach, Oberarzt). Die Tatsache, dass Herr Reuschenbach mit seinem Chef gemeinsam den Wechsel vollzogen hat, kommt der Anerkennung seiner vorherigen beruflichen Performanz gleich und ist gleichzeitig Grundlage für seine Entscheidung, am neuen Haus keine (erneute) Elternzeit für das zweite Kind zu nehmen. Da es für Herrn Reuschenbach vielmehr eine „Frage der Loyalität“ (Z. 11) war, kein Gebrauch seiner väterlichen Rechte zu machen, scheint das „freundschaftliche“ persönliche Verhältnis zum Chefarzt auf der Erbringung beruflicher Performanz
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zu basieren. Und auch das persönliche Verhältnis zwischen Chefarzt und dem weiter oben zitierten alleinerziehenden Herrn Demirci scheint auf beruflicher Performanz zu beruhen. Zwar erhält Herr Demirci im Nachgang zur Trennung von seiner Ex-Frau im Beruf mehr Flexibilität hinsichtlich seiner Arbeitszeiten, die Alleinverantwortung gegenüber seinen beiden Kindern in Einklang mit seinen beruflichen Anforderungen zu bringen, weniger berufliche Performanz zeigt Herr Demirci in dieser Lebensphase aber dennoch nicht: „Also ich habe Flexibilität verlangt und habe aber da, wo ich was geben konnte, aber auch wirklich alles gegeben. Was darin endete, dass ich dann selber unter Volldampf dann irgendwo stand. Aber ich glaube, das ist dann auch so honoriert worden“ (Z. 333, Herr Demirci, Oberarzt). Allerdings, so lässt sich im Material rekonstruieren, beruht berufliche Performanz auf Anerkennung durch die Vorgesetzten, die diese auch verweigern können, wie das Beispiel von Herrn Kowak zeigt. Die Anerkennung beruflicher Leistungen durch die Führungskraft trägt aber nicht unwesentlich zur betrieblichen Verhandlungsmacht – und damit zu „Wahlfreiheit“ – des Elternteils bei. Herr Kowak, polnischer Staatsbürger, arbeitet seit seiner Facharztausbildung in Deutschland. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er mit einem Konflikt mit seiner Chefärztin konfrontiert. Diese unterstellt ihm fehlende berufliche Performanz im Sinne einer subjektivierten Arbeitsweise, sein Charakter passe nicht zum Beruf. Allerdings legt das Material nahe, dass dies eine Behauptung der Chefin ist und es auf der ‚Hinterbühne‘ andere Gründe für den Konflikt geben muss: „Ja, also ich weiß nicht, ob ich bis März da bleibe. Das entscheidet sich dann in den nächsten Tagen, weil die Chefin irgendwie nicht zufrieden ist. […] Und wir hatten schon ein Gespräch, und da hat sie schon so geäußert, dass sie nicht zufrieden ist und wir haben ein zweites Gespräch diese Woche. Interviewerin: Okay, und hat sie konkrete Gründe genannt? Herr Kowak: Ja, dass ich mich nicht so gut präsentiere […] Kann ich nicht wirklich beantworten. […] Interviewerin: Sie meint jetzt im Kontakt mit den Patienten? Herr Kowak: Ja, obwohl sie das nicht weiß, also wie ich … was für einen Kontakt ich zu den Patienten habe. Dass ich irgendwie zu schüchtern bin und das bin ich auch.“ (Z. 84, Herr Kowak, Assistenzarzt)
Herr Kowak berichtet im Gespräch wiederholt von keinem guten Verhältnis zu seinen Vorgesetzten und wechselt während der Facharztausbildung unter anderem aus diesem Grund häufiger die Klinik. Rat und Informationen zu diesem
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Konflikt holt sich Herr Kowak über sein berufliches Netzwerk zu anderen polnischen Angestellten der Klinik: „Also wir haben auch eine polnische Oberärztin im Haus, die auch gesagt hat, dass die Chefin sich überlegt, und die meinte, die macht das nicht [eine Kündigung aussprechen, Anmerk.K.M.]. Aber die hat auch keinen Einfluss auf sie“ (Z. 155). Schließlich erscheint in den Gesprächen mit den Interviewpersonen noch eine dritte Dimension für ein persönliches Verhältnis zur*m Vorgesetzten. Relevant ist auch, ob die Führungskraft unabhängig von seiner*ihrer eigenen persönlichen oder familialen Situation der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Bedeutung beimisst. Hier ließe sich die engagierte Personalrätin einordnen, zu der die Reinigungskraft Frau Günes ein persönliches Verhältnis pflegt und die sich für eine familienbedingte Arbeitszeitanpassung von Frau Günes innerhalb der Organisation einsetzt. Auch der Oberarzt Herr Wilke berichtet von seinem engagierten Vorgesetzten, der sich gar in öffentlich-politische Debatten einmische. „[Mein] Professor macht sich viele Gedanken über die Zukunft des Medizinberufs und mit Teilzeit und Generation Y und was noch? Der hat da auch […] einen Leserbrief zu geschrieben, der dann auch publiziert wurde. Weil zuvor ein Krankenhausplaner und Chirurg einen recht zynischen Artikel geschrieben hat. Die jungen Ärzte, die wollen ja alles, nur die wollen nicht mehr so sich einsetzen. Denen ist die Familie wichtiger. Und da ist dem Professor der Kragen geplatzt.“ (Z. 223, Herr Wilke, Oberarzt)
Hier scheinen sich positive Effekte einer staatlichen Sozial- und Familienpolitik abzubilden, die die Relevanz einer familienfreundlichen Arbeitswelt auch auf die einzelnen Betriebe hinunterreicht. Zumindest erhalten einzelne Personen, die sich für eine familienfreundlichere Betriebskultur stark machen, inzwischen vermehrt gesellschaftlichen Rückenwind. Zudem finden sich im Material Hinweise, dass manche Vorgesetzte Entscheidungen im Hinblick auf informelle Absprachen mit einzelnen Beschäftigten im Team rückbinden, um Transparenz über die eigenen Entscheidungen herzustellen und alle Angestellten gleichermaßen einzubinden. So wird beispielsweise die informelle Absprache zwischen Frau Hotic und der Stationsleitung, einmal in der Woche früher Feierabend machen zu können, mit allen im Pflegeteam besprochen. „Und von daher ist das eigentlich schön, dass man halt […] mit der Jutta, im Prinzip ja mit allen, wenn man so sieht, es sind ja alle, die dann zustimmen und dass sich keiner beschwert. Was anderes ist, wenn das halbe Team dann auf die Barrikaden geht und sagt,
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nee, so geht das hier aber nicht, dann würde das auch nicht gehen. […] Klar, man fragt die Chefin, aber es ist ja auch, ich sage jetzt blöd, wenn da drei Leute sagen, also nee, wir können auch nicht eher gehen, wieso kann die immer eher gehen, dann würde das auch nicht mehr gehen. Dann würde auch irgendwann kommen, tut mir leid, aber ab jetzt musst du dich daran halten.“ (Z. 694, Frau Hotic, Stationssekretärin)
Ausgangspunkt der informellen Absprachen bleibt aber stets das persönliche Verhältnis zwischen Führungskraft und Arbeitnehmer*in. Es ist daher fraglich, ob mit diesem Vorgehen der Stationsleitung wirklich der Eindruck von Willkür und Informalität vermieden oder primär eine Legitimierung nach außen erreicht wird. Festzuhalten bleibt, dass ein gutes persönliches Verhältnis zur jeweiligen Führungskraft Voraussetzung ist, um persönliche Belange überhaupt erst anzusprechen. Dies wird umso deutlicher dort, wo ein persönliches Verhältnis zur*m Vorgesetzten fehlt oder Rollenkonflikte zwischen einem persönlichen und rollenförmigen Verhältnis aufbrechen. Ein Beispiel dafür ist die examinierte Pflegekraft Frau Zimmer. Sie arbeitet mit 30 Prozent in geringer Teilzeit und möchte bei den wenigen Diensten im Monat keine Wochenenddienste übernehmen. Dies führt zu einem persönlichen Konflikt mit ihrer Stationsleitung, die selbst Kinder hat. „Also wir haben halt drei Stationsleitungen. Die erste Leitung ist kinderlos, die dritte Leitung ist kinderlos, und der andere ist Familienvater und weiß genau, dass er dann mehr arbeiten müsste. Und da ist natürlich dann oft schwierig, da ein Verständnis zu erzeugen“ (Z. 246, Frau Zimmer, examinierte Pflegekraft). Da Teilzeitkräfte, die aus den Wochenenddiensten herausgenommen werden, mehr Dienste von Vollzeitkräften zur Folge haben, wehrt die Stationsleitung, selbst Vollzeitkraft der Station, alle informellen Tauschversuche seitens Frau Zimmers ab. Personalmangel auf Station, die Vermischung von Aufgaben und Interessen einer Stationsleitung und zugleich angestellten Pflegekraft, aber auch das fehlende persönliche Verhältnis zwischen Frau Zimmer und ihrer Stationsleitung führen in der Konsequenz gar zu einem ungünstigeren Schichtplan für Frau Zimmer. „Er sagt, du hast eine Fünftagewoche, wie die fünf Tage aufgeteilt werden, ist egal. […] Er hat da überhaupt gar keine Einsicht drin. Bei ihm bin ich mir auch sicher, wenn er den Dienstplan schreibt, ist es absichtlich, dass ich jedes zweite Wochenende arbeiten muss“ (Z. 252, Frau Zimmer, examinierte Pflegekraft). Auch Frau Lohse, Ärztin in Facharztausbildung, findet sich in konflikthaften Auseinandersetzungen mit ihrer Chefärztin wieder, nachdem sich ihr Wiedereinstieg nach der Elternzeit in Vollzeit als Herausforderung entpuppt, weil sie aufgrund der Öffnungszeiten der Betreuungseinrichtung häufig erst verspätet zum
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Dienst im Krankenhaus erscheinen kann. Im Zuge einer, durch die Chefärztin angeregten, Arbeitszeitreduzierung versucht Frau Lohse, einen freien Tag in der Woche auszuhandeln, was zu erneuten Konflikten mit der Chefärztin führt, da diese die Arbeitszeiten flexibel nach den Bedürfnissen auf Station gestalten will. Frau Lohse fühlt sich von der Chefärztin in ihrer Sorgeverantwortung weder persönlich verstanden noch beruflich unterstützt. „Vom […] wir kriegen das schon hin, und ich bin ja selbst auch Mutter und was weiß ich. Hin zu, wie es dann im Alltag wirklich aussieht, wie viel Verständnis man dafür aufbringt, wenn es eben irgendwo einschränkend sein könnte in dem ganzen Ablauf. […] Ja. Da möchte man dann doch die höchste Flexibilität von seinem Arbeitnehmer. […] Gut, sie ist ja auch keine, die das jeweils so machen musste. Also sie hat … ihr Mann hat eben … war eben zu Hause und hat sich ums Kind gekümmert. Sie hatte volle Flexibilität, aber insofern […] man kann es ihr erzählen, aber es ist kein wirkliches Verständnis dafür da, sobald es einschränkend ist.“ (Z. 440, Frau Lohse, Assistenzärztin)
Während der Rollenkonflikt mit der Stationsleitung von Frau Zimmer auf die Vermischung von persönlichen Interessen mit beruflichen Aufgaben verweist, führen bei Frau Lohse die widersprüchlichen Aussagen und Anforderungen seitens der Chefärztin – volle Flexibilität als Führungskraft einfordern bei gleichzeitigem Verständnis gegenüber Sorgeverpflichtungen als Mutter – zu einer Vermischung der professionellen und privaten Rolle der Vorgesetzten. In der Konsequenz führt die Notwendigkeit eines guten persönlichen Verhältnisses zur*m Vorgesetzten zu ungleichen betrieblichen Bedingungen für die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit für die befragten Mütter und Väter. Sie erscheint als Voraussetzung, um persönliche Belange und familiale Bedürfnisse anzusprechen und beispielsweise arbeitszeitliche Rahmenbedingungen informell auszuhandeln. Auf diese Weise existieren auch innerhalb ein und derselben Organisation unterschiedliche Stationskulturen, die stark von der Persönlichkeit der einzelnen Führungskraft abhängen. Wenngleich bestimmte Elternteile zu einem guten persönlichen Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten etwas beisteuern können, entscheidet aus der Perspektive der meisten erwerbstätigen Mütter und Väter der Zufall über die Möglichkeiten zu bestimmten (informellen) Vereinbarkeitsarrangements. Die Vorgesetzten gelangen so in eine Rolle der ‚Ermöglicher*innen‘, deren Entscheidungen nicht selten willkürlich daherkommen. So berichtet Frau Scholz etwa von der sehr strikten Urlaubsregelung auf ihrer Station, nach der auch in den Schulferien stets nur zwei Ärzt*innen gleichzeitig fehlen dürfen. „An sich macht das eine von den Oberärztinnen, die Urlaubsplanung, aber sobald eine Ausnahme irgendwie ist, muss die
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Chefin ihr Okay geben, weil von ihr ja auch diese Regel aufgestellt wurde. Sie ist die Einzige, die als Dritte fehlen darf“ (Z. 184, Frau Scholz, Assistenzärztin). Darüber hinaus werden zahlreiche Entscheidungen im Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für einzelne Beschäftigte durch die Vorgesetzten wiederholend als ‚Ausnahmesituation‘ deklariert. Die hohen Entscheidungskompetenzen der jeweiligen Vorgesetzten bleiben so erhalten. „Das war zum Beispiel auch jetzt die Einschulung von meinem Sohn. Da waren dann zwei Leute schon in Urlaub. Und da habe ich dann die Chefin gefragt, ob sie eine Ausnahme macht. Und vorher haben alle rumgeunkt, dass sie das eh nicht machen wird. Und ich war schon total fertig. Und sie hat aber dann ganz selbstverständlich gesagt, dass es dafür eine Ausnahme gibt. Das heißt, da konnte ich dann trotzdem fehlen als Dritte und einen Tag Urlaub nehmen. Das hätte ich auch ganz schlimm gefunden, wenn sie nein gesagt hätte, muss ich sagen!“ (Z. 174, Frau Scholz, Assistenzärztin)
Auf diese Weise entstehen und verfestigen sich individuelle Abhängigkeit und willkürliches Handeln von Einzelpersonen im Betrieb, was am Fall von Frau Bergmann, Juristin in der Krankenhausverwaltung eines privaten Klinikverbundes besonders deutlich wird. Frau Bergmann arbeitet als Mutter von zwei Kindern Vollzeit, sie war viele Jahre die Ernährerin der Familie. Die Vollzeitarbeit in der Klinik ist ihr jedoch nur vor dem Hintergrund informeller Absprachen mit ihrem unmittelbar Vorgesetzten möglich – und dieser wechselte bereits mehrfach. „Also ich hatte irgendwann gebeten, dass ich das auch schriftlich haben kann, was ich aus der Rückkehr mit dem zweiten Kind mündlich von meinem Vorgesetzten immer bestätigt bekommen habe. Weil ich mir dachte, Personen wechseln. Bei uns wechseln die sehr oft. […] Und irgendwann kann ja auch mal einer ein Problem damit haben.“ (Z. 534, Frau Bergmann)
Frau Bergmanns Versuch, eine von Seiten der Organisation schriftliche Bestätigung hinsichtlich ihres flexiblen Arbeitens zu erhalten und sich damit unabhängig von dem ‚Goodwill‘ des persönlichen Vorgesetzten zu machen, scheiterte jedoch. „Und dann hatte ich tatsächlich die wahnwitzige Idee, dass ich das mal gerne schriftlich hätte. Und da war ich auch menschlich enttäuscht, dass man mir das nicht geben wollte.
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So nach dem Motto: Hat jemals jemand nein gesagt? Und so was machen wir nicht schriftlich.“ (Z. 539, Frau Bergmann)
Auf diese Weise bleibt Frau Bergmann gezwungen, die bestehende individuelle Absprache mit der vorherigen Führungskraft auch mit der neuen immer wieder neu herzustellen. Ihre informellen Beschäftigungsbedingungen als Voraussetzung ihrer Vollzeiterwerbstätigkeit werden mit jedem Vorgesetztenwechsel ungewiss, das Risiko dieser inoffiziellen Absprache trägt Frau Bergmann insofern allein. „Da sagt man dann auch immer mal – wenn es passt –, ich bin übrigens auch noch Mutter! […] sind da keine Chefs dabei gewesen, die so ein Frauenbild haben, von wegen, klar, sie können Kinder kriegen, so viel sie wollen, aber dann bleiben Sie doch bei denen zu Hause und tun Sie, was frau tun muss. Und bitte nicht hier rumlaufen und arbeiten.“ (Z. 596, Frau Bergmann) „Ja, aber das zeigt einem halt, dass man nie weiß, wer dann irgendwann das Gegenüber ist. ]…] Ich kann diese Leistung bringen, diese Verantwortung jobmäßig tragen, aber ich kann das auch nur, wenn ich diese Flexibilität habe, wenn das wirklich auch okay ist, dass ich mal was von zu Hause mache.“ (Z. 571, Frau Bergmann)
Letztendlich existieren auf jeder Station eines Krankenhauses wie in einem „Mikrokosmos“ unterschiedliche Voraussetzungen, Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachzukommen. „Es muss halt laufen auf Station. Aber ich weiß, dass das nicht Usus ist auf den Stationen, so ein Dienst, wie ich habe. Ja, also da habe ich Glück mit dem Team, dass die sagen, ja, das ist in Ordnung. Ja, und halt auch mit Jutta, die das überhaupt ermöglicht.“ (Z. 77, Frau Reinhard, examinierte Pflegekraft)
Gleiche Regeln für alle erwerbstätigen Elternteile sowie Möglichkeiten zu kollektivem Handeln innerhalb von Organisationen stellen sich jedenfalls anders dar. Stationsübergreifende betriebliche Akteure als feste Ansprechpartner würden das einseitige Abhängigkeitsverhältnis und die zahlreichen informellen Absprachen und Ausnahmeregelungen unterbinden und Transparenz sowie gleiche Ausgangbedingungen für alle Beschäftigten schaffen. „Na ja, es wäre schon schön, wenn es anders organisiert wäre, ne? […] Es ist ja immer so ein bisschen nebulös. Wo geht man jetzt hin? Wen fragt man, was klärt man, was nicht?
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Es gibt ja nicht eine Stelle, die konkret sagt, okay es ist so und so, das und das ist der Spielraum, so und so sind die Regeln. Wenn es das geben würde, wäre das natürlich eine Entlastung, denn im Grunde genommen bangt ja jeder um seinen Arbeitsplatz. Ne? Am Ende ist es immer so, ja wenn ich mich jetzt krank melde, was passiert dann? Ne? Stehe ich in der Gunst des Chefs oder nicht? Es ist immer abhängig vom Chef selbst und nicht vom Konzern, ne? Und das ist halt doof.“ (Z. 784, Frau Schubert, Physiotherapeutin)
4.2.4 Narrationen der beruflichen Performanz „Also ich hatte natürlich auch, sage ich mal, vorher bewiesen, dass ich hier gute Arbeit leiste.“ (Z. 390, Herr Demirci, Oberarzt)
Im Material lassen sich gemeinsame und wiederkehrende Legitimierungs- und Rechtfertigungsstrategien 33 von Elternteilen rekonstruieren, die mit der Inanspruchnahme sozialer Rechte und dem Ermöglichen bestimmter Vereinbarkeitsarrangements im Betrieb bzw. der Nichtinanspruchnahme und des Verunmöglichens im Zusammenhang stehen. Es handelt sich dabei um Narrationen der beruflichen Performanz, die die „Wahlfreiheit“ der Mütter und Väter sowohl erweitern als auch einschränken. Jedoch zeigen sich derlei Narrationen nicht bei allen Elternteilen im Sample, sondern nur bei den Hochqualifizierten, die gleichsam über einen hohen betrieblichen Status verfügen, wie die Ärzt*innen im Sample. Im Gegensatz dazu zeigen beispielsweise die vor dem Hintergrund eines absolvierten Studiums ebenfalls hochqualifizierte Frau Müller (Hebamme) und Frau Schubert (Physiotherapeutin) keine Narrationen der beruflichen Performanz. Narrationen sind sinnstiftende Erzählungen, die Aufschluss darüber geben, wie die Umwelt wahrgenommen wird und welche Werte und Normen in ihr Relevanz haben. Bei Narrationen handelt es sich insofern um etablierte Erzählungen, die mit Legitimität versehen sind und Prämissen gesellschaftlicher Logik offenbaren. Narrationen sind auf einen gemeinsamen Kulturkreis angewiesen
33
Gemeint sind nicht dem Subjekt bewusste und zur Erreichung eines bestimmten Zieles intentional eingesetzte Strategien, sondern latente Sinnstrukturen, die dem Unbewussten zuzurechnen sind und erst rekonstruiert werden müssen. Latente Sinnstrukturen geben nicht nur Aufschluss über den subjektiv gemeinten Sinn, sondern ermöglichen auch einen Zugang zu intersubjektiven Gesetzmäßigkeiten einer sinnstrukturierten Welt (vgl. Kapitel 3.2).
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und unterliegen historischem Wandel. Mit der beruflichen Performanz, auf die sich die Narrationen der Elternteile beziehen, ist die Verrichtung und Ausführung der Erwerbsarbeit sowie die Leistung bzw. Leistungsfähigkeit auf der konkreten Position im Betrieb gemeint.34 Die berufliche Performanz steht stets in einem Spannungsfeld mit den im Privaten zu verrichtenden Sorgeverpflichtungen. Gleichzeitig muss die gezeigte berufliche Performanz der Elternteile durch ein Gegenüber wahrgenommen werden und Anerkennung finden. Dies sind in dem hier untersuchten Forschungsfeld des Krankenhaussektors die unmittelbar Vorgesetzten, aber auch der Kreis der Kolleg*innen. Zwei Dimensionen des Narrativ lassen sich im vorliegenden Material unterscheiden, die zugleich geschlechts- und qualifikationsspezifisch daherkommen. Die einen nutzen das Narrativ, um zu zeigen, dass sie sich betriebliche Handlungsspielräume für Sorgearbeit vor dem Hintergrund ihrer (bisherigen) beruflichen Performanz verdient haben. Dabei taucht das Narrativ ausschließlich bei den hochqualifizierten Vätern im Sample auf, die als Arzt arbeiten und deren hoher betrieblicher Status sich zusätzlich aus einer Anstellung als Oberarzt speist. Wie das Zitat des Oberarztes Demirci zu Beginn zeigt, können so beispielsweise informelle Vereinbarkeitsarrangements für sich und vor der Umwelt legitimiert werden. So handelt der alleinerziehende Vater zweier Kinder zum Zeitpunkt der Trennung von der Ex-Frau mit seinem Chefarzt aus, dass er die Arbeitszeiten seiner Vollzeitbeschäftigung flexibler gestalten und Verwaltungsarbeiten von zu Hause erledigen darf. „Also ich habe Flexibilität verlangt und habe aber da, wo ich was geben konnte, aber auch wirklich alles gegeben. […] Ich glaube, das ist dann auch so honoriert worden, dass man das gesehen hat, dass nicht einer sagt, ich habe jetzt ein Problem und ich arbeite jetzt … verdiene voll und arbeite nur noch halb, ja, sondern dass man gesehen hat, okay, das was in seinem Rahmen möglich ist, dann macht man das auch.“ (Z. 333, Herr Demirci, Oberarzt)
Gleichzeitig werden soziale Rechte wie Elternzeiten mit Hilfe des Narrativs beruflicher Performanz überhaupt erst eingefordert bzw. in Anspruch genommen, wie das Zitat Herrn Reuschenbachs verdeutlicht, der seinen Antrag auf eine zweimonatige Elternzeit begründet.
34
Aufschlussreich für die hiesigen Zusammenhänge sind die im Duden angegebenen Synonyme der englischen Übersetzung „to perform“: Aktion, Happening, Schau, Spektakel und Spiel (Duden 2017: 846).
