Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht: Eine systematische Ermittlung des gegenwärtigen friedenssicherungsrechtlichen Besitzstandes aus völkerrechtsdogmatischer und praxisanalytischer Sicht [1 ed.] 9783428538683, 9783428138685

Gestattet das Völkerrecht den Staaten einen gewaltsamen Erstschlag als »vorbeugende Selbstverteidigung«? Wenn ja, unter

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German Pages 491 Year 2012

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Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht: Eine systematische Ermittlung des gegenwärtigen friedenssicherungsrechtlichen Besitzstandes aus völkerrechtsdogmatischer und praxisanalytischer Sicht [1 ed.]
 9783428538683, 9783428138685

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Schriften zum Völkerrecht Band 197

Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht Eine systematische Ermittlung des gegenwärtigen friedenssicherungsrechtlichen Besitzstandes aus völkerrechtsdogmatischer und praxisanalytischer Sicht

Von

Björn Schiffbauer

Duncker & Humblot · Berlin

BJÖRN SCHIFFBAUER

Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht

Schriften zum Völkerrecht Band 197

Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht Eine systematische Ermittlung des gegenwärtigen friedenssicherungsrechtlichen Besitzstandes aus völkerrechtsdogmatischer und praxisanalytischer Sicht

Von

Björn Schiffbauer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormArt, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-13868-5 (Print) ISBN 978-3-428-53868-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83868-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln, vor allem am Lehrstuhl für deutsches Strafrecht, europäisches Strafrecht, Völkerstrafrecht sowie Friedenssicherungs- und Konfliktsvölkerrecht. Die ersten Ideen zum Thema keimten zu Beginn des Jahres 2008 und wuchsen in kleinen Schritten zu einem immer dichteren Manuskript zusammen, welches schließlich im Wintersemester 2010/2011 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen wurde. Die Disputation folgte am 18.  Januar 2011. Das vorliegende Buch entspricht der eingereichten Dissertation im Wesentlichen; es wurden nur wenige kleinere Veränderungen und zwischenzeitlich notwendige Aktualisierungen vorgenommen. Dabei konnten die völkerrechtliche Entwicklung und Fachliteratur bis Anfang Oktober 2011 berücksichtigt werden. Auf diesem Stand befinden sich auch die vorzufindenden Verweise auf Quellen im Internet. Die Universität zu Köln zeichnete die Dissertation mit dem Osborne Clarke Promotionspreis für internationales Recht 2012 aus. Selbstverständlich wäre die Fertigstellung dieser Arbeit ohne fortdauernde fachliche wie moralische Unterstützung nicht möglich gewesen. Dafür gilt an erster Stelle ein herausragender Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Claus Kreß LL. M. (Cambridge). Als stets geduldiger, aufgeschlossener Ansprechpartner und einfühlsamer Chef, der durch seine allseits bekannte Fachkompetenz und zugleich unprätentiöse Persönlichkeit nachhaltig zu inspirieren vermag, war er mir Vorbild und Förderer bei der Entwicklung der Dissertation. Ihm danke ich besonders für die wohlgesonnene Erstellung des äußerst tiefgreifenden Erstgutachtens zu dieser Arbeit. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr. Bernhard Kempen, und zwar nicht nur für die unglaublich zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Schon in meinen ersten Vorlesungen als Student in Köln verstand er es schnell, meine Faszination für das Völkerrecht dauerhaft zu wecken. Mit großer Weitsicht vermittelt er seinen Studierenden die Notwendigkeit, auch sprachwissenschaftliche Einflüsse bei der Interpretation internationalen Rechts zu berücksichtigen. Meine Erkenntnisse aus einem seiner zahlreichen rechtslinguistischen Seminare haben sich nachhaltig auch auf diese Arbeit ausgewirkt. Neben dem fachlich ausgesprochen kompetenten Umfeld, in welchem ich mich am Lehrstuhl bewegen darf, hat sich vor allem die menschliche Atmosphäre innerhalb des Kollegenkreises als besonders fruchtbar für neue Ideen, kritische Dis-

6

Vorwort

kussionen und gegenseitige Unterstützung erwiesen. Daher gebührt dem gesamten Lehrstuhlteam mein aufrichtiger Dank für die hochklassige und vor allem freundschaftliche Zusammenarbeit. Besonders erwähnen möchte ich hier meine nicht nur räumlich engsten Mitstreiter, Dr. Lars Berster und Nikolaos Gazeas LL. M. (Auckland), mit welchen das Büro unseres „Triumvirats“ zu teilen eine kaum in Worte zu fassende Freude voller kreativer Inspiration war und ist! Hervorzuheben sind ferner Dr. Till Gut für seine große Hilfe im Umgang mit englischsprachiger Fachterminologie sowie Mareike Herrmann für den ausgezeichneten Gedanken- und Arbeitsaustausch auch im neben der Promotionszeit laufenden universitären Lehrbetrieb. Dr. Jan F. Orth hat mit großer Sorgfalt und bemerkenswerter Geduld das Manuskript zu dieser Arbeit korrekturgelesen; dies und der damit oft verbundene konstruktive Diskurs mit ihm waren mir immer eine wertvolle Hilfe. Für all dies gebührt ihm ein besonderer Dank. Meine Eltern, Christel und Wolfgang Schiffbauer, haben mir nicht nur während der Entstehungszeit der Dissertation uneingeschränkte Unterstützung zukommen lassen. So schufen sie das Fundament für den von mir nun beschrittenen Weg. Ihnen ist diese Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Schließlich konnte ich mir stets des großen Rückhalts von Nina Scislak sicher sein, die mich durch alle Phasen während der Promotionszeit mit großem Verständnis liebevoll begleitet hat. Herzlichen Dank dafür! Überdies möchte ich auch all diejenigen nicht vergessen wissen, welche namentlich hier aufzuführen zwar angemessen wäre, was gleichwohl aber den Rahmen dieses Vorworts sprengen würde. Köln, im Juni 2012

Björn Schiffbauer

Inhaltsübersicht Teil 1 Einleitung 1. Kapitel Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 B. Ziel dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung . . . . . . . . . 41 D. Verlauf der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Teil 2 Theoretische Grundlagen zu vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht 2. Kapitel Terminologie A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . 49 B. Auswertung der Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 D. Fazit: Definition für vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . 88 3. Kapitel Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung A. Der Weg über Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 B. Reaktive Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 E. Fazit: Untersuchungsrelevante Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

8

Inhaltsübersicht 4. Kapitel Der aktuelle Diskussionsstand

A. Überblick und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 C. Ereignisspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 E. Fazit: Der beachtliche Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Teil 3 Vorbeugende Selbstverteidigung im geltenden Völkerrecht – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung 5. Kapitel Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung A. Überblick und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 B. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 C. Die Quellen des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 D. Fazit: Allgemeines Untersuchungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6. Kapitel Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen A. Überblick und historischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 C. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 D. Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 E. Fazit: Der völkerrechtliche Besitzstand bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 7. Kapitel Vorbeugende Selbstverteidigung im mehrsprachigen Kontext von Art. 51 SVN A. Überblick über das aktuelle Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Inhaltsübersicht

9

C. Weitere Vertragsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 D. Fazit: Vorbeugende Selbstverteidigung und Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 8. Kapitel Die Praxis im modernen Völkerrecht A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 C. Weitere Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 D. Fazit: Auswertung der Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Teil 4 Abschluss der Untersuchung 9. Kapitel Zusammenfassung und Ausblick A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 B. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Summary: Preventive Self-Defence in International Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Dokumentenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einleitung 1. Kapitel Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I.

Annäherung an den Begriff der „vorbeugenden Selbstverteidigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

II.

„Vorbeugende“ und „reaktive“ Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

III. Vielschichtigkeit der Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 B. Ziel dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I.

Einige Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

II.

Bekenntnis zum Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

III. Trennung von Legalität und Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung . . . . . 41 I.

Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Situationsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

II.

Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Situationsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

III. Konstellation des abgestuften Eintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Situationsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Automatisiert-reaktive Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Situationsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Beachtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 D. Verlauf der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

12

Inhaltsverzeichnis Teil 2 Theoretische Grundlagen zu vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht 2. Kapitel Terminologie

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . 49 I.

Präventivkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

II.

Präventive Selbstverteidigung (preventive self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

III. Präemptive Selbstverteidigung (pre-emptive self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 IV. Antizipatorische Selbstverteidigung (anticipatory self-defence) . . . . . . . . . . . . 62 1. Definitionsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 V.

Proaktive Selbstverteidigung (proactive self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

VI. Aktive Selbstverteidigung (active self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 VII. Abfangende Selbstverteidigung (interceptive self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . 67 VIII. Einsetzende Selbstverteidigung (incipient self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 IX. Vorweggenommene Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 X.

Vorsorgliche Selbstverteidigung (precautionary self-defence) . . . . . . . . . . . . . 71

XI. Begriffsfeld Selbsterhaltung (vor allem: self-preservation) . . . . . . . . . . . . . . . . 72 XII. Notstand ([state of] necessity) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 XIII. Selbstverteidigungsnotstand (necessity of self-defence) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 XIV. Vorsichtsmaßnahme (measure of precaution) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 XV. Extraterritoriale Rechtsdurchsetzung (extra-territorial law enforcement) . . . . . 77 XVI. Repressalie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 B. Auswertung der Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I.

Erfolgsspezifische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

II.

Verursachungsspezifische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Insbesondere Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Insbesondere Völkerrechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

III. Die dieser Arbeit zu Grunde liegende Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 D. Fazit: Definition für vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht . . . . . . . . . 88

Inhaltsverzeichnis

13

3. Kapitel Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung A. Der Weg über Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 B. Reaktive Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 I.

Funktion von Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Gewaltverbot und Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Selbstverteidigung in der Systematik des allgemeinen Gewaltverbots . 92 b) Das allgemeine Gewaltverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Gewalt als völkerrechtlicher Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Ausprägungen von völkerrechtlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Zweck von Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

II.

Allgemeine Rechtmäßigkeitsanforderungen an reaktive Selbstverteidigung . . . 102 1. Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Objektive Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Selbstverteidigungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (1) Allgemeine Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 (2) Beschaffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 (3) Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Völkerrechtsverstoß eines Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 cc) Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 dd) Keine Treuwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 ee) Keine Kollision mit im Einzelfall vorrangigem Völkerrecht . . . . . 115 ff) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Selbstverteidigungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Richtige Zielrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 bb) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 cc) Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 dd) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Subjektive Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

III. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 IV. Beteiligungsformen von Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 I.

Drohungen zwischen Legalität und Illegalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

14

Inhaltsverzeichnis II.

Drohungen als Auslöser einer Selbstverteidigungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

III. Drohungen als Selbstverteidigungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 IV. Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Fallvariante (1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Fallvariante (2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 V.

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 I.

Mit reaktiver Selbstverteidigung übereinstimmende Anforderungen . . . . . . . . 133

II.

Für vorbeugende Selbstverteidigung gesondert zu analysierende Aspekte . . . . 134 1. Anwendbarkeit: doppelte Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Vorbeugende Selbstverteidigungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Vorbeugende Selbstverteidigungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Richtige Zielrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 c) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4. Qualifizierte Anforderungen an die Beweislast: Prognose . . . . . . . . . . . . . 142 5. Kollektive vorbeugende Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 E. Fazit: Untersuchungsrelevante Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Kapitel Der aktuelle Diskussionsstand A. Überblick und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I.

Desuetudo-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

II.

Zweckbedingte Ausschlusstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

III. Geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Vertragsbedingte Ausschlusstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 V.

Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

C. Ereignisspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Beschaffenheit des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Umstände des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

II.

Gemeinsamer Ursprung aller ereignisspezifischen Theorien: die Gegenwärtigkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Inhaltsverzeichnis

15

1. Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 III. Zeitpunktorientierte ereignisspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Absolute Imminenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Relative Imminenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . 170 IV. Wahrscheinlichkeitsorientierte ereignisspezifische Theorien . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Evidenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Indikationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Eindeutige Vorbereitungshandlungen (Fallgruppe 1) . . . . . . . . . . . 174 bb) Multiplikationslösung (Fallgruppe 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 cc) Bereits abgeschlossene Selbstverteidigungslage (Fallgruppe 3) . . 175 dd) Sonstige bereits erlittene Schädigungen (Fallgruppe 4) . . . . . . . . . 176 ee) Zusammenfassung: Der indikationsspezifische Verknüpfungs­ zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Latenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Die Zeit vor Veröffentlichung der NSS 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 bb) Die Zeit nach Veröffentlichung der NSS 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (1) Zum Inhalt der Bush-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (2) Begründung für einen Paradigmenwechsel angesichts neuer Bedrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (3) Der Zugang zu Massenvernichtungswaffen als Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (4) Die Rolle von Terroristen und „Schurkenstaaten“ als Indikator des potentiellen Angreifers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 cc) Die NSS 2010: Revision durch die Obama-Administration? . . . . . 195 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . 198 V.

Der Sonderfall: Die accumulation-of-events-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

16

Inhaltsverzeichnis I.

Die Theorie des gerechten Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Völkerrechtsgeschichtliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Gegenwärtige Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

II.

Der „Schuld-Ansatz“ von Cassese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

III. Konsequenzen der außerrechtlichen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 E. Fazit: Der beachtliche Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Teil 3 Vorbeugende Selbstverteidigung im geltenden Völkerrecht – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung 5. Kapitel Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung A. Überblick und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 B. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I.

Allgemeine Vorgaben der Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

II.

Insbesondere [F1] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

III. Insbesondere [F2] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 C. Die Quellen des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 I.

Rechtsquellen des Völkerrechts allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

II.

Art. 38 (1) IGH-Statut insbesondere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

III. Rangverhältnis der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 IV. Einfluss der Rechtsquellen auf die Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 a) Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Rechtsüberzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 D. Fazit: Allgemeines Untersuchungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6. Kapitel Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen A. Überblick und historischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 I.

Strikte Unterscheidung von Krieg und übriger Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

II.

Selbstverteidigung als Ausschluss für Staatenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . 232

Inhaltsverzeichnis

17

III. Rechtserheblichkeit versus „politische Entschuldigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Relativität des völkerrechtshistorischen Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Vermutung der Legalität freier Gewaltanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 IV. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 C. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 I.

Bi- und multilaterale Abkommen vor der Gründung des Völkerbundes . . . . . . 236 1. Die Anfangszeit nach dem Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 als Anlass für verstärkte Vertragsschlüsse 237 3. Der Verlauf im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert . . . . . . 238 4. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

II.

Die Satzung des Völkerbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

III. Anschlussabkommen an die SVB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 IV. Das Vertragswerk von Locarno 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 V.

Der Briand-Kellogg-Pakt 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

VI. Drei Konventionen über eine Aggressionsdefinition von 1933 . . . . . . . . . . . . . 246 VII. Das Abkommen von Nyon 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 VIII. Weitere bi- und multilaterale Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Keine universell gültige vertragsrechtliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2. Universelles Gewohnheitsrecht aus partiellem Vertragsrecht . . . . . . . . . . . 250 3. Gewohnheitsrecht neben dem Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 D. Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 I.

Das Vorgehen des Vereinigten Königreichs gegen die dänische Flotte in Kopenhagen 1807 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

II.

Zwei Handlungen der USA gegen spanisches Territorium 1817 . . . . . . . . . . . . 253

III. Die Monroe-Doktrin 1823 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 IV. Der Caroline-Vorfall 1837 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Die historischen Geschehnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Die diplomatische Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) 05.01.1838 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) 06.02.1838 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 c) 21.02.1838 und 25.03.1839 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 d) 24.04.1841 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 e) 27.07.1842 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 f) 28.07.1842 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 g) 06.08.1842 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 V.

Der Pelzrobben-Schiedsspruch 1893 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

18

Inhaltsverzeichnis VI. Der spanisch-amerikanische Krieg 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 VII. Handlungen des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 VIII. Das Vorgehen der USA auf mexikanischem Territorium zwischen 1916 und 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IX. Der griechisch-bulgarische Konflikt 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 X.

Die japanische Invasion in die Mandschurei 1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

XI. Der Abessinien-Krieg 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 XII. Vorbeugende Selbstverteidigung im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Die Verminung norwegischer Küstengewässer durch das Vereinigte Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 2. Die britische Operation Catapult gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 3. Die britische Besetzung Islands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 4. Die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 b) Tokio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 E. Fazit: Der völkerrechtliche Besitzstand bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 7. Kapitel Vorbeugende Selbstverteidigung im mehrsprachigen Kontext von Art. 51 SVN A. Überblick über das aktuelle Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I.

Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

II.

Insbesondere Art. 2 (4) SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 I.

Vertragstext der SVN und Regelungen der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

II.

Die fünf autoritativen Sprachfassungen der SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Grundlagen eines Textvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Vergleich der autoritativen Sprachfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 a) Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Französisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 c) Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 d) Russisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 e) Chinesisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3. Auswertung des Sprachfassungsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 a) Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 b) Grundsätzliche Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 c) Auslöservorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Inhaltsverzeichnis

19

III. Auslegung der Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 1. Auslegungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 a) Von „Restriktivisten“ und „Gegen-Restriktivisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . 307 b) Vorzugswürdige Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Unmittelbarer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 aa) Ordinary meaning rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 bb) Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 aa) Zusammenhang mit dem Gesamttext von Art. 51 SVN . . . . . . . . . 314 bb) Zusammenhang mit Art. 2 (4) SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 cc) Zusammenhang mit Kapitel VII SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 c) Ziel und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 d) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Mittelbarer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 a) Die vertretenen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 aa) Verdrängungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 bb) Koexistenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 (1) Streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie . . . . . . . . . . . . . 322 (2) Eingeschränkt-vertragsvorrangige Koexistenztheorie . . . . . . . 324 cc) Identitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 b) Interpretation im Lichte der Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 aa) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 bb) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 (1) Zusammenhang mit dem Gesamttext von Art. 51 SVN . . . . . 331 (2) Insbesondere das Recht der Staatenverantwortlichkeit . . . . . . 333 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 cc) Ziel und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 c) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 IV. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 C. Weitere Vertragsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 D. Fazit: Vorbeugende Selbstverteidigung und Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

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Inhaltsverzeichnis 8. Kapitel Die Praxis im modernen Völkerrecht

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 I.

Einflussmöglichkeiten der Praxis auf das aktuelle Zwischenergebnis . . . . . . . . 343 1. Relevanz für Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 c) Grenzen des Praxiseinflusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Relevanz für das Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

II.

Arten der heranzuziehenden Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

III. Bedeutung übereinstimmender Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 1. Übereinstimmung als relativer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 2. Übereinstimmung nach Gewichtungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3. Anwendung der Gewichtungsregeln in der Praxisermittlung . . . . . . . . . . . 359 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 I.

Die Praxis vor dem 11. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 1. Der Beginn des Konflikts um Jammu und Kaschmir 1947/48 . . . . . . . . . . 362 2. Der Konflikt um den Suez-Kanal 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 3. Der Konflikt zwischen Tunesien und Frankreich 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . 366 4. Die Entsendung britischer Streitkräfte nach Jordanien 1958 . . . . . . . . . . . 368 5. Die Kuba-Krise 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 6. Das britische Vorgehen im Jemen 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 7. Das US-amerikanische Vorgehen in Nordvietnam 1964 . . . . . . . . . . . . . . . 372 8. Die US-amerikanische Intervention in der Dominikanischen Republik 1965 373 9. Der sog. „Sechs-Tage-Krieg“ 1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 10. Das Vorgehen Portugals gegen Guinea, Sambia und den Senegal 1969 . . . 376 11. Die US-amerikanische Intervention in Kambodscha 1970 während des Vietnamkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 12. Das Vorgehen Israels gegen palästinensische Flüchtlingslager auf dem Gebiet des Libanon 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 13. Das Vorgehen Israels zur Rettung eigener Staatsbürger am Flughafen von Entebbe 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 14. Der Beginn des ersten Golfkrieges 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 15. Das israelische Bombardement des irakischen Atom-Reaktors Osiraq (Tamuz-I) 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 16. Das israelische Vorgehen im Libanon 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382

Inhaltsverzeichnis

21

17. Das israelische Vorgehen im Libanon 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 18. Die US-amerikanische Intervention in Grenada 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 19. Die militärischen Handlungen Israels gegen das Hauptquartier der PLO in Tunesien 1985 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 20. Die US-amerikanischen Militärmaßnahmen gegen Ziele in Libyen 1986 . 386 21. Die gewaltsamen Interventionen Südafrikas in seine Nachbarstaaten zwischen 1976 und 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 22. Die US-amerikanische Intervention in Panama 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 23. Das US-amerikanische Bombardement eines Gebäudes des irakischen Geheimdienstes 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 24. Die US-amerikanischen Zerstörungshandlungen gegen Terroristen­ ausbildungslager in Afghanistan und eine Fabrik im Sudan 1998 . . . . . . . 392 25. Die Rolle Belgiens im Kosovo-Einsatz der NATO 1999 . . . . . . . . . . . . . . . 393 II.

Handlungen und Reaktionen rund um die Terroranschläge des 11. September 2001 394 1. Die US-geführte Invasion in Afghanistan 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 2. Die Veröffentlichungen der USA rund um die NSS 2002 und die ent­ sprechenden Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 3. Der Disput zwischen Australien und einigen südostasiatischen Staaten nach den Anschlägen von Bali 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 4. Der Drohnenbeschuss im Jemen durch die USA 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . 401 5. Das Vorgehen der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak 2003 . . . . . . . . 402 6. Das militärische Konzept der NATO zur Verteidigung gegen den Terrorismus von 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 7. Die EU-Sicherheitsstrategie von 2003 und der Bericht zu ihrer Umsetzung 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 8. Die Reaktion der Russischen Föderation auf das Attentat auf eine Schule in Beslan 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 9. Die Veröffentlichungen der USA rund um die NSS 2006 . . . . . . . . . . . . . . 408 10. Der US-amerikanische Kampfhubschrauber-Einsatz in dem syrischen Ort Abu Kamal 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 11. Exemplarisch: Die Drohnenbeschüsse im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan durch die USA 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 12. Die NSS 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 13. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

III. Die weitere Praxis nach dem 11. September 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 1. Der militärische Einsatz Israels in Syrien 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 2. Israels Disengagement Plan von 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 3. Der israelische Militärschlag gegen Syrien 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 4. Der Militäreinsatz Kolumbiens auf dem Territorium von Ecuador 2008 . . 416 5. Grenzüberschreitende Gewalt gegen kurdische Rebellen im Nord-Irak seit Entstehung der PKK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418

22

Inhaltsverzeichnis 6. Die Sicherheitsstrategie des Vereinigten Königreichs 2010 . . . . . . . . . . . . 420 7. Das strategische Konzept der NATO 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 IV. Zusammenfassung und Überprüfung des Zwischenergebnisses zu [F1] und [F2] 423

C. Weitere Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 I.

Die Rechtsprechung des IGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 1. Der Korfu-Kanal-Fall: IGH-Urteil von 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 2. Der Nicaragua-Fall: IGH-Urteil von 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 3. Das IGH-Atomwaffengutachten von 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 4. Der Gabčíkovo-Nagymaros-Fall: IGH-Urteil von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . 431 5. Der Ölplattform-Fall: IGH-Urteil von 2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 6. Der israelische Mauerbau: IGH-Gutachten von 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 7. Der Kongo/Uganda-Fall: IGH-Urteil von 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

II.

Der VN-Weltgipfel 2005 als aktueller Einfluss der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 1. Bericht des High-Level Panels on Threats, Challenges and Changes . . . . . 442 2. „In larger freedom“: Der Bericht von VN-Generalsekretär Annan . . . . . . . 443 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

D. Fazit: Auswertung der Rechtsermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Teil 4 Abschluss der Untersuchung 9. Kapitel Zusammenfassung und Ausblick A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 B. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Summary: Preventive Self-Defence in International Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Dokumentenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten Abbildung 1: Das Ereignis zwischen Zeitpunkt (X-Achse) und Wahrscheinlichkeit (Y-Achse) seines Eintritts in grafischer Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abbildung 2: Die Gegenwärtigkeitstheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Abbildung 3: Die absolute Imminenztheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abbildung 4: Ausformungen der relativen Imminenztheorie grafisch aufgearbeitet . . 169 Abbildung 5: Die Evidenztheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Abbildung 6: Die Indikationstheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Abbildung 7: Die Latenztheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abbildung 8: Die accumulation-of-events-Doktrin grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . 199 Abbildung 9: Die accumulation-of-events-Doktrin unter spezifisch vorbeugendverteidigenden Aspekten grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abbildung 10: Die beispielhafte Ermittlung eines Übersetzungsergebnisses der Begriffe für „Selbstverteidigung“ aus der Kongruenz zweier Synonymfelder . . . 301 Abbildung 11: Die Verdrängungstheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Abbildung 12: Die streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie grafisch aufgearbeitet 323 Abbildung 13: Die eingeschränkt-vertragsvorrangige Koexistenztheorie grafisch auf­ gearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Abbildung 14: Die Identitätstheorie grafisch aufgearbeitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

Übersicht 1:

Prüfungsschema vorbeugender Selbstverteidigung mit offenen für vorbeugende Selbstverteidigung gesondert zu analysierenden Aspekten . . . 134

Übersicht 2:

Prüfungsschema vorbeugender Selbstverteidigung mit den für die Frage ihrer Rechtmäßigkeit offenen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Übersicht 3:

Relevante Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Übersicht 4:

Erstes Zwischenergebnis zu den relevanten Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . 158

Übersicht 5:

Zweites Zwischenergebnis zu den relevanten Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung . . . . . . . . . . . . . . 212

24

Verzeichnis der Abbildungen und Übersichten

Übersicht 6:

Die Umschreibung von „self-defence“ in der englischen Sprachfassung von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

Übersicht 7:

Die Umschreibung von „légitime défense“ in der französischen Sprachfassung von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Übersicht 8:

Die Umschreibung von „legítima defensa“ in der spanischen Sprach­ fassung von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Übersicht 9:

Die Umschreibung von „самооборону“ in der russischen Sprach­ fassung von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Übersicht 10: Die Umschreibung von „自卫“ („zìwèi“) in der chinesischen Sprach­ fassung von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Übersicht 11: Die Gegenüberstellung der für die Eigenschaft des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller autoritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Übersicht 12: Die Gegenüberstellung der für die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller autoritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Übersicht 13: Die Gegenüberstellung der in dieser Arbeit für den Auslöservorbehalt des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller auto­ ritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abschn. a. E. a. F. AJIL AMexDI ANC Art. ASIL ASIL Proc. Aufl. AustralianYIL AVR AZJICL Bd. BerkeleyJIL BVerfGE CardozoJICL ColumbiaJTL CornellILJ CWRJIL DenverJILP DenverLJ ders./dies. Diss. DocUNCIO DÖV Ethics&IntAff EU EuForeignAffR EuGRZ f., ff. FARC

andere Auffassung Abschnitt am Ende alte Fassung American Journal of International Law Anuario Mexicano de Derecho Internacional African National Congress (südafrikanische Partei) Artikel American Society of International Law American Society of International Law Proceedings Auflage Australian Year Book of International Law Archiv des Völkerrechts Arizona Journal of International and Comparative Law Band Berkeley Journal of International Law Amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts Cardozo Journal of International and Comparative Law Columbia Journal of Transnational Law Cornell International Law Journal Case Western Reserve Journal of International Law Denver Journal of International Law and Policy Denver Law Journal derselbe/dieselbe(n) Dissertation Documents of the United Nations Conference on International Organization Die Öffentliche Verwaltung Ethics and International Affairs Europäische Union European Foreign Affairs Review Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgende(r) Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia; kolumbianische bewaffnete Revolutionstruppen Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ Fn. Fußnote ForeignAff Foreign Affairs FS Festschrift gem. gemäß GeorgetownJIL Georgetown Journal of International Law Gedächtnisschrift GS

26 GYIL h.A. Habil.-Schr. HanseLR HarvardJLPP HastingsICLR Hervorh. Hg. HoustonJIL HuV IAEA ibid. ICJ Rep. ICLQ i. d. F. i. e. S. IGH ILC IndianaICLR insb. IntAff IP IsraelLR i. S.(v.) IStGH i. Ü. i. V. m. IYHR JA JCSL Jhrg. JICJ JöR JPolPhil JSPL Kap. KJ krit. LA lit. MaineLR MichiganJIL MidEastJ MilitaryLR MinnesotaJIL MiskolcJIL MPEPIL

Abkürzungsverzeichnis German Yearbook of International Law herrschende Ansicht Habilitationsschrift Hanse Law Review Harvard Journal of Law & Public Policy Hastings International and Comparative Law Review Hervorhebung Herausgeber Houston Journal of International Law Humanitäres Völkerrecht (Zeitschrift) International Atomic Energy Agency; Internationale Atomenergiebehörde ibidem; ebenda International Court of Justice, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders; amtliche Entscheidungssammlungen des IGH International and Comparative Law Quarterly in der Fassung im eigentlichen Sinn; im engeren Sinn Internationaler Gerichtshof International Law Commission; Völkerrechtskommission Indiana International and Comparative Law Review insbesondere International Affairs Internationale Politik Israel Law Review im Sinne (von) Internationaler Strafgerichtshof im Übrigen in Verbindung mit Israel Yearbook on Human Rights Juristische Arbeitsblätter Journal of Conflict and Security Law Jahrgang Journal of International Criminal Justice Jahrbuch des öffentlichen Rechts Journal of Political Philosophy Journal of South Pacific Law Kapitel Kritische Justiz kritisch Liber amicorum littera, Buchstabe Maine Law Review Michigan Journal of International Law Middle East Journal Military Law Review Minnesota Journal of International Law Miskolc Journal of International Law Max Planck Encyclopedia of Public International Law

Abkürzungsverzeichnis

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Max Planck Yearbook of United Nations Law mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organisation Naval Law Review Notre Dame Law Review Netherlands International Law Review Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht New York Law School Journal of International and Comparative Law Neue Zeitschrift für Wehrrecht Organisation Amerikanischer Staaten Pace International Law Review Permanent Court of International Justice, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders; amtliche Entscheidungssammlungen des StIGH Philosophy & Public Affairs PhilPublAff Partiya Karkerên Kurdistan; kurdische Arbeiterpartei PKK PLO Palestine Liberation Organization; Palästinensische Befreiungs‑ organisation PolS Politische Studien RCADI Recueil des Cours de l’Académie de Droit International Revista Colombiana de Derecho Internacional RCDI REDI Revista Española de Derecho Internacional Res. Resolution RGBl. Reichsgesetzblatt Revue Générale du Droit International Public RGDIP Rn. Randnummer RPSC Repertoire of the Practice of the Security Council S. Satz/Seite s. siehe SDILJ San Diego International Law Journal Slg. Sammlung s. o. siehe oben Seerechtsübereinkommen SRÜ (deutsches) Strafgesetzbuch StGB StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof SVB Satzung des Völkerbundes Satzung der Vereinten Nationen (UN-Charta) SVN SZ Süddeutsche Zeitung TIP Transatlantic Internationale Politik (globale Ausgabe der Zeitschrift IP) und andere/unter anderem u. a. UN United Nations UN Doc. UN Document; Dokument der Vereinten Nationen Univ. Universität UQueenslandLJ The University of Queensland Law Journal v. von VanderbiltJTL Vanderbilt Journal of Transnational Law Verfasser Verf. VirginiaJIL Virginia Journal of International Law

MPUNYB m. w. N. NATO NavalLR NDLR NILR NJW NVwZ NYLSJICL NZWehrr OAS PaceILR PCIJ Rep.

