Grundrecht Gewissensfreiheit: Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive 3402119269, 9783402119266


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Title
Vorwort
Inhalt
EINLEITUNG
1. Einführende Überlegungen
2. Zum methodischen Aufb au
3. Der Stand der Forschung
I. KAPITEL: HISTORISCHER ÜBERBLICK
1. Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichenVerlautbarungen
1.1 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts bis zum II. Vatikanischen Konzil
1.2 Die Gewissensfreiheit in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils
1.3 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts nach dem II. Vatikanischen Konzil
1.4 Entfaltung der Lehre oder Lehrwiderspruch?
2. Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD
2.1 Zur Genese des Rechts auf Gewissensfreiheit
2.2 Die Genese der Gewissensfreiheit in Deutschland
3. Die Aussagen zur Gewissensfreiheit von kirchlichem Lehramt und deutscher Gesetzgebung im geschichtlichen Vergleich
4. Die Grenzen der Gewissensfreiheit im historischen Überblick
II. KAPITEL: ZUR AUSLEGUNG DES RECHTS
1. Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik
1.1 Die Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes
1.2 Die Einteilung der Grundrechte
1.3 Zur Bestimmung der Grundrechtsberechtigten
1.4 Zur Bestimmung der Grundrechtsverpfl ichteten
1.5 Grundrechte – Regeln oder Prinzipien?
1.6 Die Grundrechtsprüfung
2. Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit
2.1 Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit
2.2 Eingriff e in die Gewissensfreiheit
2.3 Die Schranken der Gewissensfreiheit
3. Off ene Fragen bezüglich der Gewissensfreiheit
III. KAPITEL: EINGRIFFE IN DIE GEWISSENSFREIHEIT
1. Zur moralischen Verantwortung
1.1 Das Lehrstück der cooperatio ad malum
1.2 Eine Konzeption moralischer Verantwortung
2. Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«
2.1 Die Skandalon-Lehre
2.2 Das Hindern als Eingriff in die Gewissensfreiheit
2.3 Das Zwingen als Eingriff in die Gewissensfreiheit
3. Zusammenfassung
RESÜMEE
LITERATURVERZEICHNIS
1. Äußerungen des Lehramts der katholischen Kirche
2. Entscheidungen und Urteile staatlicher Gerichte
3. Weitere Literatur
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Grundrecht Gewissensfreiheit: Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive
 3402119269, 9783402119266

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Grundrecht Gewissensfreiheit

Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive

STUDIEN DER MORALTHEOLOGIE NEUE FOLGE



55::5: Aschendorff •• ••

i:::::. Verlag

Studien der Moraltheologie. Neue Folge Studies in Moral Theology. New Series Band 1

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STUDIEN DER MORALTHEOLOGIE. NEUE FOLGE STUDIES IN MORAL THEOLOGY. NEW SERIES Herausgegeben von Stephan Goertz (Mainz) und Sigrid Müller (Wien) begründet von Antonio Autiero und Josef Römelt Wissenschaftlicher Beirat: Antonio Autiero (Münster) Julie Clague (Glasgow) Maria Teresa Davila (Boston) Stephan Ernst (Würzburg) Walter Lesch (Löwen) Marie-Jo Thiel (Straßburg)

Band 1

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GRUNDRECHT GEWISSENSFREIHEIT Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive

Markus Patenge

Münster 2013

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© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-11926-6

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012/2013 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a. M. als Dissertationsschrift im Fach katholische Theologie angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben: An erster Stelle gilt mein Dank dem Moderator dieser Dissertation: Prof. P. Dr. Josef Schuster SJ. Unsere vielfältigen Gespräche und seine stets hilfreichen Impulse haben diese Arbeit unermüdlich vorangetrieben. Prof. P. Dr. Ulrich Rhode SJ möchte ich herzlich für die Anfertigung des Zweitgutachtens danken. Meiner Schwiegermutter Martina Patenge danke ich für die intensive Arbeit, die sie zum Korrekturlesen auf sich genommen hat. Ihre sprachlichen Vorschläge waren mir eine wertvolle Hilfe; sie haben so manche Gesichtspunkte und Argumentationsstränge deutlicher werden lassen. Den größten Dank verdient aber meine Frau Prisca. Sie war mir in den vergangenen Jahren eine zuverlässige Gesprächspartnerin und konstruktive Kritikerin. Neben ihrer wissenschaftlichen und redaktionellen Beratung verstand sie es, mich dann zu motivieren, wenn ich an der Arbeit gezweifelt habe. Für alles, was sie zum Gelingen dieser Arbeit ertragen und beigetragen hat, möchte ich ihr von ganzem Herzen danken. Abschließend will ich mich sowohl bei der Stiftung Sankt Georgen als auch bei den Bistümern Mainz und Speyer bedanken. Sie haben mit ihrer großzügigen finanziellen Unterstützung den Druck der Arbeit ermöglicht. Allen genannten und ungenannten Helfern kann ich nur sagen: Vergelt’s Gott! Frankfurt, im Juni 2013

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Inhalt

EINLEITUNG 1. Einführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Zum methodischen Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Der Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

I. KAPITEL: HISTORISCHER ÜBERBLICK ZUR GEWISSENSFREIHEIT IN DER LEHRE DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND IM RECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND IHRER VORGÄNGERSTAATEN 1. Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen . . . . . 1.1 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts bis zum II. Vatikanischen Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Gregor XVI. und die Enzyklika „Mirari vos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zum historischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zentrale Aussagen zur Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Leo XIII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Enzyklika „Libertas praestantissimum“ . . . . . . . . . . . . . . . . i. Zentrale Aussagen zur Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . ii. Argumente für eine eingeschränkte Gewissensfreiheit . . . . b) Die Enzyklika „Rerum novarum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Johannes XXIII. und die Enzyklika „Pacem in terris“ . . . . . . . . . . a) Aussagen zu den Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aussagen zur Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Gewissensfreiheit in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit: „Gaudium et spes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die anthropologische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die konziliare Lehre vom Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Gewissensfreiheit als Menschenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Schutz der Gewissensfreiheit durch das Evangelium . . . . .

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Inhalt e) Die Kriegsdienstverweigerung als konkretes Beispiel der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Erklärung über die religiöse Freiheit: „Dignitatis humanae“ . a) Eine Reichweitenbestimmung im Titel der Erklärung . . . . . . . b) Aussagen zur inneren Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aussagen zur äußeren Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grenzen der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts nach dem II. Vatikanischen Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die Enzyklika „Redemptor hominis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Der Codex Iuris Canonici (CIC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Der Katechismus der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Aussagen der deutschen Bischöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Katholische Erwachsenen-Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . b) Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika „Humanae vitae“ . . . . . . . . . . . 1.4 Entfaltung der Lehre oder Lehrwiderspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Genese des Rechts auf Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Augsburger Religionsfriede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anerkennung der lutherischen Konfession . . . . . . . . . . . . . b) Das »ius reformandi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das »ius emigrandi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Augsburger Religionsfriede und die Gewissensfreiheit . . . 2.1.2 Der Westfälische Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Festsetzung des Normaljahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Recht auf Religionsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Die Einzelrechte der Religionsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Die Grenzen der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) . . a) Die Bestimmungen des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Umsetzung der Bestimmungen des ALR . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Die Paulskirchenverfassung (PKV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt a) Die Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext des 3. Abschnitts des 2. Hauptteils der WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das neue Verständnis der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Beschränkung der Gewissensfreiheit in der WRV . . . . . . . 2.1.6 Die Gewissensfreiheit in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gesetzesgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationalsozialistische Ideologie und Gewissensfreiheit . . . . . . 2.1.7 Die Gewissensfreiheit in den deutschen Verfassungen nach 1949 a) Die Gewissensfreiheit in der Verfassung der DDR . . . . . . . . . . b) Die Gewissensfreiheit im Grundgesetz für die BRD . . . . . . . . . 2.2 Die Genese der Gewissensfreiheit in Deutschland – ein verfassungsgeschichtlicher Unfall? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Aussagen zur Gewissensfreiheit von kirchlichem Lehramt und deutscher Gesetzgebung im geschichtlichen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Grenzen der Gewissensfreiheit im historischen Überblick . . . . . . . . . . . .

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II. KAPITEL: ZUR AUSLEGUNG DES RECHTS AUF GEWISSENSFREIHEIT IN DER DEUTSCHEN GRUNDRECHTSLEHRE 1. Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . 88 1.1 Die Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes in ihrer Gesamtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1.2 Die Einteilung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1.2.1 Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1.2.2 Konkretion der Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1.3 Zur Bestimmung der Grundrechtsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1.4 Zur Bestimmung der Grundrechtsverpflichteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1.4.1 Die Staatsgewalt als originärer Grundrechtsverpflichteter . . . . . . 96 1.4.2 Die Ausstrahlungswirkung und die Grundrechtsbindung des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Die unmittelbare Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Die mittelbare Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 c) Der Ansatz der Schutzgebotsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.5 Grundrechte – Regeln oder Prinzipien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1.5.1 Grundrechte als Regeln und die Innentheorie der Grundrechte . 103 1.5.2 Grundrechte als Prinzipien und die Außentheorie der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1.5.3 Grundrechte – Regeln und Prinzipen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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Inhalt 1.6 Die Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.6.1 Der Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1.6.2 Der Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) Der klassische Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 i. Die Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . 110 ii. Zur Kritik am klassischen Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 113 iii. Das Bleibende des klassischen Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . 113 b) Der moderne Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 i. Die Merkmale des modernen Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . 115 ii. Zur Kritik am modernen Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 117 1.6.3 Die Grundrechtsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 i. Grundrechte Dritter als Beschränkungsmöglichkeit . . . . . . 122 ii. Rechtswerte mit Verfassungsrang als Beschränkungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Die Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 i. Der Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 ii. Das Verbot des Einzelfallgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 iii. Die Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 iv. Die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 v. Die Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2.1 Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2.1.1 Zur Bestimmung des Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Das Gewissensverständnis des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Das Gewissensverständnis des katholischen Lehramts . . . . . . . 136 i. Das Gewissen als Synderesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 ii. Das Gewissen als Conscientia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 iii. Die Würde des irrenden Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 iv. Das Gewissen als Ort der Gottesbegegnung . . . . . . . . . . . . . 141 v. Zusammenfassung des katholischen Gewissensverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.1.2 Die Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) Die Gewissensentscheidung aus der Perspektive des Gewissensträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Zur Beweisbarkeit einer Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . 148 c) Mögliche Kriterien einer Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . 151 i. Eine Gewissensentscheidung orientiert sich an einem individuellen rationalem Wertkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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Inhalt ii. Eine Gewissensentscheidung trägt auch negative Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 iii. Die unbeweisbare Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . 154 2.1.3 Die Schutzfunktion im forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Zur Bestimmung des forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Gefährdungen des forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Positive Einflussnahmen auf das forum internum . . . . . . . . . . . 159 2.1.4 Die Schutzfunktion im forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Zur Bestimmung des forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Zu den Konsequenzen der Schutzfunktion im forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2.2 Eingriffe in die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.2.1 Eingriffe in das forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.2.2 Eingriffe in das forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Hindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Zwingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 c) Eingriffe anderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.3 Die Schranken der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Offene Fragen bezüglich der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

III. KAPITEL: EINGRIFFE IN DIE GEWISSENSFREIHEIT AUS ETHISCHER PERSPEKTIVE 1. Zur moralischen Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1.1 Das Lehrstück der cooperatio ad malum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1.1.1 Zur cooperatio formalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1.1.2 Zur cooperatio materialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1.1.3 Zur Anwendbarkeit der cooperatio-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Erste Prämisse: Die Beurteilung der Haupthandlung als sittlich schlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Zweite Prämisse: Ein sündhaft handelnder Hauptakteur . . . . . 180 1.1.4 Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1.2 Eine Konzeption moralischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1.2.1 Vorbemerkungen zum Verantwortungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Retrospektive oder prospektive Verantwortung? . . . . . . . . . . . . 181 b) Subjektive Verantwortung vs. objektive Verantwortung . . . . . . 184 1.2.2 Normative Merkmale moralischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . 185 a) Das Subjekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Das Objekt der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

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Inhalt c) Die Instanz der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 d) Die Kriterien der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.1 Die Skandalon-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2.2 Das Hindern als Eingriff in die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.2.1 Das Hindern im forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.2.2 Das Hindern im forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.3 Das Zwingen als Eingriff in die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2.3.1 Das Zwingen im forum externum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Der Zwang zu einer Ersatzhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Der Zwang zu einer gewissenswidrigen Handlung . . . . . . . . . . 207 2.3.2 Das Zwingen im forum internum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

RESÜMEE

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LITERATURVERZEICHNIS 1. Äußerungen des Lehramts der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Entscheidungen und Urteile staatlicher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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EINLEITUNG

1. Einführende Überlegungen Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum veröffentlichte im Jahr 2008 ein Buch mit dem Titel „Liberty of Conscience“1 – Freiheit des Gewissens. Wer aber zu dieser Monografie greift, um Erhellendes zum Gewissen oder zur Gewissensfreiheit zu erfahren, der wird bereits im Untertitel enttäuscht: „Liberty of Conscience – In Defense of America’s Tradition of Religious Equality“. Es geht Nussbaum in ihrem Buch also gar nicht um die Gewissensfreiheit, sondern um die rechtliche Gleichheit der Religionen und die Religionsfreiheit, was auch ein kurzer Blick in das Inhaltsverzeichnis offenbart. Vier Jahre später veröffentlichte der ehemalige deutsche Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio sein Buch „Gewissen, Glaube, Religion“2. Wer meint, hier eine Abhandlung zur Religions- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 GG finden zu können, dem sei ebenfalls ein Blick auf den Untertitel angeraten: „Gewissen, Glaube, Religion – Wandelt sich die Religionsfreiheit?“ Immerhin ganze zwei Seiten des 165 Seiten umfassenden Buches widmet Di Fabio explizit der Gewissensfreiheit. Ist zur Gewissensfreiheit also alles gesagt, wenn über die Religionsfreiheit gesprochen wird? Natürlich können diese beiden Buchtitel eher als kontextgebundene Schlaglichter denn als wirkliche Gegenwartsdiagnosen dienen. Und doch kann in ihnen ein Hinweis darauf gesehen werden, dass die Grundrechte eine „Etappe der Diffusion“3 erreicht haben. Di Fabio erkennt in der Interpretation der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) nämlich drei Etappen, deren bisheriger Endpunkt eben die Diffusion ist: In der noch jungen Bundesrepublik meint er zunächst eine Edukationsphase ausmachen zu können. Nach den Wirren der Weimarer Republik und den Schre-

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Martha Nussbaum, Liberty of Conscience. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality, New York 2008. Udo Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2012. Ebd. 60.

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Einleitung

cken des Nazi-Regimes mussten die Bürger der Bundesrepublik »Freiheit« erst wieder erlernen: „Vieles von dem, was das Bundesverfassungsgericht seit 1951 für Recht erkannte, wirkte wie ein Edukationsprogramm in Sachen Liberalität.“4 Diese Phase dauerte bis in die siebziger Jahre an und wurde durch die von ihm sogenannte Extensionsphase abgelöst.5 Nach der »Erziehung« zur Freiheit erfolgte eine beachtliche Ausweitung des Bedeutungs- und Geltungsbereichs der Grundrechte: Nun wurde alles und jedes zum Thema der Grundrechte bis hin zu der Stationierung von Mittelstreckenraketen, dem Bau von Kernkraftwerken oder der Einführung der Unternehmensmitbestimmung. Zugleich handelte man die Grundrechte als eine Art normative Ersatzidentität, so wie die Deutsche Mark und das Wirtschaftswunder dies auf praktischem Gebiet waren.6

Nun also die Etappe der Diffusion. Wenn man so möchte, ist sie eine direkte Folge der Extensionsphase. Insofern der Geltungsbereich der Grundrechte immer stärker ausgedehnt wurde, war und ist es geradezu zwangsläufig, dass es zu vermehrten Grundrechtskonflikten zwischen dem Bürger und dem Staat kommt. Im Sinne der Extension sollen sie für den Bürger entschieden werden, aber immer häufiger wächst Unmut in der Gesellschaft über solche Entscheidungen.7 »Kruzifix-Urteil« und »Schächten« sind dabei nur zwei Schlagworte, die mit dieser Entwicklung verbunden sind. Die Diffusions-Etappe kennzeichnet damit einen Zustand der aufgeblähten Grundrechtsidee, in deren Folge es aus gesellschaftlicher Perspektive zu mindestens diskussionswürdigen Entscheidungen der Verfassungsgerichte kommt. Im Kernbereich dieser Diffusion geht es dabei wahrscheinlich nur um eine einzige Grundfrage: Worin besteht die inhaltliche Garantie der einzelnen Grundrechte? Welchen Schutz also genießt jemand, der sich auf Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder Gewissensfreiheit beruft? Bei genauerem Hinsehen ergeben sich aus dieser Grundfrage natürlich viele Detailfragen, doch prinzipiell bedeutet Diffusion vor allem Bedeutungsunsicherheit. Diese offene Grundfrage mag im besonderen Maße die Gewissensfreiheit betreffen. Denn im Vergleich zu den anderen Grundrechten scheint ihre Bezugsgröße im gegenwärtigen Bewusstsein nicht ausreichend bestimmt. „Das Gewissen ist allgegenwärtig und deshalb verschlissen.“8 heißt es daher in einer »Gebrauchsanweisung« des Gewissens; und weiter: 4 5 6 7 8

Ebd. 58. Vgl. ebd. 61. Ebd. Vgl. ebd. 62. Eberhard Schockenhoff/Christiane Florin, Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2009, 9.

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Einleitung Es gibt die gewissenhafte bayerische G-8–Abiturientin und den gewissenlosen Big-Boss, im Bundestag stehen gelegentlich Gewissensentscheidungen an, ethische Aktienfonds werben mit dem guten Gewissen, das für die geringe Rendite oder den höheren Preis entschädigt.9

»Gewissen«, »Gewissenhaftigkeit« und andere Gewissensbegriffe wurden derart in den alltäglichen Sprachgebrauch übernommen, dass ihre so wichtige Bedeutung für eine ethische oder rechtliche Sprechweise des Gewissens neu erhoben werden muss. Noch einmal sei dazu aus der »Gebrauchsanweisung« zitiert: Gewissenhaft  – das Attribut gilt in der Alltagssprache demjenigen, der unauffällig und fehlerfrei seine Aufgaben erledigt. Eine falsche Assoziation. Der Gewissenhafte wird verhaltensauffällig, weil er sich zur Ausnahme von der Regel durchringt.10

Neben dieser definitorischen Unsicherheit – die auch in einer aktuellen Dissertation von Nikolai Horn diagnostiziert wird11 – kann ebenso festgehalten werden, dass in der heutigen Zeit die Gewissensfreiheit in der öffentlichen Wahrnehmung ein Schattendasein neben der Religionsfreiheit fristet. Es scheint, dass die Verfassungsgerichte und die öffentlichen Debatten über das Grundgesetz zurzeit vor allem von folgenden Themen dominiert werden: Wie nun reagiert die Rechtsordnung, wenn Glaubensüberzeugungen geltend gemacht werden, um Töchter vom koedukativen Sportunterricht fernzuhalten, wenn Frauen das Kopftuch nicht nur als Zeichen ihrer Würde verstehen, sondern auch als religiös auferlegtes Gebot, dem sie auch als Beamte im Dienst zu folgen haben? Wie reagiert die Rechtsordnung, wenn Schülerinnen im Unterricht mit verhülltem Gesicht erscheinen, weil sie glauben, dass nicht nur Haare, sondern auch das Gesicht religiös und sittlich verbotene Reize aussendet? Was soll geschehen, wenn Studenten sich weigern, eine Klausur am Samstag zu schreiben, weil das für sie ein religiöser Ruhetag ist, während andere die Befreiung für notwendige Gebete oder die Einhaltung von Speisevorschriften in öffentlichen Küchen verlangen? Und wo endet der Gewährleistungsgehalt der Glaubensfreiheit, wenn aus dem Glauben sittliche Pflichten zum Schutz der Familienehre bis hin womöglich zum so genannten Ehrenmord wachsen sollen? Was geschieht, wenn der in der Zahl gewachsene Teil der nicht religiös empfindenden Menschen sich auf negative Glaubensfreiheit beruft und von religiösen Symbolen bis hin zum Adventskranz, aber auch von religiös motivierten Tabuisierungen aller Art freigehalten werden will? Und was ist, wenn Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen sind, wenn etwa die Meinungsfreiheit, jener Grundstein

9 10 11

Ebd. Ebd. 14 f. Vgl. Nikolai Horn, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, Berlin 2012, 52.

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Einleitung einer liberalen Gesellschaft, mit dem Anspruch von Religionsgemeinschaften kollidiert, die in ihrem Glaubensbekenntnis nicht herabgewürdigt oder beleidigt werden wollen?12

Diese ohne Zweifel wichtigen Fragen nehmen heutzutage einen breiten Raum in den öffentlichen Diskursen ein und dominieren die Grundrechtsdebatten. Dennoch bleibt auch die Freiheit des Gewissens ein aktuelles Problemfeld. So kam es in den letzten Jahren beispielsweise zu Entscheidungen in Fragen der Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen13, der Minderung der Steuerlast aus Gewissensgründen14 oder der Aufhebung eine Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft aus Gewissensgründen15. Es bleibt also eine brennende Frage, was das Grundrecht der Gewissensfreiheit überhaupt ist, was es schützt und wo seine Grenzen liegen.

2. Zum methodischen Aufbau Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wird in der folgenden Abhandlung in drei Schritten analysiert und interpretiert. Zunächst richtet sich das Augenmerk auf die Genese dieses Grundrechts. Durch die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung soll einerseits das Verhältnis von Religions- und Gewissensfreiheit beleuchtet und andererseits das Proprium der Gewissensfreiheit herausgearbeitet werden. Als eine moraltheologische Studie spielt dabei natürlich die Position des Lehramts der katholischen Kirche zur Gewissensfreiheit eine große Rolle. Hierbei soll näherhin der Frage nachgegangen werden, ob es in der Beurteilung der Gewissensfreiheit in der Geschichte der katholischen Kirche zu einem Lehrwiderspruch gekommen ist oder es sich um eine der Kontinuität verpflichtete Weiterentwicklung handelt. Den zweiten Schwerpunkt dieses Kapitels bildet die 12

13 14

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Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion, 21 f. Diese Auflistung muss um die aktuelle Debatte zum »Beschneidungsurteil« des Landgerichts Köln vom 07.05.2012 erweitert werden. U. a. heißt es dort: „[…] da dem Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung kein Vorrang zukomme, so dass mit der Einwilligung in die Beschneidung ein Widerspruch zum Kindeswohl festzustellen sei.“ Vgl. LG Köln, 151 Ns 169/11, Absatz 11 (abrufbar unter: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_11_Urteil_20120507. html; abgerufen am 21.10.2012). Vgl. BVerwG, 2 WD 12.04, Urteil vom 21.06.2005 (abrufbar unter: http://www.bverwg.de/ media/archive/3059.pdf; abgerufen am 26.05.2012). Vgl. BFH, Beschluss vom 26.01.2012, II B 70/11, Absatz 3 (abrufbar unter: http://juris.bundesfinanzhof.de/cgi-bin /rechtsprechung/document.py?Gericht=bfh&Art=en&sid=787e8 6194740442514d61e958a80f154&nr=25690&pos=0&anz=1; abgerufen am 26.05.2012). Vgl. BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Absatz 1 (abrufbar unter: www.bverfg.de/entscheidungen/rk20061213_1b vr208405.html; abgerufen am 01.03.2012).

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Zum methodischen Aufbau

geschichtliche Entwicklung der Gewissensfreiheit in der BRD bzw. ihrer Vorgängerstaaten seit dem Augsburger Religionsfrieden. Am Ende dieser Darlegung wird die Beantwortung der Frage stehen, ob die Einführung der Gewissensfreiheit angesichts der Gewährung von Religionsfreiheit als ein Versehen in der Verfassungsgeschichte angesehen werden muss.16 Nach diesem Weg durch die Geschichte richtet sich der Fokus ganz und gar auf die gegenwärtige Ausprägung der Gewissensfreiheit im Verfassungsrecht der BRD. In diesem Kapitel sollen die Fragen nach dem Schutzbereich, den Schranken und nach möglichen Eingriffen in die Gewissensfreiheit geklärt werden. Dazu ist eine Auseinandersetzung mit der Grundrechtsdogmatik unumgänglich und vorgängig sogar notwendig. Hier muss erörtert werden, was Grundrechte überhaupt sind, wie sie wirken und was sich beispielsweise hinter den Begriffen »Grundrechtseingriff« und »Grundrechtsschranken« verbirgt. Eine exakte Darlegung der Gewissensfreiheit kann dabei natürlich nicht darauf verzichten, das Phänomen des Gewissens und der Gewissensentscheidung zu beschreiben. Zu dieser notwendigen Begriffsbestimmung formuliert Horn eindringlich: Da eine rechtliche Norm nur dann praktische Geltung erlangen kann, wenn ihre Begriffe eindeutig definiert sind, ist die Frage nach dem Gewissensbegriff im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit für die Bestimmung der Bedeutung, der Reichweite und damit auch der Grenzen dieses Grundrechts entscheidend. Untrennbar mit dem Definitionserfordernis geht die Intentionsfrage einher, was der Staat mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit eigentlich schützt – denn was er nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen.17

Maßgebliche Bezugsquellen für die Darstellung und Bestimmung des Gewissens und der Gewissensentscheidung werden die Äußerungen des katholischen Lehramts und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sein. Das abschließende Kapitel widmet sich ausschließlich den Eingriffsmöglichkeiten in die Gewissensfreiheit und zwar aus ethischer Perspektive. Die Schrankenregelungen des Grundgesetzes besagen zwar, dass unter gewissen Umständen in ein Grundrecht eingegriffen werden darf. Aber ist damit jede Form des Eingriffs gerechtfertigt? Um Eingriffe in die Gewissensfreiheit jedoch ethisch bewerten zu können, sind zwei Untersuchungsgänge nötig. Einerseits ist der untrennbar mit dem Gewissen verbundene Begriff der moralischen Verantwortung auszulegen. Hierbei muss gefragt werden, ob die moraltheologische Lehre der cooperatio ad malum tauglich ist, um individuelle Verantwortung auch in kom-

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Vgl. Paul Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, Hildesheim/Zürich/New York 1991, 31. Horn, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 11.

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Einleitung

plexen Handlungszusammenhängen beschreiben zu können. Andererseits ist auf die Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen« einzugehen und welche moralischen Konsequenzen sich aus den jeweiligen Handlungsbeschreibungen sowohl für den Eingreifenden als auch für denjenigen ergeben, in dessen Grundrecht eingegriffen wird. Die Skandalon-Lehre der Moraltheologie vermag hier wertvolle Impulse zu liefern. Die Verbindung von moralischer Verantwortung und einer exakten Darstellung bzw. Differenzierung der beiden Handlungstypen ermöglicht abschließend eine fundierte ethische Reflexion auf Eingriffe in die Gewissensfreiheit.

3. Der Stand der Forschung Das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist ein doppelt bestimmtes Recht. Als ein Grundrecht ist es natürlich Gegenstand der Grundrechtsdogmatik und erfährt eine juristische Interpretation. In seiner Hinordnung auf das Gewissen operiert es aber mit einem ethischen Begriff und ist daher in seiner Ausgestaltung ebenso auf die Wissenschaft der Ethik angewiesen.18 Die Gewissensfreiheit kann somit als die Schnittstelle von Recht und Moral, als Einbezug einer ethischen Kategorie in ein Rechtssystem verstanden werden. Eine Analyse der Gewissensfreiheit als Grundrecht, die entweder auf die eine oder die andere Perspektive verzichtet, bleibt daher immer defizitär. Auf der Seite der juristischen Literatur mangelt es sicherlich nicht an Kommentaren zum Grundgesetz. Sie stellen den Ist-Zustand der Grundrechtsinterpretation dar. Doch weisen diese Kommentare auch Lücken auf. Aus ethischer Sicht ist das größte Manko die fehlende Differenzierung der Eingriffsmöglichkeiten. So ist in ihnen zwar die Rede davon, dass auch die Gewissensfreiheit nicht unbeschränkt gelten kann19, aber die Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen« sucht man vergebens. Auch die weitere juristische Literatur schweigt sich dazu aus20 – sogar in Werken, die sich explizit mit dem Grundrechtseingriff beschäftigen21. Man mag sich nun eine Antwort auf diese Unterscheidungsfrage von der zweiten relevanten Disziplin erhoffen: der Ethik. In der Tat wird man hier auch fün-

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Vgl. Horn, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 16. Vgl. exemplarisch für die vielen Kommentare: Roman Herzog, Art. 4, in: Roman Herzog/Rupert Scholz/Matthias Herdegen/Hans Klein (Hg.), Grundgesetz. Kommentar (Maunz/Düring), Bd. 1, München 552009, 4/1–4/82, 58, Rd.-Nr.: 150. So beispielsweise: Volker Epping, Grundrechte, Berlin/Heidelberg 42010. Rolf Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, Köln/Berlin/Bonn/München 1992.

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Der Stand der Forschung

dig; vor allem Dieter Witschen hat zu dieser Frage äußerst wertvolle Beiträge geliefert.22 So wird beispielsweise sein Aufsatz „Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht“ als Referenzliteratur zum Artikel „Gewissensfreiheit“ im Lexikon für Theologie und Kirche angegeben.23 Dabei kann allerdings leicht ein Satz übersehen werden, den Witschen in diesem Artikel schreibt: Es ist hier nicht möglich, all die diesbezüglichen notwendigen Einzelanalysen durchzuführen, um auf diese Weise das Problem der Grenzen der Gewissensfreiheit einer möglichen Lösung zuzuführen, zumal m. W. von ethischer Seite entsprechende Vorarbeiten fehlen.24

Eben diese Lücke wurde von der Ethik bzw. der Moraltheologie bis heute nicht umfassend und systematisch geschlossen. Ein Blick in die nachkonziliare deutschsprachige Literatur, die sich mit der Gewissensproblematik beschäftigt, offenbart nämlich, dass die Frage der ethischen Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit schlichtweg nicht behandelt wird.25 22 23

24 25

Ein Blick in die Literaturliste dürfte dies aufzeigen. Vgl. Eberhard Schockenhoff, Gewissensfreiheit. I. Ethisch, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), LThK, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 628 f., 629. Es dürfte unstrittig sein, dass sich der Hinweis auf Witschen vor allem auf die Ausführungen zur Toleranz gegenüber Gewissensentscheidungen anderer und auf die Unterscheidung von Zwingen und Hindern bezieht. Dieter Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, in: TThZ 102 (1993) 189–214, 207 f. Z. B. (in chronologischer Reihenfolge): Josef Georg Ziegler, Vom Gesetz zum Gewissen. Das Verhältnis von Gewissen und Gesetz und die Erneuerung der Kirche, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 1968; Andreas Laun, Das Gewissen. Oberste Norm sittlichen Handelns, Innsbruck/Wien 1984; Robert Schlund, Schöpferisches Gewissen. Orientierung zu aktuellen Fragen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1990; Gerhard Höver/Ludger Honnefelder (Hg.), Der Streit um das Gewissen, Paderborn/München/Wien/Zürich 1993; Giovanni Battista Sala, Gewissensentscheidung. Philosophisch-theologische Analyse von Gewissen und sittlichem Wissen, Innsbruck/Wien 1993; Peter Fonk, Das Gewissen. Was es ist – wie es wirkt – wie weit es bindet, Regensburg 2004; Ludger Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?. Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld, Berlin 2007; Hanspeter Schmitt, Sozialität und Gewissen. Anthropologische und theologisch-ethische Sondierung der klassischen Gewissenslehre, Wien/Zürich/Berlin/Münster 2008. Zwei Ausnahmen seien aber an dieser Stelle erwähnt: Eberhard Schockenhoff greift in seiner Monographie „Wie gewiss ist das Gewissen?“ zwar die Eingriffsproblematik auf, verweist aber – wie in seinem Artikel im LThK – wiederum auf den bereits erwähnten Artikel von Witschen; vgl.: Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?. Eine ethische Orientierung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2003, 30. Desweiteren betont auch Friedo Ricken in seinem Buch „Allgemeine Ethik“ die Wichtigkeit der Unterscheidung von Hindern und Zwingen. Allerdings bleiben seine Ausführungen – wohl der Zielrichtung des Buchs entsprechend geschuldet  – eher allgemein; vgl.: Friedo Ricken, Allgemeine Ethik, Stuttgart 42003, 209 f., Rd.-Nr.: 335.

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Einleitung

Die vorliegende Arbeit hat daher zwei Zielrichtungen. Zunächst soll sie eine möglichst umfassende Bestimmung der Gewissensfreiheit – also sowohl aus juristischer als auch aus ethischer Perspektive – vornehmen. Darüber hinaus gilt es in der Frage der ethischen Bewertung von Eingriffen die Arbeiten von Witschen aufzunehmen und den Versuch zu unternehmen, die offen gebliebenen Fragen zu beantworten.

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I. KAPITEL: HISTORISCHER ÜBERBLICK ZUR GEWISSENSFREIHEIT IN DER LEHRE DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND IM RECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND IHRER VORGÄNGERSTAATEN

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

So selbstverständlich das Grundrecht der Gewissensfreiheit heute in der Verkündigung der katholischen Kirche und im Grundrechtskanon der BRD ist, so wechselvoll ist seine Geschichte. Denn in ihrer Entwicklung bis zum aktuellen Verständnis war die Gewissensfreiheit immer wieder Gefährdungen ausgesetzt. Eine lange andauernde Geringschätzung durch das Lehramt der katholischen Kirche oder die gravierende Missachtung in Deutschland durch das Nazi-Regime mögen an dieser Stelle als Beispiele genügen. Aus diesem Grund erscheint es durchaus wichtig, für das heutige Verständnis der Gewissensfreiheit auch einen Blick auf ihre geschichtliche Entwicklung zu werfen. Es wird sich zeigen, dass die Freiheit des Gewissens aus juristischer Perspektive noch eine recht junge Geschichte hat, auch wenn die Diskussion über dieses Freiheitsrecht bereits in der Reformation begonnen hat. Ebenso wird deutlich werden, dass die Gewissensfreiheit in dieser Zeitspanne einen erheblichen inhaltlichen Bedeutungswandel erfuhr. Die Gewissensfreiheit wird deshalb im Folgenden unter mehreren Aspekten betrachtet. Zunächst wird es um die Ideengeschichte der Gewissensfreiheit gehen, wie sie sich in der Lehre der katholischen Kirche und im Recht der BRD mitsamt ihrer Vorgängerstaaten entfaltet hat. Dies ist keineswegs eine erschöpfende historische Untersuchung, vielmehr werden exemplarisch markante Wendepunkte der Geschichte dargestellt. Auf dieser Grundlage werden dann anschließend Inhalt und Reichweite der Gewissensfreiheit bestimmt.

1. Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen In den Aussagen des Lehramts hat die Gewissensfreiheit eine erstaunliche Karriere gemacht. 1832 bezeichnete Gregor XVI. die Freiheit des Gewissens noch als deliramentum1, 1979 zählte Johannes Paul II. die Gewissensfreiheit zu den „objektiven und unverletzlichen Menschenrechte[n].“2 Lassen sich diese Aussagen harmonisieren  – wie es etwa Michael Kneib in seiner Dissertation versucht3  – oder kam es im Lauf dieser 147jährigen Entwicklung zu einem Lehr-

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Gregor XVI., Mirari vos. Enzyklika, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 136–159, Abschnitt 14. Johannes Paul II., Redemptor Hominis. Enzyklika zum Beginn seines päpstlichen Amtes, hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1979, 17. Vgl. Michael Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit. Zur Rezeption der Gewissensfreiheit durch die katholische Moraltheologie und das kirchliche Lehramt zwischen 1832 und 1965, Frankfurt a. M. 1996, insbesondere 416.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

widerspruch, welchen Ernst-Wolfgang Böckenförde in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils manifestiert sieht?4

1.1 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts bis zum II. Vatikanischen Konzil 1.1.1 Gregor XVI. und die Enzyklika „Mirari vos“ a) Zum historischen Kontext Am 15.08.1832 veröffentlichte Gregor XVI. die Enzyklika „Mirari vos“. Seine Antrittsenzyklika wird zwar als Startpunkt der lehramtlichen Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit angesehen5, doch sollte erwähnt werden, dass Pius VII. schon 1814 in seinem Apostolischen Brief „Post tam diuturnas“ die Gewissensfreiheit im Zusammenhang mit Artikel 22 der französischen Verfassung erwähnt und verurteilt.6 Aufgrund des universellen Charakters der Enzyklika im 4

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Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der ›Erklärung über die Religionsfreiheit‹, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977, 401–421, 416 f. Hier zwar in Bezug auf die Religionsfreiheit, doch muss die Frage nach dem Lehrwiderspruch auch in Bezug auf die Gewissensfreiheit gestellt werden. Vgl. Michael Kneib, Die lehramtlichen Stellungnahmen zur Gewissensfreiheit (1832– 1965), in: Hans-Gerd Angel/Johannes Reiter/Hans-Gerd Wirtz (Hg.), Aus reichen Quellen leben. Ethische Fragen in Geschichte und Gegenwart. Helmut Weber zum 65. Geburtstag, Trier 1995, 133–147, 134. Vgl. Pius VII., Post tam diuturnas. Apostolischer Brief, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 462–469, Abschnitt 59. In diesem Apostolischen Brief gebraucht das Lehramt der katholischen Kirche in der Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Freiheitsrechten wohl zum ersten Mal den Begriff der Gewissensfreiheit, „um den Ausdruck des Artikels zu gebrauchen“ ([…] ut iisdem quae fert articulus verbis utamur […]; ebd.). Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die erste lehramtliche Stellungnahme zu den aufkommenden Freiheitsrechten auf das Jahr 1791 datiert. In seinem Breve „Quod aliquantum“ vom 10.03.1791 verurteilt Pius VI. die Auffassung, „es sei ein Recht des in der Gesellschaft lebenden Menschen, in allem volle Freiheit zu genießen, sodass er nicht nur in der Ausübung seiner Religion nicht behindert werden darf, sondern dass es auch seinem Ermessen überlassen bleibt, was er über religiöse Fragen denken, reden, schreiben und im Druck veröffentlichen will.“ ([…] in jure positum esse, ut homo in societate constitutus, omnimoda gaudeat libertate, ut turbari scilicet circa religionem non debeat, in ejusque arbitrio sit de ipsius religionis argumento, quidquid velit, opinari, loqui, scribere, ac typis etiam evulgare […]; Pius VI., Quod aliquantum. Breve betreffend den Zivilstand der Geistlichen, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

Gegensatz zu dem genannten Apostolischen Brief ist es aber nicht falsch, mit ihr den Beginn der lehramtlichen Verkündung festzusetzen. Dazu muss weiter einschränkend gesagt werden, dass die Freiheit des Gewissens kein zentrales Thema dieses Lehrschreibens ist, vielmehr wendet sich Gregor XVI. gegen verschiedene Überzeugungen seiner Zeit. So wird die Gewissensfreiheit eingeordnet in einer Reihe von sogenannten Irrtümern, durch die der katholische Glaube nicht mehr nur insgeheim und hinterrücks angegriffen, sondern auch offen und laut in schaudererregender und verwerflicher Weise angefeindet wird.7

Dies ist eine wichtige Erkenntnis. Denn damit wird deutlich, dass die in der Enzyklika aufgegriffenen Themen zunächst nur unter einem Blickwinkel reflektiert werden: als Angriff auf den Glauben und somit auch als Angriff auf die Kirche. Die Wurzeln dieses »Angriffs« reichen letztlich bis in die Zeit der Reformation zurück und verdeutlichen, dass Gewissens- und Religionsfreiheit in dieser Zeit eine Einheit bilden. Eine erste Vorstellung der staatlich garantierten Gewissensfreiheit taucht nämlich im 16. Jahrhundert erstmals in Frankreich auf, verbunden mit der Forderung an den König, beide christlichen Konfessionen und die Freiheit der Konfessionswahl zuzulassen.8 Auch der Augsburger Religionsfriede von 1555 regelt diese freie Wahl, wenn auch noch nicht für jedermann.9 Eine weitere wichtige Zäsur bildet das Jahr 1789 – das Jahr der Französischen Revolution. Sie markiert einen wichtigen Wendepunkt im Verhältnis von Staat und Kirche, denn die Kirche hatte von nun an die Aufgabe, ihren Platz in einem neuartigen – jetzt demokratischen – Staatssystem zu finden.10 Innerhalb dieses Findungsprozesses bezieht die Kirche natürlich auch Stellung zu den neu aufkommenden Freiheitsrechten, aber auch Freiheitsforderungen der Bürger. Wenn sich die katholische Kirche also zu dieser Zeit mit der Gewissensfreiheit auseinandersetzt, dann versteht sie darunter vor allem die freie Wahl zwischen den staatlicherseits an-

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geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 3, Aachen 1976, 2652–2729, Abschnitt 10). Pius VI. ordnet diese Vorstellung der Gedanken- und Handlungsfreiheit (cogitandi, agendique libertas; ebd. 11) zu. In diesem Kontext scheint er weder den expliziten Begriff der Religionsfreiheit noch den der Gewissensfreiheit zu kennen. Gregor XVI., Mirari vos, 5: […] quibus non occulte amplius et cuniculis petitur catholica fides, sed horrificum ac nefarium ei bellum aperte iam et propalam infertur. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 11. Vgl. Reinhold Zippelius, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung, in: Johannes Gründel (Hg.), Das Gewissen. Subjektive Willkür oder oberste Norm?, Düsseldorf 1990, 53–70, 53 f. Vgl. Hans Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg i. Br./Basel/Wien 51988, 164.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

erkannten christlichen Konfessionen. Kneib fasst das damalige Verständnis der Gewissensfreiheit daher folgendermaßen zusammen: Damit war mit dem Begriff der Gewissensfreiheit primär die Vorstellung eines vom weltlichen Herrscher hoheitlich gewährten, von staatlichem Religionszwang freien Rechtsraums verbunden. Sekundär drückte er dann auch die individuelle religiöse Freiheit aus, jenem christlichen Bekenntnis anzugehören, das das Gewissen ihm als das wahre eingab.11

Unter diesen Voraussetzungen ist es offenkundig, dass Gregor XVI. die Gewissensfreiheit als Angriff auf den Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens und der katholischen Kirche überhaupt versteht. Denn mit Gewährung der Gewissensfreiheit erlaubt ein Staatsoberhaupt seinen Bürgern legitimerweise die Abkehr vom katholischen Glauben. Und schließlich – dies ist letztlich der konkrete Grund für die Abfassung der Enzyklika  – muss auch das Wirken des Priesters und Journalisten Felicité de Lamennais genannt werden.12 Vor allem ab 1830 übt er durch die von ihm gegründete Zeitung „L’Avenir. Dieu et la liberté“ einen großen Einfluss auf die französische Gesellschaft und den französischen Klerus aus. Seine Zeitung und seine Vorstellungen haben sicherlich ihren Anteil daran, dass die französische Freiheitsidee auch in anderen, zumeist katholisch orientierten Staaten auf fruchtbaren Boden fällt.13 De Lamennais setzt sich als großer Verfechter der Idee des Liberalismus für die Verwirklichung der Freiheitsrechte in Staat und Kirche ein. Dabei verfolgt der Liberalismus nicht nur die Idee der Freiheit für die Menschen, sondern lässt auch eine atheistische Grundausrichtung erkennen.14 Diese – für die damalige Zeit – progressiven Gedanken spalten den französischen Klerus, werden aber auch von einigen europäischen Fürstenhäusern mit großen Bedenken wahrgenommen.15 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen und Konflikte wendet er sich schließlich selbst an Gregor XVI., damit er über seine Lehren und Forderungen entscheide. Als Folge dieser Bitte entsteht die Enzyklika „Mirari vos“.16

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Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 45. Vgl. ebd. 46–66. Vgl. Maier, Revolution und Kirche, 171. Vgl. Reinhold Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat. Der Beitrag John Courtney Murrays zu einer modernen Frage, Rom 1977, 27 f. Vgl. Maier, Revolution und Kirche, 183. Vgl. Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789–1965), Paderborn/München/Wien/Zürich 2005, 50.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

b) Zentrale Aussagen zur Gewissensfreiheit Wie bereits erwähnt, ist die Gewissensfreiheit nur ein Randthema in der Enzyklika. So fällt auch das Urteil über sie zwar sehr knapp, dafür aber umso deutlicher aus: Aus der Quelle dieser verderblichen Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung, oder noch besser jener Wahnsinn, es sollte für jeden die ‚Freiheit des Gewissens‘ verkündet und erkämpft werden.17

Für Gregor XVI. ist die Gewissensfreiheit demzufolge eine direkte Folge der Gleichgültigkeit bzw. des Indifferentismus. Der Indifferentismus in dieser Zeit zeigt sich seiner Meinung nach darin, dass die Menschen der Überzeugung seien, nicht der persönliche Glaube sei heilsrelevant, sondern nur die eigene sittliche Lebensweise.18 An dieser Stelle wird sehr deutlich, wie stark die Gewissensfreiheit auf den religiösen Aspekt reduziert wird. Dies ist aber nicht der einzige Grund, der zu einer negativen Beurteilung der Gewissensfreiheit führt. Gregor XVI. benennt zwei weitere Argumente, die belegen sollen, dass dieses Freiheitsrecht kein Bestandteil einer idealen und modernen Gesellschaft sein könne.19 Zunächst weist die Enzyklika auf die Natur des Menschen hin. Da diese tendenziell eher dem Bösen zugeneigt sei, benötige der Mensch eine starke Hand der Führung, um der Wahrheit treu zu bleiben. Erfährt er diese Führung aber nicht und wird er darüber hinaus noch mit verschiedenen Freiheiten ausgestattet, stürzt der Mensch in sein Unheil.20 In einem zweiten Schritt versucht Gregor XVI. aufzuzeigen, dass zu viele Freiheiten in einem hohen Maße staatsgefährdend seien. So heißt es:

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Gregor XVI., Mirari vos, 14: Atque ex hoc putidissimo indifferentismi fonte absurda illa fluit ac erronea sententia, seu potius deliramentum, asserendam esse ac vindicandam cuilibet ‚libertatem conscientiae’. Vgl. ebd. 13: Alteram nunc persequimur causam malorum uberrimam, quibus afflictari in praesens comploramus Ecclesiam indifferentismum, scilicet, seu pravam illam opinionem, quae improborum fraude ex omni parte percrebuit, qualibet fidei professione aeternam posse animae salutem comparari, si mores ad recti honestique normam exigantur. Vgl. Roger Aubert, Die Religionsfreiheit von »Mirari vos« bis zum »Syllabus«. In: Conc(D) 1 (1965) 584–591, 586. Vgl. Gregor XVI., Mirari vos, 14: Freno quippe omni adempto, quo homines contineantur in semitis veritatis, proruente iam in praeceps ipsorum natura ad malum inclinata […].

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen, nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht.21

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass nach „Mirari vos“ die Gewissensfreiheit aus drei Gründen abgelehnt wird: • Sie legitimiere den Abfall vom wahren Glauben, • sie führe in das persönliche Unheil und • sie gefährde das Staatswesen. Eine entscheidende Frage bleibt allerdings offen: Von welcher Art ist die Gewissensfreiheit, die in „Mirari vos“ verurteilt wird? Der historische Kontext sowie die kausale Verknüpfung mit dem religiösen Indifferentismus sprechen dafür, dass in dieser Enzyklika im Grunde nicht die Gewissensfreiheit, sondern die Religionsfreiheit verurteilt wird.22 Für diesen Befund spricht ebenso, dass das Lehramt in der Gewährung dieser »Gewissensfreiheit« einen Angriff auf den katholischen Glauben sieht.23 Zudem sieht es die »Gewissensfreiheit« im Widerspruch zur cura religionis des Staats. Ihr zufolge muss nämlich auch der Staat Sorge tragen für die Religion – beispielsweise durch eine Verteidigung der Kirche.24 Aus der Sicht der katholischen Kirche leugnet nunmehr ein Staat, der die Religions- und Gewissensfreiheit gewährt, den alleinigen Wahrheitsanspruch des katholischen Glaubens. Der Glaube und die Lehre der katholischen Kirche selbst stehen so zur Disposition. Damit einher geht auch der Verlust der Vorstellung, man könne objektiv zwischen einem richtigen und einem falschen Glauben unterscheiden. Es wird deutlich, welche bisher klaglos angenommenen »Wahrheiten« mit den Freiheitsrechten abgelehnt werden.25 Mit dem Recht auf Religionsfreiheit bricht also end21 22 23 24 25

Ebd.: […] civitates, quae opibus, imperio, gloria floruere, hoc uno malo concidisse, libertate immoderata opinionum, licentia concionum, rerum novandarum cupiditate. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 97. Vgl. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 51. Vgl. Sebott, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat, 93 f. 32 Jahre nach „Mirari vos“ macht Pius IX. in seinem „Syllabus“ deutlich, welche »Wahrheiten« fragwürdig geworden sind und von der katholischen Kirche verteidigt werden müssen. Als Irrtümer deklariert er so z. B.: „Die menschliche Vernunft kann, ohne sich irgendwie auf Gott beziehen zu müssen, über Wahr und Falsch, Gut und Böse entscheiden; sie ist sich selbst Gesetz und ist aufgrund ihrer natürlichen Kräfte hinreichend befähigt, das Wohl der Menschen und Völker zu sichern.“ (Humana ratio, nullo prorsus Dei respectu habito, unicus est veri et falsi, boni et mali arbiter, sibi ipsi est lex et naturalibus suius viribus ad hominum ac populorum bonum curandum sufficit […]; vgl. Pius IX., Syllabus. Zusammenfassung der hauptsächlichen Irrtümer unserer Zeit, auf die in den Konsistorialansprachen, Rundschreiben und anderen apostolischen Briefen unseres Heiligen Vaters Papst Pius IX. hingewiesen wurde. In: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

gültig die Einheit von Staat und Kirche auseinander.26 Es ist daher anzunehmen, dass Gregor XVI. mit seiner Verurteilung zunächst den jeweiligen Landesherrscher und die verschiedenen Gesetzgebungen im Blick hat und weniger das je individuelle Gewissen der Landesbewohner, um diesem Auseinanderbrechen entgegenzuwirken. Die Gewissensfreiheit ist in dieser Denkart bei weitem kein Grundrecht, sondern ein staatliches Mittel zu Wahrung des Landesfriedens.27

1.1.2 Leo XIII. a) Die Enzyklika „Libertas praestantissimum“ Eine wesentliche Weiterentwicklung in der lehramtlichen Sicht der Gewissensfreiheit vollzieht sich unter Leo XIII.28 Seine Enzyklika „Libertas praestantissimum“, die am 20.06.1888 veröffentlich wurde, befasst sich mit der Frage, welche Freiheiten der moderne Staat gewähren muss und ob es einen öffentlichen Nutzen dieser Freiheiten gibt.29

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Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 34–53, Abschnitt 38). Oder: „Die Menschen können in der Pflege jeder beliebigen Religion den Weg des ewigen Heils finden und das ewige Heil erlangen.“ (Homines in cujusvis religionis cultu viam aeternae salutis reperire aeternamque salute assequi possunt […]; vgl. Pius IX., Syllabus, 51.) Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 100. Vgl. ebd. 14. Das Pontifikat Pius IX. und seine Enzyklika „Quanta cura“ können an dieser Stelle ausgelassen werden. Zwar führt die Verurteilung der Religionsfreiheit in der Enzyklika in Verbindung mit dem Syllabus zu einer Verschärfung der Diskussion (vgl. Klaus Schatz, Vaticanum I. 1869–1870, Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992, 32), doch bezieht sich Pius IX. in seinen Äußerungen explizit auf seinen Vorgänger Gregor XVI. (Ex qua omnino falsa socialis regiminis idea haud timent erroneam illam fovere opinionem Catholicae Ecclesiae animarumque saluti maxime exitialem a rec. mem. Gregorio XVI. Praedecessore Nostro ‚deliramentum‘ appellatam […]; vgl. Pius IX., Quanta cura. Apostolischer Brief, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 162–179, Abschnitt 29). Inhaltlich fügt er der Diskussion um die Religions- bzw. Gewissensfreiheit somit keine neuen Aspekte hinzu (vgl.: Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 117). Vgl. Leo XIII., Libertas praestantissimum. Enzyklika über die menschliche Freiheit, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 180–223, Abschnitt 42: Sed quoniam sunt plures in hac opinione pertinaces, ut eas libertates, in eo etiam quod continent vitii, summum aetatis nostrae decus et constituendarum civitatum fundamentum necessarium putent, ita ut, sub-

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

i. Zentrale Aussagen zur Gewissensfreiheit Leo XIII. argumentiert anfangs ähnlich wie Gregor XVI. Denn auch er betrachtet die Gewissensfreiheit als „Forderung unserer fortgeschrittenen Zeit“30 innerhalb eines staatstheoretischen Kontexts. Dieser Umstand wird u. a. daran deutlich, dass er sich zuerst dem Liberalismus als geistige Haltung und Staatskonzept zuwendet31, bevor er eine Bewertung der verschiedenen Freiheitsarten vornimmt. Über die Gewissensfreiheit schreibt er: Viel gepriesen wird auch die sogenannte ‚Gewissensfreiheit‘. Wird sie so verstanden, dass ein jeder nach Belieben Gott verehren oder auch nicht verehren kann, so ist sie nach dem bereits früher Gesagten hinlänglich widerlegt.32

In diesen Sätzen ist kein inhaltlicher Unterschied zu den Aussagen von „Mirari vos“ zu erkennen. Auch Leo XIII. versteht die Gewissensfreiheit im Sinne der Religionsfreiheit und lehnt sie damit unmissverständlich ab. Daraufhin allerdings fährt er fort: Sie kann aber auch in dem Sinne aufgefasst werden, dass es dem Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft erlaubt ist, nach dem Gebote seines Gewissens ungehindert Gottes Willen zu tun und dessen Befehle auszuführen. Das ist die wahre Freiheit, wie sie den Söhnen Gottes zukommt, welche die Würde der menschlichen Person in edler Weise beschützt und erhaben ist über jeden Zwang und jeglicher Unterdrückung; von jeher war sie der Kirche erwünscht und besonders teuer.33

Leo XIII. geht mit dieser Aussage einen wichtigen Schritt weiter als seine Vorgänger. Er zieht die Möglichkeit in Betracht, die Gewissensfreiheit nicht nur in ihrer Beziehung zur Religion zu bedenken, sondern auch in Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft. So eröffnet er diesem Thema eine neue Dimension, welche zu einer differenzierteren Sichtweise führt. Kneib hebt vier Aussagen besonders

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latis iis, perfectam gubernationem reipublicae cogitari posse negent, idcirco videtur, publica Nobismetipsis utilitate proposita, eiusmodi argumentum pertractari separatim oportere. Ebd. 56: […] quae nostrae quaesita aetati feruntur […]. Vgl. ebd. 51–55. Ebd. 62: Illa quoque magnopere praedicatur, quam ‚conscientiae libertatem’ nominant: quae si ita accipiatur, ut suo cuique arbitratu aeque liceat Deum colere, non colere, argumentis quae supra allata sunt, satis convincitur. Ebd.: Sed potest etiam in hanc sententiam accipi, ut homini ex conscientia officii, Dei voluntatem sequi et iussa facere, nulla re impediente, in civitate liceat. Haec quidem vera, haec digna filiis Dei libertas, quae humanae dignitatem personae honestissime tuetur, est omni vi iniuriaque maior: eademque Ecclesiae semper optata ac praecipue cara.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

hervor, die auch in Hinblick auf die Grenzen der Gewissensfreiheit von Bedeutung sind und daher hier erwähnt werden sollen.34 Zunächst fällt auf, dass die Gewissensfreiheit in ihrer positiven Bewertung als ein Recht innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verstanden wird. Wir haben es hier also nicht nur mit einer Loslösung von der Religionsfreiheit zu tun, sondern auch zugleich mit einer Distanzierung dieses Rechts von der Kirche als der Gemeinschaft der Gläubigen. Denn die so verstandene Gewissensfreiheit wird auf die staatliche Obrigkeit bezogen, nicht auf die kirchliche. Der ausdrückliche Hinweis auf die bürgerliche Gesellschaft verdeutlicht, dass es Gewissensfreiheit gegenüber dem Lehramt der katholischen Kirche nicht geben kann. Dass er das Recht der Gewissensfreiheit aber explizit auf die öffentliche Gewalt bezogen wissen will, wird evident, wenn Leo XIII. erklärt, dass mit diesem Verständnis keiner „aufrührerischen und ungehorsamen Gesinnung“35 der Weg gebahnt werden soll. Weshalb gibt es aber gegenüber dem kirchlichen Lehramt keine Gewissensfreiheit? Der Grund hierfür liegt in den unterschiedlichen Vermögen, Gottes Gebote zu erkennen. Das Gewissen ist nämlich nicht vollkommen selbstbestimmt, sondern an die Weisungen Gottes gebunden. Selbstverständlich ist aber nur die katholische Kirche die getreue Mittlerin der Gesetze Gottes; sie wurde „zur Teilnahme an seinem Lehramt berufen“36 und ist „die höchste und sicherste Lehrerin der Völker“37. Gewissensfreiheit innerhalb der katholischen Kirche wäre damit also gewissermaßen ein Paradoxon. Denn das rechte Gewissen, welches sich an die Gebote Gottes hält, kann nicht im Widerspruch zu lehramtlichen Aussagen stehen. Ein solcher Gegensatz kann aufgrund der kirchlichen Unfehlbarkeit38 nur bedeuten, dass sich das Gewissen irrt. Der Irrtum aber besitzt kein Existenzrecht.39 Somit bedürfen die Gläubigen also auch keiner Gewissensfreiheit gegenüber den Weisungen des Lehramts.40 Weiterhin wird die Gewissensfreiheit anhand zweier formaler Kriterien charakterisiert. Leo XIII. spricht von Zwang und Unterdrückung, welche dem Menschen und seinem Gewissen nicht gerecht werden. Zwei Eingriffsmöglichkeiten in die Gewissensfreiheit werden an dieser Stelle in ihrer grundsätzlichen Form lehramtlich thematisiert und schließlich abgelehnt: Der Zwang zu einer Hand34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 213. Vgl. Leo XIII., Libertas praestantissimum, 62: […] animo seditioso nec obediente commune […]. Ebd. 61: […] divini magisterii Ecclesiam fecit Deus ipse participem […]. Ebd.: […] magistra mortalium est maxima ac tutissima […]. Ebd.: […] eademque divino eius beneficio falli nesciam […]. Auf diese Argumentationsform wird im nächsten Abschnitt ausführlicher eingegangen. Die Problematik des »irrigen Gewissens« sei an dieser Stelle ausgeklammert, da auch in der Enzyklika auf dieses Lehrstück nicht eingegangen wird.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

lung, die vom jeweiligen Bürger nicht intendiert ist, und die Unterdrückung einer Handlung, welche er vornehmen will.41 Eine ausgiebige Reflexion über diese Verhaltensmöglichkeiten zur Gewissensfreiheit eines Individuums findet sich an dieser Stelle zwar nicht, doch es kann zumindest von einer hohen Wertschätzung der Gewissensentscheidung durch das Lehramt gesprochen werden. Die so verstandene Gewissensfreiheit – also der Schutz vor staatlichem Zwang oder staatlicher Unterdrückung – gründet in der vierten Aussage dieser Passage. Leo XIII. verknüpft die Gewissensfreiheit mit der Würde der Person. Diese Verbindung stellt ein Novum in der lehramtlichen Verkündigung dar.42 Die Gewissensfreiheit ist nunmehr nicht nur ein positives Recht, sondern ihr Fundament liegt im Menschen selbst. In „Libertas praestantissimum“ sehen wir mit dieser Begründung zum ersten Mal einen Fingerzeig in Richtung allgemeingültiger Menschenrechte. Die Bedeutung Leos XIII. und seiner Enzyklika für das Verständnis der Gewissensfreiheit basiert also auf zwei Neuerungen: Er löst die Gewissensfreiheit aus ihrer Verbindung zur Religionsfreiheit und gründet sie in der Menschenwürde. Damit ermöglicht er zum einen eine positive Bewertung im bürgerlichen Bereich und zum anderen bereitet er den Weg für einen universellen Anspruch der Gewissensfreiheit. ii. Argumente für eine eingeschränkte Gewissensfreiheit Trotz seiner relativen Offenheit schränkt Leo XIII. die Gewissensfreiheit an zwei Stellen ein. Zunächst gilt die Gewissensfreiheit nicht für Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Lehramt: Das Gewissen muss sich an die Gebote Gottes gebunden wissen. Weshalb Gewissensfreiheit nur im bürgerlichen Bereich eine Rolle spielt, wurde bereits erörtert. Aber auch die zweite Einschränkung spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf die vorher genannte Fragestellung der Enzyklika, nämlich nach dem Nutzen der Freiheiten für den Staat. Leo XIII. betont, dass die Orientierung des Gewissens an den Gesetzen Gottes eine staatssichernde Funktion hat. Zunächst erläutert er die Alternative zu solch einem Denken: Nicht mehr Gott, sondern der einzelne Mensch mit seiner individuellen Vernunft entscheidet darüber, was als gut und wahr zu gelten hat.43 41

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Es erscheint gerechtfertigt, zu sagen, dass Leo XIII. hier das forum externum der Gewissensfreiheit anspricht, da es im Kontext dieser Aussage von Zwang und Unterdrückung stets um ein Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft geht. Ob er auch die innere Freiheit des Gewissens von staatlicher Einflussnahme geschützt wissen will, geht aus dem Text nicht hervor. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 213. Vgl. Leo XIII., Libertas praestantissimum, 52: Hoc enim fixo et persuaso, homini antistare neminem, consequitur caussam efficientem conciliationis civilis et societatis non in principio

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

Infolgedessen sieht er die Wahrheit der Beliebigkeit ausgesetzt; eine gottlose Gesellschaft handelt dann nach dem Prinzip: quod libeat, idem licebit44. Der Weg zur Sittenverderbnis45 sei gebahnt, welche letztlich den Staat selbst in Frage stelle. Denn der Staat legitimiere sich dann auch nur durch den Willen des Einzelnen bzw. durch den Willen der Mehrheit im Staat. Ein übergeordnetes Ordnungsprinzip, in dem die Prinzipien eines Staats und die Staatsgewalt verortet sind, fällt ersatzlos weg. Eine solche Gesellschaft wird in der Enzyklika durch die Begriffe „Tyrannei“, „Unruhen“ und „Aufruhr“ gekennzeichnet.46 Diese Form des Staatslebens kann nicht im Sinne irgendeines Staatsoberhaupts sein. Daher erscheint es auch vollkommen stringent in dieser Argumentation, dass die Gewissensfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft kein Instrument des willkürlichen Ungehorsams sein darf.47 Der bürgerliche Ungehorsam kann nur dann legitimiert sein, wenn die staatliche Gewalt selbst gegen die Gebote Gottes verstößt. In dieser Denkart spielt die katholische Kirche die wichtigste Rolle für die Einheit und den Frieden innerhalb eines Staats. Orientieren sich die Bürger und die Staatsmacht an den durch die Kirche verkündeten Geboten Gottes, hat der Staat keinen Aufruhr seiner (rechtgläubigen) Bürger zu erwarten. Drastisch ausgedrückt kann gesagt werden, dass ein Staat, der sich von der Kirche löst, damit seine eigene Auflösung vorantreibt. Der Nutzen für den Staat einer so verstandenen Freiheit liegt also im Frieden und seinem Fortbestand. Leo XIII. benutzt aber noch ein weiteres Argument, das die Lehrverkündigung zum Thema Religions- und Gewissensfreiheit bis zum II.  Vatikanischen Konzil beherrschen wird. Das Argument lautet: Nur die Wahrheit besitzt ein Existenzrecht, nicht aber der Irrtum.48 Mit diesem Argument ist die Annahme verknüpft, dass dem abstrakten Begriff »Wahrheit« Rechte zukommen. Das Existenzrecht der Wahrheit steht dabei über dem Recht auf Freiheit des Menschen, weshalb Böckenförde dieses Argument auch als „Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit“49 charakterisiert. In seinen Grundzügen ist dieses Argument relativ einfach. Es geht von der Prämisse aus, dass nicht nur der Mensch als Person, sondern auch die Wahrheit Rechte besitzt, vornehmlich das Recht auf Exis-

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aliquot extra aut supra hominem posito, sed in libera voluntate singulorum esse quaerendam […]. Ebd. 53. Vgl. ebd.: […] ad omnem vitae corruptelam aditus. Vgl. ebd. 53: […] ad tyrannicam […] seditionem turbasque […]. Vgl. ebd. 62.: […] neque ullo pacto putanda est, velle ab obsequio publicae potestatis discedere […]. Vgl. ebd. 64: His de caussis, nihil quidem impertiens iuris nisi iis quae quaeque honesta sint […]. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, Bd. 3 (Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt), Freiburg i. Br./Basel/Wien 1990, 20.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

tenz. Dem Irrtum kommt ein solches Recht nicht zu. Noch 1964 heißt es darum in einem Lehrbuch des Kirchenrechts: „Als getreue Hüterin der christlichen Offenbarung kann die Kirche dem Irrtum keinerlei Rechte zugestehen und muss daher die unbeschränkte Bekenntnis- und Kultusfreiheit ablehnen.“50 Dieses Recht wurde vom Lehramt axiologisch höher eingestuft als das Freiheitsrecht des Menschen. Daher sieht die lehramtliche Verkündigung die menschliche Freiheit primär an die Wahrheit gebunden und setzt die Freiheit in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Wahrheit, wie es eben auch in Joh 8,32 heißt: „Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.“51 Strebt die menschliche Freiheit die Wahrheit an, ist sie zu gewähren und zu fördern; strebt sie aber einen Irrtum an, ist sie einzuschränken.52 Diese Relationalität von Freiheit und Wahrheit bringt Leo XIII. folgendermaßen zum Ausdruck: In allen Umständen bleibt immer wahr, dass eine allgemeine, unterschiedslos gewährte Freiheit, wie Wir des öftern hervorgehoben haben, an sich nicht begehrenswert ist; denn es widerspricht der Vernunft, dass das Unrecht gleiches Recht haben soll wie das Wahre.53

Diesem Argument entspringt auch die Vorstellung, dass der katholische Glaube nicht auf eine Stufe mit den anderen Glaubensrichtungen gestellt werden kann. Die katholische Kirche, als getreue Hüterin des wahren Glaubens, kann für sich Freiheiten reklamieren, die den anderen Glaubensgemeinschaften vorenthalten werden sollen.54

b) Die Enzyklika „Rerum novarum“ Drei Jahre nach „Libertas praestantissimum“ veröffentlichte Leo XIII. die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ und zwar am 15.05.1891. Er bezieht in diesem Rund50 51 52

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Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. 1, Paderborn 111964, 52. Diesen biblischen Bezug stellt Leo XIII. ausdrücklich her: Vgl. Leo XIII., Libertas praestantissimum, 61. Man muss sich vor Augen halten, dass das Lehramt von einer objektiv feststellbaren Wahrheit und einem objektiv feststellbaren Irrtum ausgeht. Was wahr und was falsch ist, kann die Kirche aber aufgrund ihres göttlichen Lehramts in Fragen der Sitten und des Glaubens feststellen und definieren. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser lehramtlichen Kompetenz findet sich in: Josef Schuster, Ethos und kirchliches Lehramt. Zur Kompetenz des Lehramtes in Fragen der natürlichen Sittlichkeit, Frankfurt a. M. 1984. Leo XIII., Libertas praestantissimum, 64: Illud tamen perpetuo verum esse, istam omnium et ad omnia libertatem non esse, quemadmodum pluries diximus, expetendam per se, quia falsum eodem iure esse ac verum, rationi repugnat. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 228.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

schreiben Stellung zur sog. »Arbeiterfrage«. Eine Angelegenheit, quae teneat hominum studia vehementius55. Zwar finden sich in „Rerum novarum“ keine Aussagen zur Gewissensfreiheit, doch führt Leo XIII. seine in „Libertas praestantissimum“ begonnenen Gedanken zu den »Menschenrechten« in einem Abschnitt weiter aus. Durch diese Aussagen erhalten wir einen Einblick in die Grundlegung und Bedeutung der Menschenrechte, zu denen aus heutiger Perspektive eben auch die Gewissensfreiheit gehört. Leo XIII. will im Kontext des 32. Abschnittes der Enzyklika dem Staat seine verschiedenen Pflichten – insbesondere die Schutzpflichten – gegenüber den Arbeitern nahebringen. So wird der Schutz des Privateigentums erwähnt, aber auch der Schutz vor Ausbeutung der Arbeiter durch eine zu hohe Arbeitsbelastung, Arbeitsdauer und eine zu geringe Entlohnung.56 Daneben sieht er den Staat aber auch in die Pflicht genommen, die geistigen Interessen der Arbeiter zu schützen. Dies entspreche nämlich der Würde des Menschen. Den Grund der besonderen Würde des Menschen sieht Leo XIII. in der menschlichen Seele, welche „von der Erkenntnis der Wahrheit und der Liebe zum Guten [lebt].“57 Sie ist Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen und Grund seiner Herrschaft über die übrige Natur. Daher unterstellt Leo XIII. das Seelenleben des Menschen einem besonderen Schutz. Er schreibt dazu: Ungestraft darf keine Macht die Würde des Menschen antasten, über die Gott selbst ‚mit großer Achtung‘ verfügt, auf dem Wege der Pflicht und der Tugend, der den Christen zum ewigen Leben im Himmel bringen soll, darf ihn keine Gewalt zurückhalten. Sogar selbst besitzt der Mensch nicht die Befugnis, auf die hierzu nötige Freiheit zu verzichten und sich der Rechte, die ihm von Natur aus zukommen, zu entäußern; es sind nämlich nicht Befugnisse, die seiner Willkür unterworfen sind, sondern es handelt sich um unabweisbare und über alles heilige Pflichten gegen Gott.58

Leo XIII. betont hier, dass es vorpositive Rechte des Menschen gibt, die von niemandem außer Kraft gesetzt werden können. Da nicht einmal der Mensch selbst 55

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Vgl. Leo XIII., Rerum novarum. Enzyklika über die Arbeiterfrage, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 496–553, Abschnitt 1. Vgl. ebd. 30–34. Ebd. 32.: […] animi vitam perspicientia veri et amore boni complendam. Ebd.: Nemini licet hominis dignitatem, de qua Deus ipse disponit ‚cum magna reverentia‘, impune violare, neque ad eam perfectionem impedire cursum, quae sit vitae in caelis sempiternae consentanea. Quin etiam in hoc genere tractari se non convenienter naturae suae, animique servitutem servire velle, ne sua quidem sponte homo potest: neque enim de iuribus agitur, de quibus sit integrum homini, verum de officiis adversus Deum, quae necesse est sancte servari.