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„Das muss man sagen, war aber letzten Endes auch schon fast drei … nach dreijähriger Tätigkeit in der Abteilung, […] wo ich mich glaube ich jetzt auch nicht so schlecht angestellt habe. Und wo man auch irgendwie wusste gegenseitig, was man voneinander hat.“ (Z. 96, Herr Reuschenbach, Oberarzt)
Bedingung des Narrativs bei den hochqualifizierten Vätern mit hohem betrieblichem Status ist eine ausgeprägte Identifikation mit dem Beruf sowie als grundsätzlich erwerbstätiger Mann und Familienernährer. „Ich bin also mit Leib und Seele das, was ich mir beruflich ausgesucht habe und das ist ein toller Job, Anästhesist zu sein. Ich möchte nichts anderes machen“ (Z. 137, Herr Reuschenbach, Oberarzt). Die Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb bzw. auf der Station sowie der beruflichen Position sind für diese väterliche Variante des Narrativs entscheidend. So konnte Herr Reuschenbach beispielsweise auf seiner alten Stelle zwei Elterngeldmonate in Anspruch nehmen, sogar entgegen der ausdrücklichen Unterstützung seines damaligen Vorgesetzten, während er sich beim zweiten Kind aufgrund eines zwischenzeitlich stattgefundenen Arbeitgeberwechsels dazu nicht in der Lage sah. „Und ich habe keine erneute Elternzeit gegeben äh genommen, weil [ich] […] ein Jahr zuvor erst ans neue Haus gewechselt [war]. Wir mussten die komplette Abteilung ein bisschen ummodeln. Man war einer noch der Hauptpfeiler von den vier Kollegen, die mein Chef damals mitgenommen hatte, auf die er sich verlassen konnte.“ (Z. 107, Herr Reuschenbach, Oberarzt)
Für Herrn Reuschenbach war es vielmehr eine „Frage der Loyalität zu sagen, nicht jetzt“ (Z. 111). Während in vielen Fällen das Narrativ der beruflichen Performanz die betriebliche „Wahlfreiheit“ der hochqualifizierten Väter erweitert, verschließt es in anderen Konstellationen Handlungsoptionen – manchmal für ein und denselben Vater, wie das Beispiel Herrn Reuschenbachs zeigt. Tendenziell restringierend für die Handlungsoptionen von (hochqualifizierten) Vätern wirkt sich das Narrativ der beruflichen Performanz bei den jungen Vätern im Sample aus, die anders als die Oberärzte noch nicht lange berufstätig oder über lange Organisationszugehörigkeiten verfügen, wie es bei den Assistenzärzten häufig der Fall ist. Sie verlagern eine prinzipiell gewünschte und vorstellbare Inanspruchnahme von sozialen Rechten und Vereinbarkeitsinstrumenten wie Teilzeitarbeit stets in die Zukunft und wollen zuerst ihre berufliche Performanz unter Beweis stellen, bevor sie familienorientierte Ansprüche stellen. So erklärt sich,
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warum sich beispielsweise Herr Peters, Assistenzarzt und Vater eines zweijährigen Sohnes, zwar als familienorientiert wahrnimmt, zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes aber dem Berufseintritt in Vollzeit den Vortritt gewährt, ohne die Elterngeldmonate in Anspruch zu nehmen, und auch die Wünsche nach einem Geschwisterkind und mehr Zeit für die Familie seiner beruflichen Performanz unterordnet. „Zum einen haben wir uns überlegt, wann wir das Kind kriegen. Das ist jetzt nicht unmittelbar jetzt. […] Wir wollen aber dann doch … also ich sage auch, es wäre schon eher nett, wieder näher an dem Abschluss dieser Facharztgeschichte da, einfach, weil […] Es soll irgendwie eine Sicherheit da sein. […] Wie wollen wir das dann machen? […] Meine Frau also hat direkt gesagt, ich möchte dann nicht Vollzeit arbeiten. Und ich habe das für mich auch nicht vor, muss ich ganz ehrlich sagen. Also ich würde ganz gerne dann den Stellenanteil reduzieren, wie auch immer. Aber das dann halt auch erst, wenn ich Facharzt geworden bin. Genau.“ (Z. 501, Herr Peters, Assistenzarzt)
Ob Herr Peters seinem Teilzeitwunsch in der Zukunft nachgeben wird, bleibt jedoch ungewiss und ist, folgt man der Logik des Narrativs der beruflichen Performanz, nicht unbedingt wahrscheinlich. Die Konsequenz des Narrativs (in dieser ersten Dimension) ist die stete Ungewissheit ob der eigenen beruflichen Performanz. So erscheinen selbst bei dem Oberarzt Herrn Wilke Spuren von Unsicherheit, wenn er über sich selbst sagt: „Aber man muss ja zum einen sagen, dass es ja einen absoluten Ärztemangel gibt. Und zum anderen ist es so, dass die auch froh sind… sagen wir so, ich scheine mich hier jetzt so einigermaßen geschickt anzustellen [Herv. K.M.]“ (Z. 526, Herr Wilke, Oberarzt). Berufliche Performanz benötigt die Wahrnehmung, Bestätigung und Anerkennung von außen – durch Dritte. Innerhalb von hierarchisch strukturierten Organisationen wie Krankenhäusern kommt daher neben dem Kolleg*innenkreis den unmittelbar Vorgesetzten eine herausgehobene Rolle zu. Die Notwendigkeit der Performanz für oder vor jemanden hört insofern prinzipiell niemals auf, sie muss erkennbar bleiben und sich stets wiederholen. Hinzu kommt, dass diese Ungewissheit auf Seiten der Väter Ausgangspunkt für persönliche Abhängigkeiten von der Person bedeutet, die Anerkennung erzeugen kann: den Vorgesetzten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese erste Dimension des Narrativs der beruflichen Performanz die „Wahlfreiheit“ der hochqualifizierten Väter mit hohem betrieblichen Status sowohl erweitert, indem sie ihnen als subjektive Rechtfertigungsstrategie dient und als Anspruchshaltung gegenüber dem Betrieb im Nachgang zu der Anerkennung der eigenen beruflichen Leistungen von au-
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ßen taugt. Gleichzeitig verschließt das Narrativ väterliche Handlungsspielräume für Sorgearbeit, nämlich für junge, hochqualifizierte Ärzte oder nach beruflichen Veränderungen wie einen Arbeitgeber- oder Positionswechsel sowie grundsätzlich durch die entstehende Abhängigkeit der Anerkennung durch die Vorgesetzten. Bei den hochqualifizierten Müttern im Sample zeigt sich das Narrativ der beruflichen Performanz in einem anderen Licht. Hier dient das Narrativ als Nachweis, dass existente Sorgeverantwortung nicht zur Einschränkung der beruflichen Performanz führt. Berufliche Performanz von Müttern wird gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Sorgearbeit. So berichtet Herr Wilke beispielsweise von einer Ärztin: „Ich hatte eine Kollegin, die war in Teilzeit wegen ihrer Tochter […] die war halt so ein Duracell-Männchen, die war fachlich sehr beschlagen, die war unglaublich schnell und auch stand die mit allen Oberärzten sich sehr gut persönlich. Die hat das geschafft. Die hat dann irgendwie jeden Tag eine Stunde Überstunden gemacht und hat dann da sich wirklich die Hacken abgerannt und hat dann die Arbeit bewältigen können mit diesen Überstunden und zusätzlich Ärger mit der Kita, weil sie schon wieder das Kind zu spät abgeholt hat. Und die andere, die stand mit den Oberärzten nicht so gut und war nicht so weit fortgeschritten in der Ausbildung und auch nicht so schnell wie die. Und die andere, die hatte ein Kind, das dann jede dritte Woche krank war. Und die wurde dann sehr angefeindet.“ (Z. 129, Herr Wilke, Oberarzt)
Wie diese Kollegin von Herrn Wilke hat auch Frau Weber nach der Geburt ihres ersten Kindes reduziert im Krankenhaus als Assistenzärztin gearbeitet, dafür aber ein Teilzeitmodell durchgesetzt, dass ihr zwei feste Arbeitstage in der Woche in Vollzeit garantierte (vgl. Kap. 4.2.1). Dies hat ihr in ihrer eigenen Wahrnehmung im Vergleich zu anders teilzeitarbeitenden Kolleginnen im Hinblick auf ihre berufliche Performanz enorme Vorteile eingebracht: „Aber tendenziell, wenn man im Krankenhaus einmal ist, wenn man die Tür betreten hat und die hinter einem zufällt, dann ist man da in einem anderen Raum und da kann man … also da habe ich selten noch irgendwelche Anrufe […] nebenher regeln können, weil man so in der Arbeit versumpft und auch gegen Überstunden kann man kaum was machen. […] Dann war ich froh, wirklich ganze Tage da zu sein. Und an den Tagen, wo man nicht da ist, ist man halt nicht da und nicht erreichbar.“ (Z. 605, Frau Weber, Assistenzärztin)
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In der Konsequenz erhalten die Ärztinnen mit Kind(-ern) von außen, d.h. durch die Vorgesetzten und Kolleg*innen, Anerkennung nicht (nur) für die beruflichen Leistungen an sich, sondern für die mehr oder weniger erfolgreiche Um- oder Wegorganisation fürsorglicher Verpflichtungen – sei es durch die eigene Mutter wie bei Frau Weber oder den Einkauf von Betreuungsleistungen. „Wenn man dann ein Kind hat oder in der Mutterrolle, dann ist man auch nicht mehr dieser totale Anfänger, sondern die Leute wissen auch, auch die Schwestern wissen, okay, ne, da steht ja noch mehr hinter. Das ist nicht die Kleine von der Uni, sondern die hat zu Hause auch noch die Familie zu betreuen und, und. Das ist auch was Schönes. Also mir wurde auch Respekt dafür entgegengebracht.“ (Z. 459, Frau Weber, Assistenzärztin)
Ärztinnen, deren berufliche Performanz durch die Sorgeverpflichtungen eingeschränkt sind, bleibt die Anerkennung ihrer beruflichen Leistungen verwehrt. „Aber ich glaube, die anderen Modelle, die Frauen, die ich beobachtet habe, die […] später kommen, weil sie die Kinder erst zur Kita bringen müssen und dadurch diesen Einstieg in den Tag nicht richtig mitkriegen, die früher gehen müssen, weil sie sie abholen müssen, die teilweise dann kranke Kinder haben und auf einmal ausfallen, kommt überhaupt nicht an bei den Kollegen. […] Da war ich aber erstaunt, wie da auch entsprechend negativ geurteilt wurde, ohne Verständnis für die Sache auf kollegialer Ebene. Und wo sehr negativ gesprochen wurde.“ (Z. 570, Frau Weber, Assistenzärztin)
Auch die Gesprächspersonen im Sample selbst bewerten ihre Kolleginnen entlang der Frage, inwieweit sie berufliche Performanz durch die Abwesenheit von Sorgearbeit aufzeigen. „Und diese Kollegin hat drei Kinder. Ja, also die hat noch viel mehr … und die ist sehr, sehr ehrgeizig, sehr strukturiert. Also die hat das super hinbekommen dafür, dass ihr Mann weniger Möglichkeiten hat als meiner. Also der ist noch Außendienstmitarbeiter, was weiß ich, der ist also immer unterwegs. Das heißt, sie muss immer jemand anders mit einschalten, Kindermädchen und so, und dafür … also die kam nie … fast nie zu spät, also die hat das super hinbekommen.“ (Z. 429, Frau Lohse, Assistenzärztin)
Für die Ärztinnen im Sample stellt das Narrativ der beruflichen Performanz insofern eine Art Gradmesser dar, entlang dessen sie wahrgenommen und bewertet werden. Ihre aufzuzeigende berufliche Performanz hat anders als bei den hochqualifizierten Vätern nicht nur mit beruflichen Inhalten, fachlicher Qualifikation oder der Zugehörigkeitsdauer zum Betrieb zu tun, sondern auch mit der An- und
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Abwesenheit von Sorgeverpflichtungen bzw. der Fähigkeit und nicht zuletzt finanziellen Ressourcen, diese auszulagern. „Ich glaube, mein Vorteil ist jetzt, weswegen mir auch … also im PJ macht man ja drei verschiedene Stationen durch, also drei verschiedene Fachrichtungen. Und in jeder Fachrichtung wurde mir auch ein Job angeboten. Ich glaube schon, dass ein Grund auch war, dass ich schon Kinder habe. […] Weil das glaube ich schon attraktiver dann ist für einen Arbeitgeber, wenn er sich denkt, okay, die ist fertig mit ihrer Familienplanung, fällt nicht noch mal aus.“ (Z. 213, Frau Scholz, Assistenzärztin)
Anders als die erwerbstätigen Väter im Sample, die auf Partnerinnen und weibliche Hausangestellte zurückgreifen, um die existierende Sorgearbeit für die Kinder zu erledigen, bestehtenfür die meisten erwerbstätigen Mütter keine oder nur begrenzte Möglichkeiten sich als grundsätzlich frei von Sorgearbeit zu präsentieren. Die Folgen im Hinblick auf betriebliche „Wahlfreiheit“ zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit sind für die (hochqualifizierten) Mütter im Sample ungeachtet der Beschäftigtengruppen und des betrieblichen Status gleich: Das Narrativ der beruflichen Performanz eignet sich anders als bei den hochqualifizierten Vätern nicht dazu, soziale Rechte oder informelle Verhandlungsmacht als langjährige Arbeitnehmerin, hochqualifizierte Angestellte oder Arbeitskraft mit spezifischen und auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen einzufordern. Im Gegenteil treten die Frauen im Sample sowohl bei offiziellen betrieblichen Verhandlungen mit der Organisation als auch in informellen Tauschverhandlungen mit den Vorgesetzten stets zuerst in und mit ihrem familialen Status auf – als Mutter, als Alleinerziehende oder als Zuverdienerin. So versucht beispielsweise Frau Schubert, bei ihrem beruflichen Wiedereinstieg als Physiotherapeutin in den medizinisch-technischen Dienst eines großen Klinikverbundes, Arbeitszeiten am späten Nachmittag zu vermeiden: „Genau habe ich versucht. Ich habe gefragt ob ich irgendwie ob das anders geht ob ich nur vormittags da sein kann oder so, das geht aber nicht, weil es gibt Teamzeiten, die sind fest, d.h. um halb zwei bis halb drei und am Mittwoch und... Donnerstag ist es glaub ich immer so halb drei bis halb vier und ähm da muss man anwesend sein. Alle! Egal, ob Mutter, (lacht) ob alleinerziehend [Herv. K.M.], ob egal, völlig wurscht. Interessiert die nicht.“ (Z. 116, Frau Schubert)
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Frau Schubert scheitert mit diesem Versuch, obwohl ihr spezifisches Berufsprofil vor dem Hintergrund eines abgeschlossenen Studiums auf dem Arbeitsmarkt selten zu finden ist und sie bereits vor der Elternzeit im gleichen Klinikkonzern beschäftigt und sich dort beruflich ‚bewiesen‘ hatte. Auch Frau Bergmann, Juristin im Verwaltungsdienst einer privaten Klinik ist ein Beispiel dafür, dass sich Frauen ungeachtet ihrer beruflichen Qualifikation vordergründig in ihrer familialen Rolle als Sorgetragende wahrnehmen, weniger als qualifizierte Arbeitskraft und vor diesem Hintergrund bestimmte Forderungen gar nicht erst stellen. So zeigt sich Frau Bergmann gar überrascht angesichts der Tatsache, dass ihr Arbeitgeber offensichtlich Interesse hat, sie während der Elternzeit und im Anschluss daran weiter zu qualifizieren. „Wobei ich sogar sehr überrascht war, kurz nach dem Wiedereinstieg habe ich die Möglichkeit bekommen, dann auch den Fachanwaltslehrgang im Medizinrecht zu besuchen. […] Fand es auch irgendwie ein gutes Signal und ein Symbol, dass man dann auch eine relativ teure Fortbildung sagt, so, das darf die Frau Bergmann jetzt machen.“ (Z. 255, Frau Bergmann) „Als Jurist haben Sie ja, wenn Sie Fachanwaltslehrgänge haben, müssen Sie jedes Jahr zehn Stunden Fortbildung machen dazu. Da fand ich es zum Beispiel sehr angenehm, dass ich auch in meiner Elternzeit die Fortbildungen quasi über den Arbeitgeber machen durfte.“ (Z. 277, Frau Bergmann)
Auch Frau Grosse, die es als einzige examinierte Pflegekraft schafft, sich diverse Arbeits(-zeit-)bedingungen entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen auszuhandeln (vgl. Kap. 4.2.1), reiht sich ein in diese Logik. Zwar argumentiert Frau Grosse mit ihrem vorteilhaften Status als Marktsubjekt auf dem Arbeitsmarkt, letztlich stützt sich diese Selbstpositionierung aber nicht nur auf ihre gute berufliche Qualifikation, sondern auf ihre Rolle als Zuverdienerin und Ehefrau eines Arztes und der damit einhergehenden Freiwilligkeit ihrer Erwerbstätigkeit. Bei den informellen Verhandlungen mit der Stationsleitung und im Team verweist sie darauf wiederkehrend. So unterschiedlich das Narrativ der beruflichen Performanz im Sample bei den hochqualifizierten Frauen und Männern daherkommt, mündet es doch in einer gemeinsamen Konsequenz: Die Inanspruchnahme sozialer Rechte vor dem Hintergrund von Care-Arbeit und das Einfordern fürsorgetauglicher Vereinbarkeitsarrangements bleibt (erneut) eine Ausnahme. Individuelle Strategien eröffnen zwar bestimmte Handlungsoptionen vereinzelt sowie geschlechtsspezifisch und
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qualifikationsspezifisch unterschiedlich, gleichzeitig reproduzieren sie eine gesellschaftliche und organisationale Logik, nach der berufliche Performanz und Sorgearbeit nicht zusammengehen und soziale Rechte und informelle Verhandlungsmacht in Bezug auf Sorgearbeit auf berufliche und betriebliche Vorleistungen beruhen (müssen). Wo Mütter und Väter auf den Familienstatus bezogen bleiben, sind sie weniger durchsetzungsstark. Das Öffnen individueller und häufig auch informeller „Wahlfreiheit“ für Mütter und Väter bzw. einer bestimmten Beschäftigtengruppe geht so mit dem Schließen kollektiver und bedingungsloser Handlungsspielräume anderer Elternteile Hand in Hand. 4.2.5 Zusammenfassung: „Wahlfreiheit“ durch individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“? Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass Mütter und Väter mit Hilfe individueller Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ des Krankenhauses ihre parallele Erwerbs- und Sorgearbeit zu organisieren und gestalten suchen. Daraus ergeben sich für manche Elternteile größere, für andere Elternteile aber auch geringere Gestaltungsspielräume in Entscheidungssituationen. Insgesamt erweisen sich informelle betriebliche Arrangements, die sich in ungleichen Tauschverhältnissen manifestieren, als besonders wirkmächtig für die Frage nach „Wahlfreiheit“. Dies gilt insbesondere dort, wo staatliche Familien- und Sozialpolitik soziale Rechte zwar geschaffen, konkrete Umsetzungsfragen jedoch der Personalund Vereinbarkeitspolitik der einzelnen Betriebe überlassen hat. Akteure der betrieblichen Interessensvertretung spielen im deutschen Krankenhaussektor in diesem Zusammenhang zudem keine nennenswerte Rolle. Zwecks Gestaltung eines familienfreundlichen Betriebes tritt lediglich eine freigestellte Personalrätin in einer Klinik in Erscheinung. Die vorgefundenen individuellen und informellen Tauschverhältnisse finden im Rahmen kleinteiliger Stationskulturen statt, die als „Mikrokosmos“ beschreibbar sind und für deren Ausgestaltung die einzelnen Vorgesetzten eine herausragende Rolle einnehmen. Die Stationskulturen funktionieren über Angrenzungen – sowohl zu den anderen Stationen als auch zur Gesamtorganisation, deren offiziellen Strukturen und formellen Regeln. Voraussetzung für eine im Rahmen der einzelnen Stationskulturen flexibleren Handhabung der Arbeitszeitgestaltung auf den Stationen ist jedoch ein persönliches Verhältnis zu der*die jeweilige*n Vorgesetzte*n. Sowohl der „Mikrokosmos“ der Stationskultur als auch die Relevanz eines persönlichen, vordergründig auf soziale Ähnlichkeit be-
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ruhenden Verhältnisses zur Führungskraft tragen in erster Linie zu ungleichen „Wahlfreiheiten“ für Mütter und Väter im Betrieb bei. Das eindeutig geschlechtsspezifische Narrativ der beruflichen Performanz der hochqualifizierten Frauen und Männer liefert passende Legitimierungs- und Rechtfertigungserzählungen für diese ungleichen „Wahlfreiheiten“. Alles in allem bleibt die Inanspruchnahme sozialer Rechte vor dem Hintergrund von CareArbeit und das Einfordern fürsorgetauglicher Vereinbarkeitsarrangements im Rahmen der individuellen Tauschverhältnisse eine Ausnahme. Individuelle Strategien eröffnen zwar bestimmte Handlungsoptionen vereinzelt sowie geschlechtsspezifisch und qualifikationsspezifisch unterschiedlich. Das Öffnen dieser häufig auch informellen betrieblichen „Wahlfreiheiten“ für Mütter und Väter geht allerdings mit dem Schließen kollektiver und bedingungsloser Handlungsspielräume anderer Elternteile Hand in Hand.
4.3 MEHRFACHBESCHÄFTIGUNG ZWISCHEN ALTERNATIVLOSIGKEIT UND NORMALISIERUNG Zur Erwirtschaftung eines „Familieneinkommens“ ist das Entgelt eines einzelnen Beschäftigungsverhältnisses im Haushaltszusammenhang im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat häufig nicht (mehr) ausreichend. Vor dem Hintergrund des Rückgangs der Reallöhne, der politisch forcierten Ausweitung des Niedriglohnsektors sowie einer wachsenden Einkommensungleichheit in Deutschland steigt auch in der Mittelschicht die Notwendigkeit zur Erwerbstätigkeit beider Partner*innen (vgl. Dingeldey/Gottschall 2013, Schröder/Schäfer 2013). Eltern reagieren auf die veränderten ökonomischen und wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen aber nicht nur, indem beide Partner*innen erwerbstätig sind, sondern auch indem Elternteile mitunter mehr als einer bezahlten Beschäftigung nachgehen. Dieser Tatbestand steht in der sozialwissenschaftlichen und soziologischen Forschung bislang überraschend wenig im Fokus (anders bei Schmidt/Voss 2014), obgleich im Jahr 2014 immerhin fünf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland (rund 2 Millionen Personen) neben ihrer Haupttätigkeit mindestens eine weitere Tätigkeit ausübten und diese Zahl sich von 2011 bis 2014 um knapp 13 Prozent erhöht hat (vgl. Statistisches Bundesamt 29.04.2015). Im folgenden Kapitel steht daher das Phänomen der Mehrfacherwerbstätigkeit im Fokus und wird insbesondere in seiner Ambivalenz für die hier verfolgte Fragestellung nach der „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit dargestellt.
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Einerseits erscheint Mehrfacherwerbstätigkeit von Müttern und Vätern als alternativlose Notwendigkeit, um ein ausreichendes Familieneinkommen zu erwirtschaften. Der Zweit- oder Drittjob stellt letztlich einen „Zuverdienst“ zum Einkommen der eigentlichen Hauptbeschäftigung dar, meist sind die Personen also in ein und demselben Beruf mehrfachbeschäftigt. Davon betroffen sind insbesondere Frauen, die das Haupteinkommen als Alleinerziehende oder Familienernährerin erwirtschaften (vgl. Schmidt/Voss 2014, Klammer et al. 2012, Klenner et. al. 2012). Beispielhaft zeigt sich dies im Material bei der Familienernährerin Frau Müller und der Alleinerziehenden Frau Schubert, die sowohl im Rahmen eines prekären Angestelltenverhältnisses als auch im Kontext von Freiberuflichkeit bzw. Schwarzarbeit ihren Beruf als Hebamme bzw. Physiotherapeutin ausüben. Im Ergebnis kombinieren beide drei Jobs zeitgleich. Andererseits erscheint Mehrfacherwerbstätigkeit auch als ‚freiwillig‘ gewählter und/oder ‚normalisierter‘ Zustand, etwa wenn durch die Aufnahme einer Zweitbeschäftigung eine bessere Vereinbarkeit erreicht werden soll oder der Zweitjob als ‚Ausgleich‘ zur eigentlichen Erwerbstätigkeit daherkommt. Die Grenzen zwischen erzwungener und freiwilliger Mehrfacherwerbstätigkeit sind dabei stets fließend und werden vor allem sichtbar, wenn Mehrfacherwerbstätigkeit im Lebensverlauf betrachtet wird: So können sich die Entwürfe von Mehrfacherwerbstätigkeit, mit der die Elternteile dieser nachgehen, mit der Zeit verändern und der Erhalt bzw. Aufbau künftiger, auch alternativer, Erwerbsarbeitsoptionen zur bestehenden Berufstätigkeit erscheint nicht selten als Motiv zur Aufnahme eines Zweit- oder Drittjobs. Im Folgenden werden die Charakteristika und Ambivalenzen der vorgefundenen Mehrfacherwerbstätigkeit beschrieben. 4.3.1 Mehrfachbeschäftigung als Folge sozialpolitischer Regelungen und Transformationsprozesse „Diese Klammer von außen durch die Umstände ist einfach so extrem.“ (Z. 733 Frau Müller)
Mehrfachbeschäftigung als finanzielle Notwendigkeit liegt im Material häufig eine prekäre sozialversicherungspflichte Hauptbeschäftigung zu Grunde. Vordergründig gehen Frauen als die einzigen Einkommensbezieherin bzw. Hauptverdienerin im Haushaltskontext mehr als einer Beschäftigung nach, um ein ausreichendes Familieneinkommen zu generieren. So ist die Familienernährerin Frau Müller zwar als Hebamme in einer Klinik sozialversicherungspflichtig angestellt, arbeitet aber nebenbei gleich in zwei verschiedenen Bereichen freiberuf-
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lich. „Ich arbeite als Hebamme, bin angestellt tätig mit 80 Prozent in der Klinik […] Zusätzlich bin ich noch freiberuflich tätig, und zwar sowohl an einer Uni als Mitarbeiterin, Vorlesung und so weiter, Mentorin, Weiterbildung – in diesem Bereich. […] Und dann noch Vor- und Nachsorgen“ (Z. 14, Frau Müller). Prekär stellt sich das Beschäftigungsverhältnis insofern dar, als dass dieses in der Vergangenheit über lange Phasen hinweg nur befristet war, es sich um eine unfreiwillige Teilzeitanstellung handelt sowie kein ausreichender Einkommensbezug aus dieser Hauptbeschäftigung gezogen werden kann. Dies liegt zum einen daran, dass eine Vollzeitanstellung auf dieser Position von Seiten der Klinik nicht möglich erscheint, andererseits an der grundsätzlich schlechten Entlohnung des Berufes als Hebamme. So würde die dreifache Mutter als Hebamme selbst auf einer vollen Stelle kein ausreichend hohes Erwerbseinkommen erzielen, weshalb sie sich mit ihrem Mann bewusst dafür entschieden hat, das Haupteinkommen auf Grundlage von Mehrfacherwerbstätigkeit zu erwirtschaften. „Und ja, und mein Mann ist gelernter Koch, und der ist eben Hausmann, weil der wäre genauso im Schichtdienst in der Regel und wir hatten damals überlegt, dass ich weiter arbeite, weil ich natürlich einmal mein Gehalt über die Klinik habe, angestellt bin, familienversichert etc., und zusätzlich eben noch diese Möglichkeit habe der Freiberuflichkeit, dass ich einfach mir da noch was dazu verdienen kann, weil man eben – das muss man ganz klar sagen – selbst mit einer vollen Stelle keine Familie ernähren kann.“ (Z. 27, Frau Müller)
Die scheinbar guten Möglichkeiten zur nebenberuflichen Freiberuflichkeit als Hebamme waren insofern ein Grund, der das Paar dazu bewogen hat, die Rollen zu tauschen und ein geschlechtsspezifisch betrachtet untypisches Ernährerinnenmodell zu praktizieren. Ein Alleinverdiener*innen-Modell zu praktizieren war dagegen alternativlos. Doppelerwerbstätigkeit bei zwei Erwachsenen in Berufen mit Schichtdienst und atypischen Arbeitszeiten erscheint seit der Familiengründung vor dem Hintergrund fehlender Kinderbetreuungsoptionen bzw. unpassenden Öffnungszeiten der Betreuungseinrichtungen sowohl im Kleinkindbereich als auch im Schulalter von Kindern unmöglich. In ihren Entscheidungen räumt Frau Müller jedoch wiederholend auch verschiedenen wohlfahrtsstaatlichen Regelungen Relevanz ein, die ihrem Mann soziale Sicherung in Form der kostenlosen Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse ermöglichen und das Alleinverdiener*innen-Modell bei verheirateten Paaren durch steuerliche Vorteile finanziell begünstigen.
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„Ist auch viel steuerlich natürlich. Das ist immer so ein Problem, wenn beide arbeiten, muss man immer aufpassen, dass man am Ende kein Minus hat. Es ist immer günstiger, wenn nur einer ganz viel arbeitet. Und dadurch haben wir glaube ich immer gesagt, das macht dann nur einer von uns. […] Weil so hatte auch einer immer Steuerklasse III und der andere halt … das war dann immer diese Sache, dass wir uns immer überlegen mussten, wer kriegt denn jetzt den Löwenanteil praktisch.“ (Z. 286, Frau Müller)
Deutlich wird in den Äußerungen von Frau Müller eine wahrgenommene Benachteiligung von Doppelerwerbstätigkeit, die sich vor allem in unteren Einkommenssegmenten bemerkbar macht, da hier die potenziellen Einkommensunterschiede zwischen zwei Einkommen geringer ausfallen – und mit ihnen beispielsweise der Vorteil des Ehegattensplittings – steuerliche Zuschüsse jedoch stärker ins Gewicht fallen als in hohen Einkommenssegmenten. Demgegenüber erhöht die von Frau Müller ausgeübte Mehrfacherwerbstätigkeit die Einkommensdifferenz zwischen ihr und ihrem Mann. Darüber hinaus nutzt Familie Müller die sozialpolitischen Vorteile im Hinblick eines Zuverdienstes im Haushaltskontext, denn ihr Mann geht einem Minijob nach und erwirtschaftet so ein steuer- und beitragsfreies Höchsteinkommen von durchschnittlich 450 Euro monatlich. Auch in diesem Hinblick sucht das Paar dem sozialpolitisch begünstigten Modell eines einzigen Familienverdienstes mit einem durch den/die Partner*in erwirtschafteten geringen Zuverdienst gerecht zu werden – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Die biographischen Entscheidungen Frau Müllers hinsichtlich der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit werden zwar bewusst, aber prinzipiell alternativlos konstruiert. Das sich im Lebensverlauf wiederholende gemeinsame Abwägen des Paares, welche Aufteilung sich finanziell am meisten für die Familie lohne, mündet unabhängig des Explizierens der individuellen Wünsche stets in der gleichen ‚Lösung‘: einem praktizierten Rollenwechsel zwischen ihr und ihrem Mann sowie der Notwendigkeit, neben dem Angestelltenverhältnis in der Klinik freiberuflich tätig zu sein. „Ich überlege gerade, warum ich bei Sarah so schnell wieder gekommen bin. [lacht] Weil die Erste, wie gesagt, war ich ja ein ganzes Jahr zu Hause und bei Sarah habe ich ja gesagt, ich mache nur wirklich die acht Wochen. Das war glaube ich eine finanzielle Geschichte. Genau. Weil ich damals gesagt habe, zusammen mit der Freiberuflichkeit kommt am Ende … also war eine rein finanzielle Sache, mehr raus, als wenn mein Mann wiederum für ein Jahr irgendwo in einem Restaurant arbeitet.“ (Z. 281, Frau Müller)
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Eng verzahnt sind mit den Entscheidungen die bestehenden sozialpolitischen Strukturen in Richtung eines Alleinverdiener-Modells mit spezifischen Optionen des Zuverdienstes für ihren Mann sowie die Möglichkeiten freiberuflicher Nebenverdienste in ihrem Beruf als Hebamme. Mit der Konstruktion von Alternativlosigkeit, also der Wahrnehmung von Alternativen sowie deren Nicht-Zugänglichkeit, verweist Frau Müller implizit stets auf eine andere, wünschenswertere Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit innerhalb der Partnerschaft. „Sonst, ich … sagen wir so, ich würde auch lieber, und mein Mann auch, wenn wir beide eben … also er ein bisschen mehr und ich eben ein bisschen weniger. Weil mir ist es im Prinzip zu viel, ihm ist es manchmal zu wenig. Gerade, wenn die Kinder größer werden. Und da ist eben einfach die ganze Situation – steuerlich, familienpolitisch.“ (Z. 292, Frau Müller)
Eine stärkere Gleichverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen ihr und ihrem Mann bleibt ihr jedoch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Einkommensmöglichkeiten und aufgrund der bestehenden sozialpolitischen Regelungen verwehrt. „In dem Moment, wo ich sage, ich mache weniger, merke ich es auch sofort finanziell. Also du kriegst immer direkt die Klatsche wieder hinten, weil im Prinzip kannst du es dir nicht leisten. Du musst im Prinzip funktionieren. Wir haben verschiedene Modelle auch noch mal durchdacht, um da eben mehr Druck rauszunehmen, es funktioniert nicht, weil die Situation ist, wie sie ist. Mein Mann würde gerne jetzt mehr arbeiten, aber es ist … […] Es lohnt sich überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich würde weniger verdienen und er nur ein bisschen mehr als jetzt.“ (Z. 726, Frau Müller)
Deutlich wird an dem Fall von Frau Müller, welche Auswirkungen sozial- und steuerpolitische Regelungen auf die Entscheidungen von erwerbstätigen Müttern und Vätern insbesondere im Bereich der unteren Einkommenssegmente zu haben scheinen. Für Frau Müller eröffnen diese jedenfalls keine „Wahlfreiheit“, sondern erscheinen eher als „Klammer von außen“, innerhalb dieser sie sich zu agieren gezwungen sieht. Dies stellt sich für Paare mit höherem Haushaltseinkommen bzw. solche, die ein traditionelles männliches Ernährermodell leben, anders da. Wo der Mann das Haupteinkommen und die Frau als Zuverdienst Einkommen erwirtschaftet, bestehen größere Einkommensunterschiede, die sich steuerlich günstig auswirken. Mit dem stetigen Verweis auf die „Klammer von außen“ (siehe Eingangszitat) wird das praktizierte Modell der Familienernährerin Frau
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Müller jedoch offen gehalten für Veränderungen. Bedingung aus der Sicht von Frau Müller wäre dafür unter anderem eine andere Besteuerung der Einkommen von Ehepartner*innen. Ein Kontrast zu Familie Müller stellt das Ehepaar Kowak dar. Herr Kowak ist vor einigen Jahren für seine Facharztausbildung mit seiner Frau von Polen nach Deutschland migriert und arbeitet seitdem Vollzeit als Arzt. Seit einem Jahr haben sie eine einjährige Tochter, für die Frau Kowak Elternzeit in Anspruch nimmt und zunächst den Mindestsatz des Elterngeldes und schließlich Betreuungsgeld bezieht.35 Derzeit ist Herr Kowak Familienernährerin und Alleinverdiener. Ähnlich wie bei Frau Müller ist auch das Ehepaar Kowak bestrebt, die Möglichkeiten, die die familien- und sozialpolitischen Instrumente bieten, zu nutzen – selbst wenn diese widersprüchliche Anreize setzen. So nutzt das Ehepaar das Ehegattensplitting sowie die kostenlose Mitversicherung nichterwerbstätiger Ehepartner*innen in er gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Außerdem nimmt Herr Kowak zwei Monate Elternzeit für seine Tochter. „Da […] hat auch meine Frau entbunden. Und ja, da waren wir zwei Wochen zu Hause zusammen. Und da kam auch die Frage der Elternzeit. Das wollte ich zuerst nicht, also Finanzen, Geld, und … aber dann letztendlich haben wir im Oktober / November beschlossen, dass ich dann doch zwei Monate nehme, und dann war ich auch zwei Monate zu Hause. Was ich auch ganz gut fand.“ (Z. 100, Herr Kowak)
Anders als bei Frau Müller eröffnen die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen Familie Kowak scheinbar verschiedene Wahlmöglichkeiten. Aufgrund des ausreichend hohen Haushaltseinkommens aus seinem sozialversicherungspflichtigen, wenngleich befristeten Beschäftigungsverhältnis fühlt sich zudem weder Herr Kowak zu Mehrfacherwerbstätigkeit, noch seine Frau zum Eintritt in den Arbeitsmarkt gezwungen. Allerdings entfalten die sozial- und familienpolitischen Regelungen auch beim Ehepaar Kowak ambivalente Wirkungen: „Ja, und das Problem bei uns ist auch, dass meine Frau zu Hause sitzt, nicht arbeitet und ich mache aber Dienste da, damit wir mehr Geld haben“ (Z. 237, Herr Kowak). Frau Kowak hat in Polen Jura studiert, ihr beruflicher (Wieder-)Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt gestaltet sich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse schwierig. Spätestens mit dem Auffinden eines Kitaplatzes für die Tochter soll dieser zwar realisiert werden, es zeichnet sich jedoch eine Berufstätigkeit fernab der vorhandenen Qualifikation ab.