28 VN Vol. WHO WisconsinILJ WQ WS WVK WyomingLR YaleJIL YBILC ZaöRV ZfP Ziff. zit. ZöR ZRP ZStW zugl. zutr.

Abkürzungsverzeichnis Vereinte Nationen (zugl.: Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen) Volume World Health Organisation; Weltgesundheitsorganisation Wisconsin International Law Journal The Washington Quarterly The Weekly Standard Wiener Vertragsrechtskonvention Wyoming Law Review Yale Journal of International Law Yearbook of the International Law Commission; Jahrbuch der ILC Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Politik Ziffer zitiert Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zugleich zutreffend

„Homo homini lupus.“1 „Die Stärke des Rechts ist über das Recht des Stärkeren zu stellen.“2

Teil 1

Einleitung 1. Kapitel

Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen A. Einführung Gewalt ist das ursprüngliche Mittel des Stärkeren gegen den Schwächeren, denn die absolute Herrschaft über Gewalt bedeutet Macht. Damit wird Gewalt immer dann zum Recht des Stärkeren, wenn sie keinen Regeln unterworfen ist3. Der Mensch kann dem Menschen wahrlich ein Wolf sein. Daher ist Gewalt heutzutage allgemein reglementiert4: Im menschlichen Gemeinwesen hat eine höhere Autorität – üblicherweise der Staat – das Gewaltmonopol über seine Mitglieder, um ein gedeihliches Zusammenleben sicherzustellen. Eine Stufe darüber – im Beziehungsgeflecht der Gewaltmonopolisten – gilt heute aus den gleichen Motiven heraus Entsprechendes: Auch im Völkerrecht ist Gewalt reglementiert, es herrscht ein universelles Gewaltverbot, welches besonders in Art. 2 (4) SVN5 seinen Ausdruck findet6. Es ist eine der wesentlichen Aufgaben des Völkerrechts, die Regeln zur Gewaltanwendung zu bestimmen; das Völkerrecht ist das Fundament eines funktionierenden staatlichen Zusammenlebens. Das anlässlich der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 2002 mit neuem Leben erfüllte Prinzip, dass die Stärke des Rechts dem Recht des Stärkeren übergeordnet ist, gilt deshalb auch und besonders für die Regeln über die Gewaltanwendung im Völkerrecht. Die Welt hängt in ihrer Existenz davon ab, dass sie ein Raum des Rechts und nicht 1 Dies entspricht einem wesentlichen Teil der Philosophie von Hobbes, zurückgehend auf ein Sprichwort aus dem antiken Griechenland; vgl. die Widmung Hobbes’ an William Cavendish in seinem Werk De Cive, z. B. in: Hobbes, De Cive – The English Version, S. 25. 2 Als Leitmotiv vor allem des Völkerstrafrechts und i. V. m. der Gründung des IStGH hervorgehoben u. a. von Zypries, Eröffnungsvortrag Fachtagung Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen (27.06.2003). 3 Vgl. instruktiv Gießmann, Alles was Recht ist?, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 9 ff., krit. differenzierend – allerdings aus politischer Sicht – hingegen Haller, Angelpunkt „Recht“, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 294 ff. 4 s. dazu auch Deiseroth, Rolle des Völkerrechts, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 251 ff. (251 f.). 5 BGBl. 1973 II, S. 431. 6 Zu Art. 2 (4) SVN s. u. 3. Kap. B. I. 1. b).

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

die sprichwörtliche Steppe von sich bekämpfenden Wölfen ist. Vor diesem Hintergrund unterscheiden sich nationales und internationales Recht kaum; ihre jeweiligen Rechtssubjekte obliegen aus der Notwendigkeit ihrer eigenen dauerhaften Existenz heraus gewissen Regeln. Innerhalb dieser Regeln ist jeweils ein grundsätzliches Verbot der Gewaltanwendung wesentlich. Doch auch hier gilt: Es gibt keinen Grundsatz ohne Ausnahme. So sind nach heute allgemeiner Ansicht vom völkerrechtlichen Gewaltverbot jedenfalls Handlungen nach Autorisierung durch den VN-Sicherheitsrat oder solche auf Grund von Selbstverteidigung7 ausgenommen8. Erstere leiten ihre Berechtigung aus einer konkreten Einzelfallentscheidung des wohl mächtigsten Organs im Völkerrecht ab; ein rechtlicher Zwischenakt ist dabei also stets erforderlich. Diesem vorausgegangen ist in der Regel ein umfangreiches Verfahren im VN-Sicherheitsrat mit genauer Prüfung der Sachlage und intensiven Verhandlungen. Letztere hingegen ergeben sich unmittelbar aus dem geltenden Völkerrecht9 und werden (jedenfalls zunächst) ohne Beteiligung eines übergeordneten Organs durch die betroffenen Staaten10 selbst ausgeführt. Selbstverteidigung ist also die einzige Möglichkeit der Staaten, auf Grund einer eigenen freien Entscheidung rechtmäßig Gewalt anzuwenden. Hier liegt es im Machtbereich des Gewaltbereiten, subjektiv zu bestimmen, ob die objektiven Kriterien der Selbstverteidigung erfüllt sind11. Diese Tatsache birgt klare Gefahren, und zwar umso mehr, je größer die Feindseligkeiten im internationalen Beziehungsgeflecht sind. Seitdem es das Recht12 auf Selbstverteidigung gibt, wird es – zum Teil offenkundig13 – missbraucht. So verwundert es nicht, dass die konkreten objektiven Voraussetzungen einer rechtmäßigen gewalt-

7 Unter Selbstverteidigung ist dem allgemeinen völkerrechtlichen Verständnis nach jedenfalls nur das verteidigende Vorgehen auf internationaler Ebene zu verstehen, denn jeder Staat ist in seinen Handlungen innerhalb seines eigenen Herrschaftsbereichs grundsätzlich frei; vgl. hierzu schon klarstellend Bowett, Self-Defense, S.  21, der zwischen internationaler „active“ und innerstaatlicher „passive self defense“ unterscheidet. 8 Darauf wird u. genauer einzugehen sein unter 3. Kap. B. I. 9 Die genauen Rechtsgrundlagen der Selbstverteidigung und ihr Verhältnis untereinander sollen an dieser Stelle noch nicht interessieren; relevant ist nur, dass Selbstverteidigung wesentlicher Bestandteil des universell geltenden Völkerrechts ist, vgl. nur Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (375). 10 Der Klarheit halber wird hier von den Staaten als jedenfalls grundsätzliche Adressaten des Völkerrechts und insb. des Selbstverteidigungsrechts ausgegangen. Dass eine solche Ansicht aber nicht zwingend ist, bewiesen zuletzt Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 129, 145 f.; vgl. hierzu auch Rawls, Das Recht der Völker, insb. S. 26 ff. 11 Zumindest dieser nicht unerhebliche Aspekt ist eine historisch gefestigte Konstante im Recht der Selbstverteidigung, vgl. einerseits bereits Lauterpacht, Function of Law, S. 177 ff., und andererseits exemplarisch Pellet, Recours à la force, in: FS-Bothe, S. 249 ff. (252). 12 s. zum Rechtscharakter der Selbstverteidigung statt vieler nur jüngst Kittrich, Self-­ Defense, S. 18 ff., m. w. N. 13 Man denke nur an die Propaganda Nazi-Deutschlands zum Überfall auf Polen am 1. September 1938 und Hitlers berühmte Stellungnahme vor dem Reichstag: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“

A. Einführung

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samen Handlung am Maßstab der völkerrechtlichen Selbstverteidigung hoch umstritten sind14. Von der Frage der Rechtmäßigkeit einzelner Gewalthandlungen sind im Übrigen Konsequenzen auf verschiedenen Sanktionsebenen abhängig: Erstens kann rechtswidrige Gewaltanwendung originär völkerrechtlich zur Sanktionierung des gewaltsam handelnden Staates führen. Zweitens könnten im Falle einer tat­bestandlichen Erfüllung des an die Gewalthandlung anknüpfend qualifiziert zu prüfenden Verbrechens der Aggression zukünftig den hierfür verantwortlichen Individuen völkerstrafrechtliche Konsequenzen drohen15. Nicht erst seit der Veröffentlichung der nationalen Sicherheitsstrategie (fortan: NSS)16 der Vereinigten Staaten unter dem seinerzeitigen Präsidenten George W. Bush im Jahr 2002 – wohl aber durch sie neu entfacht – herrscht auch deshalb besonders große Uneinigkeit über die Frage, wann man schon Gewalt anwenden darf. Über die so genannte „vorbeugende Selbstverteidigung“ als Spezialfall des Selbstverteidigungsrechts wird daher in all ihren denkbaren Facetten gestritten, jedoch ohne dass bislang ein eindeutiges Ergebnis absehbar wäre. Angesichts der Vielschichtigkeit dieses Problemfeldes vermag dies indes kaum zu verwundern. I. Annäherung an den Begriff der „vorbeugenden Selbstverteidigung“ Befasst man sich eingehender mit dieser Thematik, so drängt sich zu Beginn unweigerlich die Frage auf, was genau mit dem Begriffspaar „vorbeugende Selbstverteidigung“ gemeint sein könnte. Auch wenn es sich hierbei nicht um einen Begriff im Zusammenhang mit einem völkerrechtlichen Vertrag handelt, so ist doch für eine erste Annäherung an dessen Bedeutung das erste Prinzip der völkerrechtlichen Vertragsauslegung hilfreich: die ordinary meaning rule17. Sie ist kodifiziert in Art. 31 (1) der Wiener Vertragsrechtskonvention18 (WVK), gilt ebenso gewohnheitsrechtlich19 und ordnet als Ausgangspunkt einer Vertragsauslegung die Bezugnahme auf die jeweilige gewöhnliche Wortbedeutung aus dem allgemeinen

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Streitbar zuletzt Kühn, Präventive Gewaltanwendung, passim. Der Tatbestand des im Falle des Angriffskrieges als qualifizierte Gewalthandlung damit einhergehenden völkerstrafrechtlichen Verbrechens der Aggression war lange in seiner Ausprägung umstritten (vgl. z. B. Kreß/Wannek, Zum IStGH, S. 231 ff.) und ist weiterhin zumindest bis zum Jahr 2017 nicht vor dem IStGH justiziabel. Doch sind die Anforderungen an dieses „supreme international crime“ nach dem Erfolg der Vertragsstaatenkonferenz von Kampala im Juni 2010 und dem dort verabschiedeten neuen Art. 8 bis IStGH-Statut nun deutlich als „manifest violation“ der SVN umrissen, vgl. instruktiv zu dieser Entwicklung Kreß/von Holtzendorff, JICJ 8 (2010), S. 1179 ff. (insb. 1201 ff.). 16 NSS 2002, passim, erneuert durch NSS 2006. 17 Vgl. hierzu Köck, Vertragsinterpretation, S. 45 f. und 86 ff. 18 BGBl. 1985 II, S. 926; 1987 II, S. 757; vgl. zur Entstehung der WVK Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 ff.; Villiger, VCLT, History, Rn. 1 ff. 19 s. darauf näher eingehend u. 7. Kap. B. I.

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

Sprachgebrauch an20. Als im Übrigen methodologisches Prinzip21 zur Auslegung von Rechtsbegriffen ist sie die ideale Einstiegshilfe zur Bestimmung vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht. Daher sind zunächst die gewöhnlichen – natürlichen22 – Bedeutungen der beiden Wörter „vorbeugend“ und „Selbstverteidigung“ zu bestimmen. Doch mutet schon die Kombination der Wörter „vorbeugend“ und „Selbst­ verteidigung“ per se paradox an, scheinen sich doch beide Begriffsglieder gegenseitig auszuschließen: „Selbstverteidigung“ bezeichnet dem gewöhnlichen Wortlaut nach die Abwehr eines gegen das Opfer gerichteten Angriffs durch eben dieses Opfer selbst23. Dies belegt aus völkerrechtlicher Sicht bereits die oberflächliche Wortlautanalyse von Art. 51 SVN: „… im Falle eines bewaffneten Angriffs …“24. Verteidigung setzt daneben auch nach natürlicher Betrachtungsweise begriffs­logisch einen bestehenden Angriff voraus. „Vorbeugen“ – wörtlich zu ver­ stehen als „ein Körperteil oder sich (selbst) nach vorne bewegen“ sowie mit der ursprünglich militärischen Bedeutung „den Weg versperren“ – bezeichnet dagegen das vorsorgliche Einschreiten als Schutzmaßnahme gegen den Eintritt eines un­ erwünschten Zustandes25. Die Vorbeugung möchte also gerade den Schadenseintritt vorsorglich verhindern, dessen unmittelbarer Auslöser zugleich notwendige Voraussetzung für die (Selbst-)Verteidigung ist. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass der unerwünschte Zustand  – Schadens­ eintritt – und dessen letzte direkte Ursache nicht zwingend identisch sein oder zeitlich parallel auftreten müssen, sondern zwei unterschiedliche Faktoren sind. Häufig vergehen zwar zwischen Auslöser und Schaden nur Sekundenbruchteile – man denke nur an einen nah am Zielobjekt abgefeuerten Pistolenschuss –, doch kann der Auslöser als letzte Schadensursache durchaus auch zeitlich deutlich vor dem Schaden selbst in Erscheinung treten, wie z. B. bei einer unwiderruflich in Be­ wegung gesetzten und automatisch über mehrere Kontinente gesteuerten Langstreckenrakete. Verteidigung berücksichtigt bei natürlicher Betrachtung diese beiden Gegebenheiten, denn sie erfolgt gleichermaßen final zur Verhinderung des Schadenseintrittes und direktional gegen den Auslöser26. Dabei ist es nach dem soeben Vergegenwärtigten durchaus denkbar, dass noch kein Schaden eingetreten 20 Art. 31 (1) WVK lautet in seiner u. a. autoritativen englischen Version: „A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to the terms of the treaty in their context and in the light of its object and purpose.“ s. dazu auch Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 9 f. 21 Darauf hinauslaufend Köck, Vertragsinterpretation, S. 56 ff. und 95 f. 22 Köck, Vertragsinterpretation, S. 46. 23 Wahrig, S. 1346. 24 Zu den im Gegensatz zur deutschen Fassung autoritativen Versionen der SVN s. u. 3. Kap. B. I. 1. b). 25 Duden, S. 1939; Wahrig, S. 1610. 26 Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 108. Der direktionale Charakter des Selbstvertei­ digungsrechts ergibt sich i. Ü. aus dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, vgl. nur Kreß, JCSL 15 (2010), S. 245 ff. (250); s. zur Verhältnismäßigkeit i. Ü. u. 3. Kap. B. II. 2. b) dd).

A. Einführung

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ist, gleichwohl aber schon gegen den Auslöser, der das Geschehen unwiderruflich in Gang gesetzt – plastisch ausgedrückt: abgefeuert – hatte, vorgegangen wurde. Diese Art der Verteidigung ist nicht als vorbeugend zu bezeichnen, weil sie trotz eines (noch) nicht eingetretenen Schadens nicht vorsorglich, sondern im Gegenteil als Reaktion auf das bereits den Schaden auslösende Ereignis erfolgte. Als vorbeugend zu charakterisieren ist eine Maßnahme zur Verhinderung eines Schadens erst dann, wenn sie auf Grund – oder trotz! – eines (noch) nicht realisierten auslösenden Ereignisses gegen den vermeintlich zukünftigen Auslöser durchgeführt wurde. In finaler Hinsicht ändert sich dabei nichts, denn der Verteidigungszweck bleibt erhalten. Lediglich in direktionaler Hinsicht darf eine Verteidigung dem natürlichen Wortsinne nach bezweifelt werden, weil sich (noch) kein Auslöser des zu verhindernden Schadens manifestiert hat und somit auch nicht gegen einen solchen vorgegangen werden kann. „Vorbeugende Selbstverteidigung“ ist bei näherer Betrachtung also angesichts ihres direktionalen Defizits semantisch eher ein „halbes“ Paradoxon. Daher wird die Existenz einer wie auch immer gearteten vorbeugenden Selbstverteidigung nicht von Anfang an als offenkundig substanzlos zu leugnen sein. Es ist also müßig sich mit dem vordergründigen Wort(un)sinn dieser Kombination auseinanderzusetzen27. Ganz im Sinne der ordinary meaning rule verbleibt das Augenmerk auf der gewöhnlichen Bedeutung der beiden Wörter. Daher genügt an dieser Stelle zur anschließenden Verdeutlichung der einhergehenden Probleme eine natürliche  – untechnische – Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung, nämlich als Gewaltanwendung gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser zur Verhinderung eines bei ungehindertem Geschehensablauf durch dessen Gewalt verursachten Schadens28. II. „Vorbeugende“ und „reaktive“ Selbstverteidigung Nach dieser begrifflichen Annäherung drängt sich ein Vergleich zu allgemeiner  – d. h. reaktiver29  – Selbstverteidigung auf. Ein erstes Abgrenzungsproblem hierzu ergibt sich bereits dann, wenn sich in einem Handlungsgrund – subjektiv – sowohl vorbeugende als auch reagierende Motive vereinigen. In der Regel dürfte es allerdings für einen sich generell „im Recht“ wähnenden Akteur eher eine Frage von sekundärer Wichtigkeit sein, ob seine Motivation von Vorbeugung oder Reaktion bestimmt ist. Wichtig für den sich (vorbeugend) Verteidigenden ist vielmehr 27 Im weiteren Verlauf ist freilich eine fein ziselierte Begriffsanalyse zur Konturenschärfung der Thematik unabdingbar; mehr dazu u. 2. Kap. A. 28 Dieses zunächst natürliche Verständnis erschließt sich besonders im Vergleich zum nationalen Recht, vor allem im Hinblick auf die im deutschen Strafrecht gelegentlich diskutierte „präventive Notwehr“. Vgl. hierzu vor allem Suppert, Notwehr und notwehrähnliche Lage, S. 356 ff., dessen Argumentation eben diese natürliche Betrachtungsweise zu Grunde legt. 29 So bezeichnet von Kunde, Präventivkrieg, S. 136 (dort Fn. 336).

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

seine subjektive Überzeugung von der Rechtmäßigkeit seines Handelns im Hinblick auf den final vorhandenen Verteidigungscharakter. Aber auch objektiv betrachtet kann es angesichts der aktuellen weltpolitischen Gemengenlage schwerfallen, Angreifer und Verteidiger überhaupt zu unterscheiden30. Die bereits zur allgemeinen Selbstverteidigung erwähnte Missbrauchs­ gefahr ist bei möglicher vorbeugender Selbstverteidigung mangels eindeutiger Anknüpfungspunkte noch weitaus größer. Daher ist es durchaus denkbar, dass sich unter dem Deckmantel der vorbeugenden Selbstverteidigung in Wahrheit eine Angriffshandlung verbirgt. Lediglich ein Angriffskrieg als qualifizierte Angriffshandlung lässt sich entgegen einiger Bekundungen in diese Richtung31 mangels der dazu tatbestandlich erforderlichen qualifizierenden Elemente32 kaum durch die Behauptung vorbeugender Selbstverteidigung kaschieren. Abgesehen von solchen Extremfällen ist unsanktionierter Missbrauch weiterhin wahrscheinlich. Dabei sollte solcher Missbrauch gerade durch das mit Gründung der Vereinten Nationen errichtete System kollektiver Sicherheit verhindert werden; immerhin darf der Sicherheitsrat auch vorbeugende Gewaltanwendung zulassen. Die praktischen Erfahrungen mit dem Sicherheitsrat als zugedachten Hüter des Gewaltmonopols33 zeigten diesem System jedoch häufig seine Grenzen auf, sodass es vermehrt der Wahrnehmung des an sich subsidiären34 Selbstverteidigungsrechts bedurfte. Ein unklar definiertes und damit in der Praxis immer weiter ausuferndes Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung kann dem System kollektiver Sicherheit weiteren Schaden zufügen, indem durch zunehmende Inanspruchnahme das Primat der – auch vorbeugenden – Gewaltanwendung schleichend vom Sicherheitsrat auf die Staaten überführt wird35. Dies würde einem faktischen Rückfall in Zeiten freier Gewaltanwendung gleichkommen, den es unbedingt zu verhindern gilt. Grund­ voraussetzung dafür ist die klare Übersicht über Recht und Wirklichkeit der internationalen Beziehungen. III. Vielschichtigkeit der Fakten In Wahrheit ist die völkerrechtliche und tatsächliche Lage äußerst unübersichtlich. Mehr Übersicht in tatsächlicher Hinsicht – besonders in Bezug auf zwischenstaatliches Vertrauen und gegenseitige Berechenbarkeit – ist ohne einen allgemein

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Umfassend dazu Olusanya, Identifying the Aggressor, passim. Vgl. z. B. Blumenwitz, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff. (27 f.). 32 Diskutiert wurde z. B. das prägnante Merkmal der „Flagranz“, s. dazu Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (302 ff.); spätestens seit der IStGH-Vertragsstaatenkonferenz von Kampala ist von einer „manifest violation“ der SVN auszugehen, vgl. Kreß/von Holtzendorff, JICJ 8 (2010), S. 1179 ff. 33 Zum Begriff eines beim Sicherheitsrat liegenden Gewaltmonopols krit., jedoch in der ­Sache zustimmend Schöbener, KJ 2000, S. 557 ff. (569 f.). 34 Dazu mehr u. 3. Kap. B. II. 1. 35 Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (515), m. w. N.

B. Ziel dieser Arbeit

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gültigen rechtlichen Rahmen, der genau markiert, wo erlaubtes Handeln endet und unerlaubtes beginnt, nicht zu erwarten. Das universell geltende Völkerrecht ist das einzige wirksame Mittel, die Handlungsmöglichkeiten seiner Subjekte in abstrakt-genereller Form zu bestimmen. Es muss also zunächst Übersicht im Friedenssicherungsrecht geschaffen werden, um dann dadurch die Grenzen der – möglicherweise auch vorbeugenden  – Selbstverteidigung klar zu definieren. Einen Impuls in diese Richtung gab kurz vor dem Ende seiner Amtszeit der seinerzeitige VN-Generalsekretär Kofi Annan. In seiner politischen Botschaft „In larger freedom“ regte er an, dass der Sicherheitsrat eine Resolution erlassen und darin die Voraussetzungen zur völkerrechtlichen Gewaltanwendung klären soll36. Dies ist hingegen nicht geschehen; eine Veränderung, Verdeutlichung oder auch nur Interpretationshilfe des geltenden Rechts wurde nicht formuliert. Ebensowenig Klarheit zur Frage vorbeugender Selbstverteidigung konnte ein Jahr zuvor der umfangreiche Bericht des sog. High-Level Panel37 der Vereinten Nationen verschaffen38. Es bleibt damit unverändert oberste Priorität, die Konturen des geltenden Friedenssicherungsrechts zu schärfen und dadurch die Voraussetzungen eines möglichen Rechts zur vorbeugenden Selbstverteidigung zu verdeutlichen39. Dazu soll diese Arbeit ihren Teil beitragen.

B. Ziel dieser Arbeit Ziel dieser Arbeit ist im Kern die Klärung eines einzigen Streitgegenstands. Angesichts der soeben einleitend dargelegten vielschichtigen Problematik formuliert er sich in fast schon spektakulärer Schlichtheit: Es gilt zu beantworten, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig i. S. d. Völkerrechts ist. I. Einige Vorüberlegungen Zunächst gilt es nach diesen einleitenden Ausführungen klarzustellen, dass unter dem Begriff der Selbstverteidigung hier nur solche staatlichen Handlungen zu verstehen sind, welche aus eigener und alleiniger Initiative der agierenden oder beteiligten Staaten hervorgegangen sind. Zwar sind ebenfalls Gewaltanwendungen mit auch vorbeugend-selbstverteidigendem Zweck nach Autorisierung durch den

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Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 126; s. dazu mehr u. 8. Kap. C. II. 2. High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565; zur Kritik an diesem Bericht vgl. statt vieler Gazzini, JCSL 11 (2006), S.  319 ff. (339 ff.). Auf den Bericht wird u. unter 8.  Kap. C. II. 1. im passenden Zusammenhang noch genauer eingegangen. 38 Zu den Hintergründen der Berichte Annans und des High-Level Panel s. Pallek, Anmerkungen zum VN-Weltgipfel, in: GS-Blumenwitz, S. 577 ff. 39 Zur fundamentalen Wichtigkeit dieser Aufgabe statt vieler Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (70 f.).