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sich dieser Rechte entledigen kann, ist es folgerichtig, dass diesen Rechten in letzter Konsequenz ein Pflichtcharakter entspricht: Die dem Menschen zukommenden Freiheitsrechte sind gekoppelt an die Aufgabe, die ihnen innewohnende Pflicht zu erfüllen. Diesen Doppelcharakter verdeutlicht Leo XIII. am Beispiel der Sonn- und Feiertagsruhe: Diese religiös geadelte Ruhe befreit den Menschen von dem Getriebe des täglichen Lebens, von der Last alltäglicher Arbeit; dadurch will sie ihn aufrufen, an die jenseitigen Güter zu denken und die Pflichten der Gottesverehrung zu erfüllen.59

Das Recht auf Sonn- und Feiertagsruhe korrespondiert hier mit der Pflicht der Gottesverehrung an diesen Tagen. Das Verhältnis von Recht zu Pflicht ist dabei wechselseitig zu verstehen; sie bedingen sich gegenseitig. Denn es gilt ebenso umgekehrt: Weil der Mensch die Pflicht zur Gottesverehrung hat, besitzt er ein Recht auf die Sonntagsruhe. Sicherlich – das macht das Beispiel der Sonntagsruhe deutlich – will Leo XIII. v. a. die religiösen Rechte geschützt wissen und zwar, wie aus „Libertas praestantissimum“ hervorgeht, vornehmlich die religiösen Rechte der katholischen Christen. Aber auch die schon erwähnte Erkenntnis der Wahrheit und Liebe zum Guten60, von welcher die Seele lebt, lässt auf einen gewissen Rechtsanspruch schließen: Da diese Akte die fundamentalen Lebensvollzüge der Seele sind, ist es nur stringent, den Menschen ein unverbrüchliches Recht auf Wahrheitserkenntnis und Liebe zum Guten zu gewähren. Das Gute und Wahre, welches sicher durch die Gebote Gottes erkannt werden kann, nimmt der Mensch aber in seinem Gewissen wahr.61 Hier rundet Leo XIII. seine Theorie der Gewissensfreiheit ab. Die Freiheit des Gewissens, nach den Weisungen Gottes zu leben, ist ein absolutes Recht des Menschen. Die Gewissensfreiheit bleibt bei Leo XIII. allerdings in einer gewissen Spannung verhaftet: Gegründet auf die Menschenwürde, gilt sie universal für jeden Menschen. In Anspruch darf sie aber nur genommen werden, wenn das Gewissen den Geboten Gottes – ausgelegt durch das Lehramt der Kirche – folgt.

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Ebd.: Coniuncta cum religione quies sevocat hominem a laboribus negotiisque vitae quotidianae ut ad cogitanda revocet bona caelestia, tribuendumque cultum numini aeterno iustum ac debitum. Vgl. dazu Fußnote 57 des I. Kapitels. Vgl. Leo XIII., Libertas praestantissimum, 62: […] ut homini ex conscientia officii, Dei voluntatem sequi et iussa facere […].

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

1.1.3 Johannes XXIII. und die Enzyklika „Pacem in terris“62 Die Entwicklung, die im Bereich der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit mit Leo XIII. begann, findet unter Johannes XXIII. ihren vorläufigen Höhepunkt. Die Enzyklika „Pacem in terris“ erschien am 11.04.1963, also bereits in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils. Die für das Thema Gewissensfreiheit relevanten Dokumente wurden dort allerdings erst später verabschiedet.63 So erscheint es chronologisch sinnvoll „Pacem in terris“ unter dieser Rücksicht als »vorkonziliares« Dokument zu betrachten.

a) Aussagen zu den Menschenrechten Unter Johannes XXIII. rücken die Menschenrechte in das Zentrum der kirchlichen Soziallehre.64 Denn die Aufgaben eines Staats sind nun unmittelbar an die Menschenrechte rückgekoppelt. Die lehramtliche Tradition ist stets davon ausgegangen, dass die Aufgabe des Staats die Förderung des Gemeinwohls ist. Leo XIII. konkretisiert beispielsweise das Gemeinwohl auf folgende Aufgabengebiete des Staats: Schutz des Familienlebens, des religiösen Lebens und des Rechts, Bewahrung der Sitten, Errichtung eines gerechten Steuersystems, Erweiterung von Gewerbe und Handel und Unterstützung der Landwirtschaft.65 Auch Johannes XXIII. greift den Begriff des Gemeinwohls auf, allerdings referiert er die zu seiner Zeit vorherrschende Meinung, dass die Förderung des Gemeinwohls ihren Ausdruck vor allem in der Anerkennung und Bewahrung der Menschenrechte (und seiner Pflichten) fin-

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Nicht berücksichtigt wird an dieser Stelle das Pontifikat Pius XII. In seinen Ansprachen gibt es sehr deutliche Äußerungen zu den Menschenrechten. Vor allem hat er die Religionsfreiheit neu bedacht und sie – ohne ausdrückliche Bindung an die katholische Kirche – in den Katalog der Menschenrechte aufgenommen (vgl. Pius XII., Con sempre. Rundfunkansprache an Weihnachten 1942, in: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg i. Ue. 1945, 657–680, 673). Auch wenn die Verbindung von Religions- und Gewissensfreiheit sehr eng ist, führt m. E. eine Darlegung seiner Aussagen doch zu weit vom Thema der lehramtlichen Äußerungen zur Gewissensfreiheit weg. Das Pontifikat Pius XII. hat daher keine wesentliche Weiterentwicklung in der Lehre der Gewissensfreiheit mit sich gebracht. Einen guten Überblick über seine Aussagen liefert aber: Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 309–325. „Dignitatis humanae“ und „Gaudium et spes“ wurden jeweils am 07.12.1965 deklariert. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 325. Vgl. Leo XIII., Rerum novarum, 26: Nunc vero illa maxime efficiunt prosperas civitates, morum probitas, recte atque ordine constitutae familiae, custodia religionis ac iustitiae, onerum publicorum cum moderata irrogatio, tum aequa partitio, incrementa artium et mercatura, florens agrorum cultura […].

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det.66 Diese Sichtweise auf die Aufgaben eines Staats wird von ihm übernommen, indem er schreibt: Wenn deshalb Staatsbehörden die Rechte der Menschen nicht anerkennen oder sie verletzen, stehen sie nicht nur mit ihrer Aufgabe in Widerspruch, es sind dann ihre Anordnungen auch ohne jede rechtliche Verpflichtung.67

Die Bewahrung der Menschenrechte ist für Johannes XXIII. aber nicht nur Aufgabe einzelner Staaten, sondern Aufgabe aller Staaten.68 Er weitet den Blick, indem er nicht mehr einen Staat und sein Wohl isoliert betrachtet, sondern das Wohl aller Staaten im Sinne einer umfassenden Menschheitsfamilie. Durch „Pacem in terris“ löst sich die lehramtliche Verkündigung vollends von der Vorstellung, dass die Rechte und Pflichten der Bürger von der Funktion des Staats abhängen. Vielmehr hat sich der Staat nun an den Rechten und Pflichten der Menschen zu orientieren, „die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen.“69

b) Aussagen zur Gewissensfreiheit In „Pacem in terris“ werden eine Vielzahl von Rechten aufgeführt, die als Menschenrechte anzusehen sind. Den Begriff der Gewissensfreiheit sucht man allerdings vergeblich. Expressis verbis wird sie von Johannes XXIII. nicht in seinen Menschenrechtskatalog aufgenommen. Kneib verdeutlicht aber, dass Johannes XXIII. die Gewissensfreiheit nicht ablehnt.70 Auch wenn der Begriff »Ge-

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Vgl. Johannes XXIII., Pacem in terris. Enzyklika über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 4, Aachen 1976, 2940–3007, Abschnitt 153: Verum cum nostra hac aetate commune bonum maxime in humanae personae servatis iuribus et officiis consistere putetur, tum praecipue in eo sint oportet curatorum rei publicae partes, ut hinc iura agnoscantur, colantur, inter se componantur, defendantur, provehantur, illinc suis quisque officiis facilius fungi possit. Ebd. 154: Quam ob causam, si qui magistratus iura hominis vel non agnoscant vel violent, non tantum ab officio ipsi suo discedant, sed etiam quae ab ipsis sint imperata, omni obligandi vi careant. Vgl. ebd. 232: […] quapropter publica universalisque auctoritas eo maxime spectare debet, ut humanae personae iura agnoscantur, in debito habeantur honore, innoxia serventur, in re augeantur […]. Ebd. 102: […] atque adeo, ipsum per se iura et officia habere, a sua ipsius natura directo et una simul profluentia. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 332–338.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

wissensfreiheit« fehlt, wird doch in dieser Enzyklika ein Modell menschlichen Zusammenlebens entworfen, das auf der Gewissensfreiheit gründet. Einen Hinweis auf die implizite Anerkennung der Gewissensfreiheit findet man im Begriff »Freiheit«. Sie ist ein Stützpfeiler des menschlichen Zusammenlebens, „denn die menschliche Gemeinschaft wächst durch die Freiheit zusammen, und zwar in Formen, die der Würde des Menschen angemessen sind.“71 Diese Freiheit buchstabiert Johannes XXIII. in zwei Beziehungen aus: Einmal in der Beziehung der staatlichen Regierung zum Bürger und dann in der Beziehung der Bürger untereinander. In der Interaktion zwischen Regierung und Bürger verwirft er eine Haltung der Regierenden, die mittels Sanktionen – positiven wie negativen – und Drohungen ihren Willen durchsetzen möchte. Nicht äußerer Zwang, sondern der Appell an das Gewissen der Bürger sei das geeignete Mittel.72 „Weil aber alle Menschen in der natürlichen Würde unter sich gleich sind, besitzt keiner von ihnen die Macht, einen anderen innerlich zu einem Tun zu bestimmen.“73 Auch wenn hier nicht explizit von Gewissensfreiheit geredet wird, so wird doch deutlich, dass die Freiheit der inneren Überzeugung – also die Freiheit der Entscheidung, welche dem Gewissen entspringt – dem zwanghaften Einfluss von außen entzogen ist. In der zweiten Perspektive nimmt Johannes XXIII. eher die Handlungsfreiheit in Schutz. Wiederum erfordert die Würde der Person, dass die Menschen innerhalb der Gesellschaft „aus eigenem Entschluss und in Freiheit“74 handeln können. Das gesellschaftliche Engagement und Miteinander soll derart gestaltet sein, „dass jeder nach seiner Überzeugung, seinem Urteil und Pflichtbewusstsein handelt und nicht vorwiegend auf Grund von äußerem Zwang und Druck.“75 Auch hier findet der Begriff Gewissen bzw. Gewissensfreiheit keine Verwendung, doch können die Begriffe Freiheit, Überzeugung und Urteil kaum anders denn als Chiffren für das Gewissen des Menschen verstanden werden. So muss man „Pacem in terris“ attestieren, dass diese Enzyklika zwar ohne den Begriff der Gewissensfreiheit auskommt, aber in verschiedenen Umschrei71 72

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Johannes XXIII., Pacem in terris, 128: […] nam hominum societas libertate coalescit, modis nempe ad civium dignitatem idoneis […]. Vgl. ebd. 141: Quocirca quae imperandi facultas sive in minis metuque poenarum, sive in praemiorum pollicitationibus posita unice vel praecipue est, nullo pacto ad commune omnium bonum quaerendum efficienter incitat […]. Auctoritas enim cum maxime vi contineatur incorporali, propterea reipublicae curatores sese ad cuiusvis civis agendi conscientiam referre debent […]. Ebd.: Sed quoniam omnes homines in naturali dignitate sunt inter se pares, tum nemo valet alium ad aliquid intimis animi sensibus efficiendum cogere […]. Ebd. 127: Illud praeterea humanae dignitas personae exigit, ut in agendo homo proprio consilio et libertate fruatur. Ebd.: […] ita scilicet ut suo quisque instituto, iudicio, officiique conscientia agat, iam non commotus coercitione vel sollicitatione extrinsecus plerumque adductis […].

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bungen menschliche Handlungsbereiche derart schützt, dass man diesen Schutz im Wesentlichen als Gewissensfreiheit verstehen muss. Ohne Übertreibung kann man daher sagen, dass Johannes XXIII. hier Gewissensfreiheit als gesellschaftliche Freiheit der Person, selbstbestimmt unter Wahrung der eigenen und der fremden Rechte und Pflichten handeln zu dürfen, zu einer der wesentlichen Grundlagen der kirchlichen Soziallehre macht.76

Bei all dem darf aber nicht übersehen werden, dass für Johannes XXIII. damit dem Bürger nicht eine quasi gesetzgebende Autonomie zukommt. Es ist die Pflicht des Bürgers, der staatlichen Autorität zu gehorchen, sofern sie nicht der Autorität Gottes widerspricht.77 Dass dies kein ungerechtfertigter Eingriff in die Freiheit und Würde des Menschen ist, macht Johannes XXIII. folgendermaßen deutlich: Dadurch, dass wir Gott die schuldige Ehrfurcht erweisen [indem der Bürger der staatlichen Autorität Folge leistet], unterdrücken wir keineswegs unsere Überzeugung, vielmehr erheben und adeln wir sie […].78

Eine Freiheit des Menschen, die sich der von Gott vorgesehenen Ordnung widersetzt, kann es auch in „Pacem in terris“ nicht geben.

1.2 Die Gewissensfreiheit in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils79 Das II. Vatikanische Konzil ist in seiner Bedeutung für die Kirche des 20./21. Jahrhunderts an dieser Stelle nur sehr eingeschränkt zu erfassen. In den 16 Konzilsdokumenten wird die Lehre der Kirche auf die »Zeichen der Zeit« hin konkretisiert, ergänzt und weiterentwickelt. Dabei zeugen die Vorgeschichte des Konzils

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Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 333. Vgl. Johannes XXIII., Pacem in terris, 144: Quandoquidem imperii facultas ex ordine rerum incorporalium exigitur atque a Deo manat, si forte rei publicae moderatores contra eundem ordinem atque adeo contra Dei voluntatem vel leges ferunt, vel aliquid praecipiunt, tunc neque latae leges, neque datae facultates civium animos obstringere possunt […]. Ebd. 143: […] neque vero, quod debitam Deo reverentiam adhibemus, eapropter animos comprimimus nostros, sed magis erigimus et nobilitamus […]. Alle Dokumente des II. Vatikanischen Konzils werden zitiert nach: Heinrich Suso Brechter/Michael Buchberger/Walter Kasper/Josef Höfer (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare (LThK), Bd. 2 und 3, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2 1967/1968.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

sowie die Genese der einzelnen Dokumente von einem wohl nicht vorhersehbaren innerkonziliaren Prozess, der die katholische Kirche bis heute beschäftigt.80 Das Konzil wendet sich auch den Menschenrechten zu. Dankbar greift es dazu mehrfach die Enzyklika „Pacem in terris“ auf und macht sich so die Idee der Menschenrechte zu eigen. Ebenso wird die Entwicklung der Gewissensfreiheit, wie sie hier bereits in ihren Grundzügen dargelegt wurde, zu einem gewissen Abschluss geführt.81 Vor allem in zwei Dokumenten wird die Freiheit des Gewissens behandelt: „Gaudium et spes“ (GS) und „Dignitatis humanae“ (DH).

1.2.1 Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit: „Gaudium et spes“ Während DH primär die Religionsfreiheit behandelt, ist GS das entscheidende Dokument, wenn es um das Gewissen und seine Freiheit geht.82 Besonders bedenkenswert ist dabei: GS ist ein Konzilsdokument, das während des Konzils erarbeitet wurde und nicht – wie andere Konzilstexte – bereits im Vorfeld vorbereitet war.83 Um die Lehre des Konzils zum Gewissen zu verdeutlichen, soll GS diesbezüglich in fünf Schritten analysiert werden.

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Man denke hier beispielsweise nur an die verschiedenen Probleme der Liturgiereform. So wurde das Motu proprio „Summorum Pontificum“ von Benedikt XVI., das den Messritus nach der von Johannes XXIII. promulgierten Form als außerordentliche Form der Messliturgie zulässt, von vielen kritischen Stimmen als Schritt hinter das Konzil gewertet. Leider muss an dieser Stelle kurz auf einen Fehler bei dem hier schon mehrfach zitierten Werk „Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit“ von Michael Kneib eingegangen werden. Dort schreibt er auf S. 339: „Vorweg kann zudem auf eine weitere Übereinstimmung von lehramtlicher Tradition und II. Vatikanum hingewiesen werden: der Begriff der Gewissensfreiheit wird in keinem Konzilsdokument gebraucht. Die Konzilsväter behalten also auch jene charakteristische Scheu angesichts des Begriffs bei.“ Diese Aussage entspricht leider nicht ganz dem Textbefund. Denn es findet sich im Konzilsdokument „Gravissimum educationis“ folgende Aussage: „Deshalb verkündet die Heilige Synode von neuem das in zahlreichen Äußerungen des kirchlichen Lehramtes bereits niedergelegte Recht der Kirche, Schulen jeder Art und jeder Rangstufe frei zu gründen und zu leiten. Dabei erinnert sie daran, dass die Ausübung solchen Rechts auch der Gewissensfreiheit [libertati quoque conscientiae], dem Schutz des elterlichen Rechts und dem kulturellen Fortschritt selbst höchst zuträglich ist.“ (GE 8). Auch wenn Kneib sicherlich Recht damit hat, dass das Konzil den Begriff der Gewissensfreiheit bzw. Freiheit des Gewissens meidet, so findet er sich doch zumindest in einem Dokument. Vgl. Karl Golser, Gewissen und objektive Sittenordnung. Zum Begriff des Gewissens in der neueren katholischen Moraltheologie, Wien 1975, 123. Vgl. Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Gaudium et spes, in: Bernd Jochen Hilberath/Peter Hünermann (Hg.): HThK Vat. II, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, 581–886, 616.

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a) Die anthropologische Wende In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass sich das Lehramt lange Zeit schwer damit tat, die Rechte und Pflichten des Menschen allein aus seiner Würde zu begründen. Wenn es auch Anklänge für diese Denkweise schon unter Leo XIII. gibt, so vollzieht sich die kirchliche Reflexion auf Menschenrechte – in unserem Fall auf die Gewissensfreiheit – insgesamt von drei Standpunkten aus: der Gesellschaft, der Wahrheit und der Würde des Menschen. Erst unter Johannes XXIII. verlagert sich der Schwerpunkt merklich auf den einzelnen Menschen und seine Würde. Diese Entwicklung nehmen die Konzilsväter auf und formulieren zu Beginn von GS: „Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen, steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“84 Dieser Satz ist gleichsam der hermeneutische Schlüssel für den Konzilstext. Die Aussagen von GS sind vom Menschen und auf den Menschen – und zwar den konkreten Menschen – hin auszulegen. Alles, was nun über das Gewissen und die Gewissensfreiheit vom Konzil in GS ausgesagt wird, ist also aus dieser individual-anthropologischen Perspektive zu beleuchten.85 Weitere Perspektiven sind dieser gegenüber sekundär.

b) Die konziliare Lehre vom Gewissen GS 16 formuliert die Gewissensvorstellung der Konzilsväter und bleibt die maßgebliche Aussage für alle späteren Äußerungen des Lehramts bezüglich des Gewissens.86 Aufgrund seiner Wichtigkeit für das Verständnis des Gewissens soll GS 16 hier im vollen Wortlaut wiedergegeben werden. Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächs-

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GS 3: Homo igitur, et quidem unus ac totus, cum corpore et anima, corde et conscientia, mente et voluntate, totius nostrae explanationis cardo erit. Vgl. Stephan Goertz, Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit. Erwägungen im Anschluss an Dignitatis humanae, in: TThZ 119 (2010) 235–249, 243. Vgl. Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, 732.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit ten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen. Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten. Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert. Das kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zuwenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die Sünde allmählich fast blind wird.87

Auch wenn die Gewissensfreiheit nicht ausdrücklich erwähnt wird, so lassen sich doch Formulierungen finden, die schon eine solche Vorstellung intendieren.88 Zweimal spricht der Text davon, dass der Mensch der Stimme seines Gewissens gehorchen muss; dieser Gehorsam gegenüber dem Gewissen ist sogar letztlich das Kennzeichen der menschlichen Würde. Für die persönliche Sittlichkeit ist demnach das Gewissen die letzte Instanz des Menschen, deren Quelle allerdings Gott selbst ist: „Das Gewissen stellt den Menschen in eine Art substanzielle Einsamkeit im Angesicht Gottes.“89 In dieser Einsamkeit muss sich der Mensch vor Gott verantworten. Dabei bildet das Gewissen die Richtschnur, gemäß der er – wie das Konzil sagt – gerichtet wird. Die persönliche Sittlichkeit ist somit in jedem Menschen selbst verankert und kann nicht von außen an ihn herangetragen

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GS 16: In imo conscientiae legem homo detegit, quam ipse sibi non dat, sed cui obedire debet, et cuius vox, semper ad bonum amandum et faciendum ac malum vitandum eum advocans, ubi oportet auribus cordis sonat: fac hoc, illud devita. Nam homo legem in corde suo a Deo inscriptam habet, cui parere ipsa dignitas eius est et secundum quam ipse iudicabitur. Conscientia est nucleus secretissimus atque sacrarium hominis, in quo solus est cum Deo, cuius vox resonat in intimo eius. Conscientia modo mirabili illa lex innotescit, quae in Dei et proximi dilectione adimpletur. Fidelitate erga conscientiam christiani cum ceteris hominibus coniunguntur ad veritatem inquirendam et tot problemata moralia, quae tam in vita singulorum quam in sociali consortione exsurgunt, in veritate solvenda. Quo magis ergo conscientia recta praevalet, eo magis personae et coetus a caeco arbitrio recedunt et normis obiectivis moralitatis conformari satagunt. Non raro tamen evenit ex ignorantia invincibili conscientiam errare, quin inde suam dignitatem amittat. Quod autem dici nequit cum homo de vero ac bono inquirendo parum curat, et conscientia ex peccati consuetudine paulatim fere obcaecatur. Diese Textpassage wird noch bei der Gewissensbestimmung eine wichtige Rolle spielen und soll daher an dieser Stelle nicht ausführlich interpretiert werden. Antonio Autiero, Die Rezeption von Gaudium et Spes im Kontext ethisch-pastoraler Überlegungen, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, Essen 2008, 41–55, 46.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

werden, sofern er sittliche Weisungen nicht in seinem Gewissen aufnimmt.90 Diesen Gehorsam ernstnehmend, ist der einzelne Mensch seinem Gewissensurteil verpflichtet und hat es zu befolgen. Doch kann der Mensch diesem Auftrag nur dann nachkommen, wenn ihm auch innerhalb der staatlichen und kirchlichen Gemeinschaft die Freiheit gewährt wird, gemäß seinem Gewissen zu leben. Die existentielle Bedeutung des Gewissens als letzte persönliche Instanz wird nochmals sehr deutlich, wenn das Konzil die Lehre vom irrenden Gewissen rezipiert. Auch dem – freilich schuldlos – irrenden Gewissen geht nichts von seiner Würde verloren und somit verliert es auch nicht seinen Verpflichtungscharakter. An der Lehre des irrenden Gewissens wird zweierlei deutlich. Zum einen gibt es objektive Normen der Sittlichkeit, anhand derer entschieden werden kann, ob ein Gewissen irrt oder nicht. Es ist also möglich, die Entscheidung eines Menschen von außen objektiv als richtig oder falsch zu qualifizieren. Zum anderen verliert das schuldlos irrende Gewissen aber seine Würde nicht. Mit dieser bedeutsamen Aussage, die eine lange Traditionsgeschichte hat, wird der Primat der Wahrheit vor der Freiheit aufgegeben. Denn auch wenn ein Mensch einem objektiven Irrtum anhängt, welcher ihn in seinem Gewissen unüberwindlich bindet, so ist er innerlich verpflichtet, diesem Gewissensurteil Folge zu leisten. Und schließlich ist die Treue zum Gewissen ein verbindendes Element der Menschheit, „weil es niemanden ohne Gewissen gibt.“91 Nicht nur der Christ, der zu seinem Gewissensurteil steht, verdient Anerkennung, sondern alle Menschen, die in Treue zu ihren jeweiligen Gewissen leben.

c) Die Gewissensfreiheit als Menschenrecht Durch das Konzil wird die Freiheit des Gewissens nun auch kirchlicherseits in den Katalog der Menschenrechte aufgenommen. Zwar findet sich der Terminus Gewissensfreiheit in GS 26 nicht, doch die Konzilsväter zählen zu den unverletzlichen Menschenrechten auch das Recht, ad agendum iuxta rectam suae conscientiae normam92. Die Anerkennung der Handlungsfreiheit gemäß der rechten Norm des Gewissens ist dabei die zwingende Konsequenz aus der Gewissenslehre in GS 16 und kann letztlich nicht anders verstanden werden denn als Freiheit des Gewissens. In der Lehre des II. Vatikanischen Konzils vollzieht sich die endgültige Einheit zwischen der Menschenrechtsvorstellung und der Idee der Gewissensfreiheit. 90 91 92

Vgl. ebd. Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, 732. GS 26.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

d) Der Schutz der Gewissensfreiheit durch das Evangelium Die Anerkennung der Gewissensfreiheit als Menschenrecht kann sicherlich als innerkirchlicher Meilenstein bezüglich der Bewertung der Grund- und Menschenrechte gewertet werden. Und doch geht das Konzil in GS 41 noch einen Schritt weiter. Dort heißt es nämlich: Durch kein menschliches Gesetz können die personale Würde und die Freiheit des Menschen so wirksam geschützt werden wie durch das Evangelium Christi, das der Kirche anvertraut ist. Diese Frohbotschaft nämlich verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; […] sie respektiert sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung […]. Kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkündet also die Kirche die Rechte der Menschen, und sie anerkennt und schätzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert.93

Das höchste Lehramt der katholischen Kirche akzeptiert und befürwortet nicht nur die Menschenrechte und die Gewissensfreiheit, sondern bindet diese zurück an die Hl. Schrift. Das Lehramt positioniert sich also nicht im eigentlichen Sinne zur Lehre der Gewissensfreiheit, die – wie aufgezeigt – zunächst von außen an sie herangetragen wurde, sondern die Freiheit des Gewissens wird gleichsam zur Position der Kirche, und zwar von ihrem Beginn an. Das Evangelium wird nicht nur als Quelle der Menschenrechte erkannt, sondern auch zum einzig wirksamen Mittel, diese und die Gewissensfreiheit zu schützen. Dieselbe Kirche, die sich lange mit der Anerkennung der verschiedenen Freiheitsrechte schwer getan hat, stellt sich nun als Anwalt dieser Rechte dar.

e) Die Kriegsdienstverweigerung als konkretes Beispiel der Gewissensfreiheit Abschließend zu GS sei noch erwähnt, dass in GS 79 die Verweigerung des Kriegsdienstes als konkreter Anwendungsfall der Gewissensfreiheit aufgeführt wird. Den staatlichen Gesetzgebern wird geraten, in der Gesetzgebung jene Menschen zu beachten, die aus Gewissensgründen (ex motivo conscientiae) den Dienst an der Waffe verweigern. Gleichzeitig wird aber festgehalten, dass sich diese Menschen zu einem anderen Dienst an der Gemeinschaft bereit erklären müssen. 93

GS 41: Nulla lege humana personalis dignitas atque libertas hominis tam apte in tuto collocari possunt quam Evangelio Christi Ecclesiae concredito. Hoc enim Evangelium libertatem filiorum Dei annuntiat et proclamat, […] dignitatem conscientiae eiusque liberam decisionem sancte veretur […]. Ecclesia ergo, vi Evangelii sibi concrediti, iura hominum proclamat et hodierni temporis dynamismum, quo haec iura undique promoventur, agnoscit et magni aestimat.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

1.2.2 Die Erklärung über die religiöse Freiheit: „Dignitatis humanae“ Die Erklärung DH des II. Vatikanischen Konzils erfährt in nachkonziliarer Perspektive höchst unterschiedliche Würdigungen. Einerseits wird sie bewertet als „Markstein […], dessen Bedeutung kaum hoch genug eingeschätzt werden kann“94, andererseits ist sie „der mitentscheidende Grund für die Kirchenspaltung von Erzbischof Lefebvre“95. Diese verschiedenen Reaktionen werden durch eine wesentliche Weiterentwicklung der lehramtlichen Position zur Religionsfreiheit hervorgerufen. Denn das Ziel der Erklärung ist es, jedem Menschen Religionsfreiheit als Recht zuzuerkennen und nicht nur andersgläubige Menschen zu tolerieren.96 Zeugnis der Brisanz von DH sind auch die lang anhaltenden Auseinandersetzungen der Konzilsväter während der Erstellung dieser Erklärung.97 Das Thema der Religionsfreiheit ist für unseren Zusammenhang allerdings sekundär. Hier soll DH im Hinblick auf Aussagen zur Gewissensfreiheit untersucht werden. Auch wenn die Gewissensfreiheit in dieser Erklärung nicht direkt angesprochen wird, so finden sich doch an verschiedenen Stellen Bezüge zum Gewissen. Programmatisch für die Würdigung der Gewissensfreiheit im Kontext der Religionsfreiheit ist DH 2: Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln.98 94 95

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97 98

Böckenförde, Einleitung zur Textausgabe der ›Erklärung über die Religionsfreiheit‹, 401. Roman Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit. Dignitatis humanae, in: Bernd Jochen Hilberath/Peter Hünermann (Hg.), HThK Vat. II, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, 125–218, 145. Vgl. Karl Gabriel, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Religionsfreiheit in einer globalisierten Welt, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, Essen 2008, 147–162, 151. Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 341. DH 2: Haec Vaticana Synodus declarat personam humanam ius habere ad libertatem religiosam. Huiusmodi libertas in eo consistit, quod omnes homines debent immunes esse a coercitione ex parte sive singulorum sive coetuum socialium et cuiusvis potestatis humanae, et ita quidem ut in re religiosa neque aliquis cogatur ad agendum contra suam conscientiam neque impediatur, quominus iuxta suam conscientiam agat privatim et publice, vel solus vel aliis consociatus, intra debitos limites.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

a) Eine Reichweitenbestimmung im Titel der Erklärung DH ist überschrieben mit dem Titel: „Das Recht der Person und der Gemeinschaften auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Dingen“.99 In dieser Überschrift drückt sich die veränderte Position des Lehramts zu den Rechtsubjekten aus, die wir auch schon in GS wiedergefunden haben: Das Recht auf religiöse Freiheit kommt allen Personen zu und zwar allein oder in Gemeinschaften. Es ist eben nicht mehr die Wahrheit, die mit Rechten ausgestattet ist, sondern die menschliche Person. Da das Konzil das Recht auf Religionsfreiheit in der Würde des Menschen gegründet sieht100, kommt dieses Recht jedem Menschen zu, unabhängig davon, zu welchem Glauben er sich bekennt.101 Allerdings – und dies ist die Einschränkung – behandelt das Konzil die Frage der Religionsfreiheit im Kontext der gesellschaftlichen und bürgerlichen Freiheiten. In der Erklärung geht es somit um das Verhältnis des Staats zum Bürger mit der Quintessenz, dass der Staat zwar die Religionsfreiheit seiner Bürger anzuerkennen hat, die Kirche als Institution von dieser Erklärung aber nicht erfasst ist.102 Durch diese Einschränkung trennt das Konzil Moralität und Legalität. Das Recht auf Religionsfreiheit wird eindeutig der Friedens- und Freiheitsordnung und nicht der Tugend- und Wahrheitsordnung zugeordnet.103 Ausdrücklich formuliert das Konzil hier: Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesverehrung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet.104

Die Aussagen zum Gewissen und seiner Freiheit sind deshalb nun unter diesem Vorzeichen zu interpretieren. 99 De iure personae et communitatum ad libertatem socialem et civilem in re religiosa. 100 Vgl. DH 2: Secundum dignitatem suam homines cuncti, quia personae sunt, ratione scili-

101 102 103 104

cet et libera voluntate praediti ideoque personali responsabilitate aucti, sua ipsorum natura impelluntur necnon morali tenentur obligatione ad veritatem quaerendam, illam imprimis quae religionem spectat. Vgl. Böckenförde, Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, 63. Vgl. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit, 167. Vgl. Böckenförde, Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, 27 f. DH 1: Porro, quum libertas religiosa, quam homines in exsequendo officio Deum colendi exigunt, immunitatem a coercitione in societate civili respiciat, integram relinquit traditionalem doctrinam catholicam de morali hominum ac societatum officio erga veram religionem et unicam Christi Ecclesiam.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

b) Aussagen zur inneren Gewissensfreiheit Das Konzil wendet sich zunächst der inneren Gewissensfreiheit zu, dem sog. forum internum. So heißt es: Deshalb hat ein jeder die Pflicht und also auch das Recht, die Wahrheit im Bereich der Religion zu suchen, um sich in Klugheit unter Anwendung geeigneter Mittel und Wege rechte und wahre Gewissensurteile zu bilden.105

Das forum internum umfasst den Bereich der eigenen Überzeugungen und Urteile über einen – in diesem Fall religiösen – Sachverhalt. Diese Suche nach der Wahrheit kann aber aufgrund der Würde des Menschen nicht unter Zwang geschehen. Der Mensch ist zwar bei der Suche sicherlich auf andere Menschen und Institutionen angewiesen, mit denen er in einen Dialog treten kann, doch letztlich muss diese Suche frei sein.106 DH macht so deutlich, dass die Gewissensfreiheit notwendige Voraussetzung für einen echten Glaubensvollzug ist. „Nun aber werden die Gebote des göttlichen Gesetzes vom Menschen durch die Vermittlung seines Gewissens erkannt und anerkannt“107 heißt es dazu. Gott spricht den Menschen in seinem Gewissen an. Eine ehrliche Antwort auf diese Ansprache – sowohl der Vollzug des Glaubens als auch dessen Ablehnung – bedürfen einer inneren Freiheit von Zwang, eben der Gewissensfreiheit im forum internum. Bereits aus GS 16 wurde deutlich, dass der Gewissensspruch Gehorsam des Gewissensträgers verlangt. Daher fordert DH nun folgerichtig auch die äußere Gewissensfreiheit.

c) Aussagen zur äußeren Gewissensfreiheit Ebenfalls in DH 3 wird die äußere Gewissensfreiheit angesprochen, also der Schutz des Gewissens im forum externum. Es heißt:

105 Ebd. 3: Quapropter unusquisque officium ideoque et ius habet veritatem in re religiosa quae-

rendi ut sibi, mediis adhibitis idoneis, recta et vera conscientiae iudicia prudenter efformet. 106 Vgl. ebd.: Veritas autem inquirenda est modo dignitati humanae personae eiusque naturae

sociali proprio, libera scilicet inquisitione, ope magisterii seu institutionis, communicationis atque dialogi, quibus alii aliis exponunt veritatem quam invenerunt vel invenisse putant, ut sese invicem in veritate inquirenda adiuvent […]. 107 Ebd.: Dictamina vero legis divinae homo percipit et agnoscit mediante conscientia sua […].

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit Er [der Mensch] darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäß seinem Gewissen zu handeln, besonders im Bereiche der Religion.108

Den Schutz des forum externum legt das Konzil in zwei Richtungen aus: Einerseits als Schutz vor einem Zwang zu bestimmten Handlungen und andererseits als Schutz vor einer Behinderung beabsichtigter Handlungen. Die äußere Gewissensfreiheit ergibt sich dabei zwingend aus dem Schutz des forum internum und dem Verpflichtungscharakter des Gewissens.109 Wichtig ist aber auch die Ergänzung „besonders im Bereiche der Religion“. Zwar will das Konzil die Handlungsfreiheit gemäß des Gewissens vor allem im religiösen Bereich geschützt wissen, doch gleichzeitig weitet es die äußere Gewissensfreiheit auf alle Gewissensentscheidungen aus. Denn sie wird nicht exklusiv für den religiösen Bereich gefordert, sondern gilt für alle Lebensbereiche.

d) Grenzen der Gewissensfreiheit Das Konzil belässt es nicht dabei, Freiheitsrechte für die Bürger eines Staats einzufordern, in DH werden auch ihre Grenzen angesprochen. Allerdings ist innerhalb der Erklärung die klare Tendenz zu erkennen, der Freiheit einen größtmöglichen Raum zu bieten. So heißt es in DH 7, dass die Freiheit des Menschen „nur eingeschränkt werden [darf], wenn und soweit es notwendig ist.“110 Aber wann sieht das Konzil diese Notwendigkeit als gegeben an? Zunächst lassen sich recht allgemein gehaltene Grenzen dieser Freiheit finden. Freiheit ist zu gestatten, wenn sie „innerhalb der gebührenden Grenzen“ ausgeübt wird und „nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.“111 Dann aber werden auch die Grenzen der Freiheitsrechte, also auch der Gewissensfreiheit, detaillierter konzipiert: Beim Gebrauch einer jeden Freiheit ist das sittliche Prinzip der personalen und sozialen Verantwortung zu beachten: Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung ihrer Rechte durch das Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der

108 Ebd.: Non est ergo cogendus, ut contra suam conscientiam agat. Sed neque impediendus est,

quominus iuxta suam conscientiam operetur, praesertim in re religiosa. 109 Hier berühren wir bereits die Frage nach der Reichweite der Gewissensfreiheit. Im zwei-

ten Abschnitt (»Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit«) des folgenden Kapitels wird der Zusammenhang zwischen forum internum und forum externum ausführlich diskutiert; vgl. dazu die Abschnitte 2.1.3 und 2.1.4 des II. Kapitels. 110 DH 7: […] nec restringenda est nisi quando et prout est necessarium. 111 Ebd. 2: […] intra debitos limites. […] dummodo iustus ordo publicus servetur.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen andern wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten. Allen Menschen gegenüber muss man Gerechtigkeit und Menschlichkeit walten lassen. Da die bürgerliche Gesellschaft außerdem das Recht hat, sich gegen Missbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können, so steht es besonders der Staatsgewalt zu, diesen Schutz zu gewähren; dies darf indessen nicht auf willkürliche Weise oder durch unbillige Begünstigung einer Partei geschehen, sondern nur nach rechtlichen Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen und wie sie von einem wirksamen Rechtsschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich sind […]. Dies alles gehört zum grundlegendem Wesensbestand des Gemeinwohls und fällt unter den Begriff der öffentlichen Ordnung.112

Das Konzil benennt in diesem Abschnitt drei Grenzlinien, welche sich aus dem sittlichen Gesetz ergeben und durch die die menschliche Freiheit eingeschränkt wird. Es sind die Rechte der anderen, die Pflichten des Subjekts gegenüber den anderen und die Rücksicht auf das Gemeinwohl. Über die Einhaltung dieser Grenzen hat wiederum der Staat zu wachen, dem es ja auch in seiner gesetzgeberischen Funktion zukommt, seinen Bürgern die Freiheitsrechte zu gewähren. Die Staatsgewalt hat dabei nach den beiden Prinzipien »Gerechtigkeit« und »Menschlichkeit« zu handeln. Zusätzlich mahnt DH an, dass der Staat in seiner Gesetzgebung nicht autonom ist, sondern an die objektive sittliche Ordnung gebunden ist, in der die beiden Prinzipien grundgelegt sind. Diese sittliche Ordnung ist vorpositives und damit vorstaatliches Recht und ihr kommt ein echter Verpflichtungscharakter zu.113 Daraus kann gefolgert werden, dass staatliche Gesetze, die sich nicht an die objektive sittliche Ordnung halten, für die Bürger keinen Verpflichtungscharakter haben. Schließlich werden auch die Ziele genannt, die eine Einschränkung der Freiheiten rechtfertigen. Diese Ziele sind: die Aussöhnung der Bürger, die Sicherstellung der öffentlichen Ordnung und die Bewahrung der öffentlichen Sittlichkeit.

112 Ebd. 7: Ius ad libertatem in re religiosa exercetur in societate humana, ideoque eius usus

quibusdam normis moderantibus obnoxius est. In usu omnium libertatum observandum est principium morale responsabilitatis personalis et socialis: in iuribus suis exercendis singuli homines coetusque sociales lege morali obligantur rationem habere et iurium aliorum et suorum erga alios officiorum et boni omnium communis. Cum omnibus secundum iustitiam et humanitatem agendum est. Praeterea cum societas civilis ius habet sese protegendi contra abusus qui haberi possint sub praetextu libertatis religiosae, praecipue ad potestatem civilem pertinet huiusmodi protectionem praestare; quod tamen fieri debet non modo arbitrario aut uni parti inique favendo, sed secundum normas iuridicas, ordini morali obiectivo conformes, quae postulantur ab efficaci iurium tutela pro omnibus civibus eorumque pacifica compositione […]. Haec omnia partem boni communis fundamentalem constituunt et sub ratione ordinis publici veniunt. 113 Vgl. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit, 182.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

1.3 Die Gewissensfreiheit in Aussagen des Lehramts nach dem II. Vatikanischen Konzil Im letzten Abschnitt des Geschichtsrückblicks auf die Gewissensfreiheit in den Aussagen des Lehramts der katholischen Kirche werden nun nachkonziliare Äußerungen vorgestellt. Viele Stellungnahmen zur Gewissensfreiheit sind Erläuterungen und Interpretationen des II. Vatikanischen Konzils. Dabei soll die Art und Weise der Rezeption der Konzilsaussagen im Fokus der Betrachtung stehen. Am Ende dieses Kapitels werden schließlich auch Aussagen der deutschen Bischöfe auf die Thematik der Gewissensfreiheit hin untersucht.

1.3.1 Die Enzyklika „Redemptor hominis“ Johannes Paul II. veröffentlichte am 04.03.1979 seine Antrittsenzyklika mit dem Titel „Redemptor hominis“. Die zentrale Fragestellung dieser Enzyklika lautet für Johannes Paul II.: Auf welche Weise muss die Kirche den Weg des II. Vatikanischen Konzils fortsetzen?114 Seine erste Antwort auf diese Frage formuliert er prägnant: „Die Kirche darf am Menschen nicht vorbeigehen“115. Auf dem Hintergrund dieser grundlegenden Vorentscheidung wendet er sich im 17.  Kapitel seiner Enzyklika den Menschenrechten zu. Zunächst würdigt Johannes Paul II. die Arbeit der Vereinten Nationen, die einen Katalog von unverletzlichen Menschenrechten aufgestellt haben. Er verknüpft dabei die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte mit dem Auftrag der Kirche, indem er schreibt: „Die Kirche braucht nicht zu betonen, wie sehr dieses Problem mit ihrer Sendung in der Welt von heute verbunden ist.“116 Sodann wiederholt er die Lehre des Konzils, dass die Erfüllung des Gemeinwohls in der Sicherung der Grundrechte des Einzelnen liegt.117 Als Grundrechte benennt er insbesondere die Religions- und Gewissensfreiheit, wobei er sich ausdrücklich auf DH bezieht.118 Vor allem die Erwähnung der Gewissensfreiheit wirkt überraschend, weil das Konzil in DH nicht expressis verbis von der Gewissensfreiheit gesprochen, sondern diese ohne Nennung des Begriffs inhaltlich akzeptiert und befürwortet hat. Es ist unwahrscheinlich, dass Johannes Paul II. nach dem langen innerkirchlichen Differenzierungsprozess, in dem die Religionsfreiheit von der Gewissensfreiheit getrennt wurde, beide wieder aufeinander bezogen wissen

114 115 116 117 118

Vgl. Johannes Paul II., Redemptor hominis, 7. Ebd. 14. Ebd. 17. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

will. Daher ist anzunehmen, dass er in „Redemptor hominis“ den Begriff der Gewissensfreiheit endgültig auch im kirchlichen Sprachgebrauch etabliert hat.

1.3.2 Der Codex Iuris Canonici (CIC) Im Sachverzeichnis des CIC wird man beim Begriff »Gewissensfreiheit« auf can. 748 § 2 verwiesen. Dort heißt es zu Beginn des Buches III über den Verkündigungsdienst der Kirche: „Niemand hat jemals das Recht, Menschen zu Annahme des katholischen Glaubens gegen ihr Gewissen durch Zwang zu bewegen.“119 Hierbei fällt auf, dass die Gewissensfreiheit nicht Bestandteil des Buches II ist, in dem die Pflichten und Rechte aller Gläubigen behandelt werden. Innerhalb des CIC wird die Freiheit des Gewissens also vorrangig mit dem Verkündigungsdienst der Kirche verbunden und in ihrem engen Zusammenhang mit der Religionsfreiheit gesehen. Im Hinblick auf die Religionsfreiheit ist die Gewissensfreiheit zwar ein Grundrecht, doch gilt dieses in erster Linie für die Menschen, die nicht in voller Einheit mit der katholischen Kirche leben.120 Aber auch katholisch Getaufte, die  – aus welchen Gründen auch immer  – teilweise oder ganz die Lehren der katholischen Kirche ablehnen, dürfen nicht gegen ihr Gewissen zum Glauben gezwungen werden. Damit steht can. 748 § 2 in einer gewissen Spannung zu can. 212 § 1121, welche den Gehorsam der Christen einfordert. Sicherlich ist der Verbot von Zwang nicht gleichzusetzen mit dem Gehorsamsgebot. So ist can. 212 § 1 wohl eher als moralisches Gebot zu verstehen, doch zeigt sich hier das Dilemma in dem sich die Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil bewegt: „Eine Kirche, die unfehlbare Wahrheit hütet, hat es schwer, sich gleichzeitig absolut zur Gewissens- und Glaubensfreiheit zu bekennen.“122

119 Can 748 § 2 CIC: Homines ad amplectendam fidem catholicam contra ipsorum conscientiam

per coactionem adducere nemini umquam fas est. 120 Vgl. Heinrich Mussinghoff, Pflicht, Recht und Freiheit der Menschen zur Wahrheit,

in: Klaus Lüdicke (Hg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bd. 3, Essen 1987, 748/2. 121 „Was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen, haben die Gläubigen im Bewusstsein ihrer eigenen Verantwortung in christlichem Gehorsam zu befolgen.“ (Quae sacri Pastores, utpote Christum repraesentantes, tamquam fidei magistri declarant aut tamquam Ecclesiae rectores statuunt, christifideles, propriae responsabilitatis conscii, christiana oboedientia prosequi tenetur.) 122 Mussinghoff, Pflicht, Recht und Freiheit der Menschen zur Wahrheit, 748/2.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

1.3.3 Der Katechismus der katholischen Kirche Der Katechismus der katholischen Kirche nimmt die Lehren des Konzils zum Gewissen auf und rezipiert sie. Beispielsweise ist der komplette einleitende Absatz 1776 ein Zitat aus GS 16. Unter der Überschrift „Das Gewissensurteil“ wird unter Bezugnahme auf DH zur Gewissensfreiheit formuliert: „Der Mensch hat das Recht, in Freiheit seinem Gewissen entsprechend zu handeln, und sich dadurch persönlich sittlich zu entscheiden.“123 Innerhalb des Katechismus werden Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit – im Gegensatz zum CIC – strikt getrennt.124 Lediglich ein Zitat aus DH 3 verweist auf den Zusammenhang dieser Grundrechte.125 Die Lehre vom irrenden Gewissen wurde ebenfalls in den Katechismus aufgenommen. Zur Relevanz des Gewissensurteils heißt es dort zunächst: „Dem sicheren Urteil seines Gewissens muss der Mensch stets Folge leisten. Würde er bewusst dagegen handeln, so verurteilte er sich selbst.“126 Irrt das Gewissen aber aus unüberwindlicher Unkenntnis, so trifft die Person keine Schuld, obschon seine Tat „etwas Böses, ein Mangel, eine Unordnung“127 ist. Dennoch sind auch hier die Grundsätze der Gewissensfreiheit anzuwenden.

1.3.4 Aussagen der deutschen Bischöfe In den Veröffentlichungen der deutschen Bischöfe ist die Gewissensfreiheit kein zentrales Thema. So lassen sich – über die hier vorgestellten Veröffentlichungen hinaus  – lediglich zwei weitere Schreiben finden, die in einem kurzen Absatz die Gewissensfreiheit behandeln und dies auch nur im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit.128 Dennoch kann festgehalten werden, dass die Gewissensfreiheit vor allem im katholischen Erwachsenen-Katechismus sowie im „Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae“ eine intensive Reflexion erfährt. Ob die Reaktionen auf diese

123 124 125 126 127 128

KKK 1782. Die Religionsfreiheit wird in den Absätzen 2106–2109 behandelt. Vgl. KKK 1782. KKK 1790. KKK 1793. Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Allen Völkern sein Heil. Die Mission der Weltkirche, Bonn 2004, 40; Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart in Anwendung der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, Trier 1969, 22.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

Erklärung zur späteren Zurückhaltung führen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

a) Der Katholische Erwachsenen-Katechismus Die deutschen Bischöfe räumen der Gewissensfreiheit in ihrem ErwachsenenKatechismus einen großen Raum ein. Als Leitspruch, unter dem die ganze Gewissensproblematik behandelt wird, kann folgende Aussage dienen: „Im Leben nach dem Gewissen oder gegen das Gewissen entscheidet der Mensch endgültig über sein Heil oder sein Unheil.“129 Dieser hier zum Ausdruck kommende existenzielle Ernst des Gewissensurteils spiegelt sich auch in den Ausführungen zum irrenden Gewissen wider. Dort heißt es: „Auch der im Gewissen Irrende steht vor Gott.“130 Daher ist auch derjenige, der aus einem unüberwindlichen Gewissensirrtum heraus handelt, verpflichtet, seinem Gewissen Folge zu leisten. Denn an der Orientierung nach den Normen des Gewissens ist letztlich die Würde des Menschen verankert.131 Dies ist auch der Grund, warum die Freiheit des Gewissens in den Grundrechten der Staaten zu verankern ist. Bei aller positiven Wertschätzung sehen die deutschen Bischöfe jedoch auch Gefahren, welche der Gewissensfreiheit innewohnen. Die größte Gefahr wird vor allem in ihrem Missbrauch gesehen. Denn das vordringlichste Charakteristikum einer Gewissensentscheidung liegt darin, dass sie sich jeglicher eindeutigen Beurteilung von außen entzieht.132 So besteht die Möglichkeit, jedwede Entscheidung als Gewissensentscheidung zu deklarieren, um sich so unter den Schutz der Gewissensfreiheit zu stellen und dadurch gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen. Der Erwachsenen-Katechismus legt daher jedem Menschen ans Herz: Wer sich auf sein Gewissen beruft, hat ehrlich zu prüfen, ob es wirklich die Stimme des Gewissens ist oder ob es sich um geheime Wünsche, bloße Bedenken gegenüber einer Verpflichtung oder einfach nur um Entrüstung handelt.133

Auch die Grenzen der Gewissensfreiheit werden umrissen. Sie ergeben sich aus dem Umstand, dass der Mensch nicht für sich alleine lebt. Daher darf er seine Freiheit auch nicht individualistisch verstehen. Er lebt vielmehr in einer Gemein129 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenen-Katechismus, Bd. 2, 130 131 132 133

Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995, 128. Ebd. 131. Vgl. ebd. 141. Vgl. ebd. 143 f. Ebd. 142.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

schaft mit anderen Menschen zusammen, denen dieselben Rechte zukommen. Auf der Grundlage des Gemeinwohls formuliert der Erwachsenen-Katechismus sodann die allgemeinen Grenzen der Gewissensfreiheit. Deshalb hat die Ausübung der Gewissensfreiheit eine Grenze am fundamentalen Bestand gemeinsamer sittlicher Grundwerte, an der Verfassungsordnung und an fremden Gemeinund Individualgütern. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit darf niemals dazu führen, dass man in die Rechte anderer eingreift oder gar anderen Schaden zufügt.134

In dieser Passage lassen sich zwei Grenzlinien unterscheiden. Die Gewissensfreiheit endet zum einen am Besitz und an den Rechten der Mitmenschen und zum anderen an der Aufrechterhaltung der Gemeinschaftsordnung. Neben diesen allgemeinen Grundsätzen werden außerdem konkrete Handlungen beschrieben, die nie unter dem Deckmantel der Gewissensfreiheit ausgeführt werden dürfen: Für Terrorismus, Mord, Abtreibung, Raub und Diebstahl, Kindesmisshandlung, Vergewaltigung, Folterung und Rauschgifthandel kann es keine Berufung auf die Gewissensfreiheit geben.135

Wie sich leicht erkennen lässt, ergibt sich diese Aufzählung aus den voran genannten Grundnormen. Diese Liste ist nicht als erschöpfend zu verstehen, sondern exemplarisch und für Ergänzungen offen.

b) Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika „Humanae vitae“136 Wohl kaum ein Schreiben der deutschen Bischöfe dürfte so viel Aufmerksamkeit erregt haben wie die »Königsteiner Erklärung« vom 30.08.1968. Diese Erklärung ist eine Antwort auf die Reaktionen von Priestern und Laien zur Ablehnung der künstlichen Empfängnisverhütung in der Enzyklika „Humanae vitae“ durch Paul VI. In keinem anderen Schreiben der Bischofskonferenz gibt es so vielfältige Bezüge zum Gewissen und zur Gewissensentscheidung. Ausgangspunkt der Überlegungen ist folgende Situationsbeschreibung der deutschen Katholiken: Bei vielen Priestern und Laien, die ebenso in Liebe zur Kirche stehen wollen, herrscht große Ratlosigkeit. Sie leiden nicht nur unter den Schwierigkeiten, diese Lehre zu leben oder 134 Ebd. 143. 135 Ebd. 136 Diese Erklärung wird im weiteren Verlauf als »Königsteiner Erklärung« bezeichnet.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen in die seelsorgliche Praxis umzusetzen; sie haben vielfach auch ernste Gewissensbedenken, die in der Enzyklika ausgesprochenen Verpflichtungen zu bejahen und zu vertreten.137

Das Schreiben richtet sich an katholische Christen, die Gewissensbedenken aufgrund einer Lehräußerung des Lehramts haben. Im Rückblick auf den zeitlichen Kontext der »Königsteiner Erklärung« bezeichnet Kardinal Lehmann eine solche Haltung als „Novum“138 und zwar insofern, dass viele Katholiken trotz ihres Wissens, dass das oberste Lehramt der Kirche eindeutig und verbindlich eine Norm vorgelegt hat, dennoch der festen Überzeugung waren und sind, zu einer abweichenden Gewissensüberzeugung kommen zu können.139

Zugespitzt behandelt die »Königsteiner Erklärung« also die Frage, ob es innerhalb der katholischen Kirche Gewissensfreiheit gibt und zwar nicht im Sinne der Tolerierung einer irrenden Gewissensüberzeugung, sondern der Tolerierung von abweichenden Gewissensüberzeugungen.140 Die Antwort der Bischöfe darauf lautet zunächst lapidar: „Enzykliken sind amtliche Lehräußerungen der Kirche. Ihnen schulden wir religiösen Gehorsam.“141 Dann aber gestehen die Bischöfe zu, dass Fälle denkbar sind, in denen die privaten Überzeugungen von den Äußerungen des authentischen Lehramts abweichen können. Betroffenen Gläubigen raten sie, sich zu prüfen, ob sie dies vor Gott verantworten können.142 Die Überlegungen der Bischöfe münden schließlich in der Aussage: Wer glaubt, so denken zu müssen, muss sich gewissenhaft prüfen, ob er – frei von subjektiver Überheblichkeit und voreiliger Besserwisserei – vor Gottes Gericht seinen Standpunkt vertreten kann. Im Vertreten dieses Standpunktes wird er Rücksicht nehmen müssen auf die Gesetze des innerkirchlichen Dialogs und jedes Ärgernis zu vermeiden trachten. Nur wer so handelt, widerspricht nicht der recht verstandenen Autorität und Gehorsamspflicht. Nur so dient er auch ihrem christlichen Verständnis und Vollzug.143

137 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen

138

139 140 141 142 143

Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hg.): Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. 1, Köln 1998, 465–471, 467. Karl Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben. Die Grundsatzreferate des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz mit den Predigten der Eröffnungsgottesdienste, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2006, 185. Ebd. Vgl. ebd. 184. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae, 466. Vgl. ebd. 467. Ebd. 469 f.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

Die Bischöfe geben somit dem Gewissen des Einzelnen den Vorrang vor der Gehorsamspflicht. Ausdrücklich formuliert Kardinal Lehmann: Es geht […] darum, dass sich das Gewissen eines Katholiken, das in Respekt um die vorgelegte Lehrentscheidung und sittliche Weisung der Kirche weiß, aus gewissenhaft erwogenen Gründen sittlich berechtigt weiß, ein abweichendes Urteil zu bilden und ihm zu folgen. Die KE [Königsteiner Erklärung] geht  – auch wenn dies nicht im Einzelnen dargelegt wird – von der Überzeugung aus, dass es solche Gründe geben kann.144

Bei allen positiven Aussagen zum Gewissen der einzelnen Gläubigen145 darf aber nicht übersehen werden, dass die Erklärung immer wieder auf Folgendes hinweist: Die Gläubigen haben in ihrer Gewissensbildung die Äußerungen des Lehramts wohlwollend aufzugreifen. Zunächst ist es deshalb Aufgabe der Katholiken, die päpstliche Lehre anzunehmen.146 Dieser mutige Vorgang führt innerkirchlich zu großen Spannungen zwischen dem deutschen Episkopat und dem Papst in Rom. Gleichwohl ist zu bemerken, dass dieser Vorstoß der deutschen Bischöfe weltkirchlich nicht einzigartig war. Nach Norbert Lüdecke zählt die »Königsteiner Erklärung« zu einer Gruppe von insgesamt zehn Äußerungen verschiedener Bischofskonferenzen, die abmildernd auf die Enzyklika „Humanae vitae“ reagiert haben.147 Eine oberflächliche Betrachtung dieses Dissenses mündet in Fragen wie: »Haben die Bischöfe gegen ihr Gehorsamsgebot dem Papst gegenüber verstoßen?«148, oder: »Erlangt ein bischöfliches Dokument, das – wenn auch nur implizit – dem päpstlichen Lehramt widerspricht, überhaupt kirchenrechtliche Geltung?«149. Eine tiefergehende Analyse der innerkirchlichen Debatte zeigt allerdings, dass die entscheidende Frage lautet: Ist das Gewissen auch gegenüber sog. in sich schlechten Handlungen frei? Paul VI. hatte in seiner Enzyklika „Humane vitae“ nämlich die künstliche Empfängnisverhütung als einen solchen Akt charakterisiert:

144 Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, 184. 145 Man muss wohl bedenken, dass diese Erklärung gerade drei Jahre nach dem Abschluss

146 147

148 149

des II. Vatikanischen Konzils erfolgte. Die implizit anerkannte Gewissensfreiheit war noch immer so etwas wie Neuland für die katholische Kirche. Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae, 469. Vgl. Norbert Lüdecke, Einmal Königstein und zurück?. Die Enzyklika Humanae Vitae als ekklesiologisches Lehrstück, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, Essen 2008, 357–412, 390. Vgl. ebd. 381. Vgl. ebd. 407.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen Ebenso ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluss an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkung darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel. […] Wenn es auch zuweilen erlaubt ist, das kleinere sittliche Übel zu dulden, um ein größeres zu verhindern, oder um etwas sittlich Höherwertiges zu fördern, so ist es dennoch niemals erlaubt – auch aus noch so ernsten Gründe nicht –, Böses zu tun um eines guten Zweckes willen: das heißt etwas zu wollen, was seiner Natur nach die sittliche Ordnung verletzt und deshalb als des Menschen unwürdig gelten muss […]. Völlig irrig ist daher die Meinung, ein absichtlich unfruchtbar gemachter und damit in sich unsittlicher [intrinsece inhonestum] ehelicher Akt könne durch die fruchtbaren ehelichen Akte des gesamtehelichen Lebens seine Rechtfertigung erhalten.150

Die »Königsteiner Erklärung« konnte daher so verstanden werden, als sähe sie das individuelle Gewissen nicht an solche Weisungen gebunden. Die Schlechtigkeit dieser Handlungen sei dann nicht mehr universell gültig, sondern vom subjektiven Gewissenspruch abhängig. Johannes Paul II. sah sich in seiner Enzyklika „Veritatis splendor“ gezwungen, einer solchen Vorstellung entgegenzutreten: Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müsste die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen Betrachtungsweise anerkannt werden. Diese könnte, indem sie den Umständen und der Situation Rechnung trägt, legitimerweise Ausnahmen bezüglich der theoretischen Regel begründen und so gestatten, in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als für in sich schlecht eingestuft wird. Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich an, die Zulässigkeit sogenannter ‚pastoraler‘ Lösungen zu begründen, die im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine ‚kreative‘ Hermeneutik zu rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde. Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, dass mit diesen Ansätzen nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird.151

Es fällt sicherlich nicht schwer, die inhaltlichen Bezüge dieses Absatzes aus „Veritatis splendor“ zur ungenannten »Königsteiner Erklärung« zu entdecken. In-

150 Paul VI., Humanae vitae. Enzyklika über die rechte Ordnung der Weitergabe mensch-

lichen Lebens, in: o. A., Nachkonziliare Dokumentation, Bd. 14, Trier 1968, 9–61, Abschnitt 14. 151 Johannes Paul II., Veritatis splendor. Enzyklika über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre, hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 51995, 56.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

teressanterweise schließt sich Kardinal Lehmann dieser Sichtweise an und bestätigt diese Lehre, wonach ein abweichendes Gewissensurteil bezüglich in sich schlechter Handlungen nicht möglich ist.152 Akzeptieren die deutschen Bischöfe aber in ihrer Erklärung, dass in Bezug auf Fragen der Empfängnisverhütung ein abweichendes Gewissensurteil möglich sei, kann nur geschlussfolgert werden, dass sie (und die Bischöfe der erwähnten anderen abmildernden Erklärungen) die Empfängnisverhütung nicht als in sich schlecht beurteilen.153 Ob dem aber so ist, lässt sich in diesem Zusammenhang freilich nicht beantworten.

1.4 Entfaltung der Lehre oder Lehrwiderspruch? Zum Abschluss dieses Überblicks zu den lehramtlichen Aussagen zur Gewissensfreiheit ist es angebracht, die anfangs gestellte Frage zu beantworten: Kam es im Laufe der Geschichte zu einem Lehrwiderspruch oder hat sich die Lehre der Kirche weiter entfaltet? Es ist deutlich geworden, dass die kirchliche Lehrmeinung des II. Vatikanischen Konzils sich von der Lehrmeinung der Päpste des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Doch es dürfte ebenso deutlich geworden sein, dass eine pauschale Antwort auf diese Frage kaum möglich ist. Zu unterschiedlich sind dabei die Vorstellungen, die hinter den Begriffen »Freiheitsrechte«, »Religionsfreiheit« und »Gewissensfreiheit« stehen. Um auf diese Frage antworten zu können, ist es also notwendig, die drei Teilbereiche gesondert auf ihre Entwicklung hin zu betrachten.

1.4.1 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Freiheitsrechte Die Beurteilung der Freiheitsrechte innerhalb der katholischen Kirche war abhängig vom jeweiligen Reflexionsstandpunkt. Zunächst wurden die Freiheitsrechte in Hinordnung auf den Staat gesehen. Dieser Ansatz ist deutlich bei Gregor XVI. zu erkennen, der vor allem den traditionell monarchischen Einheitsstaat vor Augen hatte. Eindrucksvoll beschrieb er, wie Freiheitsrechte einen Staat ruinieren können. Bereits unter Leo XIII. fließt aber eine weitere Reflexionsebene in die lehramtlichen Überlegungen ein, nämlich die Würde des Menschen. Im Laufe der Entwicklung verdrängte sie die staatstheoretischen Überlegungen aus den Debatten um die Freiheitsrechte und wurde zum alleinigen Kriterium für die Bewertung der Freiheitsrechte. 152 Vgl. Lehmann, Zuversicht aus dem Glauben, 192. 153 Vgl. Norbert Lüdecke, Einmal Königstein und zurück?, 387.

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Die Gewissensfreiheit in ausgewählten lehramtlichen Verlautbarungen

In der Tat muss man feststellen, dass vom Wortlaut her die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils nicht mit den Aussagen Gregor XVI. vereinbar sind. Die jeweiligen Sichtweisen auf die Freiheitsrechte können unterschiedlicher nicht sein. Aus diesem Grund sollte man in der Lehre von den Freiheitsrechten von einem indirekten Lehrwiderspruch sprechen. Ein Lehrwiderspruch liegt vor, da die Freiheitsrechte tatsächlich zunächst harsch abgelehnt und dann befürwortet wurden. Indirekt ist der Widerspruch allerdings, weil er nicht in der Sache selbst gründet, sondern dem zeitgeschichtlichen Kontext und der jeweiligen Reflexionsebene geschuldet ist.

1.4.2 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Religionsfreiheit Wie bei den Freiheitsrechten allgemein, so ist auch die veränderte Haltung zur Religionsfreiheit deutlich sichtbar geworden. Doch die Kirche tat sich mit der Anerkennung der Religionsfreiheit ungleich schwerer, auch nachdem die Freiheitsrechte mit der Menschenwürde gekoppelt wurden, wie wir aus „Libertas praestantissimum“ entnehmen konnten. Erst die Aufgabe des Primats der Wahrheit vor der Freiheit154, welche sich zunächst bei Johannes XXIII. zeigte und sich in DH vollends entfaltete, führte zu einer positiven Bewertung. Hier kann von einem direkten Lehrwiderspruch gesprochen werden. Denn es kam eben nicht nur eine neue Sichtweise hinzu, die eine Neubewertung ermöglichte, vielmehr wurde ein Lehrsatz aufgegeben. Es handelt sich hier um einen grundlegenden Wandel in der kirchlichen Lehre der Religionsfreiheit. Der Wechsel vom Primat der Wahrheit zum Primat der Freiheit ist in der Tat ein direkter Lehrwiderspruch.

1.4.3 Zur Bewertung der Entwicklung der katholischen Lehrmeinung über die Gewissensfreiheit Um die Position des Lehramts zur Gewissensfreiheit angemessen beurteilen zu können, muss man an dem Zeitpunkt ansetzen, an dem die Gewissensfreiheit als eigenständiges Recht betrachtet wurde und nicht mehr als ein Synonym für die Religionsfreiheit. Diese Loslösung begann unter Leo XIII. in „Libertas praestantissimum“. Erst durch diese Differenzierung war eine positive Bewertung der Freiheit des Gewissens möglich. Auch wenn dieser Differenzierungsprozess lange andauerte und das Lehramt den Begriff Gewissensfreiheit zu vermeiden suchte155, 154 Vgl. Böckenförde, Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, 20. 155 Vgl. Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, 421.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

ist hier eine kontinuierliche Entfaltung der Gewissenslehre zu beobachten. In ihrem säkularen Verständnis galt und gilt die Gewissensfreiheit als in der Würde des Menschen verankert und ist deshalb anzuerkennen. In der katholischen Lehrmeinung sind hier zwar Entwicklungsschritte erkennbar, die aber keine ernsten Brüche oder Gegensätze zu früheren lehramtlichen Äußerungen ausweisen. Man kann also weder von einem direkten noch einem indirekten Lehrwiderspruch sprechen. Hier handelt es sich stattdessen um einen Prozess immer intensiverer Reflexion.

2. Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten 2.1 Zur Genese des Rechts auf Gewissensfreiheit Die Geschichte der Gewissensfreiheit lässt erkennen, dass diesem Grundrecht eine eigentümliche Spannung innewohnt. Auf der einen Seite gilt die Gewissensfreiheit zusammen mit der Glaubensfreiheit als eines der ältesten Grundrechte.156 Auf der anderen Seite hat die Gewissensfreiheit, wie wir sie heute verstehen, kaum noch etwas mit dem Recht zu tun, das ursprünglich unter »Gewissensfreiheit« verstanden wurde: nämlich ein der Glaubensfreiheit eindeutig zugeordnetes und damit nicht-selbstständiges Grundrecht. Somit ist die »heutige« Gewissensfreiheit ein relativ junges Grundrecht. Aus diesem Grund erscheint es besonders wichtig, die juristische Historie der Gewissensfreiheit zu kennen und zu verstehen.157 Die geschichtlich gewachsene Distanzierung zur Glaubensfreiheit verhilft uns in der Gegenwart, deutlicher die inhaltliche Grundrichtung der Gewissensfreiheit zu erfassen. In der Abgrenzung zu den anderen Grundfreiheiten, wie z. B. der Religionsfreiheit oder der Meinungsfreiheit, kommt das Proprium der Gewissensfreiheit immer stärker zum Vorschein. Allerdings lässt die Geschichte dieses Grundrechts auch einen anderen Schluss zu. So kommt beispielsweise Paul Tiedemann zu folgendem Ergebnis:

156 Vgl. Martin Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübin-

gen 2006, 8. 157 Dieser Werdegang soll im Folgenden anhand wichtiger Wegpunkte der Geschichte darge-

stellt werden. Auf eine vollständige Darlegung aller Erwähnungen der Gewissensfreiheit in der Rechtsgeschichte Deutschlands wird an dieser Stelle verzichtet.

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten Dieser kurze geschichtliche Überblick [der Gewissensfreiheit] legt die Vermutung nahe, dass das Verfassungsrecht der Gewissensfreiheit nach Einführung der allgemeinen Religionsfreiheit tatsächlich als eine Art von Versehen verstanden werden muss.158

Die Bewertung der geschichtlichen Entwicklung muss an dieser Stelle zunächst offen bleiben und wird an späterer Stelle erörtert. Es sollen in einem ersten Schritt die wichtigsten Etappen dieser Entwicklung nachgezeichnet werden. Doch an welchem Punkt der Geschichte soll der Beginn der rechtlichen Reflexion auf die Gewissensfreiheit festgesetzt werden? Die Rechtsgeschichte sieht in der Reformation ihren Ausgangspunkt. Jedoch gab es schon vorher Überlegungen zum Gewissen; die gedanklichen Wurzeln liegen durchaus weiter in der Vergangenheit.159 Die Bedeutung der Reformation für die Gewissensfreiheit gründet weniger in der Tatsache, dass Martin Luther den Begriff der Gewissensfreiheit prägte.160 Denn die lutherische Gewissensfreiheit bezeichnet noch in keiner Weise ein Grundrecht, sondern ist ein theologischer Begriff innerhalb seiner Rechtfertigungslehre.161 Die Reformation bildet vielmehr insofern den Grundstein der Gewissensfreiheit, da es auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nunmehr keine geschlossene Glaubensgemeinschaft mehr geben sollte. Dieses Faktum nötigt den Reichstag dazu, Regelungen für ein friedliches Miteinander zu finden. Einen ersten Versuch stellt der Augsburger Religionsfriede von 1555 dar.