35
Das Betreuungsgeld wurde als familienpolitische Leistung im Jahr 2005 abgeschafft.
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„Sie hat auch Angst, weil die Sprache nicht so gut ist. Und von den Jobs, Minijob will sie auch nicht. Dafür hat sie auch nicht studiert. […] Als Jurist, okay, das hat sie schon vergessen, das wird nie möglich in Deutschland sein, aber am besten wäre so eine polnischdeutsche Firma vielleicht, oder irgendwas Eigenes. Dann hat sie auch mit einer Freundin darüber nachgedacht, irgendwie was Eigenes … […] Kindersachen-Laden oder so was.“ (Z. 350, Herr Kowak)
Auffallend ist, dass entweder der Migrationshintergrund Frau Kowaks als berufliche Qualifikation Verwertung finden soll – in Form ihrer Sprachkenntnisse sowie von Wissen überPolen und Deutschland sowie vorhandener Netzwerke in das Geburtsland – oder ihre scheinbar natürlichen Eigenschaften als Mutter, nicht die vorhandene formale akademische Ausbildung. Ähnliche Beschreibungen von Strategien der Nutzbarmachung kulturellen Kapitals in der Migration durch Migrant*innen finden sich auch in der Literatur (vgl. Nohl et al. 2010), wenngleich diese die Verschränkungen kultureller und geschlechtsspezifischer Zuschreibungen oder scheinbarer Ressourcen bisher nicht in den Blick nehmen. Bei Familie Kowak wirkt jedenfalls die Bildungsmigration des Mannes vor dem Hintergrund der existierenden sozialpolitischen Regelungen in Richtung eines ehelichen Alleinverdiener*innen-Modells mit Zuverdienstoptionen wie ein Katalysator für intersektional relevante Zu- und Festschreibungen Frau Kowaks auf einen weiblichen Zuverdienst, der sowohl ihre „Wahlfreiheit“ als auch die Herrn Kowaks perspektivisch einschränkt. Eigentlich wünscht sich das Paar wie die Müllers eine stärkere Gleichverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit untereinander: „Wenn meine Frau irgendwann ganz gut verdient, da würde ich auch gerne irgendwann reduzieren, Teilzeit, aber das wird wahrscheinlich noch dauern“ (Z. 361, Herr Kowak). Anders als bei Familie Kowak, die sich von der Bildungsmigration einen beruflichen und finanziellen Aufstieg zumindest im Haushaltskontext versprechen, kann für Frau Müller eine sich verschlechternde Arbeitsmarktposition im Verlauf ihrer Berufsbiographie rekonstruiert werden. Diese erscheint als weitere Bedingung der bewussten, jedoch als alternativlos markierten und sich im Lebensverlauf stetig reproduzierenden Aufteilung von (zu viel) Erwerbsarbeit auf Frau Müller und des Hauptumfangs der Sorgearbeit auf Herrn Müller und muss in den Kontext sozialpolitischer Transformationsprozesse gestellt werden, dem gewandelten Gesundheitswesens in Deutschland (vgl. Kap. 3.5.2). Der politisch forcierte Umbau des Krankenhaussektors in Richtung eines stärker wettbewerbsorientierten Gesundheitsmarktes mit kosteneffizienten Steuerungsmaßnahmen haben die Personaldecke und Beschäftigungsbedingungen für bestimmte Beschäf-
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tigungsgruppen in den Kliniken grundlegend verändert. In der Literatur wird die Umstellung der Finanzierungsgrundlage für die Krankenhäuser mit einem gestiegenen Kostendruck für die Häuser in Zusammenhang gebracht, der den Abbau von Personaldichte, etwa durch Wiederbesetzungssperren, Befristung von Arbeitsplätzen, Umwandlung von Voll- in Teilzeitstellen sowie die dauerhafte Nichtbesetzung frei gewordener Stellen forcierte (vgl. Kap. 3.5.2). Zusätzlich sei es zum Personalkostenabbau durch Kürzungen übertariflicher Zahlungen, Ausstieg aus dem Tarifgefüge, Abschluss eines Haustarifvertrages sowie Auslagerungen gekommen (Simon 2008: 16), beispielsweise nicht-medizinischer Aufgaben wie der Essensversorgung, Reinigung oder Labortätigkeiten (Roth 2011: 18) – ein Outsourcing-Trend, der bis heute anhält (vgl. Blum et al. 2013: 40). Auch der Beruf der Hebammen war von diesen Entwicklungen massiv berührt, wie Frau Müller zu berichten weiß: „Und das war auch damals der Umbruch, wo ich … nach der Ausbildung war es total einfach, Stellen zu bekommen. […] Ich hatte da fünf oder sechs Möglichkeiten, wo ich hätte anfangen können, und das wurde dann immer, immer, immer weniger. Weil die natürlich auch alle versucht haben in Belegkreißsäle umzuwandeln, so dass praktisch die Hebammen freiberuflich an der Klinik arbeiteten und nicht mehr angestellt sind, weil sie dadurch natürlich Personalkosten sparen. Das kam parallel dazu. Und unsere Klinik ist halt dabei geblieben, angestellte Hebammen zu haben. Aber die haben auch deutlich reduziert. Also wir sind jetzt fast nach zwölf Jahren nur noch das halbe Team an Personen.“ (Z. 140, Frau Müller)
Trotz der mit dem Personalabbau verbundenen Arbeitsverdichtung zeigt sich Frau Müller angesichts der Angst vor Jobverlust dankbar für ihr Angestelltenverhältnisses in der Klinik, auch wenn dieses viele Jahre nur befristet war und bis heute keiner Vollzeitstelle entspricht. Zwar entspricht die Teilzeit einem Umfang von 80 Prozent, doch Frau Müller leistet regelmäßig unbezahlte Überstunden, die sich auf eine Vollzeitstelle aufaddieren. Die Koordination von Mehrfachbeschäftigung sowie das Abstimmen von Arbeitszeiten aufeinander, dies zeigt sich bei allen Fällen im Sample, erscheint als besondere Herausforderung. Frau Müller, die in ihrem Beruf praktisch grenzenlos zu jeder Uhrzeit und an jedem Wochentag arbeitet, versucht, ihre freiberuflich zu leistenden Vor- und Nachsorgen an ihren diensthabenden Arbeitstagen in der Klinik abzuarbeiten, um sich so auch mal zwei vollständig arbeitsfreie Tage zu ermöglichen. Dies gelingt ihr jedoch nur alle zwei bis drei Wochen.
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„Ist natürlich auch, dass ich mir die Freiberuflichkeit so lege. Ich will natürlich nicht unbedingt in der klinikfreien Zeit dann auch noch acht Nachsorgen machen, weil dann habe ich gar nicht mehr frei. Ich mache es dann natürlich vorm Spätdienst oder nach dem Frühdienst oder vor einem Nachtdienst. Das heißt, wenn ich manchmal zum Nachtdienst komme, habe ich schon fünf Stunden gearbeitet.“ (Z. 398)
Weniger planbar erweist sich dagegen ihr Drittjob als Dozentin an einer Hochschule. „Und mit der Uni-Sache ist es halt, es gibt immer so Phasen. Es gibt mal Phasen, wo ich dann mal im Monat drei Termine habe, wo wir halt irgendwie vor Ort sein müssen oder wo eine Fortbildung von der Uni ist. Oder wo ich die Studenten bei mir im Kreißsaal dann habe und die Professorin kommt, so dass wir zusammen halt Probeprüfungen machen oder so was […] Oder eine Vorlesungsreihe ist, wo man dann mal für drei Monate einmal die Woche da ist zwei, drei Stunden und dann ist mal wieder ein halbes Jahr nichts. Das ist also ganz unterschiedlich.“ (Z. 406, Frau Müller)
Einfluss auf diese Termine hat Frau Müller nicht, weil neben ihr auch anderen Dozent*innen an der Hochschule als Freiberufler*innen tätig sind, die mit ihr konkurrieren. Letztlich addiert sich die Mehrfachbeschäftigung von Frau Müller zu einer enormen alltäglichen Belastung auf, die von Übermüdung und Überarbeitung bei zu wenig Ruhe- und Erholungsphasen gekennzeichnet ist. „Also ich habe manchmal zehn Tage, wo ich überhaupt nicht zu Hause bin. Also manchmal zum Schlafen. […] Also wo ich halt zehn, zwölf Dienste am Stück habe. Sagen wir mal, wenn ich jetzt einen Frühdienst habe, danach noch Nachsorgen mache. Also ich bin um fünf weg und komme abends um zehn nach Hause. Und ich habe keine Pause in der Zeit gehabt. Also das ist so. Und dann gibt es mal wieder zwei Tage, wo ich dann frei habe. Also wo ich vielleicht mal ein, zwei Vor- oder Nachsorgen noch mache, aber wo ich dann frei habe. […] Und dann aber mal wieder, was weiß ich, Freitag bis den Mittwoch darauf. Wo es wirklich durch geht, wo ich nachts ein paar Stunden schlafe, aber im Prinzip durcharbeite.“ (Z. 388, Frau Müller)
Obgleich Mehrfacherwerbstätigkeit damit als gesundheitsgefährdend daherkommt und so auch eine Gefahr für die noch verbleibende Erwerbsbiographie darstellt, ist die Freiberuflichkeit paradoxerweise auch als Strategie zu verstehen, den als unsicher wahrgenommenen beruflichen Zukunftsperspektiven etwas entgegen zu setzen. So ist sich Frau Müller bereits zum Zeitpunkt des Interviews si-
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cher, dass sie nicht bis zum Renteneintrittsalter in ihrem Beruf wird arbeiten können: „Man kann so die Stelle im Kreißsaal, wie ich die habe, maximal bis Anfang 50 machen. Also das geht gar nicht bis 67 oder so, das schafft man körperlich und nervlich auch nicht. (Z. 379, Frau Müller). Die Strategie, zusätzliche beziehungsweise alternative berufliche Zukunftsperspektiven im Rahmen von Nebenberufstätigkeiten zu erhalten oder aufzubauen, zeigt sich auch bei anderen Müttern im Sample, die mehrfach erwerbstätig sind und dies unabhängig von der Notwendigkeit eines Zuverdienstes zum Einkommen (vgl. Kap. 4.3.4). Bei der Familienernährerin Frau Müller (ebenso wie bei der Alleinerziehenden Frau Schubert, vgl. Kap. 4.3.2) steht dies jedoch unter dem Druck, noch viele Jahre ein ausreichendes Familieneinkommen zu generieren. Neben der Sorge über die generelle Erwerbsfähigkeit bis zur Rente befindet sich Frau Müller als Hebamme allerdings in einer besonders prekären Situation, da ihre zukünftige Erwerbstätigkeit grundsätzlich fraglich geworden ist. Erneut kommen hier die sozialpolitischen Rahmenbedingungen zur Entfaltung, die den Fall von Frau Müller charakterisieren. „Ist ja gar nicht klar, ob ich überhaupt als Hebamme noch arbeiten kann die nächsten Jahre. Also das ist … eventuell kriegen wir ja ein Berufsverbot. Dann ist natürlich noch mal ganz alles offen. Also ich sage mal, durch die Umstände könnte man eher angst und bange kriegen. Also vielleicht falle ich komplett weg als Ernährer, weil ich meinen Beruf nicht mehr ausüben kann.“ (Z. 1058, Frau Müller)
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Frau Müller sich eigentlich mehr Sicherheit im Rahmen eines Angestelltenverhältnisses wünscht, statt ihre Zukunft auf einer als unsicher empfundenen Freiberuflichkeit aufzubauen. „Also ich würde inzwischen auch nicht mehr freiberuflich arbeiten, wenn ich es nicht müsste, weil da auch die Ansprüche immer höher werden. Und wenn ich sagen wir das Doppelte verdienen würde in der Klinik, würde ich auf eine halbe Stelle runterfahren und nur noch das machen. […] Und ein bisschen Uni – so. Also das wäre glaube ich besser.“ (Z. 372, Frau Müller)
In dem Zitat zeichnet sich neben dem Wunsch nach einem höheren Einkommen und mehr beruflicher Sicherheit jedoch auch ein Wandel von Mehrfacherwerbstätigkeit ab, denn wie Frau Müller sagt, würde sie „inzwischen“ keine Freiberuflichkeit mehr wählen. Dies zeigt, dass sie die Freiberuflichkeit mal unter einem anderen Entwurf gewählt hat, als dieser mittlerweile zu stehen scheint. Die Anfänge ihrer Freiberuflichkeit sind insofern auch in den Kontext subjektiver quali-
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tativer Ansprüche an ihre Arbeit als Hebamme zu stellen, die sie in der Klinik nicht verwirklicht zu sehen scheint. „Wobei ich da eben so ein Konzept habe, dass ich die Frauen sehr lange betreue, also fast über anderthalb Jahre, dass sie sich sehr früh melden, Geburt entsprechend irgendwo anders. Manchmal sehe ich sie, manchmal nicht, und in der Nachsorge fast noch ein ganzes Jahr. Also dann habe ich so 20 Frauen im Jahr, was natürlich dann auch immer recht intensiv ist.“ (Z. 21, Frau Müller)
In dieser Hinsicht ähnelt Frau Müller anderen Frauen mit mehr als einer Erwerbstätigkeit, unabhängig davon, ob diese darauf finanziell angewiesen sind oder nicht. Das Motiv der Verwirklichung eigener Ansprüche innerhalb der eigenen Berufstätigkeit ist im Material ein wiederkehrendes (vgl. Kap. 4.3.3). Für Frau Müller als Familienernährerin wird die Mehrfacherwerbstätigkeit unter den erörterten sozialpolitischen Regelungen und Transformationsprozessen im Zeitverlauf ein Zirkelschluss ohne Ausweg, der ihre „Wahlfreiheit“ stark einschränkt. Die Mehrfacherwerbstätigkeit, wie sie im vorliegenden Fall als Folge sozialpolitischer Regelungen und Transformationsprozesse rekonstruiert werden kann, geht für Frau Müller mit verschiedenen Konsequenzen einher. So ist Mehrfacherwerbstätigkeit im Zeitverlauf zum einen offensichtlich zu einem alternativlosen Zirkelschluss geworden, in dem sich prekäre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Freiberuflichkeit gegenseitig bedingen. Diese Symbiose macht „Wahlfreiheit“ für Frau Müller in der Gegenwart praktisch unmöglich. Zum anderen gehen die Haupt- und Nebenbeschäftigungen ein ambivalentes Verhältnis im Hinblick auf die berufliche Absicherung in der Zukunft ein. So maximiert die Mehrfacherwerbstätigkeit die ohnehin schon hohen beruflichen Belastungen etwa des Pflege-, Funktions- und medizinisch-technischen Dienstes (nicht nur) im Krankenhaussektor und begünstigt damit den Verschleiß der Arbeitskraft sowie Erschöpfungszustände im Lebensverlauf. Frühzeitige, krankheitsbedingte Erwerbs- bzw. Berufsausstiege werden so für diese Beschäftigtengruppen (noch) wahrscheinlicher. Zeitgleich ermöglicht Mehrfacherwerbstätigkeit bzw. Freiberuflichkeit auch einen Ausstieg aus dem eigentlichen, belastenden Beruf, der bis zur Rente ohnehin nicht leistbar wäre, und kann damit zukünftige „Wahlfreiheit“ vergrößern. Unter der Bedingung, das Haupteinkommen in der Familie zu erwirtschaften, bedeutet Mehrfacherwerbstätigkeit jedoch primär die Gefahr einer alltäglichen Überlastung.
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4.3.2 Normalisierung von Schwarzarbeit im Kontext des Berufes „Das ist alles so’n bisschen.. unter der Hand. Da gibt es keine offiziellen Stellenausschreibungen oder sonst was.“ (Z. 548, Frau Schubert)
Wie die Familienernährerin Frau Müller (vgl. Kapitel 4.3.1) so ist auch die Alleinerziehende Frau Schubert auf einen Zuverdienst zu ihrem Einkommen als Physiotherapeutin vor dem Hintergrund eines prekären Beschäftigungsverhältnisses in einer öffentlichen Klinik zwingend angewiesen. So ist die Anstellung in der Klinik in Teilen befristet, eine Vollzeitanstellung erscheint von Seiten der Klinik nicht möglich. Anders als Frau Müller wird Frau Schubert jedoch nicht in ihrem Beruf nebenbei freiberuflich tätig, sondern kombiniert ihr sozialversicherungspflichtiges Angestelltenverhältnis gleich doppelt mit informeller Arbeit bzw. Schwarzarbeit. So ist sie zusätzlich in einer Arztpraxis und in einem Privathaushalt tätig, weil das Entgelt aus ihrer Teilzeitbeschäftigung als Familieneinkommen nicht ausreicht. „Ich habe dadurch halt im November drei Arbeitgeber. […] Also ne dreiviertel Stelle heißt, dass man dann da [in der Klinik] dreiviertel arbeitet. Das reicht natürlich nicht. Also arbeite ich einen Tag in der Praxis... […] Und ähm, wenn jetzt nur noch 20 Stunden sind ab November, hab ich dann noch einen dritten Arbeitgeber und noch einen Tag in der Woche, um die Stunden aufzufüllen, ne?“ (Z. 44, Frau Schubert)
Während bei Familie Müller die Mehrfacherwerbstätigkeit Folge einer vom Paar bewusst getroffenen, jedoch scheinbar alternativlosen Entscheidung ist, stellt sich die Situation bei Frau Schubert gänzlich anders da. Durch den Tod ihres Partners wurde sie zur Witwe und Alleinerziehenden eines zum damaligen Zeitpunkt noch ungeborenen Kindes. Der so notwendig werdende, jedoch ungewollt frühzeitige Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit als Mutter eines nur wenige Wochen alten Kindes unmittelbar nach dem Mutterschutz ist finanziell begründet: Das Elterngeld reicht als einziger Einkommensbezug nicht aus. Bedingung dafür, dass Frau Schubert überhaupt wieder erwerbstätig werden kann, ist ein Vollzeit-Betreuungsplatz für ihre Tochter, den sie vor dem Hintergrund ihres Alleinerziehenden-Status unmittelbar erhält. Später kann Frau Schubert mit ihrer Tochter in die betriebseigene Kita wechseln, was ihr mehr zeitliche Freiheiten
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und größere Unabhängigkeit von Betreuung im Rahmen von Solidargemeinschaften einräumt. „Und haben das Glück, dass der Arbeitgeber quasi nen Kindergartenplatz ermöglicht hat, weil es gibt ne Betriebskita und die hat glücklicherweise ganz gute Öffnungszeiten. Kernzeit von 7 bis 17 Uhr und Überbuchungszeiten ab 6 bis 20 Uhr. Joa. ... Das ist so das... wichtigste (lachend), ne? Deswegen kann ich arbeiten, ohne das würde es kaum gehen. Vorher hatten wir nur einen Standardkindergarten, der hatte nur bis vier Uhr auf. Das war unendlich schwierig, da musste man ein ganz großes Helfersystem immer installieren, ne? Oben bei Nachbarn und gedöns, weil die ja nur bis 4 Uhr aufhatten.“ (Z. 14, Frau Schubert)
In der Klinik kann Frau Schubert als Physiotherapeutin jedoch nur auf eine Teilzeitstelle wiedereinsteigen, da sie vor dem Mutterschutz bereits (unfreiwillig) Teilzeit gearbeitet hatte. Nur auf ihr Insistieren gegenüber dem Arbeitgeber hin werden 50 Prozent der Stelle entfristet. Der andere Stellenanteil ergibt sich aus einer befristeten Aufstockung. „Im Moment habe ich noch eine 3/4 Stelle, die ist aber befristet gewesen für die Zeit der Elternzeit einer Kollegin. Ich habe damals aber gesagt, ich würde da nicht anfangen, wenn die... nicht mindestens 20 Stunden entfristet ist und das haben die damals auch gemacht. Die haben gesagt, okay 20 sind entfristet. Das heißt, ab November habe ich jetzt wieder zwar nur 20 Stunden, aber dafür entfristet.“ (Z. 33, Frau Schubert)
Im Vergleich zu Frau Müller lässt sich für Frau Schubert jedoch eine gute Arbeitsmarktposition rekonstruieren, da sie sich als qualifizierte Fachkraft mit speziellen Kenntnissen kompetent zeigt und neben ihr nur eine begrenzte Anzahl an Physiotherapeut*innen in Deutschland überhaupt über vergleichbares Wissen verfügt. Diese Qualifikationen erscheinen als zentrale Bedingung ihrer Mehrfacherwerbstätigkeit, strukturieren ihre beruflichen Netzwerke und fungieren als ‚Eintrittskarte‘ in die Schwarzarbeit sowohl in Privathaushalte als auch in die lokalen Gesundheitsstrukturen wie Arztpraxen: „Ja ne, das ist bei uns so’n bisschen, man kennt sich so’n bisschen, ne? Es gibt bestimmte Qualifikationen, die man braucht und die nur bestimmte Leute haben und dann.. ja. […] Das ist alles so’n bisschen.. unter der Hand. Da gibt es keine offiziellen Stellenausschreibungen oder sonst was“ (Z. 544, Frau Schubert). Die neben dem bestehenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis ausgeübte Schwarzarbeit normalisiert Frau Schubert denn auch als ‚typisch‘ für ihren Berufsstand. Schwarzarbeit stellt prinzipiell eine gute Mög-
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lichkeit dar, Geld unkompliziert und steuerfrei hinzu zu verdienen, etwa wie bei ihrer wöchentlichen Tätigkeit in der Praxis: „Genau. Das ist so.. ne? Da habe ich noch nicht mal einen Vertrag. Also man geht dahin, kriegt sein Geld und das war’s. Also es ist so ein bisschen.. das ist in der Physiotherapie so“ (Z. 264, Frau Schubert). Anders als Frau Müller, die sich aufgrund ihres Hauptverdienstes als Frau kontinuierlich als Ausnahme darstellt, steht die Mehrfacherwerbstätigkeit von Frau Schubert insofern explizit nicht im Kontext ihres (alleinerziehenden) Familienernährerinnen-Status, wenngleich ihr Ernährerinnen-Status ebenso alternativlos erscheint. Mehreren, auch illegalen Tätigkeiten nachzugehen, deklariert Frau Schubert vielmehr als ‚typisch‘ für ihren Beruf. Auch scheint Frau Schubert in ihrem Beruf insofern nicht (derart) von sozialpolitischen Transformationsprozessen im Gesundheitswesen betroffen zu sein, wie sich dies bei Frau Müller rekonstruieren lässt. Im Gegenteil: Frau Schubert fühlt sich mit ihren spezifischen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt und kann diese (im Kontext von Schwarzarbeit) verwerten. Auch die sozialpolitischen Regelungen zur Begünstigung eines Alleinverdiener*innen-Modells scheinen Frau Schubert als Alleinerziehende anders als Frau Müller kaum zu tangieren. Allerdings fühlt auch sie sich im Vergleich zu anderen Eltern benachteiligt, weil sie und ihr Partner zu Lebzeiten nicht verheiratet waren. Dadurch fehlt der Anspruch auf Witwenrente und es entstehen Nachteile aufgrund des Krankenversicherungsstatus ihrer Tochter: „Andere Kinder sind ja familienversichert. Kinder, die Waise sind, sind nicht familienversichert, müssen sich selbst versichern in der Krankenkasse der Rentner. Die muss man selber bezahlen auch. Und.. da darf man nicht zu Hause bleiben, wenn das Kind krank ist“ (Z. 178, Frau Schubert). Anders als gesetzlich familienversicherte Kinder kann Frau Schubert sich lediglich vier statt zehn Tage im Jahr mit ihrer Tochter krankschreiben lassen und dies nur auf Grundlage freiwilliger Zugeständnisse ihres Arbeitgebers, nicht aufgrund sozialpolitischer Regelungen. Trotz der unterschiedlichen Entwürfe im Hinblick auf Mehrfacherwerbstätigkeit bei den beiden Familienernährerinnen ähneln sich die Strategien von Frau Müller und Frau Schubert, mit der diese ihrer Mehrfacherwerbstätigkeit nachgehen bzw. diese organisieren. Ziel der Mehrfacherwerbstätigkeit ist das Generieren von mehr Einkommen sowie der Ausgleich einer als unsicher empfundenen beruflichen Zukunft. Dabei zeigt sich insbesondere Frau Schubert als kreativ, findig und flexibel bei der Kombination mehrerer, eben auch informeller Verdienstmöglichkeiten. Sie sucht sich frühzeitig eine dritte Verdienstmöglichkeit im Rahmen eines Privathaushaltes, noch bevor die befristete Aufstockung ihres Teilzeitvertrages in der Klinik ausläuft und sie dort wieder auf eine halbe Stelle
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zurückfällt. Dies gelingt ihr aufgrund ihrer beruflichen Qualifikationen und des beruflichen Netzwerkes. „Hab ich da mal angerufen und gesagt, na ja, ich hab die und die Qualifikationen, die und die bräuchten Sie und dann ja. So. […] Die interessiert es auch nicht, ob ich ein Kind habe oder nicht oder wo ich wohne, das interessiert die alles nicht. Die wollen jemand, der das macht und (lachend) dann ist gut. Also ja.“ (Z. 545, Frau Schubert)
Durch die mehrfache Erwerbstätigkeit eröffnen sich die Mütter insofern berufliche Perspektiven, die sowohl kurzfristig wirksam werden, wie bei Frau Schubert zu sehen, als auch langfristig von Bedeutung sein können, wie bei Frau Müller (vgl. Kap. 4.3.1). Bei alldem bleibt das Normalarbeitsverhältnis Orientierungsrahmen und Referenz. So wünscht sich sowohl Frau Müller für die Zukunft, mit ihrer Anstellung in der Klinik mehr Geld zu verdienen oder diese aufstocken zu können und Frau Schubert versucht durch feste Arbeitstage in der Praxis und dem Privathaushalt eine Fünftagewoche mit 40 Wochenstunden zu realisieren: „Jetzt im Moment komme ich ungefähr auf 40 und dann komme ich auch ungefähr auf 40. Mal gucken. […] Das ist immer so ein bisschen geschustert“ (Z. 40, Frau Schubert). Dennoch bleibt die so ‚zusammengeschusterte‘ Vollzeitstelle aus einem Haupt- und zwei Nebenjobs weiterhin mit Unsicherheiten behaftet, denn Höhe und Regelmäßigkeit des Zuverdienstes bleiben stets ungewiss. Darüber hinaus entbehrt insbesondere die Schwarzarbeit jegliche Form des Arbeitnehmer*innenschutzes sowie rechtliche Grundlage, um im Konfliktfall Forderungen zu stellen. Sie sagt selbst: „Ne, da hab ich.. genau, das sind einfach stundenweise werde ich bezahlt. Wenn ich komm, krieg ich (lachend) Geld, komm ich nicht (lachend), krieg ich kein Geld. Genau“ (Z. 257, Frau Schubert). Vor diesem Hintergrund weiß Frau Schubert die Vorzüge ihrer sozialversicherungspflichtigen Anstellung in der Klinik zu schätzen. „Deswegen bin ich ja froh, in der Klinik zu sein. Weil da hat man festes Gehalt, die zahlen immer (lacht), ne? Da kriegt man immer auch was, wenn man mal selber nen Krankenschein hat, ich kann mir auch auch den Arm brechen ähm.. ja all so Sachen. Eine Fortbildung kriegt man bezahlt ähm man kriegt fünf Tage Fortbildungsfrei im Jahr. All diese Vorteile hat eine Klinik. Das hat ne Praxis nicht.“ (Z. 265, Frau Schubert)
Deutlich wird erneut die Relevanz des sozialversicherungspflichtigen Angestelltenverhältnisses für die praktizierten Nebentätigkeiten. Wie bereits weiter oben
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angerissen, lässt sich eine Symbiose aus den prekären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbedingungen und der Mehrfacherwerbstätigkeit rekonstruieren. Die nicht ausreichend entlohnten Berufe sowie über lange Zeiten hinweg nur befristeten Angestelltenverhältnisse im Bereich von Pflege und Funktionsund medizinisch-technischen Diensten im deutschen Krankenhaussektor bedingen Mehrfacherwerbstätigkeit. Dies wird besonders dort sichtbar, wo ein solcher Beruf unter diesen Bedingungen das einzige bzw. Haupteinkommen im Haushaltskontext generieren muss. Die regulären Beschäftigungsverhältnisse stehen in einem ambivalenten Wechselverhältnis mit der ebenfalls prekären Freiberuflichkeit bzw. mit Schwarzarbeit. Einerseits ermöglicht das (Teilzeit-)Angestelltenverhältnis erst die Freiberuflichkeit bzw. Schwarzarbeit, weil die Vorteile einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung weiter genutzt werden können bzw. nicht verloren gehen. Dazu zählen beispielsweise der Zugang zur Sozialversicherung sowie die Möglichkeiten der kostenlosen Familienversicherung, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, berufliche Fortbildungsmöglichkeiten, der Zugang zu familienfreundlichen Strukturen wie einer Betriebskita sowie ein festes und regelmäßiges Entgelt. Unsicherheiten im Hinblick auf Einkommen oder sozialer Sicherung im Kontext von Freiberuflichkeit bzw. Schwarzarbeit können auf diese Weise miniert werden. Andererseits stützen die Nebentätigkeiten jedoch auch die prekären Beschäftigungsverhältnisse in den Kliniken, da sie das unzureichende Erwerbseinkommen aufstocken, unsicheren Zukunftsperspektiven in der Klinik etwas entgegensetzen und nicht zuletzt sinnstiftende Tätigkeiten darstellen, die mit subjektiven Qualitätsansprüche an das eigene Arbeiten einhergehen, die im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses als nicht (mehr) erfüllt betrachtet werden. Dass das beschriebene Wechselverhältnis Mehrfacherwerbstätigkeit auch jenseits der finanziellen Notwendigkeit eines Zuverdienstes auszeichnet, zeigen die folgenden Unterkapitel. 4.3.3 Mehrfacherwerbstätigkeit als Vereinbarkeitsund Weiterbildungsstrategie „Ich habe auch deswegen meine eigene Praxis dann aufgemacht. Die habe ich auch hier im Haus. Ich bin zu Hause. Und ich bin trotzdem arbeiten.“ (Z. 361, Frau Zimmer)
Mehrfachbeschäftigung wird nicht nur aus der finanziellen Not heraus geboren und ein prekäres Beschäftigungsverhältnis erscheint nicht als einzige Bedingung
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für Mehrfacherwerbstätigkeit. Auch dort, wo erwerbstätige Mütter bzw. Väter in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ausreichend Einkommen generieren bzw. über den Haushaltskontext finanziell und sozial abgesichert sind und nur einen Zuverdienst erwirtschaften (müssen), gehen diese mehr als einer bezahlten Tätigkeit nach. Rekonstruiert werden kann im Material Mehrfacherwerbstätigkeit etwa auch als bewusst gewählte Weiterbildungs- und Vereinbarkeitsstrategie. So arbeitet beispielsweise Frau Zimmer in ihrer Hauptbeschäftigung als Intensivkrankenschwester in einer öffentlichen Klinik. Anders als in den zuvor genannten Fällen (vgl. Kap. 4.3.1 und 4.3.2) verfügt sie dort über eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die weitestehend einem Normalarbeitsverhältnis entspricht. Ihre Anstellung basiert auf einer unbefristeten Vollzeitstelle, die sie seit der Geburt der Kinder selbstbestimmt und zeitlich befristet auf Teilzeit reduziert hat. „Ich habe einen Untervertrag unter meinem 100-Prozent-Vertrag, den ich selber befriste. Das heißt, ich schreibe alle zwei Jahre einen Antrag auf Weiterbefristung. Ich überlege mir alle zwei Jahre, wie hoch ich arbeiten … wie viel ich arbeiten gehen möchte. Und bis jetzt hat es auch toi, toi, toi dank des guten Arbeitgebers noch nie Probleme gegeben. Also ich konnte hochgehen, ich konnte runtergehen, das war immer noch gar kein Problem im Rahmen der Elternzeit äh im Rahmen der Kindererziehung, und ich glaube, bis das jüngste Kind 18 ist geht das ja.“ (Z. 372, Frau Zimmer)
Auf diese Weise war es Frau Zimmer möglich, in den vergangenen Jahren unterschiedlich hohe Stellenanteile zu realisieren, aktuell arbeitet sie auf einer 30 Prozent-Stelle, was zwei Diensten pro Woche entspricht. Der geringe Stundenumfang in der Klinik erklärt sich jedoch nicht allein aus der Übernahme der gesamten Sorgearbeit für die vierköpfige Familie, für die sich Frau Zimmer allein verantwortlich sieht. Zum einen muss Frau Zimmer für die Hin- und Rückfahrt zur Klinik über 100 km zurücklegen, zum anderen ist sie bereits seit vielen Jahren mit ihrer Arbeitssituation auf der Intensivstation unzufrieden.36 „Ich war vor den Kindern mit meinem Beruf nicht ganz zufrieden und habe da schon geguckt, was Anderes möglich ist. […] Ja, war so ein bisschen unzufrieden die ganze Zeit eigentlich. Also so eine Grund-Unzufriedenheit. Ich bin zwar arbeiten gegangen, alles
36
Dies lässt sich unter anderem mit den Konflikten zwischen ihr und der Stationsleitung hinsichtlich der Dauer, Lage und Verteilung ihrer Arbeitszeiten in Verbindung bringen (vgl. Kap. 4.2.1).