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

VN-Sicherheitsrat möglich40, solche sollen aber in dieser Arbeit unberücksichtigt bleiben, da sich ihre Rechtmäßigkeit vor allem an dem Verfahren im Sicherheitsrat und der daraus folgenden Resolution als Zwischenakt zu messen hat41. Hier soll hingegen nur das besonders brisante staatliche Handeln aus dem subjektiv für unmittelbar anwendbar gehaltenen Völkerrecht betrachtet werden. Ferner soll vergegenwärtigt werden, dass die Worte der Fragestellung bewusst in dieser Form gewählt sind, um dem gegenständlichen Problem innerhalb eines klar definierten Umfanges möglichst präzise zu begegnen. Augenscheinlich entspringt der Prüfungsmaßstab der im Verlauf dieser Arbeit zu analysierenden Problematiken dem Völkerrecht. Es wird als gegeben angesehen, dass Völkerrecht jedenfalls als eigenständiges Recht auf internationaler Ebene existiert und nicht etwa nur Handlanger internationaler Politik oder gar bloße Ausdrucksform von Rhe­ torik wäre42. II. Bekenntnis zum Völkerrecht Doch ist es nicht nur das Völkerrecht als solches, welchem als Voraussetzung dieser Arbeit rechtlich relevanter, bindender Charakter zugesprochen wird. Vielmehr soll auch das hier im Zentrum stehende Thema der vorbeugenden Selbstverteidigung getreu der Eingangsfragestellung eine rechtliche Untersuchung durchlaufen. Diese einfache Feststellung erscheint auf den ersten Blick selbstverständlich, schließlich ist ja auch das Völkerrecht der hier angelegte Prüfungsmaßstab43. Das Bekenntnis zu diesem Prüfungsmaßstab ist aber zugleich ein Bekenntnis zu Existenz und Ernsthaftigkeit des Völkerrechts44, weiter zur strikten Trennung von Recht und Politik45 und schließlich auch zur klaren Abgrenzung

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Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 327 ff. Statt vieler Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 137 ff. 42 Vgl. aber auch Koskenniemi, MichiganJIL 17 (1996), S. 455 ff., m. w. N., sowie die kritischen Bemerkungen dazu von Cremer, ZaöRV 67 (2007), S. 267 ff. 43 So bereits in für damalige Verhältnisse entlarvender Klarheit Lauterpacht, Function of Law, S.  179. Die Möglichkeit einer rein rechtlichen Betrachtungsweise bejaht heute auch  – jedoch ohne darin eine Selbstverständlichkeit zu sehen  – Marauhn, Konfliktfolgenbewältigung, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 249 ff. (253). Für z. B. Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (791), Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (524), oder auch Schachter, AJIL 83 (1989), S. 259 ff. (277), ist ein rein rechtlicher Maßstab hingegen eine notwendige, als solche ausdrücklich benannte Selbstverständlichkeit. 44 Lesenswert jüngst zum stets ausgetragenen – wohl aber eher philosophisch begründeten – Streit um die Existenz des Völkerrechts als Rechtsordnung mit überzeugenden Argumenten für dessen Rechtsqualität Wiegandt, ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. 45 Von dieser Prämisse der Rechtsermittlung streng zu unterscheiden ist die unbestritten richtige Feststellung, dass sich – bezogen vor allem auf Rechtsetzung und -durchsetzung – im Völkerrecht „Recht und Politik in besonderem Maße bedingen“, wie es Blumenwitz zu formu­lieren pflegte, zit. nach Pallek, Anmerkungen zum VN-Weltgipfel, in: GS-Blumenwitz, S.  577 ff. (577). Ähnlich verdeutlicht dies Deiseroth, Rolle des Völkerrechts, in: Stärke des Rechts ­gegen

B. Ziel dieser Arbeit

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zwischen Normen de lege lata und solchen de lege ferenda. Gerade in der jüngeren Entwicklung von Völkerrechtswissenschaft und -praxis wird diese Trennung bedauerlicherweise häufig vernachlässigt46. Begründungen für oder wider die Zulässigkeit insbesondere internationaler Gewaltanwendung – auch von vorbeugender Selbstverteidigung – entspringen oft der jeweiligen politischen und/oder moralischen Überzeugung des jeweiligen Argumentationsführers. Dieser Überzeugung entsprechend werden dann völkerrechtliche mit politisch-moralischen Argumenten jeweils derart vermengt, dass tunlichst das gewünschte Ergebnis herauskommen möge. Selbstverständlich geschieht dies unausgesprochen und teilweise unreflektiert, oft genug aber bewusst mittels rein politisch-opportunistischer Argumentation getarnt unter dem Deckmantel des Völkerrechts47. Eine derartige Vereinnahmung des Völkerrechts entlarvt geradezu dessen tatsächlich weiterhin bestehende und für notwendig erachtete Anerkennung48 als eigene Rechtsordnung49. Dennoch ist es unaufrichtig, jedenfalls aber unwissenschaftlich, das subjektive Verlangen nach einer Wunsch-Rechtswirklichkeit als tatsächliche Rechtswirklichkeit zu verkaufen; Recht ist standfest gegenüber politischen Gezeiten50. Ein solcher Wunsch mag in Einzelfällen für viele moralisch nachvollziehbar und sinnvoll erscheinen; dennoch ist es alleinige Aufgabe der dazu berechtigten Subjekte, entsprechendes Recht zu schaffen oder zu modifizieren. Subjektiv unbefriedigende Ergebnisse sind zu Gunsten der Einheitlichkeit – und damit der Verlässlichkeit – der Völkerrechtsordnung hinzunehmen51.

Recht des Stärkeren, S. 251 ff. (255), der Völkerrecht differenzierend und plastisch als „geronnene Politik“ bezeichnet. Ein anschauliches Beispiel für eine Gratwanderung zwischen Völkerrecht und Politik zu Fragen vorbeugender Selbstverteidigung bietet mit explizit politischer Prämisse Schwehm, Demokratie und Frieden, S. 115 ff. Unabhängig von manchen bestehenden Schnittpunkten ist die Notwendigkeit der grundsätzlichen Differenzierung zwischen Recht und Politik freilich keine neue Erkenntnis, wie bereits Lauterpacht, Function of Law, passim, überzeugend darlegt; offenbar muss sie jedoch stetig neu in Erinnerung gerufen werden. 46 Ebenso zutr. Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 5 ff.; vgl. zudem als eines der wenigen bekennenden Beispiele für einen ausdrücklich rechtspolitisch motivierten Beitrag zum Völkerrecht Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 ff. 47 Dies wird zu Recht auch kritisiert von Walzer, Just and unjust wars, Preface, S.  xii  f.; vgl. ferner Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff. (199); Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S. 49 ff. (56); Válek, Legality vs. Legitimacy, in: Progress in Int’l. Law, S. 615 ff. (629 ff.). 48 Vgl. zu diesem unbestreitbaren Faktum i. Ü. nur die in den Ergebnissen des VN-Weltgipfels 2005 bestätigten Prinzipien, nach welchen u. a. dem Völkerrecht und der Herrschaft des Rechts eine hervorgehobene Stellung zugedacht werden, UN Doc. A/RES/60/1, insb. Abschn. 2. 49 s.  dazu z. B. Herdegen, Völkerrecht, § 4, Rn.  1 ff. (S.  32 ff.); Schweisfurth, Völkerrecht, S. 626 ff. 50 In diesem Sinne anschaulich formuliert von White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S.  235 ff. (238). Am Beispiel der unumstößlichen Fortgeltung von Art. 2 (4) SVN beweist dies auch Wippmann, MinnesotaJIL 16 (2007), S. 387 ff. 51 Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S.  581, bringt es mit Stein, NZWehrr 2000, S. 1 ff. (14), auf den Punkt: „Man kann doch nicht einfach zusehen ist keine Norm des Völkerrechts.“; a. A. hingegen Franck, AJIL 82 (1988), S. 705 ff. (722).

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

III. Trennung von Legalität und Legitimität Allein die Völkerrechtssubjekte – zuvörderst Staaten – haben die Autorität zur Rechtsetzung, sie sind dazu legitimiert52. Indes sind es nicht Anspruch und Aufgabe dieser Arbeit, auf Legitimationsaspekte einzugehen; es geht um die Lega­ lität vorbeugender Selbstverteidigung. Häufig vermischen sich aber in der völkerrechtswissenschaftlichen Argumentation Legalitäts- und Legitimitätserwägungen, obwohl nur erstere verlässliche Hinweise hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens liefern können53. Es muss klar unterschieden werden: Völkerrechtssubjekte sind an das Völkerrecht gebunden, unterliegen seinen Vorschriften, müssen sich legal verhalten. Zugleich können sie aber auch Teile dieses Rechts abschaffen, erweitern oder ergänzen, sei es durch Verträge oder die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht; diesbezüglich genießen sie Legitimität54. Das Verständnis des Wortes „legitimiert“ i. S. v. „rechtsetzungsbefugt“55 ist unbestritten, für die hier bezweckte Abgrenzung zur Legalität56 aber nicht erhellend. Legitim in einem weiteren57 Wortsinn58 kann vielmehr auch eine Handlung sein, welche auf einem ethisch-moralischen, politischen oder ideologisch geleiteten Entschluss basiert59. 52 Vgl. allgemein z. B. Herdegen, Völkerrecht, § 4, Rn. 5 ff. (S. 34 ff.), sowie speziell zu Legitimität in der internationalen Rechtsetzung Boyle/Chinkin, The Making of Int’l. Law, S. 24 ff. 53 Dies gilt insb. für das Völkerrecht, welches im Gegensatz zu vielen nationalen Rechtsordnungen nicht auf einem gemeinsamen Wertesystem basieren kann und sich deshalb in besonderem Maße direkt am geltenden Recht zu messen hat, vgl. Ipsen, Legitime Gewaltanwendung, in: LA-Delbrück, S. 371 ff. (382 f.); ferner zur Differenzierung zwischen Legitimität und Legalität aus politikwissenschaftlicher Perspektive aufschlussreich Schwehm, Demokratie und Frieden, S. 121 ff. 54 Wolfrum, Legitimacy – Introductory Considerations, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 1 ff. (6 f.). 55 Und damit wesentlich für die Anerkennung des gesetzten Rechts, vgl. Bodansky, Concept of Legitimacy, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 309 ff. (311); Boyle/Chinkin, The Making of Int’l. Law, S. 99 ff. 56 Auf die zahlreichen Facetten des schon seit langem diskutierten Verhältnisses von Legalität und Legitimität kann und soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Zur krit. Auseinandersetzung sei i. Ü. auf den Klassiker des (nicht unumstrittenen) Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, hingewiesen wie auch den (nicht nur) darauf bezogenen Versuch einer umfassenden Auslegung durch Hofmann, Legitimität gegen Legalität, passim. 57 Zu den unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs der Legitimität vgl. z. B. Bodansky, Concept of Legitimacy, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 309 ff. (310); krit. Keller, Round Table, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 387; Pellet, Legitimacy of Actions, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 63 ff. (67 f.); Válek, Legality vs. Legitimacy, in: Progress in Int’l. Law, S. 615 ff. (617 ff.); Wolfrum, Legitimacy – Introductory Considerations, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 1 ff. 58 Die Sinnhaftigkeit des Wortes „Legitimität“ wird zuweilen auch substanziell angezweifelt, z. B. durch Dinstein, Round Table, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 381: „I regard legitimacy as a bastard term.“ 59 s. z. B. Neuhold, Legitimacy: A Problem?, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 335 ff. (336 f.). Besondere Relevanz erfuhr dieses Spannungsfeld in der Diskussion um eine mögliche Neubewertung der humanitären Intervention bei der Aufarbeitung des NATO-Einsatzes im Kosovo 1999, vgl. nur statt vieler Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (324 ff.).

B. Ziel dieser Arbeit

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Eine solche Handlung entspräche dem Gerechtigkeitsempfinden60 des Handelnden und womöglich auch jenem einer großen Mehrheit – und würde daher als legitim betrachtet61. Ist eine solche Handlung gleichzeitig auch durch das geltende Recht gedeckt, kollidieren Legalität und Legitimität nicht; fehlt es aber an Rechtmäßigkeit, bleibt allein die mögliche Legitimität übrig. Diese – mag sie für den Einzelnen auch noch so nachvollziehbar sein – verbleibt jedoch für sich isoliert stets außerhalb des Rechts und ist damit illegal62. Freilich können die Konsequenzen einer unrechtmäßigen, aber möglicherweise legitimen (oder genauer: als legitim empfundenen) Handlung unterschiedlich sein; beispielsweise könnte eine nachträgliche Rechtmäßigkeitserklärung63 durch dazu (im ersteren Wortsinn) legitimierte Organe erfolgen oder es wird schlicht auf sonst übliche Sanktionen verzichtet64. Nicht auszuschließen ist dann auch, dass sich aus entsprechenden Situationen ein Ansatz zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht entwickelt65. Dies alles ändert jedoch nichts an der Ausgangslage der Illegalität und ist daher streng von der rechtlichen Bewertung zum Zeitpunkt der Handlung zu trennen. Es geht bei der Ermittlung von geltendem Recht um Legalität, nicht um Legitimität, oder anders formuliert: um objektiv ermittelbare Rechtmäßigkeit66, nicht um subjektiv empfundene Gerechtigkeit67. Diese Erwägungen gelten besonders für das hier maßgebliche Thema der vorbeugenden Selbstverteidigung. Im Sinne einer sauberen Rechtsermittlung wäre es fatal, sich von Legitimierungsaspekten ohne legalen Hintergrund leiten zu lassen. Daher ist die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung in der eingangs formulierten Frage von höchster Bedeutung und damit für sie einzig gültiges heranzuziehendes Kriterium. Aspekte zur Legitimität hingegen können nur dann beachtlich 60 Zur Rolle der Gerechtigkeit im Völkerrecht vgl. das Konzept von Rawls, Das Recht der Völker, passim; i. Ü. recht aktualitätsbezogen Hillgruber, ZfP 50 (2003), S. 245 ff. 61 Krit. hingegen Pellet, Legitimacy of Actions, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 63 ff. (68), der jedoch generell den Begriff der Legitimität enger versteht. 62 Vgl. Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S. 49 ff. (64 ff.); Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (465). 63 So ausdrücklich differenzierend Neuhold, Legitimacy: A Problem?, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 335 ff. (337); offen lassend Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 581, m. w. N. 64 So der Ansatz einer sog. „Exceptional Illegality“ von Byers, JPolPhil 11 (2003), S. 171 ff. (185 ff.). 65 Treffend bezeichnet diesen Umstand Wiegandt, ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. (66), als „ewigen Widerspruch des Völkergewohnheitsrechts“; vgl. für die Diskussion um vorbeugende Selbstverteidigung mit einer Parallele zur Humanitären Intervention auch Mulcahy/Mahony, HanseLR 2 (2006), S. 231 ff. (241 ff.). 66 Vgl. zur Notwendigkeit objektiver Kriterien Karagiannis, Légalisation, in: Droit int. à la croisée, S. 105 ff., sowie Schweisfurth, Völkerrecht, S. 479, Rn. 5. 67 Diese Trennung postuliert auch zu Recht Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (372), am Ende seiner Ausführungen stellt er aber auf eine der Völkerrechtsermittlung nicht dienliche „über den genuin juristischen Horizont hinausgehende Einbeziehung moralischer und politischer Diskurse“ (ibid., S. 405) ab. Als einer der wenigen Autoren aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis unterscheidet seit nicht allzu langer Zeit Moore, ASIL Proc. 98 (2004), S. 325 ff., zwischen einer „antilegalist challenge“ und einer „legalist tradition“.

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

sein, wenn das geltende Völkerrecht sie explizit zulässt, es also zu rein auf Zweckmäßigkeit basierten Handlungen nach subjektiver Einschätzung ermächtigt68. Sollte bei der Rechtsermittlung zu vorbeugender Selbstverteidigung indes ein als ungerecht empfundenes Ergebnis gefunden werden, wären in einem weiteren – über das Ziel dieser Arbeit hinausgehenden – Schritt die daraus folgenden Konsequenzen zu bedenken: Möglich wäre zum einen eine völkerrechtliche Lösung, nämlich die Anpassung der dann ermittelten und vermeintlich defizitären Legalität an die (als solche empfundenen) Vorgaben der herzustellenden Gerechtigkeit. Zum anderen könnte es eine politische Lösung sein, eine mögliche Lücke69 zwischen Legalität und Legitimität zu überwinden, indem völkerrechtswidriges Verhalten jeweils nach Betrachtung des Einzelfalles ohne negative Folgen für den Gewalt­ anwender bewusst und gewollt hingenommen wird70. Beides kann freilich – wie bereits angedeutet – nur durch einen emanzipierten Schritt erfolgen: entweder mittels Rechtsetzung71 durch die dafür legitimierten Völkerrechtssubjekte oder mittels einer politischen72 Einzelfallentscheidung73 der dazu befugten Organe der Völkerrechtsgemeinschaft, also vornehmlich des VN-Sicherheitsrats als politisches74 Or 68 Diese Einschränkung entspricht dem völkerrechtlich anerkannten Gedanken der Billigkeit intra legem im Gegensatz zu unzulässiger Billigkeit contra legem, s. Krugmann, Verhältnis­ mäßigkeit im Völkerrecht, S. 75 f., m. w. N. 69 Dazu Válek, Legality vs. Legitimacy, in: Progress in Int’l. Law, S. 615 ff. (616). 70 Dabei ist häufig die Rede von einem entschuldbaren Völkerrechtsbruch, z. B. Válek, Legality vs. Legitimacy, in: Progress in Int’l. Law, S. 615 ff. (624). s. zur von Cassese geführten Diskussion um eine „Schuld-Ebene“ im Völkerrecht auch u. 4. Kap. D. II. 71 Exekutivakte, die vor allem in Gestalt von Resolutionen des VN-Sicherheitsrats ergehen, können hingegen selbst bei einem offenen Adressatenkreis mangels entsprechender Legitimierung des erlassenden Organs jedenfalls nicht zu allgemein gültigen Völkerrechtsnormen erstarken, so auch zutr. Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 297 ff., m. w. N. 72 Der hier am ehesten stimmige Begriff „politisch“ ist in diesem Zusammenhang bewusst in Abgrenzung zu „legislativ“ einerseits und „exekutiv“ andererseits gewählt, da ihm keine privilegierte rechtliche Bedeutung innewohnt; s. dazu auch Pellet, Legitimacy of Actions, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 63 ff. (65). 73 Die angesprochene Einzelfallentscheidung muss freilich ausschließlich auf die besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls abzielen und darf mangels diesbezüglicher Legitimierung der entscheidenden Organe keinesfalls ein Unwerturteil gegen geltendes Völkerrecht sein. Daher ist auch Dinsteins Kritik an der Theorie Carl Schmitts zu Legitimität und Legalität zuzustimmen, vgl. z. B. Dinstein, Round Table, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 383, ebenso Heintschel von Heinegg, Round Table, in: Legitimacy in Int’l. Law, S.  396 f. Eine entsprechende Einzelfallentscheidung kann darüber hinaus auch nur mittelbar oder stillschweigend die Duldung bzw. Nicht-Sanktionierung des in Rede stehenden Verhaltens als gegeben voraussetzen, wenn sie sich im Kern auf die Folgen des Verhaltens, nicht aber auf das Verhalten selbst bezieht, z. B. im Rahmen einer von Marauhn so bezeichneten „Konfliktfolgenbewältigung“, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 249 ff. (258 f.). 74 Vgl. statt vieler Klein/Schmahl, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4.  Abschn., Rn.  140 (S.  328). Zuweilen wird der Sicherheitsrat auch als „diplomatisches Gremium“ bezeichnet, z. B. von Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (130 f.), was jedoch inhaltlich keinen wesentlichen Unterschied ausmacht.

C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung

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gan für bindende Beschlüsse75 oder der VN-Generalversammlung für einfache Erklärungen76. Untauglich wäre hingegen ein tendenziöses Einwirken schon auf der Ebene der Rechtsermittlung. IV. Zusammenfassung Diese Arbeit bekennt sich damit zu der Aufgabe, Erwägungen lediglich zur möglichen Rechtmäßigkeit – also Legalität – vorbeugender Selbstverteidigung zu tätigen. Bislang ist hierzu jedoch nur eine hilfsweise auf eine natürliche Betrachtungsweise abstellende Eingrenzung des begrifflichen Bedeutungsinhaltes gezogen worden: Gewaltanwendung gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser zur Verhinderung eines sonst durch dessen Gewalt verursachten Schadens. Diesen tatsächlich orientierten Ansatz gilt es zunächst in diesem einleitenden Teil zu konkretisieren, um im Anschluss innerhalb des darauf folgenden rechtlich orientierten Kerns dieser Arbeit die eingangs formulierte Frage präziser beantworten zu können.

C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung Bislang orientiert sich diese Arbeit weiter an der genannten natürlich betrachteten Ansicht von vorbeugender Selbstverteidigung. Bevor später im Kern dieser Arbeit eingehende dogmatische Diskussionen zur Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung im völkerrechtlichen Sinne geführt werden können, soll der Anschaulichkeit halber an dieser Stelle die natürliche Betrachtungsweise beibehalten werden. Zu diesem Zweck werden nun zunächst die Konstellationen derjenigen denkbaren tatsächlichen Sachverhalte dargestellt, welche überhaupt eine Lage – untechnisch zu verstehender – vorbeugender Selbstverteidigung auszulösen imstande sein könnten. Mit Hilfe dieser konkreten Ansätze können im Anschluss die im Vordergrund dieser Arbeit stehenden rechtlichen Aspekte unter Rückgriff auf die sogleich folgenden Illustrationen der Sachverhaltskonstellatio 75 Kurioserweise ist gerade die bedeutsame Befugnis des VN-Sicherheitsrats, völkerrechtlich bindende Beschlüsse auf Grundlage nur politischer Erwägungen zu fassen, Beweis für das Primat des Völkerrechts gegenüber der Politik. Denn erst durch explizite Zuweisung über Artt. 39 ff. SVN – also geltendes Völkerrecht – wird der Sicherheitsrat zu einer solchen Befugnis legitimiert. Diese Sonderstellung des Sicherheitsrats ist auch allgemein als solche anerkannt. Die Völkerrechtsgemeinschaft geht mithin davon aus, dass das ihr zu Grunde liegende Recht grundsätzlichen Vorrang genießt und rechtlich bindende Entscheidungen ohne notwendigerweise rechtlichen Hintergrund unter dem Vorbehalt rechtlicher Ermächtigung stehen. 76 Bloße Erklärungen können in solchen Fällen trotz ihres soft law-Charakters ausreichen, da sich durch sie ohne weiteres Zutun die Duldung völkerrechtswidrigen Verhaltens manifestiert, soweit ihnen keine bindenden Entscheidungen zu demselben Sachverhalt entgegenstehen.

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

nen „nah am Fall“ erörtert werden. Dies sorgt für eine bessere Übersichtlichkeit und veranschaulicht dadurch die Dogmatik. Da es sich hier noch um eine untechnische Betrachtung handelt, es aber zugleich einiger erklärender Begriffe bedarf, sollen für die sogleich dargestellten Sachverhaltskonstellationen folgende Definitionen unterstellt werden: •• Als (allgemein anerkannte) Selbstverteidigungslage wird der Zeitraum verstanden, innerhalb dessen (nach allgemeiner völkerrechtlicher Ansicht) jedenfalls das Recht zur Selbstverteidigung für einen Staat gegeben ist. •• Unter dem Auslöser einer Selbstverteidigungslage ist der Zeitpunkt zu verstehen, zu welchem im konkreten Fall frühestens ein Staat zur Selbstverteidigung berechtigt ist. •• Die Vorbeugungshandlung bezeichnet hier dasjenige staatliche (gewaltsame) Handeln, welches in Ansehung der jeweils diskutierten vorbeugenden Selbstverteidigungslage zur Vermeidung des drohenden Schadens erfolgt.

I. Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts Staat A kann sicher feststellen, dass bei ungehindertem Geschehensablauf eine (bei ihrem Eintritt allgemein anerkannte) Selbstverteidigungslage gegenüber Staat B eintreten wird und kommt dieser mit einer Vorbeugungshandlung zu Lasten von Staat B zuvor. 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte

In dieser Konstellation wird an den Zeitpunkt einer bevorstehenden Selbstverteidigungslage angeknüpft. Zugleich ist dabei erwiesen, dass die Selbstverteidigungslage tatsächlich (oder zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) eintreten wird. Die Verteidigung wäre hierbei also gegen eine konkrete Gefahr gerichtet, die sich bei normalem Geschehensablauf zu einem Auslöser verdichten würde. Die Vorbeugungshandlung würde also in lediglich zeitlicher Hinsicht früher erfolgen als dies bei einer allgemein anerkannten Selbstverteidigungslage der Fall wäre. 2. Situationsbeispiel

Als Situationsbeispiel für diese Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts wäre u. a. ein Aufmarsch militärischer Truppen von Staat B an der Grenze zu dem ihm verfeindeten Staat A zu nennen, welcher zur Vorbereitung einer von Staat B geplanten Invasion in Staat A dient. Staat A zerschlägt infolgedessen den Truppen­

C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung

43

aufmarsch durch eine Vorbeugungshandlung und beruft sich dabei auf vorbeugende Selbstverteidigung. II. Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts Staat A vermutet auf Grund von Indizien, dass jederzeit eine (bei ihrem Eintritt allgemein anerkannte) Selbstverteidigungslage gegenüber Staat B eintreten kann und kommt dieser mit einer Vorbeugungshandlung zu Lasten von Staat B zuvor. 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte

Im Gegensatz zur Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts knüpft die Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts an einen anderen Parameter an, nämlich an die Wahrscheinlichkeit. Unterstellt wird dabei, dass eine allgemein anerkannte Selbstverteidigungslage angesichts der jeweiligen Gefahrensituation jederzeit eintreten kann. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine ex ante feststellbare Tatsache, sondern nur eine auf Indizien gestützte Vermutung. Den Grund zur Vorbeugungshandlung liefert also gerade nicht die Gewissheit des zeitlich bedingten Eintritts des Auslösers einer Selbstverteidigungslage, sondern im Gegenteil die ungewisse, aber auf Grund der Umstände angezeigte Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Gefahr jederzeit zu einem Auslöser verdichten kann. 2. Situationsbeispiel

Eine Vorbeugungshandlung im Rahmen angenommener vorbeugender Selbstverteidigung innerhalb der Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts wäre beispielsweise in folgender Situation gegeben: Der Geheimdienst von Staat A erlangt Informationen darüber, dass Staat B eine Invasion in den verfeindeten Staat A plant. Für einen solchen Invasionsplan gibt es indes keine zu Gewissheit führenden tatsächlichen Anhaltspunkte, wohingegen die wertende Betrachtung der Gesamtsituation zwischen A und B dennoch einen zu erwartenden Angriff durch B nahe liegen lässt. Staat A zerstört als Vorbeugungshandlung schließlich strategische Militärstützpunkte in B, ohne welche vernünftigerweise eine Invasion in A unmöglich wäre.

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

III. Konstellation des abgestuften Eintritts Staat A hat bereits mehrere kleinere, für sich genommen keine Selbstverteidigungslage auslösenden Eingriffe aus Staat B hinnehmen müssen; ein weiterer Eingriff ist nach allgemeinen Erfahrungswerten abzusehen. Als Einheit betrachtet entsprächen die einzelnen Eingriffe a) dem Auslöser einer (bei ihrem kumulierten Eintritt allgemein anerkannten) Selbstverteidigungslage bzw. b) noch keinem Auslöser einer (bei ihrem kumulierten Eintritt allgemein anerkannten) Selbstverteidigungslage. Staat A kommt hier einem möglichen nächsten „kleineren“ Eingriff mit einer Vorbeugungshandlung zu Lasten von Staat B zuvor. 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte

Die Konstellation des abgestuften Eintritts setzt sich insofern von den beiden soeben beschriebenen Konstellationen ab, als sie weder an den Parameter des Zeitpunktes noch an den Parameter der Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer allgemein anerkannten Selbstverteidigungslage eindeutig anknüpft. Stattdessen betrachtet sie zunächst die Mindestintensität eines Auslösers, der zu einer allgemein anerkannten Selbstverteidigungslage führt und stellt fest, dass diese (noch) nicht durch die erfolgten Eingriffe erreicht ist, jedoch bei fortwährendem Geschehensablauf mit dem nächsten „kleinen“ Eingriff erzielt wird bzw. würde. Die Vorbeugungshandlung gegen den nächsten zu erwartenden Eingriff erfolgt dann gekoppelt an die Frage, ob er einerseits zeitlich determiniert eintreten wird oder andererseits ein jederzeitiger Eintritt wahrscheinlich ist, wobei die alternative Bejahung des ersteren oder des letzteren Frageteils ausreicht. Im Unterschied zu den beiden oben beschriebenen Konstellationen erfolgt die Vorbeugungshandlung jedoch nicht in Vorgriff auf eine dann allgemein anerkannte Selbstverteidigungslage, sondern lediglich gegen einen Eingriff unterhalb der für einen Auslöser erforderlichen Mindestintensität; stattdessen wird die Annahme der Mindestintensität – mithin die Annahme eines Auslösers – durch Addition mit den bereits vorausgegangenen „kleineren“ Eingriffen fingiert. Dies führt zu dem beachtlichen Ergebnis, dass sich die Vorbeugungshandlung zwar gegen einen zukünftigen Eingriff richtet, dieser aber nur in Verbindung mit vergangenen Eingriffen die Mindestvoraussetzungen des Auslösers einer allgemein anerkannten Selbstverteidigungslage erfüllen würde. Die Intention der Vorbeugungshandlung liegt damit in der Vermeidung zukünftigen Schadens – ist mithin vorbeugender Natur –, während die Begründung des Handeln-Dürfens (auch) reaktiver Natur ist. Bei natürlicher Betrachtung muss aber der Schwerpunkt dieser Konstellation in der Vorbeugung liegen, da jedenfalls die Reaktion für sich genommen mangels eines vorausgegangenen Auslösers rechtswidrig wäre.