158 Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, 31. Nach Tiede-

mann kann sogar von einem doppelten Versehen gesprochen werden. Vor der Gründung der BRD bestand es darin, dass es sich bei der Gewissensfreiheit  – nach Anerkennung der allgemeinen Religionsfreiheit – um eine „inhaltsleere Sprechblase[] [handelte], eine gewisse Reminiszenz an den aufgeklärten Anspruch des Individuums auf sittliche Autonomie, ohne dass damit die Lebenswirklichkeit der sittlich autonomen Individuen tatsächlich nachhaltig verändert und gestaltet [wurde].“ (ebd.) Dagegen ist die Aufnahme der Gewissensfreiheit in das Grundgesetz ein Versehen, das „durch die einmalige geistige Situation der Nachkriegszeit erklärbar ist“ (ebd.). Denn die Gewährung der Gewissensfreiheit sei Ausdruck einer Sichtweise, die im Staat nicht einen »Existenzerhalter« seiner Bürger, sondern einen potentiellen »Existenzvernichter« sieht. Diese Perspektive nennt Tiedemann aber „nicht ‚normal‘“ (ebd.). 159 Vgl. Martin Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte, in: ITE 14 (2005) 85–99, 85. 160 Vgl. Erhard Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit. Zur Theorie der Normativität im demokratischen Verfassungsstaat, Berlin 1983, 114. 161 Martin Luther führt den Begriff der Gewissensfreiheit folgendermaßen ein: Est itaque libertas Christiana seu Euangelica libertas conscientiae, qua solvitur conscientia ab operibus, non ut nulla fiant, sed ut in nulla confidat. (WA 8, 606, 30–32). Die lutherische Gewissensfreiheit bezeichnet also die Freiheit des Christen von seinen Werken in Hinblick auf seine Rechtfertigung vor Gott. Rechtfertigung ist nach Luther dem Menschen nicht durch seine Werke, sondern durch die glaubende Annahme des Evangeliums möglich.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

2.1.1 Der Augsburger Religionsfriede Der Augsburger Religionsfriede kommt noch völlig ohne den Begriff der Gewissensfreiheit aus, doch werden in ihm die Rechte grundgelegt, die später als Glaubens- und Gewissensfreiheit charakterisiert werden. Es sind vor allem drei Neuerungen, die diesen Friedensschluss historisch interessant machen: Die Anerkennung der lutherischen Konfession, das sog. »ius reformandi« und schließlich das sog. »ius emigrandi«.

a) Die Anerkennung der lutherischen Konfession Um Religionsfreiheit und in diesem Sinne auch Gewissensfreiheit zu gewähren, müssen in einem ersten Schritt andere Konfessionen zunächst anerkannt werden. Diese Anerkennung erfolgte für die lutherische Konfession bzw. für die augsburgische Konfession in § 15 des Augsburger Religionsfriedens. Dort heißt es: Und damit solcher Friede auch trotz der Religionsspaltung, wie es die Notwendigkeit des Heiligen Reiches Deutscher Nation erfordert, desto beständiger zwischen der Römischen Kaiserlichen Majestät, Uns, sowie den Kurfürsten, Fürsten, und Ständen aufgerichtet und erhalten werden möchte, so sollen die Kaiserliche Majestät, Wir, sowie die Kurfürsten, Fürsten und Stände keinen Stand des Reiches wegen der Augsburgischen Konfession, und deren Lehre, Religion und Glauben in gewaltsamer Weise überziehen, beschädigen, vergewaltigen oder auf anderem Wege wider Erkenntnis, Gewissen und Willen von dieser Augsburgischen Konfession, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Zeremonien, die sie aufgerichtet haben oder aufrichten werden, in ihren Fürstentümern, Ländern und Herrschaften etwas erzwingen oder durch Mandat erschweren oder verachten, sondern diese Religion, ihr liegendes und fahrendes Hab und Gut, Land, Leute, Herrschaften, Obrigkeiten, Herrlichkeiten und Gerechtigkeiten ruhig und friedlich belassen, und es soll die strittige Religion nicht anders als durch christliche, freundliche und friedliche Mittel und Wege zu einhelligem, christlichem Verständnis und Vergleich gebracht werden.162

Anerkennung und Schutz dieses Religionsfriedens kommen also nur der katholischen und augsburgischen Konfession zu Gute. Ausdrücklich schließt auch § 17 des Augsburger Religionsfriedens andere Glaubensrichtungen von dieser Rege-

162 Zitiert nach: Reinhard Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, Wiesbaden 2009, 15 f.

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten

lung aus.163 Aus diesem Grund werden die genannten Bestimmungen in der Literatur nicht als Glaubensfreiheit, sondern als Glaubenszweiheit bezeichnet.164

b) Das »ius reformandi« Für den Landesfrieden ist es nicht nur notwendig, die neue Konfession des christlichen Glaubens anzuerkennen. Weiter muss es auch möglich sein, sich ohne Schaden zur lutherischen Konfession bekennen zu können. Dieses Recht, später als »ius reformandi« bezeichnet, wird im Augsburger Religionsfrieden lediglich den Reichsständen zugesprochen. Zu ihnen gehören neben den in § 15 erwähnten Kurfürsten und Fürsten auch die freien Reichstädte. Somit bedeutet das »ius reformandi«, das Recht des Landesherrn, die religiöse Ausrichtung seines ihm unterstellten Gebiets zu bestimmen.165 Allerdings hat er ausschließlich die Wahl zwischen den beiden anerkannten Konfessionen. Eine negative Glaubensfreiheit, d. h. die Möglichkeit, sich zu keiner Glaubensrichtung zu bekennen, ist im Augsburger Religionsfrieden nicht vorgesehen. Die Bestimmungen des »ius reformandi« werden im 17. Jahrhundert in dem bekannten Grundsatz »cuius regio, eius religio« zusammengefasst.166 Obwohl er sich nicht explizit im Text des Augsburger Religionsfriedens findet, wird dieser Grundsatz bis heute als das Charakteristikum dieser Friedensordnung angesehen.

c) Das »ius emigrandi« Der Augsburger Reichstag hat bei seinen Entscheidungen allerdings nicht nur die religiösen Ausrichtungen der Reichsstände im Blick, sondern auch die der einfachen Bürger. Zwar ist nach dem »ius reformandi« die Konfession ihrer Landesherren für sie verbindlich, doch formuliert der Augsburger Religionsfrieden für jeden Bürger die Möglichkeit der Auswanderung. Dieses sog. »ius emigrandi« findet sich in §  23167 und wird von Reinhard Pohanka als „erstes niederge163 „Doch sollen alle anderen so obgemelten beiden Religionen nicht anhängig in diesem

164 165 166 167

Frieden nicht gemeint, sondern gänzlich ausgeschlossen sein.“ Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 16. Vgl. Zippelius, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung, 53. Vgl. Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 14. Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München 62009, 130 f. Diese Zählung ist entnommen aus: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 16. Nach anderer Zählung findet sich das »ius emigrandi« in § 24, z. B. bei Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 19.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

schriebenes Grundrecht in der deutschen Geschichte“168 bezeichnet. Im besagten Artikel heißt es: Wo aber Unsere, auch der Churfürsten, Fürsten und Stände Untertanen der alten Religion oder Augsburgischen Konfession anhängig, von solcher ihrer Religion wegen, aus unsern, auch der Churfürsten, Fürsten und Ständen des Heiligen Reichs Landen, Fürstentümern, Städten oder Flecken mit ihren Weib und Kindern, an andere Orte ziehen und sich nieder tun wollten, denen soll solcher Ab- und Zuzug, … zugelassen und bewilligt, auch an ihren Ehren und Pflichten allerding unentgolten sein.169

Hier wird das Recht der Untertanen festgeschrieben, aus Gründen der Religion das Herrschaftsgebiet zu verlassen, um an einen anderen Ort zu ziehen und dort sesshaft zu werden. Diese Regelung erfasst zweierlei: Zum einen muss der Abzug zugelassen werden, zum anderen muss aber auch der Zuzug bewilligt werden. Allerdings war die Abwanderung nur unter Zahlung einer Nachsteuer möglich, wie es im genannten Paragrafen festgeschrieben ist.170 Das »ius emigrandi« gilt wiederum nur für Angehörige der anerkannten Konfessionen.

d) Der Augsburger Religionsfriede und die Gewissensfreiheit Dem Augsburger Religionsfrieden ist der Terminus »Gewissensfreiheit« fremd und er ist noch weit davon entfernt, Gewissensfreiheit als Menschenrecht dergestalt zu gewähren, dass jeder einzelne berechtigt ist, die Religionsübung innerhalb seines befriedeten Besitztums so zu halten, wie es ihm sein Gewissen gebietet.171

Und doch werden hier die entscheidenden Weichen gestellt, die ein späteres Verständnis von Gewissensfreiheit ermöglichen. Denn wie der Verlauf der Geschichte zeigt, wird unter Gewissensfreiheit zunächst eine Teilfreiheit der Religionsfreiheit verstanden. In diesem Sinne gewährt der Augsburger Religionsfriede eine »partikuläre Gewissensfreiheit«. Diese Partikularität drückt sich in dreifacher Weise aus:

168 169 170 171

Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 14 f. Ebd. 16 f. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 19. Heinrich Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, 49.

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten

• Gewissensfreiheit im Sinne von Religionsfreiheit wird primär den Reichsständen gewährt. • Die Untertanen sind zunächst verpflichtet, die Religion ihres Landesherrn anzunehmen. Ist ihnen dies nicht möglich, so können sie von ihrem Recht der Auswanderung Gebrauch machen. • Diese Freiheiten bestehen nur für die beiden anerkannten Konfessionen. Sicherlich mag uns heute dieses Ausmaß an Freiheit gering erscheinen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass wir es hier mit den ersten wichtigen Schritten in Richtung Gewissens- und Religionsfreiheit zu tun haben oder wie es Dietmar Willoweit formuliert: „Dieses Abzugs- oder Emigrationsrecht musste in einer Welt, der die Idee der Toleranz noch fremd war, als ein Maximum individueller Freiheit gelten.“172

2.1.2 Der Westfälische Friede Die Wirren des 30jährigen Krieges führten 1648 zu einem erneuten Friedensschluss. Neben verschiedenen territorialen Fragen werden im Westfälischen Frieden auch Fragen der Religionszugehörigkeit und der Religionsfreiheit erörtert. Dabei orientiert er sich wesentlich am Augsburger Religionsfrieden, führt aber auch tiefgreifende Neuerungen ein. So wird beispielsweise in Art. VII § 1 das reformierte Bekenntnis der katholischen und augsburgischen Konfession gleichgestellt.173 Zwei weitere Innovationen führen zu einer beachtlichen Änderung der Rechtslage der Bürger, nämlich die Festsetzung des Normaljahres und die Bestimmungen zur Religionsausübung.

a) Die Festsetzung des Normaljahres Zwar gilt das 1555 formulierte »ius reformandi« weiterhin, doch wird es durch Art.  V §  2 erheblich eingeschränkt. Dort heißt es: „Der Stichtag für die Restitution in geistlichen Angelegenheiten sowie für das, was als deren Folge in den 172 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 131. 173 „Mit einhelliger Zustimmung der Kaiserlichen Majestät und aller Reichsstände ist außer-

dem bestimmt worden, daß alle Rechte oder Vergünstigungen, die neben anderen Reichsgesetzen vor allem der Religionsfriede und dieser öffentliche Vertrag sowie in ihm die Regelung der Religionsbeschwerden den der katholischen und der Augsburgischen Konfession angehörenden Stände und Untertanen gewähren, auch denen zukommen sollen, die als Reformierte bezeichnet werden“. Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 29.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

weltlichen Angelegenheiten verändert wurde, soll der 1. Januar 1624 sein.“174 Auch weiterhin ist es dem Landesherrn unbenommen, seine Konfession zu wechseln und damit das konfessionelle Grundgepräge seiner Ländereien zu bestimmen. Allerdings ist es ihm nicht mehr möglich, das Maß der am 01.01.1624 gewährten religiösen Freiheit zu unterschreiten.175 Diese Regelung gewährt den Bürgern einen neuen Grad an Rechtssicherheit. Eine zum Zeitpunkt des Normaljahres gewährte Konfession in seinem Territorium kann vom Landesherrn nicht einfach verboten werden. Somit hat nach 1648 der Grundsatz »cuius regio, eius religio« nur noch eingeschränkt Gültigkeit.

b) Das Recht auf Religionsausübung Für das lange Zeit bestimmende Verständnis der Gewissensfreiheit ist Art. V § 34 des Westfälischen Friedens ausschlaggebend. Nach Heinrich Scholler „beginnt der Rechtsbegriff Gewissensfreiheit im Westfälischen Frieden.“176 In diesem Paragrafen wird nämlich erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte die Gewissensfreiheit ausdrücklich genannt. Es heißt hier: Ferner ist man übereingekommen, dass die der Augsburgischen Konfession angehörenden Untertanen katholischer Stände wie umgekehrt katholische Untertanen von Ständen der Augsburgischen Konfession, denen im Jahre 1624 zu keinem Zeitpunkt die öffentliche oder private Religionsausübung zustand, wie auch die, die nach der Verkündung des Friedens künftig ein anderes Glaubensbekenntnis annehmen oder annehmen werden als ihr Landesherr, mit Nachsicht geduldet und nicht daran gehindert werden sollen, sich in vollständiger Gewissensfreiheit in ihren Häusern ihrer Andacht ohne jede Nachforschung und ohne jede Beeinträchtigung privat zu widmen, in der Nachbarschaft so oft und wo immer sie wollen am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen und ihre Kinder entweder in auswärtige Schulen ihres Bekenntnisses oder zu Hause von Privatlehrern unterweisen zu lassen. Doch sollen Landsassen, Vasallen und Untertanen im Übrigen ihre Pflicht in schuldigem Gehorsam und Unterordnung erfüllen und zu keinerlei Unruhen Anlass geben.177

Dieser Passus aus dem Westfälischen Frieden verdeutlicht, dass in einem geschichtlichen Überblick die Gewissensfreiheit nicht von der Religionsfreiheit zu trennen ist. Denn Gewissensfreiheit bedeutet in der Vergangenheit nichts anderes als die Freiheit, seine Religion auszuüben. Bei genauerer Betrachtung von Art. V

174 175 176 177

Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 27. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 22. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 51. Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 29.

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§ 34 ist zu erkennen, dass sich die Gewissensfreiheit hier in drei Freiheitsrechte aufteilen lässt und sich nur im Rahmen zweier Grenzlinien bewegen darf. i. Die Einzelrechte der Religionsausübung Als erstes Teilrecht der Religionsausübungsfreiheit wird das Recht auf freie Hausandacht formuliert. Unabhängig von der Konfession des Landesherrn und ebenso unabhängig von der konfessionellen Zuteilung durch das Normaljahr wird jedem Bürger das Recht zugestanden, in seinem eigenen Wohnbereich den Andachtsübungen seiner Konfession nachzugehen. Dieses Freiheitsrecht bedeutet gleichzeitig eine fundamentale Beschneidung des landesherrschaftlichen Machtanspruchs: Die Verfügungsgewalt des Landesherrn in religiösen Fragen endet an der Haustür des Bürgers.178 Dieses Recht formuliert demnach ein privates Religionsausübungsrecht. Das zweite Teilrecht befasst sich mit der öffentlichen Religionsausübung. Die Bürger dürfen nicht daran gehindert werden, zum Zweck einer öffentlichen Religionsausübung, z. B. eines Gottesdienstes, in ein nachbarschaftliches Gebiet zu reisen, in dem der öffentliche Gottesdienst dieser Konfession erlaubt ist. Das »ius emigrandi« des Augsburger Religionsfriedens wird damit entscheidend modifiziert. Zwar bleibt das Auswanderungsrecht bestehen179, doch wird es um eine Art »Pendlerrecht« erweitert. Aus Gründen der Religionsausübung sollen fortan das Verlassen eines Herrschaftsgebiets, die Einreise in ein anderes Herrschaftsgebiet und die anschließende Rückkehr möglich sein. Mit dem dritten Teilrecht wird schließlich den Bürgern die konfessionelle Bildung ihrer Kinder ermöglicht, auch wenn sie nicht in Einklang mit der Konfession des Landesherrn steht. Dieser konfessionelle Unterricht kann dabei auf zwei Arten erfolgen. In der eigenen Wohnung durch einen Privatlehrer oder durch den Besuch einer auswärtigen Schule. Die beiden beschriebenen Bestimmungen zur privaten und öffentlichen Religionsausübung werden damit sinngemäß auch auf ein Recht zur konfessionellen Bildung angewandt. ii. Die Grenzen der Gewissensfreiheit Diese religiöse Freiheit, die der Westfälische Frieden den Bürgern des Reichs zuspricht, schwächt die partikularen Bestimmungen zur Religionsfreiheit des Augsburger Religionsfrieden in den genannten Bereichen entscheidend ab. Aber auch nach 1648 ist der rechtlich anerkannte Korridor, in dem es möglich ist, von Gewissens- oder Religionsfreiheit zu reden, noch sehr eng. Die Grenzen dieser 178 Vgl. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 53. 179 Vgl. Art. V § 30. In: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 28 f.

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neuen Freiheit markieren einerseits die anerkannten Religionen und andererseits der öffentliche Raum. Der Westfälische Friede erkennt drei Konfessionen an: die katholische, die augsburgische und die reformierte. Nur die Angehörigen dieser Konfessionen können die alten und neuen Freiheiten für sich in Anspruch nehmen. Diese Festlegung – verbunden mit dem eingeführten Terminus »Gewissensfreiheit« – zeigt an: Gewissen meint in dieser Zeit vor allem das religiöse Gewissen. Tiedemann schreibt dazu: Was hier geschützt wurde, war also ein auf gewisse Religionsgemeinschaften bezogenes sozial standardisiertes Gewissen. Das Gewissen ist inhaltlich durch die Glaubensüberzeugungen und Riten der betreffenden Religionsgemeinschaften definiert.180

Das einzelne Gewissen wird, aus der Perspektive des Rechts gesehen, auf nur eine Funktion reduziert: Als Berufungsfunktion für die individuelle Glaubensentscheidung zwischen den anerkannten Konfessionen. Als höchstindividueller ethischer Ratgeber und Richter spielt das Gewissen in diesem Verständnis keine Rolle. Die zweite Grenze der Gewissensfreiheit ist die zwischen privatem und öffentlichem Raum. Das formulierte Recht war gleichsam als eine Art »geheimes Recht« zu verstehen. Nur im privaten Raum konnte es seine Geltung entfalten. Der öffentliche Raum dagegen forderte die komplette Unterordnung unter das geltende Recht. Das zugesprochene Recht auf Gewissensfreiheit darf nicht benutzt werden, um sich gegen die öffentliche Ordnung zu stellen. Ausdrücklich heißt es im letzten Satz des Art. V § 34: „Doch sollen Landsassen, Vasallen und Untertanen im Übrigen ihre Pflicht in schuldigem Gehorsam und Unterordnung erfüllen und zu keinerlei Unruhen Anlass geben.“181 Mit dieser Bestimmung wird eine Grenze der Gewissensfreiheit festgelegt, die auch heute noch – selbst unter dem gewandelten Verständnis der Gewissensfreiheit – vielfach und in verschiedenen Formen diskutiert wird.182 Das Recht auf Gewissensfreiheit soll dann an eine Grenze kommen, wenn durch die Ausübung dieses Rechts die öffentliche Ordnung gefährdet ist.

180 Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, 27. 181 Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 29. 182 So z. B. bei Herzog, Art. 4, 58, Rd.-Nr.: 149.

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2.1.3 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) Das Land Preußen nimmt im weiteren Fortgang der Geschichte innerhalb der deutschen Staaten  – ja sogar in Europa  – in Bezug auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit eine führende Position ein.183 Stephan Meder führt diese herausragende Stellung Preußens darauf zurück, dass in der dortigen Gesetzgebung die Grundidee der Aufklärung in besonderem Maße verwirklicht wurde; er formuliert sie als „die Erziehung des Individuum zur Freiheit und dadurch zum Glück.“184

a) Die Bestimmungen des ALR Am 01.06.1794 trat das ALR nach etwa 14jähriger Vorarbeit in Kraft.185 Im Wortlaut der Glaubens- und Gewissensfreiheit übertrifft es alle bisherigen Formulierungen. Denn im 11. Titel des 2. Teils heißt es unter § 2: „Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreyheit [sic!] gestattet werden.“186 Beachtenswert ist, dass in der Gesetzgebung Preußens nunmehr eine wesentliche Beschränkung der Gewissensfreiheit wegfällt. Denn das ALR kennt keine anerkannten Konfessionen mehr, sondern gewährt Glaubens- und Gewissensfreiheit jedem Einwohner unabhängig von seinem Bekenntnis. Die Loslösung von konfessionellen Schranken ist der große Fortschritt dieses Gesetzes. Das Verständnis der Gewissensfreiheit hingegen wandelt sich auch im ALR nicht, da es mit dem Doppelbegriff der Glaubens- und Gewissensfreiheit das Recht auf Hausandacht gewährt.187 Zur Untermauerung dieser These muss §  1 dieses Gesetzesabschnittes zur Deutung hinzugezogen werden. Dort wird festgelegt: „Die Begriffe der Einwohner des Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube, und der innere Gottesdienst, können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen seyn [sic!].“188 Dieser Paragraf definiert die inhaltliche Reichweite der in § 2 genannten Freiheit: Die Einwohner Preußens besitzen volle Glaubensfreiheit, d. h. sie sind frei in ihren Vorstellungen von Gott und anderen Glaubensinhalten. Außerdem unterliegt der sog. innere Gottesdienst keinem äußeren Zwang. Mit dem inne183 Vgl. Gerhard Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, Berlin/

Heidelberg 2008, 4, Rd.-Nr.: 7. 184 Stephan Meder, Rechtsgeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2002, 220 f. 185 Vgl. Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche

Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010, 96. 186 Zitiert nach: Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 24. 187 Vgl. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 59. 188 Zitiert nach: Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 24.

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ren Gottesdienst dürften alle Formen der persönlichen Frömmigkeitsübungen gemeint sein. Somit hat der preußische Bürger das Recht, im Privaten seinem Glauben Ausdruck zu verleihen. Dies wiederum bedeutet, dass er das Recht auf freie Hausandacht hat. Wie die inhaltliche Analyse zeigt, sind Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit lediglich zwei unterschiedliche Namen für ein einziges Freiheitsrecht. Auch das ALR versteht  – wie die Bestimmungen des Westfälischen Friedens  – unter dem Gewissen einzig ein religiöses und nicht ein sittliches Gewissen. Ihm wird zwar die Funktion zugewiesen, in Fragen der Religionswahl und der persönlichen Frömmigkeit individuelle Entscheidungsinstanz zu sein, nicht jedoch in der sittlichen nicht-religiösen Lebensführung.

b) Die Umsetzung der Bestimmungen des ALR Folgt man den Buchstaben des Gesetzes in Bezug auf die Glaubensfreiheit, präsentiert sich das Preußen dieser Zeit als moderner und liberaler Staat. Doch wie sah die praktische Umsetzung dieses Gesetzes aus? Interessanterweise gibt uns die Diskussion über die Grundrechte der Nationalversammlung in der Paulskirche einen Hinweis, wie die Bestimmungen des ALR umgesetzt wurden. In der Debatte um die religiöse Freiheit wird folgende Wortmeldung eines Abgeordneten protokolliert: Glaubens- und Gewissensfreiheit. Denn gerade diese Worte sind es gewesen, unter deren Firma man die abscheulichste Knechtung gewagt hat. Gerade die Glaubens- und Gewissensfreiheit war es, die auch im preußischen Landrecht von jeher den Preußen garantirt [sic!] war. Wenn man aber mit der Glaubensfreiheit Ernst, und sie geltend machen wollte, da hieß es: ‚Halt! Glauben darfst du wohl, was du willst, aber sagen darfst du es nicht.‘ […] Und die Gewissensfreiheit sollte dem Einzelnen das Recht garantieren, sich derjenigen Genossenschaft anzuschließen, zu welcher sein Gewissen ihn trieb. Wenn nun aber das Gewissen Jemand zu keiner der Genossenschaften trieb? Ja, da hieß es wieder: ‚So ist es mit der Gewissensfreiheit nicht gemeint!‘189

Dieser subjektive historische Einblick verdeutlicht uns, dass der Umsetzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit offensichtlich enge Grenzen gesetzt sind. Zugleich zeigt sich hier aber auch: Eine Freiheit, die allein auf das forum internum ausgelegt ist, wird dem Freiheitsbedürfnis und Selbstverständnis der Bürger nicht mehr gerecht.

189 Zitiert nach: Heinrich Scholler (Hg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche.

Eine Dokumentation, Darmstadt 21982, 154 f.

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Die anderen deutschen Nationalstaaten passen sich in der Folgezeit dieser Grundrechtsentwicklung an. Auf diese Weise findet die Gewissensfreiheit Eingang in die unterschiedlichen Verfassungen der Länder.190 Dabei verändert sich die Ausrichtung der Gewissensfreiheit jedoch nicht – sie bleibt beschränkt auf das Recht der freien Hausandacht.

2.1.4 Die Paulskirchenverfassung (PKV) Ein weiteres wichtiges Datum für die deutsche Grundrechtsgeschichte ist der 28.03.1849. An diesem Tage wurde die PKV verabschiedet, in der erstmals der Versuch unternommen wurde, einen einheitlichen Grundrechtskatalog für alle Deutschen zu formulieren.191 Als die Idee eines deutschen Staats scheitert, verliert auch die PKV ihre Bedeutung und wird 1851 durch einen Beschluss der Bundesversammlung formell aufgehoben.192 Rein äußerlich entfaltet die PKV keine rechtliche Wirkung, jedoch ist ihre Ausstrahlung enorm. Weitere einzelne Länderverfassungen, die Weimarer Reichsverfassung und in deren Folge letztlich auch das deutsche Grundgesetz sind von den dort formulierten Rechten inspiriert.193 Die Äußerungen zur Gewissensfreiheit der PKV hingegen tragen nicht zu einer weitergehenden Klärung des Begriffs bei. In § 144 heißt es: „Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“194 Hier findet sich die bereits bekannte Doppelformel der Glaubens- und Gewissensfreiheit wieder. Dieser Paragraf am Anfang des V. Artikels, in dem die religiösen Angelegenheiten der deutschen Bürger geregelt sind, wird durch die Paragrafen 145 bis 151 ausgelegt und konkretisiert. Zur Glaubens- und Gewissensfreiheit gehören danach u. a. das Recht auf häusliche und öffentliche Religionsübung195, das Selbstverwaltungsrecht der Religions-

190 Z. B. in § 9 des IV. Titels der Verfassungsurkunde für das Königreich Baiern vom 26.05.1818,

191 192 193

194 195

in § 24 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25.09.1819, in § 30 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 05.01.1831. Der Wortlaut der Verfassungen kann gefunden werden in: Hermann-Josef Blanke, (Hg.), Deutsche Verfassungen. Dokumente zu Vergangenheit und Gegenwart, Paderborn/München/Wien/ Zürich 2003, 84–103. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 33. Vgl. ebd. 32. Vgl. Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), Königstein/Ts. 21981, 319–345, 330. Zitiert nach: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 122. Vgl. § 145 PKV.

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gemeinschaften196, die Freiheit, neue Religionsgemeinschaften zu bilden197 und die Freiheit vom Zwang zu kirchlichen Handlungen und Feiern.198 Die Gewissensfreiheit wird somit auch in der PKV nicht als selbständiges Recht erfasst und kann nicht von der Glaubensfreiheit getrennt werden. Eine Neuerung ist allerdings erwähnenswert: Die PKV unterscheidet als erstes gesamtdeutsches Rechtsdokument nicht zwischen anerkannten und nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften.

2.1.5 Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) Die PKV blieb – wie bereits erwähnt – ohne rechtliche Wirkung. Erst der WRV vom 11.08.1919 wird der Titel der ersten demokratischen deutschen Verfassung zugesprochen.199 Die WRV entfaltet eine breite Grundrechtskonzeption: Die Grundrechte und -pflichten der Deutschen werden durch 57 der insgesamt 181 Artikel geregelt. Innerhalb des 2. Hauptteils behandelt der 3. Abschnitt die Religion und Religionsgesellschaften. In eben diesem Abschnitt sind die Aussagen zur Glaubens- und Gewissensfreiheit formuliert. Mit Art.  135 beginnt dieser Verfassungsabschnitt wie folgt: Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.200

Unter Berücksichtigung der bisherigen Geschichte des Rechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ist dieser Artikel wenig überraschend formuliert. Doch gerade aus der Geschichte und der Entfaltung der Glaubens- und Gewissensfreiheit heraus, sei es  – wie Ulli Rühl anmerkt  – zumindest merkwürdig, die Doppelformel in der WRV zu finden.201 Bereits in der PKV wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit in verschiedene Teilrechte ausgedeutet. Das ursprüngliche Verständnis der Gewissensfreiheit, also die Bekenntnisfreiheit und das Recht auf freie Hausandacht, löst sich aus dem Begriff der Gewissensfreiheit und wird 196 197 198 199 200 201

Vgl. § 147 Satz 1 PKV. Vgl. § 147 Satz 3 PKV. Vgl. § 148 PKV. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 41. Zitiert nach: Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 268. Vgl. Ulli Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt. Zum Verhältnis von Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates, Frankfurt a. M./Bern/New York 1987, 9.

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eigens benannt. Damit – so Rühl – hätte sich im Grunde eine Erwähnung der Gewissensfreiheit im Verfassungstext erübrigt. Zur Unterstützung dieser Schlussfolgerung ließe sich auch Martin Borowski anführen. Denn er betont, dass die WRV bezogen auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit der PKV „keine grundsätzlich neuen Grundrechtsgehalte hinzugefügt“202 hat. Ist also die Erwähnung der Doppelformel »Glaubens- und Gewissensfreiheit« in der WRV nur eine historische Reminiszenz?

a) Die Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext des 3. Abschnitts des 2. Hauptteils der WRV Nach der Gewährung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 135 wird diese in den folgenden Artikeln in ihren verschiedenen Auswirkungen festgelegt. So regelt Art. 136 die persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 137 und 138 treffen Bestimmungen über das Zustandekommen, den Status und die finanzielle Sicherung von Religionsgesellschaften, Art. 139 schützt die Sonntagsruhe und Art. 140 und 141 konkretisieren diese Freiheit hinsichtlich der Wehrmacht und der Seelsorge in verschiedenen öffentlichen Anstalten. Es ist auffallend, dass in Art. 136 nicht mehr von Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern von Religionsfreiheit die Rede ist. So heißt es dort im ersten Satz: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“203 Damit entsteht der Eindruck, der Begriff der Religionsfreiheit sei die Zusammenfassung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und alle weiteren Aussagen seien Entfaltungen der Religionsfreiheit. Demnach hätte Art. 135 gleichsinnig auch lauten können: »Alle Bewohner des Reichs genießen volle Religionsfreiheit«. Für diese Auslegung spricht auch ein zeitgenössischer Kommentar der WRV. Godehard Ebers legt dort das Zueinander von Glaubens- und Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit dar: Allen Bewohnern des Reiches wird durch die Reichsverfassung volle Religionsfreiheit gewährleistet. Diese umfasst drei einzelne Freiheitsrechte: die Bekenntnisfreiheit, d. h. die Glaubens- und Gewissensfreiheit […], die Kultusfreiheit […] und die religiöse Vereinigungsfreiheit […].204

202 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 47. 203 Zitiert nach: Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 268. 204 Godehard Josef Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, München 1930, 150.

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In der Tat spricht die Auslegung im Kontext dieses Abschnitts für die These von Borowski. Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit hatte sich nicht geändert. Somit könnte man mit Rühl zu der Überzeugung kommen, die Aufnahme der Doppelformel wäre nicht zwingend notwendig gewesen. Aber diese Form der Verfassungsexegese wird der WRV nicht gerecht, denn in ihr wird anfanghaft ein verändertes Verständnis der Gewissensfreiheit deutlich.

b) Das neue Verständnis der Gewissensfreiheit Die WRV ist nicht nur wegen ihrer historischen Bedeutung ein wichtiges Dokument für die Geschichte der Gewissensfreiheit in Deutschland. In ihr wird auch erstmals sichtbar, dass die Gewissensfreiheit auch von der Religionsfreiheit losgelöst verstanden werden kann. In Ebers Kommentar stößt man nämlich plötzlich auf eine Neuinterpretation der Gewissensfreiheit: Die Bekenntnisfreiheit besteht in der durch keine äußeren Nachteile beschränkten individuellen Freiheit, eine bestimmte Überzeugung von Gott [oder einer Gottheit] und göttlicher Weltordnung zu besitzen, diese Überzeugung zu ändern oder überhaupt auf eine positive Überzeugung zu verzichten [Glaubensfreiheit], und sein sittliches Verhalten nach seiner Überzeugung einzurichten [Gewissensfreiheit].205

Unerwartet beschreibt Ebers die Gewissensfreiheit nun als ein Freiheitsrecht, das auf das persönliche sittliche Verhalten ausgerichtet ist. Diese Interpretation bringt eine vollkommen neue Sicht auf das Gewissen und die Gewissensfreiheit mit sich. War Gewissen bisher immer religiöses Gewissen und Gewissensfreiheit immer Bekenntnis- und (eingeschränkte) Kultfreiheit, so zeigt er, dass es auch ein weitergehendes Verständnis des Gewissens geben kann. Der zitierte Text lässt zwar vermuten, dass sich für Ebers die Gewissensüberzeugungen aus den geglaubten religiösen Inhalten speisen, der Gewissensspruch aber nicht nur Autorität in Religionsfragen, sondern ebenso in sittlichen Verhaltensfragen beansprucht. Für dieses neuartige Verständnis findet sich auch ein Hinweis in der Verfassung selbst. Denn an einer ganz anderen Stelle, in Art.  21 wird folgendes bestimmt: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.“206 Dieser Artikel ist ein Hinweis darauf, dass die WRV zweierlei Ausprägungen des Gewissens kennt: Zum einen das religiöse Gewissen und zum anderen das sittliche Gewissen. Als persönliche

205 Ebd. 151. Die Zusätze in den eckigen Klammern finden sich so im Originaltext und sind

keine Hinzufügungen des Autors dieser Untersuchung. 206 Zitiert nach: Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 251.

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Handlungsnorm der Abgeordneten wird das je eigene Gewissen anerkannt. Mit anderen Worten: Den Abgeordneten wird eine »neue« Form der Gewissensfreiheit zugesprochen. Sie sind in ihren Entscheidungen frei, ausschließlich ihrem Gewissen zu folgen. Die WRV bringt die deutsche Grundrechtsdogmatik hinsichtlich der Gewissensfreiheit somit einen entscheidenden Schritt weiter. Durch die unterschiedlichen Erwähnungen des Gewissens im Verfassungstext können die damaligen Grundrechtsinterpreten die alte Verknüpfung von Gewissen und Religion bzw. Glaube lösen. Die WRV macht den Weg frei, die Gewissensfreiheit im Sinne einer gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit zu deuten.207

c) Zur Beschränkung der Gewissensfreiheit in der WRV Art. 135 schränkt die Gewissensfreiheit allerdings insoweit ein, als er bestimmt, dass die allgemeinen Staatsgesetze von diesem Freiheitsrecht unberührt bleiben. Die gesetzlichen Bestimmungen des Staats bilden somit den Rahmen, der dieses Recht eingrenzt. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt demnach nur in einer sehr eingeschränkten Weise: Bei Gewissenskonflikten des Bürgers im Zusammenhang mit jeglichen Arten von Gesetzen wird dem Gesetz der Vorrang vor der individuellen Gewissensentscheidung eingeräumt. Die Unterordnung der Gewissensfreiheit unter die staatliche Gesetzgebung hat zur Folge, dass das individuelle Gewissen nicht in der Rechtsprechung berücksichtigt zu werden braucht. Im Zweifelsfall hat der Bürger also seine Gewissensüberzeugung der Gesetzgebung unterzuordnen, wenn er nicht sanktioniert werden möchte. Das Recht der Gewissensfreiheit kann demzufolge höchstens als ein innerliches Recht verstanden werden: Es garantiert die Freiheit der sittlichen Entscheidung. Eine Handlungsfreiheit aufgrund einer Gewissenentscheidung stößt hingegen auf die Grenze der allgemeinen Gesetzgebung. Die Möglichkeit, Gesetzesausnahmen oder alternative Bestimmungen bezüglich der Gewissensfreiheit einzelner zu gewähren, sieht ein solch enger und allgemeiner Gesetzesvorbehalt nicht vor. Aus diesem Grund fällt nach Erhard Mock das Fazit zur »neuen« Gewissensfreiheit ernüchternd aus: Der allgemeine Gesetzesvorbehalt hatte zur Folge, dass die neue Vorstellung der Gewissensfreiheit theoretischer Natur blieb und in der Praxis keine Bedeutung hatte.208

207 Vgl. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, 134. 208 Vgl. ebd.

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2.1.6 Die Gewissensfreiheit in der NS-Zeit Prinzipiell gilt die WRV auch in der Zeit der Herrschaft des Nazi-Regimes in Deutschland weiter. Allerdings erfährt die Verfassung einschneidende Veränderungen. Dies geschieht vor allem durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.02.1933 und dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24.03.1933.

a) Die Gesetzesgrundlagen Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die auch als »Reichstagsbrandverordnung« bekannt ist, beruft sich auf Art. 48 Abs. 2 WRV.209 Dort heißt es: Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.210

Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28.02.1933 macht Reichspräsident Paul von Hindenburg von dieser Möglichkeit Gebrauch und setzt folgende Grundrechte und -freiheiten der Reichsbürger außer Kraft: die Freiheit der Person, den Schutz der Wohnung, das Briefgeheimnis, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Eigentums. Formell wird mit der »Reichstagsbrandverordnung« zwar die Glaubensund Gewissensfreiheit nicht außer Kraft gesetzt, aber die Aufhebung der genannten Artikel zeigt, wie damit auch indirekt die Möglichkeiten der Gewissensfreiheit eingeschränkt werden. Jeder Andersdenkende muss nun in der ständigen Angst leben, aufgrund seiner Überzeugungen unter dem Deckmantel der Sicherung der öffentlichen Ordnung schwer bestraft zu werden. Der starke äußere Druck auf die Bewohner des Reichs führt folglich das geltende Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit ad absurdum.

209 „Auf Grund des Artikels 48 Absatz 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommu-

nistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet: […].“ Zitiert nach: Horst Hildebrandt (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 101977, 111. 210 Zitiert nach: Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 255.

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten

Von Meder als „Kernstück des neuen Verfassungsrechts“211 gedeutet, ermöglicht das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sog. »Ermächtigungsgesetz«, in Artikel 2 der Reichsregierung, Gesetze zu erlassen, die von der Reichsverfassung abweichen.212 Die Reichsregierung kann nun zudem gemäß Artikel 1 des »Ermächtigungsgesetzes« Gesetze eigenmächtig erlassen und muss sich nicht mehr an die vorgesehenen Verfahren halten.213 Faktisch ist die Reichsregierung ab jetzt nicht mehr an die WRV gebunden. Und da die Grundrechte integraler Bestandteil der WRV sind, d. h. nicht über der WRV stehen, ist die NSRegierung den Grundrechtsbestimmungen gegenüber nicht mehr verpflichtet.

b) Nationalsozialistische Ideologie und Gewissensfreiheit Ausgehend von den dargestellten Gesetzesgrundlagen ist die Gewissensfreiheit formell nicht aufgehoben. Borowski zeigt allerdings auf, dass die nicht aufgehobenen Grundrechte entweder nicht beachtet werden oder eine Neuinterpretation durch die nationalsozialistische Ideologie erfahren.214 Innerhalb der nationalsozialistischen Rechtsauffassung zählt nämlich das einzelne Individuum nichts, sondern hat sich den Zielen und Ansprüchen der Volksgemeinschaft unterzuordnen.215 Diese starke Gemeinschaftsideologie ist für die Ansprüche Einzelner gegenüber der Gesellschaft nicht offen. Schon gar nicht kann ein Denken oder Handeln toleriert werden, in dem sich ein Widerstand gegen das Gemeinschaftsethos manifestiert. Das Ziel der nationalsozialistischen Führung ist die vollkommene Gleichschaltung aller Reichsbürger und die Ausschaltung jeglicher individuellen Moral. An die Stelle persönlicher Moralvorstellungen rückt der Wille des Führers, der für sich einen Absolutheitsanspruch reklamiert.216 Zeitgenössische Aussagen wie »Führer befiehl, wir folgen dir«217 oder Hermann Görings Ausspruch »Ich habe kein Gewissen. Adolf Hitler ist mein 211 Meder, Rechtsgeschichte, 313. 212 „Die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze können von der Reichsverfassung

213

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abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.“ Zitiert nach: Hildebrandt (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, 112. „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. […].“ Zitiert nach: Hildebrandt (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, 112. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 50. Vgl. Meder, Rechtsgeschichte, 314. Vgl. Horn, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit, 81. Aus dem Refrain des Liedes „Von Finnland bis zum Schwarzen Meer“.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

Gewissen« verdeutlichen, „dass die Versklavung bis in die innersten Bindungen hinein geplant und realisiert wurde.“218 Die Zeit von 1933 bis 1945 ist in vielerlei Hinsicht eine finstere Zeit. In Bezug auf die Grundrechte wird in dieser Zeit eine jahrhundertelange Entwicklung nicht nur abrupt gestoppt, sondern geradezu umgekehrt. Konnte bisher eine Entfaltung der Grundrechtsidee im Verlauf der Geschichte festgestellt werden, so ist diese Epoche in jeder Hinsicht durch die Beschneidung und Zurückdrängung der Grundrechte geprägt.

2.1.7 Die Gewissensfreiheit in den deutschen Verfassungen nach 1949 Eine politische Folge des II. Weltkriegs war die Teilung Deutschlands in zwei Staaten: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die BRD. Bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990 gab es deshalb auch zwei Verfassungstexte, die »Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik« und das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland«. Erst am 03.10.1990 trat das Grundgesetz auch im Rechtsgebiet der ehemaligen DDR in Kraft.219

a) Die Gewissensfreiheit in der Verfassung der DDR220 Die letzte gültige Verfassung der DDR (VDDR) wurde am 06.04.1968 per Volksentscheid verabschiedet221 und blieb seit dem 07.10.1974222 unverändert.223 218 Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 98. 219 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 409. 220 Der Text der Verfassung wird zitiert nach: Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 337–

360. 221 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 385. 222 Vgl. Blanke (Hg.), Deutsche Verfassungen, 337. 223 Die erste Verfassung der DDR wurde am 07.10.1949 verabschiedet und war bis zur Ver-

fassung von 1968 gültig. Bezüglich der Gewissensfreiheit ist dieser Verfassungstext offensichtlich stark vom Text der WRV geprägt. Denn die Glaubens- und Gewissensfreiheit wird hier nicht unter dem Abschnitt I („Rechte des Bürgers“) des Verfassungsteils B („Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt“) behandelt, sondern in Abschnitt V („Religion und Religionsgemeinschaft“) dieses Verfassungsteils. Dort heißt es in Artikel 41: „Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik. Einrichtungen von Religionsgemeinschaften, religiöse Handlungen und der Religionsunterricht dürfen nicht für verfassungswidrige oder parteipolitische Zwecke mißbraucht werden. Jedoch bleibt das Recht der Religionsgemeinschaft, zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen, unbestritten.“ (Zitiert nach: Hildebrandt (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, 207.) Die ersten beiden Sätze orientieren sich sehr stark an Art. 135

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten

Willoweit attestiert dieser Verfassung, dass sie keine überzeugende Grundrechtssystematik aufweist.224 Dieser Mangel dürfte das Resultat des prinzipiellen Grundrechtsverständnisses der DDR sein. Grund- bzw. Menschenrechte sind nämlich innerhalb des Sozialismus keine vorstaatlichen Rechte.225 Sie sind somit auch nicht der Maßstab für die Ausgestaltung einer menschlichen Gesellschaft, wie es z. B. Art. 1 Abs. 2 GG deklariert, vielmehr ist die Gesellschaftsform Maßstab für die Ausgestaltung der Grundrechte.226 In dem Einleitungsartikel zum II. Abschnitt »Bürger und Gemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft« der VDDR wird der Bestimmungsgrund der Grundrechte daher folgendermaßen expliziert: Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluss zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit. Die Beziehungen der Bürger werden durch gegenseitige Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer Moral geprägt.227

Individualrechte sind also in ihrer Zielrichtung auf den Nutzen für die sozialistische Gemeinschaft ausgelegt, jedoch nicht auf das Wohl des Einzelnen. Ein so verstandenes Konzept der Individualrechte erklärt sich aus dem sozialistischen Verständnis des Zueinanders von Staat und einzelnem Bürger. Die Vorstellung, dass die Grundrechte von ihrer prinzipiellen Funktion her dem Bürger einen Schutzraum gegenüber dem Zugriff des Staats garantieren sollen, findet in der sozialistischen Staatstheorie keinen Platz. Denn:

224 225 226

227

WRV. Auch die weitere Erwähnung der Gewissensfreiheit in Art. 50 zur Gewissensfreiheit der Abgeordneten ist eine wörtliche Übernahme des entsprechenden Artikels der WRV. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass die Urheber der ersten Verfassung der DDR nicht über das Verständnis der Gewissensfreiheit aus der Weimarer Zeit hinauskamen. Interessanterweise findet sich in der Verfassung von 1974 kein Hinweis mehr auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten. Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 383. Vgl. ebd. 382. Vgl. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.), Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, Berlin 21984, 176. Hier heißt es: „Die von den sozialistischen Gesellschaftsbedingungen determinierten Grundrechte sind Rechte nicht nur für den Menschen, sondern auch des Menschen.“ Art. 19 Abs. 3 VDDR.

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit Der sozialistische Staat ist das Machtinstrument der Werktätigen, die nicht vor der Macht abgeschirmt und geschützt werden müssen, die sie selbst revolutionär geschaffen haben und ausüben.228

Innerhalb dieses Gesamtkontextes muss daher auch die Gewissensfreiheit verstanden werden. Sie wird in Art. 20 VDDR gewährleistet und dort im Zusammenhang des Gleichheitsgrundsatzes erwähnt: Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat unabhängig von seiner Nationalität, seiner Rasse, seinem weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnis, seiner sozialen Herkunft und Stellung die gleichen Rechte und Pflichten. Gewissens- und Glaubensfreiheit sind gewährleistet. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich.229

In der Grundrechtssystematik der DDR werden die Grundrechte in vier Klassen aufgeteilt: Politische Rechte, persönliche Rechte, sozialökonomische Rechte und kulturelle Rechte.230 Die Gewissensfreiheit ist hierbei den persönlichen Rechten zugeordnet.231 Die enge Verknüpfung zwischen dem Grundrechtsverständnis und der sozialistischen Ideologie zeigt sich besonders an der Interpretation der Gewissensfreiheit. Ihre Definition lautet nämlich wie folgt: Gewissensfreiheit ist die vom Bewusstsein der Verantwortung für den Mitmenschen, die Gesellschaft und den Staat getragene Einstellung und Haltung; sie ist jedem Bürger durch die Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten gesicherte Gewissheit, frei und unbeeinträchtigt für die humanistischen Menschheitsideale, für Sozialismus, Frieden, Demokratie und Völkerfreundschaft eintreten zu können und dabei die Unterstützung und den Schutz der Gesellschaft und der Staatsmacht zu finden.232

Gewissensfreiheit bedeutet demnach, dass der einzelne Bürger frei ist in seinen Überzeugungen und Handlungen, sofern er für die Ziele des sozialistischen Staats eintritt. Eigene eventuell abweichende moralische oder politische Überzeugungen werden vom Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht abgedeckt. Diese Auslegung der Gewissensfreiheit veranlasst Borowski zu der Aussage, dass Gewissensfreiheit in der DDR „nach dem Wortlaut“233 der Verfassung garantiert wird.

228 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.), Staatsrecht der

DDR, 181. 229 Art. 20 Abs. 1 VDDR. 230 Vgl. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.), Staatsrecht

der DDR, 188. 231 Vgl. ebd. 232 Vgl. ebd. 200. 233 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 52

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Die Gewissensfreiheit im (Verfassungs-)Recht der BRD und ihrer Vorgängerstaaten

b) Die Gewissensfreiheit im Grundgesetz für die BRD Das Grundgesetz für die BRD wurde am 23.05.1949 verkündet und erlang somit Geltung. Die Entstehung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat kann nicht losgelöst von den Erfahrungen der Deutschen während der NaziZeit betrachtet werden.234 Willoweit spricht daher vom Grundgesetz als einer „vergangenheitsorientierte[n] Schöpfung“235. Die Möglichkeit, elementare Freiheitsrechte zu verlieren, soll im zukünftigen Deutschland nicht mehr möglich sein. Die Konzeption der Grundrechte basiert daher auf einem Naturrechtsdenken.236 Innerhalb dieses Grundrechtsverständnisses kommt dabei dem Art. 1 GG herausragende Bedeutung zu. Der bleibende Grund für die Menschen- und Grundrechte ist die unantastbare Menschenwürde; diese wiederum bilden das normative Fundament für die Organe des Staats. Folgerichtig werden die höchstindividuellen Grundrechte nicht nur den deutschen Staatsbürgern, sondern allen Menschen zugesprochen. Diese sind: Die Handlungsfreiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, der Gleichheitsgrundsatz, die Glaubens-, Gewissensund Bekenntnisfreiheit und die Meinungsfreiheit.237 Von diesem Ansatz her ist es plausibel, dass der Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Grundgesetz seine größte Ausprägung innerhalb der deutschen Verfassungsgeschichte erfährt.238 Hervorzuheben ist dabei auch, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit innerhalb der grundsätzlichen Beratungen des Parlamentarischen Rates kaum umstritten war.239 Für Tiedemann sind die diesbezüglichen Ausführungen des Grundgesetzes zum damaligen Zeitpunkt sogar in der gesamten europäischen Rechtsgeschichte einmalig.240 Die abschließende Formulierung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im deutschen Grundgesetz lautet von nun an: (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

234 Vgl. Horn, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit,

82. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 343. Vgl. ebd. Art. 2 – Art. 5 GG. Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Entwicklung der Grundund Menschenrechte, 95. 239 Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 58. 240 Vgl. Paul Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, Berlin 2007, 29 235 236 237 238

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.241

Mit dem Grundgesetz hat sich die Gewissensfreiheit endgültig von den religiösen Verbindungen der Vergangenheit gelöst. Die Gewissensfreiheit wird nicht mehr – wie noch in der WRV – im Zusammenhang der Religionsgemeinschaften erwähnt. Daher findet auch Art. 135 WRV innerhalb der inkorporierten Artikel gemäß Art. 140 GG keine Erwähnung. Die Gewissensfreiheit ist nicht mehr Bestandteil der Beziehungen von Religionsgemeinschaften und Staat, sondern der des einzelnen Individuums mit dem Staat.242 Die Ausdeutung und Bestimmung der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden; dieser Thematik widmet sich das nächste Kapitel. Abschließend sei noch erwähnt, dass das Grundgesetz in Anlehnung an die WRV in Art. 38 GG die Abgeordneten des deutschen Bundestages in ihren Entscheidungen allein ihrem Gewissen unterwirft.

2.2 Die Genese der Gewissensfreiheit in Deutschland – ein verfassungsgeschichtlicher Unfall? In der Einleitung dieses Abschnitts findet sich die These, dass die Gewissensfreiheit nach Einführung der allgemeinen Religionsfreiheit als ein Versehen aufgefasst werden müsse.243 Wie ist diese Aussage nun zu bewerten? In der Tat ist es erstaunlich, wie die Gewissensfreiheit im längsten Teil ihrer Rechtsgeschichte inhaltlich bestimmt wurde: Es konnte festgestellt werden, dass in der Zeit vom Augsburger Religionsfrieden bis zur WRV die Gewissensfreiheit ein terminus technicus für ein Teilrecht der Religionsfreiheit war. Dieser Befund lässt sich mit der Begriffsgeschichte des Wortes »Gewissen« nur schwer in Einklang bringen. Denn die Exklusivität auf den religiösen Bereich ist kein wesentlicher Bestandteil der theologischen und philosophischen Reflexion auf das Gewissen. Das Wort »Gewissen« als Übersetzung des griechischen »syneidesis« bzw. des lateinischen »conscientia« bedeutet ursprünglich »Mitwissen«. Beide Begriffe bilden etwa ab dem 1. Jh. v. Chr. feststehende Begriffe für das Wissen um ethische Gehalte.244 Bei allen Erklärungs- und Deutungsversuchen des Gewissens hat sich

241 242 243 244

Art. 4 GG. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 110. Vgl. dazu Fußnote 172 des I. Kapitels. Vgl. Konrad Hilpert, Gewissen. II. Theologisch-ethisch, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), LThK, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 621–626, 622.

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im Laufe der Jahrhunderte dieses Grundverständnis nicht verändert.245 Die offensichtliche Abkopplung des Rechtsbegriffs der Gewissensfreiheit vom philosophischen Verständnis des Gewissens hat seine Ursache vermutlich in der Reformation und der lutherischen Vorstellung des Gewissens. Denn für Luther war das Gewissen eher ein religiöses denn ein sittliches Phänomen.246 Er, der – wie bereits beschrieben – den Begriff der Gewissensfreiheit prägte, verstand darunter nämlich nicht Form und Ausdruck der sittlichen Eigenverantwortung des Einzelnen, sondern die Befreiung des Gewissens von den Werken zur Rechtfertigung vor Gott.247 Damit erhielt das Gewissen eine explizit religiöse Konnotation. Diese religiöse Einengung des Gewissens wurde durch die Folgen der Reformation noch verstärkt. Jede Christin und jeder Christ war nun gezwungen, sich zu den verschiedenen Konfessionen zu positionieren. Diese Entscheidungsmöglichkeit verband sich mit der Frage, welches Rechtfertigungsmodell für den Einzelnen plausibler wirkte. Rechtfertigungslehre, Konfessionswahl und Gewissen vermischten sich so zu einem sich wechselseitig bedingendem Beziehungsgeflecht. Unter diesem Vorzeichen erscheint es verständlich, dass die Gewährung einer religiös orientierten Gewissensfreiheit die einzige Möglichkeit des Staats war, um die Religionskriege zu beenden.248 Von da an tat sich die »deutsche Grundrechtslehre« schwer damit, diese Verbindungen wieder zu lösen. Erst unter dem Eindruck der Grauen der nationalsozialistischen Regierung und des II. Weltkriegs sprachen sich die Väter des Grundgesetzes für eine Gewissensfreiheit aus, die dem Gewissen in rechtlicher Hinsicht die Funktion eines moralischen Kompasses zurückgab.249 Die Geschichte der Gewissensfreiheit in Deutschland hat gezeigt: Zunächst war sie primär ein Instrument zur Sicherung des (religiösen) Friedens innerhalb Deutschlands. Die Schrecken des Nationalsozialismus zeigten dann aber, dass die Unterdrückung der sittlichen Gewissen der Bürger den demokratischen Staat und auch den internationalen Frieden gefährden kann. Das Grundgesetz leistet mit seiner Rückbesinnung auf den eigentlichen Gehalt des Gewissens daher einen Beitrag zur Sicherung des persönlichen Friedens der Bürger, der demokratischen Grundordnung und des internationalen Friedens.250

245 Vgl. Helmut Weber, Was man früher vom Gewissen hielt. Geschichtliche Durchblicke,

246 247 248 249 250

in: Günter Koch/Josef Pretscher (Hg.), Streit um das Gewissen, Würzburg 1995, 27–52, 28 f. Vgl. ebd. 43. Vgl. dazu Fußnote 175 des I. Kapitels. Vgl. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, 20. Vgl. BVerfGE 12,45 (54). So heißt es dann auch in der Präambel zum Grundgesetz: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegebenen.“

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I. Kapitel: Historischer Überblick zur Gewissensfreiheit

3. Die Aussagen zur Gewissensfreiheit von kirchlichem Lehramt und deutscher Gesetzgebung im geschichtlichen Vergleich Vergleicht man die verschiedenen Aussagen zur Gewissensfreiheit, so lässt sich eine zeitliche Ungleichheit zwischen kirchlichem Lehramt und staatlicher Gesetzgebung feststellen. Im Westfälischen Frieden von 1648 findet sich der Begriff der Gewissensfreiheit erstmals in einem deutschen Rechtstext. Er wird danach kontinuierlich in allen späteren Verfassungstexten verwendet. Aber erst etwa 200 Jahre später, – im Jahr 1832  – beschäftigt sich Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mirari vos“ mit der Gewissensfreiheit als bürgerlichem Grundrecht. Dem damals gängigen Verständnis nach verstand er unter Gewissensfreiheit eine Form der Religionsfreiheit. Während die staatliche Gesetzgebung dieses Grundrecht gewährte, stellte sich das kirchliche Lehramt einem solchen Verständnis aber entgegen, da es u. a. den Abfall vom katholischen Glauben legitimiere. In einem nächsten richtungsweisenden Schritt erklärt Leo XIII. im Jahr 1888 in seiner Enzyklika „Libertas praestantissimum“, dass die Gewissensfreiheit nicht nur in Bezug auf das religiöse Leben, sondern auch auf das sittliche Leben der Bürger bezogen werden kann. Diese zweite Form der Gewissensfreiheit, die dem Verständnis des Gewissens als ein sittliches Mitwissen näher steht, wird grundsätzlich vom Lehramt begrüßt und auch für die Bürger eingefordert.251 Eine solche Unterscheidung wurde von der Gesetzgebung in Deutschland zunächst nicht rezipiert. Das Recht auf Gewissensfreiheit wurde zu diesem Zeitpunkt staatlicherseits nie als sittliche Entscheidungsfreiheit verstanden, sondern stets als Religionsfreiheit. Dieses neue, aber letztlich doch ursprünglichere Verständnis von »Gewissen«, kann in Deutschland dann erstmals 1919 in der Weimarer Reichsverfassung anfanghaft wahrgenommen werden. Den Wendepunkt der Gewissensfreiheit in Deutschland markiert schließlich das Grundgesetz von 1949. Das dort garantierte Recht auf Gewissensfreiheit wird von der Grundrechtsexegese als losgelöst von der Religionsfreiheit verstanden und schützt die sittliche Entscheidungshoheit des Bürgers durch sein Gewissen. War diese Form der Gewissensfreiheit also prinzipiell bereits durch Leo XIII. legitimiert, so dauerte es noch bis zum II. Vatikanischen Konzil (1962–1965), um auch die Religionsfreiheit lehramtlich anzuerkennen.

251 Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, dass Leo XIII. die sittliche Urteilskraft des

Gewissens an die unfehlbaren Weisungen des katholischen Lehramts gebunden sieht.

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Die Grenzen der Gewissensfreiheit im historischen Überblick

4. Die Grenzen der Gewissensfreiheit im historischen Überblick Der historische Überblick hat die vielfältigen Versuche gezeigt, die Gewissensfreiheit zu beschränken252, auch wenn dies kaum eigenständig reflektiert wurde. Die Geschichte hat aber auch erkennen lassen, dass die Grenzen immer weiter gefasst wurden und so dem Individuum ein immer größer werdender Entscheidungsspielraum zugebilligt wurde. Versucht man das Grundprinzip dieser Beschränkungsversuche zu ergründen, wird ein immer wiederkehrendes Prinzip erkennbar: die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Wie aufgezeigt wurde, sieht schon Gregor XVI. in den aufkommenden Freiheitsrechten eine Gefährdung für den Staat. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als Rahmen für die Gewährung von Freiheiten – auch der Gewissensfreiheit – lässt sich in allen lehramtlichen Aussagen bis einschließlich der Dokumente des II. Vatikanischen Konzils wiederfinden. Auch aus Sicht der Rechtsgeschichte ist dieses Prinzip der Grund für die Begrenzung der Gewissensfreiheit. So findet sich in den Dokumenten des Westfälischen Friedens die Formulierung: „Doch sollen Landsassen, Vasallen und Untertanen im Übrigen ihre Pflicht in schuldigem Gehorsam und Unterordnung erfüllen und zu keinerlei Unruhen Anlass geben.“253 Auch der Gesetzesvorbehalt der WRV lässt vermuten, dass dadurch die öffentliche Ordnung gewahrt bleiben soll. Die Gewissensfreiheit wurde also primär aus einer gesellschaftszentrierten Perspektive heraus begrenzt. Diese Sichtweise beantwortet allerdings noch nicht die Fragen, was unter einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu verstehen und wie diese Ordnung gewährleistet werden kann. Zudem fehlt die individualethische Perspektive völlig. Da das Gewissen eine höchstpersönliche Instanz ist, bleiben solche Versuche der Grenzsetzung immer defizitär, wenn sie dabei die Bedeutung des Gewissens für den Einzelnen außer Acht lassen. Eine umfassende Theorie der Grenzen der Gewissensfreiheit ist erst dann möglich, wenn sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft mit ihren aufeinander bezogenen Bedürfnissen ausreichend gewürdigt werden.

252 In ihrem Verständnis als Religionsfreiheit beispielsweise mit dem Grundsatz des kirch-

lichen Lehramts »der Irrtum besitzt kein Existenzrecht« oder mit einer rechtlichen Einschränkung auf staatlich anerkannte Religionen. 253 Art. V § 34. In: Pohanka (Hg.), Dokumente der Freiheit, 29.

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II. KAPITEL: ZUR AUSLEGUNG DES RECHTS AUF  GEWISSENSFREIHEIT IN DER DEUTSCHEN GRUNDRECHTSLEHRE

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Nachdem die Geschichte der Gewissensfreiheit dargelegt wurde, gilt es nun, sich ihrem aktuellen Verständnis zuzuwenden – beginnend mit einer Einführung in die deutsche Grundrechtsdogmatik. Für diesen Beginn sind vor allem zwei Gründe maßgebend: Die Aufnahme der Gewissensfreiheit in den Grundrechtskanon des Grundgesetzes hatte zur Folge, dass das Gewissen nicht mehr allein ein ethischer, sondern ebenso ein rechtlicher Begriff wurde. Um die Erscheinungsform der Gewissensfreiheit in unserer Gesellschaft angemessen zu würdigen, müssen demnach beide Perspektiven aufgezeigt und sowohl Parallelen als auch Differenzen zwischen diesen benannt werden. Diese Analyse wird vor allem im zweiten Teil dieses Abschnitts geschehen, wenn es um die Auslegung der Gewissensfreiheit geht. Das Hauptaugenmerk dieser Abhandlung gilt vor allem der ethischen Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit. Solche Eingriffe begegnen uns v. a. in der Form staatlicher Eingriffe in die individuelle Gewissensfreiheit, z. B. in der Frage, ob Ärzten die Möglichkeit einer gewissensbedingten Verweigerung der Durchführung von Abtreibungen untersagt werden solle.1 Bevor eine solche Frage überhaupt beantwortet werden kann, muss sich eine allgemeine Grundrechtsdogmatik fundamentaleren Fragestellungen zuwenden, so beispielsweise: • Wer kommt in den Genuss eines grundrechtlichen Schutzes? • Wie sind Grundrechtskollisionen zu lösen? • Was sind die Kennzeichen eines Eingriffs in ein Grundrecht? • Gibt es erlaubte Eingriffe oder sind alle Eingriffe verboten? Erst auf der Grundlage der Antworten auf diese und ähnliche Fragen kann ein spezielles Grundrecht in seiner Wirkweise verstanden werden. Ehe gefragt wird: »Wovor schützt die Gewissensfreiheit?«, ist zu fragen: »Wovor schützen die Grundrechte?«

1. Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik 1.1 Die Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes in ihrer Gesamtheit Für das Verständnis des Grundgesetzes und der Grundrechte ist Art. 1 GG fundamental. In den Auslegungen zum Grundgesetz wird dieser Artikel daher auch

1

Mit einer solchen Frage hat sich der Europarat am 07.10.2010 beschäftigt; in seiner Resolution 1763 (2010) hat er sich klar für die Gewissensfreiheit ausgesprochen. Die Resolution ist einsehbar unter: http://www.assembly.coe.int/Mainf.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta10/ERES1763.htm (abgerufen am 30.01.2012).

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik

als „die Wurzel aller Grundrechte“2 und als „Fundament der Verfassungsordnung, deren oberstes, unverfügbares Konstitutionsprinzip, gleichsam das Axiom der gesamten Rechtsordnung“3 bezeichnet. Man könnte sogar sagen, dass es im Grundgesetz eigentlich nur ein Grundrecht gibt – das der Menschenwürde. Alle anderen Grundrechte sind dann Konkretisierungen und Spezialisierungen dieser einen Fundamentalnorm.4 In seinem vollen Umfang lautet Art. 1 GG: (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.5

Um die Bedeutung der Grundrechte innerhalb des Grundgesetzes zu ermessen, ist zunächst der 3. Absatz dieses Artikels wichtig. Die Grundrechte werden hier als unmittelbar geltendes Recht charakterisiert. Die im Grundgesetz genannten Grundrechte sind demnach weit mehr als lediglich programmatische Erklärungen oder ideelle Grundsätze. Ihnen kommt echter Rechtscharakter zu. Dies hat zur Folge, dass sich der einzelne Bürger gegenüber der staatlichen Gewalt auf diese Grundrechte berufen kann.6 Diesem Umstand trägt das Grundgesetz dadurch Rechnung, dass über mögliche Grundrechtsverletzungen ein eigenes Rechtsprechungsorgan entscheidet: das Bundesverfassungsgericht.7 Ihm obliegt nach Art. 93 Abs. 1 GG auch die Auslegung des Grundgesetzes. Die explizite Nennung der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ist als Konkretisierung des Begriffs »staatliche Gewalt« in Art. 1 Abs. 1 GG zu verstehen.

2 3 4 5 6

7

BVerfGE 93, 266 (293). Axel Hopfauf, Einleitung, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 3–79, 56, Rd.-Nr.: 107. Vgl. Hans Hofmann, Art. 1, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 110–155, 114, Rd.-Nr.: 8. Art. 1 GG. Vgl. Michael Antoni, Artikel 1 [Menschenwürde, Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte], in: Dieter Hömig (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, BadenBaden 92010, 48–60, 59, Rd.-Nr.: 20. Vgl. Art. 93 Abs. 4a GG: „[Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:] über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Art.  1 Abs.  3 GG sichert so die explizite Vorrangstellung der Grundrechte vor allen anderen nationalen Gesetzeswerken.8 Das Grundgesetz und seine Grundrechte sind aber nicht nur oberste Rechtssätze für die staatliche Gewalt. Das BVerfG sieht darüber hinaus im Grundgesetz eine „wertgebundende Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts anerkennt“9. Diese wertgebundene Ordnung sieht es vor allem in den Grundrechten verankert und verbindet mit dieser Wertordnung eine „prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte“10. Fundament dieser Wertordnung ist der konkrete Mensch. Ausgehend von der unantastbaren Menschenwürde wird der Mensch wesentlich als Person verstanden, d. h. „von unverfügbarem Eigenwert, zu freier Entfaltung bestimmt“11. Neben der Personalität ist die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen eine wichtige Stütze des grundgesetzlichen Menschenbilds. Der einzelne Mensch wird als Teil einer Gemeinschaft wahrgenommen, der gegenüber er Rechte, aber auch Pflichten hat.12 Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Das Grundgesetz sieht die Grundrechte als fundamentale Rechtsnormen an, unter die sich die gesamte Staatsgewalt unterzuordnen hat. Daneben formulieren die Grundrechte eine Wertordnung, in deren Mittelpunkt der Mensch als eigenständige Person steht, die ihr Leben nicht isoliert, sondern als Teil einer Gemeinschaft verbringt.

1.2 Die Einteilung der Grundrechte 1.2.1 Überblick Nach Robert Alexy kann man Anspruchsrechte – also Rechte auf etwas –allgemein als eine dreistellige Relation auffassen: „a hat gegenüber b ein Recht auf G.“13 Damit werden in einem Recht also immer drei Positionen miteinander in Verbindung gebracht. Es gibt den Rechtsträger bzw. den Rechtsberechtigten, in diesem Fall Position a. Ihm gegenüber steht b, der Rechtsverpflichtete. Rechtsberechtigter und Rechtsverpflichteter werden über den Rechtsinhalt, den Anspruch G, miteinander in eine Beziehung gesetzt. Entscheidend bei dieser formalen Beschreibung ist nun, dass bei den Anspruchsrechten vom Rechtsverpflichteten eine

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Vgl. Hopfauf, Einleitung, 46, Rd.-Nr.: 87. BVerfGE 12, 45 (51). BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. Hopfauf, Einleitung, 59, Rd.-Nr.: 113. Vgl. BVerfGE 12, 45 (51). Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a. M. 1986, 171.

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Handlung erwartet wird.14 Diese Handlungserwartung kann entweder ein positives Handeln oder ein Unterlassen sein.15 Aus diesen beiden Handlungsansprüchen lassen sich in einer ersten Näherung auch die Grundrechte des Grundgesetzes klassifizieren.16 Wie bereits dargelegt, sieht das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte staatliche Gewalt in der Rolle des (Grund-)Rechtsverpflichteten. Verlangt nun ein Grundrecht in erster Linie von der staatlichen Gewalt eine Unterlassung, spricht man von einem Abwehrrecht. Ein typisches Beispiel für ein Abwehrrecht ist Art. 4 Abs. 1 GG, die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. In der Literatur werden die Abwehrrechte dem status negativus zugeordnet, der einen quasi staatsfreien Raum der persönlichen Lebensgestaltung und -führung garantieren soll.17 Demgegenüber gibt es Grundrechte, welche die staatliche Gewalt primär zu einem positiven Handeln verpflichten. Ein Beispiel hierfür ist Art. 6 Abs. 4 GG: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“. Diese Grundrechte werden als Leistungsrechte bezeichnet und sollen einen status activus bewirken.18 Vereinzelt werden die Abwehrrechte auch bürgerliche Freiheitsrechte, die Leistungsrechte staatsbürgerliche Rechte genannt.19 Neben den Abwehr- und Leistungsrechten werden als dritte Kategorie zur Unterscheidung der Grundrechte oftmals auch die Gleichheitsrechte erwähnt. Nach Sebastian Müller-Franken bewirken die Gleichheitsrechte, „dass die Menschen trotz ihrer tatsächlichen Verschiedenartigkeit rechtlich in bestimmten Beziehungen gleich bewertet werden.“20 Die Gleichheitsrechte sollen daher einen status relativus bewirken.21 Ein typisches Gleichheitsrecht ist in Art. 3 Abs. 1 GG formuliert: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ 14 15

16 17

18 19 20 21

Vgl. ebd. 172. Mit Martin Borowski kann als Unterschied zwischen einem positiven Tun und einem Unterlassen folgendes festgehalten werden: Bei einem positiven Handeln kommt es zu einer Zustandsänderung in der Wirklichkeit, die durch einen Akteur kausal verursacht wurde. Eine Unterlassung eines Akteurs bewirkt hingegen keine Zustandsänderung, obwohl er in der Lage gewesen wäre, diesen Zustand zu verändern. In diesem Sinne kann dann auch von einem Unterlassen gesagt werden, dass es eine Handlung ist. Vgl. dazu: Martin Borowski, Grundrechte als Prinzipien, Baden-Baden 22007, 211. Sicherlich könnten diese beiden Explikationen noch differenzierter herausgearbeitet werden, doch für eine erste Annäherung an eine Unterscheidung sollten sie genügen. Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 210. Vgl. Sebastian Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1. Allgemeine Grundrechtslehren, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 91–110, 95, Rd.-Nr.: 10. Vgl. Lothar Michael/Martin Morlok, Grundrechte, Baden-Baden 22010, 244, Rd.-Nr.: 487. So z. B. bei Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 95, Rd.-Nr.: 10. Ebd. 94, Rd.-Nr.: 7. Vgl. Hans Jarass, Vorbemerkung vor Art.  1. Allgemeine Grundrechtslehren, in: Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 112011, 15–37, 18, Rd.-Nr.: 2.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Diese Aufgliederung der Grundrechte findet zwar eine breite Zustimmung in der gegenwärtigen Literatur, doch darf dabei nicht übersehen werden, dass diese Einteilung idealtypisch zu verstehen ist. Sie dient dazu, Grundrechte formal nach ihren Funktionen zu unterscheiden, doch sind bei den einzelnen Grundrechten prinzipiell auch übergreifende Funktionsweisen möglich.22 Aus diesem Grund werden alternative Einteilungsschemata vorgeschlagen. Michael Sachs beispielsweise präferiert eine inhaltliche Ausdifferenzierung. Demnach könnten Grundrechte auch in prozessuale und materielle Rechte aufgeteilt werden.23 Als weiteres Alternativmodell schlägt er vor, die Grundrechte danach einzuteilen, welchem Lebenskreis sie zuzuordnen sind, „etwa dem (höchst-)persönlichen, dem politischen, dem kulturellen, dem familiären oder dem wirtschaftlichen Lebenskreis.“24 Bei aller Unschärfe erscheint es dennoch sinnvoll, bei der traditionellen Einteilung in Abwehr-, Leistungs- und Gleichheitsrechte zu verbleiben. Denn dieses Einteilungschema wird in der Mehrheit aller wissenschaftlichen Arbeiten zu den Grundrechten verwendet, zumal damit auch die Grundfunktionen der Grundrechte in anschaulicher Weise deutlich werden können. Diese drei speziellen Grundfunktionen ruhen nochmals auf einer allgemeinen Grundfunktion der Grundrechte auf: Sie schützen bestimmte grundrechtliche Güter und Positionen der Grundrechtsberechtigten gegenüber der Staatsgewalt. Sollte die Staatsgewalt in diese Grundrechtsgarantien eingreifen, so ist sie dazu verpflichtet, ihr Eingreifen zu rechtfertigen.25 Ohne eine ausreichende Rechtfertigung hat die Staatsgewalt ihr Eingreifen zu unterlassen bzw. muss die daraus resultierenden belastenden Folgen für die Bürger beseitigen.26 Diese Thematik wird später noch ausführlicher behandelt.27

1.2.2 Konkretion der Abwehrrechte Da die Gewissensfreiheit den Abwehrrechten zugeordnet wird, sollen diese hier nochmals gesondert betrachtet werden. Abwehrrechte zielen darauf ab, dem Bürger bestimmte Rechtsgüter zu sichern; sie sollen an deren Realisierung durch die Staatsgewalt nicht gehindert zu werden. Daher verlangen die Abwehrrechte vom

22 23 24 25 26 27

Vgl. Michael Sachs, Die Grundrechte. Vorbemerkungen zu Abschnitt I, in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 33–74, 40, Rd.-Nr.: 24. Vgl. ebd. 40, Rd.-Nr.: 26. Ebd. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 93, Rd.-Nr.: 3. Vgl. ebd. 96, Rd.-Nr.: 12. Vgl. dazu die Abschnitte 1.6.2 und 1.6.3 dieses Kapitels.