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drum und dran, und habe auch nichts hingeschmissen, aber vom Prinzip dachte ich so, das jetzt noch 40 Jahre machen?! Hm, nee, irgendwie nicht.“ (Z. 327, Frau Zimmer)
Die beruflichen Nebentätigkeiten, die Frau Zimmer beginnt, fallen zwar zeitlich mit ihrer Elternschaft zusammen, der Wunsch nach einer beruflichen Umorientierung oder zumindest Veränderung existiert jedoch schon länger im Lebensverlauf. Die erste Zeit der Mutterschaft, in der sie sowohl durch das Elterngeld als auch im Haushaltskontext finanziell und sozial abgesichert ist, erscheint Frau Zimmer als passende Phase, um sich zeitliche Freiräume zu verschaffen und Neues auszuprobieren. So arbeitet Frau Zimmer zunächst während der Elternzeit einige Monate in einem ambulanten Intensivpflegedienst steuer- und sozialversicherungsfrei auf 450 Euro-Basis. Dort realisiert sie vor allem Nachtdienste, um tagsüber für die Kinder sorgen zu können. Dass sie dafür auf notwendigen und erholsamen Schlaf verzichtet, spielt für Frau Zimmer vor diesem Hintergrund eine untergeordnete Rolle. „Weil ich da nur drei Nächte gehen musste im ganzen Monat […] Und es war vom Prinzip eine Arbeit, die leicht gewesen ist. Es war nicht sehr körperlich belastbar, es war auch nicht psychisch so belastbar, dass das gut gewesen ist. […] Die Anna war dann schon im Kindergarten, der Nils ist dann bei einer Nachbarin gewesen zur Betreuung für ein paar Stunden, bis ich geschlafen hatte.“ (Z. 46, Frau Zimmer)
Parallel dazu realisiert Frau Zimmer nicht nur ihren Wiedereinstieg auf die vorherige Stelle im Krankenhaus im Rahmen einer 40-Prozent-Stelle, sondern beginnt zusätzlich eine berufliche Weiterbildung zur Heilpraktikerin: „Ich bin dann teilweise auch dreigleisig gefahren“ (Z. 53, Frau Zimmer). Dass sich Frau Zimmer für einen Beruf im Bereich der Naturheilkunde entscheidet, steht erneut im engen Zusammenhang mit ihrer Elternschaft. So kommt sie erst durch die Kinder mit der Naturheilkunde in Berührung, der sie selbst aufgrund ihrer schulmedizinischen Ausbildung eigentlichen skeptisch gegenübersteht. „Und dann bin ich durch die Kinder halt auf diese Naturheilkunde geraten und … ja, und dann haben zwei Freundinnen von mir gesagt: Ja, mach doch das! Und da habe ich das erst lange … nee, von der Hand gewiesen. Es war ja, bis vor den Kindern konnte ich mit Naturheilkunde ja auch nicht viel anfangen. Und klar, ich war natürlich 100 Prozent Intensivschwester, das war … […] Ja. Wenn dann einer um die Ecke kommt und sagt, ich gebe dir ein paar Zuckerkügelchen, damit wirst du wieder gesund, war für mich damals vor den
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Kindern absolut nicht vorstellbar. Und dann habe ich aber doch lange darüber nachgedacht und dacht, ja … Und das ist auch wirklich so.“ (Z. 340, Frau Zimmer)
Interessanterweise überwindet Frau Zimmer ihre Skepsis nicht vor dem Hintergrund selbstgemachter (Heilungs-)Erfahrungen, sondern legt sich diese Überzeugung aufgrund ‚langen Nachdenkens darüber‘ zu. Die dennoch verbleibende Distanz gegenüber „dieser Naturheilkunde“, in die sie „geraten“ sei, verweist auf andere oder zumindest weitere Gründe, die sie zu dieser Weiterbildung bewegt haben. Denn gleichzeitig ist Frau Zimmer durch die Kinder zeitlich eng gebunden und kann insofern nur berufliche Fort- oder Weiterbildungen realisieren, die mit ihren Sorgeverpflichtungen vereinbar sind. „Das war eine Schule, wo ich als Krankenschwester Vorteile hatte. Das heißt, die Schulzeit hat sich halbiert. […] Ich musste nicht drei Jahre, sondern nur anderthalb Jahre. Und ich musste auch nur einmal in der Woche drei Stunden. Und das war auch ganz toll. Das war ein rollierendes System. Ich konnte jederzeit einsteigen. Und die hatten morgens und nachmittags einen Kurs, und zwar mit gleichen Unterrichtsinhalten. Das war super ideal. Also das heißt, ich konnte, wenn die Kinder morgens beide im Kindergarten waren, bin ich morgens gegangen.“ (Z. 350, Frau Zimmer)
Relevant erscheint außerdem, dass nichts an der traditionellen und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zwischen ihr und ihrem Mann rüttelt, nach der Frau Zimmer im Alltag allein für die Versorgung von Kindern und Haushalt zuständig ist: „Und wenn einer krank gewesen ist oder irgendwas gewesen ist, bin ich nachmittags gegangen. Und deswegen ging das …das war also echt eine tolle Schule […] Also das war eine komplett harte Zeit, das zu stemmen, weil ich habe auch neben der Schule relativ viel gelernt, weil ich immer gesagt habe, du weißt nie, ob vor der Prüfung nicht irgendeiner total krank ist und du nicht lernen kannst. Also habe ich wirklich konstant durch gelernt die ganze Zeit.“ (Z. 357f, Frau Zimmer)
Eine berufliche Weiterbildung ist offensichtlich nur in einem eng gesteckten Rahmen für Frau Zimmer denkbar und einlösbar, die mit ihrer Rolle als Mutter kombinierbar ist. Das Interesse Frau Zimmers an Weiterbildung trifft jedoch auf bestehende privatwirtschaftliche Strukturen37, die ihr vereinbarkeitsfreundliches
37
Um als Heilpraktiker*in, ein in Deutschland staatlich anerkannter und geschützter Beruf, tätig sein zu dürfen, muss die gesetzlich vorgeschriebene Heilprakti-
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Schulsystem explizit an Personen mit Sorgeverpflichtungen adressieren, die bereits über Vorerfahrungen im medizinischen Bereich verfügen. Von Zusatzausbildungen, die sich flexibel gegenüber den Bedürfnissen der Teilnehmer*innen zeigen, berichten auch andere Mütter, die sich nebenberuflich im Bereich alternativer Naturheil- und Körpertherapieverfahren weitergebildet haben. „Ich habe ja noch so eine Zusatzausbildung angefangen. Das hat ja jetzt nichts mit dem Krankenhaus zu tun. […]am Anfang war das halt immer ein Wochenende noch im Monat. […] Und da aber ganz viele nicht weitermachen wollten, weil denen das halt einfach von der Zeit halt zu getaktet war, hat er [der Ausbilder, Anmerk.K.M.] dann gesagt, wie das denn wäre, ob sich die Leute darauf einlassen können, das über zwei Jahre zu ziehen.“ (Z. 275, Frau Reinhard)
Andere berufliche Fort- und Weiterbildungen schneiden im Vergleich dazu offensichtlich schlechter ab. So hatte Frau Zimmer zwar darüber nachgedacht, an die Universität zu gehen, vor dem Hintergrund ihrer schulischen Bildung erschienen ihr die Zugangsmöglichkeiten allerdings als unerreichbar: „Hatte auch schon mal überlegt, noch zu studieren. Ich habe aber leider kein Abitur, und da waren mir dann die … Fernstudium wollte ich keins machen, die Einstiegsmöglichkeiten waren ganz kompliziert mit allem drum und dran“ (328, Frau Zimmer). Die Weiterbildung zur Heilpraktikerin dagegen baut auf ihren bestehenden beruflichen Qualifikationen und ihrem medizinischen Fachwissen auf. Gleichzeitig verspricht sich Frau Zimmer davon eine sinnvolle Tätigkeit, die ihr offensichtlich eine höhere Identifikation bietet als ihre Hauptbeschäftigung als Intensivkrankenschwester. „Ich mache was, was mir Riesenspaß macht, was mich wirklich erfüllt, wo ich wirklich sage, du machst was Gutes, du tust den Leuten gut“ (363, Frau Zimmer). Ihren pflegerischen Anspruch gegenüber erkrankten Menschen sieht Frau Zimmer offensichtlich stärker in der Naturheilkunde verwirklicht als im Krankenhaus. Das liegt auch an der hohen Unzufriedenheit mit ihrer Tätigkeit als Intensivkrankenschwester vor dem Hintergrund der bestehenden Arbeitsbedingungen auf der Station, die von Überbelastung und Zeitnot charakterisiert sind und letztlich zu wenig Kontakt mit den Patient*innen ermöglichen.
ker*innenprüfung bestanden werden. Die Ausbildung zur Heilpraktiker*in an einer privatwirtschaftlichen Schule ist kostenpflichtig, ihr Besuch ist jedoch nicht Bedingung für die Zulassung zur Prüfung.
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„Es ist schon, dass diese Klinik, also diese Arbeit in der Klinik mich schon sehr belastet. Und dementsprechend ich auch oft vor der Arbeit schon mich damit beschäftige, ich muss jetzt arbeiten. Und auch noch Tage danach beschäftige, wenn ich dann arbeiten gewesen bin, weil es dann doch wieder sehr belastend gewesen ist.“ (Z. 701, Frau Zimmer)
Die gleichen Entwürfe finden sich auch bei anderen Beschäftigten in der Pflege sowie im Funktions- bzw. medizinisch-technischen Dienst mit Mehrfachbeschäftigung im Material. So gibt die alleinerziehende Pflegekraft Frau Reinhard ähnliche Beweggründe an, sich nebenberuflich im Bereich alternativer Körpertherapieverfahren38 ausbilden zu lassen. „Also ich habe ja dann nach zwei Jahren oder so was, da war ich halt so vom Krankenhaus, habe ich gesagt, ach nee, und das immer und so viel, und hast du keine Lust. Du willst dich eigentlich auch mal nur um einen kümmern oder so was. Ich habe ja noch so eine Zusatzausbildung […] angefangen. Das hat ja jetzt nichts mit dem Krankenhaus zu tun. Das ist eigentlich was, was ich persönlich gemacht habe“ (Z. 275, Frau Reinhard)
Die alternativen, anthroposophischen Naturheil- und Körpertherapieverfahren werden explizit in den Kontext des gewandelten, d.h. vermarktlichten Gesundheitssystems sowie der prekären Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor gestellt und erscheinen gleichzeitig als komplementär und widersprüchlich zum ausgeübten Hauptberuf in der überwiegend schulmedizinisch basierten Pflege und Behandlung von Patient*innen. „Weil ich einfach sage, das geht auf Dauer nicht gut. Also das, was ich immer schon sagte, auch dieser Spagat jetzt zwischen der Naturheilkunde und dieser Intensivpflege, das ist auch so ein … weil ich einfach merke, das was ich den Patienten gerne Gutes tun möchte, kann ich da nicht. […] Dafür ist keine Zeit, das ist einfach … und auch nicht der Rahmen.“ (Z. 707. Frau Zimmer)
Die im Krankenhaussektor vorgefundenen Arbeitsbedingungen werden nicht nur als kontinuierliche physische Überbelastung wahrgenommen, sondern auch als starke Unzufriedenheit mit der eigenen ausgeübten Erwerbsarbeit im Hinblick auf eigene Qualitätsansprüche und Sinnerleben erfahren. Sinn und Qualität in der Arbeit werden stattdessen im Rahmen des Nebenjobs versucht zu verwirklicht (vgl. auch den Fall der Hebamme Frau Müller in Kap. 4.3.1).
38
Zwecks Anonymisierung wird auf eine genauere Benennung von Frau Reinhards Nebenberuf verzichtet.
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„Für mich ist das so was, das begleitet mich durch mein Leben, und ich habe da noch mal ganz viel gelernt, wie gucke ich mir Menschen an, wie gehe ich mit Menschen um, und das ist halt auch so ein bisschen TCM [traditionelle chinesische Heilmedizin, Anmerk.K.M.] ist da mit dabei, das finde ich total interessant.“ (Z. 311, Frau Reinhard)
Wie in den voranstehenden Kapiteln zeigt sich für Mehrfachbeschäftigung als (freiwilliger) Weiterbildungs- und Vereinbarkeitsstrategie hier erneut eine Symbiose aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und der Nebentätigkeit im Bereich alternativer Medizin. Einerseits erscheint letztere als Ressource zu den körperlichen und seelischen Belastungen im pflegerischen Alltag. Andererseits ermöglichen erst die Vorteile der sozialen Absicherung über eine Solidargemeinschaft den Schritt in die Freiberuflichkeit. Sie sagt: „Du hast einen guten Arbeitgeber, du hast einen unbefristeten Vertrag. Öffentlicher Dienst ist auch nicht zu verachten. Du bleibst mal auf der Schiene“ (Z. 335, Frau Zimmer). „Deswegen denke ich, ein gewisser Grundlohn ist schon mal ganz gut. Und ich muss keine Krankenkasse bezahlen, das muss man natürlich auch ganz ehrlicherweise dazu sagen. Ich bin versichert, das zahlt mein Arbeitgeber mit mir zusammen natürlich, aber ich muss mich nicht selbst versichern.“ (Z. 382, Frau Zimmer)
So hat Frau Zimmer die Aufgabe ihres Angestelltenverhältnisses in der Klinik nie in Betracht gezogen, nicht zuletzt aufgrund der wahrgenommenen Unsicherheiten des Arbeitsmarktes. Im Notfall könnte sie den Ausfall ihres Mannes als Familienernährer auf Grundlage ihrer Anstellung in der Klinik zumindest ein Stück weit abfangen. „Weil ich einfach sage, es ist einfach finanziell doch gut zu wissen, ich habe einen Background, ich kann jederzeit … ich habe ja immer noch meinen 100-Prozent-Vertrag […] Und das heißt, in der Lebensmittelbranche weiß man auch nie, wie es mal irgendwann weitergeht und ob da nicht doch mal irgendwie eine feindliche Übernahme ist und ein Werk geschlossen wird oder sonst irgendwas. Und so wissen wir beide, zur Not kann ich immer noch 100 Prozent gehen, auch wenn ich es nicht machen möchte. Aber es ist noch da.“ (Z. 369, Frau Zimmer)
Durch die nebenberufliche Tätigkeit als Heilpraktikerin eröffnen sich Frau Zimmer so zwar neue berufliche Optionen, die eine größere „Wahlfreiheit“ auch im Lebensverlauf versprechen. Diese bleiben jedoch auf ihre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sowie die finanzielle Unterstützung im Haushaltskontext angewiesen, da sie keine eigene soziale Sicherung und kein hohes oder gar existenzsicherndes Einkommen generieren: „Okay, ich habe jetzt wieder aufge-
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stockt, weil einfach Selbstständigkeit halt doch nicht das finanzielle Polster ist“ (Z. 382, Frau Zimmer). An anderer Stelle sagt sie: „Es ist halt einfach, ich bin momentan am suchen nach einer anderen Möglichkeit bei uns im Haus, doch mal die Station zu wechseln“ (Z. 704, Frau Zimmer). Für die Pflegekraft Frau Reinhard erscheint der Schritt in die Freiberuflichkeit und damit den Ausbau ihrer Nebentätigkeit vor dem Hintergrund ihres Alleinerziehenden-Status dagegen als unmöglich. Dies scheitert an den dafür notwendigen Ressourcen. „Das ist aber halt oft auch einfach schwierig, weil wie mache ich das jetzt? Dann müsste ich einen Raum anmieten. Die meisten Leute können abends. Dann muss ich mir wieder einen Babysitter besorgen. Hier im Wohnzimmer kannst du auch nicht alle behandeln, so ungefähr. Das ist dann eher sind es Leute, die man auch so ein bisschen kennt einfach. Und da hat sich im Moment noch nicht der richtige Weg aufgetan. Aber ich mache immer so ein bisschen.“ (Z. 319, Frau Reinhard)
Im Material zeigt sich aber auch, dass Frau Reinhard eine richtige Freiberuflichkeit bzw. Selbstständigkeit gar nicht in Betracht zieht – jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt im Lebensverlauf, an dem sie sich während des Interviews befindet. „Also ich habe jetzt schon mein Vordiplom. Das habe ich. Aber um dann so eine Anerkennung […] zu bekommen, musst du halt so und so viel Stunden nachweisen, musst du dir selber [die Körpertherapie, Anmerk.K.M.] geben lassen, musst Supervisionen besuchen, musst eine Arbeit schreiben. Da weiß ich ganz ehrlich auch noch nicht, ob ich das in zwei Jahren fertig habe, aber es ist auch egal. […] Was daraus wird, wird man sehen.“ (Z. 304, Frau Reinhard)
Bei Frau Reinhard stehen als alleinerziehende Familienernährerin die Erwirtschaftung des Familieneinkommens sowie die gleichzeitige Sorgearbeit gegenüber ihrem Sohn im Lebensmittelpunkt, die Ausübung des Nebenberufs bleibt in der Gegenwart unbestimmt. Letztlich kann auf Grundlage des Materials Mehrfacherwerbstätigkeit als Verknüpfung einer Weiterbildungs- und Vereinbarkeitsstrategie für Frau Zimmer bedeutet werden: „Ich habe während der ganzen Zeit, um Vereinbarkeit zu erreichen, mich weitergebildet“ (Z. 19, Frau Zimmer). Wie das nachfolgende Zitat verdeutlicht, ermöglicht ihr der Schritt in die nebenberufliche Freiberuflichkeit als Heilpraktikerin, ihrer Vorstellung von Mutterschaft gerecht zu werden, die eng verknüpft sind mit häuslicher Anwesenheit.
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„Und ja, und das habe ich dann halt gemacht, um einfach zu sagen, ich bin mein eigener Herr. Ich habe auch deswegen meine eigene Praxis dann aufgemacht. Die habe ich auch hier im Haus. Ich bin zu Hause. Und bin trotzdem arbeiten.[...] Und die Kinder wissen trotzdem, Mama ist da. Und das finde ich eine gute … fand ich für mich eine gute Vereinbarkeit. Natürlich, ich komme nicht aus dem Haus. Ich habe die Arbeit immer im Haus. Das hat auch seine Nachteile. Man ist auch nie richtig weg zum Arbeiten. Es wird auch manchmal nicht so wahrgenommen wie Arbeit. Aber das war für mich das Ziel zu sagen, okay, ich bin zu Hause und meine Kinder haben einen Ansprechpartner, wenn was ist, können sie runter kommen, können klopfen und dann kann ich mit ihnen wichtige Dinge klären. Und das fand ich einfach gut, und deswegen habe ich das gemacht.“ (Z. 361, Frau Zimmer)
Letztlich lässt sich Frau Zimmers Agieren in der Mehrfacherwerbstätigkeit bei anhaltender Sorgeverpflichtung auch als Ausdruck fehlender Anerkennung bzw. einer Suche danach deuten – sowohl innerhalb der durch sie vollbrachten Betreuungs- und Hausarbeit als auch innerhalb der beruflichen Sphäre. So betont sie im oben stehenden Zitat, dass ihre Freiberuflichkeit ‚manchmal auch nicht so wahrgenommen werde wie Arbeit‘, weil diese in der Häuslichkeit stattfände. Der Versuch von Frau Zimmer, Sorge- und Erwerbsarbeit ‚unter ein Dach‘ zu bringen, indem sie die Erwerbsarbeit in die Häuslichkeit integriert, lässt sich durchaus als widerständische Praxis lesen. Auch wenn Frau Zimmer ihr Handeln weder politisch, noch feministisch, sondern vor allem persönlich rahmt („fand ich für mich eine gute Vereinbarkeit“), so verspricht die nebenberufliche Freiberuflichkeit das Aufheben des Widerspruchs aus einer zeitlich und räumlich gesehen diffusen Sorgearbeit und einer außerhäuslich stattfindenden, fremdbestimmten Erwerbsarbeit. Gleichwohl bleibt die Freiberuflichkeit auf die finanzielle und soziale Absicherung im Rahmen ihrer Anstellung in der Klinik und des Haushaltskontextes angewiesen. Darüber hinaus ist Frau Zimmer paradoxerweise im Zuge dessen gezwungen, die Hierarchisierung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu reproduzieren. Sie ist bemüht darum, ihre Freiberuflichkeit als Erwerbsarbeit kenntlich zu machen und zu institutionalisieren, indem sie von ihrer „Praxis“ spricht und an der Haustür ein Berufsschild anbringt. Gleichzeitig bleiben die Zeiten ihrer Erwerbsarbeit diffus und an die Zeiten der Kinder gebunden. Die durch sie erledigte Sorgearbeit nachmittags wertet sie selbst verbal ab: „Weil momentan habe ich nachmittags Siesta, das heißt, ich arbeite von eins bis um fünf gar nicht in der Praxis, dass ich auch mal so einen Tag durcharbeiten kann [Herv. K.M.]“ (Z. 765, Frau Zimmer). Weniger in ihrer Mehrfacherwerbstätigkeit als vielmehr in dem Streben nach Vereinbarkeit bei gleichzeitiger Suche nach einer sinnstiftenden Tätigkeit jen-
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seits vorhandener beruflicher Qualifikationen, die in einer nicht existenzsichernden, häuslichen Freiberuflichkeit und somit in Abhängigkeit eines Familienernährers verbleibt, ähnelt Frau Zimmer insofern auch anderen Müttern im Sample. Beispielhaft kann Frau Kowak angeführt werden, die vor dem Hintergrund der Bildungsmigration ihres Mannes von Polen nach Deutschland eine Dequalifizierung ihres Jura-Abschlusses hinnimmt und im Kontext eines ehelichen Alleinverdiener*innen-Modells als berufliche Neuorientierung eine prekäre Selbstständigkeit erwägt, die entweder auf geschlechts- oder migrationsspezifische Zuund Festschreibungen aufbaut (vgl. Kap. 4.3.1). Ähnliches berichtet die Pflegekraft Frau Grosse, die einige Zeit ein prekäres Kleingewerbe betrieb, das ebenfalls an ihre naturalisierte und geschlechtsspezifische Rolle als Mutter anknüpfte und wie bei Frau Zimmer Vereinbarkeit zur Heimarbeit versprach. „Als er [der Sohn, Anmerk.K.M.] ein halbes Jahr alt war ungefähr, da habe ich mich selbstständig gemacht. Und habe genäht. Ich hatte ein kleines … also ich habe das von zu Hause aus gemacht. Ich hatte ein Kleingewerbe und habe dann so durch Mund-zu-MundPropaganda […] Kinder-Accessoires und solche Sachen genäht und habe mir dadurch ein bisschen was dazu verdient.“ (Z. 195, Frau Grosse)
Insgesamt zeichnet sich hier eine Strategie der finanziell und sozial über den Ehemann abgesicherten Mutter der Mittelschicht ab. Allerdings kann Frau Zimmers Streben nach beruflicher Fortbildung auch für das Fehlen staatlicher Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen stehen, die den Bedürfnissen von Personen mit Sorgeverantwortung gerecht werden. Ganz sicher muss auch Frau Zimmers Mehrfacherwerbstätigkeit, wie in Kap. 4.3.1. am Fallbeispiel der Hebamme Frau Müller aufgezeigt, in den Kontext eines politisch forcierten Umbaus des Gesundheitssystems und Krankenhaussektors gestellt werden. Während die einen gezwungen sind, sich frühzeitig berufliche Alternativen für die Zukunft aufzubauen, weil sie sich von ihrem Beruf dauerhaft überlastet und inhaltlich entfremdet fühlen, stehen die Nebentätigkeiten Anderer für lukrative Ausstiegsszenarien und berufliche Gestaltungsoptionen in der Zukunft, wie das folgende Kapitel zeigt.