C. Denkbare Sachverhaltskonstellationen vorbeugender Selbstverteidigung

45

2. Situationsbeispiel

An der gemeinsamen Grenze der Staaten A und B kommt es zu mehr oder weniger regelmäßigen Verletzungen des Territoriums von A durch Grenzsoldaten aus B. Dabei stehlen, beschädigen und zerstören die Soldaten von B systematisch und regelmäßig Staatseigentum von A. Sie liefern sich von ihnen ausgehende Schusswechsel mit Soldaten von A, die sie zuweilen verletzen oder töten. Danach ziehen sie sich wieder nach B zurück. Staat A ist nicht länger gewillt, diese ständigen „Nadelstiche“ – unabhängig davon, ob sie in ihrer fingierten Kumulation als eine einzige Handlung eine Selbstverteidigungslage auslösen würden – hinzunehmen und zerstört als Vorbeugungshandlung gegen einen weiteren Eingriff sämtliche Kasernen in B, von welchen aus die Eingriffe initiiert wurden. IV. Automatisiert-reaktive Konstellation Staat A fühlt sich abstrakt durch eine unbestimmte Anzahl von Feinden bedroht und richtet daher ein automatisiertes Abwehrsystem gegen zukünftige Gewalthandlungen ein. Dabei erkennt das System sich im Ausführungsstadium befindende und gegen Staat A gerichtete Gewalthandlungen durch modernste Computertechnologie automatisch und sorgt mit geeigneter Gegengewalt für die Beendigung der Gewalthandlungen, bevor diese das Territorium von Staat A erreichen und einen Schaden hervorrufen können. 1. Merkmale und Anknüpfungspunkte

Anders als die zuvor dargestellten Konstellationen richtet sich die automatisiertreaktive Konstellation gegen eine abstrakte und unbestimmte Gefahr ohne einen genaueren Anknüpfungspunkt. Eine Selbstverteidigungslage ist nicht absehbar. Deshalb wäre auch eine Vorbeugungshandlung in diesem Falle nur und höchstens in der Einrichtung dieses Systems zu sehen. 2. Situationsbeispiel

Paradebeispiel für eine solche Konstellation ist ein Raketenabwehrsystem77, welches Staat A zum Abfangen feindlicher Flugsprengkörper entweder auf seinem eigenen Territorium oder auf dem Territorium eines vertraglich einwilligenden Staates errichtet. Auf Staat A abgefeuerte Raketen würden dann bereits in einem möglichst frühen Stadium ihres Fluges über fremdem Territorium  – möglicherweise bereits auf dem Gebiet des Ausgangsstaates – zerstört.

77

Vgl. dazu näher Smith, Deterring America, S. 100 ff.

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

Jüngst sorgten die Pläne der USA, ein solches System auf dem Staatsgebiet von Polen und dem der Tschechischen Republik zu installieren, für kontroverse Diskussionen und diplomatische Schwierigkeiten zumindest mit der Russischen Föderation; inzwischen hat sich das Thema aber wohl erledigt78. 3. Beachtlichkeit

Nach der oben vorgenommenen natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung ist das Einbeziehen der automatisiert-reaktiven Konstellation zumindest diskussionswürdig. Für ihre Beachtlichkeit spricht, dass nach der Errichtung eines funktionsfähigen automatisierten Abwehrsystems kein weiterer durch den jeweiligen sich auf Verteidigung berufenden Staat gesteuerter Zwischenschritt notwendig ist, welcher zum einen das Eintreten einer Selbstverteidigungslage feststellt und zum anderen die Durchführung der Verteidigungshandlung anordnet. Beides geschieht vorgelagert durch Programmierung des entsprechenden Computersystems. Vergleichbar ist dieser Ablauf auf nationaler Ebene z. B. mit einer Selbstschussanlage, die ein Grundstücksbesitzer zur Abwehr gegen drohende Eindringlinge installiert. Da eine solche Maßnahme im deutschen Strafrecht häufig als „antizipierte Notwehr“ beschrieben wird79, liegt es zumindest begrifflich nahe, diese Konstellation auf internationaler Ebene auf den Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung zu übertragen. Hingegen dürfte es schwer fallen, allein schon in der Einrichtung einer automatisierten Abwehranlage eine Gewalthandlung zu sehen. Hier liegt eher eine bloße Vorbereitungshandlung einer nicht weiter bestimmten und möglicherweise überhaupt nicht eintretenden Gewaltanwendung vor. Darüber hinaus bedarf es für den Eintritt einer gewaltsamen Folge notwendigerweise eines gewaltsamen Zutuns des feindlichen Dritten, was zugleich die Qualifikation der bloßen Systemeinrichtung als Gewalthandlung ausschließt80. Selbst wenn man dennoch eine zumindest notwendige Bedingung eines gewaltsamen Handlungsabschnitts bereits durch die Einrichtung des Abwehrsystems annehmen möchte, so realisiert sich der dadurch initiierte Schaden doch erst in der automatisierten Abwehrmaßnahme. Dieser wiederum ist abermals von einer vorherigen Aktion des Dritten abhängig, welche gewöhnlich in Kenntnis des Abwehr

78

Vgl. dazu z. B. „Ein Tag der Genugtuung“, SZ vom 18.09.2009, S. 7. Entsprechend verhält sich auch das ausdrücklich auf Kooperation mit der russischen Föderation bedachte neue NATO-Konzept 2010, insb. S. 5, 8 ff.; s. ferner u. 8. Kap. B. III. 7. 79 Exemplarisch allgemein Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn. 329a, sowie speziell die ausführlichen Darstellungen von Lauth, Antizipierte Notwehr, passim, und Grünhagen, Antizipierte Notwehr, passim, jeweils m. w. N. 80 Dies entspricht im Falle der im deutschen Strafrecht diskutierten „antizipierten Notwehr“ auch dem allgemeinen Meinungsstand, vgl. nur Grünhagen, Antizipierte Notwehr, S.  29; Lauth, Antizipierte Notwehr, S. 80.

D. Verlauf der Untersuchung

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systems getätigt wird, denn kein Staat der Welt wird angesichts der heutigen aufklärerischen Fähigkeiten moderner Geheimdienste ein solches System heimlich aufbauen können. Zudem ist es aufstellenden Staaten aus Gründen des damit verbundenen Abschreckungseffektes im Gegenteil gelegen, dass man ihr System zur Kenntnis nimmt. Durch ein im Angesicht der drohenden Konsequenzen dennoch wissentliches und willentliches Zutun manifestiert der Dritte aber seinen tatsächlichen Verzicht auf den Schutz des Gewaltverbots81, sodass spätestens dann die Einrichtung des Abwehrsystems nicht mehr als Bedingung einer späteren Gewalthandlung anzusehen ist82. Das gleiche Ergebnis erzielt man auch, wenn man anstatt eines (umstrittenen) Verzichts auf den Schutz des Gewaltverbots eine in diesem Fall auf Grund des Zutuns des Dritten rechtmäßige Gegengewaltanwendung annehmen möchte. Die Rechtmäßigkeit wäre dabei jedoch nicht auf vorbeugende Selbstverteidigung zurückzuführen, da ja schon eine drittseitige gewaltsame Handlung existierte, auf welche lediglich reagiert wurde. Maßstab wäre dann wiederum das allgemein anerkannte Institut der (klassischen) reaktiven Selbst­verteidigung. Unabhängig davon, für welchen Lösungsweg man sich im Falle des automa­ tisierten Abwehrsystems entscheiden möchte, bleibt doch festzuhalten, dass bei näherer Betrachtung die Einordnung der automatisiert-reaktiven Konstellation als Anwendungsfall vorbeugender Selbstverteidigung misslingt83. Daher wird sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht mehr herangezogen.

D. Verlauf der Untersuchung Die nun folgende Untersuchung verläuft nach dieser Einleitung (Teil 1) in zwei aufeinander aufbauenden Hauptteilen (Teil 2 und Teil 3) und schließt mit einem zusammenfassenden Ausblick (Teil  4). Im Kern dieser Arbeit konzentriert sich Teil 2 auf eine Analyse der Dogmatik des friedenssicherungsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts unter reaktiven und vorbeugenden Aspekten, während Teil 3 auf Grundlage der sodann gewonnenen abstrakt-dogmatischen Ergebnisse die konkrete Rechtsermittlung zu den Fragen rund um vorbeugende Selbstverteidigung vollzieht. Im Einzelnen setzt sich der dogmatische Teil  2 dieser Arbeit zum Ziel, die für die anschließende Rechtsermittlung erforderlichen theoretischen Grundlagen

81

Ob dieser Schutz aus völkerrechtlicher Sicht überhaupt abdingbar ist, wird später (u. 3.  Kap. B. I. 1.  b)  und 4.  Kap. B. I.) erörtert. An dieser Stelle kommt es allein auf eine tat­ sächliche Betrachtung an, da ja zunächst auch nur die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung als Maßstab herangezogen wird. 82 Im deutschen Strafrecht entspricht dieser Gedankengang der Fallgruppe der freiverantwortlichen Selbstgefährdung auf der Ebene der objektiven Zurechnung des tatbestandlichen Erfolges, vgl. die Parallelen zur „antizipierten Notwehr“ bei Grünhagen, Antizipierte Notwehr, S. 12 ff. und Lauth, Antizipierte Notwehr, S. 40 ff., 50 ff. 83 Im Ergebnis ebenso Reisman, AJIL 97 (2003), S. 82 ff. (89).

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1. Kap.: Vorbemerkungen und Rahmenbedingungen

möglichst präzise herauszuarbeiten und zu benennen. Dabei wird zunächst eine völkerrechtlich verwertbare Definition des Begriffs „vorbeugende Selbstverteidigung“ hergeleitet, welche es anschließend mit Inhalt zu füllen gilt (2. Kapitel). Ausgehend von den weitgehend unumstrittenen Voraussetzungen klassischer reaktiver Selbstverteidigung wird sodann erarbeitet, welche tatbestandlich relevanten Veränderungen sich zwangsläufig für ein – zu diesem Zeitpunkt zunächst als existent unterstelltes  – vorbeugendes Selbstverteidigungsrecht ergeben (3.  Kapitel). Mit Hilfe der dabei gewonnenen abstrakt-theoretischen Resultate wird sich erschließen, auf welche Tatbestandsmerkmale des allgemeinen völkerrechtlichen Instituts der Selbstverteidigung es für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung überhaupt ankommen kann. Vor dem Hintergrund dieser völkerrechtsdogmatischen Erkenntnisse wird in einem letzten Schritt der aktuelle völkerrechtliche Diskussionsstand im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung wiedergegeben und in systematisch strukturierte wie analytisch handhabbare Kategorien unterteilt (4. Kapitel). Auf diese Weise lassen sich zum einen bereits an dortiger Stelle evident völkerrechtswidrige Theorien separieren und zum anderen ein systematisierter Katalog grundsätzlich vertretbarer Theorien herausstellen. Auf Basis dieses Theorienkataloges widmet sich Teil 3 dieser Arbeit der konkreten Rechtsermittlung. Dabei werden die zuvor herausgearbeiteten Theorien auf Bestehen und Ausmaß ihrer konkreten und tatsächlichen Völkerrechtskonformität überprüft. Dies geschieht wiederum im Rahmen zuvor herauszustellender allgemeingültiger Vorgaben (5.  Kapitel), nämlich nach präziser Feststellung der notwendigen völkerrechtlichen Rahmenbedingungen in kombiniert systematisch-chronologischer Form, insbesondere unterteilt nach Völkerrechtsepochen und Völkerrechtsquellen. Der Schwerpunkt der Rechtsermittlung wird dabei naturgemäß auf dem Völkerecht des Zeitalters der Vereinten Nationen – und dabei besonders Art. 51 SVN – liegen, doch wird die vorherige Entwicklung des friedenssicherungsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts nachgewiesenermaßen auch darauf ihre Einflüsse ausüben (6. Kapitel). Sodann wird im modernen Völkerrecht zunächst das geltende Vertragsrecht zu Selbstverteidigung – also Art. 51 SVN – eingehend unter Berücksichtigung all seiner autoritativen Sprachfassungen untersucht (7. Kapitel). Im Anschluss daran folgt die Analyse der modernen Staatenpraxis zu vorbeugender Selbstverteidigung unter Berücksichtigung der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse (8.  Kapitel). Nach Maßgabe des vorher abgesteckten dogmatischen Rahmens wird sich schließlich sagen lassen, ob nach dem heute gültigen völkerrechtlichen acquis vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich rechtmäßig sein kann und, bejahendenfalls, unter welchen Voraussetzungen dieses Recht besteht (9. Kapitel).

„Das Recht braucht dem Unrechte nicht zu weichen.“1 „Not kennt kein Gebot.“2

Teil 2

Theoretische Grundlagen zu vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht 2. Kapitel

Terminologie A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht Die an dieser Stelle eingeleitete völkerrechtstheoretische Untersuchung vor­ beugender Selbstverteidigung setzt zunächst eine Klarstellung zur Terminologie des Untersuchungsgegenstandes voraus. Bislang ging diese Arbeit zur besseren allgemeinen Veranschaulichung des aufgeworfenen Problemfeldes von einer natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung aus. Eine solche allein genügt jedoch nicht den Anforderungen, welche an die Grundlage einer recht­lichen Analyse zu stellen sind. Es ist daher zunächst erforderlich, sämtliche gängigen und möglicherweise völkerrechtlich relevanten Bezeichnungen, die unter die dargestellte natürliche Begriffsbestimmung fallen können, näher zu untersuchen3. Dabei werden die Definitionsinhalte und möglichen Rechtsfolgen jeder Bezeichnung ermittelt und miteinander verglichen, um aus den gewonnenen Erkenntnissen am Ende dieses Prüfungsabschnitts eine allgemein gültige, über eine natürliche Betrachtungsweise hinausgehende völkerrechtliche Definition von vorbeugender Selbstverteidigung abzuleiten. Eine solche Definition ist als Fundament der anschließenden Völkerrechtsanalyse zwingend notwendig.



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Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechtes, S. 102. Mit diesen Worten versuchte der deutsche Reichskanzler von Bethmann-Hollweg am 4.  August 1914 im Reichstag den Einmarsch deutscher Truppen in die neutralen Staaten Luxem­burg und Belgien zu rechtfertigen; s. auch Berber, Allg. Friedensrecht, S. 198. 3 Einen insoweit ähnlichen Ansatz verfolgt verkürzt Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 89 ff., jedoch nicht unter Zugrundelegung einer natürlichen Betrachtungsweise, sondern vor dem Hintergrund einer von ihm stets vorausgesetzten „Gefahr“, auf welche hin begrifflich und inhaltlich divergierende Handlungsformen möglich sein sollen.

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2. Kap.: Terminologie

I. Präventivkrieg Einer der am nächsten liegenden Begriffe mit Bezug zu vorbeugender Selbstverteidigung ist der des Präventivkrieges. Krieg4 dominiert diese Bezeichnung und suggeriert dabei das Drastische und Verheerende, der Präventionsgedanke erscheint angesichts dessen eher untergeordnet. Dagegen kommt ein möglicher verteidigender Aspekt nicht zum Ausdruck. Dennoch wird der Präventivkrieg häufig mit vorbeugender Selbstverteidigung in Verbindung gebracht5. Er etablierte sich in der Diplomatensprache des 18. und 19. Jahrhunderts6, also einer Zeit, in welcher noch ein uneingeschränktes ius ad bellum galt7. Zurückzuführen ist er auf die zuvor im klassischen Völkerrecht noch vorherrschende Theorie des gerechten Krieges8; nach ihr war das Motiv der Verteidigung – auch jenes vorbeugender Verteidigung durch Präventivkrieg  – ein gerechter Grund zur Kriegsführung9. Dieses offene Verständnis des gerechten Krieges führte allmählich zum absoluten Recht auf Krieg, besonders durch Präventivkrieg zur Aufrechterhaltung des jeweils vorherrschenden politischen Machtgefüges10 und als wesentlicher Anwendungsfall11 des damals vorherrschenden staatlichen Selbsterhaltungsrechts12. 1. Definitionsansätze

Diese historische Begriffsentwicklung verdeutlicht, wie sich der Präventivkriegsbegriff von seiner völkerrechtstheoretischen Bedeutung zu Zeiten Hugo Grotius’ zu einem rein politischen Instrument emanzipiert hat; daher kann seine völkerrechtliche Bedeutung besonders in der heutigen Zeit angezweifelt werden. Entgegen dieser Zweifel ist jedoch zumindest in Kundes ergiebiger Arbeit nach seiner historischen Aufarbeitung eine „Re-Emanzipation“ des Begriffs zurück zum Völkerrecht zu erkennen. Unausgesprochen wird er dort im Lichte des VN-Völkerrechts als Oberbegriff für jede legale oder illegale Art von Gewaltanwendung zur Vorbeugung gegen einen drohenden Schaden verwendet, sei es im Hinblick auf die inzwischen obsoleten Feindstaatsklauseln der SVN13, auf Maßnahmen kollektiver Sicherheit durch den VN-Sicherheitsrat14 oder auf Kundes



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Zum völkerrechtlichen Begriff des Krieges s. u. 3. Kap. B. I. 1. b) bb). So zuletzt in einer kompletten Dissertation: Kunde, Präventivkrieg, passim. 6 Kunde, Präventivkrieg, S. 5. 7 Dazu mehr u. 3. Kap. B. I. 1. b). 8 Vor allem nach Grotius; s. ferner u. 4. Kap. D. I. 9 s. umfassend Kunde, Präventivkrieg, S. 60 ff. 10 Kunde, Präventivkrieg, S. 87; das gleiche stellt unter rechtsphilosophischen Gesichtspunkten Walzer, Just and unjust wars, S. 76, fest. 11 s. historisch authentisch Root, AJIL 8 (1914), S. 427 ff. (432). 12 Dazu mehr u. 2. Kap. A. XI. 13 Kunde, Präventivkrieg, S. 130. 14 Kunde, Präventivkrieg, S. 132.

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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Verständnis von „präven­tiver Selbstverteidigung“15. Demnach ist vorbeugende Selbstverteidigung also eine völkerrechtlich relevante Teilmenge des Präventivkrieges. Für eine (zumindest auch) völkerrechtliche Relevanz spricht darüber hinaus die Ansicht, welche Präventivkrieg als solchen Krieg bezeichnet, der im Glauben an einen nicht unmittelbar bevorstehenden, aber zukünftig unausweich­lichen militärischen Konflikt16 oder auch nur eine anfängliche17, womöglich nur potentielle18 Bedrohung geführt wird. Präventivkrieg sei folglich gerade nicht notwendig als ultima ratio19, sondern beruhe auf einer autonomen Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten20. Teilweise wird (dennoch) die Bezeichnung „Präventivkrieg“ synonym zum sogleich behandelten Begriff präventiver Selbstverteidigung21, weniger verbreitet sogar als mit präventiver und antizipatorischer Selbstverteidigung austauschbar22 verwendet. Diese Ansicht steht dabei im Kontext zu Abgrenzungsfragen vorbeugender Gewalt und bezieht sich im Wesentlichen auf die unter der Administration von George W. Bush vom US-amerikanischen Verteidigungs­ ministerium veröffentlichte Version des Wörterbuchs militärischer und damit verbundener Begriffe23. Die historisch gewachsene politische Bedeutung des Präventivkriegsbegriffs wird dabei anerkannt, jedoch hindert dies die Vertreter dieser Auffassung nicht daran, ihn auch auf das Völkerrecht zu beziehen. Die oben aufgezeigte24 systematisch notwendige Trennung zwischen Völkerrecht und Politik bei Fragen der Rechtsermittlung wird damit ignoriert. Folglich kann diese Ansicht in Bezug auf ihre völkerrechtliche Relevanz nicht überzeugen. Ihr Anknüpfungspunkt, nämlich die bloße Annahme zukünftiger Gewalt als Ausgangspunkt eines Präventivkrieges, kann hingegen weiter verfolgt werden. Hieran orientieren sich nämlich auch andere Stimmen, welche jedoch auch deshalb dem Begriff des Präventivkrieges jedwede völkerrechtliche Bedeutung absprechen oder dies jedenfalls stillschweigend voraussetzen. Gestützt auf die soeben knapp dargestellte historische Entwicklung sei er nunmehr ausschließlich



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Kunde, Präventivkrieg, S. 134. Luban, PhilPublAff 32, S.  207 ff. (208, 213); Smith, Deterring America, S.  117; Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (41). 17 Bakircioglu, IndianaICLR 19 (2009), S. 1 ff. (10 ff.). 18 Häußler, NZWehrr 2004, S. 221 ff. (230). 19 Mehr zum ultima ratio-Prinzip u. 3. Kap. B. II. 2. a) cc). 20 Prägnant Rodin, Prevention, in: Preemption, S. 143 ff. (163): „[P]reventive wars (…) are wars of choice.“ 21 Al Chalabi, Légitime défense, S.  80; Deiseroth, Rolle des Völkerrechts, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 251 ff. (268); Kamp, Von Prävention zu Präemption?, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 125 ff. (126). 22 Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 41. 23 Dictionary of Military and Associated Terms, S. 432 (26.08.2008). Die heute gültige Fassung vom 31.12.2010 enthält den Begriff preventive war nicht mehr. 24 s. o. 1. Kap. B. II.

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2. Kap.: Terminologie

politischer Natur25 oder schlicht Ausdruck extremer Form von vorbeugender Gewalt26. Dies würde ihn dann entgegen der zuerst erläuterten Ansicht für die völkerrechtliche Debatte zumindest untauglich machen. Einen solchen Weg der Definition über den Grad der Gewalt scheint auch die Unterscheidung Schwehms zu beschreiten27: Nach dieser solle ein so bezeichneter Präventivschlag zur Abwehr einer Bedrohung stattfinden, wohingegen ein Präventivkrieg zusätzlich den Zweck des Regimewechsels verfolge. Doch bereits die Tatsache, dass diese Differenzierung mit politikwissenschaftlicher Prämisse vollzogen wird28, deutet auf ein schwaches selbständiges völkerrechtliches Fundament des Präventivkriegsbegriffs hin29. Noch einen Schritt weiter geht die wohl herrschende Ansicht im Völkerrecht, derzufolge Präventivkrieg gerade wegen seiner vom Völkerrecht losgelösten  – nämlich das Völkerrecht missachtenden! – Rolle stets als völkerrechtswidrig einzustufen ist30. Seine grundsätzliche Völkerrechtsuntauglichkeit wird damit zur Indikation der Illegalität gesteigert, was ihn dann wiederum bemerkenswerterweise zumindest auf negative Art im Völkerrecht verwenden lässt. Zugleich entspricht dies  – paradoxerweise  – zu einem Teil  der Ansicht Kundes, der ja auch völkerrechtswidrige vorbeugende Gewalt als Präventivkrieg bezeichnet. 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung

Nach diesen Ermittlungen lässt sich zum modernen Begriff des Präventiv­krieges kein eindeutiges Ergebnis finden. Indes spricht vieles dafür  – auch im Hinblick auf die noch zu erörternden weiteren Begriffe – eine Indikation der Völkerrechts­ widrigkeit mit dem Begriff des Präventivkrieges zu verbinden, da er schon nicht hinreichend an den ernsthaften Glauben an eine entfernt liegende Gewalthandlung geknüpft ist und auch schon vom Wortlaut her nicht auf Verteidigung ausgerichtet ist. Für den in dieser Arbeit zu untersuchenden Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung bedeutet dies wiederum, dass illegale Formen vorbeugender Selbstverteidigung wohl als Präventivkrieg bezeichnet werden können, wohingegen dies entgegen Kunde für mögliche Fälle von legaler vorbeugender Selbstverteidigung eher missverständlich wäre.

25 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1422); Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (603); Slocombe, Survival 45:1 (Spring 2003), S. 117 ff. (124); implizit auch Trachtenberg, Preventive War, in: Preemption, S. 40 ff. (66). 26 Sofaer, International Security, in: Progress in Int’l. Law, S. 541 ff. (563). 27 Schwehm, Demokratie und Frieden, S. 128 ff. 28 Schwehm, Demokratie und Frieden, S. 115 ff. 29 Diesen Schluss scheint implizit auch Schwehm, Demokratie und Frieden, S. 130, zu ziehen. 30 Blumenwitz, ZfP 50 (2003), S. 301 ff. (315); ders., PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff. (21); Freiherr von Lepel, HuV 16 (2003), S.  77 ff. (79); Laun, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 33 ff. (33); Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (603).

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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II. Präventive Selbstverteidigung (preventive self-defence)31 Vorbeugender Selbstverteidigung zu unterfallen, wenn ihr nicht sogar zu entsprechen, scheint der Begriff der präventiven Selbstverteidigung32 oder preventive self-defence33. „Präventiv“ und „vorbeugend“ sind Synonyme, daher läge es nahe, auch beide sich auf Selbstverteidigung beziehende Begriffe identisch zu verwenden. Jedoch ist dabei zu beachten, dass der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung an dieser Stelle vorerst noch natürlich definiert ist, während nun zum Begriff der preventive self-defence eine rein völkerrechtliche Bedeutung gefunden werden soll. Erst am Schluss dieser Untersuchungen kann festgestellt werden, ob diese semantische Schlussfolgerung auch dem allgemeinen völkerrechtlichen Kanon entspricht. Einleitend soll zunächst der allgemeine Begriff der (für sich allein stehenden) Prävention betrachtet werden. Diese lässt sich im Völkerrecht in friedliche und gewaltsame Prävention unterteilen34. Dabei wird nur die gewaltsame Prävention, die ihrerseits wiederum unterschiedliche Ausflüsse haben kann35, überhaupt in einen Kontext mit Selbstverteidigung gebracht; sie wird daher in dieser Arbeit auch einzig berücksichtigt36. Präventive Selbstverteidigung ist in diesem Zusammenhang genau genommen ein Unterfall der Prävention, sie wird allerdings häufig un­ präzise als eben solche bezeichnet. In dieser Arbeit wird präventive Selbstverteidigung jedoch weiterhin als Teil des im allgemeinen Wortsinn weiten Präventionsbegriffs betrachtet. Da Prävention ohne verteidigenden Charakter von dem Thema dieser Arbeit nicht umfasst wird, unterfällt sie auch keinen weiteren Untersuchungen. Es bleibt daher nur die Analyse von preventive self-defence.

31 Beide Schreibweisen sind korrekt, wobei self-defence der britischen und self-defense der amerikanischen Orthografie entspricht. Soweit die Authentizität eines Zitats nicht entgegensteht, wird der Einheitlichkeit halber in dieser Arbeit grundsätzlich die britisch-englische Schreibweise eines Begriffs verwendet. Dies entspricht auch der gängigen Praxis authentischer völkerrechtlicher Dokumente, allen voran der autoritativen englischen Sprachfassung der SVN. 32 Vereinzelt auch (ohne inhaltliche Abweichung) als „präventive Intervention“ bezeichnet, Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 22 ff. 33 Da die völkerrechtliche Diskussion größtenteils in englischer Sprache geführt wird, werden die relevanten Fachtermini in dieser Arbeit auch in ihrer englischen Bedeutung eingeführt. 34 Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, S. 18. 35 Vgl. z. B. Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (40). 36 Vgl. zu den hier nicht thematisierten Möglichkeiten friedlicher Prävention hinsichtlich der weiterhin aktuellen Diskussion um Terrorismus und Massenvernichtungswaffen statt vieler nur den Bericht des High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S. 6 ff.