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Staat in erster Linie Zurückhaltung und somit ein Unterlassen.28 Alexy zeigt auf, dass diese Unterlassungsforderung in dreifacher Weise realisiert werden kann.29 Eine erste Untergruppe von Abwehrrechten sichert dem Grundrechtsträger zu, dass der Staat dessen grundrechtlich verbürgte Handlung weder aktiv behindert noch verhindert. Diese Abwehrrechte könnten mit dem Begriff der Handlungsfreiheit umschrieben werden. Art.  8 Abs.  1 GG („Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“) beispielsweise regelt eine solche spezielle Ausformung der Handlungsfreiheit, die von der Staatsgewalt Zurückhaltung fordert. In ihrer formalen Struktur lassen sich diese Grundrechte folgendermaßen beschreiben: „a hat gegenüber dem Staat ein Recht darauf, dass dieser a nicht an der Handlung b behindert.“30 Die nächste Untergruppe sichert dem Grundrechtsträger keine bestimmte Handlung zu, sondern schützt bestimmte Grunddispositionen. Diese Dispositionsfreiheit ist eher weit als eng zu verstehen. So fällt darunter z. B. die Gewissensfreiheit, aber auch die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art.  13 Abs.  1 GG. Auch hier ist der Staat aufgefordert, in die grundrechtlich garantierten Dispositionen nicht einzugreifen. Die Grundform dieses Abwehrrechts lautet deshalb: „a hat gegenüber dem Staat ein Recht darauf, dass dieser die Eigenschaft A (die Situation B) des a nicht beeinträchtigt.“31 Eine dritte und letzte Untergruppe der Abwehrrechte schützt den Grundrechtsträger davor, dass die Staatsgewalt ihn in bestimmten rechtlichen Positionen behindert. Zu dieser Gruppe ist sicherlich der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu zählen32, dann aber auch die rechtlich geschützte Position des Grundrechtsträgers als Eigentümer einer Sache nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG („Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“). Die hier formulierte Unterlassungsforderung an den Staat hat folgende formale Struktur: „a hat gegenüber dem Staat ein Recht darauf, dass dieser die rechtliche Position RP des a nicht beseitigt.“33 Auch an dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Unterteilung der Abwehrrechte nicht immer eindeutig und trennscharf ist. Wie im 2. Abschnitt dieses Kapitels zu sehen sein wird, fällt z. B. das Abwehrrecht der Gewissensfreiheit sowohl in die Gruppe der Dispositionsrechte als auch in die der Handlungsfreiheitsrechte. 28 29 30 31 32

33

Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 216. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 174–179. Ebd. 176. Ebd. 177. Hier ist im Übrigen auch ein gutes Beispiel gegeben, wie Grundrechte übergreifende Funktionen innehaben können. So kann Art. 3 Abs. 1 GG je nach Blickwinkel entweder als Abwehr- oder als Gleichheitsrecht gesehen werden. Alexy, Theorie der Grundrechte, 179.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass Abwehrrechte ein (Nichtstörungs-) Recht des Grundrechtsträgers zum Inhalt [haben], das auf Unterlassung von Einwirkungen auf grundrechtliche Schutzgüter gerichtet ist und damit die Freiheit von Fremdbestimmung schützt.34

1.3 Zur Bestimmung der Grundrechtsberechtigten Eine weitere zentrale Frage in der Auslegung der Grundrechte ist die, wer überhaupt die Grundrechte für sich in Anspruch nehmen darf. Ausgehend von der Feststellung, dass das Fundament der Grundrechte in Art. 1 Abs. 1 GG zu suchen ist  – also in der Menschenwürde  – ist zunächst jede natürliche Person grundrechtsberechtigt.35 Prima facie ist hier an den lebenden Menschen zu denken.36 Der Begriff des »lebenden Menschen« umfasst dabei den Zeitraum zwischen der Geburt und dem Tod eines Menschen. Doch es gibt auch Grundrechte, so Müller-Franken, „deren Rechtswirkung jedoch schon vor der Vollendung der Geburt einsetzen bzw. sich über den Tod hinaus erstrecken.“37 Ein Beispiel für ein vorgeburtlich geltendes Grundrecht ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Als post-mortem-Recht kommt vor allem, aber nicht ausschließlich, die Glaubensfreiheit in Frage und zwar im Zusammenhang des Bestattungsritus. Obwohl die Grundrechte prinzipiell in der Menschenwürde fundiert sind, wird im Grundgesetz eine Unterscheidung innerhalb der Gruppe der Grundrechtsberechtigten vorgenommen. Es gibt Grundrechte, die für alle gelten und solche, die nur Deutsche für sich in Anspruch nehmen dürfen.38 Die Grundrechte werden also in Menschenrechte und in Deutschen-Grundrechte differenziert.39 Exemplarisch für ein Deutschen-Grundrecht ist Art.  9 Abs.  1 GG: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ Die Grundrechte setzen also als Grundrechtsberechtigten einen Menschen voraus. Nun heißt es aber in Art. 19 Abs. 3 GG, dass auch für (inländische) juristische Personen die Grundrechte gelten können und zwar insofern „sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“40 Hier ist davon auszugehen, dass die 34 35 36 37 38 39 40

Thorsten Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen. Zur Rekonstruktion der Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen 2000, 86. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 53, Rd.-Nr.: 70. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 101, Rd.-Nr.: 23. Ebd. 101, Rd.-Nr. 24. Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 25, Rd.-Nr.: 23. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 223, Rd.-Nr.: 444. Art 19. Abs. 3 GG.

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Verfassungsgeber den Grundrechtsschutz positiv auf juristische Personen erweitert haben.41 Primärer Grundrechtsberechtigter bleibt in jedem Fall der Mensch, lediglich in Einzelfällen gelten Grundrechte auch für juristische Personen. Zur Thematik der Grundrechtsberechtigung gehört weiterhin die Fragestellung, ob es eine Grundrechtsmündigkeit bzw. eine Grundrechtsfähigkeit als Voraussetzung der Grundrechtsberechtigung gibt. Beide Begriffe müssen sauber voneinander getrennt werden, da sie Unterschiedliches zum Ausdruck bringen möchten. Die Grundrechtsmündigkeit stellt eine Eigenschaft des Bürgers dar, die dem Modell der Geschäftsfähigkeit42 nachempfunden ist.43 Unter der Grundrechtsmündigkeit wird demnach ein Vermögen verstanden, ein Grundrecht selbstständig auszuüben und dies für sich auch reklamieren zu können.44 Der Begriff der Grundrechtsmündigkeit ist der Verfassung allerdings zunächst einmal fremd.45 Dennoch lassen sich in ihr Formulierungen finden, die einer Grundrechtsmündigkeit nahe kommen, so beispielsweise in Art. 38 Abs. 2 GG: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Für Sachs sind solche Bestimmungen in der Verfassung Grundrechtsbegrenzungen durch die staatliche Gewalt, die auch entsprechend legitimiert werden müssen.46 Für Lothar Michael und Martin Morlock hingegen scheint die Grundrechtsmündigkeit zum Bestandteil der Ausgestaltung jedes einzelnen Grundrechts zu gehören und hat sich an der Einsichtsfähigkeit des Einzelnen zu orientieren.47 Insgesamt ist das Konzept der Grundrechtsmündigkeit aber nicht ganz schlüssig. Denn die Wirkung der Grundrechte ist ausdrücklich nicht an eine bestimmte kognitive oder andere Fähigkeit des Bürgers gebunden. Auch wer – aus welchem Grund auch immer – nicht in der Lage ist, auf ein Grundrecht zu rekurrieren, ist von diesem nicht ausgenommen.48 Dies gilt insbesondere für die Individualrechte des Grundgesetzes. Aus dieser Perspektive ist es wenig gewinnbringend, die Idee einer Grundrechtsmündigkeit weiter zu verfolgen. Plausibler ist es, den von Sachs formulierten Vorschlag aufzugreifen und solche Bestimmungen als Grundrechtsbegrenzungen zu verstehen.

41 42

43 44 45 46 47 48

Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 230, Rd.-Nr.: 458. Vgl. § 104 BGB: „Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.“ Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 55, Rd.-Nr.: 75. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 101, Rd.-Nr.: 25. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 55, Rd.-Nr.: 75. Vgl. ebd. 55, Rd.-Nr.: 76. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 227–228, Rd.-Nr.: 452. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 55, Rd.-Nr.: 75.

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Im Gegensatz zur Grundrechtsmündigkeit orientiert sich die Grundrechtsfähigkeit an der Rechtsfähigkeit.49 Sie beginnt nach § 1 BGB mit Vollendung der Geburt. Die Grundrechtsfähigkeit sagt somit nichts anderes aus, als dass alle Menschen  – selbstverständlich auch Kinder50  – grundrechtsfähig und damit grundrechtsberechtigt sind. Die Grundrechtsfähigkeit ist also die Voraussetzung für die Grundrechtsberechtigung. Zwar ist der Terminus der Grundrechtsfähigkeit nicht im Grundgesetz enthalten, doch lassen sich nach oben genannter Differenzierung zwei basale »Fähigkeiten« festmachen: Grundlegende Bedingung für die Grundrechtsberechtigung ist das Menschsein; darüber hinaus verlangen einige weitere Grundrechte für ihren Genuss die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Begriff »Grundrechtsfähigkeit« ist daher unglücklich gewählt, da weder das Menschsein noch die deutsche Staatsangehörigkeit Fähigkeiten des Einzelnen sind. Treffender wäre es, wenn die Grundrechtsdogmatik stattdessen von Bedingungen der Grundrechtsberechtigung sprechen würde.

1.4 Zur Bestimmung der Grundrechtsverpflichteten 1.4.1 Die Staatsgewalt als originärer Grundrechtsverpflichteter In seiner Entscheidung vom 15.01.1958 hat das BVerfG den Staat als Grundrechtsverpflichteten festgelegt. Dort heißt es: Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.51

Aus dieser Entscheidung und dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG geht hervor, dass Privatpersonen nicht im Sinne einer Grundrechtsverpflichtung an die Grundrechte gebunden sind52, auch nicht beispielsweise ein Arbeitgeber gegenüber seinen Arbeitnehmern.53 Wie ist diese Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte nun auszudeuten?

49 50 51 52 53

Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 227, Rd.-Nr.: 450. Vgl. ebd. BVerfGE 7, 198 (204). Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 55–56, Rd.-Nr.: 50. Vgl. Christian Hillgruber, Art.  1 [Schutz der Menschenwürde], in: Volker Epping/ Christian Hillgruber (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2009, 5–26, 23 f., Rd.Nr.: 71.

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Die Grundrechte binden natürlich lediglich die deutsche Staatsgewalt54, allerdings nicht nur im Inland. Tritt der deutsche Staat außerhalb Deutschlands als Akteur auf, ist er auch dort an die Grundrechte gebunden.55 Die Grundrechtsbindung des Staats ist dabei umfassend zu verstehen. Wie Christian Hillgruber schreibt, binden die Grundrechte daher die staatliche Gewalt des Bundes wie die der Länder […], die staatlichen Gerichte aller Rechtswege […], die Selbstverwaltungskörperschaften (etwa Kreise und Gemeinden), aber auch Kammern und Sozialversicherungsträger […] und öffentliche Sparkassen […].56

Diese von Hillgruber aufgeführte Zusammenstellung ist keine abschließende Auflistung aller staatlichen Grundrechtsverpflichteten. Vielmehr lässt sich sagen, dass auf allen Ebenen des deutschen Staats und in allen drei Staatsgewalten die Wahrnehmung und Erfüllung öffentlicher Aufgaben grundrechtsgebunden ist. Ausgenommen von dieser umfassenden Grundrechtsbindung sind lediglich die Religionsgemeinschaften, die im Sinne von Art.  140 GG (speziell der inkorporierte Art. 137 Abs. 4 WRV) als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt sind. Obschon Körperschaften des öffentlichen Rechts grundsätzlich als Grundrechtsverpflichtete angesehen werden, sind die so verfassten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften von der Bindung an die Grundrechte prinzipiell ausgenommen.57 Wenn diese Körperschaften des öffentlichen Rechts allerdings öffentliche Aufgaben (z. B. Friedhofswesen) oder Hoheitsbefugnisse (z. B. die Erhebung der Kirchensteuer) ausüben, kann auch bei ihnen von einer Grundrechtsbindung gesprochen werden.58 Auf den ersten Blick scheint also die Frage nach der Grundrechtsverpflichtung bzw. der Grundrechtsbindung eindeutig beantwortet zu sein – ausschließlich die staatlichen Organe sind an sie gebunden. Aber die Bindung der gesamten Staatsgewalt an die Grundrechte bewirkt eine problematische Konstellation, welche die Frage nach der Grundrechtsbindung in einem anderen Licht erscheinen lässt. Wie bereits festgestellt wurde, binden die Grundrechte alle drei Staatsgewalten auf allen Ebenen, also auch die Rechtsprechung. Die Rechtsprechungsorgane sind also sowohl bei der formalen Verfahrensorganisation als auch bei ihren inhaltlichen Entscheidungen und Urteilen an die Bestimmungen der Grundrechte gebunden.59 Diese Bestimmungen gelten auch für die Zivilgerichte, d. h. für 54 55 56 57 58 59

Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 103, Rd.-Nr.: 31. Vgl. Hofmann, Art. 1., 118, Rd.-Nr.: 16. Hillgruber, Art. 1, 22, Rd.-Nr.: 65. Vgl. ebd. 23, Rd.-Nr.: 68. Die Gründe für diese Sonderregelung sollen hier nicht diskutiert werden, vielmehr wird dieser Zustand als gegeben akzeptiert. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 237, Rd.-Nr.: 473. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 103, Rd.-Nr.: 30.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Gerichte, die bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Bürgern entscheiden. Wenn ein Zivilgericht also in einem Rechtsstreit zwischen zwei Bürgern die Grundrechte zu beachten hat, folgt dadurch eine Übertragung grundrechtlicher Vorgaben für das Staat-Bürger-Verhältnis auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern und damit letztlich nichts anderes als eine Pflicht des Bürgers zur Beachtung der Grundrechte anderer Bürger […].60

Diese Wirkung der Grundrechte auf das Bürger-Bürger-Verhältnis wird »Ausstrahlungswirkung« genannt. Mit ihr verbindet sich die Theorie der Drittwirkung der Grundrechte.

1.4.2 Die Ausstrahlungswirkung und die Grundrechtsbindung des Bürgers Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ist eine Folge der durch das Grundgesetz implizierten Wertordnung, die vom BVerfG festgestellt wurde. Die Verfassungsrichter bestimmen daher: So beeinflusst es [das Wertsystem der Grundrechte] selbstverständlich auch das bürgerliche Recht, keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden.61

Jede Rechtsvorschrift – auch im zivilen Bereich – muss in diesem Sinne in Einklang mit den Grundrechten stehen. Daher ist es allgemeiner Konsens, dass die Grundrechte auch in den Bürger-Bürger-Beziehungen ihre Wirkung entfalten.62 Wenn aber prinzipiell nur der Staat an die Grundrechte gebunden ist, stellt sich die Frage: Wie ist das Verhältnis des Bürgers zu den Grundrechten im Sinne einer Grundrechtsverpflichtung zu denken? Diese Problematik wird häufig mit dem Begriff der Drittwirkung der Grundrechte beschrieben.63 In der Literatur werden vor allem drei Möglichkeiten dieser Drittwirkung diskutiert, die Alexy systematisiert hat64: die unmittelbare Drittwirkung, die mittelbare Drittwirkung und eine Drittwirkung, die mittels des Schutzpflichtenanspruchs des Bürgers dem Staat gegenüber realisiert wird.

60 61 62 63 64

Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 448. BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 485. Vgl. Michael Antoni, Die Grundrechte, in: Dieter Hömig (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 92010, 40–48, 41, Rd.-Nr.: 6. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 481.

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a) Die unmittelbare Drittwirkung Um einem Missverständnis vorzubeugen, muss zunächst gesagt werden, was die unmittelbare Grundrechtsbindung nicht ist: Sie behauptet nicht, dass die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat nun zu Rechten des Einzelnen gegenüber anderen Bürgern werden.65 Vielmehr geht diese Theorie von der Tatsache aus, dass die Bürger-Bürger-Relation nicht in einem rechtsfreien Raum geschieht, sondern durch Privatrechtsnormen reguliert ist. Diese Normen, wie sie z. B. im Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden sind, lassen ihren Geltungsgrund auf die Grundrechte zurückführen. Die grundrechtlichen Prinzipien führen also zu Rechten und Pflichten im Gleichordnungsverhältnis, die wegen der Geltung dieser Prinzipien relativ auf die Verfassung notwendig sind, dies ohne deren Geltung aber nicht wären.66

Vor diesem Hintergrund ist die Rede von einer unmittelbaren Drittwirkung irreführend. Denn der Bürger ist durch eben diese Konstruktion gerade nicht unmittelbar an die Grundrechte als Rechtssätze gebunden. Diese Bindung ergibt sich vielmehr durch die ihm zukommende Bindung an die Privatgesetzgebung des Staats. Dort aber ist der Einzelne unmittelbar an die Rechtsvorschriften gebunden und erst darüber auch an die Grundrechte. Das BVerfG lehnt allerdings eine solche unmittelbare Drittwirkung ab und befürwortet die Theorie der mittelbaren Drittwirkung.

b) Die mittelbare Drittwirkung Auch für diese Konzeption ist die bereits mehrfach erwähnte Entscheidung des BVerfG vom 15. Januar 1958 richtungsweisend. Dort wird festgehalten, dass die Normen im Privatrecht selbstverständlich an die Normen des Grundgesetzes gebunden sind.67 Doch die entscheidende Bindung an die Grundrechte erfolgt nicht über die Privatrechtsnormen, sondern über die Person des Richters. Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften in der beschriebenen Weise grundrechtlich beeinflusst sind; trifft dies zu, dann hat er bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die sich hieraus ergebende Modifikation des Privatrechts zu beachten.68 65 66 67 68

Vgl. ebd. 482. Vgl. ebd. 490. Vgl. BVerfGE 7, 198 (205). Ebd. (206).

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Die Bindung des einzelnen Bürgers an die Grundrechte ist in dieser Konstruktion zunächst irrelevant. Vielmehr wird die unmittelbare Bindung der Staatsgewalt – hier in der Rechtsprechung durch einen Richter – hervorgehoben. Er hat die Aufgabe, die Privatrechtsnormen im Licht des Grundgesetzes auszulegen und so sein Urteil zu fällen.69 Rechtliche Hilfestellung erhält der Zivilrichter dabei durch die sog. Generalklauseln. Dies sind Formulierungen im Privatrecht, die „zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe […] verweisen.“70 Solche Generalklauseln finden sich in vielfältigen Ausformungen im Privatrecht, z. B. in Form der »Sittenwidrigkeit«71, der »Rechtswidrigkeit«72, des »wichtigen Grundes«73 oder anderen Formeln. Die konkrete inhaltliche Füllung dieser „sozialen Gebote“74 hat sich nach dem BVerfG an der allgemeinen Wertvorstellung zu orientieren und damit auch an den Werten, die in den Grundrechten besonderen Schutz genießen sollen.75 Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung hält konsequent daran fest, dass ausschließlich die Staatsgewalt an die Grundrechte gebunden ist. Fließen in einem zivilrechtlichen Urteil grundrechtliche Erwägungen ein, soll ein Bürger damit nicht automatisch zum Adressaten einer Grundrechtsforderung werden, da der Richter im Grunde als Garant für die Grundrechtsverwirklichung fungieren soll. Diese Theorie der mittelbaren Drittwirkung ist allerdings nicht unumstritten. Thorsten Koch resümiert, dass das BVerfG zwar eine Bindung der Zivilgerichtsbarkeit an die Grundrechte negiert, diese Negation aber über das Prinzip der Ausstrahlungswirkung wieder einschränkt.76 Da über diese Ausstrahlungswirkung die Grundrechte auch in Zivilprozessen in vollem Umfang relevant werden können, sei hier nur schwerlich von einer bloß mittelbaren Grundrechtsbindung zu sprechen. Alexy versucht daher aufzuzeigen, dass eine mittelbare

69 70 71 72

73

74 75 76

Vgl. Matthias Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hong Kong 1989, 303. BVerfGE 7, 198 (206). Z. B. § 138 Abs. 1 BGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ Z. B. § 823 Abs. 1 BGB: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Z. B. § 626 Abs. 1 BGB: „Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.“ BVerfGE 7, 198 (206). Vgl. ebd. Vgl. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 450.

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Grundrechtsbindung nicht von einer unmittelbaren zu trennen ist. Er fasst die beiden Drittwirkungstheorien daher wie folgt zusammen: Die grundrechtlichen Prinzipien führen also zu Rechten und Pflichten im Gleichordnungsverhältnis, die wegen der Geltung dieser Prinzipien relativ auf die Verfassung notwendig sind, dies ohne deren Geltung aber nicht wären. Dies ist eine unmittelbare Drittwirkung. Die Theorie der mittelbaren Drittwirkung hat damit zwingend eine unmittelbare Drittwirkung zur Folge.77

Es wird deutlich, dass beide Theorieansätze ihren Makel haben: Die Theorie der unmittelbaren Grundrechtsbindung kommt nicht umhin, den Bürger letztlich auch in der Rolle eines Grundrechtsverpflichteten – wenn auch nur in analoger Weise zum Staat  – zu sehen. Damit steht diese Theorie nicht im Einklang mit Art.  1 Abs.  3 GG, nach dessen Wortlaut nur die Staatsgewalt grundrechtsverpflichtet ist. Die Theorie der mittelbaren Grundrechtsbindung versucht gerade dieses Problem zu umgehen. Für sie bleibt einzig die Staatsgewalt in der Rolle des Grundrechtsadressaten, so z. B. in der Rolle des Richters. Doch de facto verhindert diese Konstruktion nicht, dass in zivilen Rechtsstreitigkeiten einzelne Bürger sich direkt einer Grundrechtsverletzung schuldig machen können. Diesem Dilemma versucht ein dritter Ansatz zu entgehen. Hier soll das Problem der Drittwirkung der Grundrechte über die sog. Schutzgebotsfunktion aufgelöst werden.

c) Der Ansatz der Schutzgebotsfunktion Die Schutzgebotsfunktion geht von einer Wirkweise der Grundrechte aus, die hier bislang noch nicht erwähnt wurde. Das Schutzgebot bzw. die Schutzpflicht besagt, dass der Staat nicht nur eigene Grundrechtsverletzungen zu unterlassen habe, sondern sich auch aktiv dafür einsetzen muss, dass die Grundrechte seiner Bürger auch von keinem Dritten beeinträchtigt werden.78 Neben den beiden Begriffen des Schutzgebots und der Schutzpflicht hat sich die Redeweise von abgeleiteten Leistungsnormen eingebürgert.79 Diese Schutzverpflichtung des Staats hat auch das BVerfG in einer seiner Entscheidungen rezipiert: In der Debatte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts um den § 218 StGB (gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs) hat es zunächst von einer umfassenden Schutzpflicht

77 78 79

Alexy, Theorie der Grundrechte, 490. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 98, Rd.-Nr.: 17. Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 19, Rd.-Nr.: 6.

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des Staats für das menschliche Leben gesprochen.80 Dann führen die Verfassungsrichter weiter aus: Die Schutzverpflichtung des Staates muss um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsguts innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist.81

Damit wird deutlich, dass prinzipiell alle Grundrechte eine Schutzgebotsfunktion auslösen können. Diese Aufgabe der Staatsgewalt beruht zum einen auf der zu schützenden Wertordnung des Grundgesetzes und zum anderen ganz konkret auf dem verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der Menschenwürde.82 Denn Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG betont ausdrücklich die Verpflichtung des Staats, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Ein Abwehrrecht wie beispielsweise die Religionsfreiheit hat damit für den Bürger eine doppelte Funktion: Es soll ihn vor ungerechtfertigten Eingriffen des Staats in dieses Grundrecht schützen, fordert also – wie bereits dargelegt wurde – primär ein Unterlassen des Staats. Darüber hinaus soll der Bürger durch das Abwehrrecht der Religionsfreiheit vor weiteren Behinderungen seiner Grundrechtsausübung bewahrt werden, die nicht von der Staatsgewalt ausgehen müssen. Hier wird also gerade kein Unterlassen gefordert, sondern vielmehr ein positives Tun. Wie Ulrich Vosgerau beschreibt, kommt die Staatsgewalt dieser Handlungsaufforderung v. a. über die weitere Gesetzgebung nach.83 Im Beispiel der Religionsfreiheit verwirklicht der Staat seine Schutzpflicht u. a. über § 167 Abs. 1 StGB.84 Dieser Ansatz birgt den Vorteil, dass hier die Grundrechtsverpflichtung alleine beim Staat liegt. Diese bleibt auch im privatrechtlichen Rahmen bestehen. Kein Bürger ist durch diese Konstruktion einem anderen Bürger grundrechtsverpflichtet. Werden Grundrechtsbehinderungen in einem zivilrechtlichen Prozess relevant, dann nicht, weil ein Bürger Adressat einer Grundrechtsforderung ist, sondern weil eine Grundrechtsbehinderung die Schutzpflicht des Staats aktiviert. In der Literatur wird von einer Duldungspflicht des Einzelnen „gegenüber der

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84

Vgl. BVerfGE 39, 1 (42). Ebd. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 98, Rd.-Nr.: 17. Vgl. Ulrich Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes. Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubensund Gewissensfreiheit, Berlin 2007, 202. „Wer (1) den Gottesdienst oder eine gottesdienstliche Handlung einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft absichtlich und in grober Weise stört oder (2) an einem Ort, der dem Gottesdienst einer solchen Religionsgesellschaft gewidmet ist, beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

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rechtlichen Sicherung der Grundrechtsverwirklichung Dritter“85 gesprochen. Aber auch dieser Ansatz ist nicht unproblematisch. So stellen Michael und Morlock ganz richtig fest, dass nicht jedes für einen Bürger lästige und störende Verhalten eines anderen die Schutzgebotsfunktion auslösen kann.86 Es ist nicht Aufgabe der Grundrechte, dem Einzelnen ein völlig störungsfreies Leben zu sichern.87 Von Seiten der Bürger wird ein gewisses Maß an Toleranz erwartet; die Verfassungsrichter stehen daher vor der schwierigen Entscheidung, welches belästigende Verhalten eine Schutzpflicht des Staats auslöst und welches nicht. Entscheidend bleibt, dass es zur Aufgabe der Staatsgewalt gehört, die Freiheitsverwirklichung seiner Bürger zu schützen und ggf. zu fördern. In Zivilprozessen hat der zuständige Richter nun allerdings zwei Grundrechtsberechtigte vor sich stehen, die beide diese Forderung an den Staat erheben können. Ein Urteilsspruch kann daher ein Dilemma auslösen: Insofern dem einen Bürger Recht zugesprochen wird, wird seine Freiheitssphäre zwar geschützt, aber gleichzeitig wird der Freiheitsbereich des anderen Bürgers staatlicherseits eingeschränkt.88 Diese Problematik leitet über zu der Frage, ob die Grundrechte als Regeln oder als Prinzipien verstanden werden müssen.

1.5 Grundrechte – Regeln oder Prinzipien? Das genannte Problem führt zur rechtstheoretischen Diskussion über den Normencharakter von Grundrechten. Zwei Optionen stehen sich hierbei gegenüber, die an dieser Stelle kurz dargestellt werden sollen. Eine Position versteht die Grundrechte als Regeln; mit ihr ist die sog. Innentheorie verbunden. Ihr gegenüber steht die Prinzipienlehre, die mit der sog. Außentheorie einhergeht.

1.5.1 Grundrechte als Regeln und die Innentheorie der Grundrechte Regeln können als Wenn-Dann-Konstruktionen aufgefasst werden.89 Typischerweise kennt das deutsche Rechtssystem solche Konstruktionen vor allem im Strafrecht. So besagt z. B. § 212 Abs. 1 StGB: „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“

85 86 87 88 89

Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 241, Rd.-Nr.: 483. Vgl. ebd. 258, Rd.-Nr.: 522. Vgl. ebd. Vgl. Saskia Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht. Die Verweigerung der Arbeitsleistung aus Gewissensnot, Hamburg 2004, 34. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 42, Rd.-Nr.: 22.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Aus einem bestimmten Tatbestand ergibt sich zwingend eine ihm zugeordnete Rechtsfolge – im genannten Beispiel die Bestrafung. Als Wenn-Dann-Konstruktion formuliert, lautet diese Rechtsnorm: »Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne ein Mörder zu sein, dann wird er als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.« Dabei ist keineswegs zweifelhaft, ob die Rechtsfolge eintritt, sondern nur, ob die Gegebenheiten für diese Rechtsfolge vorliegen. Dieses Muster kann auch auf die Grundrechte, wie z. B. die Versammlungsfreiheit, übertragen werden. So formuliert Art.  8 Abs.  1 GG: „Alle Menschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Auch dieses Grundrecht lässt sich in ein Wenn-Dann-Schema transformieren. Dazu ist es hilfreich, den Terminus »Recht« auszudeuten, wie im Abschnitt 1.2 dieses Kapitels geschehen. Die Versammlungsfreiheit könnte dann wie folgt lauten: »Wenn Menschen sich friedlich und ohne Waffen versammeln, dann dürfen sie von der Staatsgewalt nicht daran gehindert werden.« Es liegt auf der Hand, dass bei einer Konzeption der Grundrechte als Regeln vor allem die inhaltliche Ausgestaltung wichtig ist. Die möglichst klare Bestimmung eines Rechtsinhalts ist deshalb bedeutsam, da ja die Rechtsfolge sozusagen automatisch eintritt, sobald die inhaltlichen Kriterien erfüllt sind. Ist der Rechtsinhalt dagegen nicht exakt bestimmt, so kann eine Rechtsfolge entweder ungerechtfertigt eintreten oder sie tritt nicht ein, obwohl sie gerechtfertigt wäre. Zur Verdeutlichung soll das Beispiel vom Totschlag nochmals herangezogen werden. Der Tatbestand »Tötung eines Menschen ohne Mörder zu sein« muss näher spezifiziert werden, damit der Inhalt dieser Strafrechtsnorm eindeutig wird. Eine präzise Strafrechtsregel entsteht, wenn man diesen Paragrafen mit dem § 211 Abs. 2 StGB verbindet, der einen Mord definiert: »Wenn jemand einen Menschen tötet und diese Tat nicht aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken geschieht, dann wird er als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.« Wenn die Grundrechte als Regeln aufgefasst werden, muss deren Inhalt möglichst genau und eng definiert werden.90 Wird dies getan, so spricht man von der sog. Innentheorie. Die Vertreter der Innentheorie von Grundrechten bestimmen einen Grundrechtsgehalt von vornherein möglichst exakt. Diese Grundrechtsbestimmung kann dann nicht weiter eingeschränkt werden.91 Davon leitet sich auch die Bezeichnung »Innentheorie« ab: Die Grenzen eines Grundrechts werden nicht von außen bestimmt, sondern wohnen diesem durch die exakte Beschreibung des Rechtsinhalts inne. Der genannte Art. 8 Abs. 1 GG lässt sich so weiterhin 90 91

Vgl. ebd. 43, Rd.-Nr.: 25. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 28.

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik

präzisieren, wenn man den Abs. 292 hinzunimmt. Art. 8 Abs. 1 GG als Regel würde dann lauten: »Wenn Menschen sich friedlich und ohne Waffen versammeln und diese Versammlung nicht unter freiem Himmel stattfindet, dann dürfen sie von der Staatsgewalt nicht daran gehindert werden.«93 Die Praxis zeigt nun, dass verschiedene grundrechtliche Regeln miteinander kollidieren können. Solche Konflikte sollen mittels Kollisionsregeln94 bzw. Vorrangregeln95 gelöst werden. Dazu wäre eine Art skalarische Grundrechtslehre von Nöten, welche die einzelnen Grundrechte relativ zueinander in Beziehung setzt. Tritt ein Grundrechtskonflikt ein, so wäre es Aufgabe der Richter, das höherwertige Grundrecht zu bestimmen. Nur dieses Grundrecht käme dann zur Geltung, das andere kollidierende Grundrecht müsste nicht mehr beachtet werden.96 Das Konzept des Regelcharakters und der Innentheorie der Grundrechte bietet viele Vorteile. So lassen sich Grundrechtsgehalte exakt bestimmen und uneingeschränkt sichern, auch verbindet sich damit ein hohes Maß an Rechtssicherheit, da Grundrechtsbestimmung und -geltung vorhersehbar sind.97 Diese positive Einschätzung wird von den Verteidigern einer Prinzipienlehre der Grundrechte nicht geteilt. Sie kritisieren an der Innentheorie zum einen, dass der Freiheitsraum der Grundrechte zunächst grundsätzlich weiter statt enger gefasst werden müsse98; außerdem vernachlässige die Regeltheorie die Einheit der Verfassung, da es zwischen den verschiedenen Grundrechten keine Beziehung mehr gebe.99

1.5.2 Grundrechte als Prinzipien und die Außentheorie der Grundrechte Die Prinzipienlehre der Grundrechte geht von einer anderen Grundrechtsvorstellung aus als die Regellehre. Spezifikum dieser Grundrechtsauslegung ist, dass die Grundrechte nicht so sehr durch einen bestimmten exakten Inhalt festgelegt sind, sondern eher durch ein je spezifisches Geltungsgewicht.100 Diese relative Unbe„Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ 93 Sicherlich müsste die Konkretisierung noch weiter geführt werden. So beispielsweise in der Frage, was unter „freiem Himmel“ denn exakt zu verstehen ist. Als Anschauungsbeispiel für den Regelcharakter soll diese Maß an Konkretion allerdings genügen. 94 Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 42, Rd.-Nr.: 22. 95 Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 125. 96 Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 42, Rd.-Nr.: 22. 97 Vgl. ebd. 43, Rd.-Nr. 25. 98 Vgl. Nikolaus Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, 91. 99 Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 42, Rd.-Nr.: 26. 100 Vgl. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 62. 92

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

stimmtheit des Rechtsinhalts resultiert aus der sog. Außentheorie: Sie möchte den Grundrechtsschutz möglichst weit ausdehnen, verzichtet also zunächst auf eine exakte Bestimmung des Rechtsinhalts.101 Diese möglichst weite Ausdehnung des Grundrechtschutzes führt dazu, dass einem Grundrecht »von außen« Schranken gesetzt werden müssen, da eine Weitung des Grundrechtsinhalts zu vermehrten Kollisionen mit anderen Grundrechten führen kann.102 Hiervon leitet sich auch der Begriff »Außentheorie« ab. Nach Rolf Eckhoff ist es schließlich dieses weite Verständnis des einzelnen Schutzbereichs, das Eingriffe in Grundrechte erst ermöglicht, ohne damit das ganze Grundrecht ad absurdum zu führen.103 Der Prinzipientheorie folgend setzt sich ein Grundrecht demnach aus zwei Merkmalen zusammen: Dem weit verstandenen Schutzbereich eines Grundrechts und dessen zulässigen Schranken.104 Da Grundrechte so zwar im Grunde immer, aber nicht immer uneingeschränkt gelten, spricht man auch von prima-facie-Grundrechten.105 Aufgabe einer außentheoretischen Verfassungsauslegung ist es, festzulegen, welche verfassungsrelevanten Belange einem jeweiligen Grundrecht Schranken setzen können. Hat diese Festlegung stattgefunden, lässt sich mittels dieser Schrankenordnung das „definitive Recht oder der effektive Garantiebereich des Rechts“106 festlegen. Dieser Garantiebereich eines Grundrechts ist nun absolut geschützt, weil er nicht weiter rechtmäßig beschränkt werden kann. Da in dieser Konzeption Grundrechte grundsätzlich immer gelten, ist es nicht möglich – wie bei der Regellehre –, dass im Konfliktfall aufgrund einer Vorzugsregel ein Grundrecht nicht weiter beachtet werden muss. Im Gegensatz zu Regelkollisionen findet bei einer Prinzipienkollision eine Abwägung statt.107 Ziel dieser Abwägung ist die Herstellung »praktischer Konkordanz«.108 Diese besagt, dass in einem Konfliktfall möglichst alle darin beteiligten Grundrechte zur Geltung kommen müssen.109 Deswegen werden Prinzipien nicht mit einer Wenn-DannKonstruktion beschrieben, sondern mittels einer Je-Desto-Konstruktion.110 Je mehr Gewicht einem Grundrecht zugemessen wird, desto stärker ist es im Sinne der praktischen Konkordanz zur Geltung zu bringen.

101 102 103 104 105 106 107 108 109 110

Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 253. Vgl. ebd. 36. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 14. Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 36. Vgl. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 62. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 35. Vgl. ebd. 115. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 42, Rd.-Nr.: 23. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Dieses Grundrechtsverständnis hat den Vorteil, dass die Grundrechte umfassend als Ausdruck einer allgemeinen Freiheitsidee des Bürgers begriffen werden.111 Dadurch werden die Grundrechte nicht isoliert als Einzelrechte verstanden, sondern können gegeneinander abgewogen werden, ohne dass dabei ein Grundrecht seine Schutzwirkung gänzlich verliert. Zudem sind nur vor dem Hintergrund dieser Prinzipienlehre Begriffe wie »Eingriff« und »Schranken« sinnvoll, da die Regellehre jeden Eingriff und jede weitere Beschränkung in den exakten Rechtsinhalt eines Grundrechts verbietet. Die Prinzipienlehre muss dafür allerdings einen schwerwiegenden Nachteil in Kauf nehmen: Die geforderte Abwägung der möglicherweise konkurrierenden Grundrechte führt zu einer Relativierung der Grundrechte, und zwar – einer strengen Prinzipienlehre folgend – selbst in Bereichen von eigentlich unantastbaren Grundrechtsinhalten, wie z. B. der Menschenwürde.112

1.5.3 Grundrechte – Regeln und Prinzipen Mit Michael und Morlock erscheint es richtig, Regel- und Prinzipienlehre nicht als zwei konträre Optionen der Grundrechtsauslegung zu betrachten, sondern sie in Beziehung zueinander zu setzen.113 Danach sind die Grundrechte zwar grundsätzlich als Prinzipien zu verstehen, aber nicht alle Grundrechtsinhalte stehen einer Abwägung offen. Einer Abwägung mit anderen Grundrechten entzogen sollen dabei jene Grundrechtsgüter sein, die dem Bürger (1) seine grundsätzliche Teilhabe am Grundrechtsschutz und (2) seine prinzipielle Möglichkeit, sich rechtlich gegen Grundrechtsverletzungen zu wehren, gewährleisten. Wie bereits erörtert, ist das Menschsein grundlegend für die Grundrechtsberechtigung, daneben für einige Grundrechte auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Abwägungsfrei sind somit die Bestimmungen zur Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und zum Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft nach Art. 16 Abs. 1 GG („Die deutsche Staatsbürgerschaft darf nicht entzogen werden.“).114 Die Möglichkeit, sich über den Rechtsweg gegen Grundrechtsverletzungen zu wehren, wird in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG gewährleistet („Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“). Auch dieses Grundrecht darf dementsprechend nicht relativiert werden.115 Ebenso ist die Gleichheit vor dem

111 Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäi112 113 114 115

schen Menschenrechtskonvention, 91. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 44, Rd.-Nr.: 26. Vgl. ebd. 44, Rd.-Nr. 27. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Gesetz116 in diesem Zusammenhang einer Abwägung entzogen, da sonst die Möglichkeit des Rechtsweges Gefahr liefe, inhaltsleer zu werden. Alle weiteren Grundrechte stehen einer Abwägung mit anderen Grundrechtsinhalten offen bzw. können über Schrankenregelungen begrenzt werden, ohne ihren prinzipiellen Grundrechtsschutz damit zu verwirken. Kollidiert aber ein Prinzipien-Grundrecht mit einem Regel-Grundrecht, so ist eine Abwägung nicht möglich, da Regel-Grundrechte nicht abgewogen werden können. In diesem Fall setzt sich das Regel-Grundrecht durch, das Prinzipien-Grundrecht wird soweit erforderlich zurück gedrängt. In diesem ersten Teil der allgemeinen Grundrechtslehre wurden Grundsatzfragen betrachtet, die mit der Charakterisierung und Auslegung der Grundrechte zusammenhängen. Im nächsten Schritt steht die sogenannte Grundrechtsprüfung im Fokus. Sie ist ein dreistufiges Verfahren, um staatliche Grundrechtsverletzungen von Abwehrrechten feststellen zu können: Zuerst ist zu fragen, ob die betroffene Position des Bürgers vom Schutzbereich eines Grundrechts erfasst wird, sodann ob die staatliche Maßnahme als Eingriff in das geschützte Gut zu qualifizieren und schließlich dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.117

1.6 Die Grundrechtsprüfung 1.6.1 Der Schutzbereich Die Bestimmung des Schutzbereichs erfolgt auf zweierlei Weise: Als persönlicher Schutzbereich und als sachlicher Schutzbereich. Unter den persönlichen Schutzbereich fallen die bereits genannten Bedingungen der Grundrechtsberechtigung.118 An dieser Stelle ist also zu prüfen, wer überhaupt in den Genuss eines grundrechtlichen Schutzes kommt. Der sachliche Schutzbereich beschreibt, was durch das jeweilige Grundrecht geschützt werden soll.119 Das können Handlungsmöglichkeiten sein, wie z. B. das Ausüben von Religion (Art.  4 Abs. 1, 2 GG) oder aber auch Rechtsgüter (Rechtspositionen), wie etwa Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Schließlich kann es auch um Lagen gehen, in denen sich

116 117 118 119

Vgl. Art. 3 Abs. 1 GG. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 104, Rd.-Nr.: 33. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 55, Rd.-Nr.: 77. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 101.

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik der Grundrechtsträger befindet, wie die einer Beeinträchtigung seiner subjektiven Rechte (Art. 19 Abs. 4 GG) oder der Bewerbung um ein öffentliches Amt (Art. 33 Abs. 2 GG).120

Die Festsetzung des sachlichen Schutzbereichs ist demnach von Grundrecht zu Grundrecht unterschiedlich und kann an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden. Zu erwähnen ist lediglich, dass sich diese Auslegung in erster Linie am Wortlaut der Grundrechte zu orientieren hat und dass die Grundrechte zwar angeben, was sie schützen möchten, aber nicht wovor.121 So wird mit Art. 4 Abs. 1 GG die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des Bekenntnisses geschützt. Jedoch fehlt die Bestimmung dessen, wovor diese geschützt werden sollen. Gegen diese postulierte Offenheit der Formulierungen wendet sich Alexy. Durch die Bestimmung dieser Rechte als Abwehrrechte sei auch schon das »wovor« benannt. So bestimmen Abwehrrechte jene „Handlungen, Eigenschaften oder Zustände und einfachrechtlichen Positionen, die nicht gehindert, beeinträchtigt oder beseitigt werden dürfen.“122 Eckhoff mag darin Recht haben, dass der einzelne Wortlaut der Grundrechte eine solche Bestimmung nicht hergibt. Der Zusammenhang zwischen diesen Rechten und dem mit ihnen verbundenen Nichtstörungsgebot seitens des Staates liegt jedoch klar auf der Hand.

1.6.2 Der Grundrechtseingriff Nach der prinzipiell zu favorisierenden Außentheorie ist der Schutzbereich eines Grundrechts weit auszulegen. Dem einzelnen Bürger wird so dem Staat gegenüber zunächst ein möglichst großer Freiheitsraum zugebilligt. Dieses weite Freiheitsverständnis legt nahe, dass es – beispielsweise im Zusammenhang mit Grundrechtskollisionen  – zu Beeinträchtigungen im Grundrechtschutz durch die Staatsgewalt kommen kann, welche nicht zwangsläufig in Widerspruch zum grundrechtlichen Anspruch stehen müssen.123 Doch zunächst einmal ist ein Eingriff eine Beeinträchtigung des jeweiligen Grundrechtsguts, welche die Schutzfunktion dieses Grundrechts auslöst und somit rechtfertigungsbedürftig ist.124 Diese Möglichkeit des Staats, auf den grundrechtlichen Schutzbereich einzuwirken, wird durch die rechtsdogmatische Figur des Eingriffs beschrieben. Dabei stehen sich in der Literatur zwei Eingriffsbegriffe gegenüber: der »klassische« und der »moderne« Eingriff.

120 121 122 123 124

Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 104, Rd.-Nr.: 34. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 101. Alexy, Theorie der Grundrechte, 274. Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 26, Rd.-Nr.: 24. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 56, Rd.-Nr.: 78.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

a) Der klassische Eingriffsbegriff Das BVerfG hat vier Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs bestimmt: Rechtsförmlichkeit, Unmittelbarkeit, Finalität und Imperativität.125 Soll demnach ein Eingriff die Schutzfunktion der Grundrechte auslösen, müssen nach klassischer Auslegung alle Merkmale zusammen gegeben sein.126 Damit wird auch die Zielrichtung des klassischen Eingriffsbegriffs deutlich: „Der klassische Eingriffsbegriff erfasst die unproblematischen Fälle, in denen Grundrechtsbeeinträchtigungen ohne Zweifel dem Staat zuzurechnen sind.“127 Die vier Merkmale dieses Eingriffsbegriffs sollen sicherstellen, dass es zwischen dem staatlichen Handeln und der Grundrechtsbeeinträchtigung einen direkten kausalen Zusammenhang gibt. i. Die Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs • Rechtsförmlichkeit Das erste Merkmal des klassischen Eingriffsbegriffs schränkt die Möglichkeit des Staats, in die Grundrechte einzugreifen, auf Rechtsakte ein.128 Das staatliche grundrechtsrelevante Handeln wird somit auf Gesetze, Verwaltungsakte und Urteile beschränkt.129 Der Grundrechtsberechtigte muss durch ein staatliches Handeln rechtlich betroffen sein, ein rein faktisches Betroffensein reicht nicht aus. Dieser Unterschied lässt sich an einem Beispiel illustrieren: Die Bundesregierung warnt die Bevölkerung vor den Geschäftsgebaren eines bestimmten Unternehmers. In Folge dieser Warnung bleiben dem Unternehmer die Kunden weg und er muss sein Unternehmen aufgeben. Durch die staatliche Intervention könnte er nun einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG („Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“) geltend machen. Unabhängig von der Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit würde gemäß dem Merkmal der Rechtsförmlichkeit kein Eingriff vorliegen, da der Unternehmer zwar faktisch von einer staatlichen Handlung betroffen ist, aber nicht rechtlich, da sein Unternehmen nicht per Gesetz oder Urteil verboten wurde. Dieses Eingriffsmerkmal ist nicht unumstritten. Hauptkritikpunkt ist dabei die Formulierung der einzelnen Grundrechte im Grundgesetz selbst. Eckhoff schreibt dazu:

125 126 127 128 129

Vgl. BVerfGE 105, 279 (300). Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 175. Michael/Morlok, Grundrechte, 246, Rd.-Nr.: 492. Vgl. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 18 f. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 104, Rd.-Nr.: 35.

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik Die Formulierung der Freiheitsrechte enthält an keiner Stelle die Begrenzung auf eine »rechtliche« Freiheitschance, sie benennt vielmehr ausschließlich und an allen Stellen lediglich faktische Handlungsmöglichkeiten.130

• Unmittelbarkeit Das Merkmal der Unmittelbarkeit bezweckt, dass eine Grundrechtsbeeinträchtigung nur dann als staatlicher Eingriff zu werten ist, wenn dieser unmittelbar auf sein rechtsförmliches Handeln zurückgeht.131 Zwischen dem Rechtsakt und der Beeinträchtigung eines Grundrechts muss also ein direkter Zusammenhang bestehen und darf nicht nur aufgrund von anderen Zwischenursachen existieren. Auch hierzu ein Beispiel: Der deutsche Bundestag beschließt ein Gesetz, welches z. B. eine telefonische bzw. internetbasierte Überwachung von Privatpersonen durch die Polizei ermöglicht. Die Überwachung darf erst nach richterlichem Beschluss stattfinden, dies allerdings bereits in Bagatellfällen. Obwohl dieses Gesetz sicherlich gegen das Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG verstoßen würde132, wäre eine direkte Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetz nach dem Kriterium der Unmittelbarkeit nicht zuzulassen. Denn um den Grundrechtsschutz des Art. 10 GG zu aktivieren, wäre in diesem Fall noch der richterliche Beschluss notwendig. Erst dieser würde einen Grundrechtseingriff durch die Polizei in dieses Grundrecht bewirken.133 Offensichtlich lässt dieses Kriterium einige Interpretationsspielräume offen. So ist unklar, was genau mit Unmittelbarkeit gemeint ist.134 Wann ist eine Grundrechtsbeeinträchtigung nicht mehr auf staatliches Handeln zurückführbar? Wie viele Zwischenursachen sind dafür notwendig? Eckhoff spricht daher von einer „sprachlichen Verwirrung, die in der Literatur durch den Begriff der »Unmittelbarkeit« angerichtet wird.“135 Neben dieser eher offenen definitorischen Frage attestiert er der Unmittelbarkeit auch, dass sie nicht im Einklang mit dem Grundgesetz steht: Der Versuch, auf die Länge der zur Beeinträchtigung führenden Kausalkette abzustellen, übersieht, dass das Grundgesetz nicht bestimmte Beeinträchtigungsmechanismen sanktioniert, sondern Erfolge zu steuern oder zu verhindern sucht. Die Verfassung enthält keinerlei Kriterien dafür, wie lang eine Kausalkette zwischen staatlicher Maßnahme und grundrechtlicher Einbuße sein darf oder aus welchen Elementen sie bestehen soll. […]

130 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 226 f. 131 Vgl. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 19. 132 Gemäß dem 2. Absatz dieses Artikels kann eine Beschränkung dieses Grundrechts nicht

für Bagatelldelikte gelten. 133 Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 199. 134 Vgl. ebd. 205. 135 Ebd. 206.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit Daran kann auch die zwischengeschaltete (mehr oder weniger freie) Entscheidung eines Dritten oder des Beeinträchtigten selbst nichts ändern.136

• Finalität Das Merkmal der Finalität will sicherstellen, dass ein rechtsförmliches Verhalten des Staats nur dann als Eingriff in ein Grundrecht gewertet werden kann, wenn es von ihm auch willentlich bezweckt wurde.137 Eine Handlung kann demnach dann keinen Eingriff in ein Grundrecht darstellen, wenn die Grundrechtsbeeinträchtigung nicht intendierter Zweck, sondern eine unbeabsichtigte Nebenfolge der Handlung ist. Zur Veranschaulichung kann ein Beispiel aus dem Bereich der Religionsfreiheit herangezogen werden: Eine Glaubensgemeinschaft besitzt als Gebetsstätte ein Haus, welches der einzige Ort ihrer gottesdienstlichen Versammlung ist. Aufgrund von erheblichen Baumängeln wird der Glaubensgemeinschaft verboten, in diesem Haus Versammlungen abzuhalten. Diese staatliche Maßnahme bewirkt zwar eine Störung der Religionsausübung gemäß Art. 4 Abs. 2 GG, ist aber nicht als Eingriff zu werten, da nicht diese Grundrechtsverletzung, sondern der Schutz der Gläubigen intendiert war. Von den Kritikern des klassischen Eingriffsbegriffs wird betont, dass auch dieses Kriterium nicht im Einklang mit der Verfassung steht. Die Grundrechte wollen demnach nicht nur vor gewollten Grundrechtsbeschränkungen schützen, sondern entfalten ihre Schutzwirkung auch dann, wenn ein Grundrecht unabsichtlich verletzt wurde.138 Die Finalität kann damit keinen abschließenden Bestandteil eines Grundrechtseingriffs darstellen. • Imperativität Soll nach dem klassischen Eingriffsbegriff ein Eingriff vorliegen, so muss er auch dem letzten der vier Merkmale entsprechen. Eine als Eingriff zu qualifizierende Grundrechtsverletzung liegt nur dann vor, wenn diese durch den Staat mittels Befehl und Zwang erwirkt wird.139 Ein Grundrechtseingriff kann daher nur dann vorliegen, wenn er gegen den Willen des Bürgers vollzogen wird. Im oben genannten Beispiel der Warnung vor einem bestimmten Unternehmer liegt daher auch deswegen kein Eingriff vor, weil es hier an der staatlichen Befehlsgewalt mangelt und nur eine Information veröffentlicht wurde. An diesem Punkt setzt daher auch die Kritik an der Imperativität an. Der Staat wirkt nicht nur durch Befehl und Gewalt – und wie Eckhoff erwähnt, wohl auch insgesamt nur im geringen Ausmaß – auf die Bürger ein, sondern auch indem er Anreize für ein

136 137 138 139

Ebd. 209. Vgl. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, 19. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 195. Vgl. ebd. 183.

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik

bestimmtes Verhalten schafft.140 So würde beispielsweise eine staatliche Prämienzahlung für Abtreibungen sicherlich einen Eingriff in das Recht auf Leben darstellen, auch wenn mit diesem Anreiz weder Befehl noch Zwang verbunden sind. ii. Zur Kritik am klassischen Eingriffsbegriff Neben den spezifischen Kritikpunkten an den einzelnen Merkmalen dieses Eingriffsbegriffs muss sich der klassische Eingriffsbegriff auch mit einer fundamentalen Kritik auseinandersetzen. Dabei ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, was es bedeutet, wenn ein staatliches Handeln als Grundrechtseingriff qualifiziert wird. Dies bedeutet nämlich nicht, dass solch eine Handlung verfassungsinkompatibel wäre und deswegen verboten. Der Begriff des Eingriffs stellt viel mehr fest, ob eine bestimmte Handlung den Schutz beeinträchtigter Grundrechte auslöst.141 Demnach darf die Qualifizierung einer Handlung als Eingriff nicht primär von formalen Handlungsbeschreibungen ausgehen, sondern vom Grundrechtsberechtigten selbst bzw. von den Positionen, die das Grundgesetz schützen will.142 Dieser Position versucht – wie noch zu zeigen ist – der moderne Eingriffsbegriff gerecht zu werden. In Bezug auf den klassischen Eingriffsbegriff hat das BVerfG daher auch folgerichtig festgestellt: „Das Grundgesetz hat den Schutz vor Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht an den Begriff des Eingriffs gebunden oder diesen inhaltlich vorgegeben.“143 iii. Das Bleibende des klassischen Eingriffsbegriffs Trotz der vielfältigen Kritik am klassischen Eingriffsbegriff sind die Merkmale der Rechtsförmlichkeit, der Unmittelbarkeit, der Finalität und der Imperativität nicht ohne Belang bei der Frage, ob ein Eingriff vorliegt. Denn: „Liegt ein klassischer Eingriff vor, steht die Eingriffsqualität des staatlichen Handelns außer Zweifel.“144 Die einzelnen Charakteristika dieses Eingriffsbegriffs sind also keine notwendigen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Eingriffs, aber doch hinreichende Voraussetzungen.145 Unter den genannten Bedingungen stellt ein grundrechtsrelevantes Handeln des Staats immer einen Eingriff in die Schutzsphäre mindestens eines Grundrechts dar und bedarf somit einer besonderen Rechtfertigung durch die Schrankenregelung der Grundrechte.146 140 141 142 143 144 145 146

Vgl. ebd. 185. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 104, Rd.-Nr.: 35. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 228. BVerfGE 105, 279 (300). Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 233. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 247, Rd.-Nr.: 496. Vgl. dazu Abschnitt 2.3 dieses Kapitels.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

b) Der moderne Eingriffsbegriff Wie deutlich wurde, zielen die Kriterien des klassischen Eingriffsbegriffs darauf ab, staatliches Handeln dann als Eingriff zu qualifizieren, wenn es bestimmten formalen Regelungen entspricht. Die Kritik an den einzelnen Merkmalen hat aber gezeigt, dass staatliche Handlungen nicht umfassend mit ihnen erfasst werden können. Die Schutzwirkung der Grundrechte muss viel eher umfassend gedacht werden, so dass prinzipiell jegliches grundrechtsberührende Handeln eines Grundrechtsverpflichteten einen potentiellen Eingriff darstellen kann. Die Vertreter des modernen Eingriffsbegriffs argumentieren daher so: „Die Grundrechtsbindung darf nicht davon abhängen, ob der Staat eine Grundrechtsbeeinträchtigung durch rechtsförmliches Regeln oder aber rein faktisch bewirkt.“147 Dementsprechend werden auch die Definitionen des Eingriffs weiter gefasst. So heißt es bei Müller-Franken: „Eingriff ist die nicht unerhebliche Einwirkung auf das Schutzgut gegen den Willen des Berechtigten.“148; Eckhoff formuliert: »Grundrechtseingriff« wäre danach jede staatliche Maßnahme, die einen Grundrechtsträger (zu ergänzen ist: im Schutzbereich eines Freiheitsrechts) mit einem Nachteil belastet, ihn mit anderen Worten beeinträchtigt.149

Auf den Punkt bringt Borowski den Grundgedanken des modernen Eingriffsbegriffs, wenn er formuliert: „[J]edes belastende staatliche Handeln stellt grundsätzlich einen Grundrechtseingriff dar.“150 Der moderne Eingriffsbegriff verlagert damit den Fokus weg von der Handlungsweise des Staats und hin auf den konkreten Bürger und seinen Grundrechtsschutz. Wird dieser verletzt, liegt prinzipiell ein Eingriff vor. Aber auch dieser Eingriffsbegriff muss Merkmale für einen Eingriff entwickeln. Dabei greift er auf die Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs zurück und erweitert diese151: Die Rechtsförmlichkeit weicht dem Kriterium der Faktizität der Grundrechtsbeeinträchtigung. Statt der Unmittelbarkeit wird die Zurechenbarkeit genannt. Die Finalität wird zur Vorhersehbarkeit erweitert und die Imperativität wird zu Gunsten der Intensität aufgegeben.

147 148 149 150 151

Michael/Morlok, Grundrechte, 247, Rd.-Nr.: 494. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 105, Rd.-Nr.: 36. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 238 f. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 233. Vgl. Epping, Grundrechte, 164, Rd.-Nr.: 384.

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i. Die Merkmale des modernen Eingriffsbegriffs • Faktizität Dieses erste Merkmal wird in der gegenwärtigen Literatur nur äußerst knapp behandelt. Bei Volker Epping findet sich z. B. lediglich ein Satz zur Faktizität: „Die Grundrechtsbeeinträchtigung kann (mittelbar) durch Rechtsakt, aber auch durch Realakt erfolgen.“152 Das Merkmal der Faktizität beruht auf der Tatsache, dass staatliches Handeln nicht darauf beschränkt ist, ausschließlich auf rechtlichem Wege zu wirken. Michael und Morlock erwähnen hierzu, dass erst durch dieses Kriterium beispielsweise das Eingreifen von Ordnungskräften bei Demonstrationen einen Grundrechtseingriff darstellen kann.153 Die Faktizität setzt also bei dem ganz konkreten Grundrecht an, fragt nach seinem Schutzbereich und ob dieser faktisch beeinträchtigt wurde. Mit diesem Merkmal ist es auch möglich, dass ein Unterlassen des Staats als Eingriff gewertet werden kann, dann nämlich, wenn eine nicht-staatlich verursachte Beeinträchtigung nicht beseitigt wird. • Zurechenbarkeit Das der Zurechenbarkeit komplementäre Merkmal der Unmittelbarkeit hatte zum Ziel, eine gewisse »kausale Begrenzung« vorzunehmen. Ab einer gewissen Anzahl von Zwischenursachen, die freilich nicht exakt definiert wurde, sei der Staat nicht mehr für Grundrechtsverletzungen verantwortlich. Auch die Zurechenbarkeit operiert mit Kausalketten, wenn es z. B. heißt: „Der Erfolg [der Beeinträchtigung] ist dem Staat jedenfalls dann zurechenbar, wenn er ohne wesentliche Zwischenursachen eintritt“.154 Als wesentliche Zwischenursache gilt dabei aber nicht das Verhalten eines Dritten, wenn es die direkte Folge einer staatlichen Handlung ist.155 Oben wurde das fiktive Beispiel einer Prämienzahlung für Abtreibungen genannt. Würden Ärzte daraufhin vermehrt Abtreibungen vornehmen, so läge zwar eine wesentliche Zwischenursache vor, nämlich die Entscheidung des Arztes. Dennoch müsste sich der Staat hier für einen Grundrechtseingriff rechtfertigen, da dieses ärztliche Verhalten dem Staat zurechenbar ist. Ob die Zurechenbarkeit ein wirkmächtigeres Merkmal darstellt als die Unmittelbarkeit, ist zumindest fraglich. Denn alleine durch einen Begriffswechsel sind die mit dem Begriff der Unmittelbarkeit verbundenen Probleme nicht gelöst. Die Frage, ob eine Grundrechtsbeeinträchtigung unmittelbar auf ein staatliches Handeln zurückzuführen ist, wird hier schlicht durch die Frage ersetzt, ob eine Grundrechtsbeeinträchtigung staatlichem Handeln zurechenbar ist. Unter welchen Umstän152 153 154 155

Ebd. 164, Rd.-Nr.: 382. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 247, Rd.-Nr.: 497. Epping, Grundrechte, 163, Rd.-Nr.: 380. Vgl. ebd.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

den allerdings von Unmittelbarkeit bzw. Zurechenbarkeit gesprochen werden kann, bleibt ungeklärt. Wohlwollend lässt sich nur festhalten, dass die Zurechenbarkeit eine durchaus längere Kausalkette impliziert als die Unmittelbarkeit. • Vorhersehbarkeit Die Vorhersehbarkeit verlangt im Gegensatz zur Finalität von einem Eingriff nicht, dass die Grundrechtsbeeinträchtigung vom Staat direkt gewollt ist, sondern lediglich, dass sie vorhersehbar ist. „Vorhersehbar ist eine Beeinträchtigung, wenn sie typische bzw. in Kauf genommene Nebenfolge staatlichen Handelns ist.“156 Am genannten Beispiel der Warnung vor den Praktiken eines Unternehmens kann gezeigt werden: Das für den Unternehmer geschäftsschädigende Verhalten der Bürger war für den Staat durchaus vorhersehbar; es stellt somit einen Eingriff dar. Pointiert wendet sich aber Eckhoff gegen dieses Merkmal der Vorhersehbarkeit. Für ihn besteht der Grundrechtschutz darin, dass die Bürger vor allen Beeinträchtigungen geschützt werden sollen. Ob eine Beeinträchtigung vorhersehbar ist oder nicht, spiele in der Frage, ob ein Eingriff vorliegt, keine Rolle.157 Sicherlich hat Eckhoff in diesem Punkt Recht. Aus der Sicht des Grundrechtsberechtigten ist es zunächst unerheblich, ob seine Grundrechtsbeeinträchtigung vorhersehbar war oder nicht. Bei der Frage allerdings, wer letztlich diese Beeinträchtigung zu verantworten hat, kann auf dieses Merkmal kaum verzichtet werden. Zumindest muss auch bedacht werden, dass einzelne Bürger völlig ungewöhnlich – und damit unvorhersehbar – auf eine staatliche Handlung reagieren können. In diesem Fall wäre eine staatliche Verantwortung für diesen Eingriff ausgeschlossen.158 • Intensität Das letzte Merkmal des modernen Eingriffsbegriffs ist die Intensität. Intensität bedeutet, dass eine Grundrechtsbeeinträchtigung den Grundrechtsberechtigten „besonders schwer und unzumutbar“159 betreffen muss, damit diese als Eingriff gewertet werden kann. Nach diesem Merkmal stellen nicht alle belastenden Maßnahmen für den Bürger einen Eingriff in seine Grundrechte dar, sondern nur jene, die eine gewisse Eingriffsschwelle überschreiten.160 Das BVerfG sieht die Überschreitung dieser Eingriffsschwelle dann als gegeben an, wenn die Beeinträchtigungen „in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen Eingriffen [gemeint sind die klassischen Eingriffe] gleichkommen.“161 Allerdings fehlt es an klaren

156 157 158 159 160 161

Ebd. 163, Rd.-Nr.: 381. Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 247. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 61, Rd.-Nr.: 90. Epping, Grundrechte, 164, Rd.-Nr.: 383. Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 27, Rd.-Nr.: 29. BVerfGE 116, 202 (222).

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Kriterien, diese Eingriffsschwelle exakt zu definieren.162 Formal lässt sich sagen, dass die Eingriffsschwelle von Grundrecht zu Grundrecht unterschiedlich ausgelegt werden muss, je nach axiologischem Stellenwert des Grundrechts.163 Für Beschränkungen der Menschenwürde reicht z. B. eine geringere Beeinträchtigungsintensität aus als für Beeinträchtigungen der Berufswahl. ii. Zur Kritik am modernen Eingriffsbegriff Ein Problem des modernen Eingriffsbegriffs resultiert direkt aus seinem Ansatz. Da dieser den Eingriffsbegriff möglichst weit fassen möchte, um alle denkbaren Handlungsmöglichkeiten des Staats abzudecken, werden die einzelnen Kriterien des Eingriffs zwangsläufig unscharf. Dies hat zur Folge, dass die Bewertung staatlicher Maßnahmen weitaus stärker von subjektiven Wertungen abhängt als es bei dem klassischen Eingriffsbegriff der Fall ist.164 Hier ist es möglich, anhand objektiver Kriterien einen Eingriff zu definieren. Diese Objektivität, die mit einer Engführung des Grundrechtsschutzes verbunden ist, wurde beim modernen Eingriffsbegriff zu Gunsten einer stärkeren Subjektivität – aber auch einer Ausweitung des Grundrechtsschutzes  – aufgegeben. Diesen Kritikpunkt der stärkeren Subjektivität aufgreifend, schreibt Eckhoff: Zwar lässt sich auf diesem Wege keine mit mathematischer Genauigkeit anwendbare Eingriffsdefinition erstellen, die die richterliche Entscheidung jeweils vorhersehbar machen würde. Solche Vorhersehbarkeit wird bei anderen Rechtsfragen aber auch (ganz allgemein zu Recht) nicht erwartet. Solange Wertungen vorgenommen werden müssen, ist solche Sicherheit des Urteils nicht zu erreichen.165

In der Grundrechtsdogmatik stellt sich allerdings nicht die Frage, ob man nur den klassischen oder nur den modernen Eingriffsbegriff anwendet. Vielmehr lässt sich im Einklang mit dem BVerfG166 sagen, dass die Kriterien des modernen Eingriffsbegriffs rechtfertigungsbedürftige Grundrechtsbeeinträchtigungen darstellen, innerhalb derer der klassische Eingriffsbegriff eine besondere Klasse von Grundrechtsbeeinträchtigungen markiert.

162 163 164 165 166

Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 253. Vgl. ebd. 243. Vgl. Epping, Grundrechte, 164, Rd.-Nr.: 383. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 255. BVerfGE 105, 279 (300).

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

1.6.3 Die Grundrechtsschranken Wie bereits mehrfach erwähnt, erfasst der Begriff des Eingriffs nur die Frage, ob eine Grundrechtsbeeinträchtigung durch ein – im weitesten Sinn verstandenes  – staatliches Handeln vorliegt. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ein solcher Eingriff verfassungswidrig ist. Ein Grundrechtseingriff kann nämlich gerechtfertigt sein, wenn er durch eine Grundrechtsschranke abgedeckt ist. Diese hat die (sehr allgemein formulierte) Aufgabe, die Verwirklichung von Individualinteressen zu Gunsten des Gemeinwohls einzuschränken.167 Eine Grundrechtsschranke ist daher zu definieren als ein Rechtssatz, der Eingriffe in grundrechtliche Schutzgüter rechtfertigt, indem er die für diese Eingriffe sprechenden Gründe in verfassungsrechtlich zulässiger Weise gegenüber dem grundrechtlich geschützten Rechtsgut zur Abwägung bringt.168

In dieser Eckhoffschen Definition ist aber noch zu ergänzen, dass eine solche Abwägung zu Gunsten der für den Eingriff sprechenden Gründe nur so weit gehen darf, „dass damit die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“169 Daraus ergibt sich, dass – sofern gewichtige Gründe dafür sprechen – prinzipiell jedes Grundrecht innerhalb eines gewissen Rahmens170 beschränkt werden kann, mit Ausnahme von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 16 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.171 Die Grundrechte sind Verfassungsrecht, d. h. das höchst angesiedelte Recht in der BRD. Deshalb können Schranken nur dann rechtmäßig formuliert werden, wenn sie von der Verfassung her vorgesehen sind und sich die Gründe für eine Einschränkung auch aus der Verfassung ergeben. Alexy beschreibt dieses Sachverhalt so: „Eine Norm kann nur dann eine Grundrechtsschranke sein, wenn sie verfassungsgemäß ist.“172 Grundlegende Voraussetzung dafür, dass ein Grundrecht beschränkt werden kann, ist daher ein im Grundgesetz jeweils formulierter Gesetzesvorbehalt.173

Vgl. Hofmann, Art. 1, 113, Rd.-Nr. 4. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 24. Hopfauf, Einleitung, 59, Rd.-Nr.: 113. Zu den sogenannten Schranken-Schranken vgl. Gliederungspunkt b) des Abschnitts 1.6.3 dieses Kapitels. 171 Vgl. dazu Abschnitt 1.5.3 dieses Kapitels. 172 Alexy, Theorie der Grundrechte, 254. 173 Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 23. 167 168 169 170

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a) Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt174 Die Möglichkeit, Grundrechte einzuschränken, findet sich eindeutig bei den Grundrechten, die bereits mit einem Gesetzesvorbehalt formuliert sind. Ein Gesetzesvorbehalt muss allerdings von einer Grundrechtsschranke unterschieden werden. Der Gesetzesvorbehalt bietet nur die Handhabe zur Formulierung einer Schranke, ist aber selbst noch keine.175 Die Grundrechtslehre unterscheidet dabei zwischen einem einfachen und einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Ein Beispiel für einen einfachen Gesetzesvorbehalt findet sich in Art. 8 Abs. 2 GG („Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“). Er zeichnet sich dadurch aus, dass die Möglichkeit eines eingrenzenden Gesetzes lediglich erwähnt wird, ohne dieses Gesetz näher zu qualifizieren.176 Ergänzend dazu kennt das Grundgesetz auch Formulierungen, die ein grundrechtseinschränkendes Gesetz präzisieren. Diese Einschränkungsmöglichkeit wird mit dem Terminus »qualifizierter Grundrechtsvorbehalt« erfasst. Borowski unterscheidet dabei zwischen formellen und materiellen Spezifizierungen.177 Ein formell-qualifizierter Grundrechtsvorbehalt findet sich z. B. in Art. 5 Abs. 2 GG: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Art. 11 Abs. 2 GG beschreibt einen materiell-qualifizierten Grundrechtsvorbehalt: Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.