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4.3.4 Nebentätigkeiten als berufliche Zukunftsszenarien „Ich habe aber natürlich schon eine genaue Vorstellung darüber, was ich mit 45 oder 46 in dieser Art der Belastung mit den Dienstformen noch so leisten mag und habe da eine Idee für so einen Beschäftigungs-Mix.“ (Z. 553, Herr Reuschenbach)
Im Krankenhaussektor sind alle Beschäftigtengruppen mit physisch wie psychisch belastender Erwerbsarbeit konfrontiert, die einen Verbleib in dem Beruf bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter entweder unwahrscheinlich oder unattraktiv macht. So berichten alle erwerbstätigen Mütter und Väter im Schichtsystem und mit Wochenend- und Nachtarbeit von den damit zusammenhängenden gesundheitlichen Belastungen und Herausforderungen im Hinblick auf die Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit. Allerdings stehen den erwerbstätigen Müttern und Vätern je nach Geschlecht, beruflicher Qualifikation und Position auf dem Arbeitsmarkt sowie Nationalität/Migrationshintergrund unterschiedliche Optionen zur Verfügung, sich berufliche Ausstiegsszenarien in der Zukunft durch die Aufnahme von Nebentätigkeiten zu eröffnen. Entsprechung verschieden stellen sich auch die Auswirkungen auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit in der Gegenwart dar. Der politisch forcierte Wandel der Gesundheitsbranche auch in Richtung eines stärker wettbewerbsorientierten Gesundheitsmarktes begünstigt offensichtlich unterschiedliche Wahloptionen. Auf der einen Seite steht der Beruf des Arztes/der Ärztin, dessen Qualifikationen und Fachwissen sich auf dem Gesundheitsmarkt auf unterschiedliche Art und Weise und mit lukrativen Aussichten verkaufen lässt, etwa auf Internetbörsen für notärztliche Einsätze, als Leihärzt*in oder Selbstständige*r. „Es gibt Notarztbörse, also ein Internetportal, wo man sich halt anmelden kann, wo man immer wieder dann halt Informationen bekommt. Das ist ja teilweise nur, dass es zum Beispiel so eine Stadtrallye gibt und man muss als Notarzt daneben stehen […] das sind also unterschiedlichste Veranstaltungen, wo man dann halt einfach Geld dazu verdienen kann […] Ja, da könnte ich meine Seele auch verkaufen eigentlich und als Leihärztin fungieren oder so. Die suchen sie ja auch immer […] Ja, das nimmt zu und da kann man sehr, sehr gut Geld verdienen.“ (396f, Frau Weber)
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Auf der anderen Seite stehen beispielsweise die Hebammen, die sich nicht sicher sein können, in Zukunft mit ihrem Beruf überhaupt noch auf dem Arbeitsmarkt tätig sein zu können. Der Kontext des gewandelten Gesundheitssystems bedeutet zudem für die Beschäftigten in Pflege, Funktions- sowie medizinisch-technischen Diensten Arbeitsverdichtung bei gleichzeitiger subjektiver Entfremdung vom Beruf, was die Suche nach einer Sinnerfüllung jenseits des eigentlichen Berufs wahrscheinlich werden lässt. Dabei gehen, wie bereits beschrieben, die prekären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen mit den Nebentätigkeiten eine gesundheitsgefährdende Symbiose ein. Wo das Erreichen des Renteneintrittsalters in dem gelernten Beruf unwahrscheinlich erscheint, besteht eine größere Notwendigkeit, sich bereits frühzeitig und parallel zur Hauptbeschäftigung ein zweites Standbein aufzubauen, wie das Beispiel von Frau Müller gezeigt hat (siehe Kap. 4.3.1). Auch die Pflegekraft Frau Reinhard verknüpft mit ihrer Freiberuflichkeit im Bereich alternativer Medizin zumindest am Rande die Hoffnung auf einen Nebenverdienst in der Zukunft. Wo eine Erwerbstätigkeit bis zum Renteneintrittsalter zwar möglich, aber wenig attraktiv erscheint und mit einer hohen beruflichen Position und guten Arbeitsmarktposition zusammenfällt, besteht dagegen kein Zwang, sich kontinuierlich parallel zur Hauptbeschäftigung Optionen offen zu halten. So benennt Herr Reuschenbach die aktuell hohe körperliche Belastung als Oberarzt zwar, formuliert gleichzeitig jedoch eine Erfüllung mit seinem Beruf: „Diese[r] Klinikbelastung mit 100 Prozent und aktuell gefühlt 130 Prozent, die mir Spaß macht, aber die trotzdem auch so ein bisschen Körner kostet irgendwie“ (Z. 559). Nebenberufliche Tätigkeiten werden für ihn erst in der Zukunft eine interessante Option, wenn er beruflich etwas geleistet hat und sich auf Grundlage von Mehrfachbeschäftigung eine entlastende Erwerbsarbeitssituation schaffen will. „Ich habe aber natürlich schon eine genaue Vorstellung darüber, was ich mit 45 oder 46 in dieser Art der Belastung mit den Dienstformen noch so leisten mag dann auch und habe da eine Idee für so einen Beschäftigungs-Mix. […] Wo ich auch meine Stelle am Krankenhaus reduzieren möchte. Und auf Honorarbasis notfallmedizinisch tätig sein möchte. Und eine Form der Dozententätigkeit gerne ausüben würde. Wie das alles aussieht, weil alles habe schon mal auch in einem anderen Rahmen auch schon mal gemacht, muss man dann noch genau sehen, wäre aber halt der Gedanke aus dieser Klinikbelastung […] mit dann noch weiterem Alter irgendwann sich ein bisschen rauszunehmen.“ (Z. 556, Herr Reuschenbach)
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Für die Zukunft schwebt Herrn Reuschenbach insofern ein Mix aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in einer Klinik und dem Erbringen freier Dienstleistungen am Gesundheitsmarkt vor. Offensichtlich kann Herr Reuschenbach dabei auf Erfahrungen mit mehrfacher Beschäftigung im Lebensverlauf zurückblicken, zu dieser sieht er sich jedoch – anders als die Mütter in der Pflege sowie im Funktions- bzw. medizinisch-technischen Dienst nicht kontinuierlich gezwungen, um sich „Wahlfreiheit“ auch in der Zukunft zu sichern. Interessant daran ist, dass Teilzeitarbeit als Option in der Zukunft durchaus in der Vorstellung von Herrn Reuschenbach existiert, jedoch nicht zur Bewältigung von Sorgearbeit, sondern um im Alter gesunderhaltender länger erwerbtätig sein zu können. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Herr Reuschenbach von seiner Frau, die nach Abschluss ihrer Facharztausbildung eine Kombination aus angestellter und selbstständiger ärztlicher Tätigkeit auch aus Vereinbarkeitsgründen intendiert. „[Meine Frau] macht Facharztprüfung jetzt im Dezember, sie macht dann noch eine Zusatzbezeichnung Mitte des Jahres und ist auf dem Weg in eine Art Selbstständigkeit, die vermutlich krankenhausintern bleibt […] Und durch den … durch die Weiterqualifizierung ist das natürlich auch ein relativ hoher Marktwert, wenn man das jetzt so beschreiben will. Für den es auch einen großen Bedarf gibt in dem Teilbereich, den meine Frau halt betreut. Und ja, das Wichtigste, was wir halt daran sehen, ist, […] damit gutes Geld zu verdienen und sich das zu sichern. Aber halt auch nicht in diese Mühle Krankenhausdienste mit 24 Stunden zurückzufallen.“ (Z. 536, Herr Reuschenbach)
Auch bei der Ärztin und Familienernährerin Frau Weber steht Mehrfacherwerbstätigkeit stärker im Kontext einer Vereinbarkeitsstrategie. Frau Weber stehen zwar ebenfalls zahlreiche lukrative Zuverdienstmöglichkeiten zur Verfügung, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Zusatzausbildung als Notärztin. Frau Weber nutzt jedoch nur die nebenberuflichen Optionen, die ihr für ihre Facharztausbildung nützlich erscheinen, ihr einen besseren Wiedereinstieg nach der Elternzeit versprechen oder Rückkehroptionen in den Krankenhaussektor in Aussicht stellen, da sie zum Zeitpunkt des Interviews in eine Hausarztpraxis wechselt. So steigt sie parallel während der Elternzeit auf 450-Euro-Basis für einige wenige Dienste wieder in ihre alte Klinik ein: „Naja, ich habe auch gedacht, ich würde das jetzt gerne machen. Bevor ich in der Praxis total versumpfe, dass ich einfach noch mal mein Krankenhauswissen da nicht ganz verkommen lasse.“ (Z. 223, Frau Weber)
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Außerdem ist sie gewillt, sich mit der parallelen Tätigkeit als Notärztin zukünftige Joboption beziehungsweise Rückkehroptionen in den Krankenhaussektor zu erhalten. „Und ja, diese Notarztsache, klar, es ist zum einen, weil ich denke, okay, es ist gut, ich muss da rein. Weil wenn ich jetzt nicht diesen Schritt mache, wo ich noch relativ frisch aus dem Krankenhaus komme, dann werde ich sehr wahrscheinlich den Schritt in zwei, drei Jahren gar nicht mehr machen. Auf der anderen Seite ist es natürlich gut, um Geld zu verdienen.“ (Z. 422, Frau Weber)
Im Material zeigt sich, dass Mehrfacherwerbstätigkeit auch im Kontext zukünftiger beruflicher Ein- und Ausstiegsoptionen stehen kann, die unter verschiedenen Bedingungen eingegangen wird. 4.3.5 Zusammenfassung: „Wahlfreiheit“ durch Mehrfachbeschäftigung? Mehrfachbeschäftigung zeigt sich im vorliegenden Material als ein höchst ambivalentes Phänomen, welches sich einerseits zwischen den Polen der Alternativlosigkeit und Normalisierung bewegt, andererseits nicht mit dichotomen Beschreibungen von freiwillig/unfreiwillig ausreichend charakterisiert werden kann. Der vorgefundene Zusammenhang zwischen Mehrfachbeschäftigung und wohlfahrtsstaatliche Regelungen sowie Transformationsprozesse erstreckt sich einerseits auf bestehende sozial- und familienpolitische Regelungen, die bestimmte, geschlechtsspezifisch untypische Familienmodelle im unteren Einkommenssegment benachteiligen und so die finanzielle Notwendigkeit zum Zweitjob bestärken statt zu mindern. Dies äußert sich in einer stark eingeschränkten „Wahlfreiheit“ dieser Elternteile im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Andererseits wirken sich die beschriebenen Transformationsprozesse im Gesundheitssektor auf das Phänomen der Mehrfachbeschäftigung aus. Dies äußert sich in der beschriebenen Symbiose aus prekären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in den vor allem weiblichen Beschäftigungsfeldern des Gesundheitssektors und zusätzlicher Schwarzarbeit oder Freiberuflichkeit. Dies hat ambivalente Folgen im Hinblick auf „Wahlfreiheit“. So entbehren die verschiedenen im Sample vorgefundenen Varianten von Mehrfachbeschäftigung zumeist grundlegende Rechte und damit Formen des Arbeitnehmer*innenschutzes. Schwarzarbeit und Freiberuflichkeit führen nicht oder nur eingeschränkt zu zusätzlicher sozialer Sicherheit und rechtlichen Ansprüchen. Zusätzliche Hand-
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lungsoptionen entspringen daraus nur bedingt. Allerdings trägt Mehrfachbeschäftigung auch dazu bei, unsicheren beruflichen Zukunftsperspektiven in den Hauptbeschäftigungen etwas entgegenzusetzen und die Nebenberuflichkeit mit sinnstiftenden Tätigkeiten zu füllen. Dies wirkt sich (zumindest perspektivisch) positiv auf die „Wahlfreiheit“ der Elternteile aus. Eine ebenfalls höhere „Wahlfreiheit“ äußert sich, wenn Mehrfachbeschäftigung als Vereinbarkeits- oder Weiterbildungsstrategie realisiert wird. In diesen Fällen erleichtert Mehrfachbeschäftigung den beruflichen Wiedereinstieg und/oder eröffnet neue oder weitere berufliche Perspektiven. Gerade weil sich die Mehrfachbeschäftigung der Organisation, Gestaltung und Verteilung den bereits bestehenden Arrangements aus Erwerbs- und Sorgearbeit anpasst, eröffnet sie neue Handlungsoptionen in den beschriebenen Fällen. Besonders auffällig ist, dass Mehrfachbeschäftigung im vorliegenden Material ein vordergründig ein weibliches Phänomen ist. Die intersektionalen Wechselwirkungen von Geschlecht, Klasse und Ethnizität stehen im Fokus des folgenden Kapitels und sollen die dargelegten empirischen Ergebnisse noch einmal analytisch unter neuer Perspektive wenden.
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„Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat aus intersektionaler Perspektive
„Sozialpolitik finde ich wichtig, und da kann man drüber reden, wie jetzt […] Sozialpolitik gestaltet werden sollte. Aber für uns als gebildete, wohlhabende Menschen mit vielen Ressourcen […] habe ich keinen Wunsch offen.“ (Herr Wilke, Z. 542)
Bis hierhin stand die Rekonstruktion des im Material Auffindbaren im Fokus der Analyse. „Wahlfreiheit“ stellt sich für erwerbstätige Mütter und Väter im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat unterschiedlich dar, dies haben die empirischen Befunde gezeigt. Von Relevanz für Handlungsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen sind die Verfügbarkeit über (Quasi-)Solidargemeinschaften im Kontext von Paarbeziehung, Familien, sozialen Netzwerken und bezahlten Diensten im Privathaushalt ebenso wie individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ auf der Grundlage beruflicher Leistungen und einem persönlichen Verhältnis zum*r Vorgesetzten. Auch die unterschiedlichen Kontexte, unter denen Mehrfachbeschäftigung nachgegangen wird, haben Auswirkungen darauf, inwieweit die befragten Mütter und Väter Erwerbsund Sorgearbeit gleichzeitig nachkommen können. Die herausgearbeiteten Ergebnisse sollen nun in einem letzten Schritt einer intersektionalen Perspektive unterzogen werden. Dies bedeutet, das Vorhandene intersektional zu wenden, also nach der Bedeutung sowohl der intersektionalen interdependenten Kategorien Ethnizität, Klasse und Geschlecht in ihren Wechselwirkungen zu fragen als auch die unterschiedlichen Ebenen in Anlehnung an Winker/Degele (2009), auf denen
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sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse (re-)konstruieren, „in ihrem dynamischen und dialektischen Zusammenspiel“ (Riegel 2010: 74) in die Analyse miteinzubeziehen. Im Folgenden strukturieren die intersektionalen Kategorien in ihren Verschränkungen das Kapitel, während auf die Ebenen von Identität, symbolischer Repräsentationen und Strukturen an den passenden Stellen verwiesen wird.
5.1 KLASSE IN IHREN VERSCHRÄNKUNGEN Unter sozialen Klassen wird in Anlehnung an Winker/Degele die Konstruktion von Subjekten als „eine Gruppe von Menschen [verstanden], denen ihre Stellung im Produktionsprozess gemeinsam ist“ (Winker/Degele 2009: 43) (vgl. Kap. 2.1.2). Vor diesem Hintergrund verweist Klasse auf Vermarktungs(-un-) möglichkeiten der eigenen Arbeitskraft, für die einerseits die meritokratische Triade von Bildung, Beruf und Einkommen Relevanz hat und die andererseits an ökonomisches, kulturelles und soziales Kapitel im Sinne Bourdieus gekoppelt ist. Soziale Ungleichheiten zwischen Klassen werden insbesondere qua eigenverantwortliche, individuelle Leistungen konstruiert und legitimiert, wodurch die Klassenzugehörigkeit weniger als Folge von Herrschaftsverhältnissen erscheint, sondern als das Ergebnis persönlicher Leistung oder persönlichen Versagens (auf dem Arbeitsmarkt) jedes*r Einzelnen. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass nicht nur individuelle Leistungen auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch der Zugang zu (Quasi-)Solidargemeinschaften für die Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der einzelnen Elternteile auf dem Arbeitsmarkt relevant ist. Denn (Quasi-)Solidargemeinschaften bestimmen letztlich über das Ausmaß elterlicher „Wahlfreiheit“ mit und nehmen dadurch Einfluss auf die Möglichkeiten, Erwerbs- und Sorgearbeit parallel nachzukommen. Unterschieden werden können diesbezüglich Möglichkeiten der Verlagerung von Sorgearbeit durch solidarische Praxis im Kontext der Paarbeziehung, mehrgenerationaler Solidargemeinschaften, des erweiterten Familienkreis und sozialer Netzwerke sowie die Auslagerung von Sorgearbeit im Rahmen bezahlter Dienstleistungen im Privathaushalt. Die Relevanz von Solidargemeinschaften wird durch den deutschen Wohlfahrtsstaat und die gegenwärtige deutsche Familienpolitik forciert, da erwerbstätige Eltern im Anschluss an die durch das Elterngeld sozialpolitisch geregelte und finanziell (mehr oder weniger) abgesicherte Phase des Nacheinanders von Erwerbs- und Sorgearbeit auf eine öffentliche Kinderbetreuungsinfrastruktur verwiesen werden, die trotz eines massiven Ausbaus in den letzten Jahrzehnten quantitativ und qualitativ Betreuungslücken auf-
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weist und adäquate Teilzeitarrangements von Arbeitgeber*innen häufig nicht zur Verfügung gestellt werden. Vergleichsweise wenig öffentliche Betreuungsangebote finden beispielsweise Elternteile vor, die im Schichtdienst und mit atypischen Arbeitszeiten konfrontiert sind. Für Erwerbstätige im hier fokussierten Krankenhaussektor ist dies jedoch eher Normalität als Ausnahme. Sie bleiben letztlich auf die solidarische Praxis von Partner*innen, Großeltern, Freund*innen und Bekannten angewiesen. Dies gilt jedoch nicht für Eltern aller sozialen Klassen. Elternteile mit ausreichend ökonomischen Ressourcen sind in der Lage, ihre Sorgekonflikte mit Hilfe bezahlter Dienstleistungen im Privathaushalt auszugleichen und so ihre individuelle „Wahlfreiheit“ zu erhöhen. Solcherlei Quasi-Solidargemeinschaften sind ein klassenspezifisches Phänomen erwerbstätiger Elternteile der wohlhabenden, ressourcenstarken, hochqualifizierten Oberschicht. Elternteile anderer sozialer Klassen bleiben dagegen auf unbezahlte Solidargemeinschaften verwiesen, die stärker in wechselseitigen Verpflichtungszusammenhängen stehen. Die gut situierten Elternteile der oberen Mittelklasse tragen durch die Auslagerung von Sorgearbeit aktiv zur Aufrechterhaltung und Verschleierung bestehender Machtasymmetrien sowie ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse bei. So werden die Klassenunterschiede zwischen den Elternteilen, insbesondere den Müttern, und den Hausangestellten nivelliert, indem einerseits die Auslagerung als Luxus deklariert wird, der eigentlich nicht zum eigenen sozialen – den Hausangestellten überlegenen – Status passe. Andererseits werden die Angestellten im Privathaushalt zu Mitbewohner*innen, Freund*innen oder Familienmitgliedern verklärt und beim Vornamen genannt. Existierende Differenzlinien in Bezug auf Ethnie, Klasse und Geschlecht werden auf diese Weise heruntergespielt, gleichzeitig subtil relevant gemacht und auf diese Weise erhalten (vgl. Lutz 2007: 103). Letztlich konstruieren die befragten Interviewpersonen quasi-familiale Beziehungen, was in der Literatur auch als fictive kinship bezeichnet wird (vgl. Karner 1998). Auf diese Weise wird negiert, dass es sich ursprünglich um eine eigentlich professionelle, wenn auch asymmetrische Beziehung zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in handelt. Diesbezüglich inszenieren die befragten Eltern eine ökonomische Win-Win-Situation, in der beide Parteien – die Hausangestellten ebenso wie die Eltern – augenscheinlich primär Vorteile davontrügen. Zeitgleich bewerten die Interviewpersonen „ihre“ Angestellten für die Verrichtung ihrer Tätigkeiten nicht vordergründig entlang von Leistung, sondern entlang intersektionaler Kategorien, etwa in Wechselwirkung mit Geschlecht und Alter (vgl. Kap. 4.1). In Verschränkung mit Geschlecht erscheint das klassenspezifische Phänomen der Quasi-Solidargemeinschaften, weil die Mütter im Sample, die Sorgearbeit
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auslagern, sich in ihrem familialen und beruflichen Umfeld dafür stärker zu rechtfertigen haben. Sie müssen implizit erläutern, warum sie nicht selbst für ihre Verrichtung zuständig bleiben, wie das Beispiel von Frau Lohse zeigt (vgl. auch Lutz 2007: 109). Unter diesen Legitimierungszwang geraten die Väter im Sample nicht. Allerdings zeigt das Beispiel von Herrn Demirci, dem als alleinerziehenden, heterosexuellen Mann ein sexualisiertes Verhältnis zu den Au-PairFrauen in seinem Haushalt unterstellt wird, dass auch Männer, die Sorgearbeit auslagern, nicht von Zuschreibungen befreit bleiben. Deren „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen untergraben diese Otheringprozesse jedoch im Material nicht nachweislich. Im Gegenteil erscheinen die hochqualifizierten Frauen, die Sorgearbeit auslagern, bei den Vorgesetzten und im Kollegium als beruflich erfolgreich und „gut organisiert“. Intersektional relevant wird die Auslagerung an Quasi-Solidargemeinschaften darüber hinaus in Verschränkung mit Geschlecht und Ethnizität, weil die Sorgearbeit stets geschlechtsspezifisch, nämlich an Frauen, vergeben wird. „Schmutzige“ Hausarbeit wie das Putzen oder Waschen wird dabei von migrantischen weiblichen Hausangestellten verrichtet, wohingegen die „saubere“ Sorgearbeit – gemeint ist Kinderbetreuung, aber auch das Kochen – an Personen der eigenen, im Sample mehrheitlich weißen, autochthon-deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgelagert wird. Wo das Elternteil dieser selbst nicht angehört, wird eine vermeintlich gemeinsame ethnische „Abstammung“ mit den Hausangestellten über kulturelle Nähe, etwa Religionszugehörigkeit und Sprache, konstruiert. So stellt Herr Demirci etwa vor dem Hintergrund seines eigenen türkischen Migrationshintergrund es explizit auf die Herkunft und einer vermeintlich kulturellen Verbundenheit über die geteilte Sprache mit den Au-pair-Frauen aus zentralasiatischen Staaten ab (vgl. 4.1.4). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Auslagerung von Sorgearbeit zum Erhalt einer traditionellen Geschlechterordnung und -orientierung bei den befragten erwerbstätigen Müttern und Vätern beiträgt und intersektionale Herrschaftsverhältnisse auf allen untersuchten Ebenen verfestigt. Während sich die „Wahlfreiheit“ von Müttern und Vätern der wohlhabenden, ressourcenstarken, hochqualifizierten Oberschicht in Entscheidungssituationen zur Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit erhöht, wird die „Wahlfreiheit“ der von denen angestellten Personen, mehrheitlich migrantischer Frauen, die zudem eigene Sorgearbeit zu verrichten haben, spiegelbildlich untergraben. Fragen der Parallelität von Erwerbs- und Sorgearbeit der Hausangestellten erwähnten die Interviewpersonen der oberen Mittelschicht zu keinem Zeitpunkt. Wohlfahrtsstaatlich gestützt werden derlei Ausbeutungsverhältnisse im Privathaushalt gleich auf dreifacher Weise: durch eine unzureichende Regulie-
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rung von haushaltsnahen Dienstleistungen als Erwerbsarbeitsverhältnisse in deutschen Privathaushalten; aufgrund spezifischer steuerpolitischer Anreize, die das Absetzen haushaltsnaher Dienstleistungen steuerlich begünstigen; Ddrch ein deutsch-europäisches Migrationsregime, welches zwischen der EU und dem Rest der Welt Zentrum-Peripherie-Verhältnisse institutionalisiert, die etwa in Form spezifischer aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen für Au-Pair-Frauen aus so genannten Drittstaaten relevant werden und die Tätigkeiten von migrantischen gegenüber autochthon-deutschen Personen symbolisch abwerten. Im Hinblick auf die individuellen Tauschverhältnisse im „Mikrokosmos“ Betrieb zeigt sich aus intersektionaler Analyse, dass sich der beschriebene „Mikrokosmos“ der Stationskulturen als klassenspezifisch geschlossen darstellt. So berichten die Befragten des ärztlichen, pflegerischen, Funktions- und Verwaltungsdienstes von einer je eigenen Stationskultur, die sich in mehr oder weniger „Wahlfreiheit“ im Hinblick etwa auf flexible Dienstzeiten und Teilzeitoptionen niederschlägt. Stark geprägt ist dieser klassenspezifische „Mikrokosmos“ von den einzelnen Vorgesetzten, die den jeweiligen beschäftigten Müttern und Vätern individuell und überwiegend informell Optionen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf zustanden oder verweigerten. Diese Optionen hängen nicht nur von einem persönlichen Verhältnis zum*r Vorgesetzten hab, das seinerseits die Kategorie Geschlecht in Verschränkung mit Klasse und Ethnizität relevant setzt, sondern auch davon, welchen Wert die*der einzelne Vorgesetzte dem Thema einer familienfreundlichen Arbeitswelt beimisst und welches Standing die Führungskraft in der Hierarchie der Gesamtorganisation einnimmt. Chefärzt*innen erlauben es sich häufiger, den Ärzt*innen „ihrer“ Station(-en) Sonderregelungen zu schaffen als Stationsleitungen ihrem Pflegepersonal gegenüber. Dazu passt auch, dass organisationsübergreifende Akteure – etwa Personal-/Betriebsrät*innen, Personalabteilungen, Gleichstellungsbeauftragte – nur bei dem befragten Personal im Bereich Reinigung/Catering in Form einer engagierten Personalrätin eine hervorgehobene Rolle spielten, also bei der Beschäftigtengruppe, die in der Hierarchie der Gesamtorganisation ganz unten steht. Betriebliche Vereinbarkeitsoptionen wurden hier offiziell über die gewerkschaftliche Interessensvertretung angestoßen, vermutlich auch, weil die Vorgesetzten der Reinigungskräfte innerhalb der Gesamtorganisation selbst nur über wenig Verhandlungsmacht verfügen. Akteur*innen der Gesamtorganisation Krankenhaus spielten für alle anderen Beschäftigtengruppen keine Rolle im Hinblick auf betriebliche Vereinbarkeitsoptionen (vgl. Kap. 4.2.2). Zum klassenspezifischen „Mikrokosmos“ Betrieb zählt zudem, dass Solidarität im Arbeitskollegium der einzelnen Beschäftigtengruppen sowohl mit Ge-
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schlecht als auch mit Ethnizität verschränkt ist. So führen einerseits Sorgeverpflichtungen von Müttern zu Anerkennung und Solidarität bei den Arbeitskolleginnen. Weibliche Anerkennung äußert sich auch gegenüber männlichen Arbeitskollegen, die aus Fürsorgegründen in Teilzeit arbeiten, wie beispielsweise Herr Wilke berichtet. Diese Anerkennung und Solidarität ist wichtig im Hinblick auf „Wahlfreiheit“, etwa wenn es um das informelle Tauschen von Dienstzeiten innerhalb des Kollegiums geht. Die Anerkennung und Solidarität von Männern in der beruflichen Sphäre gegenüber teilzeitarbeitenden, männlichen Kollegen bleibt dagegen ambivalent, bewegen sich die Reaktionen zwischen Bewunderung und Besonderung gegenüber der männlichen Vollzeitkraft als Norm. Andererseits unterlaufen rassistische Stereotype und nationalstaatliche Vorurteile betriebliche Solidarität innerhalb der Beschäftigtengruppen, etwa wenn die „Obrigkeitshörigkeit polnischer Kolleginnen“ als problematisch angeführt wird, um gemeinschaftliche Kritik der Belegschaft gegenüber der Personalführung des Krankenhauses zu artikulieren. Dies kann die „Wahlfreiheit“ im Sinne betrieblicher Mitgestaltungsoptionen verringern. Eingebettet ist der klassenspezifische „Mikrokosmos“ Stationskultur in eine Gesamtorganisation Krankenhaus, die von den Beschäftigten als wirtschaftlicher Konzern mit dem Ziel der Profitmaximierung umschrieben wird, unabhängig davon, ob dieses öffentlich, privatwirtschaftlich oder kirchlich getragen ist. Diese Wahrnehmung der Beschäftigten spiegelt die wohlfahrtsstaatlichen Transformationen des deutschen Gesundheitssektors in Richtung einer Ökonomisierung spätestens seit den 1990er Jahren (vgl. Kap. 3.4). Die Angestellten beschreiben die optimale Nutzbarmachung der Arbeitskraft als das Hauptziel des Unternehmens Krankenhaus, im Bereich der Pflege etwa durch einen Wettbewerb mit Arbeitskräften aus dem europäischen Ausland.1 Kritisch beurteilt werden selbst die familienfreundlichen Maßnahmen der Betriebe von den Beschäftigten gedeutet. Diese symbolischen Repräsentationen spiegeln sich auch auf der Strukturebene der Krankenhäuser im Sample wieder: Die betrieblichen Vereinbarkeitsangebote sind tendenziell auf die (hoch-)qualifizierten Arbeitskräfte ausgerichtet, deren Arbeitskraft als besonders wertvoll erscheint. So decken die Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen häufiger die Dienstzeiten des ärztli-
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Herr Wiesner ist ein Beispiel für den unterschiedlichen Umgang mit Personalmangel von Seiten der Krankenhäuser: Für den unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten Herrn Wiesner folgt daraus nicht eine größere Wertschätzung als umworbene Fachkraft, sondern zusätzlicher Druck und außergewöhnlich hohe Flexibilitätsanforderungen unter einem Personalwettbewerb, bei dem z.B. die Rekrutierung günstiger Pflegekräfte im südeuropäischen Ausland in Aussicht gestellt wird.