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2. Kap.: Terminologie 1. Definitionsansätze

Eine erste, wenig verbreitete Ansicht knüpft zur Annahme präventiver Selbstverteidigung an ein zeitliches Auslöserverständnis einer Selbstverteidigungslage an. Für einige Vertreter dieses zeitlichen Verständnisses läge präventive Selbstverteidigung demnach vor, wenn auf eine zwar feststehende oder zumindest sehr wahrscheinliche, aber noch weit in der Zukunft liegende Bedrohung hin agiert würde37. Die Besonderheit dieser Variante liegt also darin, dass der Auslöser zwar gewiss, jedoch erst zeitlich fernliegend eintreten wird. Strengere Vertreter des zeitlichen Verständnisses verlangen dagegen, dass der Auslöser einer Selbstverteidigungslage erwiesenermaßen unmittelbar bevorsteht38. Bisweilen wird in Folge dieser Ansicht präventive Selbstverteidigung mit antizipatorischer gleichgesetzt39. Dagegen nimmt eine Gegenansicht präventive Selbstverteidigung unter genau umgekehrten Voraussetzungen an. Der Auslöser einer Selbstverteidigungslage existiere zwar nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, jedoch stünde dem Empfinden nach dessen Realisierung spürbar und unmittelbar bevor40. Eine weitere Ansicht knüpft ebenfalls an die wahrscheinliche Existenz eines solchen Auslösers an, jedoch stünde dessen Realisierung gerade nicht unmittelbar bevor41. Präventive Selbstverteidigung richte sich vielmehr im Wege der vorsorglichen Ausschaltung42 gegen eine nicht unmittelbar bevorstehende Bedrohung43, eine latente44 bzw. abstrakte45 Gefahr46 oder einen putativen An-



37 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (115); ders., JCSL 11 (2006), S. 361 ff. (364); Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (120); Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 825 (S. 295). 38 Conte, Security in the 21st Century, S.  105; Kittrich, Self-Defense, S.  149; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (138); Tomuschat, Jahrbuch Menschenrechte 2004, S. 121 ff. (127). 39 Kittrich, Self-Defense, S. 149; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (137 f.); s. i. Ü. zu antizipatorischer Selbstverteidigung u. 2. Kap. A. IV. 40 Kamp, TIP Spring 2003, S. 17 ff. (18); ders., Von Prävention zu Präemption?, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S.  125 ff. (126); Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff.; so ist auch die Übersicht von Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (143), zu verstehen. 41 Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (514); Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (444 f.); Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (120); Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (272); Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 67. 42 Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (371 f.); ders., Demokratie und Frieden, S. 128. 43 High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S. 54 f., Abschn. 189; Kamp, IP 6/2004, S.  42 ff.; Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S.  22 ff. (31); Rodin, Prevention, in: Preemption, S. 143 ff. (144); Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 254; Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 132, 144 ff.; Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (157 f.). 44 Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 122. 45 Eick, ZRP 2004, S. 200 ff. (202). 46 Zur Unterscheidung zwischen Bedrohung und Gefahr im Völkerrecht s. statt vieler Hillgruber, ZfP 50 (2003), S. 245 ff. (247).

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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griff47. Vertreter dieses Verständnisses bezeichnen präventive Selbstverteidigung daher häufig als „kalt“48 oder sogar „kaltblütig“49. Sie betonen zumeist, dass das geschilderte Verständnis nur zum Begriff der präventiven Verteidigung passe und im Hinblick auf sog. präemptive Verteidigung50 – vorwiegend unter Ablehnung der sog. Bush-Doktrin51 – schlicht falsch sei52. Diese Erwägungen nimmt eine noch weiter reichende Ansicht auf und treibt sie derart an die Spitze, dass sie die präventive Selbstverteidigung als eine evident unrechtmäßige Gewaltanwendung bezeichnet53. Sie beziehe sich auf doppelt potentielle Gefahren, nämlich einmal hinsichtlich der Frage, ob überhaupt ab­ strakt eine Gefahr besteht und ein weiteres Mal hinsichtlich der Frage, wie schädigend die ggf. vermutete Gefahr bei ihrer nicht vorhersehbaren konkreten Realisierung ausfallen könnte. Dies liefe darauf hinaus, bereits die mögliche Fähigkeit eines Feindes, einen Angriff durchzuführen, für preventive self-defence ausreichen zu lassen54. Die Argumente ähneln hierbei jenen, die zur oben herausgearbeiteten indizierten Illegalität des Präventivkrieges führen. Demnach wären unter diesem Aspekt nach dieser extremen Ansicht präventive Selbstverteidigung und Präventivkrieg begriffsinhaltlich identisch. In eine ganz andere Richtung führt eine letzte Ansicht, nach welcher präventive Selbstverteidigung ihrerseits als Oberbegriff für weitere Formen der Selbstverteidigung angesehen wird, namentlich für sog. präemptive55, zusätzlich für sog. antizipatorische56 oder aber für jede Art von Verteidigung ohne vorherigen bewaffneten Angriff57. Wie weit ihre Reichweite als solcher Oberbegriff im Einzelnen sein 47 Freedman, WQ 26 (2003), S. 105 ff. (106 f.); Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, S. 19, m. w. N. 48 Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (521). 49 Freedman, WQ 26 (2003), S. 105 ff. (107). 50 Hierzu s. genauer sogleich unter III. 51 Gemeint ist die programmatische Festlegung des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush in seiner rechtlichen und politischen Überzeugung, deren wesentliche Bestandteile die bereits in der Einleitung angesprochenen NSS von 2002 und 2006 sind. Zum Begriff der BushDoktrin s. instruktiv Kunde, Präventivkrieg, S.  161 f., und ferner unter Bezugnahme auf die NSS 2002/2006 u. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb) (1). 52 So z. B. Doyle, Standards, in: Striking First, S. 43 ff. (55); Kamp, TIP Spring 2003, S. 17 ff. (18); Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (599); Sofaer, International Security, in: Progress in Int’l. Law, S. 541 ff. (563). 53 Murswiek, NJW 2003, S. 1014 ff. (1017 und dort Fn. 18); Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (191). 54 Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (192). 55 Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (40); i. Ü. s. u. sogleich unter III. 56 Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S.  41; Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 284; i. Ü. s. u. 2. Kap. A. IV. 57 Green, CardozoJICL 14 (2006), S.  429 ff. (465; s. auch dessen Bemerkungen dort in Fn. 151); ders., ICJ and Self-Defence, S. 28; Herdegen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (346); ähnlich Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 2; Kunde, Präventivkrieg, S. 136; Schmalenbach, NZWehrr 2000, S. 177 ff. (182); Schweisfurth, Völkerrecht, S. 364, Rn. 292.

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2. Kap.: Terminologie

soll, wird indes nicht klar. Da sie lediglich als Oberbegriff diene, wird ihr von den Vertretern dieser Auffassung keine weitere rechtliche Bedeutung beigemessen. Manch Andere nehmen den gerade angeschnittenen Streit, welche Voraus­ setzungen unter präventive und welche unter präemptive Selbstverteidigung fallen sollen, zum Anlass, entweder bei der Suche nach einem klaren Begriff zu resignieren58 oder die willkürliche Austauschbarkeit beider Begriffe festzustellen59. Eine eigene Definition liefern sie indes häufig nicht. 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung

Angesichts dieses diffusen Meinungsstandes zum völkerrechtlichen Begriff der präventiven Selbstverteidigung ist es nicht möglich, eine eindeutige Definition herauszufiltern. Zu unterschiedlich sind die Anknüpfungspunkte und die – wenn überhaupt – daraus gezogenen rechtlichen Konsequenzen. Fest steht nur, dass der Begriff der preventive self-defence mit – nicht näher zu ermittelnder – völkerrechtlicher Relevanz für vorbeugende Selbstverteidigung existiert. Angesichts seiner uneinheitlichen Behandlung in der Völkerrechtstheorie soll er trotz des damit verbundenen semantischen Bruchs nicht synonym mit vorbeugender Selbstverteidigung verwendet werden. III. Präemptive Selbstverteidigung (pre-emptive self-defence) Ein weiterer möglicher Begriff zur völkerrechtlichen Definition vorbeugender Selbstverteidigung könnte jener der im Englischen so bezeichneten pre-emptive60 self-defence sein. Spätestens seit Veröffentlichung der ersten US-amerikanischen NSS unter der Präsidentschaft von George W. Bush im Jahr 2002 ist er in aller Munde und wird kontrovers diskutiert61. Von ihm leitet sich auch das Substantiv pre-emption ab, welches man wohl im Deutschen etwas umständlich als „Prä­

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Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (62): „(…) the term ‚preventive‘ is even more elastic and ambiguous than ‚pre-emptive (…)“. 59 Blumenwitz, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S.  21 ff. (21); Heisbourg, WQ Spring 2003, S. 75 ff. (75, 77); Dörr, HuV 16 (2003), S. 181 ff. (183); Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S.  10 f.; Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S.  22 ff. (31); O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S.  237 ff. (237); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S.  132; Shaw, Int’l. Law, S. 1140; Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (58); Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (968); unausgesprochen auch Kunde, Präventivkrieg, S. 179 ff. 60 Zum Teil wird das Wort auch „preemptive“ geschrieben. In dieser Arbeit soll der Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit halber die wohl gängigere Schreibweise mit Bindestrich bei­ behalten werden. 61 Entgegen eines häufig vermittelten Eindrucks wurde der Begriff pre-emptive self-defence auch schon vorher in völkerrechtlichen Zusammenhängen verwendet, s. nur Jennings/Watts, Oppenheim’s Int’l. Law, S. 421, oder Alexandrov, Self-Defense, S. 180, m. w. N.

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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emption“ bezeichnen würde62. Vereinzelt wird darüber hinaus der Begriff eines pre-emptive war verwendet63, welchen zu übersetzen wohl zu nur noch größerer Konfusion führen würde. Die hier angedeuteten Übersetzungsschwierigkeiten zeigen bereits, dass es nicht leicht fällt, eine deutsche Entsprechung allein des Begriffs der pre-emptive self-defence zu finden. Übersetzungsversuche umschreiben eher den möglichen Bedeutungsinhalt als ihn präzise zu übertragen64. Es ist daher Breitwieser65 und Kunde66 zuzustimmen, wenn sie feststellen, dass es ein Wort wie „präemptiv“ im Deutschen überhaupt nicht gibt. Breitwiesers67 Vorschlag, im deutschen Sprachgebrauch „vorweggenommene Selbstverteidigung“ anstatt preemptive self-defence zu verwenden, führt indes an dieser Stelle ebenso wenig weiter wie Schweisfurths68 Bezeichnung als „vorsorgliche Selbstverteidigung“69. Es sollen hier die Bedeutungsinhalte von pre-emptive self-defence erforscht werden; dafür einen neuen deutschen Begriff einzuführen, verwirrt hingegen. Stattdessen orientiert sich diese Arbeit an einer – stilistisch unschönen, aber den englischen Kern am ehesten treffenden – wörtlich-übertragenden Übersetzung. Alles im Englischen als pre-emptive self-defence Bezeichnete soll im deutschen Text dieser Arbeit schlicht „präemptive Selbstverteidigung“ heißen. Die womöglich mehr als Selbstverteidigung umfassende70, hier aber nur in diesem Kontext zu verstehende Ableitung pre-emption wird zweckmäßigerweise „Präemption“ genannt71. Der Begriff des pre-emptive war wird mangels Relevanz nicht weiter verfolgt. Die Übersetzungsschwierigkeiten erklären sich übrigens leichter, wenn man auf die ursprüngliche Bedeutung der Präemption – ohne völkerrechtlichen Selbstverteidigungshintergrund  – blickt. Das Recht auf pre-emption stammt aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis, im kontinentaleuropäischen nationalen Recht ist es unbekannt. Es erlangte besonders zu Zeiten der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents durch europäische – vor allem angelsächsische – Einwanderer an

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So verfährt auch Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, passim. Henkin, AJIL 65 (1971), S. 544 ff. (545); Kurtulus, MidEastJ 61 (2007), S. 220 ff. (222 ff.); Luban, PhilPublAff 32, S. 207 ff. (212). 64 So übersetzt PONS, Großwörterbuch Englisch-Deutsch/Deutsch-Englisch, S. 742, „preemptive“ mit „vorbeugend, Präventiv-“, was für die begriffliche Schärfung gerade nicht sachdienlich ist. 65 Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (45 f.). 66 Kunde, Präventivkrieg, S. 136. 67 Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (45 f.). 68 Schweisfurth, Völkerrecht, S. 377 ff., Rn. 328 ff. 69 Auf beide Formulierungen wird später näher einzugehen sein, s. u. 2. Kap. A. IX. und X. 70 Vgl. statt vieler Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 226. Gleiches gilt i. Ü. für den gelegentlich verwendeten Begriff des nicht notwendigerweise auf Verteidigung abstellenden preemptive strike („Präemptivschlag“). 71 Dagegen spricht terminologisch differenzierend Uniacke, Retaliation in First, in: Pre­ emption, S. 69 ff. (69), dem Wesen der „Präemption“ jegliche Fähigkeit zur Verbindung mit Selbstverteidigung ab, weil sich (auch) der Gedanke der „Präemption“ in einer Selbstverteidigungshandlung lediglich unselbständig widerspiegeln könne (dort S. 79 f., 85); Gleiches gelte für „Prävention“.

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2. Kap.: Terminologie

Bedeutung. Vom lateinischen Wort praeemptor („Vorkäufer“72) abgeleitet, begründete es ein als „Vorkaufsrecht“ (miss-)verstandenes Recht amerikanischer Siedler auf durch sie urbar gemachtes und bewirtschaftetes Land. Einwanderer, die sich auf einem Stück Land niedergelassen hatten und dies für sich nutzten, griffen zunächst automatisch auf Staatseigentum zu, erlangten aber durch das gesetzlich zugesicherte „Vorkaufsrecht“ (über die so bezeichneten „pre-emption laws“) bis zum Jahr 1891 an dem betreffenden Landstück durch Landnutzung einen Titel zum Eigen­tumserwerb und genossen alle damit verbundenen Privilegien. Darunter fiel u. a. das Recht zur Verteidigung des Grundstückes gegen unberechtigte Eindringlinge73. Das „Vorkaufsrecht“ konnte also zu einem zivilrechtlichen Grundstücksverteidigungsrecht führen, welches wenn nötig mit Waffengewalt und ggf. auch gegen nur versuchtes Eindringen Fremder durchgesetzt werden konnte. Seither wird „to pre-empt“ auch i. S. v. „to prevent something happening by taking action to stop it“ verstanden74. Mit diesem Sinngehalt entwickelte sich das Vorkaufsrecht über seinen originär zivilrechtlichen Charakter hinaus zu einer strafrechtlichen defence, einer Verteidigungseinrede des anglo-amerikanischen Rechts75. Dieser bei weitem praxisrelevanteste Aspekt emanzipierte sich schließlich von seinen grundstücksrechtlichen Wurzeln und wurde so schließlich zu einer Fallgruppe strafrechtlicher Notwehr im common law76. Angesichts der strukturellen Ähnlichkeit von nationalrechtlicher Notwehr und völkerrechtlicher Selbstverteidigung vermag die Übertragung des Begriffs der Präemption auf die völkerrechtliche Selbstverteidigung nicht mehr sonderlich zu überraschen. Es bleibt jedoch die Frage zu beantworten, welche Anwendungsfälle von völkerrechtlicher prä­emptiver Selbst­ verteidigung umfasst sind. 1. Definitionsansätze

Nach einer Ansicht orientiert sich präemptive Selbstverteidigung an dem Zeitpunkt des zukünftigen Auslösers einer Selbstverteidigungslage77. Eine Verteidigungshandlung sei dann präemptiver Natur, wenn die Entscheidung des Feindes zum Angriff bereits getroffen wurde, der Angriff selbst jedoch noch nicht begonnen hat78. Auf dieses Erfordernis eines zeitlich unmittelbar bevorstehenden Auslösers stellen auch die Definitionsversuche der VN ab, namentlich durch die be

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Vgl. z. B. Klotz, Handwörterbuch Latein I–Z, S. 860. Vgl. auch die Darstellungen bei Blumenwitz, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff. (29, dort in Fn. 5), und Kunde, Präventivkrieg, S. 5 f. 74 Oxford Dict., S. 1192. 75 s. hierzu nur Kerll, Das englische Notwehrrecht, S. 6; Watzek, Rechtfertigung und Entschuldigung im englischen Strafrecht, S. 87 f. 76 Statt vieler Ashworth, Principles, S. 123; Ormerod, Smith & Hogan, S. 368 f. 77 Z. B. Arend, WQ 26 (2003), S.  89 ff. (89); Murswiek, NJW 2003, S.  1014 ff. (1017); ­Slocombe, Survival 45:1 (Spring 2003), S. 117 ff. (124). 78 Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, S. 18 f.

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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reits erwähnten Berichte des High-Level Panel79 und von Annan80. Der Beweis eines bevorstehenden Angriffs müsste demnach schon vor der Ausführung einer präemptiven Selbstverteidigungshandlung erbracht sein81. Dieser „traditionellen Sichtweise“82 präemptiver Selbstverteidigung schließen sich zahlreiche Autoren an83. Sie entspricht im Übrigen der weiterhin offiziellen Definition des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums84. Eine Abwandlung der soeben dargestellten Ansicht knüpft ebenfalls an das Erfordernis der zeitlichen Gewissheit des Eintritts eines Auslösers an. Sie verzichtet aber auf eine notwendige Unmittelbarkeit und lässt somit auch zeitlich ferner liegende Auslöser, z. B. das bloße Aufkommen einer Bedrohungslage, durch pre-emptive self-defence bekämpfen85. Dagegen gehen Vertreter einer Gegenansicht bei der Definition von präemptiver Selbstverteidigung gerade nicht von einem zukünftig feststehenden Auslöser aus, sondern stellen auf die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts ab86. Damit soll eine beginnende Entwicklung abgewehrt werden, welche in ihrem Verlauf nach Einschätzung des potentiellen Opfers in eine reaktive Selbstverteidigungslage münden würde87.

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High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S. 54 f., Abschn. 189. Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 122. 81 Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (41). 82 So bezeichnet u. a. von Arend, WQ 26 (2003), S. 89 ff. (89). 83 Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (514, 521); Eick, ZRP 2004, S. 200 ff. (201); Freedman, WQ 26 (2003), S. 105 ff. (107); Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S.  113 ff. (115); Kamp, TIP Spring 2003, S.  17 ff. (18); ders., Von Prävention zu Prä­ emption?, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 125 ff. (126); ders., IP 6/2004, S. 42 ff.; Kearley, WyomingLR 3 (2003), S. 664 ff. (672); Kröning, HuV 16 (2003), S. 82 ff.; Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (120); Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 40; Luban, PhilPublAff 32, S. 207 ff. (212); Murswiek, NJW 2003, S. 1014 ff. (1017); Rodin, Prevention, in: Preemption, S. 143 ff. (144); Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 253 f.; Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (599); Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 63; Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (371); ders., Demokratie und Frieden, S. 128; Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (157). 84 Dictionary of Military and Associated Terms, S.  428 (26.08.2008) bzw. S.  288 (31.12.2010): „An attack initiated on the basis of incontrovertible evidence that an enemy ­attack is imminent.“; s. dazu auch Kröning, HuV 16 (2003), S. 82 ff. 85 Conte, Security in the 21st Century, S. 105; Downes, JCSL 9 (2004), S. 277 ff. (288, dort Fn. 94); Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (465); ders., ICJ and Self-Defence, S. 28; wohl auch Garwood-Gowers, AustralianYIL 23 (2004), S. 51 ff. (53). 86 Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 235, sieht dabei den Verzicht auf jede Form von Gegenwärtigkeit als entscheidend an, bezeichnet hierbei pre-emptive self-defence aber irre­ führend als „vorbeugende Selbstverteidigung“. Dies ist wohl nur der Schwierigkeit geschuldet, eine deutsche Begriffsentsprechung zu finden (s. o.) und soll für die in dieser Arbeit thema­ tisierte vorbeugende Selbstverteidigung ohne Bedeutung sein. 87 Hofmann, GYIL 45 (2002), S. 9 ff. (32 f.); Kurtulus, MidEastJ 61 (2007), S. 220 ff. (225); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S.  284; Wolfrum, MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff. (31). Bemerkenswerterweise definiert so entgegen der Definition des US-Verteidigungsministeriums (s. o. Fn.  84 in diesem Kap.) auch der US-Kongressberichterstatter Grimmett, CRS Report for Congress (18.09.2002), Summary.

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2. Kap.: Terminologie

Ist der unmittelbare Eintritt eines Auslösers einer Selbstverteidigungslage hinreichend wahrscheinlich, seien Gewalthandlungen zur Verhinderung dieses Eintritts als präemptive Selbstverteidigung zu qualifizieren88. Zum Teil  überträgt diese Ansicht noch geringere Anforderungen auf die prä­ emptive Selbstverteidigung, indem sie ebensolche schon bei der vagen Möglichkeit (auch: „abstrakten Gefahr“89) eines nicht näher bestimmten zukünftigen Auslösers annimmt90. Mitunter wird präemptive Selbstverteidigung sogar dann angenommen und für rechtmäßig gehalten, wenn der Gewaltanwender sich bloß subjektiv „vernünftig“ verhalten habe91. Aus diesen Gründen wird jedoch häufig gerade im Gegenteil auf die Indikation der Völkerrechtswidrigkeit präemptiver Selbstverteidigung geschlossen92; die Begriffe der präemptiven Selbstverteidigung und des Präventivkrieges werden hierbei in direkte Verbindung gesetzt93. Die Stoßrichtung dieser Ansicht bringen Fletcher und Ohlin treffend auf den Punkt: „One would assume that when the use of force comes too soon, it should be described as preemptive (…).“94 Eine weitere Ansicht zieht zur Bestimmung präemptiver Selbstverteidigung weder Zeitpunkt noch Wahrscheinlichkeit eines Auslösers einer Selbstverteidigungslage heran, sondern betrachtet die Beschaffenheit des mutmaßlichen Auslösers selbst. Dieser Blickwinkel überschneidet sich teilweise mit dem Anknüpfungspunkt der Wahrscheinlichkeit, wenn als Maßstab eine nicht exakt bestimmte, aber bestimmbare Bedrohung herangezogen wird95. Als alternativer Maßstab wird die Zuordnung zu terroristischen Aktivitäten96 als Kriterium für die Beschaffenheit des Auslösers angelegt97. Die zugestandene Unsicherheit der als flexibel ange­sehenen

88 Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (634, dort Fn. 16); ders., JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (4, dort Fn. 3); Kittrich, Self-Defense, S. 150; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (138); Reisman, AJIL 97 (2003), S. 82 ff. (86 f.); ders./Armstrong, AJIL 100 (2006), S.  525 ff. (527); dies., Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S.  79 ff. (80); Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (531). 89 Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 99. 90 Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (789 f.); Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (338); ders., JCSL 13 (2008), S.  25 ff. (29 f.); Hobe, Einführung, S.  339; Melzer, Targeted ­Killing in Int’l. Law, S. 52; O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 2; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 825 (S. 295). 91 Capezzuto, NYLSJICL 14 (1993), S.  375 ff. (393); Shoham, MilitaryLR 109 (1985), S. 191 ff. (194). 92 Gazzini, JCSL 13 (2008), S. 25 ff. (32); Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (124); O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 2, mit weiteren Erläuterungen dort in Fn. 5. 93 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1367, 1422 f.); Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (124). 94 Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 91 (Hervorh. v. Verf.). 95 Häußler, NZWehrr 2004, S. 221 ff. (229). 96 Wie terroristische Aktivitäten oder Terrorismus selbst im zeitgemäßen Sinne zu definieren sind, ist hoch umstritten; vgl. für einen modernen Ansatz zur Terrorismusdefinition z. B. Williamson, Terrorism, War, Int’l. Law, S. 37 ff. 97 Shearer, Just War Theory, in: FS-Dinstein, S. 1 ff. (14).

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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Anforderungen an Zeitpunkt und Wahrscheinlichkeit könne durch eine dann als präemptiv bezeichnete Gewalthandlung gegen das qualifizierte Ziel „Terroristen“ kompensiert werden. Wiederum andere Stimmen sprechen sich gegen jede eigenständige völkerrechtliche Bedeutung des Begriffs der präemptiven Selbstverteidigung aus. Zum Teil wird er – wie oben bereits dargestellt98 – inhaltlich mit präventiver Selbstverteidigung gleichgesetzt und dabei mitunter sogar als bloße sprachliche Verschleierung seines in Wahrheit präventiven Charakters bezeichnet99. Andere setzen präemptive Selbstverteidigung mit antizipatorischer100 gleich101. Vereinzelt wird sogar behauptet, dass präemptive Selbstverteidigung jede (d. h. auch reaktive) Form von Selbstverteidigung umfasse102. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass demnach präemptive Selbstverteidigung als Oberbegriff für Selbstverteidigung allgemein zu verstehen sein soll. Auch die jeweiligen Fassungen der US-amerikanischen NSS der Jahre 2002103 und 2006104 beschreiben die Voraussetzungen von dort so bezeichneter präemptiver Selbstverteidigung. Diese setzt sich dort aus Motiven sog. antizipatorischer und präventiver Maßnahmen zusammen; ob jedoch dabei wiederum an Zeit oder Wahrscheinlichkeit angeknüpft wird, bleibt unklar. Überhaupt wird nicht näher darauf eingegangen, was unter antizipatorischen und präventiven Maßnahmen zu verstehen ist. So mag man zwar herauslesen, dass präemptive Selbstverteidigung nach den NSS 2002/2006 ein Oberbegriff für präventive und antizipatorische Selbstverteidigung sein soll105, jedoch fehlt es an tauglichen Definitionen die-



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s. o. 2. Kap. A. II. 1. Kamp, TIP Spring 2003, S. 17 ff., spricht z. B. von einer „linguistic subtlety“ (S. 17); für Kreutzer, Preemptive Self-Defense, hat der Begriff rein „euphemistischen Charakter“ (S. 10). 100 Dazu näher sogleich u. unter IV. 101 Arend, WQ 26 (2003), S. 89 ff. (90); ders./Beck, Use of force, S. 79; Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (514); Beres, AZJICL 8 (1991), S. 89 ff. (89 f.); Cassese, Int’l. Law, S. 358; Diener, Terrorismusdefinition, S.  250; Hamid, NILR 54 (2007), S.  441 ff. (445); Jennings/ Watts, Oppenheim’s Int’l. Law, S.  421 f.; Kearley, WyomingLR 3 (2003), S.  664 ff. (672); McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S.  210; Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (272); Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (600); Shaw, Int’l. Law, S. 1137 f.; beiläufig zudem Bothe, EJIL 14 (2003), S. 227 ff. (231); bezogen auf den so bezeichneten preemptive war ferner Henkin, AJIL 65 (1971), S. 544 ff. (545). 102 Alexander, NDLR 74 (1999), S. 1475 ff. (1476), der sich auf das Institut der self-defense im US-amerikanischen Strafrecht bezieht, möchte seine Ausführungen hierzu aber nicht darauf beschränkt wissen. 103 NSS 2002, S. 15. 104 NSS 2006, S. 23, 28. 105 Anders verfährt z. B. Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff., die dort in Fn. 71 auf S. 519 aus der NSS 2002 folgert, dass der Begriff der antizipatorischen Selbstverteidigung als Oberbegriff für präventive und präemptive diene. Die Ausführungen der NSS 2002 sprechen indes eher für die hier dargestellte Auffassung, jedoch ist eine alternative Interpretation angesichts der teils verschleierten Formulierungen innerhalb der NSS 2002 nicht ausgeschlossen.

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2. Kap.: Terminologie

ser Einzelelemente. Nach diesem Verständnis ist ein inhaltlicher Widerspruch zum oben dargestellten – eindeutigen – Inhalt der Veröffentlichung des eigenen Verteidigungsministeriums nicht zu übersehen. 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung

Angesichts der beschriebenen vielschichtigen, sich meist widersprechenden Ansichten zur möglichen Rechtmäßigkeit präemptiver Selbstverteidigung kann wiederum nur festgestellt werden, dass diesem Begriff im modernen Völkerrecht106 eine ausgesprochen hohe Bedeutung zukommt. Inhalt und Rechtsfolge präemptiver Selbstverteidigung lassen sich jedoch nicht eindeutig aus dem lebhaften Meinungsstand herausfiltern. Gemeinsam haben alle Ansichten nur, dass sie jedenfalls von der einleitend vorgenommenen natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung umfasst sind. Im Übrigen fällt aber bereits eine inhaltliche Abgrenzung zwischen präventiver und präemptiver Selbstverteidigung schwer, werden doch identische Voraussetzungen einmal ersterer und ein anderes Mal letzterer Variante zugeschrieben. Dies führt zu einer begrifflichen Konfusion beider Formen, zumal eine saubere lexikalische Trennung in der deutschen Sprache misslingt. IV. Antizipatorische Selbstverteidigung (anticipatory self-defence) Ein weiterer Begriff, der häufig im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung fällt, ist jener der antizipatorischen Selbstverteidigung, im Englischen anticipatory self-defence genannt. Deutsche Synonyme zum Wort „antizipieren“ sind „vorwegnehmen“ und „zuvorkommen“107. Eine Gewalthandlung, die einer Selbstverteidigungslage zuvorkommt, ist begrifflich von der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung umfasst; deshalb allein liegt es schon nahe, auch ihre völkerrechtliche Beachtlichkeit anzunehmen und diese zu untersuchen. Gegen eine mögliche Beachtlichkeit spricht hingegen der Vergleich zu dem im nationalen  – zumindest deutschen  – Strafrecht verwendeten Begriff 106 Klarstellend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Arbeit unter der Bezeichnung „modernes Völkerrecht“ die Rechtsentwicklungen nach 1945 versteht. In der Literatur wird dieses Verständnis zuweilen nicht geteilt, vgl. z. B. Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (242), der unter modernem Völkerrecht die Entwicklungen der letzten 500 Jahre zusammenfasst. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die von Grewe, Epochs, S. 639 f., kontrovers diskutierten Argumente zu der Frage, ob nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich eine neue völkerrechtliche Epoche angebrochen ist. Dafür und für deren Bezeichnung als „modernes Völkerrecht“ spricht letztendlich auf überzeugende Weise, dass mit den Vereinten Nationen erstmals eine organisierte Weltgemeinschaft ins Leben gerufen wurde, die sich (im Gegensatz zum Völkerbund) global konstituiert hat und welche auf dem zuvor nicht verwirklichten Prinzip des Gewaltverbots beruht. 107 Duden, S. 166; Wahrig, S. 163.