174 Der Gesetzesvorbehalt soll hier nur kurz und der Vollständigkeit halber behandelt wer-

den. Für die Frage nach Beschränkungsmöglichkeiten der Gewissensfreiheit spielt er keine Rolle. 175 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 254 f. 176 Vgl. Epping, Grundrechte, 18, Rd.-Nr.: 44. 177 Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 260.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

b) Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte In allen Fällen, in denen das Grundgesetz einzelne Grundrechte mit einem Gesetzesvorbehalt vorsieht, sind Schrankenregelungen grundrechtsdogmatisch einfach zu handhaben, da hier die Verfassung selbst Beschränkungsmöglichkeiten vorsieht. Allerdings kennt das Grundgesetz auch Grundrechtsnormen, die vorbehaltlos, d. h. ohne einen Gesetzesvorbehalt formuliert sind, so z. B. die Gewissensfreiheit. Bedeutet dies nun, dass diese Grundrechte nicht beschränkt werden können und damit Eingriffe immer verfassungswidrig sind? In der Literatur wird diese Position vereinzelt vertreten.178 So schreibt Vosgerau: „Schrankenvorbehaltlose Grundrechte sind nicht einschränkbar, was aus ihrem Wortlaut folgt und durch Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG bestätigt wird.“179 Seine These untermauert er dabei durch folgenden Gedankengang: Zunächst beruft er sich – wie im Zitat deutlich wird – auf eine wörtliche Auslegung des Grundgesetzes. Demnach sind bei den vorbehaltlos garantierten Grundrechten keine Beschränkungen vorgesehen. Vom reinen Textbefund ausgehend stellt er daraufhin fest, dass solche Grundrechte „wie Fremdkörper in dieser Rechtsordnung“180 wirken. Er sieht sich nun mit dem Problem konfrontiert, wie diese Grundrechte sinnvoll in die gesamte Rechtsordnung eingegliedert werden können, ohne den Gleichheitsgrundsatz zu gefährden.181 Die Gleichheit vor dem Gesetz wäre nämlich verletzt, wenn beispielsweise zwei verschiedene Personen eine identische Handlung vollziehen möchten. Die eine Person beruft sich dabei auf die allgemeine Handlungsfreiheit und die andere Person auf die Gewissensfreiheit. Der ersten Person könnte es nun widerfahren, dass die öffentliche Gewalt mittels einer Vorbehaltsregelung in ihr Grundrecht eingreift, während die zweite Person einen solchen Eingriff nicht zu befürchten hätte. Dies sei aber eine fundamentale Verletzung des Gleichheitssatzes. Vosgerau versucht nun dieses Problem zu lösen, indem er annimmt, die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte seien derart konzipiert worden, dass sie zu keinerlei Konflikten mit der demokratischen Grundordnung führen können.182 Ihr sachlicher Schutzbereich sei deswegen von vornherein so zu denken, „dass er mehr oder minder zwanglos mit dem restlichen System des Grundgesetzes harmonisiert.“183 Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte schützten demnach nur einen inneren Bereich persönlicher Über178 Z. B. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grund-

179 180 181 182 183

rechtsdogmatik, Berlin 21990; oder Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 171. Ebd. 67. Vgl. ebd. 171. Vgl. ebd. 40. Ebd. 174.

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zeugungen des Grundrechtsberechtigten, das sog. forum internum.184 In dieses forum internum dürfe die staatliche Gewalt nicht eingreifen, weshalb sie ohne Schrankenmöglichkeit formuliert wurden. Zusammenfassend resümiert Vosgerau: Daher sind schrankenvorbehaltlos gewährleistete Grundrechte systematisch als punktuelle Minimalgewährleistungen auszulegen im Sinne eines Verbots der Verfolgung Andersdenkender. Niemand darf allein wegen seines religiösen Glaubens verfolgt werden, ein Maler darf nicht Malverbot erhalten usw. Einen Bedarf für eine Schrankengesetzgebung hinsichtlich dieser Garantien gibt es im menschenwürdegeleiteten Staat nicht.185

Dieser Grundrechtsauslegung folgen weder weite Teile der Literatur noch das BVerfG. Ausgehend von der Annahme, dass der Schutzbereich gerade nicht besonders eng, sondern prima facie weit auszulegen ist, sei es „die logische Folge eines geordneten menschlichen Zusammenlebens“186, dass auch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte prinzipiell beschränkt werden können. Zunächst bleibt aber festzuhalten, dass diese Grundrechte nicht durch die einfache Gesetzgebung beschränkt werden können, da das Grundgesetz eine Beschränkungsmöglichkeit im jeweiligen Artikel nicht vorsieht.187 Gründe für eine Beschränkungsmöglichkeit muss auch hier die Verfassung selbst bereitstellen, daher spricht man an dieser Stelle auch von verfassungsimmanenten Schranken.188 Entsprechend hat das BVerfG festgelegt: Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen.189

Diese Entscheidung formuliert sowohl den Grund für eine Schrankenregelung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte als auch die Bedingungen, unter denen diese beschränkt werden können. Als Gründe nennt das BVerfG die Einheit der Verfassung und deren Wertordnung. Diese Argumentation ist der von Vosgerau im Grunde nicht unähnlich. Wie er möchte das BVerfG rechtliche Ungleichheiten ausschließen190, indem es die Einheit der Verfassung als Grundla-

184 185 186 187 188 189 190

Vgl. ebd. Ebd. 207 f. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 106, Rd.-Nr.: 38. Vgl. BVerfGE 12, 45 (53). Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 342, Rd.-Nr.: 723. BVerfGE 28, 243 (261). Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 70, Rd.-Nr.: 123.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

ge für Grundrechtsentscheidungen postuliert. Allerdings sollen dabei die vorbehaltlosen Grundrechte nicht auf ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz reduziert werden, sondern einen möglichst weiten Schutzbereich enthalten. Dieser weite Schutzbereich ergibt sich aus der Wertordnung des Grundgesetzes, welche der individuellen Freiheit ein Höchstmaß an Bedeutung zuspricht.191 Beschränkbar sind diese Grundrechte – allerdings nur in Ausnahmefällen –, wenn sie in Konflikt geraten mit den Grundrechten Dritter oder anderen Rechtswerten mit Verfassungsrang. Damit diese Schrankenregelung aber überhaupt zur Geltung kommen kann, müssen nach Sachs drei Bedingungen erfüllt sein: Der für die grundrechtsbegrenzende Wirkung erforderliche Normkonflikt setzt voraus, dass Grundrechtsgewährleistungssatz und begrenzende Verfassungsnorm dieselbe Materie so regeln, dass beide nicht zugleich gelten können. Der Normwiderspruch muss ferner unvermeidlich sein, d. h. es muss unmöglich sein, beiden Verfassungsnormen gleichzeitig zu genügen, und der Widerspruch muss nicht nur theoretisch vorstellbar sein, sondern bei realistischer Einschätzung der Tatumstände bestehen.192

Was bedeuten diese beiden Beschränkungsmöglichkeiten nun konkret? i. Grundrechte Dritter als Beschränkungsmöglichkeit Als erste Schranke vorbehaltloser Grundrechte nennt das BVerfG die Grundrechte Dritter. Diese Schrankenregelung ist in ihren Grundzügen evident. Eine Grenze des eigenen grundrechtsgeschützten Handelns ist prima facie dort erreicht, wo sie in den Freiheitsbereich eines Dritten eingreift. Wie unter Abschnitt 1.4.2 dieses Kapitels bereits beschrieben, aktiviert ein solcher Eingriff eines Bürgers in die Grundrechte eines Dritten die grundrechtliche Schutzgebotsfunktion gegenüber dem Staat. Die Lösung eines solchen Grundrechtskonflikts liegt anschließend in der Herbeiführung der praktischen Konkordanz.193

191 So heißt es z. B. in einer Entscheidung des BVerfG zur Kriegsdienstverweigerung: „Da-

bei gilt es zum einen, den Staat, der der Gewissensentscheidung selbst im Falle der Gefährdung seiner Existenz [!] Vorrang gibt, vor einer missbräuchlichen Berufung auf das Grundrecht zu schützen. Zum anderen geht es aber auch um den Schutz der Gewissensfreiheit selbst, die gerade dann gefährdet wird, wenn sie dazu benutzt werden kann, sich den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten zu entziehen.“ (BVerfGE 69,1 (24)). 192 Sachs, Die Grundrechte, 70, Rd.-Nr.: 122. 193 Vgl. dazu Abschnitt 1.5.2 dieses Kapitels.

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ii. Rechtswerte mit Verfassungsrang als Beschränkungsmöglichkeit Schwieriger gestaltet sich die inhaltliche Ausgestaltung der sog. Rechtswerte mit Verfassungsrang, da unklar ist, wie diese zu definieren sind. So wendet sich Vosgerau explizit gegen die Vorstellung solcher Rechtswerte. Denn in dieses Paradigma wird das Grundgesetz zu einer Ansammlung von ‚100 oder 150‘ Verfassungsgütern, die in zahllosen Kollisionen zueinander stehen […]: eine Herangehensweise, die herkömmlichen juristischen Anforderungen an Methodik und Dogmatik kaum genügen kann.194

Neben dieser inhaltlichen Problematik wird auch die Frage gestellt, ob solche Rechtswerte überhaupt in der Lage sein können, Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen.195 Doch zunächst gilt es die Frage zu klären, was Rechtswerte mit Verfassungsrang sind. Zu ihnen werden die sogenannten Staatsstrukturprinzipien und die Staatszielbestimmungen gerechnet.196 Zentrales Staatsstrukturprinzip ist Art. 20 Abs. 1 GG („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte dann beschränkt werden können, wenn sie beispielsweise in Konflikt mit der demokratischen Grundordnung der BRD geraten. Zu den Staatszielen gehört – neben dem Schutz der Menschenwürde – auch Art. 20a GG197: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Auch der Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG kann als Staatsziel formuliert werden. Weiterhin sieht das BVerfG vor, dass auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit198 und die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr199 verfassungsrechtlichen Rang inne haben. Am Beispiel der Arbeitslosigkeitsbekämpfung wird deutlich, dass die Kritiker dieser Beschränkungsmöglichkeit nicht zu Unrecht die unklare Definition der Rechtswerte mit Verfassungsrang bemängeln. Denn das BVerfG leitet die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus 194 195 196 197 198 199

Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 171. Vgl. Epping, Grundrechte, 33, Rd.-Nr.: 81. Vgl. ebd. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 344, Rd.-Nr.: 727. Vgl. BVerfGE 116, 202 (223). Vgl. BVerfGE 69, 1 (21).

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nicht weniger als vier Grundrechtsartikeln ab: Dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG, der Freiheit der Berufswahl in Art. 12 Abs. 1 GG, dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung in Art. 2 Abs. 1 GG und schließlich der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG.200 Es wird erkennbar, dass aus der Kombination verschiedenster Verfassungsnormen eine Vielzahl von Verfassungsgütern gewonnen werden kann, die allesamt den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten Schranken setzen können. Daher erscheint es sinnvoll, die Rechtswerte mit Verfassungsrang auf jene Bestimmungen zu begrenzen, die explizit in der Verfassung genannt werden. Andererseits liefe man Gefahr, die Schutzfunktion der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte im Vergleich zu den Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt unverhältnismäßig zu beschränken.201 Ob nun solche Rechtswerte mit Verfassungsrang überhaupt das Potential haben, Eingriffe zu rechtfertigen, wird in der Literatur kontrovers beurteilt. Epping beispielsweise verneint diese Möglichkeit, da diese Rechtswerte zwar zum Ausdruck bringen, was der Staat verwirklichen soll, aber nicht auf welchem Wege.202 Sachs hingegen möchte ihnen diese Fähigkeit nicht prinzipiell absprechen. Gleichzeitig stellt er fest, dass hinter manchen dieser Bestimmungen kein ausreichender Normcharakter vorliegt.203 Diese Debatte spiegelt sicherlich auch die Unsicherheit bezüglich der inhaltlichen Bestimmung dieser Rechtswerte wider. Dennoch scheint es plausibel, dass zumindest die expressis verbis genannten Verfassungsgüter grundrechtsbegrenzend wirken können, ähnlich wie es bei den Grundrechten Dritter der Fall ist.

c) Die Schranken-Schranken Auch wenn ein Eingriff durch eine Schranke gerechtfertigt ist, gibt es weitere Regelungen, welche diese Eingriffsrechtfertigung nochmals kritisch reflektieren. Durch sog. Schranken-Schranken werden Schrankenregelungen wiederum begrenzt. Selbst die Grundrechte, die mit einem Gesetzesvorbehalt versehen sind, können also nicht uneingeschränkt beschränkt werden.204 Im Einzelnen lassen sich im Grundgesetz und in der Literatur fünf solcher Schranken-Schranken ausmachen.

200 201 202 203 204

Vgl. BVerfGE 116, 202 (223). Vgl. Jarass, Vorbemerkung vor Art. 1, 34, Rd.-Nr.: 48. Vgl. Epping, Grundrechte, 33, Rd.-Nr.: 81. Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 72, Rd.-Nr.: 133. Vgl. Epping, Grundrechte, 18, Rd.-Nr.: 45.

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i. Der Vorbehalt des Gesetzes Der Gesetzesvorbehalt sagt aus, dass in Grundrechte nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Diese Schranken-Schranke ergibt sich aus dem Rechtsstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Der Vorbehalt des Gesetzes will den Bürger vor staatlicher Willkür schützen und staatliche Entscheidungen voraussehbar gestalten.205 Bei den Grundrechten, die mit einem Gesetzesvorbehalt ausgestattet sind, ist diese Schranken-Schranke augenscheinlich. Aber auch für die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte gilt der Vorbehalt des Gesetzes. Wenn schon Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt (nur) durch den Gesetzgeber beschränkt werden dürfen, so muss dies ‚erst recht‘ für die stärker geschützten Grundrechte ohne Vorbehalt gelten.206

Müller-Franken stellt daher zu Recht fest, dass die verfassungsimmanenten Schranken keine unmittelbare Beschränkung der Grundrechte ohne Vorbehalt darstellen, sondern lediglich als mittelbare Schranken anzusehen sind.207 Der Vorbehalt des Gesetzes ist direkt kompatibel mit dem klassischen Eingriffsbegriff, der Eingriffe prinzipiell an rechtsförmliches Handeln gebunden hat. Der moderne Eingriffsbegriff kann von dieser Schranken-Schranke allerdings nicht so einfach erfasst werden. Dennoch hält das BVerfG daran fest, dass auch Eingriffe nach dem modernen Verständnis einem modifizierten Gesetzesvorbehalt unterliegen208, so dass im Einzelfall auch eine Kompetenznorm, die im strengen Sinn kein Gesetz ist, das Gebot des Gesetzesvorbehalts erfüllen kann.209 ii. Das Verbot des Einzelfallgesetzes Dieses Verbot findet sich in Art. 19 Abs. 1 GG („Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten.“). Das BVerfG erläutert diese Norm wie folgt: Die Anforderung, dass das Gesetz allgemein zu sein hat, ist dann erfüllt, wenn sich wegen der abstrakten Fassung der gesetzlichen Tatbestände nicht absehen lässt, auf wieviele und 205 206 207 208 209

Vgl. ebd. Rd.-Nr.: 390. Ebd. 35, Rd.-Nr.: 83. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 108, Rd.-Nr.: 46. Vgl. BVerfGE 105, 279 (303). Vgl. Epping, Grundrechte, 169, Rd.-Nr.: 394.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit welche Fälle das Gesetz Anwendung findet, wenn also nicht nur ein einmaliger Eintritt der vorgesehenen Rechtsfolgen möglich ist. Dass der Gesetzgeber eine Anzahl konkreter Fälle vor Augen hat, die er zum Anlass seiner Regelung nimmt, verleiht dieser nicht den Charakter eines Einzelfallgesetzes, wenn sie nach der Art der in Betracht kommenden Sachverhalte geeignet ist, unbestimmt viele weitere Fälle zu regeln. Die abstrakt-generelle Formulierung darf mithin nicht zur Verschleierung einer einzelfallbezogenen Regelung dienen.210

Eine gesetzliche Regelung darf also nicht mit der Intention formuliert werden, nur einen konkreten Einzelfall zu erfassen, sondern muss die Allgemeinheit betreffen. Dieses Einzelfallverbot versieht das BVerfG allerdings in einer anderen Entscheidung mit einer wesentlichen Ausnahme: Die gesetzliche Regelung eines Einzelfalles ist hingegen nicht ausgeschlossen, wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, daß es nur einen Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhaltes von sachlichen Gründen getragen wird.211

Epping zufolge sorgt diese Ausnahmeregelung des BVerfG dafür, „dass das Verbot des Einzelfalles in der Praxis nahezu bedeutungslos ist.“212 iii. Die Wesensgehaltsgarantie Die Wesensgehaltsgarantie ist in Art.  19 Abs.  2 GG verankert: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Bei einer Normenkollision bedeutet dies, dass bei der Herstellung der praktischen Konkordanz eine Norm nur insofern zurückgedrängt werden darf, dass ihr Wesensgehalt nicht angetastet wird.213 Allerdings herrscht Uneinigkeit darüber, wie der Wesensgehalt einzelner Grundrechtsnormen definiert werden kann, d. h. der Bereich, der immer und unbedingt geschützt werden muss.214 Einen Lösungsvorschlag in dieser Frage versucht ein Ansatz zu bieten, der nicht nach dem fragt, was unantastbar geschützt werden soll, sondern wem dieser Schutz zu Gute kommen soll.215 Zwei Möglichkeiten stehen dabei zur Auswahl. Einmal kann die Wesensgehaltsgarantie dem Einzelnen in einem konkreten Grundrechtskonflikt Schutz vor Aushöhlung seines Grundrechts bieten, zum anderen kann sie aber auch für die Allgemeinheit bestimmt sein. Im zweiten Fall wäre der Wesensgehaltsgarantie Genüge getan, 210 211 212 213 214 215

BVerfGE 99, 367 (400). BVerfGE 85, 360 (374). Epping, Grundrechte, 28, Rd.-Nr.: 69. Vgl. BVerfGE 28, 243 (261). Vgl. Epping, Grundrechte, 62, Rd.-Nr.: 140. Vgl. ebd.

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Überblick über die allgemeine deutsche Grundrechtsdogmatik

wenn zwar in einem konkreten Einzelfall der Grundrechtsschutz versagt wird, aber im Allgemeinen die Schutzfunktion bestehen bleibt. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, das schwierige Feld der Wesensgehaltsbestimmung zu umgehen. Allerdings widerspricht er der genannten Entscheidung des BVerfG, das den Wesensgehalt auch in einer konkreten Konfliktsituation gewahrt wissen will. Zudem muss man mit Epping die Frage stellen, was ein Grundrechtsschutz einem Bürger nutzt, der ihm zwar in einer konkreten Situation abgesprochen wird, aber für die anderen Bürger weitergelten soll?216 Es dürfte also kein Weg daran vorbei führen, die sicherlich schwierige Aufgabe der Wesensgehaltsbestimmung für einzelne Grundrechte durchzuführen. iv. Die Menschenwürde Die Menschenwürde ist eine weitere Schranken-Schranke. Wenn demnach ein Eingriff in ein Grundrecht zwar durch eine Schranke gerechtfertigt ist, der Eingriff aber einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, so ist er verfassungswidrig.217 Dies beruht auf der genannten Bestimmung, dass das Grundrecht der Menschenwürde stets abwägungsfrei gewährleistet ist. Eine Normenkollision im Bereich der Menschenwürde ist also immer so zu lösen, dass die Menschenwürde ohne Einbußen in ihrem Schutzbereich zur vollen Geltung gelangt. v. Die Verhältnismäßigkeit Als Schranken-Schranke mit der größten Bedeutung wird die Verhältnismäßigkeit bezeichnet.218 Sie ist ein Instrument, um festzustellen, ob ein Mittel – in diesem Fall der Eingriff – dazu geeignet ist, einen bestimmten Zweck zu erfüllen.219 Zur Prüfung, ob ein Eingriff verhältnismäßig ist, werden drei Einzeluntersuchungen durchgeführt: Die Prüfung der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. • Die Geeignetheit Bei der Geeignetheitsprüfung wird die Frage gestellt, ob ein Mittel überhaupt in der Lage ist, dem gewünschten Zweck zuträglich zu sein.220 An dieses Kriterium 216 Vgl. ebd. 63, Rd.-Nr. 140. 217 Vgl. Hillgruber, Art. 1, 8, Rd.-Nr.: 9. 218 Vgl. Sachs, Die Grundrechte, 73, Rd.-Nr.: 135. Auch die deutschen Bischöfe beziehen sich

auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip und sehen in ihm eine „Freiheitsverträglichkeitsprüfung“. Vgl. dazu: Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Terrorismus als ethische Herausforderung. Menschenwürde und Menschenrechte, Bonn 2011, 40. 219 Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 297, Rd.-Nr.: 611. 220 Vgl. Epping, Grundrechte, 20, Rd.-Nr.: 52.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

werden nur sehr geringe Anforderungen gestellt: „Geeignet ist ein Mittel bereits dann, wenn es einem Zweck überhaupt dient, ihm also in irgendeiner Weise dienlich ist.“221 Außerdem muss das Mittel sich nicht unbedingt in der Realität als geeignet erweisen, vielmehr reicht es aus, wenn es theoretisch zur Erreichung eines Zwecks hilfreich ist.222 Unter dieser Perspektive ist ein Mittel dann unverhältnismäßig, wenn es überhaupt keinen positiven Beitrag zur Umsetzung eines gesetzten Zwecks leistet. • Die Erforderlichkeit Das zweite Kriterium zielt auf einen Vergleich der zur Verfügung stehenden Mittel ab. So fragt es danach, ob ein eingesetztes Mittel wirklich erforderlich ist oder ob nicht andere schonendere Mittel eingesetzt werden können.223 Bei der Eingriffsthematik kann ein schonenderes Mittel entweder eines sein, das überhaupt nicht in ein Grundrecht eingreift oder eines, das weniger drastisch zu einer Grundrechtsbeeinträchtigung führt.224 Ein Mittel ist also dann unverhältnismäßig, wenn es im Vergleich mit anderen Mitteln – bei gleicher Effektivität – nicht auf schonendere Art und Weise einem Zweck dient. • Die Angemessenheit Als drittes Kriterium, das auch manchmal als Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bezeichnet wird, wird die Angemessenheit genannt. Die Angemessenheit eines Mittels bzw. des Eingriffs muss dabei von zwei Bezugspunkten her definiert werden. Zum einen stellt sich die Frage, ob ein Eingriff dem Schutzcharakter eines Grundrechts angemessen ist.225 Ein und derselbe Eingriff kann also unterschiedlich bewertet werden, je nachdem, in welches Grundrecht er eingreift. Prima facie müssen die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte hierbei als diejenigen Grundrechte angesehen werden, denen der höchste Schutz zukommt.226 Zum anderen bemisst sich die Angemessenheit daran, zu welchem Zweck das Mittel des Eingriffs eingesetzt wird. Hier gilt der Grundsatz: „Je schwerer der Eingriff ist, umso wichtiger muss das Ziel sein, um einen Eingriff zu rechtfertigen.“227 An dieser Stelle wird oft das sog. Übermaßgebot genannt.228 Inhaltlich deckt es

221 222 223 224 225 226 227 228

Michael/Morlok, Grundrechte, 300, Rd.-Nr.: 619. Vgl. Epping, Grundrechte, 20, Rd.-Nr.: 52. Vgl. ebd. 21, Rd.-Nr. 54. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 300, Rd.-Nr.: 620. Vgl. Müller-Franken, Vorbemerkung vor Art. 1, 107, Rd.-Nr.: 43. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 302, Rd.-Nr.: 624. Epping, Grundrechte, 21, Rd.-Nr.: 56. Vgl. ebd. 21 f., Rd.-Nr.: 56.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit

sich mit dem Kriterium der Angemessenheit. Denn es soll einen im Verhältnis zum gewünschten Effekt übermäßigen Grundrechtseingriff verhindern.229 Die Grundlegung der allgemeinen Grundrechtsdogmatik soll an dieser Stelle genügen. In einem nächsten Schritt werden die allgemeinen Vorgaben der Grundrechtslehre auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit hin konkretisiert.

2. Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit als Grundrecht hat einen hohen Stellenwert innerhalb des Grundgesetzes inne. Das BVerfG erkennt in der Gewissensfreiheit eine direkte Ableitung der menschlichen Freiheit und der Menschenwürde, also jener menschlichen Dispositionen, die in der Wertordnung des Grundgesetzes allerhöchsten Rang inne haben.230 Witschen sieht in ihr „die wichtigste Ausformung individueller Freiheit“231 geschützt und Roman Herzog schreibt zur Gewissensfreiheit: Wenn irgendein Grundrechtsartikel, so ist Art. 4 ein unmittelbarer Ausfluss des in Art. 1 I für unantastbar erklärten Prinzips der Menschenwürde und damit zugleich eines der von Art.  1 II angesprochenen ‚unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechte‘. Man kann die von Art. 1 verbürgte Autonomie des Individuums nicht denken, ohne die Bedeutung der umfassenden Gedankenfreiheit anzuerkennen und das natürliche Bedürfnis des Menschen nach einer außerhalb seiner selbst liegenden Verankerung und Steuerung seines Denkens, Fühlens und Handelns zu honorieren.232

229 In Anlehnung an das Übermaßgebot gibt es auch das sog. Untermaßverbot. Es spielt aber

in der Bewertung von Grundrechtseingriffen nur eine sekundäre Rolle. Das Untermaßverbot ist nämlich ein Begriff aus dem Umfeld des Schutzpflichtcharakters der Grundrechte. Es besagt, dass der Staat effektive Maßnahmen ergreifen muss, um seine Bürger vor Grundrechtsverletzungen zu schützen. Stellen die ergriffenen Maßnahmen keinen wirklichen Grundrechtsschutz dar, verstößt der Staat gegen das Untermaßgebot. In einem Grundrechtskonflikt zweier Bürger kann es sein, dass aufgrund der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte das Untermaßgebot der öffentlichen Gewalt gebietet, in ein Grundrecht des anderen einzugreifen. Dann darf der Staat aber wiederum nur soweit in ein Grundrecht des anderen eingreifen, wie es zum Schutz des weiteren Grundrechts gerade notwendig ist. Vgl. dazu Epping, Grundrechte, 38 f., Rd.-Nr.: 89–91. 230 Vgl. BVerfGE 12, 45 (54). 231 Dieter Witschen, Christliche Ethik der Menschenrechte. Systematische Studien, Münster/Hamburg/London 2002, 14. 232 Herzog, Art. 4., 9–10, Rd.-Nr.: 11.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Umso mehr erstaunt es, dass Niklas Luhmann schon 1965 schrieb, die Gewissensfreiheit sei „der juristischen Bearbeitung durch die Grundrechtsdogmatik entglitten“.233 Der Ruf nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesem Grundrecht ist auch in der jüngeren Vergangenheit nicht verhallt.234 Ausgehend von der vorgestellten allgemeinen Grundrechtslehre soll diese inhaltliche Auseinandersetzung nun in den bereits bekannten drei Schritten der Grundrechtsbestimmung erfolgen: Schutzbereich – Eingriff – Schranken.

2.1 Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit wird als echtes Menschenrecht gewährt. Diese inhaltliche Bestimmung des persönlichen Schutzbereichs der Gewissensfreiheit ist in der Literatur unstrittig, da sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 GG keinerlei Einschränkungen diesbezüglich ergeben. Jeder Mensch  – unabhängig von Nationalität, Alter, usw.  – genießt den Schutz des Gewissens gegenüber staatlichen Eingriffen.235 Da es bei der Gewissensfreiheit um den „Schutz des freien Einzelgewissens“236 geht, wird sie als ein Individualrecht gewährt. Gruppen können sich dementsprechend nicht kollektiv auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen.237 Dieser Auslegung folgend gilt die Gewissensfreiheit auch nicht für juristische Personen, da sie kein Einzelgewissen besitzen und somit dieses Grundrecht nach Art. 19 Abs. 3 GG nicht auf sie anwendbar ist.238 Demgegenüber fällt es ungleich schwerer, den sachlichen Schutzbereich der Gewissensfreiheit zu bestimmen. Als grundlegender Konsens kann festgehalten werden, dass sich die Gewissensfreiheit von ihren religiösen Wurzeln gelöst hat und nun auch nicht religiös motivierte Gewissensinhalte schützt.239 Ganz allge-

233 Niklas Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AÖR 90 (1965) 257–286,

257. 234 Hans Heinrich Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: NVwZ 10 (1991)

235

236 237 238 239

1033–1038, 1034. Eine jüngste juristische Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde im Jahr 2012 von Horn veröffentlicht (s. Literaturliste). Vgl. Juliane Kokott, Art. 4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung], in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 237– 274, 240, Rd.-Nr.: 7. BVerfGE 12, 45 (54). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 296. Vgl. Dieter Witschen, Gewissensentscheidung. Eine ethische Typologie von Verhaltensmöglichkeiten, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012, 11. Vgl. Young Ok Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht (Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz), 1989, 36.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit

mein kann der sachliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit daher mit Scholler folgendermaßen wiedergegeben werden: Inhalt dieses subjektiv öffentlichen Rechts ist ein gegen den Staat (Bund oder Land), gegen Gemeinden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, also gegen alle mit hoheitlicher Befugnis auftretenden Rechtsträger gerichteter Anspruch auf Unterlassung der Verletzung des Gewissens.240

Dieser Festlegung wird zwar jedermann zustimmen können, inhaltlich ist sie jedoch wenig aussagekräftig. Sie muss daher stärker konkretisiert werden. Dazu bieten sich zwei Fragestellungen an: • Unter welchen formalen Bedingungen ist ein Rekurs auf die Gewissensfreiheit möglich? • Was ist das eigentliche Schutzgut der Gewissensfreiheit? Das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann als eine Konfliktlösungsstrategie aufgefasst werden. Es greift daher erst dort, wo der Einzelne sich außer Stande sieht, einer staatlichen Rechtsnorm Folge zu leisten.241 Nur wenn ein solcher Konflikt gegeben ist, besteht für den einzelnen die prinzipielle Möglichkeit, durch den Rekurs auf die Gewissensfreiheit von der Erfüllung dieses Anspruchs an seine Person befreit zu werden. Die Bezugnahme auf die Gewissensfreiheit schmälert aber keinesfalls den Verbindlichkeitsanspruch einer Rechtsnorm: Denn die objektive Frage der Gültigkeit einer demokratisch zustande gekommenen Rechtsnorm ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht vom subjektiven Maßstab des individuellen Gewissens abhängig, sondern gründet darin, dass sie in verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen ist.242

Welche Möglichkeiten bietet nun die Gewissensfreiheit, wenn die persönliche Gewissensentscheidung nicht über die Gültigkeit bzw. Verbindlichkeit einer Rechtsnorm entscheiden kann? Unter bestimmten Bedingungen garantiert die Gewissensfreiheit, dass eine gültige Rechtsnorm gegenüber Einzelnen nicht mittels Zwang durchgesetzt werden darf.243 Das ausschlaggebende Kriterium ist dabei die besondere Qualität des Dissensgrundes. Lediglich aus Bequemlichkeit oder weil die Rechtsnorm für ihn nachteilig sein mag, kann der einzelne Bürger keine Sonderregelung für sich be240 Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 179. 241 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 13. 242 Dieter Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht. Entwicklungslinien, grundrechtliche

Dimensionen und konkrete Konfliktlagen, in: Betrifft JUSTIZ 93 (2008) 228–237, 231. 243 Vgl. ebd.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

anspruchen. In einem solchen Fall kann er sich selbstverständlich nicht auf die Gewissensfreiheit berufen. Die Bestimmung dieser Qualität leitet zur oben genannten zweiten Frage über. Die Gewissensfreiheit schützt nämlich nicht lediglich eine Verhaltensfreiheit, wie beispielsweise die Freiheit der Berufswahl. Vielmehr schützt sie die moralische Identität und Integrität des Einzelnen.244 Hiermit wird deutlich, worin der Qualitätsanspruch an den Dissens zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Rechtsnorm liegt: Der Konflikt muss moralisch qualifiziert sein. Die Befolgung einer Rechtsnorm muss die persönliche Sittlichkeit des Individuums tangieren. Erst wenn die Entscheidung, ob eine Rechtsnorm befolgt wird oder nicht, den Bereich der persönlichen ethischen Selbstbestimmung berührt, kann das Grundrecht der Gewissensfreiheit seine Schutzfunktion entfalten. Luhmann beschreibt diese Situation mit eindrücklichen Worten: „Der Einzelne soll nicht in Situationen gepresst werden, in denen sein Gewissen sich gegen ihn selbst wendet und seine Persönlichkeit zerstört.“245 Durch diese erste Annäherung kann der sachliche Schutzbereich der Gewissensfreiheit wie folgt beschrieben werden: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit schützt ein Individuum vor der zwangsweisen Durchsetzung einer an ihn gerichteten Rechtsnorm, sofern die Befolgung dieser Rechtsnorm in die Sphäre seiner persönlichen Moralität eindringt und dort zu Gewissenskonflikten führt, welche die moralische Identität und Integrität dieser Person gefährden. Diese Bestimmung der Gewissensfreiheit stellt das Proprium der Gewissensfreiheit gegenüber den anderen Freiheitsrechten dar. Jedoch wird mit ihr der Schutzbereich der Gewissensfreiheit noch nicht ausreichend erläutert. Dazu ist es notwendig, sich vier Themenkomplexen zuzuwenden: Zunächst ist es erforderlich, eine Bestimmung des Gewissensbegriffs zu leisten. Hierbei muss geklärt werden, welche Kompetenzen und Funktionen dem Gewissen zukommen und welche Bedeutung das individuelle Gewissen für jeden einzelnen hat. Nach dieser Bestimmung sind die Problematiken der Gewissensentscheidungen zu betrachten. Denn um sich auf die Gewissensfreiheit berufen zu können, muss darlegbar sein, dass die Entscheidung, eine bestimmte Rechtsnorm nicht befolgen zu können, tatsächlich eine echte Gewissensentscheidung ist. Problematisch sind hier die Fragen nach den Kennzeichen und der Beweisbarkeit von solchen Gewissensentscheidungen. Erst dann kann dargelegt werden, welche Schutzfunktion dieses Grundrecht im Bereich des forum internum ausübt. In einem letzten Schritt soll dann die Frage geklärt werden, ob die Gewissensfreiheit auch im forum externum wirksam ist und wenn ja, in welcher Art und Weise. 244 Vgl. Hans Jarass, Art.  4 [Glaubens- und Gewissensfreiheit], in: Hans Jarass/Bodo

Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 2011, 154–177, 171, Rd.-Nr.: 44. 245 Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, 276. 11

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2.1.1 Zur Bestimmung des Gewissensbegriffs Die Bestimmung des Gewissensbegriffs ist kein leichtes Unterfangen. So deutet Dietmar Mieth die aktuelle Debatte um das Gewissen mit folgenden Worten: „Es scheint heute leichter, im Sinne einer Problemindikation vom Gewissen zu reden, als im Sinne einer allgemein gültigen Definition.“246 Eine solche Definition kann auch in dem nun folgenden Abschnitt nicht formuliert werden. Ebenso wenig kann eine erschöpfende Abhandlung des Gewissensbegriffs folgen. Vielmehr sollen die beiden für diese Arbeit maßgeblichen Autoritäten befragt werden, wie sie den Gewissenbegriff gegenwärtig deuten: das BVerfG und das Lehramt der katholischen Kirche. Ergänzend hierzu werden interpretierende Stimmen der Rechtswissenschaften und der (Moral-)Theologie zu Wort kommen, die diese Aussagen erklären und ergänzen sollen.

a) Das Gewissensverständnis des BVerfG Am 20.12.1960 legt das BVerfG eine bis heute gültige Richtlinie fest, wie der Gewissensbegriff in der Rechtsprechung auszulegen sei: ‚Gewissen‘ wird in Art. 4 GG […] im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verstanden. Das Verfassungsrecht geht davon aus, dass die Grundlagen des politischen Zusammenlebens einheitlich für alle Staatsbürger zu bestimmen sind. Verfassungsbegriffe sind daher für alle Bekenntnisse und Weltanschauungen gleich zu interpretieren. Die Aufgabe der Verfassungsorgane ist es, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung für alle Staatsbürger zu gewährleisten. ‚Gewissen‘ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und somit auch im Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG ist als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind. […] Bei der Auslegung bedarf es deshalb keiner Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Lehren über den Begriff, Wesen, Ursprung des Gewissens; sie überschritte die Kompetenz des Richters und wäre auch rechtlich unergiebig, weil über viele der hier auftretenden Probleme in den zuständigen Disziplinen tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen.247

Diese Entscheidung des BVerfG legt zweierlei fest: Sie setzt den Maßstab, wie der Gewissensbegriff überhaupt festzulegen sei und versucht sich selbst an einer Beschreibung des Gewissensphänomens. Allerdings gelingt dem BVerfG weniger 246 Dietmar Mieth, Gewissen/Verantwortung, in: Peter Eicher (Hg.), NHThG, Bd. 2, Mün-

chen 2005, 7–17, 7. 247 BVerfGE 12, 45 (54 f.).

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

eine Definition, als eher eine Beschreibung der innermenschlichen Erfahrung des Gewissens. Unmissverständlich betont das BVerfG, dass die juristische Festlegung des Gewissensbegriffs lediglich einen Referenzpunkt besitzt und zwar den allgemeinen Sprachgebrauch. Dieser Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch basiert auf drei Prämissen: • Die BRD ist ein weltanschaulich neutraler Staat und somit haben natürlich auch ihre Gerichte weltanschaulich neutral zu sein.248 Das Aufgreifen bestimmter religiöser oder philosophischer Denkrichtungen innerhalb einer Gewissensbestimmung würde diese Neutralität verletzen, insofern eine bestimmte Interpretation einer anderen vorgezogen würde. • Festlegungen innerhalb der Rechtsordnung müssen für alle Staatsbürger einheitlich bestimmt werden. Sollen nun aber „Menschen der verschiedensten religiösen, weltanschaulichen, ethischen Grundanschauungen“249 gleichermaßen verständlich angesprochen werden, muss eine solche Festlegung darauf verzichten, bestimmte Vorstellungen oder ein bestimmtes Vokabular nur einer weltanschaulichen Richtung zu benutzen. • Die dritte Prämisse für die offene Auslegung des Gewissens ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit selbst. Denn die Gewährung der Freiheit des Gewissens setzt voraus, dass der Staat nicht von vornherein durch ein einseitig bestimmtes Gewissensverständnis dieses vorbehaltlos gewährte Grundrecht doch wieder unrechtmäßig einschränkt.250 Die inhaltliche Festlegung des Gewissensbegriffs durch das BVerfG fällt dementsprechend nicht sehr umfänglich aus. Wie bereits beschrieben, umgeht es diese Aufgabe, indem die Verfassungsrichter lediglich die Erfahrungswirklichkeit des Gewissens beschreiben: Der Einzelne erfährt sein Gewissen als mahnendes und forderndes Phänomen. Dabei steht der Mensch seinem Gewissen nicht neutral gegenüber, vielmehr tritt das Gewissen gebieterisch auf, da seine Weisungen mit dem Anspruch der Befolgung verbunden sind: „Der Ruf des Gewissens wird dem Einzelnen vernehmbar als eine sittliche und unbedingt verbindliche Entscheidung über das ihm gebotene Verhalten.“251 Das Gewissen wird in der Rechtsprechung demnach als eine real erfahrbare individuelle und intrapersonale Erscheinung verstanden, die der jeweiligen Per-

248 Vgl. Herzog, Art. 4., 50, Rd.-Nr.: 127. 249 Willi Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des

Rechts, München 1963, 62. 250 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 36. 251 BVerfGE 12, 45 (55).

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son einen verbindlichen Verhaltensimperativ erteilt, welcher sittlich – also durch die Kategorien Gut und Böse – begründet ist. Diese Entscheidung des BVerfG zur Gewissensfreiheit wird in der Literatur überwiegend positiv aufgenommen und kaum kontrovers diskutiert. Vereinzelt lassen sich aber auch kritische Stimmen finden. So setzt sich Ernst Hirsch kritisch mit dieser Gewissensauslegung auseinander. Er merkt zunächst an, dass die Verfassungsrichter in ihrer Entscheidung davon ausgehen, dass tatsächlich ein allgemeiner und eindeutiger Sprachgebrauch des Wortes »Gewissen« vorläge.252 Diese Voraussetzung sieht er aber nicht als gegeben an.253 Der eigentliche Kritikpunkt lautet aber, dass das BVerfG seinen eigenen Vorgaben bezüglich der Gewissensbestimmung nicht treu geblieben sei. Denn der Gewissensbegriff in dieser „krypto-theologisch-philosophischen Formulierung“254 stecke voller Anleihen aus diversen theologischen und philosophischen Strömungen: Die Bundesverfassungsrichter haben unter dem Hinweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch und den Sinn des Grundgesetzes eine auf Kant zurückführbare, aber seit rund 200 Jahren aus philosophischer, theologischer, weltanschaulicher, psychologischer, soziologischer und anthropologischer Sicht höchst umstrittene Auffassung des Begriffs ‚Gewissen‘ ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, jedoch gleichwohl eine Auseinandersetzung vor allem mit den einschlägigen theologischen und philosophischen Lehren für überflüssig gehalten.255

Sicherlich wird man sagen müssen, dass die Formulierung des Gewissensphänomens immer durch ein Vorverständnis geprägt ist. Keine derartige Beschreibung kann vollständig von philosophischen und theologischen Prägungen bereinigt sein. Dennoch urteilt Hirsch hier etwas zu undifferenziert. Denn das BVerfG stellt ausdrücklich fest, dass es sich nicht an der Diskussion über „Begriff, Wesen und Ursprung des Gewissens“256 beteiligen möchte. In der Tat herrschen hier große Uneinigkeiten innerhalb und zwischen der Philosophie und der Theologie. Das Ziel der Verfassungsrichter ist lediglich, das Gewissensphänomen im Menschen zu beschreiben. Über die Art und Weise, wie das Gewissen sich im Menschen bemerkbar macht, dürfte es in der Philosophie- und Theologiegeschichte aber kaum große Differenzen geben. Hirsch bleibt somit den Beweis schuldig, dass diese Phänomenologie des Gewissens sowohl dem allgemeinen als auch dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch tatsächlich widerspricht. 252 Vgl. Ernst Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit 253 254 255 256

der Gewissensfreiheit des Richters, Berlin 1979, 32 f. Vgl. ebd. 33. Ebd. Ebd. 48. BVerfGE 12, 45 (55).

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

b) Das Gewissensverständnis des katholischen Lehramts Von zentraler Bedeutung für die Gewissenslehre der katholischen Kirche ist der bereits zitierte Abschnitt 16 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des II. Vatikanischen Konzils.257 Dieser Text offenbart eine eigentümliche Spannung, die der katholischen Lehre über das Gewissen eigen ist. Das Gewissen wird als ein Gesetz beschrieben, welchem der Mensch gehorchen muss, „da es von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist“.258 Gleichzeitig wird betont, dass es nicht selten vorkommt, dass das Gewissen irrt. Wie kann aber das Gewissen irren, wenn es doch ein von Gott gegebenes Gesetz ist? Die Auflösung dieses vermeintlichen Widerspruchs geht auf Thomas von Aquin zurück, der zwei Gewissensaspekte voneinander unterschieden hat: die Synderesis und die Conscientia. i. Das Gewissen als Synderesis Die jüngere moraltheologische Tradition hat vielfältige Versuche unternommen, die Synderesis in eine zeitgenössische Sprache zu übersetzen. So wird sie als „Funken des Gewissens“259, „Grundstock an prinzipiellen Einsichten“260, „Urgewissen“261, „Gewissensgrund“262 oder als Anamnesis263 bezeichnet. Jede dieser Aussagen trifft sicherlich einen wesentlichen Aspekt der Synderesis-Lehre. Doch scheint es sinnvoll dieses Gewissensphänomen von den Ausführungen des Thomas von Aquin her zu bedenken. Er bestimmt die Synderesis zunächst als einen angeborenen Habitus.264 Der Mensch »macht« seine Synderesis also nicht, sondern sie wird ihm natural geschenkt. Von daher formuliert auch das II.  Vatikanische Konzil: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt […]“.265 Bereits der Apostel Paulus beschreibt im Römerbrief diese Gewissensvorstellung, wenn er formuliert: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht

257 Der gesamte Text findet sich hier in Abschnitt 1.2.1 des I. Kapitels. 258 GS 16: Nam homo legem in corde suo a Deo inscriptam habet […]. 259 Anton Ziegenaus, Das Gewissen in der Lehre des Thomas von Aquin, in: FkTh 19 (2003)

285–295, 286. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, 104. Fonk, Das Gewissen, 123. Schlund, Schöpferisches Gewissen, 29. Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, 115. 264 De veritate, q. 16, a. 1, ad 14: […] unde per hoc non excluditur quin habitus synderesis sit innatus. 265 GS 16: In imo conscientiae legem homo detegit, quam ipse sibi non dat […]. 260 261 262 263

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haben, sich selbst Gesetz.“266 Indem Thomas von Aquin die Synderesis als einen Habitus bezeichnet, möchte er zweierlei ausdrücken. Zum einen versteht er unter dem Begriff Habitus allgemein eine Beschaffenheit oder Eigenschaft von etwas.267 Zum anderen ist diese Eigenschaft, also der Habitus, immer auf irgendeine Weise auf eine Tätigkeit hingeordnet.268 Konkreter ausgedrückt: Ein Habitus ist für den Menschen neben dem Vermögen eine innere Grundlage bzw. ein innerer Ursprung seiner Handlungen.269 Thomas von Aquin versteht die Synderesis also als eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die für ihn Grundlage spezieller Handlungen ist. Allerdings bleibt dabei noch die Frage offen, auf welche spezifische Art und Weise die Synderesis auf eine Handlung hingeordnet ist. In seiner Schrift „De veritate“ findet sich hierzu eine eindeutige Antwort: Die Aufgabe der Synderesis ist es, dem Bösen zu widerstreben und den Menschen zum Guten zu gewinnen.270 Abgeleitet davon formuliert GS, dass das Gewissen den Menschen „immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft“.271 Unter dieser Rücksicht, dass die Synderesis den Menschen auffordert, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen, ist diese Synderesis unfehlbar.272 Was ist nun der systematische Ertrag der thomanischen Synderesis-Lehre? Als angeborener Habitus ist die Synderesis ein wesentlicher Aspekt des Gewissens, der dem Menschen nie verloren gehen kann.273 Die Synderesis bezeichnet in der Tat so etwas wie einen Gewissensgrund. Denn sie beinhaltet gleichsam „die sittlichen Urprinzipien“274 menschlicher Handlungen. Zum Verständnis dieser Urprinzipien schreibt Peter Fonk: Sie lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Das Gute ist zu tun, das Böse zu vermeiden. Darin besteht der einzige Inhalt des Urgewissens, der genau besehen eine Formaldefinition gibt, nämlich die Maßgabe des Willens, das Gute schlechthin anzustreben.275

266 Röm 2, 14. 267 Vgl. S. th. I–II, q. 49, a. 1, resp.: Unde dicendum est quod habitus est qualitas. 268 Vgl. S. th. I–II, q. 49, a. 3, resp.: Secundum quidem rationem habitus, convenit omni habitui

aliquo modo habere ordinem ad actum. 269 Vgl. S. th. I–II, q. 49, Proömium: Post actus et passiones, considerandum est de principiis

270 271 272 273 274 275

humanorum actuum. Et primo, de principiis intrinsecis […]. Principium autem intrinsecum est potentia et habitus […]. Vgl. De veritate, q. 16, a. 1, ad 12: […] actus autem huius habitus naturalis quem synderesis nominat est remurmurare malo et inclinare ad bonum […]. GS 16: […] semper ad bonum amandum et faciendum ac malum vitandum eum advocans […]. Vgl. De veritate, q. 16, a. 2, ad 1: Ad primum igitur dicendum quod synderesis numquam praecipitatur in universali […]. Vgl. Ziegenaus, Das Gewissen in der Lehre des Thomas von Aquin, 286 f. Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, 104. Fonk, Das Gewissen, 123.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Als Formalprinzip aller menschlichen Handlungen ist die Synderesis damit notwendigerweise immer wahr. Wenn die Synderesis den Menschen dazu auffordert, das Gute zu tun, kann dieser Gewissensspruch niemals falsch sein. ii. Das Gewissen als Conscientia Von der Synderesis unterscheidet Thomas von Aquin die Conscientia. Zwar ist die Conscientia immer auf die Synderesis angewiesen, doch differieren sie erheblich bezüglich ihrer Wesensart. Während die Synderesis als Habitus charakterisiert wird, versteht Thomas von Aquin die Conscientia als eine Anwendung.276 Sie wendet das angeborene sittliche Urwissen der Synderesis – das Gute ist zu tun, das Böse zu unterlassen – unter Hinzunahme von weiteren Erkenntnissen der Vernunft an, um bestimmte persönliche Handlungen oder Handlungsmöglichkeiten auf ihre Sittlichkeit zu prüfen: Dictum enim est supra quod per conscientiam applicatur notitia synderesis et rationis superioris et inferioris ad actum particularem examinandum […].277 Dabei weist er durch die Verwendung der beiden Termini »ratio superior« und »ratio inferior« eindeutig darauf hin, dass sich die Erkenntnisse der Vernunft auch auf erkannte göttliche Weisungen stützen, da diese die Erkenntnisquellen der »ratio superior« sind.278 Das Lehramt der katholischen Kirche greift diese Gewissensinterpretation auf. In der Enzyklika „Veritatis splendor“ heißt es über die Tätigkeit des Gewissens: „Es ist ein Urteil, das die vernünftige Überzeugung, dass man das Gute lieben und tun und das Böse meiden soll, auf eine konkrete Situation anwendet.“279 Je nachdem, in welcher Reihenfolge sich der Urteilsspruch zur Situation verhält, spricht man von einem vorangehenden Gewissen (conscientia antecedens) – hierbei beurteilt das Gewissen einen noch auszuführenden Akt  – oder von einem nachfolgenden Gewissen (conscientia consequens), also der Beurteilung einer schon begangenen Handlung.280 Die Kraft des Gewissensurteils reicht allerdings über die beurteilende Funktion hinaus. Handelt der Mensch nämlich gemäß diesem Urteilsspruch, so wird er von seinem Gewissen gelobt, handelt er aber dagegen, so wird er durch sein Gewissen verurteilt. Das Gewissen jedes einzelnen Menschen bezieht sich dabei immer nur auf ihn selbst. Dessen persönliches Gewissen wird 276 Vgl. De veritate, q. 17, a. 2, resp.: Dicendum quod sicut dictum est, conscientia nihil aliud est

quam applicatio scientiae ad aliquem specialem actum […]. 277 De veritate, q. 17, a. 2, resp. 278 Vgl. S. th. I–II, q. 74, a. 7, resp.: Unde cum regula legis divinae sit superior, consequens est ut

ultima sententia, per quam iudicium finaliter terminatur, pertineat ad rationem superiorem, quae intendit rationibus aeternis. 279 Johannes Paul II., Veritatis splendor, 59. 280 Vgl. Dieter Witschen, Ist das Gewissen nicht ausnahmslos individualgebunden?. Kurze Anmerkungen zu einer irritierenden Redeweise, in: ThG 51 (2008) 211–217, 214.

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ausschließlich seine Taten anerkennen oder maßregeln. Hieraus wird deutlich, dass das Gewissen jeweils eine höchstpersönliche Instanz ist. Dem Gewissen kommt somit eine wichtige Bedeutung für den Menschen zu: Es ist die Bedingung der Möglichkeit menschlichen sittlichen Handelns. Bruno Schüller drückt diesen Umstand folgendermaßen aus: „Darum ist der Mensch aufgrund seines Gewissens als eines sittlichen Erkenntnisvermögens grundsätzlich in der Lage, sich ein sittliches Urteil zu bilden.“281 Die Conscientia ist daher zu verstehen als eine Anwendung der Synderesis und anderer Vernunfterkenntnisse auf einen bestimmten zukünftigen oder vergangenen Akt des Gewissensträgers. Sie bildet ein individuell verbindliches Urteil darüber, welche Handlungsmöglichkeiten in einer speziellen Situation sittlich gut und somit zu tun sind und welche sittlich böse, also zu unterlassen sind. iii. Die Würde des irrenden Gewissens Erst auf dem Hintergrund der thomanischen Gewissenslehre kann die katholische Lehre von der Würde des irrenden Gewissens verstanden werden, wie sie in GS 16 widergegeben wird: „Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert.“282 Diese Lehre – hier in einem einzigen Satz formuliert – ist außergewöhnlich! Denn nach ihr wird jeder Mensch dazu angehalten, unbedingt seinem Gewissen zu folgen, auch wenn er dadurch ungewollt großes Unheil anrichten könnte. Einzige Bedingung für diese unbedingte Treue zum irrenden Gewissensspruch ist die unüberwindliche Unkenntnis des Gewissens. Diese Behauptung wird inhaltlich schlüssig, wenn man sich die Frage stellt, welcher Gewissensaspekt genau sich im Irrtum befindet. Wiederum ist es Thomas von Aquin, der hier zur Klärung beiträgt. Nach ihm liegt der Irrtum nämlich niemals in der Synderesis. Dass das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen ist, ist immer wahr.283 Der Irrtum findet in der Conscientia statt, d. h. in der konkreten Beurteilung einer Situation.284 Dies bedeutet, dass der Mensch mit einem irrenden Gewissensurteil zwar etwas Falsches tut, aber subjektiv der Meinung ist, damit der Forderung der Synderesis 281 Bruno Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in

der Moraltheologie, Düsseldorf 31987, 44. 282 GS 16: Non raro tamen evenit ex ignorantia invincibili conscientiam errare, quin inde suam

dignitatem amittat. 283 Vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 266, Rd.-Nr.: 329. 284 Vgl. De veritate, q. 16, a. 2, ad 1: Ad primum igitur dicendum quod synderesis numquam

praecipitatur in universali, sed in ipsa applicatione universalis principii ad aliquot particulare potest accidere error propter falsam deductionem vel alicuius falsi assumptionem; et ideo non dixit quod synderesis simpliciter praecipitetur sed quod conscientia praecipitatur, quae universale iudicium synderesis ad particularia opera applicat.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

nachzukommen. Hilfreich ist hier die Unterscheidung „zwischen einem formalen Aspekt des Gewissensspruchs und seinem materialen Inhalt.“285 Der formale Aspekt beinhaltet den Umstand, dass uns das Gewissen stets verbindlich dazu auffordert, das durch das Gewissen als Gut erkannte auch zu tun. Hierbei kann es keinerlei Irrtümer geben. Zu diesem formalen Aspekt merkt Eberhard Schockenhoff an: Das unbedingte Müssen, das der Gehorsam gegenüber dem Gewissen als einer letztverbindlichen Instanz der Selbstbeurteilung verlangt, wird dort, wo eine echte Gewissensverpflichtung vorliegt, geradezu als ein Nicht-anders-Können erlebt, das die subjektive Pflicht zu einem entsprechenden Handeln oder Unterlassen begründet.286

Der materiale Inhalt bezeichnet dagegen die konkrete inhaltliche Forderung des Gewissens. Er gibt also eine Antwort darauf, was das Gewissen hic et nunc befiehlt. Hierbei kann es durchaus zu Irrtümern kommen, beispielsweise, wenn nicht alle Umstände einer Handlung bekannt sind. Entscheidend für diese Lehre bleibt dabei die Qualifikation des Irrtums als ein unüberwindlicher Irrtum. Nach der Enzyklika „Veritatis splendor“ ist ein Irrtum dann unüberwindlich, wenn der Mensch um seine Unkenntnis nicht weiß und sie ohne fremde Hilfe nicht beenden kann.287 Dies bedeutet aber auch, dass sich der Mensch stets darum bemühen muss, alle relevanten Fakten und Umstände zu kennen, bevor er zu einem Gewissensurteil kommt. Lässt sich nämlich nachweisen, dass der Irrtum „auf Bequemlichkeit, Trägheit, Blindheit oder auf mangelhaftem Bemühen um das sittlich Richtige“288 beruht, kann nicht mehr von einem unüberwindbaren Irrtum gesprochen werden. Die Lehre von der Würde des irrenden Gewissens fußt also wesentlich auf der Unterscheidung von Synderesis und Conscientia. Da die Synderesis als Urgewissen vor jeglichem Irrtum gefeit ist, behält auch das Gewissensurteil, welches auf falschen Prämissen aufbaut, seine individuelle Würde und Verbindlichkeit. Auf jeden Fall beruht die Würde des Gewissens immer auf der Wahrheit: Im Falle des rechten Gewissens handelt es sich um die vom Menschen angenommene objektive Wahrheit; im Falle des irrenden Gewissens handelt es sich um das, was der Mensch ohne Schuld subjektiv für wahr hält.289

Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, 206. Ebd. Vgl. Johannes Paul II., Veritatis splendor, 62. Johannes Gründel, Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, in: Johannes Gründel (Hg.), Das Gewissen. Subjektive Willkür oder oberste Norm?, Düsseldorf 1990, 99–126, 101. 289 Johannes Paul II., Veritatis splendor, 63. 285 286 287 288

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iv. Das Gewissen als Ort der Gottesbegegnung Bisher wurden ausschließlich zwei Aspekte der katholischen Gewissenslehre berücksichtigt, die das Gewissensphänomen systematisch zu erklären versuchen. Unverkennbar ist dabei die große Bedeutung des Gewissens für den einzelnen Menschen, wenn er sich im Hier und Jetzt die Frage stellt: Was soll ich tun? Darüber hinaus betont die kirchliche Verkündigung die große theologische Bedeutung des Gewissens. Diese Bedeutungsdimension ist mit der Frage verbunden, wer überhaupt im Gewissen zu uns spricht. Auf den ersten Blick scheint es zwei sich ausschließende Antworten auf diese Frage zu geben. „Veritatis splendor“ sieht im Ringen des Gewissens um ein sittliches Urteil einen „Dialog des Menschen mit Gott, dem Urheber des Gesetzes“290. Daher ist das Gewissen „Zeugnis von Gott selbst, dessen Stimme und dessen Urteil das Innerste des Menschen bis an die Wurzeln seiner Seele durchdringen“291. Die Antwort des Lehramts scheint demnach eindeutig zu sein: Die Stimme des Gewissens ist letztlich die Stimme Gottes in jedem Menschen. Diese Auffassung bleibt keineswegs unwidersprochen. So schreibt Jörg Splett: „Sodann ist das Gewissen keineswegs einfachhin die Stimme Gottes.“292 Und Schüller formuliert pointiert: Wer soll diese Person [die durch das Gewissen spricht] sein? Sicher nicht auf geheimnisvolle Weise unmittelbar Gott. Denn Gott kann nicht irren, während das Gewissen erfahrungsgemäß irren kann. Es bleibt nur übrig, dass der Mensch in der Stimme seines Gewissens unmittelbar seine ureigene Stimme vernimmt.293

Bei näherer Betrachtung ist dieser vermeintliche Gegensatz nicht so scharf, wie er zunächst wirkt. Die aufmerksame Lektüre der beiden Zitate zeigt nämlich, dass sowohl Splett als auch Schüller einen göttlichen Einfluss auf das Gewissensurteil nicht kategorisch ausschließen. Deutlich wird dies an den beiden Wörtern »einfachhin« und »unmittelbar«. Diese Hinweise dienen wohl der Abwehr von Vorstellungen, dass Gott durch das Gewissen direkt zu jedem Menschen spricht. Und schließlich gilt es auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs Gewissen zu berücksichtigen. Ist hier vom Gewissen als Synderesis oder vom Gewissen als Conscientia die Rede? Die beiden Autoren scheinen in ihren Ausführungen primär von der Conscientia auszugehen, also dem Gewissensurteil über einen konkreten 290 Ebd. 58. 291 Ebd. 292 Jörg Splett, Gewissen – Ernst der Menschlichkeit, in: Josef Fuchs (Hg.), Das Gewissen.

Vorgegebene Norm verantwortlichen Handelns oder Produkt gesellschaftlicher Zwänge?, Düsseldorf 1979, 19–33, 23. 293 Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 46.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

sittlichen Akt. Sicherlich kann dieses Urteil irren, bezieht es sich doch neben der Synderesis auf die prinzipiell fehlbare menschliche Vernunft. Das Lehramt scheint dagegen stärker das Gewissen als Synderesis im Blick zu haben. Denn es bezieht sich in „Veritatis splendor“ selbstverständlich auf das Gewissensverständnis des II. Vatikanischen Konzils. Dort heißt es ja, dass jenes Gesetz, welches Gott dem Menschen in sein Herz eingeschrieben hat, ihn auffordert, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen.294 Dies ist genau die Aufgabe, welche die auf Thomas von Aquin zurückgehende Tradition der Synderesis zuspricht. Die Aufforderung der Synderesis zum Guten kann so wahrhaft als Stimme Gottes verstanden werden, ohne gleich auch das Urteil der Conscientia zum Ausdruck des Willen Gottes zu machen. Es ist also richtig, dass im konkreten Gewissensurteil nicht direkt Gottes Stimme vernommen wird. Allerdings ist dieses Urteil Ausdruck der menschlichen Suche danach, dem Gesetz der Synderesis zu entsprechen, welches aus theologischer Perspektive Gesetz Gottes ist. In diesem Sinne muss auch folgende Aussage aus GS 16 interpretiert werden: „Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird.“295 An dieser Stelle zeigt sich die tiefe theologisch-eschatologische Dimension des Gewissens. Es hat nicht nur eine gegenwärtige Bedeutung, wenn es darum geht, was der Mensch in einer bestimmten Situation zu tun hat, sondern auch eine eschatologische Bedeutung, indem es zum »Beweismittel« beim göttlichen Gericht wird. In erster Linie muss auch hier wieder an die Synderesis und weniger an die Conscientia gedacht werden. Der Mensch wird also danach gerichtet, ob er sich in seinen Handlungen an den Grundsatz des Urgewissens gehalten hat. Tut er dies aber nicht und entscheidet sich so bewusst für eine sittlich böse Handlung, widerspricht er dieser göttlichen Weisung. Das Gewissen ist so wirklich ein „Ort der Gottesbegegnung“296. Jeder Mensch erfährt sich in der Synderesis dem sittlichen Uranspruch Gottes an ihn direkt ausgesetzt und beantwortet diesen durch den Urteilsspruch der Conscientia. v. Zusammenfassung des katholischen Gewissensverständnisses Die bisherigen Ausführungen zeigen auf, welche hohe Bedeutung das Gewissen für den Menschen aus der Sicht der katholischen Theologie hat. Die Verkündigung

294 Vgl. GS 16: In imo conscientiae legem homo detegit, quam ipse sibi non dat, sed cui obedire

debet, et cuius vox, semper ad bonum amandum et faciendum ac malum vitandum eum advocans […]. 295 Ebd: Nam homo legem in corde suo a Deo inscriptam habet, cui parere ipsa dignitas eius est et secundum quam ipse iudicabitur. 296 Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, 158.

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des Lehramts bezüglich des Gewissens weist hierbei zwei Bedeutungsdimensionen aus, eine anthropologisch-immanente und eine theologisch-transzendente. Anthropologisch-immanent ist das Gewissen letzte Entscheidungsinstanz des Menschen in konkreten sittlichen Fragen.297 Das individuelle Gewissen beansprucht für jeden einzelnen Menschen die ausschließliche Kompetenz zur Entscheidung, was in einer konkreten Situation von dieser Person sittlich gefordert ist bzw. was sie zu unterlassen hat. Dabei darf der individuelle Gewissensspruch nicht derart verstanden werden, dass er nicht interpersonal kommunizierbar wäre. Da das konkrete Gewissensurteil die menschliche Vernunft als Erkenntnisquelle nutzt, müssen sich sittliche Handlungen an vernünftigen Gründen messen lassen, die zumindest prinzipiell anderen Menschen einsichtig gemacht werden können.298 So lässt sich der Gewissensspruch zwar rational kommunizieren, seine individuelle Bedeutung bleibt hiervon jedoch unberührt. Denn das persönliche Gewissen urteilt nicht in abstrakter Art und Weise über eine Handlung, sondern sein Urteil beruht auf der Frage, welche Bedeutung ein spezieller Akt für den jeweiligen Gewissensträger hat.299 Eine Person kann einsichtig machen, wieso diesem Akt jenes Gewicht für sie selbst zukommt; daraus kann aber nicht geschlossen werden, welche Bedeutung eine solche Handlung für andere Personen hätte. Daraus kann gefolgert werden: Obwohl das Gewissen die Aufgabe hat, zwischen gut und böse zu unterscheiden300, antwortet es doch letztlich nicht auf die Frage: Was soll ich tun? Das Gewissensurteil hilft dem Menschen vielmehr bei der Frage: Wer will ich sein?301 Dieser Umstand lässt sich kaum besser als mit den Worten Schüllers ausdrücken: Gerade das ist aber die unvergleichliche Besonderheit und Auszeichnung des sittlich Guten und Bösen, des sittlichen Wertes und Unwertes, dass sie nicht nur etwas am Menschen qualifizieren, sondern ihn selbst in seiner Substanz, dass sie ihren Sitz im Zentrum, im Herzen des Menschen haben und von da aus sich ausbreiten auf das Ganze seines Seins und Wirkens, dass in ihnen der Mensch immer als ganzer engagiert ist, dass im Ergreifen oder Verfehlen des sittlich Guten sich entscheidet, ob das Leben des Menschen als ganzes Sinn

297 Vgl. Gründel, Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, 115. 298 Vgl. Eberhard Schockenhoff, Wesen und Funktion des Gewissens. Aus der Sicht der

katholischen Moraltheologie, in: Pastoralblatt 55 (2003) 272–278, 278. 299 Vgl. Bruno Schüller, Das irrige Gewissen, in: Karl Rahner/Otto Semmelroth (Hg.),

Theologische Akademie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1965, 7–28, 16. 300 Vgl. Joachim Meisner, Das Gewissen – Normierte Norm des Handelns, in: Ildefons Fux/

Josef Kreiml/Josef Spindelböck/Michael Stickelbroeck (Hg.), Der Wahrheit verpflichtet. Festschrift für em. Diözesanbischof Prof. Dr. Kurt Krenn zum 70. Geburtstag, Graz 2006, 169–175, 170. 301 Fonk, Das Gewissen, 128.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit oder Un-Sinn ist. Kurz, der sittlich Gute ist nicht unter irgendeiner Rücksicht, sondern er ist überhaupt gut, er ist als Mensch, in seinem Menschsein gut.302

Die theologisch-transzendente Dimension vertieft diesen Bedeutungsgehalt des Gewissens nochmals: Der Orientierung am Gewissen kommt eine ganz eigene Funktion im persönlichen Gottesverhältnis zu. Im Gewissensspruch erfährt der gläubige Mensch den sittlichen Anspruch, den Gott an ihn stellt. Das Gewissen ist so eine „individuelle Verpflichtungsinstanz“303; es verpflichtet den Menschen darauf, dem Gesetz Gottes zu entsprechen, nämlich das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. In diesem Sinne zeigen auch die sogenannten Werke der Barmherzigkeit304, worauf Gott in seinem Gericht schaut: Nämlich darauf, ob sich der Mensch bemüht hat, Gutes zu tun, so wie es ihm sein Gewissen aufträgt. Hierin zeigt sich schließlich die Verbundenheit der Christen mit allen anderen Menschen, von der GS 16 spricht. Die wahrhafte Suche nach dem Guten in Treue zum je eigenen Gewissen wird zum Prüfstein eines jeden Menschen werden.

c) Fazit Der Überblick über die beiden Gewissensverständnisse konnte darlegen, dass sich die Äußerungen des BVerfG und des Lehramts der katholischen Kirche in zentralen Punkten überschneiden. So stimmen sie vollständig in der anthropologisch-immanenten Bedeutungsdimension des Gewissens überein, welche dem Gewissen die alleinige Urteilskompetenz in Fragen der persönlichen sittlichen Lebensführung zuspricht. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass die Verfassungsrichter lediglich feststellen, dass dem Gewissen diese Funktion zukommt. Sie stellen aber nicht die Frage nach dem Warum. Naturgemäß können sie über die theologisch-transzendente Dimension des Gewissens nichts aussagen, da sie an die weltanschauliche Neutralität des Staats gebunden sind.305 302 303 304 305

Schüller, Das irrige Gewissen, 9. Schockenhoff, Wesen und Funktion des Gewissens, 277. Vgl. Mt 25, 31–46. Den Abschnitt über das Gewissensverständnis abschließend soll noch kurz auf die aktuelle Dissertation von Horn „Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit“ eingegangen werden. Dort findet sich nämlich ein Verständnis des Gewissens und der Gewissensfreiheit, welches sehr diskussionswürdig ist. So formuliert er: „Das Gewissen darf nicht mit bestimmten Überzeugungen und inhaltlichen Pflichten gleichgesetzt werden, sondern ist als eine Instanz zu verstehen, welche reflexiv über das Gut-Sein von eigenen Handlungsgrundsätzen urteilt. Es muss bei der Auseinandersetzung mit dem Gewissen zwischen dem Bereich der Reflexion über Handlungsgrundsätze und dem der Bildung von konkreten Handlungsbestimmungen unterschieden werden. Aus dem reflexiven praktischen Bewusstsein im Gewissen können nicht im Kurzschluss kon-

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2.1.2 Die Gewissensentscheidung Nach der Klärung des Gewissensbegriffs muss der Blick nun der Gewissensentscheidung zugewandt werden. Denn zur Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit als Grundrecht ist es erforderlich, dass dem Bürger eine Handlung auf Grund einer Gewissenentscheidung geboten oder verboten wird. Wie kann aber eine staatliche Behörde im konkreten Einzelfall prüfen, ob eine solche Gewissenentscheidung vorliegt? Diese problematische Fragestellung ist dem BVerfG nicht unbekannt. So heißt es in einer Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung: Es ließ sich in der Tat nicht ausschließen, dass infolge unterschiedlicher Ausdrucksfähigkeit der Antragsteller, gezielter Einübung auf das ‚richtige‘ Verhalten im Verfahren und mangelnder Gleichförmigkeit der angewandten Beurteilungsmaßstäbe Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurden, obwohl sie keine Gewissenentscheidung nach Art. 4 Abs. 3 GG getroffen hatten, während anderen Antragstellern die Anerkennung zu Unrecht versagt wurde.306

Dieser Problematik der Gewissensentscheidung nähert man sich am Besten in drei Schritten. Zunächst ist zu erörtern, wie der Einzelne eine Gewissensentscheikrete materielle Pflichten abgeleitet werden.“ (S. 150). Horn hat zwar Recht, wenn er die genannten Bereiche unterscheiden möchte, doch lassen sie sich nicht strikt voneinander trennen. Eine Selbstvergewisserung der eigenen Handlungsgrundsätze bildet doch die Grundlage einer jeden konkreten Handlungsbestimmung, also in der Frage was nun zu tun ist. Die starke Trennung beider Bereiche mündet bei Horn schließlich in der Aussage, dass „[k]onkrete inhaltlich formulierte moralische Überzeugungen […] zwar ein Resultat eines Gewissensurteils sein [können], [sie] sind aber kein unmittelbarer Gegenstand der Gewissensfreiheit.“ (S. 151). So kommt er zu dem Schluss, dass die Gewissensfreiheit nicht faktische moralische Überzeugungen eines Bürgers schützen soll, sondern nur dessen Gewissensurteil, d. h. – nach Horn – die Möglichkeit „seine Handlungen auf ihr Gut-Sein zu hinterfragen.“ (S. 151). Der Leser ist nun sicherlich verleitet, anzunehmen, dass Horn die Gewissensfreiheit auf das forum internum beschränken möchte. Dem ist aber nicht so! Ausdrücklich schreibt er: „Allerdings ist der Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht auf den Innenbereich beschränkt, sondern umfasst zum anderen auch das gewissensgeleitete Handeln, das forum externum. Damit schließt die Gewissensfreiheit grundsätzlich auch das Recht mit ein, nach den innerlich als bindend und verpflichtend erfahrenen Geboten zu handeln […].“ (S. 85). Wie kann aber die Gewissensfreiheit eine Schutzfunktion im forum externum entfalten, wenn sie überhaupt keine konkreten faktischen Gewissensurteile schützt? Horn scheint hier leider aus einer theoretischen Unterscheidung eine faktische Trennung von »Gewissensbereichen« zu machen, die zu widersprüchlichen Konsequenzen führt. Seine Ausführungen können nicht darlegen, auf welcher Grundlage die Gewissensfreiheit auch das forum externum schützt. Selbst wenn man seinem Verständnis folgen würde, müsste man doch zuletzt die Frage stellen, was einem Bürger das Grundrecht der Gewissensfreiheit nutzt, das ihm zwar den Vorgang des moralischen Urteilens gestattet, aber das Urteil selbst, also die konkrete moralische Position, von diesem Schutz ausnimmt. 306 BVerfGE 48, 127 (167 f.).