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chen und verwaltenden Personals ab, weniger das der Pflege- oder Servicekräfte. Der Zugang zu den betrieblichen Kinderbetreuungseinrichtungen wird von Seiten der Beschäftigten zudem über den Einsatz des eigenen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitels zumindest erleichtert, indem sie beispielsweise in der Betriebskita regelmäßig vorstellig werden und um einen Platz persönlich bitten.2 Ebenfalls als klassenspezifisches Phänomen im Hinblick auf elterliche „Wahlfreiheit“ im betrieblichen Kontext lassen sich die vorgefundenen Narrationen der beruflichen Performanz beschreiben, die sowohl auf symbolische Repräsentationen verweisen als auch zur Konstruktion sozialer Identitäten genutzt werden. Diese Narrationen sind widerkehrende Legitimierungsstrategien, die mit der (Nicht-)Inanspruchnahme sozialer Rechte und bestimmter betrieblicher (Nicht)Wahlmöglichkeiten in Verbindung stehen. Da sich die berufliche Performanz auf die Verrichtung und Ausführung der Erwerbsarbeit sowie die Leistung bzw. Leistungsfähigkeit auf der konkreten Position im Betrieb bezieht, steht diese notwendigerweise im Spannungsverhältnis mit Sorgearbeit und erhält auf diese Weise ihre Verschränkung mit Geschlecht. Es ist daher nicht überraschend, dass die Narrationen der beruflichen Performanz der hochqualifizierten Mütter und Väter geschlechtsspezifisch unterschiedlich sind (vgl. 4.2.4). Bei den hochqualifizierten Vätern mit hohem betrieblichen Status im Sample wird das Narrativ verwandt, um zu zeigen, dass man sich selbstbestimmte Handlungsspielraume für Sorgearbeit, kurzum eine höhere „Wahlfreiheit“, „verdient habe“. Dies funktioniert unter anderem über die Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb, wodurch sich Klasse mit der Kategorie Alter verschränkt und junge Väter gegenüber älteren Vätern benachteiligt werden. Eine strukturelle Benachteiligung im Hinblick auf die Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb erfahren so auch Frauen, da diese häufiger ihre Erwerbsbiographie aufgrund von Sorgearbeit unterbrechen. Gleichzeitig impliziert die Dauer der Zugehörigkeit eine Hierarchisierung zwischen Erwerbsarbeit und z.B. der Inanspruchnahme von sozialen Rechten wie der Elternzeit durch Väter, da zuerst die berufliche Leistung erbracht und erst dann Freiräume für Sorgearbeit beansprucht werden können. Das Erbringen beruflicher Leistung als hochqualifizierte Fachkraft bleibt allerdings auf die Anerkennung durch die*den Vorgesetzten angewiesen, was durch ein persönliches, nicht ausschließlich professionelles Verhältnisses zur*m Chef*in begünstigt
2
Die Relevanz von intersektionalen Kategorien im Hinblick auf den Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen deutet sich im Material nicht nur für die betrieblichen, sondern auch für die öffentlichen Betreuungseinrichtungen an.
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wird – mit all seinen intersektionalen Verwobenheiten, die dieses persönliche Verhältnis zwischen Angestellten und Vorgesetzten impliziert (vgl. dazu auch Kap. 5.2.).3 Für die „Wahlfreiheit“ von Vätern stellt sich das Narrativ der beruflichen Performanz als ambivalent heraus. Einerseits ermöglicht und stützt es das Einfordern und die Inanspruchnahme von sozialen Rechten im Betrieb. Väter, die aus ihrer Perspektive und der ihrer*ihres Vorgesetzten ausreichend Leistung gezeigt haben, trauen sich, Elternzeit zu nehmen, auf Teilzeit zu reduzieren oder familienfreundliche(-re) Dienstzeiten anzufragen. Wer also im Beruf als vollzeitbeschäftigte, flexible und motivierte Arbeitskraft viel leistet, dessen „Wahlfreiheit“ im Betrieb vergrößert sich auf die Dauer. Die „Wahlfreiheit“ junger Männer und Väter im Betrieb schränken diese Rechtfertigungsnormen allerdings spiegelbildlich ein. Für sie wird das Erbringen beruflicher Leistung vor dem Hintergrund dieses Narrativs geradezu alternativlos. Die weibliche Form des Narrativs beruflicher Performanz bezieht sich demgegenüber vielmehr auf das Vorweisen, dass Sorgearbeit ihre berufliche Performanz nicht einschränkt. Sorgearbeit wird ihnen dabei natürlicherweise unterstellt, sie schreiben sich diese aber auch selbst zu. So führen die Frauen im Sample ihre informellen Verhandlungen im Betrieb vor dem Hintergrund ihres eigenen Familienstatus als Mutter oder als Alleinerziehende, nicht vordergründig als qualifizierte Fachkraft, wie es das Narrativ der hochqualifizierten Väter ermöglicht. „Wahlfreiheit“ vergrößert sich dann für diejenigen Frauen, die über Ressourcen zur Auslagerung von Sorgearbeit verfügen – vor allem also die gut verdienenden, hochqualifizierten Ärztinnen. Die verhandelten betrieblichen „Wahlfreiheiten“ zielen hier nicht auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme sozialer Rechte – wie beiden Vätern – ab, sondern auf die (Mit-)Gestaltung des beruflichen Wiedereinstiegs, den Zugang zu beruflichen Fortbildungen und der Berücksichtigung bei Beförderungen. Letztlich bleibt das geschlechtsspezifische Narrativ der beruflichen Performanz im Hinblick auf Klasse gebrochen, weil Frau Müller und Frau Schubert
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Zwar deuten sich im Material bei der Anerkennung von Leistung durch die*den Vorgesetzten auch Verschränkungen mit Ethnizität in Form von „Otheringprozessen“ an, etwa wenn die autochthon-deutsche Chefärztin des polnischen Oberarztes Herrn Kowak ihm ihre Anerkennung verweigert, weil er sich nicht angemessen präsentiere (vgl. Kap. 4.2.3). Herr Demirci, Oberarzt und Kind türkischer Gastarbeiter*innen, entsprach dagegen den Normen eines arbeitsbereiten, sorgebefreiten, männlichen Arztes und erhielt vor diesem Hintergrund auch die Anerkennung seines Chefarztes. Inwiefern Doing- und Undoing-Prozesse in diesem Kontext relevant werden, lässt sich nicht abschließend klären und wäre weitere Forschung Wert.
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beide eine akademische Ausbildung absolviert haben, ihre hohe Qualifizierung nicht ausreichend in Form betrieblicher Verhandlungsmacht umsetzen konnten. Grund dafür ist ihr geringer betrieblicher Status als Hebamme bzw. Physiotherapeutin. Deren „Wahlfreiheit“ stellt sich sowohl bezüglich der Inanspruchnahme von sozialen Rechten als auch hinsichtlich mitbestimmter Wiedereinstiegs- und Beschäftigungsbedingungen als geringer dar. Auch im Hinblick auf die empirisch aufgezeigte Bedeutung von Mehrfachbeschäftigung für elterliche „Wahlfreiheit“ zeigen sich klassenspezifische Effekte auf unterschiedlichen Ebenen. Mütter und Väter mit geringen Löhnen sind häufiger gezwungen einer Mehrfachbeschäftigung nachzugehen als Eltern mit einem hohen Einkommen und hoher beruflicher Qualifikation. Dies erscheint im Kontext kapitalistischer Gesellschaften zwingend logisch. Die „Wahlfreiheit“ von Eltern mit mehr als einem Job zeigt sich insofern zunächst einmal als prinzipiell eingeschränkt(-er). Für das hier exemplarisch untersuchte Forschungsfeld ergeben sich darüber hinaus weitere Besonderheiten, die erneut eng verwoben sind mit dem transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat im Bereich der Gesundheitsbranche bzw. des Krankenhaussektors. Denn auf dem, durch politische Strukturentscheidungen, neu geschaffenen Gesundheitsmarkt sind neue, allerdings einseitige Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der eigenen Arbeitskraft für Eltern entstanden und dies in Abhängigkeit ihrer sozialen Klasse. Auf der einen Seite existieren Angebote für Ärzt*innen in Form von Leihärzteschaft oder digitalen Notarztbörsen, die eine selbstbestimmte Alternative bzw. Zusatzoption zur sozialversicherungspflichtigen Anstellung in einer Klinik bieten. Die Mütter und Väter nutzen diese neu gewonnenen „Wahlfreiheiten“, um sich zum Zeitpunkt des Interviews oder in Zukunft neue bzw. erweiterte berufliche Perspektiven zu erhalten oder zu eröffnen. Demgegenüber stehen die strukturellen Berufsbedingungen für Hebammen auf dem deutschen Gesundheitsmarkt, der diese in prekäre Selbstständigkeit zwingt und sie in ihrer beruflichen Existenz bedroht. Von einer „Wahlfreiheit“ der befragten Hebamme im Sample im Hinblick auf die Gestaltung, Organisation und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit kann insofern nicht gesprochen werden (vgl. Kap. 4.3.1). Da die unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Krankenhaussektor unterschiedlich von den Umstrukturierungsmaßnahmen im Gesundheitssektor betroffen sind (vgl. Kap. 3.4), erscheint der Wunsch nach einer sinnerfüllten (Neben-) Tätigkeit in den pflegerischen, funktionalen Berufen am größten. Hier trifft die Unzufriedenheit der Beschäftigten aufgrund von Arbeitsverdichtung und Entfremdung auf prekäre Beschäftigungsbedingungen, die wiederum zu einer Sym-
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biose aus sozialversicherungspflichtigen Erst- und weiteren (auch informellen) Zweit- und Dritt-Beschäftigungen führt. Hinzu kommt, dass Paare, in denen beide Elternteile im Schichtdienst bei niedrigem Einkommen erwerbstätig sind, mit steuerlichen Anreizen sowie familien- und arbeitsmarktpolitischen Strukturen konfrontiert werden, die ein Alleinernährer*innen-Modell begünstigen.4 Es hat sich gezeigt, dass einige Elternteile diesem in Form von Mehrfacherwerbstätigkeit gerecht zu werden versuchen. So geht die Hebamme Frau Müller zwei weiteren Jobs nach, um ihr geringes Erwerbseinkommen aus ihrer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu erhöhen und so auch den Verdienstabstand zwischen ihr und ihrem Mann und damit die steuerlichen Vorteile zu vergrößern. Gleichzeitig diskriminieren die familien- und sozialpolitischen Anreizsysteme systematisch Ehepaare im unteren Erwerbseinkommenssegment, da dort die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen weniger stark gestreut sind als in mittleren und höheren Einkommenssegmenten, was zu einem geringeren Splittingvorteil führt.
5.2 GESCHLECHT IN SEINEN VERSCHRÄNKUNGEN Die Kategorie Geschlecht bezieht sich auf Geschlechterverhältnisse, die von einem heteronormativen Zweigeschlechterverständnis ausgeht und mit einer gesellschaftlichen Sphärentrennung in eine männlich konnotierte Produktions- und eine weiblich konnotierte Reproduktionssphäre verbunden ist. Daraus resultieren geschlechtsspezifisch segregierte Arbeitsmärkte sowie Lohndifferenzen zwischen Männern und Frauen, die für die Herausbildung, Dynamik und Entwicklung einer kapitalistischen, herrschaftsförmigen Ordnung Relevanz haben. Legitimiert wird diese sozial konstruierte Ordnung durch naturalisierende sowie biologistische Argumente, nach denen Frauen und Männer unterschiedlich „geschaffen“ seien (vgl. Winker/Degele 2009: 44). Vor diesem Hintergrund gewinnt die Kategorie Geschlecht in ihren Verschränkungen unmittelbare Relevanz für die Frage nach elterlicher „Wahlfreiheit“ hinsichtlich der Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Dies zeigt sich empirisch beispielsweise im Rahmen der beschriebenen Solidargemeinschaften. Diese tragen häufig zur Reproduktion der weiblichen Zuständigkeit für Sorgearbeit auf verschiedene Art und Weise bzw. auf unterschiedlichen Ebenen bei. So findet
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Gemeint sind hier vor allem das Ehegattensplitting, eine fehlende Kinderbetreuungsinfrastruktur mit passenden Öffnungszeiten, die kostenlose Mitversicherung von Ehepartner*innen in der Sozialversicherung sowie Minijobs.
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erstens bei den Interviewpersonen eine (Selbst-)Zuschreibung von Sorgearbeit auf Mütter statt. In heterosexuellen Paarbeziehungen werden alltägliche Vereinbarkeitsprobleme und Sorgekonflikte im Lebensverlauf weniger als geteilte Handlungsprobleme beider Elternteile begriffen, sondern häufig(-er) als das der Frau bzw. Mutter. Beispielhaft dafür können die Ehepaare Reuschenbach und Zimmer stehen (vgl. Kap. 4.1.1). An der fehlenden solidarischen Praxis im Kontext der Paarbeziehung ändern auch die familienpolitischen Anreize im Hinblick auf eine Umverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen Müttern und Vätern, etwa die zwei Elterngeldmonate Herrn Reuschenbachs, auf Dauer wenig bis nichts. Zweitens findet im Kontext der Solidargemeinschaften eine Verschleierung von väterlichem solidarischen Handeln qua Betreuung und Versorgung der Kinder durch die interviewten Frauen statt. Diese tragen implizit zu der Aufrechterhaltung einer symbolischen, geschlechtsspezifischen Ordnung bei, indem die Übernahme von Sorgearbeit durch die Väter verschwiegen wird (vgl. Kap. 4.1.1). Dies lässt sich in der Verschränkung von Geschlecht mit Klasse und Ethnizität deuten, denn die Aufrechterhaltung einer solchen geschlechtsspezifischen symbolischen Ordnung dient letztlich auch der Aufrechterhaltung eines spezifischen Status der autochthon-deutschen Mittelklasse, bei der der Mann vordergründig der Erwerbstätige und die Frau vordergründig als die Sorgende erscheint. Auffällig ist, dass die symbolische Repräsentationsfigur des aktiven Vaters, anders als bei dem Akademiker Herrn Wilke, bei den Interviewpersonen unterer sozialer, nicht-autochthon-deutscher Klassen, keine Norm zu sein scheint. Paradoxerweise stellt sich gerade dort – und unabhängig von symbolischen Werten und Normen – eine solidarische, geschlechtsunspezifische Praxis ein, wo beide Elternteile aufgrund ihres sozialen Klassenstatus zu Erwerbstätigkeit gezwungen sind. Zumindest Frau Hotic verweist dabei als Kind ehemaliger, so genannter Gastarbeiter*innen, auch auf die erlebte solidarische Praxis in ihrem Elternhaus, in dem Mutter und Vater bereits beide Erwerbs- und Sorgearbeit leisteten. Drittens bestätigen sich die in der Kategorie eingelassenen geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse über die Auslagerung von Sorgearbeit auf andere Frauen – entweder im Familienkontext (Töchter, Großmütter) oder über günstige weibliche und häufig migrantische Arbeitskräfte als haushaltsnahe Dienstleistungen. Auffällig ist: während die Betreuung und Versorgung von Kindern durchaus auch von Vätern übernommen werden, verbleibt die „schmutzige“ Hausarbeit, wie das Waschen und Putzen, stets in weiblicher Hand. Hier zeigen sich, wie in anderen empirischen Arbeiten auch, enge Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen Geschlecht, Klasse und Ethnizität (vgl. dazu auch
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Kapitel 5.1). Heterosexuelle Paare der oberen Mittelschicht lagern notwendige Sorgearbeit bezahlt aus und sind damit auch in der Lage, nicht vorhandene solidarische Praxis zu ersetzen oder existierende solidarische Praxis zumindest zu entlasten. Gleichzeitig geht Solidarität in Mehrgenerationenbeziehungen, der erweiterten Verwandtschaft und innerhalb sozialer Netzwerke mit wechselseitigen Verpflichtungszusammenhänge und Abhängigkeiten einher. Die solidarische Praxis bleibt zugleich fragil. Während der Erhalt sozialer Netzwerke unmittelbar Zeit und Arbeit bedeutet, werden die wechselseitigen Verpflichtungszusammenhänge mit solidarischer Praxis der Großeltern erst im späteren Lebensverlauf relevant, etwa wenn diese selbst unterstützungsbedürftig werden. Die Frage der Auslagerung von Pflegetätigkeiten durch bezahlte Dienstleistungen ist dann erneut eine klassenspezifische. Aufgrund der geringeren Verfügbarkeit von Großeltern “vor Ort“ bestehen derlei Verpflichtungen für Eltern mit Migrationshintergrund mutmaßlich zunächst nicht. Die empirischen Ergebnisse zu transnationalen Solidargemeinschaften zeigen aber, dass Sorgearbeit auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg innerhalb von Familien erbracht und damit sicherlich auch erwartet wird. All dies führt dazu, dass sich die „Wahlfreiheit“ der Väter im Sample im Hinblick auf die Verrichtung von Sorgearbeit als eingeschränkt darstellt. Spiegelbildlich dazu verhält sich die „Wahlfreiheit“ von Müttern im Hinblick auf die Verrichtung von Erwerbsarbeit. In Verschränkung mit Klasse und Ethnizität zeigt sich, dass die Kategorie Geschlecht unterschiedlich große Bedeutung für die „Wahlfreiheit“ der Elternteile hat. Im Kontext des transformierten deutschen Wohlfahrtsstaates und einer gewandelten Familienpolitik muss jedoch gesagt werden, dass die Aktivierung von Frauen und Müttern für den Arbeitsmarkt sehr viel stärker sozialpolitisch forciert wird als die Aktivierung von Vätern zur Übernahme von mehr Sorgearbeit. Die gegenwärtigen wohlfahrtsstaatlich geförderten und geforderten symbolischen Repräsentationen, Strukturen und Identitäten setzen Frauen und Mütter insofern stärker unter Druck als Väter und (re-) aktivieren Geschlecht in seinen Verschränkungen auf eine ambivalente Art und Weise. Im Hinblick auf die empirisch relevanten Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ sticht unter anderem das persönliche Verhältnis zum*r Vorgesetzten in seiner Wechselwirkung mit der Kategorie Geschlecht und ihren Verschränkungen hervor. Dieses spielt bei der individuellen Aushandlung im Krankenhaus eine hervorgehobene Rolle, denn letztlich steht und fällt damit der Zugang zu formalen wie informellen Vereinbarkeitsoptionen im Betrieb und beein-
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flusst so auch die „Wahlfreiheit“ der Mütter und Väter. Bedeutung für das persönliche Verhältnis zum*r Vorgesetzten erhält in den Erzählungen der Interviewpersonen soziale Ähnlichkeit (vgl. Kap. 4.2.3). Vordergründig wird diese über ähnliche Wertvorstellungen und Lebensmodelle hergestellt, implizit ist sie zugleich von intersektionalen Kategorien durchdrungen. Letztlich sind die vermeintlich ähnlichen Lebensmodelle ein Synonym für familiale Lebensumstände und die Zuständigkeit für Sorgeverpflichtungen, die wiederum mit spezifischen Wert- und Leistungsvorstellungen sowie Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern verknüpft werden. So produzieren semantische Figuren wie „Karrierefrau“, „alleinerziehende Mutter“ oder „Teilzeit-Mama“ beziehungsweise „erfolgreicher Mann“ oder „aktiver Vater“ auf den Ebenen symbolischer Repräsentationen und Identitäten betriebliche Ein- und Ausschlüsse für Mütter und Väter. Unterstellt wird, dass eine ähnliche Lebenssituation (Mutter/Vater sein) zu ähnlichen beruflichen und betrieblichen Bedürfnissen führt, etwa dem Wunsch nach mitbestimmten Dienstplänen, oder Verständnis erzeugt für sorgebedingte Einschränkungen der Erwerbsarbeit. Letztlich steht soziale Ähnlichkeit und ihre Bedeutung für das persönliche Verhältnis zur*m Vorgesetzten im Zusammenhang mit ähnlichen Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der Elternteile. Frauen stellen dabei klassenübergreifend auf Sorgeverpflichtungen als Generator für soziale Ähnlichkeit ab: Erleben Sie ihre*n Vorgesetzten ebenfalls in ihrer*seiner Rolle als Sorgetragende*n, leiten Sie daraus soziale Ähnlichkeit ab. In den Erzählungen der befragten Väter erhält dagegen insbesondere die eigene berufliche Performanz als sorgebefreite Arbeitskraft Bedeutung für das Verhältnis zur*m Vorgesetzten. Interessant daran ist weniger, ob die unterstellten sozialen Ähnlichkeiten mit der*m Vorgesetzten tatsächlich zutreffen, sondern inwiefern sich aus der konstruierten sozialen Ähnlichkeit betriebliche Handlungsspielräume für einzelne Elternteile – und somit ein Mehr an „Wahlfreiheit“ – ergeben oder diese verwehrt bleiben. Letztlich ist entscheidend, welche Wert- und Leistungsvorstellungen sowie Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder der*die Vorgesetzte vorlebt. Eine einzelne Führungskraft kann hier entscheidend die individuelle „Wahlfreiheit“ der einzelnen Eltern ermöglichen oder auch verhindern. Deutlich mehr „Wahlfreiheit“ für Mütter als für Väter in Verschränkung mit Klasse zeigt sich bei dem Zugang zu und dem Verhandeln von freiwilligen Teilzeitbeschäftigungen im Rahmen eines individuellen Tauschverhältnisses im Krankenhaussektor (vgl. Kap. 4.2.1).5 Den im Krankenhaus beschäftigten Frauen
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Betriebliche Gründe für eine unfreiwillige Teilzeit im Sinne von Einsparungen des Personals sind in der Organisationslogik eines Klinikbetriebes durchaus möglich, und erschien in der Empirie zwar als geschlechtsun-, demgegenüber aber als klas-
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steht Teilzeit als Tauschverhältnis prinzipiell offen, geht jedoch für die hochqualifizierten Ärztinnen mit formalen und symbolischen Abwertungen im Beruf einher. Symbolisch äußert sich dies bei ihnen im Sinne eines „reduziert werden“; formal zeigt es sich beim Zugang zu Weiterbildung oder Aufstieg. Teilzeitbeschäftigte Frauen gelten als zumindest mittelfristig ungeeignet für Führungsaufgaben. Für das männliche Personal steht Teilzeit als Tauschverhältnis dagegen nicht fraglos zur Verfügung. Bei hochqualifizierten Vätern sind Narrationen der eigenen beruflichen Performanz ein wiederkehrendes Merkmal, um eine Reduzierung der Arbeitszeit sowie mitbestimmte Arbeitszeitlagen und -verteilungen auszuhandeln. Wo (hochqualifizierte) Väter Teilzeit arbeiten, kann dies – trotz formaler Herabsetzung in der Krankenhaushierarchie – mit symbolischen Aufwertungen innerhalb der Organisation einhergehen, wie das Beispiel von Herrn Wilke zeigt, der als aktiver Vater von seinem Vorgesetzten Anerkennung erfährt (vgl. S. 67#).6 Für die teilzeitbeschäftigten Ärztinnen gehen formale und symbolische Abwertungen dagegen meist Hand in Hand. Hinzu kommt, dass von den hochqualifizierten Männern das Teilzeit-Tauschverhältnis vor dem Hintergrund der eigenen Marktförmigkeit als stets reversibel dargestellt wird, wohingegen die Frauen im Sample prinzipiell eher dauerhaft auf Teilzeit festgelegt erscheinen. Die hochqualifizierten Frauen unter den Müttern versuchen ihre Marktförmigkeit „trotz“ einer Teilzeitbeschäftigung tendenziell eher über Mehrfacherwerbstätigkeit aufrecht zu erhalten, indem sie ihre qualifizierte Arbeitskraft im Gesundheitssektor gewinnbringend und flexibel etwa als Leihärztin oder Notärztin über Internetportale verkaufen (vgl. Kap. 4.3.4). Wo Mütter und Väter Teilzeit als ein informelles Tauschverhältnis eingehen, ergibt sich, da als Gabentausch im Hinblick auf die Arbeitszeitlage und verteilung realisiert, ein Zwang zur Gegengabe. Diese Gegengabe äußert sich in Dankbarkeit, aber auch im Aufzeigen von Flexibilität im Sinne der Organisation Krankenhaus. Zwar sind Mütter von diesem Phänomen stärker betroffen als die befragten Väter, weil ihr Zugang zu Teilzeitbeschäftigung im Krankenhaus normalisierter erscheint. Geschlecht zeigt sich hier jedoch erneut in Wechselwir-
senspezifisch insoweit, als dass davon nur Beschäftigtengruppen jenseits des ärztlichen Dienstes betroffen waren (etwa Herr Wiesner, Kap. 4.2.1). 6
Eine gegenteilige Erfahrung macht Frau Weber, die sich nach der Rückkehr in Teilzeit sogar stärker anerkannt fühlt im Beruf als zuvor. Denkbar ist dies jedoch nur als weibliche Teilzeitkraft und in einer bestimmten Form von Teilzeit, nämlich Vollzeittage mit grenzenloser Verfügbarkeit und dafür vollständige Abwesenheit an anderen Tagen.