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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der „antizipierten Notwehr“108, der eher auf die außerhalb des Umfangs vor­ beugender Selbstverteidigung liegende automatisiert-reaktive Konstellation passt. Ob sich dies – ungeachtet denkbarer subtiler Begriffsunterscheidungen zwischen „antizipatorisch“ und „antizipiert“ – auch auf das Völkerrecht auswirkt, ist nun zu analysieren. 1. Definitionsansätze

Einerseits wird für die Bestimmung antizipatorischer Selbstverteidigung auf den Zeitpunkt eines objektiv gewiss eintretenden Auslösers einer Selbstverteidigungslage abgestellt. Ein solcher muss nach dieser Ansicht unmittelbar bevorstehen, wodurch eine Selbstverteidigungshandlung in antizipatorischer Form womöglich rechtmäßig wäre109. Vereinzelt wird innerhalb dieser Ansicht antizi­ patorische Selbstverteidigung begrifflich mit präventiver gleich gesetzt110. Andererseits wird ein subjektives Empfinden des sich mutmaßlich Verteidigenden in den Vordergrund gestellt. Zuweilen bleibt dabei unklar, ob sich noch am Zeitpunkt eines als gewiss empfundenen zukünftigen Auslösers orientiert werden soll111 oder ob doch eher an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Selbstverteidigungslage anzuknüpfen ist112. Da aber beim Heranziehen einer subjektiven Einschätzungsprärogative des mutmaßlichen Verteidigers notwendigerweise stets Wahrscheinlichkeitserwägungen anzustellen sind, spricht vieles dafür, diese primär subjektive Ansicht generell als wahrscheinlichkeitsbezogen zu deuten113. Dies führt sie wiederum in die Nähe einer weit verbreiteten Ansicht zur Präemption, deren gegenseitige Abgrenzung – sofern überhaupt möglich – schwer fällt114. 108

s. o. 1. Kap. C. IV. 3. Downes, JCSL 9 (2004), S.  277 ff. (288, dort Fn.  94); Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (465); ders., ICJ and Self-Defence, S. 28; Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (634, dort Fn. 17); ders., JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (4 f., dort Fn. 4); Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (444 f.); Hobe, Einführung, S. 337 f.; Hofmann, GYIL 45 (2002), S. 9 ff. (32); ­Kittrich, Self-Defense, S. 149; Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (123); Kunde, Präventivkrieg, S. 136; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (138); Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (30); Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (80); Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (530); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 132; Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 284; White, Selfdefence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S.  235 ff. (236); Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (964); Wolfrum, MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff. (30). 110 Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (137 f.). 111 So war wohl entgegen seiner neueren soeben dargestellten Ansicht Reisman, AJIL 97 (2003), S. 82 ff. (84), zu verstehen. 112 Beres, AZJICL 8 (1991), S. 89 ff. (93); Melzer, Targeted Killing in Int’l. Law, S. 53 (in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung als ein Teilaspekt des targeted killing); Rothwell, UQueenslandLJ 24 (2005), Art. Nr. 23, Abschn. I. 113 So dürfte auch Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 99, zu verstehen sein, der unter diesen Begriff die Bekämpfung einer „konkreten Gefahr“ fasst. 114 Dies zugestehend Rothwell, UQueenslandLJ 24 (2005), Art. Nr. 23, Abschn. IV. 109

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2. Kap.: Terminologie

Gerade noch vage an Wahrscheinlichkeit orientiert sich eine weitere Meinung zur antizipatorischen Selbstverteidigung. Eine Gewalthandlung erfolge hiernach dann antizipatorisch, wenn sie schon in unbestimmbarer Zeit vor dem Auslöser einer Selbstverteidigungslage, also bei ungewisser Faktenlage, durch­geführt wird115. Aus diesem weiten Verständnis wird gefolgert, dass antizipatorische Selbstverteidigung der Aggression gleichkäme und daher illegal sei116. Nach einer weiteren Ansicht sei antizipatorische Selbstverteidigung nur ein anderer, aber bedeutungsgleicher Begriff für präemptive Selbstverteidigung117. Dies gilt auch nach Maßgabe der Chatham House118 Principles on the Use of Force in Self-Defence, welche jedoch den Begriff der antizipatorischen Selbstverteidigung vorziehen119. Vertreter dieser Ansicht sind sich im Übrigen uneinig in ihren Definitionsversuchen, da sie den obigen Darstellungen folgend teils an zeitlichen Aspekten und teils an Wahrscheinlichkeitserwägungen anknüpfen. Keine selbständige Bedeutung messen wiederum andere dem Begriff der antizipatorischen Selbstverteidigung bei, darunter das High-Level Panel on Threats, Challenges and Change120. Er sei vielmehr als Oberbegriff für präventive und präemptive Selbstverteidigung zu verstehen121. 2. Bedeutung für vorbeugende Selbstverteidigung

Ein einheitliches Bild kann auch in Bezug auf antizipatorische Selbstverteidigung nicht ermittelt werden. Einzig die eingangs geäußerte Skepsis, dass der Begriff angesichts seiner Verwendung in der deutschen strafrechtlichen Notwehrdogmatik überhaupt völkerrechtliche Relevanz haben könnte, konnte entkräftet werden. Im Gegenteil ist die völkerrechtliche Bedeutung des Begriffs hoch, allerdings wie schon bei den zuvor dargestellten Termini nicht genauer eingrenzbar. Die im Einzelnen vertretenen Definitionsansätze ähneln zwar jenen der anderen

115

Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (376). Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (376). 117 So bereits o. unter III. m. w. N. dargestellt. 118 Das Chatham House (früher: Royal Institute of International Affairs) ist eine britische Nichtregierungsorganisation, die sich mit aktuellen Fragen des politischen Zeitgeschehens auf internationaler Ebene, darunter auch des Völkerrechts, befasst. 119 Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (964, dort Fn. 7). 120 High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S. 54 f., Abschn. 189. 121 Anghie, ASIL Proc. 98 (2004), S.  326 ff. (326); Bellier, MaineLR 58 (2006), S.  508 ff. (519, dort Fn. 71); Conte, Security in the 21st Century, S. 104; so zu verstehen ist auch Heisbourg, WQ Spring 2003, S. 75 ff. (78); deutlich Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (115); Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 253 f.; Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 63; Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (371 f.); ders., Demokratie und Frieden, S. 128. 116

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beschriebenen Begriffe; dies sorgt aber eher für Konfusion als für Klarheit. Dieser Umstand lässt die bislang analysierten Begriffe einerseits austauschbar erscheinen, andererseits wäre der diametral entgegenstehende Meinungsstand dann noch weniger deutlich greifbar. Als Zwischenergebnis bleibt somit nur das festzuhalten, was bereits Beck und Arend 1994 erkannten, nämlich dass „relatively little intellectual effort to definitional disputes“122 geleistet wurde. Dieser Missstand besteht vorerst – zumindest hinsichtlich der Begriffe präventiver, präemptiver und antizipatorischer Selbstverteidigung – fort. V. Proaktive Selbstverteidigung (proactive self-defence) Im Vergleich zu den soeben dargestellten Begriffen wird jener der proactive self-defence recht selten verwendet. Häufig ist er im Vokabular verschiedener Kampfsportarten vorhanden, wird aber vereinzelt auch im völkerrechtlichen Kontext gebraucht. Neben der wörtlichen deutschen Übersetzung „proaktive Selbstverteidigung“ kann er als „Selbstverteidigung auf Eigeninitiative“ verstanden werden. Diese freiere Begriffsübersetzung erleichtert den möglichen Zugang zum natürlichen Verständnis vorbeugender Selbstverteidigung anschaulich: Die Initiative der Gewaltanwendung geht von dem sich mutmaßlich Verteidigenden gegen eine (noch) nicht gegenwärtige Selbstverteidigungslage aus und kann damit zugleich vorbeugend sein. Es ist wohl dieser Gedankengang, der den Begriff proactive mit Selbstverteidigung im völkerrechtlichen Sinne verbinden lässt. Bereits von Bradford123 im Zusammenhang mit der NSS 2002 verwendet, hat dieser Begriff spätestens seit dem gleichnamigen Artikel von Boot im Weekly Standard124 Einzug in die Diskussion um vorbeugende Selbstverteidigung gefunden125. Darin interpretiert der Autor die Vorschriften der NATO zum Einsatz in Afghanistan dahingehend, dass sie „pro­ active self-defense operations“ gestatteten und setzt solche in den Kontrast zu verbotenen Offensivoperationen. Er schließt daraus eine Rechtmäßigkeit vorbeugender Gewalt, deren Voraussetzungen jedoch von den einzelnen Vorgesetzten der Truppen festzulegen seien126. Diese kaum noch als unterschwellig zu bezeichnende Kritik setzt proaktive Selbstverteidigung mit den Ansichten gleich, welche hinsichtlich präventiver, präemptiver und antizipatorischer Selbstverteidigung bloße Eventualitäten für legale Gewaltanwendung ausreichen lassen. 122

Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (193). Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1366). 124 Boot, Weekly Standard 03.07.2006. 125 So auch in der Einleitung von Garwood-Gowers, AustralianYIL 23 (2004), S. 51 ff. (51). 126 „Meaning what? That will be up to individual commanders to decide.“, Boot, Weekly Standard 03.07.2006. 123

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2. Kap.: Terminologie

Anders wiederum wird der Begriff von Lee verwendet, der hierin beiläufig lediglich ein Synonym für antizipatorische Selbstverteidigung erkennt127. Eine nähere Definition liefert er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen jedoch nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass proaktive Selbstverteidigung als völkerrechtlich relevante Form natürlich betrachteter vorbeugender Selbstverteidigung nicht ausgeschlossen werden kann, ergeben sich keine neuen Erkenntnisse aus der Analyse des Begriffs. Seine Existenz erhöht allerdings die Zahl der grundsätzlich beachtlichen Termini. VI. Aktive Selbstverteidigung (active self-defence) Nur einen geringfügig anderen Wortlaut als die soeben besprochene proaktive Selbstverteidigung weist die Bezeichnung „aktive Selbstverteidigung“ auf. Dieser Begriff ist im Zusammenhang mit der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung auf Guiora zurückzuführen128. Dieser Autor versteht unter active self-defence das „antizipatorische Vorgehen gegen nichtstaatliche Akteure“, wobei er wiederum antizipatorische Selbstverteidigung uneinheitlich teils zeitpunkt-129, teils wahrscheinlichkeitsorientiert130 definiert. Aktive Selbstverteidigung sei vorwiegend in Form des sog. targeted killing gegen Terroristen rechtmäßig, worauf sich vor allem der Staat Israel regelmäßig berufe131. Mit diesem Verständnis wurde active self-defence vereinzelt bereits früher verwendet132, ihren jüngst wiederkehrenden Gebrauch hat sie dennoch Guiora zu verdanken. Guiora bekräftigt wiederholt133, dass die Bezeichnung einen Spezialfall der im Lichte des ­Caroline-Vorfalls von 1837134 als rechtmäßig betrachteten antizipatorischen Selbstverteidigung kennzeichnen soll; dies als richtig unterstellt, fällt er zwangsläufig unter die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung. Neue Erkenntnisse sind damit jedoch nicht zu gewinnen, weil sich der Spezialfall nur hinsichtlich des Adressaten der Gewalthandlung von der genannten Inter­ 127

Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (120). Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (660), sowie ders., JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (11); krit. hierzu Kinacioglu, JCSL 13 (2008), S. 33 ff. (43). 129 Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (4 f., dort Fn. 4); wohl auch ders., CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (660). 130 Guiora, CWRJIL 36 (2004), S. 319 ff. (323). 131 Guiora, CWRJIL 36 (2004), S. 319 ff. (319). 132 Sofaer, MilitaryLR 126 (1989), S. 89 ff. (95). 133 Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (11), mit anmerkender Bezugnahme u. a. auf CWRJIL 36 (2004), S. 319 ff. 134 So ist jedenfalls Guiora zu verstehen, wenn er das Jahr 1837 mit der berühmten ­Webster-Formel in Verbindung setzt [konsequent seit CWRJIL 36 (2004), S. 319 ff. (323)], welche aber tatsächlich erstmalig 1841 formuliert wurde; s. zum Caroline-Vorfall ausführlich u. 6. Kap. D. IV. 128

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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pretation antizipatorischer Selbstverteidigung abgrenzt; der vorbeugende Charakter selbst wird hingegen nicht tangiert. Strikt zu trennen ist dieser Begriff ferner von der wortgleichen klassischen Unterteilung Bowetts, der active self-defense als völkerrechtliche Handlung zwischen rein innerstaatlicher passive self-defense abgrenzt135, jedoch dabei keinen Bezug zu möglichen vorbeugenden Aspekten setzt. Vor diesem Hintergrund ist die neuer­ liche Begriffswahl, bei welcher Bowett und seine jahrzehntelang anerkannte Darstellung offenbar nicht berücksichtigt wurden, in Verbindung mit vorbeugender Selbstverteidigung zumindest als unglücklich zu bezeichnen. Es ist somit festzuhalten, dass active self-defence keinen selbständigen Beitrag zu einer möglichen Definition vorbeugender Selbstverteidigung liefert und des­ wegen im Verlauf dieser Arbeit vernachlässigt werden kann. VII. Abfangende Selbstverteidigung (interceptive self-defence) Ein weiterer vereinzelt im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung erwähnter Begriff ist interceptive self-defence. Er lässt sich im Deutschen am besten mit „abfangende Selbstverteidigung“136 übersetzen, was vom Wortlaut her nahelegt, sie als Verteidigung gegen einen drohenden Schaden durch eine bereits in die Wege geleitete, aber noch nicht abschließend auf Schadensverursachung irreversibel verdichtete Vorbereitung einer Selbstverteidigungslage zu bezeichnen. Ein Auslöser hat sich noch nicht manifestiert, ist aber im Begriff dies zu tun. Es drängt sich dabei das Bild des bereits gestarteten, aber noch nicht im Zielgebiet angekommenen bemannten Kampfflugzeuges auf, das kurz vor dem Beginn seines mutmaßlichen Angriffsfluges abgeschossen wird137. Nach diesem Wortlaut­ ansatz wäre ein streng gen Gegenwärtigkeit tendierender zukünftiger Auslöser einer Selbstverteidigungslage als Bezugspunkt heranzuziehen. Explizit erwähnt wurde abfangende Selbstverteidigung in der völkerrecht­ lichen Diskussion eher selten, tritt in der jüngeren Zeit aber verstärkt auf138. Dinstein kennzeichnet mit diesem Begriff  – in Abgrenzung zu „antizipatorischer Selbstverteidigung“139 – eine seines Erachtens rechtmäßige Fallgruppe von Selbstverteidigung i. S. v. Art. 51 SVN für Angriffshandlungen, welche schon unwider 135

Bowett, Self-Defense, S. 21. Im Deutschen ist bei Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 99, neuerdings auch die Bezeichnung „interzipierende Selbstverteidigung“ anzutreffen. 137 Im Gegensatz dazu steht das einleitend erwähnte Beispiel der Langstreckenrakete, bei welcher sich bereits ein Auslöser, noch nicht aber ein Schaden manifestiert hat. Das bemannte Flugzeug (oder auch die ferngesteuerte Drohne) wäre nämlich erst mit Beginn des von einem weiteren Zwischenakt des Piloten abhängigen Angriffsfluges als Auslöser zu qualifizieren, während es dafür bei der abgefeuerten Rakete keines weiteren Zwischenakts bedarf. 138 Vgl. Diener, Terrorismusdefinition, S. 251 f.; Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (161). 139 Dinstein, Self-Defense, in: Computer Network Attack, S. 99 ff. (111). 136

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2. Kap.: Terminologie

ruflich in Gang gesetzt wurden, aber noch nicht zum Schaden geführt haben140. Diese Auffassung würde dann gerade nicht mehr unter die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung – und auch nicht mehr unter die gerade getätigte Wortlautinterpretation von „abfangend“ – fallen, da sie ja von einem bereits manifestierten, wenn auch noch nicht schädigenden Auslöser ausgeht. Ebenso ordnen weitere Autoren141 solche Situationen einem reaktiven Verständnis von Selbstverteidigung im Gegensatz zu „antizipatorischer“ zu. Andere lassen hingegen ein Verständnis im Sinne der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung zu: Gazzini sieht in abfangender Selbstverteidigung losgelöst von der SVN das Gegenstück zu präemptiver Selbstvertei­digung142. Er verwendet interceptive self-defence für gegen „absolut unmittelbar“143 bevorstehende Angriffe gerichtete Gewalthandlungen; er fügt sich also mit diesem Begriffsverständnis, welches er nach eigenen Angaben von einem gewissen Roberts aufgegriffen hat144, in die hier getätigte Wortlautinterpretation ein. Das gleiche Verständnis haben auch weitere Autoren145; in diesen Kreis reiht sich Murphy146 ein, der jedoch inhaltlich keinen Unterschied zu antizipato­rischer Selbstverteidigung sieht. Ganz im Gegensatz dazu legt sich neuerdings Löw dahingehend fest, dass inter­ ceptive self-defence als gleichbedeutend mit präemptiver Selbstverteidigung zu verstehen sein soll147. Dinstein als Schöpfer dieser Bezeichnung habe sich mit seiner Darstellung nur begrifflich, nicht aber inhaltlich von so bezeichneter präemptiver Selbstverteidigung abgesetzt. Abgesehen von dieser alleinstehenden abweichenden Auffassung haben sämt­ liche Umschreibungen gemeinsam, dass sie abfangende Selbstverteidigung als eine Variante von Selbstverteidigung betrachten, welche angesichts der aufgezeigten Einordnungsschwierigkeiten gleichsam als Zwitter zwischen eindeutig vorbeugender und eindeutig klassisch-reaktiver Selbstverteidigung steht148. Abgesehen von Nuancen existiert unter der großen Mehrzahl der (noch) wenigen Verwender dieses Begriffs in seinen Voraussetzungen und der Annahme seiner Rechtmäßigkeit kein konfligierender Meinungsstand; uneinheitlich wird lediglich die Kategorisierung von interceptive self-defence vorgenommen, nämlich entweder 140

Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 191 f. Kittrich, Self-Defense, S.  36, 198; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S.  92 f.; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 253; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (530). 142 Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (338). 143 Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (329). 144 Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (329, dort Fn. 50). 145 Diener, Terrorismusdefinition, S. 252; Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (123); Shaw, Int’l. Law, S. 1139. 146 Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (30). 147 Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 40. 148 Ebenso Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S.  99; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (532). 141

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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als Zuordnung zu noch reaktiver oder doch schon zu einer Form der vorbeugenden Selbstverteidigung. Da jedenfalls einige Ansichten auch vorbeugende Aspekte nach der hier zu Grunde liegenden natürlichen Betrachtungsweise aufweisen, ist abfangende Selbstverteidigung als Teilaspekt dieser Sichtweise zu verstehen, wenn auch als dem der klassischen Selbstverteidigung ähnlichsten. VIII. Einsetzende Selbstverteidigung (incipient self-defence) Ähnlich wie die gerade untersuchte interceptive self-defence klingt der noch seltener anzutreffende Begriff der incipient self-defence. Letzterer kann als „einsetzende Selbstverteidigung“ übersetzt werden, was wiederum Raum für eine nähere Wortlautauslegung schafft. Unter „einsetzen“ kann man das Eingreifen in einen bereits begonnenen, jedoch nicht vollendeten Vorgang, etwa i. S. v. „etwas dazwischensetzen“ verstehen149. Übertragen auf völkerrechtliche Selbstverteidigung bedeutet dies also die Gewaltanwendung gegen einen bereits in Gang gebrachten, jedoch noch nicht durch Schaden realisierten Auslöser einer Selbstverteidigungslage. Dies entspricht im Ergebnis dem Wortlautverständnis abfangender Selbstverteidigung. Bestärkt wird dieses Verständnis angesichts der nur oberflächlich existenten Unterscheidung zwischen den Wörtern „abfangen“ und „einsetzen“ im Zusammenhang mit Selbstverteidigung. „Abfangen“ bezieht sich dabei auf das Verhindern des unmittelbar bevorstehenden Schadens durch gerade noch rechtzeitige Beendigung der sonst dazu führenden Handlung, „einsetzen“ bezieht sich auf das Entgegenwirken dieser Handlung direkt. Die Unterschiede sind also nur marginaler Natur in finaler Hinsicht, nämlich hinsichtlich des konkreten Bezugspunktes: Schaden oder zum Schaden führende Handlung. Hinsichtlich Zeitpunkt und Art des Auslösers einer Selbstverteidigungslage, also hinsichtlich der nach bisheriger Analyse maßgeblichen Kriterien, gibt es hingegen keine Unterschiede. Dem Wortlaut nach sind also die im Englischen ähnlich klingenden Begriffe abfangender und einsetzender Selbstverteidigung synonym zu verstehen. In der völkerrechtlichen Diskussion verweisen die Verwender150 des Begriffs der einsetzenden Selbstverteidigung stets auf Dinstein151, der ihn geprägt haben soll. Er verwendet jedoch nie die Kombination von incipient und self-defence, sondern spricht stets – auch in den oft in Bezug genommenen Vorauflagen seines Standardwerkes – in den zu einsetzender Selbstverteidigung zitierten Passagen ausschließlich von oben beschriebener interceptive self-defence. Diese bezieht sich zwar auf

149

Duden, S. 491; Wahrig, S. 428. Z. B. Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (139); Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (120); O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 9. 151 Regelmäßig wird auf Dinstein, War, Aggr., Self-Def. (3. Aufl.), S. 172, verwiesen; inzwischen ist wohl Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 191 f., die aktuelle Fundstelle. 150

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2. Kap.: Terminologie

einen incipient armed attack152, also einen einsetzenden Angriff als Auslöser einer Selbstverteidigungslage, bleibt aber dabei als Verteidigung interceptive. Diese feinsinnige Differenzierung Dinsteins entspricht auch dem soeben angestellten Bedeutungsvergleich zwischen den Wörtern „abfangend“ und „einsetzend“. Ersteres bezieht sich auf die Verteidigungshandlung, letzteres auf den Auslöser einer solchen. Einzig die ungenaue Wiedergabe der Ansicht Dinsteins führte somit zu einem vermeintlich neuen, zusätzlichen Begriff im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung. Angesichts der Tatsache, dass er sich in der Sache gänzlich auf die Bedeutung von interceptive self-defence bezieht, ist ihm eine eigenständige Bedeutung abzusprechen. Die wenigen Autoren, die irrtümlich von einer solchen ausgehen, meinen in Wahrheit interceptive, nicht incipient self-defence. In diesem Sinne sollen sie auch verstanden werden, denn falsa demonstratio non nocet. IX. Vorweggenommene Selbstverteidigung Ein weiterer im Zusammengang mit vorbeugender Selbstverteidigung erwähnter, vermeintlich innovativer Begriff ist jener der vorweggenommenen Selbstverteidigung. Wie bereits oben angeschnitten153, ist er auf einen Aufsatz von Breitwieser zurückzuführen154. Darin moniert der Autor zu Recht die besonders außerhalb des anglo-amerikanischen Rechtskreises herrschende Begriffskonfusion zwischen präventiver und präemptiver Selbstverteidigung und kommt zu dem Ergebnis, dass eine Übertragung des Wortes pre-emptive in die deutsche Sprache nicht möglich sei. Stattdessen führt er den Begriff „vorweggenommen“ als Übersetzung ein155 und benutzt ihn fortan als Synonym für alles von anderen Autoren als „präemptiv“ Verstandene. Neue begriffliche Erkenntnisse liefert diese Vorgehensweise allerdings nicht. Weder in Bezug auf eine mögliche Eingrenzung als präemptiv aufgefasster Selbstverteidigung noch in Bezug auf eine mögliche neue Deutung vorbeugender Selbstverteidigung als sog. vorweggenommene erhellt Breitwiesers begriffliche Neuschöpfung die dunkle Diskussion. Im Gegenteil wurde der Begriff der „vorweggenommenen Selbstverteidigung“ später anderweitig aufgenommen und mit „präventiver Selbstverteidigung“ gleichgesetzt156; so wurde (wohl unfreiwillig) eine weitere Schlaufe in den gordischen Begriffsknoten gezogen. Es kann daher zum Begriff der präemptiven Selbstverteidigung kein anderes Ergebnis als das bereits ermittelte gefunden werden. Auch eine neue Betrach 152

Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 191 f.; vgl. auch die 3. Aufl., S. 172 f., 178. s. o. 2. Kap. A. III. 154 Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. 155 Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (46). 156 Diener, Terrorismusdefinition, S. 250.

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tungsweise von vorbeugender Selbstverteidigung im allgemeinen verschafft die Verwendung des Wortes „vorweggenommen“ nicht. Mangels dogmatischer Erkenntnisse dient es daher bloß noch als eine der deutschen Sprache nähere Alternative zum mehrheitlich verwendeten Begriff der präemptiven Selbstverteidigung. Damit fehlt auch dem Begriff der vorweggenommenen Selbstverteidigung eine eigenständige völkerrechtliche Relevanz. X. Vorsorgliche Selbstverteidigung (precautionary self-defence) Ein weiterer neuerer Terminus zur Beschreibung einer Teilmenge vorbeugender Selbstverteidigung ist im deutschen Schrifttum die von Schweisfurth vor­ geschlagene Formulierung „vorsorgliche Selbstverteidigung“157. Aus vergleichbaren Motiven wie jenen soeben von Breitwieser dargestellten stört sich Schweisfurth an der Bezeichnung pre-emptive self-defense der NSS 2002, weil sie nicht mit dem darunter propagierten Inhalt korrespondiere. Selbstverteidigende Gewalt gegen sog. „Schurkenstaaten“ und Terroristen seien nicht präemptiver (nach Schweisfurth: „zuvorkommender“), sondern vorsorglicher Natur. Aus diesem Grund solle im Deutschen von „vorsorglicher Selbstverteidigung“ gesprochen werden und im Englischen entsprechend von precautionary self-defence158. Diese Argumentation ist wohl auf einen Aufsatz von Byers aus dem Jahr 2003 zurückzuführen, der damit im englischsprachigen Schrifttum bereits deutlich früher eine Begriffskorrektur zu precautionary self-defense forderte, jedoch kaum Beachtung fand159. Diese aus sprachlicher Sicht160 in Teilen nachvollziehbare, wenn auch in der Praxis nicht aufgegriffene Forderung Schweisfurths wie auch Byers’ führt bei der hier vorzunehmenden Begriffsanalyse indes nicht weiter. Es handelt sich bei dem Vorschlag der Autoren eher um eine Bezeichnungs- und – für den deutschsprachigen Raum – Übersetzungsmodifikation als um die Einführung eines weiteren Begriffs. „Vorsorgliche Selbstverteidigung“ fügt sich somit ebenso wie pre-emptive self-defence in die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung ein, liefert aber darüber hinaus keine neuen – insbesondere inhaltlichen – Erkenntnisse, sodass der Begriff völkerrechtlich schon deshalb als nicht relevant einzu­ stufen ist.