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

dung wahrnimmt, sodann ob sie sich beweisen lässt, und schließlich welche Kriterien dazu vonnöten sind.

a) Die Gewissensentscheidung aus der Perspektive des Gewissensträgers Als Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Gewissensentscheidung dient eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1960. In ihr versuchen sich die Bundesverfassungsrichter an einer inhaltlichen Bestimmung. Eine Gewissensentscheidung wird – das folgt aus ihrem Wesen – stets angesichts einer bestimmten Lage getroffen, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden; der Ruf des Gewissens wird dem Einzelnen vernehmbar als eine sittliche und unbedingt verbindliche Entscheidung über das ihm gebotene Verhalten. […] Als eine Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.307

Diese Entscheidung hebt drei Kriterien hervor, die bei einer Gewissensentscheidung zutreffen müssen: Die Situationsbezogenheit, ihre Imperativität für das jeweilige Subjekt und die Bewertungskategorien. Das erste Merkmal – das situative Element – nimmt den Kontext einer Entscheidung in den Blick. Eine Gewissensentscheidung wird dann gefällt, wenn eine Person sich einer konkreten Lage ausgesetzt sieht, die eine Verhaltensentscheidung fordert. Es geht in einer solchen Situation nicht darum, moralisch bedeutsame Konstruktionen spekulativ zu durchdenken, vielmehr weiß der Einzelne, dass von ihm in naher Zukunft ein bestimmtes Verhalten verlangt wird.308 Eine Gewissensentscheidung ist daher eine Bestimmung der conscientia ante307 BVerfGE 12, 45 (55). 308 Dieser Aspekt wird in einem Dokument der Kongregation für die Glaubenslehre explizit

hervorgehoben. In der Frage, ob das individuelle Gewissen einen Autoritätsanspruch in Bezug auf die Wahrhaftigkeit lehramtlicher Aussagen beanspruchen kann, wird geantwortet: „Endlich kann auch der Hinweis, man müsse seinem Gewissen folgen, den Dissens [zwischen der persönlichen Überzeugung und einer Lehraussage des Lehramts] nicht rechtfertigen, denn diese Pflicht wird ausgeübt, wenn das Gewissen das praktische Urteil im Hinblick auf eine zu treffende Entscheidung klärt, während es sich hier um die Wahrheit einer Lehraussage handelt.“ Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum Veritatis über die kirchliche Berufung des Theologen, hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1990, 38. Entscheidend ist hier die klare Eingrenzung der Aufgabe des Gewissens, als Bestandteil der praktischen Vernunft über Verhaltensmöglichkeiten zu entscheiden. Die Diskussion über die Wahrheit von beispielsweise lehramtlichen Aussagen kommt hingegen der theoretischen Vernunft zu.

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cedens.309 Dieser Umstand ruft eine starke emotionale Komponente der Gewissensentscheidung hervor, die dadurch aber nicht ihre rationale Grundstruktur einbüßt.310 Die situative Einbettung in eine Situation des Verhalten-müssens, aber eben auch des Verhalten-könnens, verbindet sich so mit dem Gefühl persönlicher Verantwortung.311 Der von einer Gewissensentscheidung Betroffene erfährt sich in eine Situation gestellt, in der er eine „nicht delegierbare Verpflichtung in sich wahrnimmt“312. Diese besondere Verpflichtung, die nach der hier dargelegten – lehramtlichen und verfassungsrechtlichen – Gewissenslehre den ganzen Menschen unter sittlichen Gesichtspunkten erfasst, erfüllt den Menschen, wenn er sich selbst für eine bestimmte Sachlage verantwortlich fühlt. Die gegebene Situation der Gewissensentscheidung muss demnach so gestaltet sein, dass der Einzelne in seiner Beurteilung auch die Verantwortung für eine Situation bzw. für die Veränderung dieser Situation trägt.313 Das zweite Merkmal – der imperativische Charakter einer Gewissenentscheidung  – ist durch die Bedeutung und Funktion des Gewissens selbst gegeben. Daher gilt dieser absolute Verpflichtungscharakter nur in Bezug auf den Gewissensträger selbst.314 Das Subjekt steht der Entscheidung seines Gewissens allerdings nicht rein passiv gegenüber, im Sinne eines Erleidens dieser Entscheidung, sondern er wird sich diese Entscheidung auch zu eigen machen müssen.315 Eine Gewissensentscheidung wird so zu einer ganzheitlich-personalen Entscheidung. Eine solche Entscheidung kann daher auch nicht einfach aufgegeben oder geändert werden, wie Gerd Freihalter betont.316 Darin besteht schließlich der Unterscheid zu einer bloßen Meinung oder einer Stellungnahme, dass nämlich durch die Gewissensentscheidung das ganze Individuum gefordert wird. Beim dritten Merkmal – den Bewertungskriterien – ist zu beachten, dass eine Gewissensentscheidung ihre spezifischen Bewertungskategorien hat. Kardinal Meisner drückt dies so aus: „Der Verstand kann zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ unterscheiden, das Gefühl zwischen ‚schön‘ und ‚hässlich‘ und das Gewissen zwi-

309 Vgl. Witschen, Gewissensentscheidung, 17. 310 Vgl. Gerd Ulrich Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973,

85. 311 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 167. 312 Dieter Witschen, Supererogatorische Handlung als Ausformung einer Gewissensent-

scheidung, in: TThZ 117 (2008) 133–141, 137. 313 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 167. 314 Vgl. Dieter Witschen, Was ist eine Gewissensentscheidung?. Bestimmungselemente ei-

ner ethischen Kategorie, in: SaThZ 11 (2007) 74–88, 80. 315 Vgl. Dieter Witschen, Einem anderen die Gewissensentscheidung bewusst überlassen.

Zur Phänomenologie einer spezifischen Verhaltensmöglichkeit, in: ZKTh 131 (2009) 5–16, 5. 316 Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 104.

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schen ‚gut‘ und ‚böse‘.“317 Gerade dieses Bewertungskriterium macht schließlich den Ernst einer Gewissensentscheidung aus. Eine Entscheidung des Gewissens ist deswegen immer eine moralische Entscheidung.318 Andere Aspekte, z. B. „politische, familiäre oder wirtschaftliche Gründe“319, mögen zu berücksichtigende Faktoren innerhalb einer Gewissensentscheidung sein, doch können sie niemals ihr alleiniger Grund sein. Daher ist auch Böckenförde zu widersprechen, der „Gewissensfragen weder gegenständlich noch nach dem Inhalt des Gewissensgebots noch nach Gründen und Motiven irgendwie begrenzbar“320 sieht. Die Kriterien »Gut« und »Böse« zeigen auf, dass eine Einschränkung der Gewissensentscheidung hinsichtlich der Gründe und Motive möglich ist. Diese drei Eigenschaften – Situationsbezogenheit, Imperativität und Bewertungskategorien – und ihre Ausdifferenzierungen erheben eine Entscheidung zu einer Gewissensentscheidung. Sie zeigen nebenbei auch, dass eine Entscheidung des Gewissens zwar an einen religiösen oder weltanschaulichen Lebensentwurf gekoppelt sein kann, dies aber nicht zwingend sein muss.321

b) Zur Beweisbarkeit einer Gewissensentscheidung Die Ausführungen zum Gewissen und zur Gewissenentscheidung verdeutlichen, dass es sich hierbei um höchst innerlich ablaufende Prozesse handelt. Somit stellt sich die Frage, wie andere Personen, z. B. Richter, beurteilen können, ob tatsächlich eine echte Berufung auf das Gewissen vorliegt.322 Bei näherer Betrachtung muss man diese Fragestellungen in drei Aspekte unterteilen: • Warum muss eine Gewissenentscheidung bewiesen werden? • Wer muss eine Gewissenentscheidung beweisen? • Was genau kann bewiesen werden? Eine echte Gewissensentscheidung des Grundrechtsträgers löst den abwehrrechtlichen Schutz des Grundrechts der Gewissensfreiheit gegenüber dem Staat aus. Allgemein gesprochen wird dem Gewissensakteur bei positiv ausfallender Grundrechtsprüfung dadurch die Möglichkeit gegeben, eine grundsätzlich alle Bürger betreffende Rechtsnorm nicht erfüllen zu müssen. Ein nachgewiesener

Meisner, Das Gewissen – Normierte Norm des Handelns, 170. Vgl. Witschen, Was ist eine Gewissensentscheidung?, 82. Zippelius, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung, 60. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 275. 321 Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 119, Rd.-Nr.: 168. 322 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 40. 317 318 319 320

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»Tatbestand« ist demnach selbstverständliche Voraussetzung für den grundrechtlichen Schutz. Dementsprechend hat das BVerfG entschieden: Je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaftspflicht ist, mit der die vorgetragene individuelle Gewissensentscheidung in Konflikt gerät, um so weniger kann der die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat darauf verzichten, im Rahmen des Möglichen die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen.323

Diese Ausführungen zeigen auch, wer die Darlegungslast für eine Gewissensentscheidung zu tragen hat  – es ist der Bürger, der für sich den grundrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen möchte.324 Folglich bestimmt das BVerfG: Art. 4 Abs. 3 gewähre zwar unmittelbares Grundrecht, durch das dem Schutz des Einzelgewissens gegenüber den Forderungen der Gemeinschaft der Vorrang eingeräumt werde. Einen derartigen Respekt könne die Gemeinschaft dem Einzelnen aber nur erweisen, wenn er seine Gewissensentscheidung dartue und diese Entscheidung von den dafür bestimmten Institutionen anerkannt sei.325

Dieser Anspruch an den Gewissensträger setzt stillschweigend voraus, dass seine Entscheidung derart kommunizierbar ist, dass sie auch von anderen zumindest nachvollzogen werden kann. Innerhalb eines solchen Verfahrens spielt also vor allem das Medium der Sprache eine übergeordnete Rolle. Matthias Herdegen formuliert daher die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass hierbei derjenige benachteiligt ist, „dem es aus sprachlichen Gründen schwerfällt, Gewissenspositionen als solche darzustellen und intersubjektiv unmittelbar einleuchtend zu vermitteln.“326 Dennoch spricht auch er sich für ein solches Vorgehen aus – schließlich muss ein Beweisverfahren in irgendeiner Art gewährleistet werden –, betont aber, dass dieses Untersuchungsverfahren eine Schranke im Schutz der Menschenwürde hat.327 Diese bisher ungelöste Problematik, auf die auch Freihalter hinweist328, wird zumindest insoweit vom BVerfG abgeschwächt, als es darlegt, dass die Erläuterungen der Gewissensentscheidung des Grundrechtsberechtigten in den Untersuchungsverfahren zunächst wohlwollend aufgenommen werden müssen.329

323 324 325 326 327 328 329

BVerfGE 48, 127 (168). Vgl. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, 235. BVerfGE 28, 243 (253). Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 138. Vgl. ebd. 307. Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 102. Vgl. BVerfGE 48, 127 (168).

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Zuletzt bleibt noch die Frage zu klären, was der Bürger nun konkret zu beweisen hat. Die weltanschauliche Neutralität des Staats verbietet es, eine Gewissensentscheidung inhaltlich als richtig oder falsch zu bewerten. Die Darlegungslast aufseiten des Bürgers zielt also nicht darauf, dass er zu beweisen hätte, ob seine Gewissensüberzeugung »richtig« sei. Das staatliche Prüfverfahren darf lediglich eruieren, ob wirklich eine Gewissensentscheidung vorliegt oder nicht.330 Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass jede Gewissensentscheidung ein intern-geistiger Vorgang ist. Die Feststellung einer echten Gewissensentscheidung erweist sich daher als überaus schwierig. Einfacher ist es, aufgrund der Motivationsprüfung des Grundrechtsträgers darzulegen, dass in einem konkreten Fall keine echte Gewissensentscheidung vorliegt.331 Dessen ungeachtet bleibt eine solche Prozedur heikel und schwierig. Das BVerfG votiert daher in einer Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung dafür, dass „lediglich solche Anträge ausgesondert werden, die offensichtlich unbegründet sind, weil das Fehlen einer relevanten Gewissensentscheidung unmittelbar ersichtlich ist.“332 In einem Prüfverfahren zur Verifizierung einer Gewissensentscheidung hat ein Grundrechtsträger also darzulegen, dass bei ihm eine solche realiter vorliegt. Hiermit ist aber noch nicht gesagt, dass sich eine Gewissensentscheidung tatsächlich beweisen lässt. Herzog verneint diese Möglichkeit in seinem Kommentar zu Art. 4 GG ausdrücklich.333 In einem strengen Sinn wird man ihm Recht geben müssen. Das Vorliegen einer Gewissensentscheidung kann nicht vollkommen zweifelsfrei bewiesen werden. Beachtet werden muss hier allerdings, dass die Rechtsprechung des BVerfG einen solchen Beweis auch nicht einfordert. Aufgabe der zuständigen staatlichen Behörden ist es vielmehr, zu prüfen, ob deutliche Hinweise dafür sprechen, dass gerade keine Gewissensentscheidung vorliegt. Solche Hinweise sind für den Rechtsstaat zwingend notwendig, um zu verhindern, dass jede Entscheidung des Einzelnen als Gewissensentscheidung deklariert werden kann334. Die Gewissensfreiheit darf nicht „zu einem umfassenden und völlig uneingeschränkten Verweigerungsrecht des Einzelnen gegenüber Gesellschaft und Staat“335 abgleiten. Die Literatur nennt nun verschiedene Kriterien, die für eine echte Gewissensentscheidung sprechen sollen.

330 Vgl. BVerfGE 12, 45 (55). 331 Vgl. Ben Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, in: Council of Europe 332 333 334 335

(Hg.), Freedom of conscience. Proceedings, Straßburg 1993, 74–93, 79 f. BVerfGE 69, 1 (26). Herzog, Art. 4., 61, Rd.-Nr.: 160. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 137. Herzog, Art. 4., 62, Rd.-Nr.: 161.

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c) Mögliche Kriterien einer Gewissensentscheidung Die Kriterien, die für eine echte Gewissensentscheidung sprechen, lassen sich grob in zwei Gruppen unterscheiden. i. Eine Gewissensentscheidung orientiert sich an einem individuellen rationalem Wertkonzept Ein Kriterium für die Wahrhaftigkeit einer Gewissensentscheidung kann darin liegen, dass derjenige, der sich auf sein Gewissen beruft, ein Wertkonzept darlegen kann, aus dem heraus seine Entscheidung schlüssig wird.336 Dieses Kennzeichen zielt darauf ab, dass eine Gewissensentscheidung sich an bestimmten inneren Merkmalen festmachen lässt. Ein solches Wertkonzept beinhaltet nämlich einen individuellen Verhaltenskodex, von dem sich der Einzelne auch in Ausnahmefällen nicht dispensieren kann.337 Entscheidend ist dabei die Verinnerlichung dieser Wertvorstellungen. Sie sollen nicht einfach von außen – wie beispielsweise durch Gesetze – an das Individuum herantreten, sondern von seiner Persönlichkeit her gefordert sein. Das mit dem geforderten Verhalten verbundene Wertkonzept muss deshalb mit der sittlichen Identität des Individuums verbunden sein.338 So schreibt Juliane Kokott: „Eine Gewissensfrage stellt sich dann, wenn die Entscheidung in einer bestimmten Sache zur Konstituierung oder Dekonstituierung der Persönlichkeit bedeutsam ist.“339 Das Vorliegen eines solchen Wertkonzepts kann in einem Überprüfungsverfahren dadurch plausibilisiert werden, dass beispielsweise eine engagierte Kirchenmitgliedschaft oder ein anderes Engagement in einer Organisation mit ethischen Richtlinien nachgewiesen werden kann.340 Diesem Kriterium zu Folge gibt es so etwas wie die Rationalität einer Gewissensentscheidung, die sich von der Orientierung an einem Wertkonzept ableitet. Ben Vermeulen fordert daher, dass der gewissensgeleitete Akteur darlegen kann, dass seine Entscheidung wohl überlegt ist sowie seine Argumentation und sein gesamtes Verhalten eine gewisse Kohärenz aufzeigen.341 Dieser »Beweis« einer Gewissensentscheidung muss vor allem retrospektiv verstanden werden. Denn plausibel wird eine solche Entscheidung nur dann, wenn sie sich durch die bisherige Lebensgeschichte und als durchgehende Verhaltensprinzipien des Individuums getragen weiß. Vor allem im Zivilrecht spricht man in diesem Zusam-

336 337 338 339 340 341

Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 102. Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 40. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, 1035. Kokott, Art. 4, 259, Rd.-Nr.: 78. Vgl. Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht, 72. Vgl. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, 79.

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menhang vom Grundsatz des venire contra factum proprium.342 Luhmann weist allerdings darauf hin, dass sich eine Gewissensentscheidung nicht ausschließlich durch Kontinuität im sittlichen Verhalten beweisen lässt, sondern auch Zeichen eines sittlichen Neuanfangs sein könnte.343 Dass er selbst aber nicht auf dieses Kriterium verzichten möchte, zeigt seine ambivalente Bewertung hierzu: Die eigene Vergangenheit, die Selbstdarstellungsgeschichte, ist also kein eindeutiges Kriterium – und doch das einzig objektive Beweismaterial – für die Echtheit einer Gewissensentscheidung.344

Auch Hans Rupp weist auf den möglichen Wertewandel innerhalb der Lebensgeschichte hin und fordert, dass die Darlegung einer Gewissensentscheidung in einem solchen Fall einer gesteigerten Plausibilität bedarf.345 Allerdings führt er nicht aus, worin diese gesteigerte Plausibilität bestehen soll. Ein Wertkonzept als Kennzeichen einer Gewissensentscheidung erweist sich folglich als zu unpräzise. Zwar kann festgehalten werden, dass das Vorliegen eines Wertkonzepts eine Gewissensentscheidung zu begründen vermag. Jedoch kann nicht geschlussfolgert werden, dass das Fehlen eines schlüssigen Wertkonzepts bzw. dessen Wandel eindeutig gegen eine Gewissensentscheidung sprechen. Dieser Umstand verleitet manche Autoren zu dem Schluss, dass es für Gewissensentscheidungen überhaupt keine rationalen Begründungen gäbe.346 Nach der hier dargelegten Gewissenslehre ist das Gewissen aber kein irrationales Phänomen; die Gründe für eine Gewissensentscheidung sind vielmehr interpersonal kommunizierbar. Das Fehlen eines sittlichen Verhaltensmaßstabs, der auch in der Vergangenheit des Individuums Gültigkeit beansprucht, kann daher dadurch kompensiert werden, dass dargelegt wird, aus welchen Gründen sich der Gewissensträger hic et nunc verpflichtet weiß, sich in einer bestimmten Weise verhalten zu müssen. ii. Eine Gewissensentscheidung trägt auch negative Konsequenzen Das zweite diskutierte Kriterium, das Vorliegen einer Gewissensentscheidung zu beweisen, versucht die genannten Probleme zu umgehen. Hierbei wird von einer rationalen Begründung abgesehen und stattdessen auf die Folgen einer Gewissensentscheidung geschaut. Die Vertreter dieses Kriteriums bauen ihre 342 343 344 345 346

Vgl. Martin Borowski, Gewissen und Rechtspflicht, in: BThZ 27 (2010) 224–249, 242. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, 285. Ebd. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, 1035. Vgl. Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, 17.

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Überlegungen auf dem existentiellen Ernst dieser Entscheidung auf. Sie untersuchen, inwieweit die Entscheidung mit dem jeweiligen moralischen Selbstbild des Gewissensträgers verknüpft ist. Wie bereits dargelegt wurde, wird eine solche Entscheidung in einer Situation gefällt, die vom Individuum ein bestimmtes Verhalten fordert. Daher kann auch der Ernst dieser Entscheidung nicht abstrakt, sondern muss höchst konkret sein.347 Die Ernsthaftigkeit sollte schon dadurch gegeben sein, dass die Berufung auf die Gewissensfreiheit ja gerade dann notwendig werden kann, wenn der Einzelne sich gegen einen gesellschaftlichen Konsens entscheidet. Der Beweis, dass es sich um eine Gewissensentscheidung handelt, soll nun darin liegen, dass die Entscheidung auch dann nicht revidiert wird, wenn dem Gewissensträger durch sie negative Konsequenzen drohen. In der Literatur wird dieses Kriterium darum als experimentum crucis348 bezeichnet. Für den Gewissensträger bedeutet es: Ist jemand bereit, um seiner Gewissensüberzeugung willen gravierende Nachteile in Kauf zu nehmen, persönliche Opfer zu bringen, erhebliche Risiken oder Gefahren einzugehen, ohne zu erwarten, dass sich dies letztlich für ihn auszahlt, dann besteht er ein experimentum crucis für die Echtheit seiner Gewissensüberzeugung, dann stellt er den existentiellen Ernst, das unbedingte Verpflichtetsein, das ein konstitutives Merkmal einer Gewissensentscheidung ist, eindrücklich unter Beweis.349

Bei diesem experimentum crucis sind die Gründe einer Gewissensentscheidung zweitrangig. Der Gewissensträger erbringt eher einen indirekten Beweis für seine Behauptung der Gewissensentscheidung, indem er entgegen aller Widrigkeiten an seiner Entscheidung festhält. In der Tat zeichnet sich eine Gewissensentscheidung ja durch eine solche Existentialität aus. Augenscheinlich bietet das sog. experimentum crucis also einen recht sicheren Nachweis für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung. Auch wenn dieses Kriterium zunächst sehr einfach und plausibel klingt, ergeben sich doch Folgefragen, die nicht leicht zu beantworten sind: Welche Intensität müssen die negativen Konsequenzen haben, um als solche überhaupt anerkannt zu werden und welches Messinstrumentarium eignet sich hierfür? Müssen diese Konsequenzen realiter eintreten oder reicht es aus, dass eine Gewissensentscheidung nur theoretisch negative Folgen nach sich ziehen könnte? Ein Überblick über die gegenwärtige Literatur zeigt, dass die Verfechter des experimentum crucis die Beantwortung dieser Fragen bisher schuldig geblieben sind.

347 Vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 277. 348 Witschen, Supererogatorische Handlung als Ausformung einer Gewissensentscheidung,

139. 349 Witschen, Was ist eine Gewissensentscheidung?, 85.

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Vielleicht mag man die bisher genannten Problematiken noch als Detailfragen abtun, doch es gibt auch eine fundamentale Kritik an diesem Ansatz: Ob nämlich das experimentum crucis mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit überhaupt vereinbar sei. So schreibt Vermeulen: However, this test is often incompatible with the freedom of conscience. When in a certain field the freedom of conscience is fully guaranteed and somebody refuses to fulfil the relevant duties with an appeal to conscience, the state is not allowed to impose more burdensome alternative duties in order to ascertain the sincerity of the appeal – is not allowed to test the willingness to bear the (negative) consequences. The freedom of conscience forbids just that, forbids to put the conscientious objector in a worse position than he who fulfils these duties: otherwise this objector would not be free to act according to his conscience.350

Vermeulen argumentiert klar: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit soll den Bürgern ausdrücklich die Möglichkeit garantieren, Gewissensüberzeugungen auszubilden und zu haben, ohne dadurch von den staatlichen Behörden in irgendeiner Weise diskriminiert zu werden. Liegt der Beweis der Gewissensentscheidung aber gerade in der Duldung und dem Aushalten von negativen Konsequenzen, so widerspricht eben dieses Prozedere der Intention der Gewissensfreiheit. Diese Kritik trifft einen wichtigen Punkt, ist aber nicht differenziert genug. Denn entscheidend dafür, ob das experimentum crucis der Gewissensfreiheit widerspricht, dürfte die Frage sein, zu welchem Zeitpunkt ein Gewissensakteur von den negativen Konsequenzen seiner Haltung erfährt. Sind sie ihm von vornherein bewusst, z. B. indem die staatliche Gesetzgebung eine Zuwiderhandlung grundsätzlich unter Strafe stellt, so wird er diese Folgen bereits in seine rationalen Gewissensüberlegungen einbeziehen. Sind dem Gewissensträger die zu erwartenden Strafen bekannt, kann kaum von einer Grundrechtsverletzung bezogen auf die Gewissensfreiheit gesprochen werden. Belegt eine staatliche Behörde aber eine gewissensmäßige Haltung oder Handlung eines Bürgers erst dann mit für ihn negativen Konsequenzen, wenn er seine abweichende Gewissensüberzeugung kundtut, könnte man darin durchaus eine Verletzung der Gewissensfreiheit erkennen. Denn in diesem Fall sind die Konsequenzen ein direkter Reflex auf die Gewissensbetätigung und nicht mehr allgemein gesetzlicher Natur. iii. Die unbeweisbare Gewissensentscheidung Die Schwächen der jeweiligen Ansätze zur Beweisbarkeit von Gewissensentscheidungen führen bei einigen Autoren zu der Schlussfolgerung, dass sie nie zweifelsfrei beweisbar seien. So urteilt Herdegen, dass „bislang keine überzeugenden 350 Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, 80.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit

inhaltlichen Kriterien entwickelt worden [sind]“351. Da er ein solches Vorgehen grundsätzlich als „kaum erfolgsversprechend“352 einstuft, bezieht sich sein Urteil nicht nur auf die vergangenen Versuche. In die gleiche Richtung weisen die Aussagen von Rupp, für den sich eine Gewissensentscheidung „in der Außenwelt nicht unmittelbar wahrnehmen [lässt]“353. Witschen möchte in diesem Fall gar die Beweislast umkehren: Aufgrund der strengen Subjektivität des Gewissens sei es nicht die Aufgabe des Bürgers, seine Gewissensentscheidung zu beweisen, vielmehr hätten Zweifler an der Aufrichtigkeit dieser Entscheidung die Beweislast zu tragen.354 Ob eine solche Beweislastumkehr überhaupt grundrechtskonform wäre, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden. Allerdings kann festgehalten werden, dass dieser Vorschlag lediglich zu einer Verschiebung der Problematik führt: Wenn es nicht möglich ist, eine Gewissensentscheidung sicher festzustellen, so kann umgekehrt auch nicht verlangt werden, dass der gegenteilige Beweis eine solches Sicherheitsniveau zu liefern vermag. Fest steht: Ein zweifelsfreies Instrumentarium zur Feststellung eines Gewissensentscheids gibt es nicht. Immerhin kann aber von Indizien gesprochen werden, welche die Annahme einer Gewissensentscheidung zumindest plausibel erscheinen lassen. Zu denken ist hier vor allem an die Rationalität einer Gewissensentscheidung. Hierbei geht es nicht darum, ob diese Entscheidung richtig ist, sondern ob die Darlegung aus der Sicht und Biographie des Betroffenen heraus eine rationale Grundstruktur aufweisen kann.355 Es sind Konstellationen vorstellbar, die diese Plausibilität erhöhen können, wie z. B. die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder die Bereitschaft, vor der Entscheidung bekannte negative Konsequenzen zu tragen. Aufgrund der vielen Unschärfen innerhalb dieses Prozesses darf aber nicht jeder Zweifel sogleich zu einer Aberkennung des »Prädikats Gewissensentscheidung« führen.356 Es kann »nur« darum gehen, solche Fälle herauszufiltern, die offensichtlich nicht gewissensmotiviert sind.357

2.1.3 Die Schutzfunktion im forum internum Die bisherigen Überlegungen zum Gewissensbegriff und zur Gewissensentscheidung dienen als theoretischer Unterbau für die konkrete Grundrechtsauslegung hinsichtlich des forum internum und forum externum. 351 352 353 354 355 356 357

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 158. Ebd. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, 1034. Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 196 f. Vgl. Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht, 66. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 308 f. Vgl. BVerfGE 69, 1 (26).

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Völlig unstrittig ist in der gegenwärtigen Literatur, dass dem forum internum des Gewissens der volle Grundrechtsschutz gemäß Art. 4 Abs. 1 GG zukommt.358 Während es also offenbar unzweifelhaft ist, dass es geschützt wird, ist zunächst noch nicht eindeutig, was hierbei überhaupt geschützt werden soll.

a) Zur Bestimmung des forum internum Das forum internum kann in einer ersten Annäherung als die „Gesamtheit aller inneren Vorgänge und Zustände, die auf ein bestimmtes Phänomen, eben das Gewissen, bezogen sind[,]“359 verstanden werden. Diese innerlich ablaufenden Vorgänge werden in der Regel in drei Teilprozesse untergliedert. Der erste kann mit dem Stichwort »Gewissensbildung« beschrieben werden. Unter dieser Perspektive schützt die Gewissensfreiheit die grundsätzliche Ausbildung des Gewissens ebenso wie die Bildung von Gewissensentscheidungen vor manipulatorischen Übergriffen. Jeder Bürger soll frei darin sein, eigene Überzeugungen und Wertvorstellungen entwickeln zu können.360 In diesem Zusammenhang kann die Gewissensfreiheit auch als lex specialis zur Gedankenfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG verstanden werden.361 Weiterhin versteht man unter dem Schutz des forum internum auch die Freiheit, überhaupt ein Gewissen zu haben.362 Diese verbreitete Formulierung suggeriert jedoch die Möglichkeit, dass es den Bürgern frei steht, ein Gewissen zu haben oder nicht zu haben. Ob eine solche Vorstellung aber mit dem Begriff des Gewissens in Einklang zu bringen ist, wird kontrovers diskutiert. So merkt Freihalter an: „Entscheidend ist allein, dass man ein Gewissen nicht haben kann, sondern grundsätzlich, unabhängig auch vom Lebensalter, hat.“363 Da das Gewissen also eine „Urgegebenheit des Menschen“364 ist, sei ein Recht darauf letztlich inhaltsleer, da es nicht möglich ist – auch nicht per Rechtsweg –, kein Gewissen zu haben.365 Vosgerau wendet sich ebenfalls gegen diese Formulierung, allerdings mit einer etwas anderen Stoßrichtung. Er zieht die Möglichkeit durchaus in Betracht, dass Menschen bewusst gewissenlos handeln können und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings darf diese Option staatlicherseits nicht legitimiert werden, da sich damit der Staat selbst in Frage stellen würde: 358 359 360 361 362 363 364 365

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 270. Freihalter, Gewissensfreiheit, 79. Vgl. Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, 229. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 120, Rd.-Nr.: 190. Vgl. Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht, 52. Freihalter, Gewissensfreiheit, 80. Ebd. 79. Vgl. ebd. 81.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit Denn eine Rechtsordnung, deren Bürger ihre Befolgung im Einzelfall ‚gewissenlos‘ jeweils nur noch von einer Vorteils- und Nachteilskalkulation abhängig machten, wäre am Ende, da sie bei diesen Abwägungen zu oft verlieren würde. Der freiheitliche Staat ist auf ein gewisses Ausmaß des Funktionierens der ‚moralischen Innensteuerung der Bürger‘ daseinsnotwendig angewiesen; bleibt auch dieses Mindestmaß aus, so kollabiert der Verfassungsstaat oder verwandelt sich in eine reine Zwangsordnung.366

Freihalter und Vosgerau sprechen damit einen wichtigen Aspekt der Gewissenslehre bzw. des Verhältnisses von Recht und Moral an. Zur Vermeidung dieser Problematik scheint es angebracht, auf die Redeweise »ein Gewissen zu haben« zu verzichten und stattdessen eher zu formulieren, dass das forum internum die Freiheit schützt, Gewissensüberzeugungen zu haben.367 Neben der Ausbildung eines Gewissens und der Genese und dem Besitz von Gewissensüberzeugungen bzw. -entscheidungen stellt die Gewissensfreiheit als Rechtsnorm schließlich auch die Änderung von Gewissensinhalten unter ihren Schutz.368 Damit wird anerkannt, dass Gewissensüberzeugungen durchaus einem Wandel unterzogen sein können. Diese Veränderung darf dann ebenso wenig nachteilige Konsequenzen für den Gewissensträger haben wie seine gegebenenfalls erstmalige Gewissensentscheidung.

b) Gefährdungen des forum internum In seinem Beitrag „Die Gewissensfreiheit und das Gewissen“ von 1965 lehnt Luhmann einen rechtlichen Schutz des forum internum ab, da es als innerer Vorgang nicht schutzbedürftig sei.369 Schon acht Jahre später wird diese Ansicht von Freihalter revidiert: „Die Formen möglicher Beeinflussung sind kaum noch überschaubar.“370 Durch den technischen und medizinischen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten haben mögliche Beeinflussungen noch weiter zugenommen. Dessen ungeachtet soll hier der Versuch unternommen werden, die Gefährdungen zu systematisieren. Als das forum internum gefährdende Maßnahmen werden allgemein alle Praktiken verstanden, die „das Bewusstwerden einer Gewissensentscheidung verhindern oder deren Wirksamkeit sonst ausschalten.“371 Die Gefahr solcher Übergriffe scheint in den Situationen besonders groß zu sein, in denen der Gewissensträger 366 367 368 369 370 371

Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 193. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 271. Vgl. ebd. 179. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, 258. Freihalter, Gewissensfreiheit, 82. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 271.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

anderen gegenüber eine unterlegene Position inne hat. Dies trifft vor allem auf Schüler, Soldaten, Strafgefangene, Beschuldigte oder Zeugen in Ermittlungsverfahren und Patienten in medizinischen Anstalten zu.372 Die verschiedenen Gefährdungsmöglichkeiten lassen sich in vier Kategorien einteilen: • Chirurgische Maßnahmen Unter diese Kategorie fallen operative Maßnahmen am menschlichen Gehirn. Dazu zählen beispielsweise die Leukotomie, Operationen am Mandelkern oder am Cingulum373 oder die sog. Split-Brain-Operation374. In therapeutischen Verfahren bezwecken sie eine gewollte Persönlichkeitsveränderung, die mit einer Änderung der Emotionalität einhergeht.375 Solche chirurgische Maßnahmen sind irreversibel. Daher verletzen sie das forum internum massiv. Sie dürften allerdings nur äußert selten als bewusst intendierte Grundrechtsverletzungen vorkommen. • Physische nicht-operative Maßnahmen Hierunter ist vor allem die körperliche Folter zu zählen.376 Durch den gezielten Einsatz körperlicher Gewalt soll der Wille des Folteropfers gebrochen werden, um beispielsweise bestimmte Informationen zu erlangen. • Chemisch-unterstützte Maßnahmen Hierbei wird die psychische Verfasstheit einer Person mittels chemischer Substanzen beeinflusst. In Frage kommen Psychopharmaka377, Halluzinogene378 und bestimmte Hormone379. Diese Mittel können z. B. bei der sog. Narko-Analyse An372 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 48. 373 Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 82. 374 Vgl. Art. „Split-brain-Operation“, in: Willibald Pschyrembel, Pschyrembel. Klinisches 375

376 377

378

379

Wörterbuch, Berlin/New York 2602004, 1714. Vgl. Art. „Leukotomie“, in: Pschyrembel, Pschyrembel, 1039. Den aufgezählten Verfahren ist gemeinsam, dass es sich um radikale Eingriffe in das menschliche Gehirn handelt. So werden je nach Maßnahme an unterschiedlichen Stellen Nervenbahnen zerstört oder bei der Operation am Mandelkern, dieser mittels elektrischer Impulse stimuliert bzw. destimuliert. Vgl. Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 191. Unter dem Begriff »Psychopharmaka« werden zugelassene Arzneimittel mit psychoaktiver Wirkung verstanden. Vgl. Peter Zwanzger, Psychopharmaka, in: Michael Zaudig/ Rolf Dieter Trautmann (Hg.), Therapielexikon. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Berlin/Heidelberg/New York 2006, 599 f. Die Gruppe der Halluzinogene umfasst im Gegensatz zu den Psychopharmaka jene Substanzen, die man gemeinhin als »Drogen« bezeichnet. Vgl. Renate Brosch, Halluzinogene, in: Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.), Wörterbuch der Psychotherapie, Wien/New York 2000, 269. Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 82.

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wendung finden.380 Dabei wird ein Beschuldigter oder ein Zeuge im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens unter der bewusstseinsverändernden Wirkung solcher Substanzen verhört. • Psychologische Maßnahmen Die letzte Gruppe erfasst eine Vielzahl von Manipulationsversuchen. Hierunter fallen: Gehirnwäsche, Hypnose, Suggestion, Psychoterror, Indoktrination und Propaganda.381 Eine aus dem therapeutischen Bereich stammende Definition der Suggestion beschreibt den genauen Wirkmechanismus dieser psychischen Maßnahmen: Suggestion ist eine Einflussnahme des Therapeuten auf das Seelenleben des Patienten, welche nicht auf Einsicht und freie Zustimmung abzielt, sondern unter der Schwelle bewusster Wahrnehmungen und willentlicher Steuerung eine Veränderung erreichen will. Während sich die Überredungskunst der rhetorischen Möglichkeiten der Sprache bedient, um Bewusstsein und Willen des Gesprächspartners zu einer Meinungs- oder Einstellungsänderung zu veranlassen, bedient sich die Suggestion der Tiefenschichten der Sprache und des emotionalen Ausdrucks, um direkt auf die Emotionen und das Handeln des Gesprächspartners Einfluss zu nehmen.382

Alle diese Formen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich der Sprache oder auch Bilder bedienen, um vor allem die emotionalen und unbewussten Tiefenschichten einer Person anzusprechen und sie so zu beeinflussen. Daher können auch bestimmte Methoden der kommerziellen Reklame, wenn sie sich tiefenpsychologischer Mittel bedient, als Gefährdung des forum internum gewertet werden.383

c) Positive Einflussnahmen auf das forum internum Aus dem grundrechtlichen Schutz des forum internum darf aber nicht abgeleitet werden, dass jegliche Einflussnahme verboten sei. Im Gegenteil ist sie sogar  – vor allem bei der Gewissensbildung – geradezu gefordert. Grundgelegt ist diese Sichtweise im Gewissen selbst. Das Gewissen muss zwar als individuelle und autonome sittliche Instanz im Menschen, aber gerade nicht als eine autarke Instanz verstanden werden. So ist der Prozess der generellen Gewissensbildung auch als 380 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 48. 381 Vgl. zu dieser Aufzählung: Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grund-

gesetzes, 191; Freihalter, Gewissensfreiheit, 82. 382 Alfred Schöpf, Suggestion, in: Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel (Hg.): Hand-

buch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 32008, 725–727, 725. 383 Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, 82.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

Sozialisationsprozess zu verstehen.384 Bevor Werte und Normen internalisiert werden können, müssen diese zunächst von außen, z. B. durch die Eltern, an das Individuum herangetragen werden. Auch die Genese einer Gewissensentscheidung sollte im Idealfall nicht im »stillen Kämmerlein« stattfinden, sondern im Austausch und der Diskussion mit anderen reifen. Dies bedeutet, dass an allen Erziehungsorten – sei es zu Hause, im Kindergarten oder in der Schule – im Rahmen der Wertevermittlung auch Einflussnahmen auf das forum internum geschehen. Solche »positive Einflussnahme« ist nun aber nicht verfassungswidrig, sondern gerade gewollt.385 Die Grenzen zwischen Werterziehung und Indoktrination werden sich dabei mit zunehmenden Alter des Individuums stetig verändern. Im Kindesalter wird man eine starke moralische Außensteuerung selbstverständlich tolerieren. Diese muss sich dann stetig zurücknehmen, um einer immer mehr in den Vordergrund rückenden moralischen Innensteuerung Platz zu machen.

2.1.4 Die Schutzfunktion im forum externum Im Gegensatz zur Schutzfunktion im forum internum wird eine Schutzfunktion der Gewissensfreiheit im forum externum zurzeit in der juristischen Literatur nicht einhellig angenommen. Stellvertretend für die Kritiker sei an dieser Stelle Vermeulen genannt. Nach seiner Auffassung ist ein allgemeiner freiheitlicher Schutz des forum externum mit einem Rechtssystem prinzipiell nicht vereinbar.386 Ja, ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht mit dieser Intention sei sogar das Ende eines jeden Rechtsystems.387 Denn ein weitreichender Schutz des forum externum würde jede rechtliche Norm relativieren, es gäbe keine allgemeine Gültigkeit der Gesetze mehr und jede Bürgerin und jeder Bürger könnte sich mit dem Rückgriff auf das Gewissen von jedem möglichem Gesetz »befreien«. Allerdings hat sich diese sog. Forum-internum-Theorie388 nicht durchgesetzt. Tiedemann hat die grundsätzlichen Bedenken gegen ein solches Verständnis der Gewissensfreiheit in wenigen Worten zusammengefasst. Diese Theorie ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Menschenwürde nicht vereinbar, denn sie führt zu einer Aufspaltung der Person in eine vollständig abgeschirmte Sphäre des inneren Bewusstseins und eine von dieser normativ nicht mehr angeleiteten äußeren Sphäre des Handelns. Diese Aufspaltung ist ein Angriff auf die Identität der menschlichen 384 385 386 387 388

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 272. Vgl. Kokott, Art. 4, 260, Rd.-Nr.: 79. Vgl. Vermeulen, Scope and limits of conscientious objections, 81. Vgl. ebd. 83. Der Begriff der »Forum-internum-Theorie« soll ausdrücken, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit nur im forum internum eine Schutzfunktion entwickelt.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit Person, denn wenn das Bewusstsein das Handeln nicht mehr bestimmen darf, muss dies zu einer Spaltung der Persönlichkeit führen.389

Wie kann nun aber das forum externum inhaltlich bestimmt werden?

a) Zur Bestimmung des forum externum Als Ausgangspunkt für eine Bestimmung des forum externum dient eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1988. Dort heißt es: Die von der Verfassung gewährleistete Gewissensfreiheit umfasst nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich auch die Freiheit, von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu handeln.390

Auf den ersten Blick erscheint diese Beschreibung des forum externum inhaltlich banal, hält sie doch nichts anderes fest als: Die Freiheit des Gewissens schützt auch das Handeln nach dem Gewissen. Dabei kann leicht übersehen werden, dass die Verfassungsrichter ausdrücklich zwei Imperative des Gewissens erwähnen: Auf der einen Seite betonen sie den Imperativ des Gebietens und auf der anderen Seite den des Verbietens. Während der erste Imperativ eine Handlungsaufforderung enthält (»Du sollst diese Handlung ausführen!«), beinhaltet der zweite eine Unterlassungsaufforderung (»Du sollst diese Handlung nicht ausführen!«). Daraus ergibt sich, dass die beiden grundsätzlichen Handlungstypen, nämlich das positive Tun und das Unterlassen gleichermaßen grundrechtlichen Schutz genießen.391 Dies gilt es zu unterstreichen hinsichtlich mancher Bestrebungen, die Gewissensfreiheit im forum externum auf ein Unterlassen des Bürgers, beispielsweise die Verweigerung von staatlich auferlegten Pflichten, zu beschränken.392 Da der Gewissensspruch immer an eine bestimmte Entscheidungssituation gebunden ist, ergeben sich zwei idealtypische Konfliktsituationen zwischen Bürger und Staat, in denen eine prinzipielle Berufung auf die Gewissensfreiheit möglich sein muss (und zwar zunächst unabhängig davon, welche Schrankenregelungen greifen).393 In der ersten Situation gebietet das Gewissen einem Bürger eine Handlung, die vonseiten des Staats verboten ist. Ein Beispiel hierfür könnte der ausschließliche häusliche Schulunterricht von Kindern sein, der Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, 35. BVerfGE 78, 391 (395). Vgl. Herzog, Art. 4., 55, Rd.-Nr.: 140. So z. B. bei: Stefan Muckel, Die Grenzen der Gewissensfreiheit, in: NJW 53 (2000) 689– 692, 689; oder: Deiseroth, Gewissensfreiheit und Recht, 229. 393 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 49.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

in Deutschland verboten ist.394 Die zweite Situation zeichnet sich dadurch aus, dass dem Bürger durch sein Gewissen eine Handlung verboten wird, zu der er durch den Staat aber verpflichtet ist. Als Beispiele seien hier die gewissensbedingte Zahlungsverweigerung von Steuern oder Krankenkassenbeiträgen genannt.395 Auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gemäß Art.  4 Abs.  3 GG gehört an diese Stelle, da es zwar eigens im Grundgesetz erwähnt wird, gleichwohl aber dieser zweiten beschriebenen Situation zuzuordnen ist. Die explizite Nennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung innerhalb des Art. 4 GG versteht sich nämlich lediglich als „besondere Ausprägung einer […] allgemein geschützten Gewissensbetätigungsfreiheit“396 und kennzeichnet es nicht als ein eigenes Grundrecht. Diese grundlegende Bestimmung des forum externum der Gewissensfreiheit wird nun weiter spezifiziert und zwar insofern, dass der grundrechtliche Schutz der Gewissensfreiheit nur dann wirksam wird, wenn es sich um höchstpersönliche Akte handelt und sich der Grundrechtsträger in einer Zwangslage befindet. Wie bereits in der hier dargelegten Gewissenslehre deutlich wurde, fungiert das Gewissen als höchste persönliche Instanz in Fragen der sittlichen Lebensführung. Daraus ergibt sich zwingend, dass die Schutzwirkung dieses Grundrechts nur für persönliche Handlungen  – entweder als positives Tun oder als Unterlassen – in Anspruch genommen werden kann.397 So kann die Gewissensfreiheit keinesfalls dazu benutzt werden, andere durch staatlichen Zwang zu einem Verhalten anzuhalten, welches der eigenen Gewissensüberzeugung entspricht. In den Kommentaren zum Grundgesetz ist hier daher davon die Rede, „dass die Gewissensmaßstäbe des einzelnen [nicht] zum generellen Maßstab für die Gültigkeit oder Anwendung von Gesetzen werden.“398 Diese Konkretisierung nimmt also den auf die eigenen Handlungen begrenzten Verantwortungsbereich des Gewissensurteils ernst. Die zweite Spezifizierung könnte man zwar auch unter die Schrankenregelungen fassen, doch wird sie zumeist in die Schutzbereichsbestimmungen hineingenommen. So heißt es z. B. bei Nikolaus Blum:

394 Dieses Verhalten kann – in einem anderen Blickwinkel – allerdings auch als ein Gewis-

395 396 397 398

sensverbot verstanden werden. Und zwar in dem Sinne, dass der schulische Unterricht zu unterbleiben habe. In dieser Perspektive wäre der alleinige häusliche Unterricht dann kein gewissensgebotenes aktives Tun, sondern ein Unterlassen. Roman Herzog führt einige konkrete Beispiele auf. In: Herzog, Art. 4., 60, Rd.-Nr.: 155 f. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 237. Vgl. Michael/Morlok, Grundrechte, 123, Rd.-Nr.: 196. Michael Germann, Art.  4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit], in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2009, 110– 153, 147, Rd.-Nr.: 90.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit Das Recht entfaltet erst dann [!] seine Schutzfunktion, wenn eine unausweichliche Zwangslage besteht, in der staatliche Ge- und Verbote in einem unlösbaren Widerspruch zu einem individuell zwingenden Gewissensgebot stehen.399

Wichtig hierbei ist das Adjektiv »unausweichlich«; es beschreibt die existentielle Notsituation, in der sich der Grundrechtsträger befinden muss. Der Staat verlangt von ihm eine wie auch immer geartete Handlung, die insoweit alternativlos ist, da sie nur zwei Möglichkeiten zulässt: Entweder der Bürger kommt dieser Forderung nach oder nicht. In einer solchen Situation kann die Schutzfunktion der Gewissensfreiheit aktiviert werden, wenn die gebotene Handlung im Widerspruch zum Gewissensurteil steht. Bestehen allerdings Handlungsalternativen, bietet der Staat seinen Bürgern also an, entweder Handlung A, Handlung B oder Handlung C usw. zu vollziehen, kann sich der Grundrechtsträger nicht ohne weiteres allen Handlungsalternativen mit dem Hinweis auf die Gewissensfreiheit verschließen. Er müsste hingegen aufzeigen, dass tatsächlich alle Handlungsalternativen seinem Gewissensspruch widersprechen.

b) Zu den Konsequenzen der Schutzfunktion im forum externum Der grundrechtliche Schutz der Gewissensfreiheit, der sich auch auf das forum externum erstreckt, hat Auswirkungen auf das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern. Als erste Konsequenz ist das Toleranzgebot zu nennen: Zunächst gilt es denjenigen zu tolerieren, der sich aus Gewissensgründen zu einer bestimmten Handlung veranlasst sieht.400 Dieses Gebot kann als die grundlegende Ableitung aus der Gewissensfreiheit verstanden werden, da nur dort, wo der Staat seinen Bürgern mit dieser Toleranz begegnet, überhaupt die Chance besteht, dass dieses Grundrecht nicht nur auf dem Papier Gültigkeit hat. Toleranz darf allerdings nicht mit einer inhaltlichen Billigung verwechselt werden.401 Auch wenn die Gewissensüberzeugung eines anderen nicht geteilt wird, so kann (und muss) man diese und ihre Auswirkungen auf das forum externum dennoch tolerieren. Witschen charakterisiert diese Toleranz im Kontext der Gewissensfreiheit als eine Haltung, „die im Maße des Möglichen eine ungehinderte Umsetzung der Gewissensüberzeugung in äußere Handlungen zulässt“.402 Das Verb »zulassen« impliziert hier399 Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art.  9 der Europäischen

Menschenrechtskonvention, 158. 400 Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 201. 401 Vgl. Witschen, Einem anderen die Gewissensentscheidung bewusst überlassen, 8. 402 Dieter Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, in: MThZ 45

(1994) 477–494, 484.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

bei eine passive Rolle des Tolerierenden. In zwischenmenschlichen Beziehungen dürfte diese Intention durchaus richtig sein. Niemand ist dazu verpflichtet, einem anderen aktiv bei der Umsetzung einer Überzeugung behilflich zu sein, die er selbst nicht teilt. Man darf sie zunächst nur nicht verhindern.403 Im Verhältnis von Staat zu Bürger reicht es allerdings nicht aus, dem Staat lediglich eine passive Rolle zuzuschreiben. Denn der Staat trägt auch die Verantwortung für die Realisierung der Grundrechte. Es genügt demnach nicht, dass der Staat ein gewissensgeleitetes Verhalten schlichtweg nur zulässt, vielmehr muss er unter Umständen auch die Möglichkeiten zu diesem Verhalten schaffen. Dieser Aufforderung kann der Staat nachkommen, indem er beispielsweise Handlungsalternativen zu den von ihm auferlegten Handlungspflichten bereithält.404 Die zweite Konsequenz aus der Gewissensfreiheit ist das sog. Wohlwollensgebot.405 Es kommt in solchen Fällen zum Tragen, in denen ein gewissenmäßiges Handeln mit einer alternativlosen Rechtsvorschrift kollidiert. Der Gewissensakteur sieht sich gezwungen, eine Rechtsnorm zu verletzen und muss sanktioniert werden. In der Bemessung der Strafe gebietet das Wohlwollensgebot in einem solchen Fall, die Motivation durch ein Gewissensurteil gebührend anzuerkennen und »mildernde Umstände« gelten zu lassen. Das Wohlwollensgebot wird vom BVerfG sogar so weit interpretiert, dass manche Umstände den Zweck staatlicher Bestrafung gänzlich in Frage stellen können: Wer sich in einer konkreten Situation durch seine Glaubensüberzeugung zu einem Tun oder Unterlassen bestimmen lässt, kann mit den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen und den auf sie begründeten Rechtspflichten in Konflikt geraten. Verwirklicht er durch dieses Verhalten nach herkömmlicher Auslegung einen Straftatbestand, so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde. Ein solcher Täter lehnt sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf […]. Ist diese Entscheidung auch objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wertvorstellungen zu missbilligen, so ist sie doch nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, dass es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen.406 403 Hier deutet sich bereits an, dass es durchaus erlaubt sein kann, andere an der Umsetzung

ihrer Gewissensüberzeugungen zu hindern. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn im nächsten Abschnitt von den Schranken der Gewissensfreiheit die Rede sein wird. Das uneingeschränkte Toleranzgebot gilt allerdings für all die Fälle, in denen ausschließlich der Gewissensakteur die (negativen) Konsequenzen seiner Handlung zu tragen hat. Vgl. hierzu: Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 484 f. 404 Vgl. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 270. 405 Vgl. Muckel, Die Grenzen der Gewissensfreiheit, 690. 406 BVerfGE 32, 99 (108f). Das BVerfG bezieht sich in dieser Entscheidung zwar auf die Religionsfreiheit, doch dürften die grundsätzlichen Überlegungen auch auf die Gewissensfreiheit übertragbar sein.

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Die Grundrechtsauslegung der Gewissensfreiheit

2.2 Eingriffe in die Gewissensfreiheit Nach der Klärung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit sollen nun die verschiedenen Eingriffsmöglichkeiten in dieses Grundrecht dargestellt werden. Vor allem Witschen hat hierzu hilfreiche systematische Überlegungen formuliert. Er fasst vielfältige Kriterien zusammen, nach denen die diversen Eingriffe unterschieden werden können: Das eine Merkmal ist, ob auf die Entscheidungsfreiheit des Betreffenden eingewirkt wird oder auf dessen Handlungsfreiheit. Ein anderes ist, ob die nicht-sittlichen Übel, die aus der Umsetzung einer Gewissensüberzeugung sich ergeben, der Betreffende selbst zu erleiden hat oder diese anderen zugefügt werden. Ein drittes ist, ob das Gewissen des einzelnen dazu auffordert, bestimmte Handlungen zu unterlassen […], und dagegen Maßnahmen ergriffen werden sollen, oder ob das Gewissen des einzelnen dazu auffordert, bestimmte Handlungen zu vollziehen, und dagegen eingeschritten werden soll.407

Grundlegend ist also die Unterscheidung ob ein Eingriff auf das forum internum oder das forum externum einwirkt. Innerhalb des forum externum grenzt Witschen darüber hinaus Eingriffe in der Form eines Zwangs von solchen des Hinderns ab.

2.2.1 Eingriffe in das forum internum Durch Eingriffe in das forum internum wird die unmittelbare Entscheidungsfreiheit des Betroffenen angegriffen. Durch verschiedene Maßnahmen, wie sie beispielsweise in Abschnitt 2.1.3 angesprochen wurden, wird direkt auf das Gewissen und seine Urteilsfähigkeit eingewirkt. Es ist möglich und sicherlich teilweise intendiert, dass der Gewissensträger hierdurch zu anderen – auch gegensätzlichen – Gewissensüberzeugungen gelangt, zu denen er ohne diese Maßnahmen nicht gekommen wäre. Aus der Perspektive des Betroffenen zielen solche Maßnahmen direkt auf seine moralische Integrität und können aus dieser Sichtweise heraus den Gewissensträger zu Gesinnungen zwingen, die er ohne diese Maßnahmen als moralisch schlecht bzw. böse charakterisieren würde. Ein solches Vorgehen widerspricht eklatant der Menschenwürde und kann unter keinen Umständen gebilligt werden.408 Das BVerfG hat folgerichtig bereits den Versuch dieser Einflussnahme auf die Gewissensüberzeugungen Einzelner für verfassungswidrig erklärt:

407 Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 206 f. 408 Vgl. Witschen, Einem anderen die Gewissensentscheidung bewusst überlassen, 10.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit Ein Versuch etwa, den Gewissenstäter durch übermäßige Strafen als Persönlichkeit mit Selbstachtung ‚zu brechen‘ und dadurch in eine innere ausweglose Lage zu treiben, dass er gezwungen wird, seine Gewissensentscheidung über jede zumutbare Opfergrenze hinaus weiter zu verfechten, wäre verfassungswidrig.409

2.2.2 Eingriffe in das forum externum Innerhalb des forum externum können zwei Eingriffsmöglichkeiten unterschieden werden: Eingriffe durch Hindern und Eingriffe durch Zwang. Beide Eingriffsformen zeichnen sich zunächst dadurch aus, dass sie nicht in die Entscheidungs-, sondern in die Handlungsfreiheit des Gewissensakteurs eingreifen.

a) Hindern Eingriffe in der Form des Hinderns setzen voraus, dass der Gewissensakteur durch das Urteil seines Gewissens zu einer bestimmten aktiven Handlung veranlasst wird. Durch das Eingreifen eines oder auch mehrerer Dritter wird die Ausführung der Handlung aber verhindert. Folgendes Beispiel soll diese Eingriffsart verdeutlichen: Ein Tierschützer sieht sich durch sein Gewissen dazu veranlasst, ein Geschäft für Pelzbekleidung zu zerstören, da er diese Form der Nutzung von Tieren strikt ablehnt. Ein aufmerksamer Bürger bemerkt in der geplanten Tatnacht den Tierschützer vor dem Geschäft. Er alarmiert die Polizei, die daraufhin den Tierschützer an der Ausübung seiner gewissensgeleiteten Tat hindert.

b) Zwingen Im Gegensatz zum Hindern setzt das Zwingen voraus, dass sich der Betroffene weigert, einer ihm auferlegten Rechtspflicht nachzukommen. Sein Gewissen fordert ihn zu einer Unterlassung auf.410 Ein typisches Beispiel ist hier die teilweise Verweigerung von Steuerzahlungen durch Kriegsgegner, die z. B. den prozentualen Steueranteil des Bundeswehrhaushalts am Gesamthaushalt der BRD einbehalten möchten, da sie die Finanzierung von »Kriegsmitteln« nicht mit ihren Gewissen vereinbaren können. Durch das Mittel des Zwangs können sie aber verpflichtet werden, die Zahlungen zu leisten, obwohl dies gegen ihren Gewissensspruch steht. 409 BVerfGE 23, 127 (134). 410 Vgl. Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 486.

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Offene Fragen bezüglich der Gewissensfreiheit

c) Eingriffe anderer Art Herdegen weist daraufhin, dass man unter Eingriffen „nicht nur Handlungsund Unterlassungsgebote verstehen [muss], sondern auch die Vorenthaltung von Leistungen bei gewissenskonformem Handeln.“411 Da diese Eingriffsform in der gegenwärtigen Literatur nicht diskutiert oder erwähnt wird, liegt der Verdacht nahe, dass sie – gegen Herdegen – einer der anderen beiden Eingriffsformen zuzuordnen ist. Denn der Grund, warum der Staat einem Bürger bei einer für diesen gewissenskonformen Handlung bestimmte Leistungen vorenthält, wäre dieser: Durch den Leistungsentzug sanktioniert der Staat seinen Bürger. Diese Form der Sanktion hat zum Ziel, dass der Bürger entweder seine gewissensgeleitete Handlung beendet oder (nach Erhalt einer Strafe für eine zurückliegende Handlung) nicht wieder zeigt. Dies entspricht aber den Zielen der Eingriffe durch Zwang oder Hindern. Die Leistungsvorenthaltung ist also nicht als eigene Eingriffsart zu behandeln, sondern als Ausführungsinstrument einer der anderen beiden Eingriffsformen.

2.3 Die Schranken der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit unterliegt der Schrankenregelung der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, wie sie im Abschnitt 1.6.2 dieses Kapitels dargelegt wurden. Sie kann also lediglich dann beschränkt werden, wenn sie in Konflikt mit Grundrechten Dritter oder Rechtswerten mit Verfassungsrang gerät. Hier wird deutlich, dass eine Einschränkung der Gewissensfreiheit nur in solchen Fällen eine Option darstellt, in denen durch die Folgen einer Gewissensentscheidung Dritte betroffen sind. Wird lediglich der Gewissensakteur selbst durch die Folgen seines Gewissensurteils tangiert, so ist eine Einschränkung nicht möglich und der Gewissensakt kann nur toleriert werden.412

3. Offene Fragen bezüglich der Gewissensfreiheit Das zurückliegende Kapitel hatte zum Ziel, einen Überblick über die deutsche Grundrechtsdogmatik zu geben und die Auslegung der Gewissensfreiheit zu entfalten. Dabei wurde aufgezeigt, dass die Gewissensfreiheit im Grundgesetz zwar vorbehaltlos gewährt wird, ihr aber durch die sogenannten verfassungsimmanenten Schranken Grenzen gesetzt werden. Ein Eingriff in die Gewissensfreiheit kann 411 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 277. 412 Vgl. Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 484.

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II. Kapitel: Zur Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit

daher gerechtfertigt sein, wenn diese entweder mit einem Grundrecht eines Dritten oder sonstigen Werten von Verfassungsrang kollidiert. Der gleichsam doppelte Schutzbereich – forum internum und forum externum – der Gewissensfreiheit verlangt dabei eine differenzierte Sichtweise der Eingriffsformen. Wie bereits deutlich wurde, werden Eingriffe in das forum internum grundsätzlich abgelehnt, da sie durch die Schranken-Schranke der Menschenwürde ausnahmslos verboten sind. Doch eine Wertung der beiden Eingriffsformen in das forum externum steht noch aus. So stellt sich die Frage, ob es tatsächlich einen ethisch relevanten Unterschied zwischen Zwingen und Hindern gibt, der eine differenzierte Bewertung rechtfertigt, wie es z. B. Witschen postuliert.413

413 Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 204.

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III. KAPITEL: EINGRIFFE IN DIE GEWISSENSFREIHEIT AUS ETHISCHER PERSPEKTIVE

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

Im vorangegangenen Kapitel konnte aufgezeigt werden, dass die deutsche Grundrechtsdogmatik rechtfertigende Gründe für einen Eingriff in die Gewissensfreiheit kennt. So kann die Gewissensfreiheit dann eine rechtmäßige Schranke erfahren, wenn sie mit Grundrechten Dritter oder anderen Werten von Verfassungsrang kollidiert. Dass die Beschränkungsmöglichkeit durch Werte von Verfassungsrang zumindest diskussionswürdig ist, wurde in Abschnitt 1.6.3 des letzten Kapitels aufgezeigt. Diese juristische Sichtweise geht prinzipiell mit dem ethischen Grundsatz einher, dass ein Gewissensakteur nur dann in der Ausübung seiner Gewissensüberzeugung gehindert werden darf, wenn die Umsetzung nicht-sittliche Übel für Dritte beinhaltet.1 Betreffen die Folgen hingegen nur ihn selbst, so ist die Umsetzung seiner Überzeugung gemeinhin zu tolerieren. Um Eingriffe in die Gewissensfreiheit ethisch bewerten zu können, reicht der formulierte Grundsatz aber nicht aus. Er besagt zwar, dass eingegriffen werden darf – gegebenenfalls auch muss –, aber er liefert kein Kriterium, wie eingegriffen werden soll. Ein fiktives Beispiel soll diese Problemstellung verdeutlichen: Ein Elternpaar möchte seinem neugeborenen Kind aus Gewissensgründen den Namen »Satan« geben. Nun ist davon auszugehen, dass diese Namensgebung mit schlechten Folgen für Dritte, nämlich für das Kind, verbunden ist. Deshalb ist ein Eingriff möglich, doch es sind verschiedene Eingriffsvarianten denkbar: • Die Namensgebung wird verhindert, indem der gewählte Name nicht vom zuständigen Standesamt angenommen wird. • Die Namensgebung wird verhindert, indem das zuständige Standesamt die Eltern zwingt, das Kind »Michael« zu nennen. • Die Namensgebung wird verhindert, indem den Eltern durch das Familiengericht das Sorgerecht entzogen wird und auf einem anderen Wege ein Kindsname gefunden wird. Alle diese Eingriffe wären prinzipiell durch eine Grundrechtsschranke möglich. Nach dem allgemeinen Empfinden dürfte allerdings nur die erste Option ein gangbarer Weg sein. Der zuletzt genannte Eingriff widerspräche gewiss dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.2 Worin aber besteht ein ethisch relevanter Unterschied zwischen den beiden ersten Möglichkeiten? Eine Reflexion auf die Grenzen der Gewissensfreiheit kann daher nicht bei der Frage stehen bleiben, welche Bedingungen für einen Eingriff gegeben sein müssen, vielmehr muss sie auch den Eingriff selbst einer Analyse und Bewertung unterziehen. Ein weiteres Beispiel  – diesmal aus der aktuellen Rechtsprechungspraxis  – kann wertvolle Hinweise liefern, welche Kriterien zur Beurteilung eines Eingriffs herangezogen werden können: 1 2

Vgl. Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 484. Vgl. dazu Abschnitt 1.6.3 des II. Kapitels.

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Offene Fragen bezüglich der Gewissensfreiheit

Im vorliegenden Fall klagte ein Grundbesitzer gegen die bestehende Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, da er aus Gewissensgründen die Jagd auf Tiere ablehnt.3 Die Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft beinhaltet aber ein Jagdausübungsrecht durch die Jagdgenossenschaft auf dem Grundbesitz der Mitglieder. Die Verfassungsbeschwerde des Mannes wurde nicht zur Entscheidung angenommen, da sie keine Aussicht auf Erfolg habe, weil sie unbegründet sei.4 Neben der Behandlung anderer relevanter Grundrechte befasst sich das BVerfG mit der Frage, ob hier ein Eingriff in die Gewissensfreiheit vorliegt. Eine Eingriffsqualität wird mit folgender Stellungnahme angezweifelt: Schon die Schutzbereichseinschränkung ist hier zweifelhaft, jedenfalls nicht schwerwiegend. Der Beschwerdeführer wird nicht gezwungen, selbst an der Jagd teilzunehmen. Er wird auch nicht gezwungen, durch eigene Entscheidungen die Jagd auf seinem Boden frei zu geben und dadurch in einen Gewissenskonflikt getrieben. Diese Entscheidung hat vielmehr der Gesetzgeber getroffen, der, wie ausgeführt, ohne Verletzung des Eigentumsgrundrechts das Jagdrecht vom Eigentum getrennt und auf die Jagdgenossenschaft übertragen hat.5

Das BVerfG hebt zwei Momente hervor, anhand derer die Eingriffsqualität bemessen werden kann. Zunächst sprechen die Verfassungsrichter davon, dass der Beschwerdeführer keinem Zwang zur eigenhändigen Jagd unterliegt. Man kann hier ergänzen, dass er durch die Abweisung seiner Klage »lediglich« daran gehindert wird, seine Gewissensüberzeugung in die Tat umzusetzen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass es zwar immer verboten ist, jemanden zu einer Handlung zu zwingen, die nicht konform zu dessen Gewissensurteil ist, es aber durchaus erlaubt sein kann, jemanden an der Umsetzung seines Gewissensspruchs zu hindern.6 Damit gilt es zu untersuchen, was handlungstheoretisch unter Zwang bzw. Hindern zu verstehen ist und wie beide nach ethischen Gesichtspunkten zu bewerten sind. Das zweite Moment hebt auf den Bereich persönlicher Verantwortung ab. Unmissverständlich wird vom BVerfG festgehalten, dass es nicht in der Verantwortung des Beschwerdeführers liegt, ob auf seinem Grundbesitz gejagt wird oder nicht. Diese Verantwortung liegt alleine beim Gesetzgeber. Darzustellen sind hier also die Kennzeichen und Reichweite persönlicher Verantwortung und welche ethischen Konsequenzen sich aus diesen Überlegungen ergeben. 3

4 5 6

Vgl. BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Absatz 1. Die genauen Umstände, weshalb die Mitgliedschaft zu einer Jagdgenossenschaft besteht, können für die Betrachtung dieses Falls außen vor gelassen werden. Vgl. ebd. Absatz 3. Ebd. Absatz 25. Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 204.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

Insgesamt ist dabei zu beachten, dass die beiden Momente »Handlung« und »Verantwortung« keineswegs unverbunden nebeneinander stehen. Vielmehr sind sie zutiefst miteinander verknüpft. So bezeichnet z. B. Otfried Höffe die Verantwortung als eine „handlungsphilosophische Grundkategorie“7. Die Verbindung zwischen diesen beiden Kategorien ergibt sich dadurch, dass in den Fällen, in denen ein Tun oder Lassen als Handlung qualifiziert werden kann, der Handelnde dafür als verantwortlich bezeichnet wird.8 Innerhalb des Grundrechts auf Gewissensfreiheit erfährt diese Verbindung ihre höchste Bedeutung. Durch das höchstpersönliche Gewissensurteil erfährt sich der einzelne in eine nicht-delegierbare Verantwortung für seine Handlungen gerufen. Wer daher nicht tut oder lässt, was ihm sein Gewissen gebietet bzw. verbietet, wird sich dafür selbst vor seinem Gewissen verantworten müssen. Die nun folgenden Analysen werden in zwei Schritten durchgeführt. In einem ersten Schritt sollen die theoretischen Grundlagen des Verantwortungsbegriffs und der handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Zwingen und Hindern gelegt werden. Darauf aufbauend werden in einem zweiten Schritt Eingriffe in die Gewissensfreiheit einer ethischen Bewertung unterzogen.

1. Zur moralischen Verantwortung Der Begriff der Verantwortung ist aus den ethischen Diskursen unserer Zeit nicht mehr wegzudenken9, doch droht ihm gleichzeitig eine inhaltliche Diffusion. So konstatiert Otto Neumaier: Obwohl unklar ist, was mit ‚Verantwortung‘ gemeint ist, werden in der Literatur aber immer neue Formen von Verantwortung – wie Treuhänderverantwortung, Hegerverantwortung, Zukunftsverantwortung, Präventionsverantwortung oder kollektive Verantwortung – vorgeschlagen, von denen es heißt, dass ihre Berücksichtigung notwendig ist, um die unter unseren Nägeln brennenden Probleme zu lösen.10 7 8 9

10

Otfried Höffe, Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: Hans Poser (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg i. Br./München 1982, 233–261, 242. Vgl. ebd. Vgl. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 37; oder: Werner Wolbert, Gewissen und Verantwortung. Gesammelte Studien, Freiburg i. Br./Wien 2008, 95. Zu erwähnen ist auch die bekannte Monographie von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“. Jonas unternimmt in ihr den Versuch, Verantwortung zu dem entscheidenden handlungsleitenden und handlungsbewertenden Grundmotiv zu erheben: Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1987. Otto Neumaier, Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, 12.