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kung mit der Kategorie Klasse, denn die Elternteile der hochqualifizierten, gut situierten und ressourcenstarken Oberklasse können sich von diesem Zwang zu Flexibilität als Gegengabe vor dem Hintergrund ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt mit der Zeit entledigen. Sie tragen ihre „Bringschuld“ gegenüber dem Arbeitgeber ab, während die Pflegekräfte im Sample dem Zwang zur ewigen Dankbarkeit verhaftet bleiben und sich dauerhaft flexibel zeigen (müssen). Dieser Befund bleibt jedoch erneut geschlechtsspezifisch gebrochen, wie das Beispiel von Frau Grosse zeigt (vgl. Kap. 4.2.1). Frau Grosse, obgleich als Pflegekraft mit einer vergleichsweise geringe(-re-)n betrieblichen informellen Verhandlungsmacht ausgestattet, stellt ihre Arbeitskraft in den Verhandlungen mit ihrer Vorgesetzten um eine selbstbestimmte Teilzeitarbeitszeitlage und -verteilung insgesamt zur Disposition. Dazu ist sie in der Lage, weil sie über den Haushaltskontext und ihre Ehe mit einem beruflich erfolgreichen Arzt sozial und finanziell abgesichert ist. Ihre hohe „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf informelle betriebliche Regelungen speist sich insofern nicht ausschließlich aus ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt. Interessant ist schließlich auch: Die Beschäftigten im Reinigungs- und Cateringbereich des Krankenhauses konnten vergleichsweise folgenlos, d.h. ohne Flexibilisierungszwang und Dankbarkeit, eine Teilzeitbeschäftigung auch im Hinblick auf Lage und Verteilung der Arbeitszeiten als wirtschaftlichen, nicht informellen Tausch realisieren. Ob sich dies durch die vergleichsweise starke betriebliche Interessenvertretung für die befragten Interviewpersonen der Berufsgruppe erklärt oder strukturelle Gründe in der Krankenhaushierarchie hat, lässt sich dem Material nicht entnehmen. Empirische Studien, die die Bedeutung betrieblicher Interessenvertretung für vereinbarkeitsfreundliche Beschäftigungsbedingungen belegen, lassen allerdings Erstes vermuten. Mehrfacherwerbstätigkeit erscheint als ebenso weibliches wie ambivalentes Phänomen für die Frage nach „Wahlfreiheit“. Wo Zweit- und Drittjobs vordergründig dem Zweck dienen, ein nicht ausreichendes Erwerbseinkommen aus einem Beschäftigungsverhältnis aufzustocken, erhöht dieses kaum den Spielraum, Erwerbs- und Sorgearbeit zu organisieren, zu gestalten und zu verteilen. Familienernährerinnen und Alleinerziehende erwirtschaften dabei aus strukturellen Gründen ein nicht ausreichendes Einkommen für sich und ihre Familie: Sie befinden sich häufig in Berufen in Teilzeit und mit geringer Entlohnung. Diese Berufe sind auf dem geschlechtsspezifisch segregierten deutschen Arbeitsmarkt als Zuverdienerinnen-Jobs zu einem männlichen Familienlohn konzipiert. Erneut entblößt sich zudem das Leistungsversprechen der meritokratischen Triade als Leistungsideologie, die geschlechtsspezifisch gebrochen ist. Frau Müller (Heb-
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amme) und Frau Schubert (Physiotherapeutin) erhalten als Hochqualifizierte in ihren weiblich konnotierten Tätigkeiten weder einen ausreichenden Familienlohn, noch sichere Beschäftigungsperspektiven und werden somit in ihrer jeweiligen Funktion als Familienernährerinnen auf Mehrfacherwerbstätigkeit verwiesen. Der politisch forcierte Wettbewerb im deutschen Gesundheitswesen hat diese geschlechtsspezifischen Ungleichheiten auf der Ebene von Strukturen und symbolischen Repräsentationen noch verschärft, indem im Krankenhaussektor prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Davon betroffen sind in erster Linie Beschäftigtengruppen jenseits von Verwaltung und ärztlichem Dienst. Aufgrund des hohen Teils weiblicher Angestellter im Bereich Pflege, Funktions- sowie medizinisch-technischem Dienst erhöht dies den Druck für zahlreiche atypisch beschäftigte Frauen, gerade wenn Sie Familienernährerinnen sind, sich zusätzliche Einkommensquellen und berufliche Perspektiven durch Mehrfachbeschäftigung aufzubauen bzw. zu erhalten. Unter diesen strukturellen Zwängen stehen Männer weniger bzw. seltener, weil wohlfahrtsstaatlich reproduzierte Strukturen, symbolische Repräsentationen und Identitäten Männer in ihrer Rolle als Hauptverdiener stützen. In den einzelnen Interviews wird besonders deutlich, welchen unmittelbaren Einfluss wohlfahrtsstaatliche Strukturen auf die Entscheidung haben, mehr als einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Hebamme Frau Müller. Sie verweist in ihren Aussagen wiederholend und stetig auf sozial- und familienpolitische Anreize wie das Ehegattensplitting und die kostenlose gesetzlichen Mitversicherung in Kranken- und Pflegeversicherung für Ehepartner*innen, die das Elternpaar von drei Kindern unfreiwillig dazu verleitet, Sorge- und Erwerbsarbeit weiterhin geschlechtsspezifisch aufzuteilen, wenn auch untypisch. Die Mehrfacherwerbstätigkeit von Frau Müller steht daher nicht ausschließlich im Kontext ihrer schlechten – und letztlich gesundheitspolitisch evozierten – Beschäftigungsbedingungen im Krankenhaussektor. Das empirisch rekonstruierte Phänomen der Mehrfachbeschäftigung erschöpft sich jedoch nicht in einem Zwang zu Mehrfachbeschäftigung, der zugleich mit einer starken Beschränkung der elterlichen „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit einhergeht. Mehrfachbeschäftigung als weibliches Phänomen bedeutet auch, dass Zuverdienerinnen der mittleren oder gehobenen sozialen Klassen, die entweder im Haushaltskontext sowie dem wohlfahrtsstaatlichen Konstrukt einer Ehegemeinschaft abgesichert sind oder selbst über ein ausreichend hohes Erwerbseinkommen verfügen, unter der Perspektive beruflicher Weiterentwicklung, Umorientierung oder Selbstverwirklichung vergleichsweise selbstbestimmt
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mehr als einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Dafür stellen unter anderem sozialpolitisch (zumindest für die Bezieherinnen hoher Erwerbseinkommen) abgesicherte Phasen wie die Elternzeit einen ermöglichenden Rahmen dar. Die individuelle „Wahlfreiheit“ dieser Mütter wird dann perspektivisch erweitert, etwa wenn Frau Zimmer sich als Heilpraktikerin mit Praxis im Eigenheim selbstständig macht und diese Mehrfachbeschäftigung als Lösung ihres Vereinbarkeitsproblems präsentiert (vgl. Kap. 4.3.3) oder wenn Frau Weber selbstbestimmt und flexibel ihre berufliche Qualifikation als Notärztin über Internetportale anbietet (vgl. Kap. 4.3.4). Insbesondere in Verschränkung mit Klasse erscheint die Bedeutung von Geschlecht als relevant. Die hochqualifizierten Ärztinnen nutzen den Zweit- oder Drittjob zur Aufrechterhaltung ihrer Marktfähigkeit, in dem sie sich Wiedereinstiegs- oder Aufstiegsoptionen in späteren Lebensphasen sichern. Sie realisieren Mehrfacherwerbstätigkeit vor allem im selbstgewählten und -bestimmten Sinne, während Frauen mit unsicheren Beschäftigungsperspektiven und geringem Erwerbseinkommen eher die finanzielle und soziale Absicherung in der gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituation suchen. Ähnliche „Wahlfreiheiten“ für Väter während Elternzeitphasen sind in der Empirie zwar nicht aufgetreten, dennoch visieren auch hochqualifizierte Väter im Hinblick auf spätere Erwerbsarbeitsphasen einen selbstbestimmten „Beschäftigungs-Mix“ in Form von Mehrfachbeschäftigung an, wie das Beispiel von Herrn Reuschenbach zeigt (vgl. Kap. 4.3.4).
5.3 ETHNIZITÄT IN IHREN VERSCHRÄNKUNGEN Als äußerst relevant für die Konstruktion der intersektionalen Kategorie Ethnizität zeigt sich auch im vorliegenden Material die Nation bzw. Nationalität, welchen auf dem Glauben an eine gemeinsame Kultur und Natur basiert und so einen naturalisierenden Grundstein für nationale Staatsbürgerschaft schafft. Dieser wiederum ermöglicht oder verunmöglicht den Zugang zu sozialen und familienpolitischen Rechten. Winker und Degele (2009), die nicht von Ethnizität, sondern von Rassen sprechen7, definieren im Weiteren: „Nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehörige Menschen werden über eine andere Hautfarbe, Körperkonstitution, Ethnie, Religion oder Weltanschauungen rassifiziert und zu Anderen gemacht. [...] Auch wenn sich rassistische Grenzziehungen an sehr unterschiedlichen Merkmalen festmachen, ist diesen doch gemeinsam, das sie als ZentrumPeripherie-Beziehungen und einer damit verbundenen Marginalisierung be-
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Siehe Fußnote 14 in Kapitel 2.
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stimmter Gruppen und Regionen zu verstehen sind“ (Winker/Degele 2009: 47). Rassifizierungen beruhen jedoch nicht ausschließlich auf Fremdzuschreibungen seitens der hegemonialen, weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern basieren analog zur Kategorie Geschlecht auch auf sozialen Selbstpositionierungen. In der vorliegenden Arbeit wird Ethnizität als Sammelbegriff für verschiedene Grenzziehungsprozesse verstanden, zu denen sowohl nationalstaatliche Grenzziehungen als auch rassifizierende und ethnisierende Konstruktionen im Alltag gehören (vgl. Kap. 2.1.2). Für die Frage nach der „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Mütter und Vätern im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit ist darüber hinaus relevant, dass die so stattfindenden Konstruktionen des ‚Anderen‘ die prekären Zugangsmöglichkeiten zum Erwerbsarbeitsmarkt für Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft stützen und die Einteilung in unterschiedliche Zuwanderungsgruppen legitimieren, die mit unterschiedlichen sowie unterschiedlich (schlecht) entlohnten Tätigkeiten von Migrant*innen einhergehen. In den Interviews mit den Müttern und Vätern wurde deutlich, dass solidarische Praxis im Rahmen von Mehrgenerationenbeziehungen notwendig ist, um Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachkommen zu können. So spielt die Betreuung der Kinder durch die Großeltern eine hervorgehobene Rolle. Auffällig ist, dass Großeltern nicht selten für eine ausbleibende solidarische Praxis im Rahmen der Paarbeziehungen einspringen – im Sinne der gegenseitigen, nicht notwendigerweise gleichverteilten Unterstützung bei Haus- und Sorgearbeit von Mann und Frau –, nämlich dann, wenn der Vater keinerlei Kinderbetreuung übernimmt und die Mutter trotz Erwerbstätigkeit alleinzuständig bleibt für die Kinderbetreuung. Das Material zeigt aber auch, dass Großeltern bzw. insbesondere die Großmutter in unterschiedlichem Maße für die Betreuung der Enkelkinder zur Verfügung stehen und dafür die Kategorie Ethnizität in ihren Verschränkungen mit Klasse und Geschlecht Relevanz hat. Solidarische Praxis in Mehrgenerationenbeziehungen ist vor allem möglich, wenn die Großeltern selbst nicht (mehr) erwerbstätig sind. Implizit setzt dies die Praxis einer autochthondeutschen, mittelschichtsorientierten „Normalfamilie“ in der Herkunftsfamilie der Eltern voraus, in der die Großmutter nicht oder nicht in relevantem Umfang erwerbstätig war bzw. ist und zu der auch eine spezifische zeitliche Abfolge im Lebensverlauf gehört. Die „Normalfamilie“ mit einem männlichen Familienernährer und einer teilzeiterwerbstätigen Ehefrau traf jedoch in der Praxis nicht für alle Mütter und Väter der Nachkriegszeit in Deutschland zu und war weder in den Sozialstrukturen noch in den symbolischen Repräsentationen des deutschen Wohlfahrtsstaates so angelegt. Sowohl im Milieu migrantischer Gastarbeiter*innen als auch im au-
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tochthon-deutschen Arbeitermilieu war die Erwerbstätigkeit von Frauen bzw. Müttern stets sowohl notwendig als auch selbstverständlich (vgl. Mattes 2005, Laslett/Brenner 1989). Gleiches gilt für Frauen und Mütter mit ostdeutscher Herkunft und sozialistischen Sozialisationserfahrungen (vgl. Klenner et al. 2012). Mütter und Väter aus diesen Herkunftsfamilien können also nicht wie selbstverständlich auf eine solidarische Praxis der Großeltern setzen, um die eigenen Sorgeverpflichtungen mit Erwerbstätigkeit in Einklang zu bringen. Gleiches gilt zwar auch für die Akademiker*innen im Sample, die vergleichsweise spät im Lebensverlauf Kinder bekommen und deren Eltern dann ggf. zu alt sind, um Kinderbetreuung zu übernehmen. Diese ersetzen die dann fehlende solidarische Praxis durch die Großeltern jedoch typischerweise über bezahlte Dienstleistungen im Privathaushalt, etwa über Au-Pairs oder Babysitter*innen. Auf diese Weise verschränkt sich die Relevanz von Ethnizität mit Klasse. Falls Großmütter doch solidarische Praxis in Form von Kinderbetreuung leisten, um insbesondere den Müttern eine größere „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu ermöglichen, geht dies mit Einschränkungen der eigenen finanziellen oder sozialen Absicherungen einher, weil diese ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder gar aufgeben müssen. Frau Hotic war dafür ein Beispiel im Sample (vgl. Kap. 4.1.2). Es zeigt sich hier zudem: Die Vergrößerung der „Wahlfreiheit“ von Frau Hotic steht relational zu der Beschränkung der „Wahlfreiheit“ von Frau Hotics Mutter. Angesichts eines sozialpolitisch forcierten steigenden Renteneintrittsalters sowie der bereits gegenwärtig zu beobachtenden Tendenz zu Erwerbstätigkeit trotz Rentenbezugs aufgrund zu geringer Bezüge dürfte dieses Phänomen an Bedeutung in Zukunft eher zunehmen. Wohlfahrtsstaatlich gerahmt ist die hohe Bedeutung von Solidargemeinschaften darüber hinaus durch eine noch immer lückenhafte öffentliche Kinderbetreuungsinfrastruktur – trotz eines umfangreichen Ausbaues in den letzten Jahrzehnten. Dies betrifft insbesondere Mütter und Väter mit atypischen Arbeitszeiten und im Schichtdienst, denen eine Kinderbetreuung vorwiegend von 7 bzw. 8 Uhr am Morgen bis 16 oder 17 Uhr am Nachmittag keine ausreichenden „Wahlfreiheiten“ eröffnet. Eine weitere Voraussetzung für solidarische Praxis durch Großeltern, verschränkt mit den Wechselwirkungen von Ethnizität mit Klasse und Geschlecht ist, dass die Großeltern geographisch verfügbar sein müssen. Mütter und Väter mit eigener Migrationserfahrung können vor diesem Hintergrund kaum auf Großeltern vor Ort setzen, was ihre „Wahlfreiheit“ tendenziell einschränkt. Nicht selten werden dann transnationale Solidargemeinschaften aktiviert, wie beispielsweise Frau Mafany im Interview berichtete (Kap. 4.1.2). Das Phänomen
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transnationaler Solidargemeinschaften, die nationalstaatlich grenz-überschreitend solidarische Praxis erbringen, wurde in der Literatur bereits unter den so genannten Care-Chains sowie unter migrantischen Familienernährerinnen in prekären Lebenslagen als alternativlose Bearbeitung von Sorgekonflikten verhandelt (vgl. Ehrenreich/Hochschild 2004, Amacker 2011: 413). Streng genommen stellen sie zwar eine Erweiterung von Handlungsoptionen dar, indem Sorgearbeit transnational ausgelagert wird, um die Marktförmigkeit der erwerbstätigen Eltern herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Da sie mit der Trennung der Kinder von den Eltern einhergehen, repräsentieren sie jedoch primär die Unmöglichkeit gleichzeitiger Erwerbs- und Sorgearbeit für diese Mütter und Väter und deuten auf rassistisch wirkende Lücken wohlfahrtsstaatlicher Politiken. Deutlich wird im Material zudem, dass Solidarität im Kontext der erweiterten Familie oder im Rahmen sozialer Netzwerke als ethnisch- und klassenspezifisch geschlossen erscheinen. Die sozialen Netzwerke beruhen dabei auch auf nationalstaatlich geteilter Herkunft mit ambivalenten Auswirkungen für die „Wahlfreiheit“ der Elternteile. Denn einerseits ermöglichen es diese sozialen Netzwerke beispielsweise Betreuungslücken aufzufangen, wie bei Frau Mafany, und Mehrfacherwerbstätigkeit zu ermöglichen, wie bei Frau Günes. Andererseits stehen diese Netzwerke auch repräsentativ für die Ausschlüsse aus anderen Netzwerken. So ist Frau Mafany die einzige Interviewpartner*in, die nicht von sozialen Netzwerken mit den Eltern der weißen, autochthon-deutschen Mitschüler*innen ihrer Söhne berichtet. Dieser intersektional relevante Befund zeigt sich auf ähnliche Weise für den klassenspezifisch geschlossenen „Mikrokosmos“ betrieblicher Stationskulturen. Der „Mikrokosmos“ geht mit Otheringprozessen seitens der weißen, autochthondeutschen Mehrheitsgesellschaft einher, indem „kulturelle Nähe“ konstruiert wird, die ihren Ausdruck in einer geteilten Sprache oder Religionszugehörigkeit, der gemeinsamen Nationalität oder weißer Hautfarbe findet. Rassistische Stereotype und nationalstaatliche Vorurteile auf Kolleg*innenebene ermöglichen oder verhindern dabei betriebliche Solidarität, etwa wenn es darum geht, geschlossen als Pflegepersonal einer Station Personalengpässe an die Klinikleitung zu kommunizieren (vgl. Kap. 4.2.2). Dies kann die betrieblichen Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten behindern. Rassistische Kommentare von Patient*innen im Arbeitsalltag gegenüber Pflegepersonal mit Migrationshintergrund bzw. dunkler Haut werden dagegen nicht als diskussionswürdig und somit notwendiger Gegenstand einer Betriebs- oder Stationskultur betrachtet, auch nicht von Seiten der Pflegekraft, die selbst davon betroffen ist. Berufliche Anerkennung allein durch
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Leistung, wie es die Leistungsideologie der meritokratischen Triade verspricht, wird auf diese Weise unterlaufen. Umgekehrt ermöglichen ethnisch- und klassenspezifisch geschlossene Netzwerke im Krankenhaus auch Vorteile, indem sie das Einholen von Informationen über relevante betriebliche Belange ermöglichen. So lässt sich der polnische Oberarzt Herr Kowak von einer anderen polnischen Ärztin im Hinblick auf seinen Konflikt mit der autochthon-deutschen Chefärztin beraten bzw. versucht so Einfluss auf den Konflikt zu nehmen. Berufliche Anerkennung allein durch Leistung, wie es die Leistungsideologie der meritokratischen Triade verspricht, wird – ebenso wie bei rassistischen Beleidigungen von Seiten der Patient*innen aufgrund unterschiedlicher Hautfarben – auf diese Weise unterlaufen: einmal zum Nachteil und einmal zum Vorteil der zur Minderheit als zugehörig konstruierten Person. Allerdings sind die empirischen Ergebnisse hier nicht eindeutig: Der alleinerziehende Oberarzt Herr Demirci, türkischer Nationalität, erfährt zwar von Seiten des Kollegiums und in Verschränkung mit Geschlecht rassistische Kommentare im Hinblick auf die Anstellung einer jungen Au-Pair-Frau in seinem Haushalt. Von Seiten seines Chefarztes erfährt er jedoch aufgrund seiner hohen beruflichen Leistungen, im Sinne überlanger Arbeitszeiten, Anerkennung – und somit auch eine größere „Wahlfreiheit“ im Hinblick auf die betriebliche Gestaltung seiner Erwerbs- und Sorgearbeit (vgl. Kap. 4.1.4). Das Phänomen der Mehrfacherwerbstätigkeit ermöglicht – betrachtet man es aus intersektionaler Perspektive in seiner Verwobenheit mit der Kategorie Ethnizität (und seinen Verschränkungen) – Rückschlüsse auf grundlegende Fragen der Erwerbstätigkeit migrantischer Frauen im Kontext des deutschen Wohlfahrtsstaates. Die Empirie zeigt, dass traditionale Geschlechterverhältnisse im Kontext der Migration (von Hochqualifizierten) wahrscheinlicher werden. So konnte der von Polen nach Deutschland migrierte Arzt Herr Kowak zwar die gewünschte Facharztausbildung beginnen, seine Frau – eine in Polen studierte Juristin – ist seit der Migration nach Deutschland jedoch nicht mehr erwerbstätig. Dafür fehlen ihr einerseits Sprachkenntnisse, andererseits die Möglichkeiten ihr Wissen über das polnische Rechtssystem in Deutschland angemessen zu verwerten. Zwischenzeitlich profitiert das Ehepaar von den konservativen familienpolitischen Instrumenten, etwa dem Ehegattensplitting und der kostenlosen Mitversicherung von Ehepartner*innen und Kindern in der gesetzlichen Kranken- und Pflegekasse. Statt der eigentlich von der Familienpolitik intendierten Aktivierung gerade von hochqualifizierten Frauen und Müttern, kommt es in der Folge zu Naturalisierungen der beruflichen Qualifikationen von Frau Kowak, indem entweder ihr
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vermeintlich migrationsspezifisches Potenzial – Übersetzen für eine deutschpolnische Firma – oder ihr geschlechtsspezifisches Potenzial – Eröffnen eines Ladens für Kindersachen – auf dem Arbeitsmarkt verwertet werden soll. Geschlecht fungiert im Falle der Migration und vor dem Hintergrund der inkonsistenten Familienpolitik als Normalisierungsgenerator, indem Familie Kowak dem geschlechtsspezifischen und sozialpolitisch geförderten Modell des männlichen Familienernährers folgt. Dieses Modell eröffnet dem Ehepaar zwar eine Option, jedoch keine im Sinne von „Wahlfreiheit“, weil Herr Kowak allein für die Erwerbsarbeit zuständig bleibt und für die Übernahme von Sorgearbeit nur eingeschränkt zur Verfügung stehen kann und Frau Kowak umgekehrt auf die Verrichtung von Sorgearbeit festgeschrieben bleibt, ohne Vermarktungsmöglichkeiten ihrer Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Option steht jedoch nur Frauen bzw. Müttern im Rahmen heteronormativer Arrangements zur Verfügung. Durch die gewählte und im deutschen Wohlfahrtsstaat für Gutverdiener*innen möglich gemachte Vereinbarkeitsstrategie gelingt es der Familie Kowak, trotz Migration in der Mittelschicht im Ankunftsland zu verweilen – eine Option, die zahlreichen anderen Migrant*innen verwehrt bleibt. Abgewertete weibliche und zugleich migrantische Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt machen dagegen Mehrfachbeschäftigung wahrscheinlich(-er) (vgl. Kap. 4.3.1). Ähnlich gelagert ist der Befund, dass Frauen vor dem Hintergrund einer erfolgten Bildungsmigration ihre Berufswahl auch unter Verweis der Nützlichkeit im Herkunftsland und einer potenziellen perspektivischen Rückkehroption begründen. Dies bleibt jedoch geschlechtsspezifisch gebrochen, wie das Beispiel von Frau Mafany zeigt. Diese entscheidet sich nach Abbruch ihres Studiums des Bauingenieurwesens für den Wechsel in den Pflegesektor – auf Drängen ihres sozialen Umfeldes hin und weil sich dies angeblich gut im Herkunftsland, in das sie in ferner Zukunft zurückkehren gedenkt, verwerten ließe. Allerdings bleibt offen, warum dies nicht auch für den männlich geprägten Bereich des Bauingenieurwesens gelten solle. Als weiteren Grund für den Abbruch des Studiums nennt Frau Mafany an anderer Stelle auch die Unmöglichkeit, mit zwei Kleinkindern ein Studium zu beenden. Die Inwertsetzung von vermeintlich geschlechtsspezifischen Fähigkeiten erscheint insofern in Wechselwirkung mit dem Bildungsmigrationshintergrund, den Frau Mafany innehat.
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Fazit
Intention der vorliegenden Arbeit ist es, soziale Ungleichheiten im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat konsequent intersektional zu erfassen und beispielhaft an der Frage der „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Eltern im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu erforschen. Die intersektionalen Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität werden dabei als historisch und sozial konstruierte Differenzkategorien im Rahmen kapitalistischen Wirtschaftens verstanden, die im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Transformationen eine Modifizierung erfahren haben. Zwar folgen sie jeweils einer Eigenlogik, innerhalb arbeitsteiliger, kapitalistischer Gesellschaften bleiben sie jedoch wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verflochten. Im Fokus der empirischen Analyse stehen abhängig beschäftigte Mütter und Väter im Krankenhaussektor sowie deren „Wahlfreiheit“ in Entscheidungssituationen im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung paralleler Erwerbs- und Sorgearbeit. „Wahlfreiheit“ wird dabei als Spektrum subjektiv wahrgenommener, individueller Wahlmöglichkeiten von Müttern bzw. Vätern verstanden. Die methodologische und methodische Erforschung elterlicher „Wahlfreiheit“ aus intersektionaler Perspektive orientiert sich in der vorliegenden Arbeit einerseits an der Grounded Theorey-Methode, dessen Kodierparadigma ergänzt wurde durch die intersektionale Analyseperspektive nach Riegel (Riegel 2010). Auf diese Weise war sichergestellt, dass bereits die Schlüsselkategorien aus dem empirischen Material einer intersektionalen Analyseperspektive unterzogen werden. Andererseits wurden die drei Ebenen der Mehrebenenanalyse nach Winker/Degele zur analytischen Identifizierung und Unterscheidung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen herangezogen: Sozialstrukturen, symbolische Repräsentationen und Identitäten (Winker/Degele 2009). Die im letzten Schritt vollzogene intersektionale Wendung der im Material generierten Theorien entlang der Wechselwirkungen und Interdependenzen der Kategorien Klasse, Geschlecht
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und Ethnizität orientiert sich daran (vgl. Kap. 3.). Im Ergebnis stehen im Material begründete, mit Hilfe der Grounded Theory-Methode extrahierte Theorien, die einer explizit intersektionalen Perspektive unterzogen wurden und Auskunft über „Wahlfreiheit“ von erwerbstätigen Müttern und Vätern entlang ihrer jeweiligen sozialen Positionierungen geben. Es hat sich gezeigt: die soziale Positionierung von Müttern und Vätern mit Kindern im Haushalt entlang der Kategorien-Trias Ethnizität, Klasse und Geschlecht ermöglicht bzw. vergrößert Wahlmöglichkeiten in einzelnen beruflichen und privaten Entscheidungssituationen oder im Gegenteil verunmöglicht bzw. verringert diese. Von empirischer Relevanz sind dabei Wahlmöglichkeiten im Kontext von (Quasi-)Solidargemeinschaften, im Hinblick auf individuelle Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“ sowie bezüglich Mehrfachbeschäftigung. Die in diesen Bereichen selektiven Optionen der Lebensführung stehen, dies wurde ebenfalls deutlich, im Kontext der jüngeren Transformationen des deutschen Wohlfahrtsstaates und den damit einhergegangenen Wandlungen der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik in Richtung der sich gegenseitig stützenden und bedingenden Paradigmen Aktivierung, Eigenverantwortung sowie Autonomie- bzw. Selbstbestimmung. Bestehende intersektionale Ungleichheiten im kapitalistisch organisierten deutschen Wohlfahrtsstaat werden durch die neuen politischen Leitlinien im Spannungsfeld von Staat, Markt und Familie auf unterschiedliche und neuartige Weise (re-)produziert und legitimiert. Dies geschieht über die Inklusion bzw. Exklusion von Müttern und Vätern mit spezifischer sozialer Positionierung qua bestehender sozial-, arbeitsmarkt- und familienpolitischer Strukturen, über die wohlfahrtsstaatliche (Nicht-)Ermöglichung von Identitäten – etwa als Hausmann oder Familienernährerin – und über die Aufrechterhaltung bzw. Transformation symbolischer Repräsentationen. So haben inzwischen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit sowie Fragen der individuellen Vermarktungs(-un-)möglichkeiten der eigenen Arbeitskraft einen Einfluss auf die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von familienpolitischen Leistungen oder familienfreundlichen Maßnahmen im Betrieb, was elterliche „Wahlfreiheit“ tendenziell vergrößert bzw. verkleinert. Überraschend ist, dass das Thema Kinderbetreuung keinen größeren Stellenwert in der Empirie eingekommen hat, war die Frage der häuslichen gegenüber einer öffentlichen Kinderbetreuung rund um das Betreuungsgeld doch Auslöser für die jüngeren öffentlichen Diskussion und politischen Debatten hinsichtlich der „Wahlfreiheit“ von Eltern. Wo Fragen der Kinderbetreuung von den Interviewpersonen thematisiert wurde, wurden unzureichende Öffnungszeiten vor dem Hintergrund eigener atypischer Arbeitszeiten und Schichtdienst sowie der Zugang zu betrieblichen Kinderbetreuungsangeboten kritisiert. Intersektional
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angelegte Forschung zu der Frage des Zugangs zu Kinderbetreuungsangeboten für Mütter und Väter steht hier noch aus. Einschränkend muss an dieser Stelle auf den Branchenfokus der vorliegenden Arbeit verweisen werden. Alle Interviewpersonen waren zum Zeitpunkt des Interviews in unterschiedlichen Kliniken im Krankenhaussektor NordrheinWestfalens beschäftigt. Eine Übertragung der vorliegenden Ergebnisse auf deutschlandweit erwerbstätige Elternteile in anderen Branchen ist daher nur eingeschränkt möglich. Zwar steht der Krankenhaussektor exemplarisch für den Wandel des deutschen Gesundheitssektors und letztlich auch für die Transformationen im Wohlfahrtsstaat Deutschlands insgesamt, die empirischen Manifestationen von „Wahlfreiheit“ der Mütter und Väter sind jedoch zugleich verankert mit den Charakteristika des Sektors, etwa im Hinblick auf die Bedeutung der hierarchischen Organisation Krankenhaus sowie den atypischen bzw. prekären Beschäftigungsbedingungen für bestimmte Beschäftigtengruppen, die etwa Mehrfachbeschäftigung wahrscheinlicher werden lassen. Dennoch lässt sich auch in anderen Arbeitsmarktsektoren eine Ausdifferenzierung von Beschäftigungsbedingungen beobachten. Kritisch angemerkt werden muss auch, dass zu wenige Mütter und Väter mit niedriger oder fehlender beruflicher Qualifikation sowie beispielsweise unsicheren Aufenthaltsstatus für die Studie interviewt werden konnten. Ebenso sind keine Beschäftigten von Leiharbeitsfirmen in Krankenhäusern erreicht worden. Die Erkenntnis, dass Menschen in besonders prekären Lebenssituationen auffällig selten von wissenschaftlichen Studien erfasst werden, muss Anlass bleiben, immer wieder weitere Anstrengungen zu unternehmen, um dieser Positivauswahl und damit letztlich Verzerrung wissenschaftlicher Erkenntnisse etwas entgegen zu setzen. Die vorliegenden Ergebnisse betonen vor diesem Hintergrund insofern letztlich die Notwendigkeit, stärker in Wechselwirkungen und Interdependenzen von sozialen Kategorien zu denken und zu forschen und auf diese Weise der Vielfalt der Lebensverhältnisse in Deutschland gerecht zu werden. Intersektionale Perspektiven bieten dafür entsprechende Theorien und entsprechende Analyseinstrumentarien. Abschließend werden die Erkenntnisse aus dieser Forschungsarbeit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die verschiedenen, hier aufgegriffenen Forschungsstränge und -perspektiven aufgeführt.