157

Schweisfurth, Völkerrecht, S.  377 ff., Rn.  328 ff.; dies offenbar aufgreifend Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (159). 158 Schweisfurth, Völkerrecht, S. 378, Rn. 330. 159 Byers, Ethics&IntAff 17 (2003), S. 9 ff. 160 Vgl. bereits zur Herleitung einer Definition von vorbeugender Selbstverteidigung o. 1. Kap. A. I.

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2. Kap.: Terminologie

XI. Begriffsfeld Selbsterhaltung (vor allem: self-preservation) Die Theorie der Selbsterhaltung161 (die zuweilen mit Selbsthilfe gleichgesetzt wird162) stammt aus dem 18.  und 19.  Jahrhundert und billigt jedem Staat das Recht zu, die Rechte jedes anderen Staates zu verletzen, wenn die eigene Existenz gefährdet ist163. Sie ist auf Émer de Vattel164 zurückzuführen und entwickelte sich langsam fort. Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte der bedeutende Völkerrechtler Erich Kaufmann, der Staat habe zur Selbsterhaltung die Befugnis, alle internationalen Handlungen auszuführen, die dafür erforderlich sind165, und gab damit eine seinerzeit nicht unbedeutende Ansicht166 wieder. Unter ein solches Recht fällt sodann zwangsläufig das gewaltsame Handeln zur Verhinderung eines drohenden Schadens, wenn dieser Schaden den sich auf vorbeugende Selbstverteidigung berufenden Staat in seiner Existenz gefährden würde167. Die Theorie der Selbsterhaltung beschriebe dann vorbeugende Selbstverteidigung in qualifizierter Form168. Nach einer anderen Ansicht wäre eine solche Ableitung nicht einmal erforderlich, weil zumindest bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Selbsterhaltung und Selbstverteidigung als synonym anzusehen gewesen seien169. Diese Vermengung wird von einer Mindermeinung im anglo-amerikanischen Rechtskreis noch heute aufrechterhalten, um daraus ein Recht auf be‑ grenzte Gewaltanwendung zum Schutz wesentlicher staatlicher Interessen herzuleiten170. Nach Gründung der Vereinten Nationen und der Kodifikation der Selbstverteidigung in Art. 51 SVN existierte die Theorie der Selbsterhaltung selbständig weiter, verlor aber tatsächlich an Konturen171; teils wird dies ketzerisch damit begründet, dass den Staaten eine genaue Definition der Selbsterhaltung überhaupt nicht ge 161

Vgl. instruktiv Green, Self-Preservation, in: MPEPIL, Online-Ausgabe. Vgl. zur sog. self-help nur klassisch Lauterpacht, Function of Law, S. 393 f. 163 s.  z. B. Genoni, Notwehr, S.  43; Occelli, SDILJ 4 (2003), S.  467 ff. (480); Schmidl, ­Changing Nature of Self-Defence, S. 31 ff., 230. 164 Zit. bei Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S. 325 ff. (333), und Occelli, SDILJ 4 (2003), S. 467 ff. (480). 165 Kaufmann, Wesen des Völkerrechts, S. 199 f.; vgl. ferner Radke, Staatsnotstand, S. 145 f. 166 Vgl. Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 331, m. w. N. 167 s.  zu möglichen weiteren Anwendungsfällen vor allem Radke, Staatsnotstand, S.  152, m. w. N. 168 So beschreibt es auch (jedoch in der Sache ablehnend) Berber, Allg. Friedensrecht, § 24, S. 203. 169 Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S. 325 ff. (334); Lauterpacht, Function of Law, S. 179; Schinzel, Notwehr im Völkerrecht, S. 9; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 760; beide Meinungen wiedergebend Alexandrov, Self-Defense, S. 23. 170 Näher dazu Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S. 49 ff. (73 ff.). Andere beschreiben Selbsterhaltung als den historischen Vorläufer des modernen Notstandsrechts, s. z. B. ­Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S. 337 ff. (340). 171 Bowett, Self-Defense, S. 10; Green, Self-Preservation, Rn. 7 f., in: MPEPIL, Online-Ausgabe; Radke, Staatsnotstand, S. 149 f. 162

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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nehm gewesen sei172. Hieraus lässt sich also weder auf eine Hinwendung zu noch eine Abkehr von der hier noch natürlich betrachteten vorbeugenden Selbstverteidigung schließen. Für die grundsätzliche Beachtlichkeit der Theorie der Selbsterhaltung unter vorbeugend-selbstverteidigenden Aspekten spricht jedoch der neu zu verzeichnende Trend, sich auf sie im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung mit ähnlichen Argumenten wie auf so bezeichnete vorbeugende Selbstverteidigung zu berufen173. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den mit der Selbsterhaltung verwandten (und im Englischen häufig bedeutungsgleich als self-preservation oder selfprotection bezeichneten) Begriffen der Selbstbehauptung bzw. des Selbstschutzes. Sie werden teilweise als Oberbegriffe u. a. für die Theorie der Selbsterhaltung verwendet174, die Selbstbehauptung gilt neuerdings aber auch als staatsrechtliches (und damit primär innerstaatliches und nicht völkerrechtliches) Prinzip, nach welchem sich der einzelne Bürger im Interesse der (völkerrechtlichen) Selbsterhaltung des Staates im Notfall zu opfern habe175. Sämtliche Sichtweisen zeigen zwar die mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten der Begriffe „Selbsterhaltung“, „Selbstbehauptung“ und „Selbstschutz“ auf, rücken damit aber zugleich von einer zumindest im Kern einheitlichen Betrachtung weiter ab. Die völkerrechtliche Beachtlichkeit dieser Theorien mag in der heutigen Zeit bestreitbar sein176; es ist jedoch nicht zu leugnen, dass jedenfalls begrifflich hierunter auch die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung fällt. Sie kann zwar anhand von Selbsterhaltung nicht rechtsbegrifflich geschärft werden, verdeutlicht aber einmal mehr ihre vielschichtige Erscheinungsform. XII. Notstand ([state of] necessity) Ein denkbares völkerrechtliches Notstandsrecht wird historisch teils eng mit dem soeben dargestellten Selbsterhaltungsrecht177 oder auch ausdrücklich mit vorbeugender Selbstverteidigung178 verknüpft. Demnach sei eine Gewalthandlung nach völkerrechtlichem Notstand rechtmäßig, wenn ansonsten die Existenz des handelnden Staates gefährdet wäre. Im Vordergrund steht also eine Güterabwägung: Bei schwersten anzunehmenden Schäden soll Gewalt erlaubt sein. Oder mit anderen Worten: Not kennt kein Gebot179. 172

Radke, Staatsnotstand, S. 150. Green, Self-Preservation, Rn. 15 f., in: MPEPIL, Online-Ausgabe. 174 Berber, Allg. Friedensrecht, § 24, S. 195; Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 35. 175 Vgl. dazu Depenheuer, Selbstbehauptung, passim. 176 Dennoch werden sie auch noch zu Zeiten der SVN gerade in Bezug auf Selbstverteidigung gelegentlich angesprochen, s. Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S. 49 ff. (75). 177 s. z. B. Bowett, Self-Defense, S. 10; Genoni, Notwehr, S. 43 ff.; Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S. 325 ff. (333 f.); Radke, Staatsnotstand, S. 142 ff. 178 Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 30 ff. 179 Reichskanzler von Bethmann-Hollweg (04.08.1914), s. o. Fn. 2 in diesem Kap. 173

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2. Kap.: Terminologie

Neben solch drastisch anmutenden Anwendungsfällen ist das im Englischen als necessity bekannte Institut in der völkerrechtlichen Dogmatik nicht wenig verbreitet180. Güterabwägung spielt auch hierbei eine zentrale Rolle. So soll ein Tat­ bestandsmerkmal auch der klassischen Selbstverteidigung necessity sein181, nämlich dann, wenn die Notwendigkeit der Selbstverteidigungshandlung ermittelt werden soll. Diese beiläufige Feststellung ist brisanter als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn im Englischen  – der wohl am häufigsten im Völkerrecht verwendeten Sprache – kann necessity sowohl Notstand als auch Notwendigkeit (oder synonym: Erforderlichkeit) bedeuten182 und wird trotz dieser Ungenauigkeiten auch in beiden Bedeutungsformen in der völkerrechtlichen Literatur verwendet183. Klarstellend wird für Notstand zwar gelegentlich die Bezeichnung state of necessity gewählt184, der Regelfall ist dies indes nicht185. So steht in einer Vielzahl relevanter Dokumente dasselbe Wort einerseits für ein mögliches eigenes völkerrechtliches Institut, andererseits aber für ein bloßes Tatbestandsmerkmal eines möglicherweise anderen völkerrechtlichen Instituts186. Der jeweilige Bedeutungsinhalt von necessity kann daher – wenn überhaupt differenziert wird187 – nur aus dem Kontext der jeweiligen Textpassage ermittelt werden. Dies erschwert das präzise Verständnis und kann Folgefehler in der Anwendung völkerrechtlicher Abhandlungen verursachen. Ungeachtet dieser großen Schwäche der englischen Terminologie gilt es an dieser Stelle eine mögliche Verbindung des Notstandsrechts mit der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung zu finden. Eine der wohl deutlichsten Abhandlungen zum völkerrechtlichen Notstand veröffentlichte die ILC in Art.  25 ihres kommentierten Entwurfs zum Recht der Staatenverantwortlichkeit im Jahr 2001188: 180

s. statt vieler Radke, Staatsnotstand, passim. s. dazu näher u. 3. Kap. B. II. 2. a) cc). 182 Vgl. nur Romain, Rechts- u. Wirtschaftssprache Englisch-Deutsch, S. 488. 183 s. nur exemplarisch die Formulierungen der ILC in ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit, ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff.: Die Ausführungen zu necessity in Art. 25 beziehen sich eindeutig auf ein eigenständiges Notstandsrecht (ibid., S. 80 ff.), während die Kommentierung zu Art. 21 (Selbstverteidigung) in Abs. 6 (ibid., S. 75) dieselbe Terminologie für das der Selbstverteidigung innewohnende Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit aufgreift: „(…) compliance with the requirements of proportionality and of necessity inherent in the notion of self-defence.“ (Hervorh. v. Verf.). 184 Z. B. von Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. 185 Selten finden sich noch andere Abgrenzungsformulierungen wie z. B. „principle of necessity“ bei Olusanya, Identifying the Aggressor, passim. 186 Diese Problem deutet auch Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 246, an, allerdings ohne dabei explizit auf das Problem der englischen Sprache einzugehen; ebenso Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 95. 187 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 1 f., unterscheidet z. B. verlässlich zwischen „state of necessity“ und „doctrine of necessity“. Meist wird jedoch nicht differenziert, z. B. bei Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (525). 188 ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (80 ff.). 181

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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1. Necessity may not be invoked by a State as a ground for precluding the wrongfulness of an act not in conformity with an international obligation of that State unless the act: (a) Is the only way for the State to safeguard an essential interest against a grave and imminent peril; and (b) Does not seriously impair an essential interest of the State or States towards which the obligation exists, or of the international community as a whole. 2. In any case, necessity may not be invoked by a State as a ground for precluding wrongfulness if: (a) The international obligation in question excludes the possibility of invoking necessity; or (b) The State has contributed to the situation of necessity.

Das vorbeugende Element des an dieser Stelle skizzierten Notstandsrechts findet sich hier bereits in Abs. 1 lit. a, nämlich der Voraussetzung einer schwer­wiegenden und bevorstehenden Gefahr („grave and imminent peril“). Eine solche muss sich gegen ein grundlegendes Interesse des sich auf Notstand berufenden Staates richten; die damit konstruierte Restriktion erinnert an das soeben dar­gestellte klassische Selbsterhaltungsrecht189. Dieser Bezug manifestiert den vorbeugenden Charakter des Notstands über den (hier ja nur vorgeschlagenen) Wortlaut der Norm hinaus. Die weiteren Einschränkungen in Abs.  2 sowie die Grundannahme der Nichteinschlägigkeit des Notstands durch die Eingangsformulierung von Abs. 1 führen zu weit weniger Anwendungsfällen, geben zugleich aber den im Übrigen dennoch als rechtmäßig empfundenen Vorbeugungshandlungen innerhalb dieser Grenzen eine gewisse Konturenschärfe. Diese Voraussetzungen eines (auch) vorbeugenden völkerrechtlichen Notstands­ rechts finden in Teilen der Dogmatik Zustimmung190, sind also nicht als irrelevant zu vernachlässigen191. Sie sind von der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung umfasst, sodass auch der Notstand als ein für diesen Themenkomplex beachtlicher Begriff einzuordnen ist. Angesichts der inhalt­lichen Übereinstimmungen wäre es nicht einzusehen, ein mögliches Notstandsrecht bloß wegen des fehlenden begriffsdeskriptiven Bezugs zwischen der Bezeichnung „Notstand“ und der Bezeichnung „Selbstverteidigung“ von vorneherein192 nicht in die Untersuchungen zur vorbeugenden Selbstverteidigung mit einzubeziehen193. Immerhin beweisen weite Teile der englischsprachigen Dogmatik – womöglich unfreiwillig – durch ihre ambivalente Verwendung des Begriffs ­necessity, 189 Für eine solche Parallele spricht auch die in der Kommentierung vorgenommene Aufzählung klassischer Notstandsfälle, ibid., S. 81 f. 190 In der älteren Dogmatik z. B. bei Bowett, Self-Defense, S. 10; in der jüngeren Dogmatik z. B. bei Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 330; Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S. 337 ff.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 299 ff.; in der Völkerrechtspraxis vertreten von Belgien vor dem IGH, Verbatim Record CR 99/15, S. 13 f. 191 s. dazu und zur diesbezüglichen Rechtsprechung des IGH auch u. 8. Kap. C. I. 4. 192 Eingehend zu möglichen Abgrenzungskriterien s. u. 2. Kap. C. 193 Für eine strikte Trennung zwischen Selbstverteidigung und Notstand aber Bowett, SelfDefense, S. 56.

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2. Kap.: Terminologie

dass es vordergründig nicht auf Bezeichnungen, sondern Inhalte ankommen muss. Der Begriff des Notstands ist also für die Analyse vorbeugender Selbstverteidigung beachtlich. XIII. Selbstverteidigungsnotstand (necessity of self-defence) Anknüpfend an die soeben getätigten Überlegungen zum Notstand ist der Begriff der necessity of self-defence, behelfsweise als „Selbstverteidigungsnotstand“ übersetzt, zu erwähnen. Die Bezeichnung stammt aus der berühmten WebsterFormel von 1841/1842 im Zusammenhang mit dem Caroline-Vorfall von 1837194: „a necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation.“195 Angesichts des uneindeutigen Inhalts ist zweifelhaft, ob die Formel überhaupt einen neuen Begriff des Selbstverteidigungsnotstands erschafft. Alternativ könnte sie lediglich auf das allgemeine Notstandsrecht selbst oder aber nur auf (als dann für „notwendig“ erachtete) Selbstverteidigung abstellen196. Diese Skepsis erhärtet sich auf Grund der Tatsache, dass zur Entstehungszeit der Webster-Formel die Bezeichnungen „Selbstverteidigung“, „Selbsterhaltung“ und „Notstand“ weitgehend synonym gebraucht wurden197. Unabhängig davon lässt sich der Inhalt der zitierten Passage aber – ohne einer tiefergehenden Interpretation vorweggreifen zu wollen198  – unter die natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung subsumieren, geht es doch hierbei gerade um die Gewaltanwendung vor einer Schadensrealisierung. Jedenfalls haben daher auch bei Unselbständigkeit des Ausdrucks „Selbstverteidigungsnotstand“ die Begriffe necessity und self-defence in ihrer Kombination vorbeugenden Charakter, was die bislang hierzu gewonnenen Aspekte bestärkt. Einmal mehr verdeutlicht auch die Betrachtung von necessity of self-defence, welche Schwierigkeiten einerseits ambivalent199 und andererseits unpräzise200 gebrauchte Begriffe hervorrufen können. Obwohl eine inhaltliche Bestimmung der wesentlichen Elemente gelingen kann, geht eine solche durch die oftmals fehlende Stringenz der Bezeichnungen wieder verloren. So verleitete die im Caroline-Vorfall hervorgetretene Kombination von necessity und self-defence sogar eine Autorin dazu, die Bedeutungsinhalte von „Selbstverteidigung“, „Notstand“ und „Notwendigkeit“ derart zu vermischen, dass sie letztendlich alle als in der Webster-Formel enthalten angesehen werden201. Möchte man diese Auffassung 194

Ausführlich dazu u. 6. Kap. D. IV. Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 110; Hervorh. v. Verf. 196 Vgl. o. die Feststellungen zur uneindeutigen Übersetzung von necessity. 197 Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S. 325 ff. (334); krit. Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 6; auf Notstand abstellend Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S. 337 ff. (344). 198 Dies geschieht u. 6. Kap. D. IV. 199 s. o. zu necessity. 200 s. o. zu den verschiedenen diskutierten Formen von Selbstverteidigung. 201 Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (525 f.). 195

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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aber ernstlich vertreten, sollte man sich gerade wegen der Defizite des Begriffskanons nur auf den Inhalt beziehen. Dies gilt besonders für einen konstruierten Begriff wie „Selbstverteidigungsnotstand“. Für die hier zu tätigende Begriffsanalyse bleibt daher festzuhalten, dass dessen eigenständige Existenz doch stark angezweifelt werden darf, der ihn umkleidende Inhalt aber im Kontext seiner Erscheinung durchaus auf die natürliche Betrachtung vorbeugender Selbstverteidigung bezogen werden kann. XIV. Vorsichtsmaßnahme (measure of precaution) Im Zusammenhang mit den Begriffen der Korrespondenz im Caroline-Vorfall fällt zumeist auch die Bezeichnung measure of precaution, im Deutschen zu verstehen als „Vorsichtsmaßnahme“. Eine Vorsichtsmaßnahme kann ihrem Wortlaut nach durchaus vorbeugenden Charakter haben, womöglich auch einen mit Gewalt verwirklichten. Damit erklärt sich auch, warum gelegentlich auf eine measure of precaution in der Diskussion um vorbeugende Gewalt abgestellt wird. Im Rahmen der historischen Caroline-Korrespondenz202 wird der Begriff aber bloß als Begründung für die Notwendigkeit der zuvor formulierten necessity of self-defence herangezogen203. Der nahe liegende vorbeugende Charakter wird damit bestätigt. Es fehlt allerdings an einer Eigenständigkeit des Begriffs, weil er nur als Bekräftigung der „Notstandslage“ herangezogen, aber nicht selbständig verwendet wird. Für eine Schärfung des Begriffs der vorbeugenden Selbstverteidigung ist er daher nicht hilfreich. XV. Extraterritoriale Rechtsdurchsetzung (extra-territorial law enforcement) In einem eher moderneren Kontext wird in manchen Publikationen von „extra­ territorialer Rechtsdurchsetzung“ gesprochen. Auch diese Bezeichnung ist auf Dinstein zurückzuführen204, der unter extra-territorial law enforcement solche staatlichen Gewalthandlungen versteht, welche sich gegen terroristische Ziele auf fremdem Boden richten. Dabei wird zwar die territoriale Integrität der betroffenen Staaten verletzt, jedoch sei dies hinnehmbar, weil die Gewalt nicht den beeinträchtigten Staaten gelte; deshalb seien die Verletzungen nur als Nebenprodukt im Rahmen der Terrorismusbekämpfung erfolgt und somit zu akzeptieren. Diese Duldungspflicht wird darüber hinaus damit begründet, dass der extraterritorial Recht durchsetzende Staat lediglich die Aufgaben übernimmt, die originär dem verletz 202

s. insb. Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (87). Darauf verweist die Kommentierung Nr. 5 zu Art. 25 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit, s. ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (81). 204 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 244 ff. (247). 203

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2. Kap.: Terminologie

ten Staat zufallen, von diesem aber nicht erfüllt wurden205. Diese Ansicht findet inhaltlich im Sinne des extra-territorial law enforcement vereinzelt Zustimmung206, der Begriff selbst wird aber häufig nicht explizit verwendet. Dinstein selbst siedelt ihn in der Sphäre des Notstands an207. Besonders der letztgenannte Begründungsansatz erinnert im Übrigen an die auch im Völkerrecht diskutierte Rechtsfigur der Geschäftsführung ohne Auftrag208, welche aber in Verbindung mit Vorbeugung irrelevant ist. Die Geschäftsführung ohne Auftrag erörtert vornehmlich die angemaßte Stellvertretung eines anderen Staates oder  – unter dem Aspekt der Selbstverteidigung  – die Zurechnung fremden Verhaltens zu einem Staat im Rahmen der Frage, ob nichtstaat­ liche Akteure auch taugliche Gegner209 von Selbstverteidigungshandlungen sein können210. Abgesehen von ihrem auf der Zurechnungsfrage liegenden Schwerpunkt, welcher hier nicht thematisiert werden soll, scheint Rechtsdurchsetzung auf den ersten Blick auch allgemein dem Wortlaut nach eher reaktiver Natur zu sein: Erst besteht ein Recht, wird dann verletzt und muss daher besonders durchgesetzt werden. Dieser Einwand mutet jedoch sehr formalistisch an, schließlich kann das abstrakte Recht in jedem Einzelfall erneut gebrochen werden; die Verhinderung eines erneuten Rechtsbruchs wäre dann wiederum vorbeugend. So soll auch die „Rechtsdurchsetzung“ (in concreto: Terrorismusbekämpfung) auf fremdem Staatsgebiet zumindest auch zukünftige Terrorhandlungen verhindern, sie hat also ebenso vorbeugenden Charakter. Inhaltlich passt dieser Begriff damit zur natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung. Es darf allerdings angezweifelt werden, ob im Hinblick auf die schon zahlreichen dargestellten verschiedenen Begriffe für die Sonderkonstellation der Terrorismusbekämpfung tatsächlich die Verwendung einer neue Bezeichnung notwendig ist. Dinstein selbst möchte sie auch nicht in diesem Zusammenhang angewandt sehen211, jedoch wird er gelegentlich einmal mehr nur ungenau verstanden oder wiedergegeben, sodass ein auch vorbeugender Charakter der extraterritorialen Rechtsdurchsetzung suggeriert wird. Auf Grund der dennoch klaren Intention des Begriffsurhebers sowie der Tatsache, dass eine spezielle Bezeichnung für den Fall der vorbeugenden Terrorismusbekämpfung unnötig erscheint, wird dem Begriff des extra-territorial law enforcement 205

Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 245. Z. B. von Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (170 f.); beiläufig auch zur Differenzierung von Zurechnungsfragen der Gewalt verwendet bei Condorelli, RGDIP 105 (2001), S. 829 ff. (838). 207 Dinstein, Self-Defense, in: Computer Network Attack, S. 99 ff. (108). 208 s.  hierzu Herdegen, Geschäftsführung ohne Auftrag, in: FS-Doehring, S.  303 ff. (305 f. und 320 f.); Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 181 ff. 209 Dazu mehr u. 3. Kap. B. II. 2. b) aa). 210 Vor allem im Falle der sog. Duldungs-, Sorgfaltswidrigkeits- und Unfähigkeitskonstella­ tionen, vgl. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 147 ff. 211 Ausdrücklich Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 247. 206

A. Der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im Völkerrecht

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hinsichtlich der vorbeugenden Selbstverteidigung eine eigenständige Funktion abgesprochen. Im Übrigen ist angesichts der von Dinstein klargestellten Nähe zum Notstandsrecht auf die oben getätigten212 inhaltsbezogenen Feststellungen hierzu zu verweisen. XVI. Repressalie Vorwiegend auf Terrorismusbekämpfung zielen auch diejenigen ab, welche die völkerrechtliche Repressalie213 als vorbeugende Form der Gewaltanwendung zulassen wollen oder dies zumindest in Erwägung ziehen214. Die Argumentation ähnelt in weiten Teilen jener Dinsteins zur extraterritorialen Rechtsdurchsetzung; dies sollte angesichts des eigentlichen Zwecks der Repressalie  – Rechtsdurchsetzung215 oder teilweise Sanktion216 – auch kaum verwundern. Dabei werden der Repressalie aber noch deutlicher zumindest auch vorbeugende Funktionen zugeschrieben, sie soll demnach ein Mittel zur Eindämmung der Dauergefahr des Terrorismus sein. Zur Verhinderung zukünftiger Anschläge dürfe demnach gegen Terroristen stets – einschließlich auf fremdem Staatsgebiet – Gewalt angewendet werden. Dem steht die Tatsache entgegen, dass Repressalien – jedenfalls außerhalb eines bewaffneten Konflikts217 – dem Grunde nach rechtswidrig sind218. Sie werden von der Völkerrechtsordnung nur dann als rechtmäßige Gegenmaßnahme anerkannt, wenn sie als direkte Antwort auf eine vorausgegangene völkerrechtswidrige Handlung erfolgen219. Die alternative Bezeichnung „Gegenmaßnahme“ bringt dies im Deutschen besonders zum Ausdruck. Diese entscheidende Einschränkung nimmt dem Begriff der Repressalie jedoch den ihm von manchen Stellen zugedachten vorbeugenden Charakter; dieser müsste dann wiederum im Einzelfall besonders untersucht werden. Man gelänge dabei zu der gegenständlichen Ausgangsfrage in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung und ihre mögliche Rechtmäßigkeit. Diese ließe sich konsequenterweise nun auch auf der Ebene der Repressalie 212

s. o. 2. Kap. A. XII. Zur Begriffsbestimmung s. nur Hebenstreit, Repressalien, S. 23 ff. 214 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S.  153 ff. (195); O’Brien, VirginiaJIL 30 (1990), S. 421 ff. (471); Radke, Staatsnotstand, S. 42. Mit Vorbeugungscharakter, aber ohne Gewalt legalisierende Konnotation auch erwähnt von Condorelli, RGDIP 105 (2001), S. 829 ff. (843), und früher schon von Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 29 ff. Zur geschichtlichen Entwicklung der Repressalie instruktiv Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 184 f. 215 Hobe, Einführung, S. 244. 216 Schröder, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 7. Abschn., Rn. 112 (S. 634). 217 Zur Unterscheidung zwischen „Kriegs-“ und „Friedensrepressalien“ s. Hebenstreit, Repressalien, S. 29 ff., m. w. N. 218 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 198 f. 219 Hobe, Einführung, S.  244 f.; einzige a. A. dargestellt bei Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (205). 213

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2. Kap.: Terminologie

stellen; zur Begriffsschärfung der vorbeugenden Selbstverteidigung hilft das Heranziehen des Repressalienbegriffs damit aber nicht weiter220. Er verursacht in diesem Zusammenhang nur im Gegenteil noch größere Konfusion221.