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Zur moralischen Verantwortung

Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird nicht die Verantwortung »an sich« betrachtet, sondern eine spezielle Form, nämlich die moralische Verantwortung. Diese Akzentuierung ergibt sich zwingend aus dem Kontext der Gewissensfreiheit, in den dieser Begriff hier eingebettet ist. Da das Gewissen mit den Kategorien »Gut« und »Böse« persönliche Handlungen bewertet, muss auch der damit assoziierte Begriff der Verantwortung moralisch konnotiert werden. Die grundsätzliche Fragestellung der Zurechnung moralischer Verantwortlichkeit lautet daher: Für welche Handlungen, Handlungsfolgen oder Zustände – insbesondere wenn Handlungen Dritter dabei zu berücksichtigen sind – bin ich moralisch verantwortlich, so dass mein Gewissen mich auf dieser Grundlage als gut oder böse charakterisiert?

1.1 Das Lehrstück der cooperatio ad malum Innerhalb der katholischen Moraltheologie lässt sich ein Antwortversuch auf diese Frage im traditionellen Lehrstück der cooperatio ad malum vermuten. Dabei muss aber gesagt werden, dass diese Lehre heute weitestgehend in Vergessenheit geraten ist. Nicht nur der Moraltheologe Schockenhoff dürfte daher erstaunt gewesen sein11, als Johannes Paul II. 1995 in der Enzyklika „Evangelium vitae“ im Zusammenhang der Schwangerschaftskonfliktberatung durch katholische Institutionen, „an die allgemeinen Grundsätze über die Mitwirkung an schlechten Handlungen erinnert“12. Auch ein Blick in aktuelle moraltheologische Lehr- bzw. Handbücher offenbart einen zwiespältigen Umgang mit der cooperatio-Lehre, sofern sie überhaupt erwähnt wird: Entweder erscheint sie ohne eine inhaltliche Darlegung13 oder im Sinne einer kritischen Neuinterpretation14. Um einen Einblick in die Lehre der Mitwirkung an schlechten Handlungen zu bekommen, müssen so vor allem die vorkonziliaren Handbücher der Moraltheologie konsultiert werden.

11 12

13 14

Vgl. Eberhard Schockenhoff, Schwangerschaftskonfliktberatung  – der Ernstfall der Ethik, in: Caritas 98 (1997) 355–358, 355. Johannes Paul II., Evangelium vitae. Enzyklika über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 62009, 74. Die Diskussion, ob Johannes Paul II. die Mitwirkungslehre korrekt dargestellt oder verändert hat, wird an dieser Stelle nicht erörtert. Wichtig ist zunächst nur, dass er sich in seiner ethischen Beurteilung überhaupt auf diese Lehre stützt. So z. B. in: Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007, 374. Z. B. in: Stephan Ernst, Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 271 f.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

Grundsätzlich widmet sich die cooperatio ad malum der Bewertung einer wie auch immer gearteten Mitwirkung an einer sündhaften Tat eines Dritten.15 Durch diese Aussage wird deutlich, dass dieses Lehrstück nur vor dem Hintergrund zweier Prämissen gelingen kann: Zum einen muss die Handlung des Dritten als ein sündhafter bzw. böser Akt charakterisiert sein und zum anderen muss deutlich sein, dass er der Haupthandelnde in Bezug auf den bösen Akt ist. Ob der an einer solchen Handlung Mitwirkende selbst moralisch schuldig wird – man könnte auch sagen, ob es gerechtfertigte Gründe für eine Anklage durch sein Gewissen gibt –, hängt von der Art und Weise der Mitwirkung ab. Die traditionelle Moraltheologie unterscheidet hierzu die cooperatio formalis, die immer unerlaubt ist, von der cooperatio materialis, die unter Umständen erlaubt sein kann.16

1.1.1 Zur cooperatio formalis Die formelle Mitwirkung wird definiert als Beitrag zur Sünde des andern, der seiner eigenen Wesensart oder inneren Zweckbestimmung nach (finis operis) oder auch nach der willentlichen Zweckbestimmung des Mitwirkenden (finis operantis) als Beitrag zur Sünde des andern gekennzeichnet ist.17

Somit können innerhalb der cooperatio formalis zwei Arten der Mitwirkung unterschieden werden. Die erste Möglichkeit der formellen Mitwirkung, die von Bernhard Häring mit dem finis operantis beschrieben wird, nennen Joseph Mausbach und Gustav Ermecke cooperatio explicita18 und Otto Schilling wiederum „direkte Beteiligung“19. Das Hauptmerkmal dieser expliziten formellen Mitwirkung liegt darin, dass der Mitwirkende willentlich der bösen Tat des Haupthandelnden zustimmt. Der Mitwirkende vollzieht die Sünde des Hauptakteurs zwar nicht selbst, leistet ihm aber Hilfestellung mit dem Ziel, die sündhafte Tat vollbringen zu können. Wer also beispielsweise einem anderen eine Waffe verkauft und dabei weiß, dass der Käufer damit einen Menschen ermorden möchte

15 16

17 18 19

Vgl. Bernhard Häring, Das Gesetz Christi. Moraltheologie. Leben in der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten, Bd. 2, Freiburg i. Br. 81966, 459. Vgl. Joseph Mausbach/Gustav Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral. Die Lehre von den allgemeinen sittlichen Pflichten der Nachfolge Christi zur Gleichgestaltung mit Christus und zur Verherrlichung Gottes in der Auferbauung seines Reiches in Kirche und Welt, Bd. 1, Münster 91959, 358. Häring, Das Gesetz Christi, 460. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359. Otto Schilling, Handbuch der Moraltheologie. Spezielle Moraltheologie. Sozialer Pflichtenkreis, Bd. 3, Stuttgart 1956, 362.

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und diesen Mord gleichzeitig billigt, lädt durch seine formelle Mitwirkung der Art cooperatio explicita Schuld an der Ermordung dieses Menschen auf sich. Davon wird eine andere Art der formellen Mitwirkung unterschieden, bei der zwar die böse Haupthandlung nicht intendiert und ihr nicht zugestimmt wird, sie aber auf Grund der Handlung selbst eine Sünde ist. Auch hier sind in der moraltheologischen Literatur verschiedene Bezeichnung geläufig: cooperatio implicita20, finis operantis21 oder „mittelbare Mitwirkung“22. In einem Handbuch der Moraltheologie wird folgendes Beispiel für eine solche Mitwirkung genannt: „Wer die Kindstötung im Mutterleib mitausführt, z. B. als Assistenzarzt, begeht die Sünde des Kindesmordes, auch wenn er diesen innerlich ablehnt.“23 Offensichtlich zielt die implizite formelle Mitwirkung nicht auf die Gesinnung bzw. Intention des Mitwirkenden, sondern lediglich auf die Struktur der vollzogenen Handlung. Daher muss bei dieser Art der Mitwirkung immer auch die Lehre des intrinsece malum, des in sich Sündhaften24 mitbedacht werden. So gibt es ethische Normierungstheorien, die bestimmte Handlungen als in sich schlecht qualifizieren, „unabhängig von allen weiteren Umständen und Folgen“25. Innerhalb der katholischen Moraltheologie werden unter anderem Glaubensverleugnung, Götzendienst und Mord zu diesen Handlungen gezählt.26 Wer also  – wie auch immer – an solchen in sich schlechten Handlungen beteiligt ist, macht sich unabhängig von seiner Motivation allein durch seine Mitwirkung schuldig.27 Wie bereits erwähnt, gelten zwar beide Formen der cooperatio formalis als unerlaubt, dennoch lassen sich in den Handbüchern bereits Ansätze erkennen, die moralische Schuld auch von der Gesinnung des Handelnden abhängig zu machen. So heißt es bei Mausbach und Ermecke: „Diese [die cooperatio implicita] steht sachlich und moralisch der cooperatio explicita gleich, wenn auch bei dieser die subjektive Bosheit gewöhnlich größer sein mag.“28

20 21 22 23 24 25 26

27

28

Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359. Häring, Das Gesetz Christi, 460. Schilling, Handbuch der Moraltheologie, 362. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359. Vgl. ebd. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 398. Vgl. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass u. a. der Begriff »Mord« keine neutrale Handlungsbeschreibung ist, sondern die so beschriebene Handlung bereits sittlich bewertet wurde. Zur Problematik von sittlichen Wertungswörtern in der normativen Ethik vgl. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 26 f. Die Lehre der cooperatio implicita ist für Johannes Paul II. die Grundlage, die Beteiligung der katholischen Kirche am deutschen Beratungssystem zum Schwangerschaftsabbruch im Zusammenhang der Ausstellung des »Beratungsscheins« zu untersagen. Vgl. hierzu: Johannes Paul II., Evangelium vitae, 74. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

1.1.2 Zur cooperatio materialis Die cooperatio materialis lässt sich in Abgrenzung zur cooperatio formalis bestimmen. Von einer materiellen Mitwirkung an einer fremden Sünde wird dann gesprochen, wenn beim mitwirkenden Akteur keine Intention zur Sünde vorliegt und die Handlung nicht als in sich schlecht charakterisiert werden kann. Häring versucht die cooperatio materialis mit einfachen Worten folgendermaßen zu beschreiben: Eine Handlung muss, um als bloß materielle Mitwirkung gewertet werden zu können, auch in bezug auf die unmittelbar bestimmenden Umstände so beschaffen sein, dass ein schlicht denkender Mensch ohne schwierige Denkoperationen sagen kann: »Das, was ich tue, ist an sich gut, und ich tue es aus einem ehrbaren Motiv; es wird lediglich von fremder Bosheit missbraucht.«29

Ein typisches Beispiel dieser Mitwirkungsform ist der Verkauf einer Waffe, die ohne das Wissen des Verkäufers zum Mord benutzt wird.30 Wie bei der cooperatio formalis hat die Moraltheologie auch innerhalb der cooperatio materialis Differenzierungen vorgenommen, die hier kurz dargestellt werden sollen.31 Eine erste Unterscheidung verläuft zwischen der cooperatio immediate (unmittelbare Mitwirkung) und der cooperatio mediate (mittelbare Mitwirkung). Diese Einteilung zielt auf den Grad der Verflechtung der eigenen Handlung mit der sündhaften Handlung eines Dritten. Eine mittelbare Mitwirkung liegt im oben genannten Beispiel des Verkaufs einer Waffe vor. Bei der unmittelbaren Mitwirkung nimmt man stärker an der Sünde des Dritten teil, ohne sich dadurch aber einer cooperatio implicita schuldig zu machen, da die Handlung selbst nicht schlecht ist. In der Literatur findet sich hierzu das Beispiel des Haltens einer Leiter an einem Diebstahlort. Eng mit dieser Unterscheidung verwandt und letztlich wohl nicht von ihr zu trennen, ist die Gegenüberstellung von cooperatio proxima (nächste Mitwirkung) und cooperatio remota (entfernte Mitwirkung). Hierbei entspricht die cooperatio immediate der cooperatio proxima und die cooperatio mediate der cooperatio remota. So werden auch in der Literatur für beide Formen der Mitwirkung die gleichen Beispiele genannt. Die letzte Unterteilung berücksichtigt die Bedeutung der Mitwirkungshandlung an der Sünde des anderen. So wird zwischen einer cooperatio necessaria (notwendige Mitwirkung) und einer cooperatio non necessaria seu mere contigens 29 30 31

Häring, Das Gesetz Christi, 462. Vgl. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359. Die folgenden drei Unterscheidungen inklusive der Beispiele sind entnommen aus: Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 359.

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(nicht-notwendige oder bloß zufällige Mitwirkung) unterschieden. Bei der notwendigen Mitwirkung kann die Sünde des Dritten ohne die mitwirkende Handlung nicht geschehen. Hier wird das Beispiel des Ehebruchs genannt, der alleine nicht vollzogen werden kann.32 Bei der zufälligen Mitwirkung ist das Zustandekommen der Sünde unabhängig von der konkret mitwirkenden Person. So ist der Verkauf einer Waffe an einen Mörder in Bezug auf den Verkäufer zufällig, wenn der Mörder sich die Waffe auch bei einem anderen Verkäufer hätte besorgen können. Bei aller Würdigung dieser Unterscheidungen bleiben die Intention des Handelnden und die ethische Bewertung der Handlung selbst die ausschlaggebenden Kriterien, um eine Mitwirkung als cooperatio materialis einzuordnen. Aber auch wenn im Zusammenhang einer sündhaften Tat eine cooperatio materialis festgestellt werden kann, bedeutet dies nicht automatisch, dass der Mitwirkende keine sittliche Schuld auf sich lädt. Zusätzlich zu den beiden genannten Bedingungen muss die Handlung nämlich noch den Forderungen des Prinzips der Handlung mit Doppelwirkung genügen; erst dann kann sie als sittlich erlaubt eingestuft werden.33 Dieses Prinzip vereint vier Bedingungen in sich, unter denen eine Handlung erlaubt ist, obwohl vorauszusehen ist, dass aus ihr auch schlechte Folgen hervorgehen: a) Die Ursache, die Handlung, muss in sich selbst gut oder wenigstens indifferent sein. Ist sie schlecht, so ist sie als Sünde immer verboten. b) Die gute Folge muss wenigstens gleich unmittelbar aus der Ursache hervorgehen wie die schlechte Folge. Geht zuerst die schlechte und aus ihr die gute hervor, ist die Handlung nicht erlaubt, da der gute Zweck das schlechte Mittel nicht heiligt. c) Der Zweck, die Absicht des Handelnden, muss sittlich gut sein. Die böse Folge darf nicht direkt intendiert, beabsichtigt, sondern nur zugelassen werden. d) Es muss ein entsprechend wichtiger Grund vorliegen, ein positiver persönlicher oder allgemeiner Wert oder Vorteil, der das Negative, die böse Folge aufwiegt.34

Unter diesen Voraussetzungen ist also eine materielle Mitwirkung an der Sünde eines Dritten erlaubt. Da die Punkte a) und c) bereits zu der wesentlichen Bestimmung der materiellen Mitwirkung gehören, kann also gesagt werden: Die 32

33

34

Damit dieses Beispiel auch wirklich zur materiellen Mitwirkung gezählt werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass der oder die Mitwirkende zumindest nicht weiß, dass der oder die andere verheiratet ist. Ansonsten läge ein Fall von formeller Mitwirkung vor. Vgl. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 360. Das Prinzip von der Handlung mit Doppelwirkung wird an dieser Stelle nur vorgestellt. Eine Auseinandersetzung mit diesem Prinzip findet sich z. B. hier: Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 460–470. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 258.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

materielle Mitwirkung an einer fremden Sünde ist dann erlaubt, wenn die Sünde selbst nicht der Grund für eine gute Folge der Handlung ist und ein die schlechte Folge aufwiegender guter Grund vorliegt.

1.1.3 Zur Anwendbarkeit der cooperatio-Lehre Kehren wir noch einmal zurück zum Fall der Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft. Lässt sich mit der dargelegten Lehre die Frage nach der Verantwortung des Klägers an der Jagd durch andere klären? Würde man dieses Lehrstück dem konkreten Rechtsstreit zugrunde legen, so müssten folgende Sachverhalte erläutert werden: • Kann sich der Kläger auf eine (erzwungene) cooperatio formalis oder eine nicht-entschuldbare cooperatio materialis berufen, durch die er selbst moralisch schuldig wird? Trifft dieser Fall zu, dann wäre die Zwangsmitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft durch den damit verbundenen Gewissenskonflikt ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in seine Gewissensfreiheit.35 • Kann aufgezeigt werden, dass es sich hierbei »nur« um eine erlaubte cooperatio materialis handelt, wäre dieser Eingriff in die Gewissensfreiheit ethisch rechtfertigbar. Auf den ersten Blick bietet die Lehre der cooperatio ad malum tatsächlich eine Lösung an, die sogar mit der Entscheidung des BVerfG konform gehen würde. Denn eine cooperatio formalis liegt hier nicht vor, da der Kläger weder die Tötung der Tiere intendiert noch die Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft eine in sich schlechte Handlung ist. Weiterhin ist seine materielle Mitwirkung auf Grund des Prinzips von der Handlung mit Doppelwirkung erlaubt, da es gute Gründe für diese Mitgliedschaft gibt, die mindestens gleichursächlich zur Jagd sind.36 35

36

So heißt es in der Enzyklika „Evangelium vitae“: „Diese Mitwirkung kann niemals gerechtfertigt werden, weder durch die Berufung auf die Achtung der Freiheit des anderen, noch dadurch, dass man sich auf die Tatsache stützt, dass das staatliche Gesetz diese Mitwirkung vorsehe und fordere […]. Die Beteiligung am Begehen eines Unrechts zu verweigern, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein menschliches Grundrecht. Wenn es nicht so wäre, würde der Mensch gezwungen sein, eine mit seiner Würde an sich unvereinbare Handlung durchzuführen, und auf diese Weise würde seine Freiheit, deren glaubwürdiger Sinn und deren Ziel auf der Hinordnung zum Wahren und Guten beruhen, radikal gefährdet sein.“ Johannes Paul II., Evangelium vitae, 74. Nach der Entscheidung des BVerfG dient diese Mitgliedschaft den schutzwürdigen Interessen anderer Grundeigentümer und dem Gemeinwohl: „Die genannten Gesetzeszwecke dienen den berechtigten Interessen Dritter und dem Gemeinwohl. Sie stehen nicht in Widerspruch zu dem Verfassungsauftrag zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20 a GG). Ein dem Gedanken der Hege verpflichtetes Jagdrecht, das unter anderem

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Bei einer genaueren Untersuchung muss man allerdings feststellen, dass die Lehre von der cooperatio ad malum nicht auf diesen Fall angewendet werden kann. Sie kann sogar generell nicht auf Gewissenskonflikte zwischen Bürger und Staat übertragen werden. Diese These wird plausibel, indem man überprüft, ob die beiden Prämissen der cooperatio ad malum auf einen Eingriff in die Gewissensfreiheit zutreffen.

a) Erste Prämisse: Die Beurteilung der Haupthandlung als sittlich schlecht Wenn in der moraltheologischen Tradition von der Mitwirkung an einer fremden Sünde – in welcher Form auch immer – die Rede ist, ist stets klar, dass die Haupthandlung, an der mitgewirkt wird, eine sittlich schlechte ist. Allein durch diesen Umstand rückt die mitwirkende Handlung überhaupt in den Fokus einer ethischen Reflexion.37 Es dürfte unmittelbar einleuchtend sein, dass hierzu eine Übereinstimmung in der ethischen Bewertung der Haupthandlung gefordert ist. Klaus Demmer spricht in diesem Zusammenhang von einer notwendigen „Konsensgesellschaft“38 oder einer „monolithischen Gesellschaft“39, in der ethische Bewertungen auf breite Zustimmung stoßen. In einer pluralen Gesellschaft kann dieser Konsens aber nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Das subjektive Empfinden über gute oder schlechte Handlungen kann oft erheblich von dem Urteil anderer abweichen. Das genannte Fallbeispiel mag exemplarisch für diesen ethischen Pluralismus stehen: Der vom Kläger vernommene sittliche Imperativ – »keine Jagd auf Tiere!« – ist keine ethische Grundüberzeugung der Gesamtgesellschaft. Gerade die Anerkennung dieser Differenzen und der Versuch, sie zum Wohle des Individuums und der Gesellschaft zu lösen, bilden schließlich auch das Kernelement des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Der ethische Konsens, den die Mitwirkungslehre voraussetzt, kann also nicht als gegeben angesehen werden.40 Mit besonderem Blick auf die Problematiken der Gewissensfreiheit ist – im Gegenteil – sogar grundsätzlich von einem ethischen Dissens auszugehen.

37 38 39 40

Abschussregelungen in einem Umfang vorschreibt, die dazu beitragen sollen, ‚dass ein gesunder Wildbestand aller heimischen Tierarten in angemessener Zahl erhalten bleibt und insbesondere der Schutz von Tierarten gesichert ist, deren Bestand bedroht scheint‘ (§ 21 Abs. 1 Satz 2 BJagdG), dient im Gegenteil dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.“ BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Absatz 15. Vgl. Häring, Das Gesetz Christi, 461. Klaus Demmer, Bedrängte Freiheit. Die Lehre von der Mitwirkung – neu bedacht, Freiburg i. Br./Wien 2010, 47. Ebd. Ebd. 81.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

b) Zweite Prämisse: Ein sündhaft handelnder Hauptakteur Die der cooperatio-Lehre zugrundeliegende formale Handlungsbeschreibung ist denkbar einfach: Es gibt einen klar zu benennenden Hauptakteur, der von sich aus den Entschluss zu einer sündhaften Tat gefasst hat. Ein Mitwirkender oder mehrere Mitwirkende sind im Vorfeld oder bei der Umsetzung dieser Tat in einer zu definierenden Weise beteiligt, ohne die Sünde selbst zu begehen. Diese einfach gedachte Kausalkette vermag in bestimmten personalen Verhältnissen zutreffen – siehe die Beispiele: der Verkauf einer Waffe, das Halten einer Leiter, der Ehebruch usw. –; gesellschaftliche Zusammenhänge wie das Zueinander von staatlichen Organen und einzelnem Bürger lassen sich mit diesem Modell nur höchst unzureichend beschreiben.41 Angenommen, die Jagd auf Tiere wäre tatsächlich ein sündhaftes Verhalten, so dass die erste Prämisse der Mitwirkungslehre zutreffen würde, wer wäre der Haupthandelnde in diesem Beispiel? Die Jäger, der verantwortliche Jagdvorstand der Jagdgenossenschaft, die gegenwärtige Bundesregierung (da sie ein solches Gesetz toleriert) oder die Urheber des Bundesjagdgesetzes? Die sozialen Zusammenhänge sind zu komplex, um sie in das einfache Schema Haupthandelnder-Mitwirkender hineinzwängen zu können. Diese Erkenntnis, die in einer sich stetig ausdifferenzierenden Gesellschaft zunehmend an Plausibilität gewinnt, findet sich bereits anfanghaft bei Mausbach und Ermecke: Angesichts der engen sozialen Verflochtenheit der Menschen in Arbeit und Leben, der dadurch bedingten erhöhten, aber oft unvermeidbaren Fernwirkungen des einzelmenschlichen Handelns, seiner Verstrickung in soziologische Handlungszusammenhänge ist die Vermeidung jeder materiellen Mitwirkung zur Sünde, vor allem der entfernten, für den Menschen unmöglich.42

1.1.4 Folgerungen Es konnte aufgezeigt werden, dass die Lehre der cooperatio ad malum nicht dazu beitragen kann, den Begriff der moralischen Verantwortung im Kontext des Verhältnisses von Staat und Bürger zu erhellen. Da die Voraussetzungen, d. h. die eindeutige ethische Qualifizierung des Hauptakts und die Feststellung eines Haupthandelnden, nicht erfüllt sind, kann mittels dieses traditionellen Lehrstücks keine ethische Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit vorgenommen werden. Die Situierung des Gewissenskonflikts in unserer Gesellschaft erfordert vielmehr einen Begriff moralischer Verantwortung, der den komplexen Kausal41 42

Ebd. 177. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral, 361 f.

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zusammenhängen gerecht wird und stärker ein subjektives Empfinden von guten und schlechten Handlungen berücksichtigt. In diesem Zusammenhang unterscheidet beispielsweise das Lexikon für Theologie und Kirche einen klassischen Verantwortungsbegriff von einem modernen Verständnis des Verantwortungsbegriffs.43 Nach welchen Kriterien lässt sich ein solcher moderner Begriff von Verantwortung bestimmen?

1.2 Eine Konzeption moralischer Verantwortung Der Begriff der moralischen Verantwortung ist offenkundig ein zusammengesetztes Wortpaar. Deshalb sollen beide Termini zunächst getrennt voneinander untersucht werden. In einem ersten Schritt wird der Verantwortungsbegriff isoliert für sich betrachtet, um dann in einem zweiten Schritt das Proprium moralischer Verantwortung herauszuarbeiten.

1.2.1 Vorbemerkungen zum Verantwortungsbegriff Bevor allerdings eine Analyse und Konzeption des Verantwortungsbegriffs unternommen werden kann, die den Problematiken der Gewissensfreiheit gerecht wird, müssen zwei Grundfragen beleuchtet werden: Zum einen, ob es sich dabei um retrospektive oder prospektive Verantwortung handelt und zum anderen, ob zwischen einer objektiven und einer subjektiven Verantwortung differenziert werden kann.

a) Retrospektive oder prospektive Verantwortung? Der Verantwortungsbegriff – auch wenn er an dieser Stelle noch unspezifiziert ist  – lässt sich grundsätzlich in zwei Richtungen denken. Er kann retrospektiv bedacht werden und bezieht sich somit auf ein vergangenes Verhalten, für das Verantwortung übernommen werden soll; einige Autoren benutzen an dieser Stelle auch den Begriff der Ex-post-Verantwortung.44 Verantwortung kann aber

43

44

Vgl. Wilhelm Korff/Günter Wilhelms, Verantwortung, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), LThK, Bd. 10, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 597–600, 598. So z. B.: Dieter Birnbacher, Grenzen der Verantwortung, in: Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, 143–183, 145 oder: Wolbert, Gewissen und Verantwortung, 123.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

auch auf zukünftige Handlungen bezogen werden. In diesem Fall spricht man von prospektiver oder Ex-ante-Verantwortung.45 Welche dieser beiden Verantwortungsformen lässt sich nun für die Gewissensfreiheit fruchtbar machen? Wie in Abschnitt 2.1.2 des vorhergehenden Kapitels deutlich wurde, setzt die Inanspruchnahme des Grundrechts auf Gewissensfreiheit eine Gewissensentscheidung voraus. Sie wird dann gefällt, wenn der Gewissensträger entscheiden muss, wie er sich verhalten soll. Damit wird sie dem Bereich des vorausschauenden Gewissens zugeordnet. Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigern möchte, beruft sich auf Art. 4 Abs. 3 GG bevor er zum Militärdienst herangezogen wird. Wir wissen nicht, ob im genannten Fall des Jagdgegners schon Tiere auf seinem Grundstück gejagt wurden. Die Intention seiner Klage dürfte allerdings die Vermeidung zukünftiger Jagden sein, so sehr ihn eventuell bereits durchgeführte auf seinem Grundstück geschmerzt haben mögen. Im Ganzen macht die Gewissensfreiheit als Grundrecht schließlich nur dann Sinn, wenn sie den Bürgern wirksamen Schutz bietet, bevor sie eine Handlung begehen müssen, die ihren je individuellen Gewissen widerspricht. Wenn im Zusammenhang mit der Gewissensfreiheit also von Verantwortung gesprochen wird, so kann nur die prospektive Verantwortung gemeint sein. Welcher Gewinn lässt sich aus dieser Erkenntnis ziehen? Das Interessante an der Unterscheidung zwischen retrospektiver und prospektiver Verantwortung ist ihr differierender Bedeutungsgehalt. Erwarten wir, dass eine Person im retrospektiven Sinn Verantwortung übernimmt, so bestimmen in der Regel zwei Momente die betreffende Situation: Dieser Person wird (1) eine Handlung zugerechnet, die (2) in kausalem Zusammenhang mit einer oder mehreren negativen Auswirkungen steht.46 Ein Arzt beispielsweise, dem nachgewiesen wird, dass er während einer Behandlung ein falsches Medikament verordnet hat, welches zu schweren Schäden führte, muss sich für diese fehlerhafte Verschreibung nachträglich verantworten. Ludger Honnefelder spricht deshalb von einer Rechenschaftsverantwortung.47 Der Inhalt der prospektiven Verantwortung ist hingegen ein gänzlich anderer. Im Zentrum steht hier nicht eine bestimmte Handlung, durch die ein Übel verursacht wurde, sondern die zukünftige Realisierung von erwünschten Zuständen oder Ereignissen: Ex-ante-Verantwortung wird übernommen und wahrgenommen dafür, dass bestimmte positiv oder negativ bewertete Ereignisse und Zustände eintreten oder nicht eintreten (oder bestimmte Zustände bestehen oder nicht bestehen), nicht aber dafür, dass man selbst in bestimmter Weise handelt oder nicht handelt. Im Gegensatz zum handlungsbezogenen

45 46 47

Vgl. Birnbacher, Grenzen der Verantwortung, 146. Vgl. Wolbert, Gewissen und Verantwortung, 123. Vgl. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 40 f.

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Zur moralischen Verantwortung Ex-post-Begriff der Verantwortung ist der Ex-ante-Begriff primär ereignis- und zustandsbezogen.48

Auch hier kann ein Beispiel aus dem medizinischen Bereich verdeutlichend weiterhelfen. Wenn ein kranker Mensch sich in die Behandlung eines Arztes begibt, obliegt es der Verantwortung des Mediziners – die Mitwirkung des Patienten vorausgesetzt –, dass der Patient wieder gesund wird. Welches Diagnoseverfahren und welches Therapiekonzept er im Einzelnen verwendet, ist dabei zunächst sekundär. Wird der Patient gesund, ist der Arzt seiner Verantwortung positiv gerecht geworden. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Behandlung beginnt, trägt der Arzt nicht die Verantwortung für eine bestimmte Handlung seinerseits, sondern für das Ereignis »Gesundung des Patienten«. Die prospektive Verantwortung ist daher eng mit dem Begriff der Pflicht verbunden49: Der Arzt, der für die Gesundung seines Patienten die Verantwortung übernimmt, sieht sich ihm gegenüber verpflichtet, diesen Zustand mit den gebotenen Mitteln herbeizuführen. Hier wird auch der Zusammenhang zwischen Ex-ante- und Ex-post-Verantwortung deutlich. Da der Arzt die prospektive Verantwortung übernimmt, kann er im Nachhinein für bestimmte Handlungen oder Unterlassungen ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden.50 Aus dieser Unterscheidung ergibt sich eine wichtige Implikation für die Gewissensfreiheit. Unter der Prämisse, dass Gewissensentscheidungen untrennbar mit einem Gefühl der Verantwortung verbunden sind51, und diese Verantwortung – als eine zukunftsorientierte – nicht primär bestimmte Handlungen bzw. Unterlassungen, sondern erwünschte Zustände und Ereignisse beinhaltet, kann die Gewissensfreiheit nicht auf bestimmte gewissensrelevante Handlungsakte reduziert werden. Der Jagdgegner sieht sich nicht allein dafür verantwortlich, dass er selbst keine Tiere jagt, vielmehr übernimmt er subjektiv die prospektive Verantwortung für einen »jagdfreien Zustand« der Tiere. Ähnlich wie der Arzt die Pflicht gegenüber seinen Patienten übernommen hat, sie mit allen rechtmäßigen Mitteln der Medizin zu heilen, so hat der Jagdgegner in seinem Gewissen eine Verpflichtung gegenüber der Tierwelt übernommen: der Tierwelt mit allen gebotenen Mitteln eine möglichst jagdfreie Umwelt zu verschaffen. Aus der rein subjektiven Perspektive des Klägers kann vor dem Hintergrund dieser noch unvollständigen Annäherung an den Verantwortungsbegriff nicht davon gesprochen werden, dass er überhaupt keine Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Jagd auf seinem Grundstück trägt. Diese Behauptung würde

48 49 50 51

Birnbacher, Grenzen der Verantwortung, 146. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 145. Vgl. Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht, 48.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

nur im Falle der retrospektiven Verantwortung zutreffen. Denn er hat tatsächlich keine Handlung zu verantworten, die zu diesem (für ihn negativ bewerteten) Zustand führt, da er – wie die Entscheidung des BVerfG feststellt – die Jagd durch keine eigene Entscheidung freigeben muss.52 Prospektiv ist er aus seiner Verantwortung für den von ihm gewünschten Zustand aber nicht entlassen, da diese Verantwortung eben nicht handlungs-, sondern ereignisbezogen ist und der erwünschte Zustand noch nicht eingetreten ist. Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage, ob diese subjektive Perspektive der Verantwortlichkeit auch mit objektiven Kriterien der Verantwortungszuschreibung im Einklang steht.

b) Subjektive Verantwortung vs. objektive Verantwortung Zwischen dem subjektiven Empfinden und der objektiven Zuschreibung von Verantwortung gibt es große Unterschiede. Auf der einen Seite mag es jemanden geben, der sich für einen bestimmten Sachverhalt verantwortlich fühlt, ohne es de facto zu sein. So kann sich ein Kind für die Scheidung seiner Eltern verantwortlich fühlen. Auf der anderen Seite kann eine Person überhaupt kein Verantwortlichkeitsgefühl für ein Ereignis zeigen, obwohl sie objektiv verantwortlich ist oder war; man denke nur an die Nürnberger Prozesse, in denen sich viele ihrer Verantwortung für den Holocaust und anderer Verbrechen entziehen wollten, indem sie beispielsweise auf Gehorsam gegenüber einer Autorität plädierten. Umso erstaunlicher ist es, wenn innerhalb der Diskussion um die Gewissensfreiheit versucht wird, diese Unterscheidung aufzuheben: […] denn das Vorliegen einer Gewissensbelastung lässt sich gerade nur aus der Sicht des Betroffenen selbst bestimmen. Das die Gewissensentscheidung konstituierende Verantwortungsprinzip beschreibt letztlich nur die Tatsache, dass sich der Betroffene die Frage stellt, inwieweit er den ermöglichten Erfolg vor sich selbst verantworten kann. Entsprechend kommt es für die Frage der Verantwortung nur darauf an, dass der Grundrechtsträger den gewissensrelevanten Erfolg selbst seinem Verantwortungsbereich zuordnet. […] Damit verbietet es sich, der persönlichen Verantwortlichkeit objektive Grenzen zu setzen, auch wenn man diese aus der Verfassung ableiten möchte.53

Würde der Befund von Saskia Bauer zutreffen, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Rechtsprechung des BVerfG, da jeglicher Hinweis auf Verantwortungsgrenzen obsolet wäre. Die beiden oben genannten Beispiele zeigen jedoch,

52 53

Vgl. BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Absatz 25. Bauer, Gewissensschutz im Arbeitsrecht, 49.

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dass es sinnvoll und nötig sein kann, dem persönlichen Verantwortlichkeitsgefühl eine objektive Sicht korrigierend entgegenzustellen. Worin liegt also der Fehler in Bauers Behauptung? Der Verantwortungsbegriff kann in zweierlei Weisen gebraucht werden. Man verwendet ihn sowohl deskriptiv als auch normativ. Die deskriptive Variante beschreibt den Ist-Zustand. Der Satz: »Das Kind fühlt sich verantwortlich für die Scheidung seiner Eltern« ist ein Beispiel dafür. Ziel solcher deskriptiven Aussagen ist es, die Empfindungswelt wirklichkeitsgerecht auszudrücken. Da es hier um ein subjektives Empfinden geht, macht es tatsächlich wenig Sinn, dem Verantwortungsbegriff eine objektive Grenze zu setzen. Entweder jemand fühlt sich für einen Sachverhalt verantwortlich oder nicht. Diese Beschreibung des Ist-Zustandes gibt aber noch nicht unmittelbar Auskunft darüber, ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, in diesem Fall Verantwortung auf sich zu nehmen. Hierzu ist eine normative Redeweise von Verantwortung notwendig. Diese beschreibt gerade nicht den Ist-Zustand, sondern den Soll-Zustand. Ohne die normative Verwendungsweise verfiele der Verantwortungsbegriff in einen ausschließlichen Subjektivismus. Besonders empfindsame Menschen, die sich für alles und jedes in ihrem Umfeld verantwortlich fühlen, könnten nicht von ihrer Verantwortung erlöst werden, während weniger empfindsame Menschen, die sich für gar nichts verantwortlich fühlen, überhaupt nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könnten. Bauer vermischt offensichtlich beide Redeweisen miteinander und leitet aus deskriptiven Beschreibungen Sollens-Sätze ab. Ein subjektives Gefühl der Verantwortlichkeit kann zwar ein Indiz für ein objektiv vorhandenes Verantwortungsgefüge sein, zu begründen vermag es dies aber nicht. Wer Verantwortung in einem normativen Sinn benutzt, hat also eine Begründungslast zu tragen. Er muss die Gründe offenlegen, weshalb einer Person die Verantwortung für einen Sachverhalt zugesprochen wird.

1.2.2 Normative Merkmale moralischer Verantwortung In der Literatur erscheint der Verantwortungsbegriff als ein mehrstelliger Terminus.54 Traditionell wird er als eine dreistellige Relation verstanden: Ein Subjekt trägt für etwas vor einer Instanz Verantwortung.55 Um Verantwortung aber im Sinne moralischer Verantwortung verstehen zu können, soll sie hier beispielsweise mit Honnefelder vierstellig verstanden werden: Ein Subjekt trägt für etwas

54 55

Vgl. Micha Werner, Verantwortung, in: Markus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 541–548, 543. Vgl. Korff/Wilhelms, Verantwortung, 597.

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vor einer Instanz aufgrund bestimmter Kriterien Verantwortung.56 Damit diese formale Beschreibung eine inhaltliche Bedeutung bekommt, sollen hier die vier Teilglieder auf ihre normativen Vorgaben hin untersucht werden.

a) Das Subjekt der Verantwortung Der Satz »Eltern haften für ihre Kinder« erinnert daran, dass nicht immer automatisch ein handelndes Subjekt für seine Handlungen oder die Folgen seiner Handlungen zur Rechenschaft gezogen wird. Nicht nur bei Kindern, auch bei Erwachsenen kennen wir Umstände, unter denen sie als nicht-verantwortlich gelten können. Wer einem Fremden in einer Stadt den Weg zur nächsten Bank zeigt, ist nicht dafür verantwortlich, wenn der Fremde genau diese Bank anschließend ausraubt. Gemeinhin würde man wohl sagen: »Er konnte es ja nicht ahnen, deswegen ist er nicht verantwortlich.« Damit es demnach gerechtfertigt ist, einem Subjekt für etwas Verantwortung zuzuschreiben, muss das Subjekt selbst bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ein Subjekt S ist genau dann Adressat prospektiver Verantwortung, wenn folgende drei Bedingungen gegeben sind: • S muss prinzipiell einer Norm zurechnungsfähig sein. Die Forderung der Zurechnungsfähigkeit beinhaltet zwei Momente. Das erste setzt bei der kognitiven Fähigkeit an. Damit S Träger prospektiver Verantwortung sein kann, muss er prinzipiell in der Lage sein, die an ihn gerichtete Norm zu verstehen.57 Er muss also verstehen können, welche Erwartungen an ihn gestellt werden. Wenn S Rettungsschwimmer in einem Schwimmbad werden möchte, und damit Verantwortung für die Sicherheit der Badegäste übernehmen soll, muss S verstehen können, welche Verantwortung er übernimmt. Doch es reicht nicht aus, eine Norm nur zu verstehen, vielmehr muss S auch in der Lage sein, die an ihn gerichtete Norm erfüllen zu können. Will S demnach als Rettungsschwimmer arbeiten, muss er schwimmen können, sollte fundierte Kenntnisse in Erster Hilfe haben, etc. Dieses zweite Moment wird als Sollen-Können-Bedingung bezeichnet.58 Sie besagt, dass man nur dann berechtigterweise eine Norm an S richten darf, wenn S zumindest prinzipiell in der Lage ist, die Norm zu erfüllen. S ist folglich nur dann Adressat prospektiver Verantwortung, wenn S in der Lage ist, den Inhalt dieser Verantwortung zu verstehen und das prinzipielle Vermögen besitzt, der Forderung dieser Verantwortung nachzukommen. 56 57 58

Vgl. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 40. Vgl. Neumaier, Moralische Verantwortung, 67. Vgl. ebd. 38.

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• S muss eine Voraussicht um die Folgen seiner Handlung haben. Es liegt schon im Begriff der prospektiven Verantwortung selbst, dass mit ihr ein Blick in die Zukunft gewagt werden muss: Ein Arzt, der einem Patienten ein Medikament verschreibt, erhofft sich dadurch eine künftige Verbesserung des Wohlbefindens und ggf. eine Heilung des Patienten. Er muss demnach in der Lage sein, die Folgen seiner Handlung abschätzen zu können. Diese prinzipielle Voraussicht macht es erst möglich, für in der Zukunft liegende Zustände Verantwortung zu übernehmen, gleichzeitig begrenzt es diese aber auch.59 Denn die geforderte Voraussicht beschränkt sich nur auf jene Folgen, die zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt gewusst werden können.60 Verstirbt beispielsweise der Patient an einer Nebenwirkung des verschriebenen Medikaments, die zum Zeitpunkt der Verordnung unbekannt war, so kann der Arzt nicht mit der Begründung dafür verantwortlich gemacht werden, er hätte diese Nebenwirkung vorhersehen müssen. Als Folge dieser Überlegung stellt sich natürlich die Frage, welche Folgen jemand wissen muss, um Verantwortung zu übernehmen? Diese Frage lässt sich nicht immer bis in das letzte Detail beantworten, so dass es in Grenzbereichen zu Grauzonen kommen kann, in denen unklar ist, ob jemand die Folgen hätte voraussehen können oder nicht. Schockenhoff arbeitet daher in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Sorgfalt: Unter der Voraussetzung, dass wir die jeweiligen Folgen auch bei größerer Sorgfalt nicht hätten vorhersehen können, handelt es sich bei den unverhofft eingetretenen (guten oder üblen) Wirkungen unserer Taten um nicht-intentionale Nebenfolgen, für die wir keine moralische (wohl aber rechtliche) Verantwortung tragen.61

Der Sorgfaltsbegriff impliziert, dass es so etwas wie eine Pflicht zur Vergewisserung gibt. Ein Arzt kann sich nicht auf Unwissenheit bezüglich der Nebenwirkungen eines Medikaments berufen, wenn diese selbst verschuldet ist. Darüber hinaus muss der Sorgfaltsbegriff der funktionalen Rolle einer Person angepasst werden. Ein Patient kommt seiner Sorgfaltspflicht in Bezug auf die Medikamenteneinnahme nach, wenn er den Beipackzettel aufmerksam liest; für den Arzt gilt dies aber nicht. Von ihm erwarten wir ein tieferes Wissen über die Wirkweise, die Kenntnis medizinischer Studien usw. Unter dieser Rücksicht kann S genau dann prospektive Verantwortung für einen Sachverhalt zugesprochen werden, wenn S in der Lage ist, die Folgen seiner 59 60

61

Vgl. Kurt Bayertz, Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, 3–71, 14. Vgl. Weyma Lübbe, Handeln und Verursachen. Grenzen der Zurechnungsexpansion, in: Weyma Lübbe (Hg.): Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, Berlin/New York 1994, 223–242, 231. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 460.

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Handlung abzuschätzen, indem S sich sorgfältig und gemäß den Anforderungen an seine soziale Funktion um dieses Vorauswissen bemüht. • S muss handlungsfähig sein. Auch die letzte Voraussetzung an das handelnde Subjekt offenbart sich bei genauerer Betrachtung als eine zweifache Bedingung. Handlungsfähigkeit bedeutet zunächst kausale Handlungsmacht. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass S kausalen Einfluss auf ein zukünftiges Ereignis nehmen kann.62 S muss also in der Lage sein, durch eine Handlung seinerseits eine Zustandsänderung herbeizuführen. So ist ein Arzt nicht für den nahenden Tod eines Patienten verantwortlich, wenn dem Arzt keine Mittel zur Verfügung stehen, diesen zu verhindern. Im Gegensatz zur Zurechnungsfähigkeit geht es hierbei nicht um das subjektive Vermögen des Arztes, sondern um die objektiven Umstände selbst. Denn es ist zunächst gerechtfertigt, dass ein kranker Mensch mit dem Wunsch auf Heilung einen Arzt aufsucht statt eines anderweitig tätigen Menschen. Aufgrund des Arzt-Seins sprechen wir dieser Person schließlich prima facie die Fähigkeit zur Heilung zu. Diese individuelle Fähigkeit bleibt dem Arzt unbenommen, auch wenn seinen Möglichkeiten durch die konkreten Umstände der Krankheit Grenzen gesetzt werden. Damit man S Verantwortung zuschreiben kann, gehört zur Handlungsmacht aber auch Handlungsfreiheit. Sehr prägnant beschreibt z. B. Robert Spaemann diesen Zusammenhang: Von Verantwortung ist nicht dort die Rede, wo genaue Handlungsanweisungen zu befolgen sind, sondern da, wo jemand für die Ordnung eines bestimmten komplexen Lebensbereiches oder für die Erledigung einer komplexen Aufgabe zuständig ist, wo er zur Wahrnehmung dieser Aufgabe einen Ermessensspielraum in eigener Kompetenz auszufüllen hat und wo er schließlich für das Resultat seiner Handlung rechenschaftspflichtig ist.63

Zur Verantwortungsübernahme gehört demnach wesentlich die Handlungsfreiheit dazu. Denn nur dort, wo jemand sich in Freiheit zu einer Handlung oder zwischen mehreren Handlungsalternativen entscheiden kann, ist es auch gerechtfertigt, dass diese Person die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen muss. Ist sie hingegen nicht dazu in der Lage, so lässt sich mit Neumaier sagen, dass ihr Tun keiner normativen Bewertung unterliegen kann, da sie im strengen Sinn nicht selbst handelt, sondern lediglich in einen Ereignisverlauf verwickelt ist.64 Prospektive Verantwortung setzt demnach eine positive wie auch eine negative Handlungsfreiheit voraus. Positiv kann sie verstanden werden als „das

62 63 64

Vgl. Birnbacher, Grenzen der Verantwortung, 152. Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, 214. Vgl. Neumaier, Moralische Verantwortung, 72–73.

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Vermögen eines Menschen, seine Wünsche und Absichten handelnd in die Tat umzusetzen.“65 Diese Form der Handlungsfreiheit bezeichnet somit eine Freiheit zu etwas. Die negative Handlungsfreiheit, also die Freiheit von etwas, besteht in der Unabhängigkeit von äußeren, unser Handlungsfeld einschränkenden oder determinierenden Zwängen und Hemmnissen, die das Handlungssubjekt daran hindern, das zu tun, was es will.66

S ist daher nur dann für ein Ereignis prospektiv verantwortlich, wenn S in der Lage ist, durch ein Handeln oder Unterlassen das Ereignis kausal zu beeinflussen und S im Besitz der positiven und negativen Handlungsfreiheit ist, sich für eine Handlungsalternative entscheiden zu können. Die Verantwortungszuschreibung an ein handelndes Subjekt unterliegt also einer Reihe von Bedingungen, die S erfüllen muss. Aus einer objektiven Perspektive kann man S nur dann prospektiv verantwortlich für einen Zustand bezeichnen, wenn S • in der Lage ist, den Inhalt der Verantwortungsnorm kognitiv zu verstehen, • das subjektive Vermögen besitzt, die Norm zu erfüllen, • die Folgen seiner Handlung durch sorgfältige Überlegung unter Berücksichtigung eines »Wissensstandards« abschätzen kann, • den Zustand aufgrund der Gegebenheiten kausal beeinflussen kann und • sich frei für eine Handlung oder Unterlassung entscheiden kann.

b) Das Objekt der Verantwortung Das Objekt der Verantwortung innerhalb der prospektiven Verantwortung ist, wie schon beschrieben, nicht ein konkreter Handlungsakt, sondern das Eintreten oder Bewahren eines als positiv bewerteten Zustands, bzw. das Vermeiden oder Beenden eines als negativ bewerteten Zustands. Es kann also gesagt werden: S trägt die prospektive Verantwortung für die Herbeiführung oder Aufrechterhaltung eines Zustandes Z, der positiv bewertet wird.67 Dieser Satz lässt vermuten, dass das Objekt der Verantwortung tatsächlich Z ist. Auch die bisherigen Bei65 66 67

Rudolf Ginters, Werte und Normen. Einführung in die philosophische und theologische Ethik, Göttingen 1982, 292. Armin Wildfeuer, Freiheit, in: Markus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 358–366, 362. Dabei stellt sich natürlich die Frage, von wem die positive Bewertung des Zustands vorgenommen werden muss. Die Beantwortung dieser Frage soll im nächsten Abschnitt erfolgen, in dem die Instanz der Verantwortung analysiert wird. Für die Betrachtung des Verantwortungsobjekts reicht es zunächst aus, dass der Zustand positiv bewertet wird.

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spiele legen dies nahe, z. B. wurde gesagt, dass ein Arzt die prospektive Verantwortung für die Gesundung eines Patienten trägt. Wird der Patient aber nicht gesund – verschlechtert sich sein Zustand vielleicht sogar – so muss sich der Arzt die Frage stellen lassen, ob er etwas bzw. was er falsch gemacht hat. Der Arzt könnte beispielsweise entgegnen, er habe aufgrund der Diagnose ein bestimmtes Medikament verschrieben, welches in der Regel gut wirke, bei besagtem Patienten aber leider nicht anschlage. Intuitiv würde man diesem Arzt sicher nicht vorwerfen, durch eine falsche Medikamentenabgabe für die Verschlechterung des Gesundheitszustands verantwortlich zu sein. Ist der Arzt also möglicherweise gar nicht für den Zustand selbst verantwortlich? Der entscheidende Punkt bei der Beantwortung dieser Frage lautet: Für welche Handlungsfolgen ist ein Subjekt verantwortlich? Bereits im vorigen Abschnitt wurde festgestellt: Subjektive Bedingung der Verantwortungsübernahme ist die Folgenvoraussicht. Im Sinne dieser notwendigen Voraussicht beantwortet Neumaier die obige Frage wie folgt: Einem Subjekt x ist demnach für einen Sachverhalt p nur dann eine (moralische oder rechtliche) Schuld bzw. Schuldigkeit zuzurechnen, wenn gilt: […] x verursacht p durch eine Handlung h und […] für x ist vorhersehbar, dass p infolge von h eintritt, oder x intendiert dies sogar.68

Angenommen, der Arzt wusste, dass das verschriebene Arzneimittel bei der überwältigenden Mehrheit der Patienten sehr gut wirkt und nur bei einem kleinen Teil nicht wirkt. So könnte man sagen: Der Arzt konnte die Verschlechterung des Gesundheitszustands prinzipiell voraussehen, weil er wusste, dass das Medikament eventuell nicht wirken könnte, also ist er folgerichtig für den verschlechterten Zustand des Patienten verantwortlich. Doch wahrscheinlich würde man eher sagen: Aufgrund der insgesamt sehr guten Wirksamkeit des Medikaments war es gerechtfertigt, dieses Medikament zu verordnen. Neumaiers Definition müsste also um die Wahrscheinlichkeit der eintretenden Folgen erweitert werden, wie es z. B. Julian Nida-Rümelin fordert.69 Er plädiert dafür, Handlungen und deren Folgen nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern die Folgenwahrscheinlichkeit bereits als Bestandteil der kompletten Handlungsbeschreibung anzusehen: Die radikale Beschränkung praktischer Verantwortung auf Handlungen beinhaltet also keineswegs, dass die zu erwartenden Folgen nicht ebenfalls verantwortet werden müssen. Die vom Akteur zu erwartenden Folgen sind Teil der vollständigen Handlungsbeschrei-

68 69

Neumaier, Moralische Verantwortung, 86. Vgl. Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, 108–123.

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Zur moralischen Verantwortung bung. Wir tragen mit der Handlung eine Verantwortung für die zu erwartenden Folgen insofern, als wir mit der Entscheidung für eine Handlung auch die durch die Handlung verursachte Wahrscheinlichkeitsverteilung für Folgen akzeptieren.70

Indem der Arzt also das Medikament verschrieb, akzeptierte er, dass neben der hohen Erfolgsaussicht auch eine geringe Möglichkeit des Misserfolgs gegeben war. Obwohl es nun aber faktisch nicht gewirkt hat, ist der Arzt retrospektiv nicht verantwortlich für die Verschlechterung des Gesundheitszustands, da es prospektiv gerechtfertigt war, dieses Medikament aufgrund der günstigen Prognose in zahlreichen anderen vergleichbaren Fällen zu verabreichen. Die prospektive Verantwortung bezieht sich also auf Handlungen, die wahrscheinlich geeignet sind, einen positiven Zustand herbeizuführen. Tritt dieser Zustand trotz der Handlung nicht ein, ist das Handlungssubjekt dennoch frei von Schuld, weil die Wahrscheinlichkeit der schlechten Folgen zum Zeitpunkt der Handlung geringer war als die Wahrscheinlichkeit der guten Folgen. Das Objekt prospektiver Verantwortung lässt sich somit folgendermaßen definieren: Die prospektive Verantwortung von S bezieht sich auf Handlungen71 von S, die eher geeignet sind, einen positiv bewerteten Zustand herbeizuführen bzw. zu bewahren als ihn zu vermeiden bzw. zu beeinträchtigen.

c) Die Instanz der Verantwortung Nachdem nun deutlich wurde, welche Anforderungen an ein Subjekt gestellt werden, das verantwortungsfähig sein soll, und wofür es überhaupt verantwortlich ist, muss nun der Frage nachgegangen werden, vor wem oder was diese Verantwortung geltend gemacht wird. Drei Verantwortungsinstanzen sind dabei denkbar: das Individuum selbst, andere Menschen oder Gott.72 Aus einer theologischen Perspektive ist es sicher einleuchtend, primär Gott als die entscheidende Instanz zu verstehen, vor der der Mensch Verantwortung zu übernehmen hat. In diesem Verstehenshorizont ließe sich auch die Aussage in GS 16 verstehen, dass der Mensch gemäß dem in seinem Herzen eingeschriebenen Gesetz von Gott gerichtet werden wird.73 Auch Witschen fasst Gott als eine Verantwortungsinstanz auf.74 Wilhelm Korff und Günther Wilhelms formulieren: 70 71 72 73 74

Ebd. 113. Unter Handlung ist in diesem Zusammenhang sowohl ein aktives Tun als auch ein Unterlassen zu verstehen. Vgl. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 40. Vgl. GS 16: […] secundum quam ipse iudicabitur. Vgl. Witschen, Gewissensentscheidung, 21.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit Nähert man sich dem Verantwortungsbegriff theologisch, so ist von dem elementaren Befund auszugehen, dass es Gott ist, vor dem sich der Mensch als dem Grund und Ziel alles Geschaffenen letztendlich zu verantworten hat. Insofern übergreift der theologische Verantwortungsbegriff alle übrigen Dimensionen von Verantwortung, übersteigt sich darin aber zugleich wesenhaft.75

Dieser Meinung widerspricht nun augenscheinlich Honnefelder. Seiner Meinung nach ist es widersprüchlich, in Gott eine erste Verantwortungsinstanz zu sehen: Denn um Gott als Gott identifizieren zu können, bedarf ich schon jenes Vermögens, das mich allererst in die Lage versetzt, gut und böse zu unterscheiden und damit den Glauben an Gott als Entscheidung meiner Freiheit verantworten zu können.76

Diese scheinbare Differenz lässt sich auflösen, wenn man die unterschiedlichen Blickrichtungen beachtet, die zu solchen Aussagen führen. Ontologisch betrachtet ist aus christlich-theologischer Perspektive Gott der Schöpfer der Welt. Er hat den Menschen geschaffen und das Gesetz in sein Herz geschrieben. Da er uns also geschaffen und mit einer Vernunftbegabung ausgestattet hat, die zwischen gut und böse unterscheiden kann77, ist es nicht falsch, ihn als Verantwortungsinstanz anzuerkennen. Dieses Verständnis soll durch eine Analogie verdeutlicht werden: Wenn der Staat »Schöpfer« von Gesetzen ist, sind die Bürger des Staats ihm gegenüber in Bezug auf die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung der Gesetze verantwortungspflichtig. Epistemologisch können wir aus dem von Honnefelder vorgebrachten Grund aber nicht in Gott die primäre Verantwortungsinstanz erkennen. Denn auch der Glaube an Gott und somit der Glaube, in ihm das Gegenüber der Verantwortung zu sehen, ist ein zu verantwortender Akt. So heißt es im 1. Petrusbrief: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“78. Auch hierbei kann die verwendete Analogie weiterhelfen: Dass wir durch Gesetze dem Staat gegenüber verantwortungspflichtig sind, setzt voraus, dass man Gründe benennen kann, weshalb man sich durch die Gesetzgebung gebunden weiß. Denn in Diktaturen oder bei offenkundig ungerechten Gesetzen kann es ebenso legitim sein, den Gesetzesgehorsam zu verweigern.

75 76 77

78

Korff/Wilhelms, Verantwortung, 599 (Für eine bessere Lesbarkeit wurden die verwendeten Abkürzungen des Originaltextes aufgelöst und ausgeschrieben.). Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 54. Vgl. S. th. I–II, q. 91, a. 2, resp.: […] lumen rationis naturalis, quo discernimus quid sit bonum et malum, quod pertinet ad naturalem legem, nihil aliud sit quam impressio divini luminis in nobis. 1Petr 3,15.

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Wem gegenüber gilt nun diese Form der Verantwortung? Das Zitat aus dem 1. Petrusbrief legt nahe, eine solche Verantwortungsinstanz bei den Mitmenschen zu sehen, vor allem, wenn andere durch ein Handeln betroffen sind79, so ist z. B. ein Arbeitnehmer seinem Vorgesetzten gegenüber verantwortlich für die fristgemäße Fertigstellung eines ihm erteilten Auftrags. Auch wenn diese Verantwortungsform wohl in unserem Alltag am häufigsten vorkommt, stellt sich die Frage, ob sie auch in Bezug auf die Gewissensfreiheit zutreffend ist. Denn wer sind die anderen, vor denen der Jagdgegner Verantwortung übernehmen muss? Natürlich steht er beispielsweise den Gerichten Rede und Antwort über seine Gesinnung, doch im Sinne der Gewissensfreiheit ist er primär seinem Gewissen verantwortlich. Er muss vor allen anderen Instanzen zuerst seinem Gewissen Rechenschaft ablegen, ob er sich auch redlich bemüht, die als gut erkannte Handlungsoption umzusetzen. Während Honnefelder schreibt, dass sich Verantwortung „in einer letzten Weise als Verantwortung vor dem eigenen Gewissen“80 erweist, so ist  – im Sinne der hier diskutierten Problemlage  – genauer zu sagen: Nicht in letzter, sondern in erster Weise ist Verantwortung die Verantwortung vor dem eigenen Gewissen.81 Diese Erkenntnis ist nicht gleichzusetzen mit einem reinem Subjektivismus. Es wurde ja dargelegt, dass Gewissensentscheidungen prinzipiell intersubjektiv kommunikabel sein müssen.82 Aber die erste Instanz des hier beschriebenen Verantwortungsansatzes bleibt immer das Gewissen des handelnden Subjekts. Eine Verantwortungskonzeption, die der Gewissensfreiheit entsprechen soll, bedingt somit, dass das Subjekt der Verantwortung und die Instanz der Verantwortung primär personal zusammenfallen: Das handelnde Subjekt ist in erster Linie seinem eigenen Gewissen gegenüber verantwortungspflichtig. Diese Verantwortlichkeit – man kann sie auch als sittliche Autonomie verstehen – bedeutet aber keine Autarkie. Sie muss gegenüber Dritten kommunikationsoffen sein. Für den gläubigen Menschen muss diese Verantwortung dann auch in der Kommunikation mit Gott verankert sein, ist doch das Gewissen nach dem II. Vatikanischen Konzil der höchstpersönliche Ort der Gottesbegegnung.83 Damit wird deutlich, vom wem die Bewertung des gewünschten Zustands auszugehen hat: Es obliegt ausschließlich dem Gewissensurteil des handelnden Subjekts selbst, zukünftige Zustände als positiv oder negativ zu bewerten. Dieser Schluss geht mit der Aussage des BVerfG einher, dass es eine Kompetenzüberschreitung der Richter darstelle, eine individuelle Gewissensentscheidung inhalt-

79 80 81 82 83

Vgl. Witschen, Gewissensentscheidung, 20. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 43. Vgl. Witschen, Gewissensentscheidung, 18. Vgl. dazu die Abschnitte 2.1.1 und 2.1.2 des II. Kapitels. Vgl. GS 16: Conscientia est nucleus secretissimus atque sacrarium hominis, in quo solus est cum Deo, cuius vox resonat in intimo eius.

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lich zu bewerten.84 Auch für Dieter Birnbacher ist die prospektive Verantwortung vor allem durch die subjektiven Bewertungsmaßstäbe gekennzeichnet: Reichweite, Inhalte und Intensität der Ex-ante-Verantwortung [hängen] doch letztlich davon ab, was wir für intrinsisch wertvoll halten, d. h. von was wir meinen, dass es um meiner selbst willen wünschenswert ist.85

d) Die Kriterien der Verantwortung In einem letzten Schritt gilt es zu klären, welche Bedingungen aus einer unbestimmten Verantwortung moralische Verantwortung machen. Nida-Rümelin erklärt hierzu: „Moralische Verantwortung tragen wir dort, wo moralische Gründe uns leiten oder jedenfalls leiten sollten.“86 Dieser Satz ist wenig erhellend, erklärt er doch Moralität mit Moralität. Was bedeutet es aber, sich von moralischen Gründen leiten zu lassen? Nach der dargelegten Gewissenslehre liegt die Moralität im Befolgen des im Gewissen als Gut erkannten bzw. im Meiden des Bösen. Moralische Gründe orientieren sich also an den Maßstäben »Gut« und »Böse«. Das unterscheidet diese Form der Verantwortung qualitativ von allen anderen Formen der Verantwortung. Denn hier wird das ganze moralische Selbstbild des Menschen in diesen Prozess involviert. Es geht nicht nur darum, einen guten Zustand herbeizuführen oder eine anstehende Aufgabe gut zu bewältigen, sondern vor allem das persönliche Gut-Sein-Wollen zu realisieren. Dem Jagdgegner geht es natürlich um das vermeintliche Wohl der Tiere; doch mit diesem Wohl ist sein subjektives Selbstbild als sittliche Person verknüpft. Sein Wille zum Gut-Sein manifestiert sich gleichsam im Wohlergehen der Tiere. Wenn dies nicht der Fall wäre, wäre es ihm nicht möglich, einen Gewissenskonflikt in dieser Frage glaubhaft zu machen. Moralische Verantwortung (im Sinne einer prospektiven Verantwortung) bedeutet damit, dass das Verantwortungssubjekt in der angestrebten Realisierung eines positiv bewerteten Zustands eine Forderung seiner selbst wahrnimmt, die sein eigenes Gut-Sein-Wollen zum Inhalt hat.

84 85 86

Vgl. BVerfGE 12, 45 (56). Birnbacher, Grenzen der Verantwortung, 155 f. Nida-Rümelin, Verantwortung, 170.

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1.2.3 Zusammenfassung Der hier zusammengestellte Kriterienkatalog macht deutlich, dass die Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit von einer ganzen Reihe „anspruchsvolle[r] Bedingungen“87 abhängt. Diese Kriteriologie ist aber notwendig, damit der Begriff der moralischen Verantwortung nicht durch eine allzu große Unbestimmtheit zu einem „Unbegriff “88 wird. Darüber hinaus ist die klare Definition von Verantwortungsbereichen ein wichtiges Unterfangen der moralischen Reflexion. Denn hieraus können sich unterschiedliche Positionen in der Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit ergeben. Für Witschen z. B. macht es einen großen Unterschied, ob in den Bereich unmittelbarer Verantwortung eingegriffen wird oder nicht.89 Ein Eingriff bei feststehender moralischer Verantwortung des Gewissensträgers unterliegt dabei prima facie stärkeren Restriktionen als bei fehlender moralischer Verantwortung. In dem bereits mehrfach aufgeführten Beispiel des Jagdgegners wurde diesem von Seiten des BVerfG eine moralische Verantwortlichkeit abgesprochen.90 Das fordert die Frage heraus: Passt diese Einschätzung mit den genannten Bedingungen überein? Wendet man die hier entfalteten Bedingungen auf diesen Rechtsfall an, so ergeben sich zunächst einige unstrittige Zuordnungen: • Auf der Ebene der Verantwortungskriterien kann dem Jagdgegner unterstellt werden, dass er mit dem Wunsch auf Jagdfreiheit seine eigene Gutheit verbindet. Hinreichendes Indiz dafür ist der Umstand, dass er diese Frage als Gewissensfrage für ihn selbst klassifiziert. • Auch die Verantwortungsinstanz ist durch die Festlegung offensichtlich. Der Jagdgegner fühlt sich verpflichtet, sein Verhalten gegenüber seinem Gewissen verantworten zu müssen. • Das Objekt der Verantwortung betreffend kann gesagt werden, dass der Wunsch auf Beendigung der Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft eher geeignet ist, den von ihm erwünschten Zustand herbeizuführen, als ihn zu vermeiden. • Auf der Seite des Verantwortungssubjekts kann davon ausgegangen werden, dass er in der Lage ist, die von ihm empfundene Verantwortungsnorm zu verstehen, und dass er das prinzipielle Vermögen besitzt, diese auch zu erfüllen

87 88 89 90

Ebd. 29. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein?, 41. Vgl. Witschen, Gewissensentscheidung, 112. Vgl. BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Absatz 25.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

(indem er beispielsweise nicht selbst jagt). Auch kann ihm zugesprochen werden, dass er die nötige Voraussicht auf die Folgen seiner Handlung hat. Strittig dürfte der Aspekt der Handlungsfähigkeit auf Seiten der subjektiven Bedingungen sein. Der Jagdgegner ist nämlich weder im Besitz der vollen Handlungsfreiheit noch in der Lage, durch sein Verhalten den Umstand der Jagd auf seinem Grundstück direkt zu verhindern. Seine Handlungsfreiheit ist eingeschränkt durch die Gesetzgebung, die es ihm unmöglich macht, aus der Jagdgenossenschaft auszutreten. Allerdings darf dieser Umstand nicht gegen ihn verwendet werden, ist es doch gerade Sinn und Zweck der Gewissensfreiheit, dass sie das Schutzinstrument des Bürgers in solchen Situationen ist, in denen sein Gewissensurteil nicht im Einklang mit staatlichen Gesetzen, Vorschriften etc. steht. Die kausale Handlungsmacht des Jagdgegners muss aber als eingeschränkt bezeichnet werden. Es ist ihm nicht möglich, alleine – nur durch sein selbstverantwortetes Verhalten – kausalen Einfluss auf die Jagd auf seinem Grundstück zu nehmen. Dies bedeutet nicht, dass er überhaupt keine Handhabe hat, kausal auf den Zustand einzuwirken. Er nutzt ja seine Möglichkeiten, wie der Weg durch die gerichtlichen Instanzen eindrücklich aufzeigt. Seine Handlungsmacht ist aber nicht absolut, sondern beschränkt. Er ist nicht im vollen Besitz einer Verfügungsmacht. Aus diesem Grund kann ihm in der Tat nicht die volle unmittelbare Verantwortung für die Jagd auf seinem Besitz zugesprochen werden, sondern lediglich eine mittelbare. Diese mittelbare Verantwortung ist nicht gleichzusetzen mit einem Zustand völliger Verantwortungslosigkeit, da die Handlungsmacht zwar eingeschränkt, aber dennoch vorhanden ist. Bei der Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit sind daher drei Grundbedingungen zu beachten: Unmittelbare moralische Verantwortlichkeit, mittelbare moralische Verantwortlichkeit und keine moralische Verantwortlichkeit. Dabei wird die Zulässigkeit von Eingriffen mit abnehmender Verantwortung umso stärker zu befürworten sein. Die ethische Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit hängt aber nicht nur vom Verantwortungsgrad, sondern auch von der Art des Eingriffs ab. Zu einer umfassenden ethischen Bewertung von Eingriffen muss daher eine systematische Darstellung der Eingriffsarten vorgenommen werden.

2. Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen« Nach der bisherigen Darstellung drängt sich die Frage auf, inwiefern eine mögliche Unterscheidung von Hindern und Zwingen neue relevante Gesichtspunkte zur ethischen Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit beitragen kann.

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Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«

Denn es wurde ja aufgezeigt, dass einem Subjekt bei fehlender Handlungsmacht zumindest nicht die volle Verantwortung für einen bestimmten Zustand zugerechnet werden kann. Das Subjekt kann damit also vor seinem eigenen Gewissen bestimmte Entschuldigungsgründe geltend machen. Auch vonseiten der Handlungstheorie wird diese These gestützt. So heißt es als Prämisse bei NidaRümelin zunächst: „Jedenfalls sind wir für unsere Handlungen verantwortlich. Wir sind für alle unsere Handlungen verantwortlich.“91 Die Handlungstheorie stellt hier nun die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Tun oder auch ein Unterlassen als Handlung aufgefasst werden kann. Auch wenn die Kriteriologie nicht immer einheitlich sein mag, werden in der Literatur doch übereinstimmend zwei Grundmomente genannt, die ein Verhalten zu einer Handlung machen92: Zum einen muss dieses Verhalten wissentlich, also absichtlich ausgeführt werden. Nach Höffe ist dieses Wissen – genauer betrachtet – doppelt bestimmt. Ein handelnder Akteur muss sowohl ein Wissen um die Ziele seiner Handlung haben, als auch ein Wissen um die möglichen Mittel, die zur Zielerreichung notwendig sind.93 Wer handelt, muss demnach in der Lage sein, das Ziel seines Verhaltens zu benennen und zugleich darüber Rechenschaft abzulegen, weshalb er zur Erreichung eines Ziels sich gerade so verhält und nicht anders. Zum anderen verlangt eine Handlung einen willentlichen Akt. Der Handelnde muss sein Tun oder Unterlassen wollen und bewusst ausführen können. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Handelnden überhaupt mehrere Handlungsoptionen offen stehen, unter denen er sich willentlich für eine Option entscheiden kann. Besteht diese Möglichkeit nicht, stehen einem Akteur keine 91 92

93

Nida-Rümelin, Verantwortung, 25. Die genannten Bedingungen finden sich beispielsweise hier: Ansgar Beckermann, Intentionale versus kausale Handlungserklärungen. Zur logischen Struktur intentionaler Erklärungen, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation, Bd. 2,2, München 1979, 445–490, 446; Jochen Brandtstädter/Werner Greve, Intentionale und nichtintentionale Aspekte des Handelns, in: Jürgen Straub/Hans Werbik (Hg.), Handlungstheorie. Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs, Frankfurt a. M./New York 1999, 185– 212, 185; Roderick Milton Chisholm, Der Handelnde als Ursache, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation, Bd. 2,2, München 1979, 399–415, 400; Donald Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt a. M. 1985, 77; Heidrun Hesse, Handlung, in: Markus Düwell/ Christoph Hübenthal/Micha Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 396–400, 396; Höffe, Philosophische Handlungstheorie als Ethik, 242; Franz von Kutschera, Grundbegriffe der Handlungslogik, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungslogik, formale und sprachwissenschaftliche Handlungstheorien, Bd. 1, München 1980, 67–106, 69. Vgl. Otfried Höffe, Sittliches Handeln. Ein ethischer Problemaufriss, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation, Bd. 2,2, München 1979, 617–641, 617.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

Handlungsalternativen zur Verfügung – ist er also in seiner Handlungsmacht eingeschränkt  – so ist fraglich, ob hier von einer »echten« Handlung gesprochen werden kann. Zumindest liegt aber eine Einschränkung in der Zurechenbarkeit von Verantwortung vor.94 In dieser Diktion könnte also durchaus gesagt werden, eine Einschränkung der Handlungsmacht – in welcher Form auch immer – entziehe dem Gewissensträger seine Verantwortung für sein Handlungsziel und er könne sein Gewissen somit beruhigen. Der Jagdgegner könnte in einem Zwiegespräch mit seinem Gewissen sagen: »Ich habe alles versucht, aber meine Möglichkeiten zu handeln wurden derart beschränkt, dass ich nichts mehr tun kann.« Wer so argumentiert, verliert allerdings einen wichtigen Gesichtspunkt aus dem Blick: In der Frage nach der ethischen Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit gilt es stets zwei Perspektiven zu beachten: Da ist zunächst der Blick auf den Gewissensakteur. Natürlich kann sein Verhaltensspielraum so eingeschränkt werden, dass er keine Möglichkeit mehr hat, seine Gewissensüberzeugung in die Tat umzusetzen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass eine Gewissensüberzeugung ein qualitatives Mehr gegenüber anderen Überzeugungen in sich hat. Denn mit der Orientierung am Gewissen entscheidet sich das Gut- oder Böse-Sein des jeweiligen Menschen. Das Tun des Gewissensträgers ist daher Ausdruck seiner Gesinnung. Witschen hält darum fest: „Hier kann die Nötigung zu äußeren Handlungen die innere moralische Grundhaltung nicht unberührt lassen.“95 Es macht also durchaus für den Gewissensträger einen Unterschied, ob er an der Ausübung seiner Gewissensüberzeugung gehindert wird oder aber zu einer Handlung gezwungen wird, die seinem Gewissensurteil widerspricht. Die zweite Perspektive einer ethischen Bewertung nimmt denjenigen in den Blick, der einen Eingriff anordnet und durchführt. Denn auch er hat sein Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Auch für ihn muss die Frage geklärt werden, ob es für seine Sittlichkeit einen Unterschied macht, ob er jemand anderen zwingt gegen sein Gewissen zu handeln oder ihn lediglich daran hindert. Die neuere ethische Literatur antwortet kaum auf diese Problemstellung96. Die moraltheologische Tradition kennt aber ein Lehrstück, das für die Beurteilung des Eingriffs durch Zwang oder Hindern erhellend ist: das Skandalon.97 Dieses alte und z. T. vergessene Lehrstück98 soll darum der folgenden Analyse als Ausgangspunkt dienen.