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SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE FEMINISTISCHE THEORIE Die feministische Frauen- und Geschlechterforschung hat den Grundstein für einen fundamentalen Perspektivwechsel in der kapitalistischen Gesellschaftsanalyse gelegt – ohne sie wäre diese Arbeit nicht denkbar gewesen. Gleichzeitig hat sie dabei Grundannahmen zentral gesetzt, die Ausschlüsse (re-)produzieren und bis heute häufig unhinterfragt bleiben. Diese Erkenntnis formulierte Glenn bereits 1985 angesichts ihrer Analyse zur Arbeit mexikanischer, asiatischer und farbiger U.S.-Amerikaner*innen, die sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsarbeit auf modifizierte Art und Weise auch für die Gegenwart reartikulieren lässt. Zu den feministisch-theoretischen Grundannahmen zählen die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, der Vorrang von Geschlechterkonflikten innerhalb der Familie sowie der ausschließliche Genderfokus bei der Bewertung primär reproduktiver Arbeit (Glenn 1985: 101f). Auch gegenwärtig funktioniert die (deutschsprachige) Frauen- und Geschlechterforschung hauptsächlich entlang der Unterstellung, es existiere eine kritikwürdige Trennung von privater und öffentlicher Sphäre innerhalb der Gesellschaft, bei der üblicherweise Frauen der privaten und Männer der öffentlichen Sphäre zugeschrieben werden. Offensichtlich existieren jedoch Unterschiede in der Identifizierung von Frauen und auch Männern mit der öffentlichen bzw. privaten Sphäre in Abhängigkeit von Klasse, Ethnizität und Geschlecht (Glenn 1985: 102). Dies zeigen die Beispiele von Frau Hotic und Herrn Demirci, deren Väter und Mütter als Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen und von Beginn an sowohl mit Erwerbs-, als auch mit Sorgearbeit konfrontiert waren. Die Definition von Weiblichkeit allein im Kontext von Häuslichkeit bzw. von Männlichkeit ausschließlich im Kontext von Erwerbsarbeit ist insofern eine verkürzte Konstruktion der Geschlechtersoziologie und deutscher Frauengeschichte und traf auf die meisten rassisch-ethnischen Frauen und Männer ebenso wie auf Frauen und Männer der Arbeiterklasse niemals zu. Im Gegenteil: Das Beispiel von Frau Mafany sowie der zahlreichen namenlos gebliebenen weiblichen Hausangestellten mit Migrationshintergrund, von denen die Interviewpersonen berichteten, zeigen, dass diese anders als autochthon deutsche Frauen in erster Linie als Erwerbstätige definiert wurden und werden. Darüber hinaus ebnet diese verkürzte Konstruktion der Geschlechtersoziologie den Weg für eine systematische Ausblendung väterlicher Beteiligung an Sorgearbeit. Ein weiterer Aspekt, auf den Glenn aufmerksam machte, ist die Frage, was überhaupt als private Sphäre deklariert werde (Glenn 1985: 102). Auch hier deuten sich Brüche im Material mit der feministischen Theorie durch eine größere
Fazit | 271
Bandbreite an Verwandtschafts- und Community-Beziehungen jenseits des Familienkerns von Eltern und Kindern an, bei denen etwa auch Schwager aktiv in die Kinderbetreuung einbezogen werden. Dies wurde etwa an den Solidargemeinschaften von Frau Mafany oder Frau Günes deutlich. Mit dem Fokus feministischer Theorie auf Geschlechterkonflikte innerhalb der Kernfamilie – der sich im Übrigen auch in der gegenwärtigen Familien- und Gleichstellungspolitik widerspiegelt und mit ökonomisierten Maßnahmen zu bearbeiten versucht wird – wurde und wird die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern sowie die Trennung von Arbeit in Sorge- und Erwerbsarbeit ins Zentrum gerückt. Damit einher gehe die Betrachtung von Frauen und Männern innerhalb einer heterosexuellen Partnerschaft als Personen mit unterschiedlichen bzw. gegensätzlichen Interessen, was sich in Konflikten und Kämpfen um Ressourcen und Hausarbeit ausdrücke. Dabei gerate gar nicht erst in den Blick, dass Familie an sich als Ort und Ressource für Widerstand gegen externe Unterdrückung fungieren könne (Glenn 1985: 103). Gerade im Kontext des transformierten deutschen Wohlfahrtsstaates und der auf Aktivierung, individueller Eigenverantwortung sowie Autonomie- bzw. Selbstbestimmung ausgerichteten staatlichen Institutionen und Paradigmen kann Familie auch ein eigensinniger, eben nicht funktionaler und ökonomisierter Charakter zugeschrieben werden und in diesem Sinne Ort widerständischer Praxis sein. Demnach hätte Familie bzw. hätten heterosexuelle Partnerschaften mit einer ungleichen Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit keine (zumindest ausschließliche) Funktion paternalistischer Unterdrückung, aus der es Frauen bzw. Mütter zu befreien gilt, weil Exklusionen und Kämpfe außerhalb des Haushaltes einen größeren Stellenwert für die Familie bzw. das Paar – gedacht als gewünscht heteronome Einheit – einnehmen als die zwischen den Geschlechtern innerhalb des Haushaltes (vgl. auch Glenn 1985: 104). Die Hebamme Frau Müller wäre hierfür ein Beleg. Hinzu kommt: Wird Familie als Ort widerständischer Praxis gegenüber ihr externen Unterdrückungen betrachtet, rückt dies die Rolle des Mannes bzw. des Vaters in ein anderes Licht. Die dritte Grundannahme feministischer Theorie, die einer primär vergeschlechtlichten Trennung von Sorgearbeit, wird von Glenn als rassisch-ethnische Trennung markiert (vgl. ebd.: 104). Auch im vorliegenden Material drängt sich die Erkenntnis auf, dass die schwersten und dreckigsten Arbeiten sowohl innerhalb der Sorgearbeit als auch innerhalb der Erwerbsarbeit von rassisch-ethnischen Frauen ausgeführt werden. Die Umwandlung vieler Sorgetätigkeiten in bezahlte Dienstleistungen hat zwar dazu geführt, dass Frauen sich als Arbeitskräfte auf –
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wohlgemerkt internationalen – Arbeitsmärkten bewegen, die rassisch-ethnischen Stratifizierungen halten dabei jedoch an, wie Glenn am Beispiel des U.S.amerikanischen Krankenhaussektors verdeutlicht: „The stratification is visible in hospitals, where whites predominate among registered nurses, while the majority of health care aides and housekeeping staff are blacks and latinas“ (Glenn 1985: 104). Ähnliche Stratifizierungen zeigen sich am Material auch für den deutschen Krankenhaussektor entlang der intersektionalen Kategorien-Trias Klasse, Geschlecht und Ethnizität im Hinblick auf die rekonstruierten individuellen Tauschverhältnisse im betrieblichen „Mikrokosmos“. Richtig ist, dass diese Grundannahme der feministischen Theorie in der jüngeren Frauen- und Geschlechterforschung bereits umfangreicher in Glenns Sinne kritisch aufgegriffen und erweitert wurde als die zwei vorangegangenen. Nach wie vor müssen jedoch wechselseitige Verkürzungen und Ausblendungen in der Geschlechterforschung gegenüber ethnisch-rassischen Personen sowie in der (auch kritischen) Migrationsforschung gegenüber der spezifischen Positionierung von Frauen konstatiert werden, die es dringend zu überwinden gilt (vgl. auch Lepperhoff 2005, Neuhauser et al. 2017).
SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR INTERSEKTIONALE ANALYSEN UND ANSÄTZE Die obigen Ausführungen machen deutlich, dass intersektionale Ansätze und Analysen eine sinnvolle und notwendige Weiterentwicklung feministischer Theorie darstellen und das Potenzial haben, die Zusammenhänge von intersektionalen Kategorien und Relationen bzw. Verhältnisse im Hinblick auf asymmetrische Macht- und Herrschaftsstrukturen zu enttarnen. Dies gilt jedoch nicht ohne weiteres, denn dafür müssten Kategorien als Ort der Ungleichheit analytisch zunächst vorausgesetzt werden (Soiland 2012: 3, vgl. auch McCall 2005). Dies steht jedoch im Kontrast zu einer Tendenz intersektionaler Analysen, die Homogenität irgendeiner Gruppe entlang irgendwelcher Merkmale (i.S.v. Kategorisierungen) grundsätzlich in Frage zu stellen. Soiland spitzt zu: „Man wird […] nicht darum herum kommen können, in der Frage Stellung zu beziehen, ob man der Artikulation oder Dekonstruktion den Vorzug geben will, oder noch genauer, ob man die Persistenz sozialer Ungleichheit in der mangelnden Artikulation eines Verhältnisses oder im Ausbleiben der Dekonstruktion von Kategorien verortet“ (Soiland 2012: 10).
Fazit | 273
Die Stagnation intersektionaler Analysen in einer Identitätskritik zwecks Vermeidung von Essentialisierungen führt für Soiland allerdings dazu, die Frage nach gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr zu stellen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch einordnen, dass intersektionale Analysen im deutschsprachigen Raum sowohl empirischer als auch theoretischer Art auffallend selten konkrete Strukturen und Verhältnisse zum Forschungsgegenstand haben. Dies gilt einerseits für Wohlfahrtsstaaten und ihre gegenwärtigen Transformationsprozesse insgesamt sowie einzelne sozialpolitische Strukturen. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass es durchaus notwendig ist, Wohlfahrtsstaaten mit ihren sozialpolitischen Strukturen, symbolischen Repräsentationen und Identitäten, die dadurch ermöglicht bzw. verunmöglicht werden intersektional zu beleuhcten. Andererseits scheint es im deutschsprachigen Raum kaum intersektionale Analysen zu geben, die Organisationen als Kontext ernst nehmen, ob es sich dabei nun um Organisationen der Privatwirtschaft bzw. Betriebe, öffentliche Verwaltungen und Universitäten oder um Organisationen kollektiver Interessensvertretungen handelt. Die Ausarbeitung der theoretischen und auch empirischen Verknüpfungen zwischen Intersektionalität und Organisationen stellen insofern ein weiteres Forschungsdesiderat dar, welches dringend zu bearbeiten ist. Dies zeigen die hier vorgelegten Ergebnisse zu den höchst selektiven Tauschverhältnissen im betrieblichen „Mikrokosmos“ des deutschen Krankenhaussektors. Trotz der Komplexität und Herausforderungen, die man sich mit einer intersektionalen empirischen Studie im Kontext von konkreten Strukturen und Verhältnissen einhandelt, soll die vorliegende Arbeit auch als Ermutigung verstanden werden, sich eine intersektionale Perspektive für die eigene Forschung anzueignen.
SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE WOHLFAHRTSSTAATLICHE TRANSFORMATIONSFORSCHUNG Die wohlfahrtsstaatliche Transformationsforschung muss sich konsequenter die Perspektive der Subjekte zum Ausgangspunkt zu machen. Will man die Wirkungsweisen sozialpolitischer Strukturen und Leistungen tatsächlich erfassen, müssen stärker akteurs- bzw. subjektbezogene Perspektiven vorangestellt werden. Erst die Erhebung der konkreten Alltagsbewältigung aus Perspektive der*des Einzelnen lässt Rückschlüsse auf die gewandelte Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland zu. Dass dieser nicht neutral gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen ist, sondern Anreize setzt und bestimmte Lebensformen und Le-
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bensweisen belohne bzw. bestrafe und dies für spezifische Subjekte unterschiedlich, zeigt nicht nur diese Forschungsarbeit, sondern auch aktuelle Forschungsergebnisse zu jungen Erwerbslosen (vgl. Gille/Klammer 2017). Darüber hinaus sind Verknüpfungen zwischen Wohlfahrtsstaaten und deren Transformationen sowie intersektionalen Ungleichheiten notwendig und fruchtbar. Bestehende intersektionale Ungleichheiten werden durch wohlfahrtsstaatliche, konkret durch familien- und arbeitsmarktpolitische Strukturen, Identitäten und symbolischen Repräsentationen aufgegriffen und auf modifizierte Art und Weise (re-)produziert. Die wohlfahrtsstaatlichen Paradigmen Aktivierung, Eigenverantwortung sowie Autonomie bzw. Selbstbestimmung etablieren Prinzipien, die Mütter und Väter im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zueinander in neue Verhältnisse setzen. Insofern ist es höchst bedeutend zu erkennen, dass die wenigen oder geringeren Wahlmöglichkeiten spezifischer Mütter bzw. Väter in Relation zu den höheren bzw. gestiegenen Wahlmöglichkeiten anderer Mütter bzw. Väter stehen. Dies wird etwa an den Narrationen beruflicher Performanz im Kontext der betrieblichen Tauschverhältnisse deutlich: Wo hochqualifizierte Väter soziale Rechte mit Verweis auf erbrachte, berufliche Leistungen, die Dauer der Betriebszugehörigkeit oder die nachgefragte Stellung auf dem Arbeitsmarkt in Anspruch nehmen, wird weniger qualifizierten, weniger erfolgreichen oder jungen Vätern die Legitimation für die Nutzung sozialer Rechte wie Elterngeldmonaten ein Stück weit entzogen. Soziale Rechte und mitbestimmte Vereinbarkeitsmodelle werden auf diese Weise verknüpft mit individuellen beruflichen Leistungen, die scheinbar losgelöst sind von der wechselseitigen Zugehörigkeit zu Kategorien wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität. Auch die empirischen Ergebnisse zu Mehrfachbeschäftigung verweisen auf neue Verhältnisse zwischen und innerhalb von erwerbstätigen Müttern und Vätern im deutschen Krankenhaussektor: So führt die politisch forcierte Etablierung eines Gesundheitsmarktes zu mehr Wahlmöglichkeiten für Ärztinnen, in dem diese ihre Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt als Leihärztinnen oder über Online-Portale darbieten und sich so Weiterbildungs- und Karrierechancen eben der Mutterschaft erhalten. Frau Weber ist hierfür ein Beispiel. Gleichzeitig führen Spar- und Wettbewerbsprinzipien im Gesundheitswesen zur Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen in der Pflege, im Funktions-, Versorgungs- sowie medizinisch-technischen Dienst, die Mehrfachbeschäftigung der dort beschäftigten Mütter (und Väter) erforderlich machen und somit „Wahlfreiheit“ verringern. Dies wurde im Material an Frau Müller und Frau Schubert deutlich.
Fazit | 275
Vor dem Hintergrund dieser neuen Verhältnisse und in Anbetracht neuer wohlfahrtsstaatlicher Prinzipien stellt sich die von Williams bereits 1995 formulierte Frage erneut: Wer ist im gegenwärtigen deutschen Wohlfahrtsstaat eigentlich grundsätzlich in der Lage, die Bedürfnisse zur Realisierung seiner*ihrer Wohlfahrt zu artikulieren? Williams formulierte: „In exploring social divisions we need to be able to tease out the dynamics of identity, subjectivity, subject position, and political agency, how these affect the landscape of choice and risk that face individuals and social groups, and how people therefore articulate their welfare needs, both individually and collectively“ (Williams 1995: 128).
Die gegenwärtige Familien- und Gleichstellungspolitik im transformierten deutschen Wohlfahrtsstaat scheint darauf derzeit eine höchst selektive Antwort gefunden zu haben.
SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE FAMILIENUND GLEICHSTELLUNGSPOLITIK Familienpolitik steht beispielhaft für den Wandel des Wohlfahrtsstaates insgesamt und hat sich in Anlehnung an Arbeitsmarktpolitik einer Ökonomisierung zugewendet (vgl. auch Menke 2016). Auch der Familienpolitik sind die neuen sozialpolitischen Prinzipien der Aktivierung, Eigenverantwortung und Autonomie insofern eingeschrieben. Die gegenwärtige Familienpolitik mit ihrer Verknüpfung von Elternschaft und Erwerbsarbeit zu kritisieren erscheint als besonders widersprüchlich, gehörte die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern als autonomen Subjekten zu den zentralen Forderungen feministischer Wohlfahrtsstaatsforschung (vgl. Orloff 1993, Lewis 1992). Erwerbs- und Sorgearbeit gleichzeitig nachzukommen, wird derzeit im Dreieck von Wohlfahrtsstaat, Markt und Familie neu justiert. Neue sozialrechtliche Ansprüche, der Ausbau der Infrastruktur von Kinderbetreuungseinrichtungen und die Förderung einer familiengerechten Arbeitswelt durch die staatliche Familienpolitik suggeriert Müttern und Vätern, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf grundsätzlich möglich sei (vgl. kritisch dazu Honig 2009). Allerdings kam es bei der Neujustierung der staatlichen Familienpolitik mit gleichstellungspolitischem Anspruch zu einer selektiven Artikulation von Alltagsbedürfnissen, die in ökonomische und gleichstellungspolitische Diskurse übersetzt wurden. In dieser, wie Fraser einen Debattenbeitrag überschreibt, gefährlichen Liaison zwischen Neoliberalismus und Feminismus (Fraser 2013) werden Müttern und Vätern familienpo-
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litische Leistungen wie das Elterngeld oder die Elternzeit entsprechend ihrer Positionierung entlang von Geschlecht, Klasse und Ethnizität neu gewährt oder verweigert (vgl. auch Menke/Klammer 2017). Je nach subjektiver Markt(-un-)förmigkeit des jeweiligen Elternteils bewegen sich Mütter und Väter zwischen höchst selektiven Wahlfreiheiten. Gelten Eltern als nachgefragte Fachkraft mit zumindest europäischer Staatsbürgerschaft verfügen sie über individuelle Aushandlungsmacht im Betrieb und vielen Ressourcen zur Gestaltung der eigenen Erwerbs- und Sorgearbeit. Mütter oder Väter mit Arbeitslosengeldbezug sind dagegen mit der Reduzierung von familienpolitischen Leistungen konfrontiert, haben als Ausländer*innen mit EUDrittstaatenzugehörigkeit zu diesen erst gar keinen Zugang oder ihnen fehlt als un- oder niedrigqualifizierte Arbeitskraft die individuelle betriebliche Verhandlungsmacht. Die gegenwärtige Familienpolitik hat Situationen und Lebensprobleme der gehobenen, heterosexuellen Mittelschicht zu verwaltbaren Bedürfnissen gemacht: Frauen und Mütter werden für den Arbeitsmarkt aktiviert, im Gegenzug werden Männer bzw. Väter jedoch nicht annähernd stark zu der Übernahme von Sorgearbeit angehalten. Studien, die das väterliche Engagement bei der Sorgearbeit explizit aus intersektionaler Perpsektive erforschen, wären eine notwendige Forschungsperspektive. Die darüber hinausgehenden Herausforderungen im Hinblick auf die Organisation, Gestaltung und Verteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit werden als individuell zu bearbeitende, weniger dringliche Konflikte von nicht emanzipiert oder gleichberechtigt genug lebenden Müttern und Vätern in der Familien- und Gleichstellungspolitik gebrandmarkt. Woltersdorff hat im Kontext seiner Analyse der widersprüchlichen, vergeschlechtlichten, sexualisierten Wirkung von Bedarfsgemeinschaften im ALG II-Bezug einmal von der „institutionellen Anerkennung unter der Bedingung gesellschaftlicher Entsolidarisierung“ gesprochen (Woltersdorf 2008: 190). Dies lässt sich auch für die Familien- und Gleichstellungspolitik diagnostizieren: Es ist zwar zu einer Anerkennung der Lebenssituationen von (heterosexuellen) Personen mit Sorgeverpflichtungen gekommen, diese gilt es jedoch als eigenverantwortliche, autonome Erwerbstätige zu bewältigen, nicht auf Basis gleicher Rechte für alle Sorgetragenden. Im Gegenteil: für die Inanspruchnahme familienpolitischer Rechte zählen zunehmend wirtschaftliche Effizienz, weniger originär wohlfahrtsstaatliche Konstrukte wie Bedarfsgerechtigkeit. Oder wie Aulenbacher et al. es engführen: Leistung statt solidarische Gerechtigkeit (Aulenbacher et al. 2017: 21). Fraser hat die Entwicklung feministischer Zielsetzungen in den westlichen Staaten im Kontext neoliberaler Politiken seit der Jahrtausendwende wie folgt beschrieben:
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„Im Rückblick erkennen wir, dass die Bewegung zur Befreiung der Frauen gleichzeitig auf zwei unterschiedliche Zukünfte hindeutete. In dem einen Szenario fasste sie eine Welt ins Auge, in der Gender-Emanzipation mit partizipatorischer Demokratie und sozialer Solidarität Hand in Hand ging; in einem zweiten Szenario aber verhieß sie eine neue Form des Liberalismus, der Frauen ebenso wie Männern zu den Segnungen individueller Autonomie, vermehrter Wahlmöglichkeiten und eines meritokratischen Aufstiegs verhelfen könne.“ (Fraser 2013: 29)
Die Fallstricke intersektionaler, sozialer Ungleichheiten, die mit der kapitalistisch-wohlfahrtsstaatlichen Verheißung individueller Autonomie, vermehrter Wahlmöglichkeiten und eines meritokratischen Aufstiegs einhergehen, wurden in dieser Forschungsarbeit ausschnitthaft aufgezeigt. „Feministische Zielsetzungen [drohen] zu scheitern, weil sie sich weigern, der konstitutiven Macht ihrer eigenen Repräsentationsansprüche Rechnung zu tragen“ (Butler 1991: 20). Ersetzt man im vorangestellten Zitat das weil durch ein wenn, lässt sich diese Mahnung von Judith Butler allerdings auch als Ermutigung lesen.
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300 | „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter?
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Anhang
Marike
Tanja
Janet
Manuela
Adam
Weber
Reinhard
Grosse
Müller
Kowak
Peters
Lohse Reuschenbach
Zimmer
Wilke
4
5
6
7 8
9
10
12
13
11
Dorothea
Bergmann
3
Michael
Gabriele
Patrick
Vera
Konrad
Anna
Schubert
2
Emira
Hotic
Vorname
1
Nr. Nachname
Name
Zuverdiener
Zuverdienerin
Familienernährer
Egalitäre Einkommen
Egalitäre Einkommen
Familienernährer
Familienernährerin
Zuverdienerin
Alleinerziehend
Familienernährerin
Egalitäre Einkommen
Alleinerziehend
Zuverdienerin
Familienmodell
38
38
37
36
33
31
44
30
38
32
37
38
33
Alter
Justiziarin
Physiotherapeutin
Stationssekretärin
Berufsbezeichnung
Studium
Studium
Berufliche Ausbildung
Ausbildung
Bildung und Beruf
Studium
Studium
Studium
Pflegekraft
Ärztlicher Dienst Facharzt
Pflegedienst
Ärztlicher Dienst Oberarzt
Studium
Studium Berufliche Ausbildung
Ärztlicher Dienst Assistenz-ärztin Studium
Ärztlicher Dienst Assisten-zarzt
Ärztlicher Dienst Assistenz-arzt
Funktions-dienst Hebamme
Ärztlicher Dienst Assistenz-ärztin Studium Berufliche Pflegedienst Pflegekraft Ausbildung Berufliche Pflegedienst Pflegekraft Ausbildung
Medizinischtechnischer Dienst Verwaltungsdienst
Verwaltungsdienst
Beschäftigtengr uppe
Nein
Nein
Nein
Ja
Ja
Ja
Nein
Nein
Nein
Ja
Nein
Ja
Nein
0
1
0
0
0
0
2
0
0
1
0
2
0
Befristu Anzahl ng Zweitjob
Beschäftigungsverhältnis(se)
Hohe Teilzeit
Niedrige Teilzeit
Vollzeit
Vollzeit
Vollzeit
Vollzeit
VZ
Hohe Teilzeit
Hohe Teilzeit
k.A.
Vollzeit
Hohe Teilzeit
Hohe Teilzeit
Vertragl. Arbeitszeit in Hauptjob
1.800
< 1.000
> 5.000
3.5000-4.000
4.500-5.000
4.500-5.000
2.000
< 1.000
1.000-1.500
zukünftig 3.000
2.500- 3.000
1.300
< 1.000
Nettoeinkommen (Euro)
6.000-7.000
4.000-5.000
7.000-10.000
6.000-7.000
6.000- 7.000
4.500-5.000
2.000- 3.000
4.000-5.000
1.000-1.500
4.000-5.000
4.000-5.000
1.500- 2.000
2.000- 3.000
Haushaltseinkommen (Euro)
Finanzen
DE
DE
DE
DE
DE
DE
2
10 und 8
6, 3
8 und 3
2
DE
DE
DE
DE
DE
12, 9 und 5 DE PL 1
5 und 3
7
3 und 1
11 und 4
5
8 und 5
GeburtsAlter Kind(er ) land
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
polnisch
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
deutsch
Nationalität
Herkunft
DE - DE
DE - DE
DE - DE
DE - DE
PL - PL
PL - PL
DE - DE
DE - DE
DE - DE
DE - DE
DE - DE
DE - NL
BIH - BIH
Herkunft Eltern (Vater/ Mutter)
302 | „Wahlfreiheit“ erwerbstätiger Mütter und Väter?
Holger
Wiesner
Demirci
Günes
Kröger
Mafany
15
16
17
18
19
Studium
38 Stunden und mehr Wochenarbeitszeit
20 bis 37 Stunden Wochenarbeitszeit
Unter 20 Stunden Wochenarbeitszeit
Vollzeit
Hohe T eilzeit
Niedrige T eilzeit
Pflegekraft
Partner*innen verdienen jeweils 40 bis 60 Protzent des Haushaltseinkommens
Pflegedienst
Versorgungsdien st Service
Nein
Ja
Nein
Ja
Befristung
0
0
1
0
0
0
Anzahl Zweitjob
Beschäftigungsverhältnis(se)
Sonderschule Nein Pflegefachkraf t Nein
ohne Versorgungsdien beruflichen st Reinigungs-kraft Abschluss
Ärztlicher Dienst Facharzt
Ausbildung Ärztlicher Dienst Assistenz-ärztin Studium Berufliche Ausbildung Pflegedienst Pflegekraft
Mann/Frau verdient 60 Prozent und mehr des Haushaltseinkommens
43
41
32
38
36
Alter 30
Berufsbezeichnung
Bildung und Beruf
Egalitäre Einkommen
Familienernährerin
Alleinerziehend
Zuverdienerin
Alleinerziehend
Egalitäre Einkommen
Egalitäre Einkommen
Familienmodell
Beschäftigtengruppe
Familienernährer*in
Erläuterungen zur Tabelle
Claire
Yvonne
Selma
Celal
Vorname Nina
Nr. Nachname 14 Scholz
Name
Vollzeit
Vollzeit
Niedrige Teilzeit
Vollzeit
Hohe Teilzeit
Vollzeit
Vertragl. Arbeitszeit in Hauptjob
2.000-2.500
1.500-2.000
< 1.000
> 5.000
1.500-2.000
2.000-2.500
Nettoeinkommen (Euro)
3.000- 4.000
1.500-2.000
2.000-3.000
> 5.000
2.000-3.000
4.000-5.000
Haushaltseinkommen (Euro)
Finanzen
DE
TUR
DE
13 und 11 CMR
11 und 7
6
9 und 8
3 und 8 Wo. DE
GeburtsAlter Kind(er ) land DE 6, 4
deutsch
deutsch
türkisch
türkisch
deutsch
deutsch
Nationalität
Herkunft
CM - CM
DE - DE
TUR - TUR
BGR - BGR
DE - DE
DE - DE
Herkunft Eltern (Vater/ Mutter)
Anhang | 303
Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de