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Vgl. Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, 450. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 210. Vgl. dazu Fußnote 25 der Einleitung. »Skandalon« wird im deutschen mit »Ärgernis« wiedergegeben. Vgl. Demmer, Bedrängte Freiheit, 48.

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Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«

2.1 Die Skandalon-Lehre Im Katechismus der katholischen Kirche wird das »Ärgernis« unter dem Thema „Achtung der Seele des Anderen“ behandelt.99 Damit wird der Kontext angegeben, innerhalb dessen die Skandalon-Lehre eingebettet ist. Als »Achtung der Seele des Anderen« lassen sich auch die Aussagen des Thomas von Aquin verstehen, wenn er das Skandalon zunächst phänomenologisch beschreibt: Es kommt zuweilen vor, dass einem ein Hindernis auf den Weg gelegt wird und er, wenn er daran stößt, in die unmittelbare Gefahr kommt zu fallen. Ein solches Hindernis heißt scandalum (Ärgernis). Ähnlich kommt es vor, dass einer beim Schreiten auf dem geistlichen Wege durch das Wort oder Werk eines anderen in die unmittelbare Gefahr kommt, geistlich zu fallen, insofern einer den anderen durch Ansporn oder Anstiftung oder Beispiel zum Sündigen verleitet. Und das heißt im eigentlichen Sinne ‚Ärgernis‘.100

Von dieser Beschreibung ausgehend formuliert Thomas von Aquin eine die moraltheologische Tradition bestimmende Definition des Skandalons: „Ärgernis ist ‚ein nicht ganz rechtes Wort oder Werk, das Anlass zum Falle bietet‘.“101 In Folge der weiteren Systematisierung und Präzisierung dieses Lehrstücks unterscheidet man zwischen dem indirekten und dem direkten Skandalon. Das indirekte Skandalon wird in der Literatur als »Ärgernis im eigentlichen Sinne«102 oder schlicht als »Ärgernis«103 bezeichnet. Als Unterscheidungsmerkmal zwischen indirektem und direktem Skandalon dient der Wille des Ärgernisgebers. Mausbach und Ermecke bestimmen demnach das indirekte Skandalon wie folgt: Es liegt vor, „wenn man die fremde Sünde nicht beabsichtigt, jedoch frei zulässt, obschon man sie als Folge des eigenen Tuns voraussieht und aus Liebe zum Nächsten unterlassen müsste.“104 Der Ärgernisgeber intendiert also das sündhafte 99 Vgl. KKK, Überschrift zu den Abschnitten 2284–2287. 100 S. th. II–II, q. 43, a. 1, resp.: Contingit enim quod quandoque aliquis obex ponitur alicui in

101 102

103 104

via corporali, cui impingens disponitur ad ruinam: et talis obex dicitur scandalum. Et similiter in processu viae spiritualis contingit aliquem disponi ad ruinam spiritualem per dictum vel factum alterius: inquantum scilicet aliquis sua admonitione vel inductione aut exemplo alterum trahit ad peccandum. Et hoc proprie dicitur scandalum. Ebd.: […] quod ‚dictum vel factum minus rectum praebens occasionem ruinae‘ sit scandalum. Vgl. Fritz Tillmann, Handbuch der katholischen Soziallehre. Die Verwirklichung der Nachfolge Christi. Die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Nächsten, Bd. 4,2, Düsseldorf 41950, 274. Vgl. Demmer, Bedrängte Freiheit, 48. Joseph Mausbach/Gustav Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die spezielle Moral. Die Lehre von den sittlichen Pflichten zur Entfaltung der in Christus geschenkten Lebensgemeinschaft mit Gott und zur Teilnahme an seiner Verherrlichung durch Christus im Kult seiner Kirche, Bd. 2,1, Münster 111960, 151.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

Verhalten des Ärgernisnehmers nicht, kann es aber voraussehen und nimmt es somit als zugelassene Folge seiner Handlung in Kauf. Die ethische Beurteilung des indirekten Ärgernisses fällt in der moraltheologischen Literatur uneinheitlich aus. Bei Mausbach und Ermecke wird das Ärgernisgeben grundsätzlich als Sünde charakterisiert, doch der Schweregrad der Sünde beim indirekten Skandalon hängt von verschiedenen Faktoren ab, z. B. mit welcher Wahrscheinlichkeit das Ärgernis zur Sünde eines Dritten führt.105 Bei Schüller kann das Ärgernis hingegen erlaubt oder sogar geboten sein, wenn entsprechende gute Gründe für ein indirektes Skandalon sprechen.106 Da hierbei also nicht die schuldhafte Tat des Dritten, sondern die Verwirklichung eines entsprechend hohen Gutes intendiert ist, lässt sich auf das Ärgernisgeben das Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung107 anwenden, durch welches diese Handlung mindestens erlaubt sein kann. Dem scandalum indirectum wird das scandalum directum entgegengesetzt. Fehlt bei ersterem die intentionale Ausrichtung der Handlung auf die sündhafte Tat des Dritten, ist sie beim direkten Skandalon gerade Wesensmerkmal.108 Der Akteur begeht also eine Handlung mit dem bewussten Ziel, einen Dritten zu einer Sünde zu verleiten. Daher wird das scandalum directum auch „Verführung“109 oder „Verleiten zur Sünde“110 genannt. Dieser Handlungstyp wird innerhalb der Moraltheologie einhellig als sittlich schlecht angesehen.111 Die sündhafte Handlung eines Dritten darf niemals intendiertes Ziel der eigenen Handlung sein, da das Wollen der Sünde selbst Sünde ist.112 Das Lehrstück des Skandalons zeigt demnach, dass sich eine handelnde Person selbst schuldig machen kann, wenn sie eine dritte Person direkt oder indirekt zur Sünde verführt. Was bedeutet dies nun in dem hier behandelten Kontext? Eine andere Person zur Sünde zu verleiten heißt, ihre sittliche Schlechtigkeit zu wollen. Wie aus der Gewissenslehre deutlich wurde, ist das jeweilige Gewissen die höchstpersönliche Instanz in jedem Menschen, die anhand der Orientierung an dem als Gut oder Böse erkannten ihn als gut oder böse charakterisiert. Nimmt man diese Gewissensfunktion ernst, bedeutet die Verführung zur Sünde aus der Perspektive des

105 Vgl. ebd. 152. 106 Vgl. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 186. In diese Richtung ist auch die Aus-

107 108 109 110 111 112

sage von Demmer zu interpretieren: „Beim Ärgernis […] ist das eigene Fehlverhalten nur Anlass oder Gelegenheit zur Schuld, nicht mehr. Wer trotzdem zu seiner Verhaltensweise steht, muss rechtfertigende Gründe beibringen.“ Demmer, Bedrängte Freiheit, 48. Vgl. dazu Abschnitt 1.1.2 dieses Kapitels. Vgl. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 185 f. Tillmann, Handbuch der katholischen Soziallehre, 273 f. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 185 f. Vgl. ebd. 185. Vgl. Mausbach/Ermecke, Katholische Moraltheologie. Die spezielle Moral, 152.

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Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«

Dritten nichts anderes als die Verleitung zu einer Handlung, die seinem Gewissensurteil widerspricht. Ließe sich ein Eingriff in die Gewissensfreiheit demnach als ein scandalum directum typisieren, so würde sich der Urheber des Eingriffs selbst schuldig machen und hätte um seiner selbst willen den Eingriff unbedingt zu unterlassen. Deswegen müssen die beiden Handlungsarten »Hindern« und »Zwingen« nun auf ihre Wirkweise und Zielrichtung hin untersucht werden. Hierbei gilt es zu prüfen, ob diese Handlungsweisen durch die Skandalon-Lehre erfasst werden können und welches ethische Urteil sich daraus ergibt.

2.2 Das Hindern als Eingriff in die Gewissensfreiheit 2.2.1 Das Hindern im forum externum Wie bereits im vorigen Kapitel beschrieben113, setzt das Hindern als Eingriff in die Gewissensfreiheit ein aktives Tun-Wollen des Gewissenstäters voraus.114 Das Hindern bedeutet demnach, dass dieser von dritter Seite an der äußeren Ausführung seines Gewissensspruchs gehindert wird.115 Betrachtet man nochmals das Beispiel des Pelzgegners aus dem letzten Kapitel116, lässt sich für Situationen des Hinderns im forum externum folgende Grundstruktur aufweisen: (1) Ein Subjekt S1 fällt eine Gewissensentscheidung G, die ihn zu einer aktiven Handlung H auffordert. (2) Die Umsetzung von H ist unweigerlich mit grundrechtsverletzenden Folgen bzw. gravierenden nicht-sittlichen Übeln für Dritte verbunden. (3) S1 ist bestrebt, G zu folgen und will H verwirklichen. (4) Ein weiteres Subjekt S2 verhindert H, indem S2 die Ausführung von H durch S1 verunmöglicht. (5) Die Motivation von S2 bezüglich der Hinderung von H besteht im Schutz der Dritten vor den negativen Folgen. Alle fünf Punkte besitzen eine eigene Relevanz für die Beurteilung des Hinderns im Kontext eines Grundrechtseingriffs in die Gewissensfreiheit. (1) und (3) stellen 113 114 115 116

Vgl. dazu Abschnitt 2.2.2 des II. Kapitels. Vgl. Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 486. Vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 270, Rd.-Nr.: 335. »Ein Tierschützer sieht sich durch sein Gewissen dazu veranlasst, ein Geschäft für Pelzbekleidung zu zerstören, da er diese Form der Nutzung von Tieren strikt ablehnt. Ein aufmerksamer Bürger bemerkt in der geplanten Tatnacht den Tierschützer vor dem Geschäft. Er alarmiert die Polizei, die daraufhin den Tierschützer an der Ausübung seiner gewissensgeleiteten Tat hindert.«

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

sicher, dass überhaupt von einer Grundrechtsausübung die Rede sein kann (die Gewissensentscheidung und der Vorsatz, dieser zu folgen). (2) schafft die Bedingung, dass ein Eingriff durch die Schrankenregelungen prinzipiell gerechtfertigt ist. (4) gibt Rückschlüsse auf die Eingriffsqualität und (5) schließlich auf die Intention des Eingreifenden. Hinsichtlich der Eingriffsqualität ist festzuhalten, dass beim Hindern der Gewissensträger in seiner Handlungsmacht, speziell in seiner Handlungsfreiheit, eingeschränkt wird.117 Diese Hinderung zielt auf die „Umsetzung der inneren Einstellung dieser Person in äußere Handlungen“118 und nicht auf seine Gewissensüberzeugung selbst. Die Eingriffsqualität lässt sich daher mit Witschen so festlegen: Durch ein Hindern wird die innere Gewissensentscheidung des Betreffenden nicht tangiert, […] sondern sein als moralisch falsch beurteiltes Verhalten, das die Verursachung nicht-sittlicher Übel beinhaltet, verunmöglicht.119

Die Gewissensentscheidung ist deswegen nicht tangiert, weil sie dem Gewissenstäter unbenommen bleibt. Es fehlen ihm lediglich die Möglichkeiten, sein Gewissensurteil umzusetzen. Ein weiteres Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Mann geht an einem abgelegenen See spazieren. Dabei entdeckt er einen Menschen im Wasser, der zu ertrinken droht. Sein Gewissen fordert den Spaziergänger hic et nunc auf, den Ertrinkenden zu retten. Da er aber leider Nichtschwimmer ist und auch niemand in der Nähe ist, den er um Hilfe bitten könnte, ist es ihm unmöglich, sein Gewissensurteil umzusetzen. Die Umstände der Situation hindern ihn also daran, gemäß seinem Gewissen zu handeln. Diese hindernden Umstände beeinträchtigen aber weder die Wahrhaftigkeit seines Gewissensspruchs noch seinen festen Willen, danach handeln zu wollen. Sie nehmen ihm ausschließlich seine Handlungsmacht. Gemäß dem Prinzip ultra posse nemo tenetur verlieren Normen aber ihre Verpflichtungskraft, wenn es dem Handelnden nicht möglich ist, sie zu erfüllen.120 Bezüglich der Intention des Hindernden ist der Umstand wichtig, dass mit der Umsetzung des beschriebenen Gewissensspruchs des Pelzgegners negative Konsequenzen für Dritte verbunden sind. Seine Motivation, den Gewissensakteur an der Ausübung seiner Tat zu hindern, ist daher nicht der Wunsch, ihn in der Ausübung seiner Gewissensfreiheit zu hindern, sondern andere vor den negativen Folgen zu beschützen.

117 118 119 120

Vgl. Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 484 f. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 209. Ebd. 205. Vgl. Ricken, Allgemeine Ethik, 270, Rd.-Nr.: 335.

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Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«

Legt man diese Analyse der Skandalon-Lehre zu Grunde, ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Eine Verführung zur Sünde liegt beim Hindern nicht vor, da der Eingriff nicht mit der Intention erfolgt, den Gegenüber zu einer Sünde zu verleiten. Die Zielrichtung des Eingriffs liegt vielmehr im Schutz der Güter betroffener Dritter. Auch ein Ärgernis kann hier nicht vorliegen, da der Eingriff keinen ungewollten Anlass zur Sünde bietet. Die gehinderte Person kann nämlich nicht schuldhaft – also bewusst gegen ein sittliches Gebot handeln – da ihr die Möglichkeiten genommen werden, den sittlichen Imperativ zu erfüllen. Der Grundrechtseingriff durch Hindern ist unter diesen Umständen also erlaubt, je nach Schwere der Beeinträchtigungen für andere kann er sogar geboten sein.121 Allerdings muss nochmals ausdrücklich betont werden, dass diese Bewertung des Hinderns unter der Prämisse erfolgt, dass unbeteiligten Dritten gravierende nicht-sittliche Übel durch die gewollte Ausführung des Gewissensspruchs drohen. Ist dies nicht der Fall, so fiele einerseits der rechtfertigende Grund für einen Eingriff weg, andererseits müsste die Frage nach der Intention des Eingreifenden neu gestellt werden. Da es aber in diesem Fall keine Notwendigkeit des Eingriffs gibt, darf ein solcher auch nicht vorgenommen werden.

2.2.2 Das Hindern im forum internum Das forum internum der Gewissensfreiheit umfasst die Ausbildung des persönlichen Gewissens, die Genese und den Besitz von Gewissensüberzeugungen und schließlich auch ihre Veränderungen.122 Ein Hindern in diesem Bereich bedeutet folglich einen Eingriff in das Innenleben des Menschen, genauer in sein Vermögen, selbst sittliche Urteile bilden zu können. Wie das letzte Kapitel zeigt, sind Eingriffe solcher Art verschiedentlich möglich.123 Für den Gewissensträger sind solche Maßnahmen mit der stärksten Form einer Instrumentalisierung gleichzusetzen. In der Verwirklichung seines Gewissensurteils – dieser Umstand kann nicht oft genug wiederholt werden – realisiert der Mensch nämlich nicht einfachhin etwas, sondern sich selbst.124 Wenn ihm diese Möglichkeit aber von vornherein genommen wird, weil er daran gehindert wird, sich selbst als sittliches Subjekt gegenüber einem Verhaltensappell von außen zu verhalten, so wird er des Kerns seines Menschseins und seiner Identität beraubt. Welche Motivation mag nun aber den Eingreifenden leiten? Er zielt mit seiner Hinderung auf die Mitte des Menschen selbst. Er nimmt ihm die Möglichkeit, 121 122 123 124

Vgl. Witschen, Einem anderen die Gewissensentscheidung bewusst überlassen, 9. Vgl. dazu Abschnitt 2.1.3 des II. Kapitels. Vgl. ebd. Vgl. Fonk, Das Gewissen, 127.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

eine freie sittliche Entscheidung treffen zu können. Liegt hier also eine Verführung zur Sünde vor? Dieser Begriff passt hier nicht ganz, denn im SkandalonLehrstück wird der freie Wille des Ärgnisnehmers immer mitbedacht. Auch wenn er von dritter Seite direkt oder indirekt zu einer sündhaften Tat angehalten wird, spricht die moraltheologische Tradition davon, dass die Sünde des Ärgernisnehmers „von seinem Mangel an Widerstand, […] wie von seiner Einwilligung in die Sünde abhängig [ist].“125 Die Skandalon-Lehre hilft daher nicht weiter, diesen Eingriff zu bewerten, da im Falle des Hinderns im forum internum weder von einem Widerstandsmangel noch von einer freien Einwilligung in die Sünde die Rede sein kann. Der Ärgernisgeber nimmt dem Ärgernisnehmer schlichtweg jegliche Möglichkeit, sich frei entscheiden zu können. Die Menschenwürdeschutzgarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG bietet schließlich ein wirksames Instrumentarium, solchen Eingriffen eine Schranke zu setzen. Inhalt dieses Artikels ist nämlich der Schutz des Menschen als „selbstverantwortliche Persönlichkeit“126, die „Wahrung der personalen Identität und Integrität“127 und die Abwehr von Maßnahmen, die ihn zum bloßen Objekt degradiert […] und seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt oder Ausdruck der Verachtung des Wertes ist, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt.128

Hindernde Eingriffe in das forum internum der Gewissensfreiheit stellen also eine gravierende Verletzung der Menschenwürde dar und verbieten sich aus juristischer Perspektive mittels der Schranken-Schranken-Funktion129 des Art. 1 Abs. 1 GG. Auch aus ethischer Perspektive verbietet sich ein solcher Eingriff, da hierbei der sittliche Wert des Menschen auf dem Spiel steht. Sollte der Eingreifende diese Form des Eingriffs wählen, um grundrechtliche oder andere nicht-sittliche Güter Dritter schützen zu wollen, ist an den ethischen Grundsatz zu erinnern, „dass im Konkurrenzfall der sittliche Wert vor jedem denkbaren nicht-sittlichen Wert den Vorrang beansprucht.“130

125 Tillmann, Handbuch der katholischen Soziallehre, 278. 126 Hillgruber, Art. 1, 8, Rd.-Nr.: 12. 127 Wolfram Höfling, Art. 1 [Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechts-

bindung], in: Michael Sachs (Hg.): Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 75–110, 84, Rd.-Nr.: 19. 128 Antoni, Artikel 1, 50, Rd.-Nr.: 4. 129 Vgl. dazu Abschnitt 1.6.3 des II. Kapitels. 130 Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, 77.

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2.3 Das Zwingen als Eingriff in die Gewissensfreiheit 2.3.1 Das Zwingen im forum externum Während das Hindern als notwendige Voraussetzung ein aktives Tun-Wollen des Gewissensträgers beinhaltet, ist beim Zwingen im Kontext der Gewissensfreiheit von einem Unterlassen-Wollen auszugehen. Dieses ist aber im rechtlichen Zusammenhang wiederum nicht voraussetzungsfrei: „Dem Unterlassen geht voraus, dass jemandem von staatlicher Seite eine Rechtspflicht auferlegt wird, der nachzukommen das Gewissen des Betreffenden verbietet.“131 Das Zwingen hat demnach also folgende Grundstruktur: (1) Ein Subjekt S1 erfährt die staatliche Rechtspflicht, eine Handlung H zu vollziehen. (2) Die Ausführung von H ist für S1 nicht mit seinem Gewissen vereinbar. (3) S1 ist bestrebt, H zu unterlassen. Während diese drei Schritte die Grundvoraussetzungen des Zwingens beschreiben und für all diese Situationen gleichermaßen gelten, muss der weitere Verlauf des Zwangs in zweifacher Weise bedacht werden: (4) S1 wird durch S2 gezwungen132 (4.1.) eine Ersatzhandlung H’ zu begehen, oder (4.2.) H selbst zu begehen. Der Unterschied zwischen diesen beiden »Zwangsmaßnahmen« liegt im Bezug zur Gewissensentscheidung von S1. Zwar erfährt S1 in beiden Situationen einen Handlungszwang, doch ist H’ im Gegensatz zu H keine Handlung, die explizit gegen sein Gewissensurteil verstößt. Beispiele für beide Handlungsweisen lassen sich in der Grundrechtspraxis und Rechtsprechung finden. Ein Paradebeispiel für einen Zwang gemäß (4.1.) war – in Zeiten einer aktiven Wehrpflicht – die Heranziehung zu einem Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer. Eine Vorgehensweise nach (4.2) findet sich z. B. in Entscheidungen betreffend die Stundung der Einkommensteuer aus Gewissensgründen. Bürger, die bestimmte Tätigkeiten des Staats nicht mit ihren Gewissen vereinbaren können, klagen immer wieder darauf, einen Teil der von ihnen entrichteten Steuern einbehalten zu dürfen, um diese Tätigkeiten nicht zu

131 Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 486. 132 Nicht eigens ausgeführt wird hier die Tatsache, dass S2 einen hinreichenden Grund haben

muss, um S1 zu einer Handlung zu zwingen. Dies könnte der Fall sein, wenn die Unterlassungshandlung von S1 grundrechtsverletzende Folgen für Dritte als Konsequenz hat.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

unterstützen. Stellvertretend für die vielen Entscheidungen diesbezüglich sei hier der Bundesfinanzhof (BFH) zitiert: Nach der Rechtsprechung sowohl des BFH […] als auch des Bundesverfassungsgerichts […] kann sich der Steuerbürger nicht der Mitfinanzierung von Staatstätigkeiten, die er aus Gewissensgründen ablehnt, entziehen.133

Demnach wird der Bürger hier zu einer Handlung gezwungen, nämlich weiterhin Steuern in voller Höhe zu bezahlen, obwohl dies ausdrücklich die vom Gewissen untersagte Handlung ist. Die ethische Bewertung von Eingriffen durch Zwingen muss folglich differenzieren, ob ein Zwang zu einer Ersatzhandlung oder zu einer gewissenswidrigen Handlung vorliegt.

a) Der Zwang zu einer Ersatzhandlung Das Zwingen zu einer Ersatzhandlung ist gemäß der Skandalon-Lehre nicht verboten. Denn bei diesem Handlungstypus liegt keine sündhafte Tat des potentiellen Ärgernisnehmers vor. Das Beispiel des Kriegsdienstverweigerers macht dies anschaulich: Sein Gewissen verbietet ihm, den Dienst an der Waffe zu versehen. Dieser zu achtende Gewissensspruch erstreckt sich aber nicht auf andere Tätigkeiten, die der Staat als Ersatzleistung von ihm verlangt, also z. B. ein karitatives Engagement in einem Krankenhaus. Das gewissensbedingte Verbot der einen Handlung schließt nicht automatisch ein Verbot durch das Gewissen für die Ersatzhandlung ein. Dieses Zwingen zu einer Ersatzhandlung respektiert daher die Gewissensentscheidung und verlangt durch die Ersatzhandlung keine sündhafte, gegen das Gewissensurteil gerichtete Handlung, sondern einen Ersatz für die vom betroffenen Individuum nicht zu verlangende Leistung. Aus den genannten Gründen ist auch aus der Perspektive des Eingreifenden kein Ärgernisgeben zu erkennen. Er intendiert und provoziert keine sündhafte Handlung des anderen, vielmehr setzt er eine gewissensschonende Alternative durch. Solange die geforderte Ersatzhandlung nicht im Widerspruch zu einer weiteren Gewissensentscheidung steht, macht sich der Zwingende weder eines direkten noch indirekten Skandalons schuldig. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass der Zwang zu einer Ersatzhandlung sittlich erlaubt ist, bei entsprechenden Gründen evtl. sogar geboten sein kann. Dabei hat sich der Eingreifende aber jener Methoden zu enthalten, die einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen, da diese – unabhängig davon, ob der 133 BFH, Beschluss vom 26.01.2012, II B 70/11, Absatz 3.

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hier dargestellte Eingriff erlaubt ist – verboten sind. So ist u. a. das Zwingen zu einer Ersatzhandlung durch Folter nicht zulässig.

b) Der Zwang zu einer gewissenswidrigen Handlung Beim Zwang zu einer gewissenswidrigen Handlung kann von einem Fehlen einer schuldhaften Tat nicht die Rede sein. Eine subjektiv schuldhafte Tat ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie im Widerspruch zum eigenen Gewissensurteil steht.134 Aus der Sicht des Gewissensträgers bedeutet ein solcher Zwang daher eine Nötigung zu einer Tat, die durch sein Gewissen als schlecht bzw. böse charakterisiert wurde. Wo jedoch jemand wegen seiner Weigerung aus Gewissensgründen zu äußeren Handlungen gezwungen werden sollte, dort kann dies die innere moralische Grundhaltung des Betreffenden nicht unberührt lassen, muss dies wegen des inneren Konnexes von innerer Überzeugung und äußerer Handlung dessen moralische Integrität verletzen.135

Ein Zwang zu einer gewissenswidrigen Handlung ist daher immer ein Skandalon. Von der Intention des Zwingenden hängt nun die Frage ab, ob es sich dabei um ein Ärgernis oder eine Verleitung zur Sünde handelt. Dabei scheint der Sachverhalt auf den ersten Blick vollkommen klar zu sein: „Wer einen anderen durch welche Mittel auch immer […] zwingt, so [gegen sein Gewissen] zu handeln, der intendiert mithin die moralische Schlechtheit des anderen […].“136 Wer also weiß, dass er den anderen zu einer Handlung zwingt, die ihm dessen Gewissen explizit verboten hat, verleitet ihn zur Sünde; eine solche Handlung ist stets zu unterlassen, lädt der Zwingende damit doch selbst moralische Schuld auf sich. Wie verhält es sich nun aber mit der genannten Entscheidung des BFH im Falle der Steuerverweigerung? Muss man zu dem Schluss kommen, dass hierbei ein ethisch fragwürdiges Urteil gefällt wurde? Zwei Sachverhalte können helfen, auch dieses Urteil als sittlich richtig einzuordnen. Zunächst gilt es die Intention der Richter, also in diesem Fall der Eingreifenden, zu hinterfragen. Eine Verleitung zur Sünde setzt – wie dargestellt – den Willen des Ärgernisgebers voraus, den anderen tatsächlich zur Sünde zu verleiten. Ein staatlicher Eingriff in die Gewissensfreiheit zielt aber im Regelfall nicht auf die Schlechtigkeit des betreffenden Bürgers ab, sondern auf den Schutz fundamentaler Güter Dritter. Da die Motivation das prinicipium divisionis zwischen Ärgernis und Verleitung zur Sünde ist, 134 Vgl. Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 204. 135 Witschen, Restriktive Auslegung des Rechts auf Gewissensfreiheit, 486. 136 Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 204.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

kann bei staatlichen Eingriffen durch die Schrankenregelung keine Verführung zur Sünde vorliegen, sondern maximal ein Ärgernis, welches durch die Anwendung des Prinzips der Doppelwirkung erlaubt sein kann. Eine solche Argumentation führt allerdings unausweichlich in die missliche Lage, dass ein staatlich angeordnetes Zwingen bei ausreichend starken Gründen immer erlaubt wäre. Dem staatlichen Eingriffshandeln wäre so nur über die Schrankenregelung eine Grenze gesetzt, die Qualität des Eingriffs – abgesehen von dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit – demgegenüber sekundär. Nimmt man aber die wechselseitige Verbindung zwischen Handlung und Gesinnung ernst, ist dies kein gangbarer Weg. Der folgende zweite Gesichtspunkt vermag daher eine Rechtfertigung des Urteils liefern, welche Eingriffe in der Form des Zwingens einer differenzierten Beurteilung unterziehen kann. In einer Entscheidung vom 02.06.2003 macht das BVerfG deutlich, dass die Zahlung von Steuern und deren Verwendung durch den Staat zwei zu unterscheidende Akte sind: Auf der Grundlage dieser Trennung zwischen steuerlicher Staatsfinanzierung und haushaltsrechtlicher Verwendungsentscheidung ist für den einzelnen Steuerpflichtigen weder rechtserheblich noch ersichtlich, in welchen Haushalt seine Einkommensteuerzahlungen […] fließen und welchem konkreten Verwendungszweck sie innerhalb eines bestimmten Haushalts dienen.137

Außerdem heißt es in dieser Entscheidung weiter: „Über die Verwendung dieser Haushaltsmittel entscheidet allein das Parlament (Art. 110 Abs. 2 und 3 GG).“138 Die Verwendung der Steuermittel unterliegt auf der Grundlage des Grundgesetzes also nicht der unmittelbaren Verantwortung des einzelnen Bürgers, sondern allenfalls seiner mittelbaren Verantwortung, da er durch sein Wahlrecht auf die Zusammensetzung des Parlaments einwirken kann. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich deutlich, wie wichtig es innerhalb des Grundrechts der Gewissensfreiheit ist, Verantwortungsbereiche benennen zu können. Die Bewertung von Eingriffen in der Form des Zwingens muss folglich unterscheiden, ob ein solcher Eingriff in die Sphäre der unmittelbaren oder der mittelbaren Verantwortung erfolgt. In den Fällen der mittelbaren Verantwortung kann einem handelnden Subjekt nicht die volle Verantwortung für einen erwünschten Zustand zugerechnet werden, da es ihm in der Regel an der Handlungsmacht mangelt, diesen Zustand eigenursächlich herbeizuführen. Um einen Eingriff damit aber qualifizieren zu können, muss dieser Mangel bereits vor dem tatsächlichen Eingriff vorliegen und

137 BVerfG, 2 BvR 1775/02 vom 02.06.2003, Absatz 3 (abrufbar unter: http://www.bverfg.de/

entscheidungen/rk20030602_2 bvr177502.html; abgerufen am 29.05.2012). 138 Ebd.

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Zur Unterscheidung von »Hindern« und »Zwingen«

darf nicht erst durch diesen hervorgerufen werden. Ist dies der Fall, kann mit Witschen festgehalten werden: Wohingegen jemand nicht direkt, sondern nur bzw. allenfalls indirekt Mitverantwortung für ein Handeln hat […], kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Betreffenden Grenzen in seiner freien Gewissensbetätigung gesetzt werden, er m. a. W. notfalls zur Leistung bestimmter äußerer Handlungen genötigt wird.139

Das Zwingen zu einem gewissenswidrigen aktiven Tun kann also in jenen Fällen gerechtfertigt sein, in denen der Gezwungene schon vor dem Eingriff keine unmittelbare Verantwortung für den jeweils relevanten Zustand zugerechnet werden kann und der Eingriff durch entsprechend hohe Schutzansprüche Dritter notwendig ist.

2.3.2 Das Zwingen im forum internum Der Zwang im forum internum ist in seiner Grundstruktur ähnlich zu bewerten wie das Hindern im forum internum. Eine solche Maßnahme zielt darauf ab, einem anderen Menschen ein Urteil über Gut und Böse aufzuzwingen, das nicht dessen eigenes ist. Das Urteil über eine solche Handlung fällt deshalb auch eindeutig aus: Ein Zwingen im Sinne einer Nötigung hinsichtlich der inneren Entscheidungsfreiheit ist ausnahmslos moralisch verboten, da es einem Intendieren des moralisch Schlechten, einer Verletzung der Personenwürde des anderen, einem direkten Verleiten zur Sünde gleichkommt.140

Man könnte einen Unterschied in der Zielrichtung von Hindern und Zwingen im forum internum feststellen: Das Hindern bezieht sich darauf, Gewissensentscheidungen überhaupt zu verunmöglichen, während das Zwingen darauf abzielt, einem anderen eine bestimmte Gewissensüberzeugung aufzunötigen. Diese Unterscheidung ändert jedoch nichts an der ethischen Bewertung solcher Eingriffe. Eingriffe in das forum internum sind nicht vereinbar mit der Würde des Menschen, da sie seine sittliche Autonomie im Kern verletzen. Sie sind daher ausnahmslos verboten.

139 Witschen, Grenzen der Gewissensfreiheit aus ethischer Sicht, 210. 140 Ebd. 208.

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III. Kapitel: Eingriffe in die Gewissensfreiheit

3. Zusammenfassung Die durchgeführte Analyse von Grundrechtseingriffen in die Gewissensfreiheit konnte aufzeigen: Ihre ethische Bewertung muss zwingend auf die Zurechenbarkeit moralischer Verantwortung an den Grundrechtsberechtigten verweisen und fußt gleichzeitig auf einer exakten Differenzierung der Handlungstypen »Hindern« und »Zwingen«. Fasst man die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammen, ergeben sich drei Parameter, zu berücksichtigen sind: • Erfolgt ein Eingriff in das forum internum oder forum externum? • Erfolgt ein Eingriff in der Form des Hinderns oder Zwingens? • Erfolgt ein Eingriff in den Bereich unmittelbarer oder mittelbarer Verantwortung? Eingriffe in das forum internum sind aus ethischer Perspektive stets zu unterlassen. In ihnen zeigt sich eine grobe Missachtung menschlicher Würde und sittlicher Autonomie, weil sie direkt auf den sittlichen Wert des Menschen abzielen und daher nicht zu rechtfertigen sind. Bei Eingriffen in das forum externum ist zu differenzieren, ob ein Hindern oder ein Zwingen vorliegt. Das Hindern eines Gewissensakteurs zielt auf die Einschränkung seiner Handlungsmacht, nicht auf seine moralische Gesinnung. Daher ist diese Eingriffsform weder ein Ärgernis noch eine Verführung zur Sünde und kann bei entsprechenden Gründen sowohl bei unmittelbarer als auch mittelbarer Verantwortung erlaubt bzw. sogar geboten sein. Beim Zwingen muss unterschieden werden zwischen dem Zwang zu einer Ersatzhandlung und dem Zwang zu einer gewissenswidrigen Tat. Das Zwingen zu einer Ersatzhandlung ist von seinen Auswirkungen auf den Gewissensakteur und der Intention des Eingreifenden dem Hindern gleichzusetzen. Es ist daher ebenso moralisch erlaubt bzw. womöglich geboten, allerdings unter dem Vorbehalt der Wahrung der verhältnismäßigen Mittel. Das Zwingen zu einer gewissenswidrigen Tat kann – gegenüber den anderen Eingriffen in das forum externum – als direkte Verleitung zur Sünde gewertet werden, wenn dieser Eingriff in den unmittelbaren Verantwortungsbereich des zu Zwingenden fällt. Ein solcher Eingriff intendiert die moralische Schlechtigkeit des Gewissensakteurs und hat daher stets zu unterbleiben. Demgegenüber ist ein Eingriff bei nur mittelbarer Verantwortung allenfalls als Ärgernis zu bewerten, das wiederum bei entsprechenden Gründen erlaubt sein kann. Bei all diesen wichtigen Unterscheidungen und Differenzierungen muss allerdings eine Grundhaltung immer wieder betont werden. Im Umgang mit Gewissensakteuren gilt nämlich als fundamentales Prinzip:

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Zusammenfassung Dem Sinn des Rechts auf Gewissensfreiheit entsprechend, dass der einzelne sich nicht nur frei seine Gewissensüberzeugung bilden, sondern diese auch im Maße des Möglichen ungehindert in Handlungen umsetzen kann, hat der Ausgangspunkt der Grundsatz größtmöglicher Toleranz zu sein.141

141 Ebd. 208.

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RESÜMEE

Zu Beginn dieser Abhandlung über Genese, Funktion und Grenzen des Grundrechts der Gewissensfreiheit wurden je eine Monografie von der amerikanischen Philosophin Nussbaum („Liberty of Conscience – In Defense of America’s Tradition of Religious Equality“) und dem ehemaligen deutschen Bundesverfassungsrichter Di Fabio („Gewissen, Glaube, Religion – Wandelt sich die Religionsfreiheit?“) vorgestellt. Sowohl die Titel als auch ein Blick in den Inhalt dieser Publikationen provozierten die Frage, ob mit einer Analyse der Religionsfreiheit tatsächlich die Thematik des Gewissens und der Gewissensfreiheit abschließend behandelt sei. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist! Der historische Überblick über die Entstehung der Gewissensfreiheit konnte zwar aufzeigen, dass Gewissens- und Religionsfreiheit lange Zeit zusammenfielen. Im Laufe der Geschichte kristallisierte sich jedoch das Proprium der Gewissensfreiheit immer stärker heraus. Obschon beide Grundrechte – historisch vollkommen richtig – gemeinsam in einem Artikel des Grundgesetzes genannt werden, verdient die Gewissensfreiheit doch eine eigenständige Betrachtung. In seiner Bedeutung kann das Grundrecht der Gewissensfreiheit kaum hoch genug eingeschätzt werden, schützt es doch die Möglichkeit des Menschen, sich sittliche Urteile zu bilden und danach handeln zu können. Diese beiden Ausformungen der Gewissensfreiheit – das forum internum und das forum externum – gehören untrennbar zusammen, da das Gewissen als »Instrument der praktischen Vernunft« Erkennen und Handeln in sich vereint. Es bleibt eine Aufgabe sowohl der Moraltheologie als auch der Grundrechtsauslegung, beide Dimensionen der Gewissensfreiheit stets als gleichberechtigt zu verstehen. Jegliche Verkürzung dieses Grundrechts, sei es eine Reduzierung auf das forum internum oder eine Einengung im forum externum auf ein Unterlassen, missachtet den vollen Bedeutungsinhalt der Freiheit des Gewissens. Sie zeugen oftmals von einem defizitären Verständnis des Gewissensphänomens bzw. einer mangelhaften Reflexion über diesen wichtigen Themenkomplex. Auch wenn das Gewissen und die Treue zum eigenen Gewissensurteil einen unschätzbaren Wert für die sittliche Güte des Menschen haben, kann die Freiheit des Gewissens in einer Gesellschaft nicht unbeschränkt gelten. Zum Schutz von Grundrechten oder Grundgütern Dritter kann es erforderlich sein, in die Gewissensfreiheit einzugreifen. Da Eingriffe in diesen ethisch sensiblen Bereich aber

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Resümee

stets an das moralische Selbstbild des jeweiligen Bürgers und des Eingreifenden rühren können, reicht es nicht aus, lediglich zu bestimmen, unter welchen Umständen eingegriffen werden darf; vielmehr müssen die Eingriffsoptionen selbst auf ihre Wirkungen und Zielrichtungen untersucht werden. Denn auch wenn das Grundgesetz immanente Schranken für die Gewissensfreiheit vorsieht, hat sich der Staat solcher Maßnahmen zu enthalten, die die sittliche Autonomie des Menschen verletzen. Allerdings kann eine mögliche Verletzung der sittlichen Autonomie nur festgestellt werden, wenn dargelegt wird, wie im konkreten Einzelfall die Verantwortlichkeiten verteilt sind und welche Wirkung der Eingriffstyp auf das eigene sittliche Selbstbild des Gewissensakteurs hat. Grundlage der hier vorliegenden Analyse der Gewissensfreiheit ist die von Di Fabio diagnostizierte Diffusion der Grundrechte. Diese Arbeit stellt daher den Versuch dar, das Grundrecht der Gewissensfreiheit anhand der beiden Bezugswissenschaften – Rechtswissenschaft und Ethik/Moraltheologie – zu bestimmen. Damit wird ein Beitrag geleistet, neben der Grundrechtsdiffusion auch der gegenwärtigen Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs entgegenzutreten. Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung, der aktuellen Grundrechtsdogmatik und der moraltheologischen Gewissensreflexion wurde der Schutzbereich der Gewissensfreiheit präzise festgehalten. Er umfasst im forum internum neben der Ausbildung des Gewissens auch die Genese, den Besitz und die Änderung von Gewissensüberzeugungen. Im forum externum schützt die Gewissensfreiheit das Handeln nach den eigenen Gewissensüberzeugungen, und zwar im Sinne einer Handlungsaufforderung wie auch als Aufforderung zur Handlungsunterlassung. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Eingriffe in die Gewissensfreiheit unterschiedliche Wirkweisen haben und daher auch unterschiedlich bewertet werden müssen. Die von Witschen benannte Lücke innerhalb der ethischen Argumentation konnte mittels der Verbindung traditioneller Lehrstücke der Moraltheologie und aktueller Impulse der Verantwortungs- und Handlungsdebatte geschlossen werden. Eine ethische Bewertung von Eingriffen in die Gewissensfreiheit muss demnach zunächst grundlegend unterscheiden, ob ein Eingriff in das forum internum oder das forum externum vorliegt. Weiter müssen die handlungstheoretischen Unterschiede zwischen einem Eingriff durch Hindern und einem Eingriff durch Zwang beachtet werden. Bei letzterem gilt es zusätzlich noch zu differenzieren, ob ein Zwang zu einer Ersatzhandlung oder einer gewissenswidrigen Tat vorliegt. Eine prinzipielle ethische Beurteilung dieser Eingriffsformen ist in der traditionellen Skandalon-Lehre grundgelegt. Abschließend gilt es zu unterscheiden, ob der Eingriff in den Bereich unmittelbarer oder mittelbarer Verantwortung des Gewissensakteurs erfolgt. Die hier aufgeführte Kriteriologie

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Resümee

der prospektiven Verantwortung bietet dazu die notwendigen Unterscheidungsmerkmale. Zum Abschluss bleibt damit nur noch ein Verweis auf das alttestamentliche Buch Jesus Sirach: „Doch achte auch auf den Rat deines Gewissens. Wer ist dir treuer als dieses? Das Gewissen des Menschen gibt ihm bessere Auskunft als sieben Wächter auf der Warte.“1

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Sir 37, 13 f.

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LITERATURVERZEICHNIS

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Literaturverzeichnis Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum Veritatis über die kirchliche Berufung des Theologen [Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 98], hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1990. –, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung [Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 70], hg. von der deutschen Bischofskonferenz, Bonn 21986. Leo XIII., Libertas praestantissimum. Enzyklika über die menschliche Freiheit, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 180–223. –, Rerum novarum. Enzyklika über die Arbeiterfrage, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 496–553. Paul VI., Humanae vitae. Enzyklika über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens, in: o. A., Nachkonziliare Dokumentation, Bd. 14, Trier 1968, 9–61. Pius VI., Quod aliquantum. Breve betreffend den Zivilstand der Geistlichen, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 3, Aachen 1976, 2652–2729. Pius VII., Post tam diuturnas. Apostolischer Brief, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 462–469. Pius IX., Quanta cura. Apostolischer Brief, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 162–179. –, Syllabus. Zusammenfassung der hauptsächlichen Irrtümer unserer Zeit, auf die in den Konsistorialansprachen, Rundschreiben und anderen apostolischen Briefen unseres Heiligen Vaters Papst Pius IX. hingewiesen wurde, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 34–53. Pius XI., Quadragesimo anno. Enzyklika über die gesellschaftliche Ordnung, ihre Wiederherstellung und ihre Vollendung nach dem Heilsplan der Frohbotschaft. Zum 40. Jahrestag des Rundschreibens Leos XIII. „Rerum novarum“, in: Arthur Utz/Brigitta Gräfin von Galen (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Bd. 1, Aachen 1976, 554–649. Pius XII., Benignitas. Rundfunkansprache an Weihnachten 1944, in: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg i. Ue. 1945, 681–699. –, Con sempre. Rundfunkansprache an Weihnachten 1942, in: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg i. Ue. 1945, 657–680.

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Weitere Literatur –, Nell’ Alba. Rundfunkansprache an Weihnachten 1941, in: Emil Marmy (Hg.), Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg i. Ue. 1945, 768–785. –, Pfingstbotschaft 1941. Ansprache zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens „Rerum novarum“ Papst Leos XIII. über die soziale Frage, in: KAB Deutschlands e. V. (Hg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, Köln 92007, 123–135.

2. Entscheidungen und Urteile staatlicher Gerichte BFH, Beschluss vom 26.01.2012, II B 70/11 (abrufbar unter: http://juris.bundesfinanzhof. de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bfh&Art=en&sid=787e8619474044 2514d61e958a80f154&nr=25690&pos=0&anz=1; abgerufen am 26. 05.2012). BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006 (abrufbar unter: www.bverfg.de/entscheidungen/ rk2006 1213_1b vr208405.html; abgerufen am 01.03.2012). –, 2 BvR 1775/02 vom 02.06.2003 (abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/ rk2003 0602_2bvr177502.html; abgerufen am 29.05.2012). BVerwG, 2 WD 12.04, Urteil vom 21.06.2005 (abrufbar unter: http://www.bverwg.de/media/archive/3059.pdf; abgerufen am 26.05.2012). LG Köln, 151 Ns 169/11 vom 07.05.2012 (abrufbar unter: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/ koeln/lg_koeln/j2012/151_Ns_169_11_Urteil_20120507.html; abgerufen am 21.10.2012). Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hg.), Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, div. Bände, Tübingen div. Jahrgänge.

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Literaturverzeichnis –, Summa theologica. Die Liebe (2. Teil) : Klugheit (II–II, 34–56) [Deutsche ThomasAusgabe 17b], Graz/Wien/Köln 1946. –, Summa theologica. Grundlagen der menschlichen Handlung (I–II, 49–70) [Deutsche Thomas-Ausgabe 11], Salzburg 21940. –, Summa theologica. Wesen und Ausstattung des Menschen (I, 75–89) [Deutsche Thomas-Ausgabe 6], Salzburg 21937. Aubert, Roger, Das Problem der Religionsfreiheit in der Geschichte des Christentums, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit [Wege der Forschung 246], Darmstadt 1977, 422–454. –, Die Religionsfreiheit von »Mirari vos« bis zum »Syllabus«, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 1 (1965) 584–591. Autiero, Antonio, Die Rezeption von Gaudium et Spes im Kontext ethisch-pastoraler Überlegungen, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres [Münsterischer Kommentar zum Codex iuris canonici. Beihefte 55], Essen 2008, 41–55. Bair, Johann, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit aus dem Blickwinkel des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hg.), Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag [Kanonistische Studien und Texte 51], Berlin 2006, 43–57. Bauer, Saskia, Gewissensschutz im Arbeitsrecht. Die Verweigerung der Arbeitsleistung aus Gewissensnot [Schriftenreihe arbeitsrechtliche Forschungsergebnisse 47], Hamburg 2004. Bayertz, Kurt, Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, 3–71. Bea, Augustin, Konzil und Religionsfreiheit [Freiheit und Ordnung 50], Mannheim 1966. Beckermann, Ansgar, Intentionale versus kausale Handlungserklärungen. Zur logischen Struktur intentionaler Erklärungen, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation [Kritische Information 63], Bd. 2,2, München 1979, 445–490. Bergmann, Reinhard, Artikel 4 [Glaubens- und Gewissensfreiheit], in: Dieter Hömig (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 92010, 84–96. Birnbacher, Dieter, Grenzen der Verantwortung, in: Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995, 143–183. Blanke, Hermann-Josef (Hg.), Deutsche Verfassungen. Dokumente zu Vergangenheit und Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003. Blum, Nikolaus, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention [Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 19], Berlin 1990. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Einleitung zur Textausgabe der ›Erklärung über die Religionsfreiheit‹, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit [Wege der Forschung 246], Darmstadt 1977, 401–421. –, Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, Bd. 3 (Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt), Freiburg i. Br./Basel/Wien 1990.

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Weitere Literatur –, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976. Borowski, Martin, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes [Jus publicum 144], Tübingen 2006. –, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte, in: Informationes theologiae europae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 14 (2005) 85–99. –, Gewissen und Rechtspflicht, in: Berliner Theologische Zeitschrift 27 (2010) Heft 2, 224–249. –, Grundrechte als Prinzipien [Kieler rechtswissenschaftliche Abhandlungen 11], BadenBaden 22007. Brandtstädter, Jochen/Greve, Werner, Intentionale und nichtintentionale Aspekte des Handelns, in: Jürgen Straub/Hans Werbik (Hg.): Handlungstheorie. Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs, Frankfurt a. M./New York 1999, 185–212. Braun, Walter, Was wird heute unter Gewissen verstanden?. Etappen einer Fehlentwicklung, in: Forum Katholische Theologie 16 (2000) Heft 1, 37–49. Brinkmann, Karl, Grundrecht und Gewissen im Grundgesetz. Eine rechtsphilosophischstaatsrechtliche Untersuchung, Bonn 1965. Brosch, Renate, Halluzinogene, in: Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.): Wörterbuch der Psychotherapie, Wien/New York 2000, 269. Burkhart, Ernst, Gewissen und kirchliches Lehramt, in: Ildefons Fux/Josef Kreiml/ Josef Spindelböck/Michael Stickelbroeck (Hg.), Der Wahrheit verpflichtet. Festschrift für em. Diözesanbischof Prof. Dr. Kurt Krenn zum 70. Geburtstag, Graz 2006, 327–346. Chisholm, Roderick Milton, Der Handelnde als Ursache, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation [Kritische Information 63], Bd. 2,2, München 1979, 399–415. Czermak, Gerhard, Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, Berlin/Heidelberg 2008. Davidson, Donald, Handlung und Ereignis, Frankfurt a. M. 1985. Deiseroth, Dieter, Gewissensfreiheit und Recht. Entwicklungslinien, grundrechtliche Dimensionen und konkrete Konfliktlagen, in: Betrifft JUSTIZ 93 (2008) 228–237. Demmer, Klaus, Bedrängte Freiheit. Die Lehre von der Mitwirkung – neu bedacht [Studien zur theologischen Ethik 127], Freiburg i. Br./Wien 2010. Derra, Claus, Hypnose, in: Michael Zaudig/Rolf Dieter Trautmann (Hg.), Therapielexikon. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Berlin/Heidelberg/New York 2006, 326–330. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Allen Völkern sein Heil. Die Mission der Weltkirche [Die deutschen Bischöfe 76], Bonn 2004. –, Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart in Anwendung der Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ des Zweiten Vatikanischen Konzils [Die deutschen Bischöfe 000–2], Trier 1969. –, Katholischer Erwachsenen-Katechismus, Bd. 2, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995.

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Literaturverzeichnis –, Terrorismus als ethische Herausforderung. Menschenwürde und Menschenrechte [Die deutschen Bischöfe 94], Bonn 2011. –, Umkehr und Versöhnung im Leben der Kirche. Orientierungen zur Bußpastoral [Die deutschen Bischöfe 58], Bonn 1997. –, Wort der deutschen Bischöfe zur seelsorglichen Lage nach dem Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. 1, Köln 1998, 465–471. Di Fabio, Udo (Hg.), Grundgesetz, München 412006. –, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 22012. Ebers, Godehard Josef, Staat und Kirche im neuen Deutschland, München 1930. Eckhoff, Rolf, Der Grundrechtseingriff [Völkerrecht – Europarecht – Staatsrecht 4], Köln/ Berlin/Bonn/München 1992. Epping, Volker, Grundrechte, Berlin/Heidelberg 42010. Ernst, Stephan, Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009. Europarat, Resolution 1763 vom 07.10.2012 (abrufbar unter: http://www.assembly.coe. int/Mainf.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta10/ERES1763.html; abgerufen am 30.01.2012). Ferber, Rafael, Einige Bemerkungen zur Entstehung der modernen »Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit«, in: Ruth Scoralick (Hg.), Damit sie das Leben haben (Joh 10,10). Festschrift für Walter Kirchschläger zum 60. Geburtstag, Zürich 2007, 87–109. Fonk, Peter, Das Gewissen. Was es ist – wie es wirkt – wie weit es bindet, Regensburg 2004. Fraling, Bernhard, Freiheit und Gesetz. Gedanken zur Enzyklika „Veritatis splendor“, In: Dietmar Mieth (Hg.), Moraltheologie im Abseits?. Antwort auf die Enzyklika „Veritatis splendor“ [Quaestiones disputatae 153], Freiburg i. Br./Basel/Wien 21994, 129–143. Freihalter, Gerd Ulrich, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts [Schriften zur Rechtstheorie 31], Berlin 1973. Fuchs, Josef, Die Frage an das Gewissen. Moraltheologische Überlegungen, in: Josef Fuchs (Hg.), Das Gewissen. Vorgegebene Norm verantwortlichen Handelns oder Produkt gesellschaftlicher Zwänge?, Düsseldorf 1979, 56–66. Gabriel, Karl, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Religionsfreiheit in einer globalisierten Welt, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres [Münsterischer Kommentar zum Codex iuris canonici. Beihefte 55], Essen 2008, 147–162. Geiger, Willi, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des Rechts, München 1963. Germann, Michael, Art. 4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit], in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2009, 110–153.

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Weitere Literatur Ginters, Rudolf, Werte und Normen. Einführung in die philosophische und theologische Ethik, Göttingen 1982. Goertz, Stephan, Von der Religionsfreiheit zur Gewissensfreiheit. Erwägungen im Anschluss an Dignitatis humanae, in: Trierer Theologische Zeitschrift 119 (2010) Heft 3, 235–249. Golser, Karl, Gewissen und objektive Sittenordnung. Zum Begriff des Gewissens in der neueren katholischen Moraltheologie [Wiener Beiträge zur Theologie 48], Wien 1975. Grochtmann, Ansgar, Justitiabilität der Gewissensfreiheit. Rechtsvergleichende Analyse zur kirchlichen Strafverhängung und zum Schutz des forum internum im Völkerrecht [Adnotationes in ius canonicum 47], Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Wien 2009. Gründel, Johannes, Verbindlichkeit und Reichweite des Gewissensspruches, in: Johannes Gründel (Hg.), Das Gewissen. Subjektive Willkür oder oberste Norm? [Schriften der Katholischen Akademie in Bayern 135], Düsseldorf 1990, 99–126. Günthör, Anselm, Anruf und Antwort. Handbuch der katholischen Moraltheologie. Der Christ gerufen zum Leben, Bd. 1, Vallendar-Schönstatt 1993. –, Anruf und Antwort. Handbuch der katholischen Moraltheologie. Der Christ vor Gott, Bd. 3, Vallendar-Schönstatt 1994. Hansen, Arfst Hinrichs, Die rechtliche Behandlung von Glaubens- und Gewissenskonflikten im Arbeitsverhältnis [Europäische Hochschulschriften 2686], Frankfurt a. M./ Berlin/Bern/Brüssel/New York/Oxford/Wien 2000. Häring, Bernhard, Das Gesetz Christi. Moraltheologie. Leben in der Gemeinschaft mit Gott und dem Nächsten, Bd. 2, Freiburg i. Br. 81966. –, Frei in Christus. Moraltheologie für die Praxis des christlichen Lebens. Das Fundament aus Schrift und Tradition, Bd. 1, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1989. Herdegen, Matthias, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts [Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 99], Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hong Kong 1989. Hertz, Anselm/Korff, Wilhelm/Rendtorff, Trutz/Ringeling, Hermann (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik. Wege ethischer Praxis, Bd. 3, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 1982. Herzog, Roman, Art.  4, In: Roman Herzog/Rupert Scholz/Matthias Herdegen/ Hans Klein (Hg.), Grundgesetz. Kommentar (Maunz/Düring), Bd. 1, München 55 2009, 4/1–4/82 (Kommentar aus Lieferung 27 im November 1988). Hesse, Heidrun, Handlung, in: Markus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 32011, 396–400. Hildebrandt, Horst (Hg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 101977. Hillgruber, Christian, Art. 1 [Schutz der Menschenwürde], in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 2009, 5–26. Hilpert, Konrad, Gewissen. II. Theologisch-ethisch, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 621–626.

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Literaturverzeichnis Hirsch, Ernst, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters [Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung 43], Berlin 1979. Höcker, Ralf, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und seine Auswirkungen im Strafrecht [Europäische Hochschulschriften 2942], Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Brüssel/ New York/Oxford/Wien 2000. Höffe, Otfried, Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: Hans Poser (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie [Praktische Philosophie 17], Freiburg i. Br./ München 1982, 233–261. –, Sittliches Handeln. Ein ethischer Problemaufriss, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretation [Kritische Information 63], Bd. 2,2, München 1979, 617–641. Höfling, Wolfram, Art. 1 [Schutz der Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung], in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 75–110. Hofmann, Hans, Art. 1, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 110–155. –, Art. 4, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 215–250. Honnefelder, Ludger, Was soll ich tun, wer will ich sein?. Vernunft und Verantwortung, Gewissen und Schuld, Berlin 2007. Hopfauf, Axel, Einleitung, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/München 122011, 3–79. Horn, Nikolai, Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit [Schriften zur Rechtstheorie 260], Berlin 2012. Höver, Gerhard/Honnefelder, Ludger (Hg.), Der Streit um das Gewissen [Praktische Philosophie 17], Paderborn/München/Wien/Zürich 1993. Hünermann, Peter (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 422009. Isensee, Josef, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/ Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 138–174. Jarass, Hans, Art.  1 [Würde des Menschen, Grundrechtsbindung], in: Hans Jarass/ Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 112011, 38–59. –, Art. 4 [Glaubens- und Gewissensfreiheit], in: Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 112011, 154–177. –, Vorbemerkung vor Art.  1. Allgemeine Grundrechtslehren, in: Hans Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 11 2011, 15–37. Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1987. Kanitschar, Hans, Hypnoid, in: Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.): Wörterbuch der Psychotherapie, Wien/New York 2000, 282.

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Weitere Literatur –, Hypnose, in: Gerhard Stumm/Alfred Pritz (Hg.): Wörterbuch der Psychotherapie, Wien/New York 2000, 282 f. Kluth, Winfried, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die allgemeine Geltung der Gesetze. Überlegungen zur situativen Normdurchbrechung, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hg.), Dem Staate, was des Staates ist – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag [Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 33], Berlin 1999, 215–238. Kneib, Michael, Die lehramtlichen Stellungnahmen zur Gewissensfreiheit (1832–1965), in: Hans-Gerd Angel/Johannes Reiter/Hans-Gerd Wirtz (Hg.), Aus reichen Quellen leben. Ethische Fragen in Geschichte und Gegenwart. Helmut Weber zum 65. Geburtstag, Trier 1995, 133–147. –, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit. Zur Rezeption der Gewissensfreiheit durch die katholische Moraltheologie und das kirchliche Lehramt zwischen 1832 und 1965 [Frankfurter theologische Studien 51], Frankfurt a. M. 1996. Koch, Thorsten, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen. Zur Rekonstruktion der Grundrechte als Abwehrrechte [Jus publicum 62], Tübingen 2000. Köhler, Helmut (Hg.), Bürgerliches Gesetzbuch, München 672011. Kokott, Juliane, Art.  4 [Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung], in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 237–274. Korff, Wilhelm/Wilhelms, Günter, Verantwortung, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 597–600. Kutschera, Franz von, Grundbegriffe der Handlungslogik, in: Hans Lenk (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Handlungslogik, formale und sprachwissenschaftliche Handlungstheorien [Kritische Information 62], Bd. 1, München 1980, 67–106. Laun, Andreas, Das Gewissen. Oberste Norm sittlichen Handelns, Innsbruck/Wien 1984. Lecler, Joseph, Die Gewissensfreiheit. Anfänge und verschiedene Auslegung des Begriffs, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit [Wege der Forschung 246], Darmstadt 1977, 331–371. Lehmann, Karl, Zuversicht aus dem Glauben. Die Grundsatzreferate des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz mit den Predigten der Eröffnungsgottesdienste, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2006. Lenk, Hans, Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen, Stuttgart/Berlin/Köln 1997. Lübbe, Weyma, Handeln und Verursachen. Grenzen der Zurechnungsexpansion, in: Weyma Lübbe (Hg.), Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen [Philosophie und Wissenschaft 5], Berlin/New York 1994, 223–242. Lüdecke, Norbert, Einmal Königstein und zurück?. Die Enzyklika Humanae Vitae als ekklesiologisches Lehrstück, in: Dominicus Meier/Peter Platen/Heinrich Reinhardt/Frank Sanders (Hg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65.

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Literaturverzeichnis Lebensjahres [Münsterischer Kommentar zum Codex iuris canonici. Beihefte 55], Essen 2008, 357–412. Luf, Gerhard, Der Begriff der Freiheit als Grundlage der Menschenrechte in ihrem christlich-theologischen Verständnis, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 119–137. Luhmann, Niklas, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: Archiv des öffentlichen Rechts 90 (1965) Heft 3, 257–286. Luther, Martin, De votis monasticis Martini Lutheri iudicium, in: Weimarer Ausgabe 8, 573–669. Maier, Hans, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg i. Br./Basel Wien 51988. Mausbach, Joseph/Ermecke, Gustav, Katholische Moraltheologie. Die allgemeine Moral. Die Lehre von den allgemeinen sittlichen Pflichten der Nachfolge Christi zur Gleichgestaltung mit Christus und zur Verherrlichung Gottes in der Auferbauung seines Reiches in Kirche und Welt, Bd. 1, Münster 91959. –, Katholische Moraltheologie. Die spezielle Moral. Die Lehre von den sittlichen Pflichten zur Entfaltung der in Christus geschenkten Lebensgemeinschaft mit Gott und zur Teilnahme an seiner Verherrlichung durch Christus im Kult seiner Kirche, Bd. 2,1, Münster 111960. Meder, Stephan, Rechtsgeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2002. Meisner, Joachim, Das Gewissen  – Normierte Norm des Handelns, in: Ildefons Fux/ Josef Kreiml/Josef Spindelböck/Michael Stickelbroeck (Hg.), Der Wahrheit verpflichtet. Festschrift für em. Diözesanbischof Prof. Dr. Kurt Krenn zum 70. Geburtstag, Graz 2006, 169–175. Meyer, Christian, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Zu einer Gedenkveranstaltung der EKD, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 49 (2004) Heft 1, 33–43. Michael, Lothar/Morlok, Martin, Grundrechte, Baden-Baden 22010. Mieth, Dietmar, Gewissen/Verantwortung, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 2005, 7–17. Min, Young Ok, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht (Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz), 1989. Mock, Erhard, Gewissen und Gewissensfreiheit. Zur Theorie der Normativität im demokratischen Verfassungsstaat [Schriften zur Rechtstheorie 104], Berlin 1983. Molinski, Waldemar, Verbindlichkeit und Reichweite von Gewissensansprüchen in römisch-katholischer Sicht, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 96 (2006) Heft 2, 36–63. Mörsdorf, Klaus, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Bd. 1, Paderborn 111964. Muckel, Stefan, Die Grenzen der Gewissensfreiheit, in: Neue Juristische Wochenschrift 53 (2000) Heft 10, 689–692. Müller, Friedrich, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik [Schriften zum öffentlichen Recht 100], Berlin 21990.

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Weitere Literatur Müller-Franken, Sebastian, Vorbemerkung vor Art. 1. Allgemeine Grundrechtslehren, in: Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln/ München 122011, 91–110. Mussinghoff, Heinrich, Pflicht, Recht und Freiheit der Menschen zur Wahrheit, in: Klaus Lüdicke (Hg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bd. 3, Essen 1987. Neumaier, Otto, Moralische Verantwortung. Beiträge zur Analyse eines ethischen Begriffs, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008. Nida-Rümelin, Julian, Verantwortung, Stuttgart 2011. Nientiedt, Klaus, Unzweideutig. Gerichte geben der Glaubens- und Gewissensfreiheit den Vorrang, in: Herder Korrespondenz 48 (1994) Heft 2, 61. Nussbaum, Martha, Liberty of Conscience. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality, New York 2008. Perkams, Matthias, Gewissensirrtum und Gewissensfreiheit. Überlegungen im Anschluss an Thomas von Aquin und Albertus Magnus, in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005) Heft 1, 31–50. Pohanka, Reinhard (Hg.), Dokumente der Freiheit, Wiesbaden 2009. Pschyrembel, Willibald, Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin/New York 2602004. Ratzinger, Joseph, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005. Ricken, Friedo, Allgemeine Ethik [Grundkurs Philosophie 4], Stuttgart 42003. Römelt, Josef, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in seiner ethischen Bedeutung. Theologische Überlegungen, in: Theologie der Gegenwart 50 (2007) Heft 1, 31–41. –, Vom Sinn moralischer Verantwortung. Zu den Grundlagen christlicher Ethik in komplexer Gesellschaft, Bd. 1, Regensburg 1996. Rühl, Ulli, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt. Zum Verhältnis von Gewissensfreiheit und universalistischer Moral zu den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates [Europäische Hochschulschriften 603], Frankfurt a. M./ Bern/New York 1987. Rupp, Hans Heinrich, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 10 (1991) Heft 11, 1033–1038. Sachs, Michael, Die Grundrechte. Vorbemerkungen zu Abschnitt I, in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, 33–74. Sala, Giovanni Battista, Gewissensentscheidung. Philosophisch-theologische Analyse von Gewissen und sittlichem Wissen, Innsbruck/Wien 1993. Sander, Hans-Joachim, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Gaudium et spes, in: Bernd Jochen Hilberath/Peter Hünermann (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, 581–886. Schatz, Klaus, Vaticanum I. 1869–1870, Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992. Scheuner, Ulrich, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Mo-

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Literaturverzeichnis derne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914) [Neue wissenschaftliche Bibliothek 51], Königstein/Ts. 21981, 319–345. –, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, in: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit [Wege der Forschung 246], Darmstadt 1977, 372–400. Schilling, Otto, Handbuch der Moraltheologie. Spezielle Moraltheologie. Sozialer Pflichtenkreis, Bd. 3, Stuttgart 1956. Schlund, Robert, Schöpferisches Gewissen. Orientierung zu aktuellen Fragen, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1990. Schmitt, Hanspeter, Gewissensbildung. Zur Soziogenese sittlicher Kompetenz, in: Ethica 15 (2007) Heft 4, 339–375. –, Sozialität und Gewissen. Anthropologische und theologisch-ethische Sondierung der klassischen Gewissenslehre [Studien der Moraltheologie 40], Wien/Zürich/Berlin/ Münster 2008. Schockenhoff, Eberhard/Florin, Christiane, Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2009. Schockenhoff, Eberhard, Das Gewissen. Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verantwortung [Kirche und Gesellschaft 269], Köln 2000. –, Gewissensfreiheit. I. Ethisch, in: Walter Kaspar/Konrad Baumgartner/Horst Bürkle/Klaus Ganzer/Karl Kertelge/Wilhelm Korff/Peter Walter (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 32006, 628 f. –, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2007. –, Schwangerschaftskonfliktberatung – der Ernstfall der Ethik, in: Caritas 98 (1997) Heft 7, 355–358. –, Wesen und Funktion des Gewissens. Aus der Sicht der katholischen Moraltheologie, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hamburg, Hildesheim, Köln, Osnabrück 55 (2003) Heft 9, 272–278. –, Wie gewiss ist das Gewissen?. Eine ethische Orientierung, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2003. Scholler, Heinrich, Die Freiheit des Gewissens [Schriften zum öffentlichen Recht 2], Berlin 1958. – (Hg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation [Texte zur Forschung 11], Darmstadt 21982. Schöpf, Alfred, Suggestion, in: Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 32008, 725–727. –, Was das Gewissen ist und wie es »funktioniert«. Philosophische Probleme und Deutungen, in: Günter Koch/Josef Pretscher (Hg.), Streit um das Gewissen, Würzburg 1995, 9–26. Schüller, Bruno, Das irrige Gewissen, in: Karl Rahner/Otto Semmelroth (Hg.), Theologische Akademie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1965, 7–28. –, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie, Düsseldorf 31987. –, Lehramt der Kirche und Gewissensfreiheit der Gläubigen, Kevelaer 1969.

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Weitere Literatur Schuster, Josef, Ethos und kirchliches Lehramt. Zur Kompetenz des Lehramtes in Fragen der natürlichen Sittlichkeit [Frankfurter Theologische Studien 31], Frankfurt a. M. 1984. Schwartz, Thomas, Zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung. Das Gewissen in der Anthropologie und Ethik des Thomas von Aquin [Dogma und Geschichte 3], Münster/ Hamburg/Berlin/London 2001. Sebott, Reinhold, Religionsfreiheit und Verhältnis von Kirche und Staat. Der Beitrag John Courtney Murrays zu einer modernen Frage [Analecta Gregoriana 40], Rom 1977. Siebenrock, Roman, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit. Dignitatis humanae, in: Bernd Jochen Hilberath/Peter Hünermann (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 4, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2005, 125–218. Spaemann, Robert, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001. Spieker, Manfred, Grenzen der Gewissensfreiheit. Zur Bedeutung des Art. 4, Abs. 1 des Grundgesetzes, in: Gerhard Stumpf (Hg.), Gewissen – Wahrheit – Menschenwürde (11. Theologische Sommerakademie in Diessen), Landsberg 2003, 15–35. Splett, Jörg, Gewissen – Ernst der Menschlichkeit, in: Josef Fuchs (Hg.), Das Gewissen. Vorgegebene Norm verantwortlichen Handelns oder Produkt gesellschaftlicher Zwänge?, Düsseldorf 1979, 19–33. Stein, Edith, Übersetzung. Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit. Quaestiones disputatae de veritate, Bd. 1, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2008. Stöcker, Ralf (Hg.), Handlungen und Handlungsgründe, Paderborn 2002. Tiedemann, Paul, Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen [Anstöße zur Friedensarbeit 7], Hildesheim/Zürich/New York 1991. –, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung [Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam 29], Berlin 2007. Tillmann, Fritz, Handbuch der katholischen Soziallehre. Die Verwirklichung der Nachfolge Christi. Die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Nächsten, Bd. 4,2, Düsseldorf 41950. Uertz, Rudolf, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II.  Vatikanischen Konzil (1789–1965) [Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft 25], Paderborn/München/Wien/Zürich 2005. Vermeulen, Ben, Scope and limits of conscientious objections, in: Council of Europe (Hg.): Freedom of conscience. Proceedings, Straßburg 1993, 74–93. Vosgerau, Ulrich, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes. Zum Gewährleistungsgehalt schrankenvorbehaltloser Grundrechte am Beispiel der Glaubensund Gewissensfreiheit [Schriften zum öffentlichen Recht 1079], Berlin 2007. Wahl, Rainer, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914) [Neue wissenschaftliche Bibliothek 51], Königstein/Ts. 21981, 346–371.

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Weitere Literatur Zimmermann, Markus, »Was hat mir die Kirche in mein Leben reinzureden?!«. Gewissen und Kirche – zur Disparität zweier Wahrheitsinstanzen, in: Internationale Katholische Zeitschrift 34 (2005) Heft 3, 298–317. Zippelius, Reinhold, Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext staatlicher Ordnung, in: Johannes Gründel (Hg.), Das Gewissen. Subjektive Willkür oder oberste Norm? [Schriften der Katholischen Akademie in Bayern 135], Düsseldorf 1990, 53–70. Zwanzger, Peter, Psychopharmaka, in: Michael Zaudig/Rolf Dieter Trautmann (Hg.), Therapielexikon. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Berlin/Heidelberg/New York 2006, 599 f.

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