B. Auswertung der Terminologie Anknüpfend an die nun abgeschlossene Darstellung möglicher Begriffe, welche eine völkerrechtliche Definition vorbeugender Selbstverteidigung näher bringen könnten, gilt es die gewonnenen Erkenntnisse auszuwerten. Es ließen sich nicht weniger als 16 verschiedene Bezeichnungen mit möglicher völkerrecht­licher Re­ levanz hinsichtlich der natürlichen Betrachtungsweise von vorbeugender Selbstverteidigung finden. Ein grundsätzlicher Bezug zum Völkerrecht wird keiner dieser Bezeichnungen von vorne herein abzusprechen sein, immerhin sind sie alle Bestandteile der völkerrechtsdogmatischen Debatte. Es dürfte aber ebensowenig von der Hand zu weisen sein, dass eine konturenscharfe Übersicht über 16 teils kontrovers diskutierte Begriffe äußerst komplex – wenn nicht sogar kaum zu leisten – ist. Es stellt sich daher die anschließende Frage, ob innerhalb der dargelegten Bezeichnungen zum einen eine inhaltlich-definitorische Zuordnung und zum anderen eine qualitativ orientierte Gewichtung vollzogen werden kann. Auf diese Weise ließe sich die Vielzahl der Bezeichnungen systematisiert – und damit übersichtlicher – darstellen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich die zu den einzelnen Begriffen vertretenen Ansichten teils diametral widersprechen. Widersprüche ergaben sich in gleich dreifacher Hinsicht, nämlich einmal bezogen auf die mögliche völkerrechtliche Bedeutung des jeweiligen Begriffs, ein anderes Mal hinsichtlich seiner Einordnung als Oberbegriff für weitere Formen vorbeugender Selbstverteidigung (oder im Gegenteil als Spezialbezeichnung einer besonderen Form) sowie zuletzt bezüglich der zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit maßgeblichen Anknüpfungspunkte einer Selbstverteidigungslage. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Widersprüche sich nicht auf die isolierte Diskussion innerhalb eines Begriffs beschränken, sondern ohne erkennbare Einschränkungen auf zahlreiche der dargestellten Begriffe übergreifen. Es existieren weder ein eindeutig dem einen oder anderen Begriff zuzuordnender Bedeutungsinhalt, noch eine eindeutige Position des einen oder anderen Begriffs in der völkerrechtlichen Debatte222. 220 Gegen eine Zuordnung zum Selbstverteidigungsrecht, jedoch Abgrenzungsschwierigkeiten zugestehend Hebenstreit, Repressalien, S. 38 ff.; instruktiv der von Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff., diskutierte Ansatz, auf objektive und subjektive Elemente zur Abgrenzung zurück­ zugreifen. 221 Krit. ebenso Kittrich, Self-Defense, S. 69. 222 Vgl. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 211 f.; Garwood-Gowers, AustralianYIL 23 (2004), S. 51 ff. (52 f.); Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (465), dort in Fn. 151; Herde-

B. Auswertung der Terminologie

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Diese verworrene Gemengenlage erlaubt angesichts der begriffsübergreifenden Verflechtung der verschiedenen Ansichten lediglich die Abgrenzung zwischen für die Definitionsfindung von vorbeugender Selbstverteidigung offenkundig untauglichen Begriffen und solchen, welche zumindest einen Beitrag hierzu leisten könnten. Wie oben dargelegt, erwiesen sich die Begriffe „aktive Selbstverteidigung“, „einsetzende Selbstverteidigung“, „vorweggenommene Selbstverteidigung“, „vorsorgliche Selbstverteidigung“, „Vorsichtsmaßnahme“, „extraterritoriale Rechtsdurchsetzung“ und „Repressalie“ als beitragslos für die Diskussion. Auf sie und den zugehörigen Inhalt wird nicht weiter eingegangen. Anders verhält es sich mit den übrigen Bezeichnungen. Auf die ihr zu Grunde liegenden diskutierten Inhalte konzentriert sich die Debatte um die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung. Die Relevanz der unter den übrigen Bezeichnungen geführten inhaltlichen Argumente ist groß; umso bedauerlicher ist, dass sich keiner der jeweiligen inhaltlichen Aspekte einem einzigen der dazu diskutierten Begriffe zuordnen lässt. Obwohl eine solche – methodologisch sinnvolle, weil übersichtliche – Zuordnung nicht gelingen kann, wird sie von den verschiedensten Vertretern der unterschiedlichsten inhaltlichen Ansichten paradoxerweise als ihrer Darstellung entsprechend gegeben unterstellt. Über die Motive einer solchen Unterstellung der Existenz eines in Wahrheit nicht existenten Zustandes kann nur spekuliert werden; von bloßer Unbedachtheit bis hin zu abgeklärtem Kalkül zur dogmatischen Festigung der eigenen inhaltlichen Position ist alles Mögliche denkbar. Die Diskussion über Möglichkeiten aber ist müßig; diese Arbeit soll sich auf die Fakten konzentrieren. Nachgewiesen ist das Vorhandensein eines weiten inhalt­ lichen Meinungsspektrums zu vorbeugender Selbstverteidigung. Nachgewiesen ist aber auch eine terminologische Verwirrung223, welche sich als äußerst störend und kontraproduktiv für die inhaltliche Debatte erwiesen hat; schließlich ist ein Meinungsaustausch kaum möglich, wenn man sich im Argumentationsaustausch auf eine unpräzise, teilweise sogar widersprüchliche Terminologie beziehen muss224. Aus diesen Gründen wird in dieser Arbeit auf den Rückgriff auf solch ungesicherte (Kunst225-)Begriffe verzichtet. Es gilt unabhängig von begrifflichen Spitzfindigkeiten anhand der sich hinter den verschiedenen Terminologien verbergenden Ansichten das Inhaltsspektrum herauszufiltern. Sachfragen haben im

gen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (349); Kamp, IP 6/2004, S. 42 ff.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (138 f.); Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 19; Uniacke, Retaliation in First, in: Preemption, S. 69 ff. (70). 223 Treffend dazu Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (368 f.). 224 Ebenso Heisbourg, WQ Spring 2003, S. 75 ff. (77); Kunde, Präventivkrieg, S. 135; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 254. 225 Greenwood, SDILJ 7 (2003), S. 7 ff. (9).

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2. Kap.: Terminologie

Mittelpunkt zu stehen226. Vorbeugende Selbstverteidigung umfasst also zunächst sämtliche Inhalte, welche es im weiteren Verlauf dieser Arbeit auf ihre völkerrechtliche Tauglichkeit hin zu überprüfen gilt.

C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand? Bevor jedoch ein endgültiges Ergebnis der Begriffsanalyse festgehalten werden kann, muss noch eine letzte wichtige Vorfrage beantwortet werden. Es ist nämlich nicht gesichert, ob tatsächlich sämtliche inhaltlichen Aspekte der analysierten Begriffe untersucht werden können oder ob solche des als „Notstand“ bezeichneten Themenkomplexes auszublenden sind. Der soeben für die weitere Vorgehensweise dieser Arbeit auf den Inhalt bezogene Ansatz allein bereitet keine Schwierigkeiten. Die unter dem Begriff des Notstands diskutierten Aspekte fallen sämtlich unter die natürliche Betrachtungsweise von vorbeugender Selbstverteidigung. Sollte sich aber die gleichwertige Behandlung von Notstand und Selbstverteidigung als völkerrechtlich unvertretbar erweisen, wäre eine Übertragung notstandsspezifischer Aspekte auf vorbeugende Selbstverteidigung aus systematischen Gründen zwingend ausgeschlossen. Notstand und Selbstverteidigung müssten dann als jeweils für und in sich geschlossene Institute gelten. In diesem Fall könnte mangels Regelungslücke nicht einmal eine gemeinsame Behandlung der jeweiligen Aspekte im Wege der Analogie erfolgen. Es gilt deshalb an dieser Stelle zu erörtern, ob Notstand und Selbstverteidigung als inhaltlich wesensgleich – gleichsam kongruent – zu betrachten sind. Entscheidend für diese Bewertung sind die jeweiligen Tatbestandsmerkmale227 einer Notstands- bzw. Selbstverteidigungslage: Wenn mindestens ein Tatbestandsmerkmal der Notstandslage inhaltlich schlechterdings unvereinbar mit einem solchen der Selbstverteidigungslage ist, müssen auch Notstand und Selbstverteidigung insgesamt als grundlegend verschiedene Institute betrachtet werden. Finden sich aber keine wesentlichen Unterschiede innerhalb der Tatbestandsmerkmale, spricht nichts dagegen, sowohl Selbstverteidigungs- als auch Notstandsaspekte unter der natürlichen Betrachtungsweise von vorbeugender Selbstverteidigung zu berücksichtigen. Die Frage, ob es sich dabei immer noch um unterschiedliche völkerrechtliche Institute handelt, ist dann irrelevant, weil sie folglich nicht in inhaltlichem Widerspruch zueinander stehen; auf die unterschiedliche Terminologie kommt es hier ja gerade nicht an.

226

In dieser Deutlichkeit bislang nur zutr. Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (313 f.), dort in Fn. 106. 227 Auf die einzelnen Tatbestandsmerkmale der Selbstverteidigungslage wird später noch einzugehen sein, s. u. 3. Kap. B. II. 2. a); an dieser Stelle sollen zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage nur ausgewählte, als kontrovers in Betracht kommende Tatbestandsmerkmale berücksichtigt werden.

C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand?

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Die Vertreter derjenigen Ansichten, welche im Völkerrecht zwischen Notstand und Selbstverteidigung differenzieren, unternehmen dies formalistisch anhand unterschiedlicher Kriterien, die sich nach ihrer Gesamtschau in zwei Gruppen unterteilen lassen, nämlich als erfolgs- und verursachungsspezifische Kriterien. Eine solche systematische Unterteilung erklärt sich insbesondere im Hinblick auf die oben228 einleitend getroffenen Feststellungen zur Unterscheidung von Schadenseintritt und Schadensauslöser. Folgende Abgrenzungen werden im Einzelnen genannt, welche untereinander wiederum teils alternativ, teils kumulativ vorliegen sollen: I. Erfolgsspezifische Kriterien Erfolgsspezifische Kriterien beziehen sich auf den Erfolg des Schadenseintritts, der durch die Selbstverteidigungs- bzw. Notstandshandlung abgewehrt werden soll. Taugliche Unterscheidungskriterien sollen innerhalb dieser Gruppe zum einen die besondere Beschaffenheit des Schadens und zum anderen die Zeitnähe des Schadenseintritts sein. Ein besonders tiefgreifender Schaden könne zu einer Notstandshandlung berechtigen229, ein besonders gearteter230 hingegen zu einer Selbstverteidigungshandlung. Umgekehrt berechtige ein zeitnaher Schadenseintritt bei Erfüllung der übrigen Tatbestandsmerkmale zu Selbstverteidigung, ein zeitferner ggf. zu Notstand231. Offenkundig kann aber das Kriterium der Zeitnähe des Schadenseintritts in dieser Arbeit nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung von Selbstverteidigung und Notstand führen; es ist ja gerade ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit unter Zuhilfenahme der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung. Diese Feststellung spricht im Gegenteil für die Ver­mutung, inhaltlich nicht zwischen Selbstverteidigung und Notstand zu differenzieren. Auch eine besondere Beschaffenheit des abzuwehrenden Schadens vermag keinen Widerspruch zwischen dem Inhalt von Selbstverteidigung und Notstand zu begründen. Selbst wenn man zur Abgrenzung verschiedene Qualifikationsschwellen eines Schadens anlegen möchte, so führen solche doch nicht zur Unvereinbarkeit von Selbstverteidigung und Notstand hinsichtlich des dieser Arbeit zu Grunde liegenden vorbeugenden Charakters. Darüber hinaus ist bei Überschreiten der jeweils höheren Schwelle zugleich auch die niedrigere überwunden, sodass bei isolierter Betrachtung dieses Kriteriums jede Selbstverteidigungshandlung auch eine Notstandshandlung (bzw. umgekehrt) wäre; das Notstandsrecht wäre demnach zum 228

s. o. 1. Kap. A. I. Vgl. insb. ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (83), Art. 25, Abschn. 13 ff. 230 Z. B. Ruys/Verhoeven, JCSL 10 (2005), S. 289 ff. (309). 231 Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 148.

229

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2. Kap.: Terminologie

Teil  dem Selbstverteidigungsrecht und das Selbstverteidigungsrecht wäre zum Teil dem Notstandsrecht immanent232. Diese Erkenntnis spricht ebenfalls und gewichtig für die Gleichbehandlung beider Institute. Demnach sind erfolgsspezifische Kriterien nicht geeignet, Selbstverteidigung und Notstand als voneinander getrennte Institute zu qualifizieren, sondern bestärken im Gegenteil die Ausgangsvermutung, sie in ihrem Wesen nach als gleich zu behandeln. II. Verursachungsspezifische Kriterien Die zweite Gruppe der vertretenen Abgrenzungspunkte ist die der verursachungs­ spezifischen Kriterien. Sie bezieht sich unabhängig von dem konkret abzuwehrenden Schaden auf die ihm vorausgehende Verursachung – also eine Handlung oder sonstige Herbeiführung. Innerhalb dieser Gruppe wird zwischen vier verursachungsspezifischen Kriterien unterschieden: besondere Beschaffenheit233, Völkerrechtswidrigkeit234, Zurechenbarkeit235 zu einem Staat (ggf. durch Verschulden) und originäre Staatlichkeit236. Hinsichtlich einer besonderen Beschaffenheit der Verursachung sind die soeben angestellten Überlegungen zur Beschaffenheit des Erfolgs entsprechend heranzuziehen. Für eine Qualifikationsschwelle in Bezug auf die Verursachung eines Schadens kann im Hinblick auf die Unterscheidung von Notstand und Selbst­ verteidigung vernünftigerweise nichts Anderes gelten als für eine solche Schwelle in Bezug auf den Schadenserfolg. Auch hier wäre das Notstandsrecht dem Selbstverteidigungsrecht immanent und würde gerade nicht zu einer Wesensungleichheit führen. Eingehender sind dagegen die verbleibenden Kriterien zu untersuchen. Sie unterscheiden sich von den bislang besprochenen Merkmalen zunächst dahingehend, 232

Dies entspricht i. Ü. dem historischen Verhältnis von Notstand und Selbstverteidigung, s. bereits o. 2. Kap. A. XII. 233 Insb. in Form der Qualifikation „bewaffneter Angriff“ i. S. v. Art. 51 SVN, vgl. z. B. Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (171); Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 567. 234 Explizit hierauf abstellend Olusanya, Identifying the Aggressor, S.  148; Radke, Staats­ notstand, S. 41; andeutend Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 152 f.; früher bereits Bowett, Self-Defense, S. 9, m. w. N. 235 ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (80), Art. 25, Abschn. 2; sich hierauf beziehend und bejahend Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (525); Ruys/Verhoeven, JCSL 10 (2005), S. 289 ff. (308); i. Ü. u. a. Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (334 ff.); Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (118); Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 199; Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 597; Kittrich, Self-Defense, S. 46; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 342; O’Connell, The Myth of Preemptive SelfDefense, S. 7; Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 16 f. 236 Radke, Staatsnotstand, S. 41.

C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand?

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dass sie sich nicht in Abhängigkeit ihrer relativen Erfüllung zueinander abgrenzen, sondern durch eine absolute Trennung zwischen Vorliegen und Nichtvorliegen: War die Schadensverursachung völkerrechtswidrig und/oder einem Staat zurechenbar (bzw. von ihm verschuldet) oder sogar ausschließlich staatlich, so berechtige dies bei Erfüllung der übrigen Tatbestandsmerkmale zu Selbstverteidigung, ansonsten ggf. zu Notstand. Gemeinsam haben diese drei Kriterien, dass sie alle an ein vorheriges Verhalten – und nicht bloß eine spontane Zustandsveränderung – anknüpfen. An dieses Verhalten wiederum werden unterschiedliche Anforderungen geknüpft, die sich zum einen auf seine rechtliche Bewertung – völker­ rechtswidrig – und zum anderen auf sein ursächliches Subjekt – Staat – beziehen. 1. Insbesondere Staatlichkeit

Große Uneinigkeit besteht besonders in der Frage, ob eine Selbstverteidigungslage für sich genommen, d. h. unter Ausblendung möglicher Notstandsaspekte, zwingend staatlich bzw. staatlich zurechenbar verursacht worden sein muss237. Eine Notstandslage erfordert eine solche Voraussetzung unstreitig nicht, sodass hierin ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal beider Institute erkannt werden kann238. Die Diskussion wird indes kaum im Hinblick auf eine Abgrenzung von Selbstverteidigung und Notstand geführt, sondern bezieht sich typischerweise auf die spezifische Bewertung der einzelnen Tatbestandsmerkmale einer Selbstverteidigungslage. Der Austausch der Argumente orientiert sich entsprechend am Selbstverteidigungsrecht: Die Befürworter239 des Erfordernisses einer staatlichen Zurechenbarkeit (im Folgenden: Staatlichkeitslösung) verweisen auf ein „ungeschriebenes Merkmal des staatlichen Angriffs“240, welches sich systematisch aus dem Gesamtzusammenhang der SVN ergebe. Die Gegner241 dieser These verweisen auf den gerade keine Staatlichkeit fordernden Satzungswortlaut – insbesondere von Art. 51 SVN – und argumentieren teleologisch dahingehend, dass eine 237 s. dazu umfassend Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, passim, sowie aktuell Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, passim, und jüngst Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 368 ff. Wenig plausibel erscheint es jedenfalls, mit Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 16 ff., von einem solchen Zurechenbarkeitserfordernis allein mit der Annahme auszugehen, dass eine Selbstverteidigungslage stets auch ein Rechtsverhältnis zwischen einer aktiv- und passivlegitimierten Partei – also wie in einer zivilrechtlichen Anspruchsbeziehung – begründe, zumal Kühn ein solches Rechtsverhältnis für die Figur des Notstands dann doch verneint, ibid., S. 174 ff. 238 Dies bringt Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S. 337 ff. (367 f.), auf den Punkt. 239 s. o. Fn. 235 in diesem Kap. 240 Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 596. 241 Acosta Estévez, AMexDI VI (2006), S.  13 ff. (37); Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (170 f.); Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (160); Kreß, JCSL 15 (2010), S. 245 ff. (248); Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (505 f.); Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (537 f.); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 68 f.; Vallarta Marrón, AMexDI VIII (2008), S. 955 ff. (969); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 228 f.

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2. Kap.: Terminologie

wirksame Verteidigung nicht von einer bestimmten Subjektqualität des Angreifers abhängig gemacht werden könne. Vereinzelt wird bekräftigend dazu behauptet, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 habe sich sog. „spontanes Völkergewohnheitsrecht“242 gegen eine zuvor anzunehmende Reduktion auf die Staatlichkeit eines Angriffs nach Art. 51 SVN entwickelt243. Namentlich sei dies auf Grund nahezu einhelliger Zustimmung der Staatenwelt als Reaktion auf die Sicherheitsrats-Resolution 1368244 vom 12.09.2001 zurückzuführen245. Beide Argumentationsansätze sind schlüssig und vertretbar. Ohne eine Entscheidung für die eine oder andere Lösung zu treffen bedeutet dies für die gegenständliche Abgrenzungsfrage von Selbstverteidigung und Notstand, dass das Unterscheidungskriterium der Staatlichkeitslösung keineswegs zwingend ist und daher keine wesensmäßige Trennung von Selbstverteidigung und Notstand nach sich ziehen kann. Trotz dieser Feststellung der formalen Untauglichkeit des Abgrenzungskriteriums der Staatlichkeit sollte jedoch nicht aus den Augen verloren werden, welchen Zweck die Vertreter der Staatlichkeitslösung mit ihrer einschränkenden Ansicht verfolgen: Es geht ihnen nämlich vor allem darum, ein ausuferndes, missbrauchsanfälliges Recht auf Selbstverteidigung zu verhindern. Die hier immer noch maßgebliche natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung als Gewaltanwendung gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser zur Verhinderung eines sonst durch dessen Gewalt verursachten Schadens berücksichtigt aber dieses Anliegen bereits, indem sie ganz im Sinne der ordinary meaning rule die Verteidigung direktional nur gegen den Schadensverursacher zulässt246. Es spricht also auch aus Sicht der Vertreter der Staatlichkeitslösung teleologisch nichts dagegen, zumindest defensive Notstandsaspekte unter dem Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung zu vereinigen. 2. Insbesondere Völkerrechtswidrigkeit

Diejenigen Vertreter, die für eine rechtmäßige Selbstverteidigungslage in Abgrenzung zur Notstandslage ausdrücklich ein völkerrechtswidriges Verursachungs­ verhalten (im Folgenden: Völkerrechtswidrigkeitslösung) voraussetzen247, fokussieren damit den deliktischen Charakter eines solchen Verhaltens248. Im Gegensatz 242

s. aber zur Problematik dieser Konstruktion allgemein u. 5. Kap. C. IV. 2. a). Eick, ZRP 2004, S.  200 ff. (200 f.). Die besseren Argumente sprechen allerdings dafür, dass der Anwendungsbereich von Art. 51 SVN bereits zuvor nicht auf staatliche Angriffe beschränkt war, vgl. nur instruktiv Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 244 ff. 244 UN Doc. S/RES/1368 (2001). 245 Eick, ZRP 2004, S. 200 ff. (201). 246 Krit. Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 143 ff. 247 s. o. Fn. 234 in diesem Kap. 248 Bowett, Self-Defense, S. 9. 243

C. Trennung von Selbstverteidigung und Notstand?

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zu den Vertretern der Staatlichkeitslösung fordern sie nicht notwendigerweise ein staatlich begangenes Delikt, während umgekehrt die meisten Vertreter der Staatlichkeitslösung stillschweigend kumulativ von einem auch deliktischen Verhalten ausgehen, weil ihre Argumentation vorwiegend auf den deliktisch konnotierten Begriff des bewaffneten Angriffs aus Art. 51 SVN abstellt249. Die Völkerrechtswidrigkeitslösung ist also insofern offener, als sie eine Selbstverteidigungslage bei jedem völkerrechtswidrigen Verursachungsverhalten annimmt. Ein – von wem auch immer ausgehendes  – völkerrechtswidriges Verhalten bleibt aber immerhin die Mindestvoraussetzung. Diese korrespondiert wiederum mit der hier angenommenen natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung, welche auf die Gewalthandlung des Schadensverursachers abstellt, die wiederum als solche regelmäßig – nämlich als Bruch des Gewaltverbots – deliktisch ist. Sollte dennoch in unvorhergesehenen Ausnahmefällen ein nichtdeliktisches Verhalten zu einer Gewalthandlung im Sinne der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung führen, so vermöchte ein solcher Einzelfall jedenfalls nicht einen derart frappierenden Wertungswiderspruch zu begründen, als dass dies zu einer wesensmäßigen Ungleichheit von Selbstverteidigung und Notstand führen würde. Im Übrigen widerspräche dem eine weitere  – ebenfalls nicht un­ vertretbare – Ansicht250 zu verursachungsspezifischen Kriterien, welche gänzlich auf Einschränkungen der Verteidigung verzichtet und daher erst recht (wenn auch unausgesprochen) zu einer Wesensgleichheit von Selbstverteidigung und Notstand tendiert. Wie bereits oben die Staatlichkeitslösung hält damit auch die Völkerrechts­ widrigkeitslösung jedenfalls im Hinblick auf defensive Notstandsaspekte die Vermutung aufrecht, Selbstverteidigung und Notstand als wesensgleich im Sinne der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung anzusehen. III. Die dieser Arbeit zu Grunde liegende Lösung Es hat sich damit gezeigt, dass weder erfolgs- noch verursachungsspezifische Kriterien zur Unterscheidung von Selbstverteidigung und Notstand zu einer inhaltlichen Unvereinbarkeit dieser beiden Institute führen. Dieses Ergebnis entspricht dem Maßstab der eingangs aufgestellten natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung, welche bei genauerer Begutachtung bereits in ihrem Ausgangspunkt nicht sämtliche Notstandsaspekte umfasst. Gemäß der gewöhnlichen Bedeutung der Verteidigung konnten ihr von vorneherein nur defensive Aspekte innewohnen, sodass bei der Untersuchung möglicher Abgrenzungskriterien auch nur die Charakteristika des Defensivnotstandes ausschlaggebend waren. 249

Vgl. dazu Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 199 ff. Neuerdings Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S.  157 ff. (167 f.). 250

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2. Kap.: Terminologie

Da aber innerhalb der völkerrechtlichen Dogmatik in den seltensten Fällen zwischen den beiden Notstandsformen „Defensivnotstand“ und „Aggressivnotstand“ unterschieden wird251, konnte sich diese Erkenntnis erst am Ende der jeweiligen Kriteriumsuntersuchung auswirken. Damit sind sowohl Selbstverteidigung als auch Defensivnotstand ihrem Inhalt nach252 wesensgleich253, eine spitzfindige Differenzierung würde nicht nur angesichts der stark umstrittenen Abgrenzungskriterien auch nur zu kontraproduktiver Konfusion führen254. Sämtliche mit beiden Instituten in Verbindung stehende Aspekte sind deshalb gleichwertig255 im Lichte der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung beachtlich.

D. Fazit: Definition für vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht Auch wenn sich die begriffliche Analyse als wenig erhellend und vielfach verwirrend dargestellt hat, konnte daraus doch eine wertvolle Erkenntnis gezogen werden: Nicht auf die Bezeichnung, sondern auf den Inhalt kommt es an. So unterschiedlich dieser Inhalt – unabhängig von seiner jeweils noch durchzuführenden Spezifikation – auch sein mag, kann doch eine Gemeinsamkeit festgestellt werden: Die eingangs formulierte natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung mag zwar weit sein, konnte aber durch die empirisch-völkerrecht­liche Begriffsanalyse nicht eingeschränkt werden. Es bleibt damit für die Ermittlung des gesamten Meinungsspektrums hierzu nichts Anderes übrig, als diese weite Betrachtungsweise beizubehalten. Das etwas überraschende, aber dennoch logische Ergebnis zur Definitionsfindung von vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht ist demnach, dass sich die natürliche Betrachtungsweise zugleich auch als die völkerrechtliche erwiesen hat. Vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht ist die Gewaltanwendung gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser zur Verhinderung eines bei ungehindertem Geschehensablauf durch dessen Gewalt verursachten Schadens. Die 251 Im Gegensatz zum allgemeinen Trend differenzieren Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 99 ff., recht anschaulich zwischen Defensiv- und Aggressivnotstand im Völkerrecht. 252 Ausdrücklich Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S.  34. Zu diesem Ergebnis gelangt auch – eher beiläufig – Melzer, Targeted Killing in Int’l. Law, S. 54. 253 A. A. Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (336), der sich dabei aber weniger von Rechtsals vielmehr von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten lässt. 254 Implizit gibt dies auch der eigentlich zwischen Selbstverteidigung und Notstand differenzierende Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S. 337 ff. (378), zu. Dagegen hält jüngst Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (527 f.), ohne Nennung eines rechtlichen oder sachlichen Grundes an dieser Trennung fest. 255 Dies sogar anerkennend in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung trotz grundsätzlich gegenteiliger Meinung Kittrich, Self-Defense, S. 51.

D. Fazit: Definition für vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht 

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Bezeichnung „vorbeugende Selbstverteidigung“ wird als solche hier bewusst verwendet, da sie im Gegensatz zu möglichen Alternativen – jedenfalls im deutschen Sprachgebrauch256  – nicht tendenziös konnotiert ist. Unter Verwendung dieses neutralen Begriffs gilt es nun getreu dem Ziel dieser Arbeit zu ermitteln, ob und ggf. inwieweit eine solche Gewaltanwendung rechtmäßig ist.

256

Anders als im Englischen, weil dort undifferenziert die Bezeichnungen sowohl für „vorbeugende“ als auch für o. dargestellte und teils tendenziös konnotierte „präventive“ Selbstverteidigung einheitlich mit preventive self-defence übersetzt werden, vgl. Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (46).

3. Kapitel

Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung A. Der Weg über Gemeinsamkeiten und Unterschiede Nachdem der Begriff der vorbeugenden Selbstverteidigung im völkerrecht­ lichen Verständnis dieser Arbeit verdeutlicht wurde, gilt es nun einige dogmatische Vorüberlegungen zu tätigen, damit auf diese Art ein sauberer Einstieg in die spätere dogmatische Diskussion gelingt. Der Weg dorthin beginnt bei den völkerrechtlich gesicherten Erkenntnissen reaktiver Selbstverteidigung. Diese werden zunächst kenntlich gemacht, um sie dann in Form einer vergleichenden Gesamtschau mit vorbeugender Selbstverteidigung in Verbindung zu setzen. Dabei werden in einem ersten Schritt die völkerrechtlich relevanten Aspekte reaktiver Selbstverteidigung und in einem zweiten Schritt jene der Androhung von Gewalt beleuchtet, um diese im Anschluss auf das dieser Arbeit zu Grunde liegende Verständnis vorbeugender Selbstverteidigung zu übertragen. Auf diese Weise sollen die dogmatischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung fortlaufend herausgearbeitet werden, um die für die Rechtsermittlung untersuchungsrelevanten Aspekte vorbeugender Selbstverteidigung zu separieren. Mittels der dadurch gewonnenen und für vorbeugende Selbstverteidigung relevanten Besonderheiten und Modifikationen kann schließlich in den aktuellen Diskussionsstand zu vorbeugender Selbstverteidigung vorgedrungen werden.

B. Reaktive Selbstverteidigung Die völkerrechtlich relevanten Aspekte reaktiver Selbstverteidigung lassen sich in vier Themenkomplexe unterteilen: die Funktion von Selbstverteidigung, die allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen an Selbstverteidigung, die Anforderungen an die Beweislast sowie die Frage nach möglichen Beteiligungsformen bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts. I. Funktion von Selbstverteidigung Die Funktion von Selbstverteidigung bezieht sich allgemein auf das Institut der Selbstverteidigung als solches, also sowohl auf seine reaktiven als auch auf seine dann zu diskutierenden vorbeugenden Varianten. Die als einleitende ­Bemerkungen

B. Reaktive Selbstverteidigung

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zu verstehenden Darstellungen zu den einzelnen Funktionen sind als allgemein gültig für das gesamte Institut zu verstehen und erfolgen daher gleichsam „vor die Klammer gezogen“ als Bezugspunkt für später zu diskutierende Einzelaspekte. Zu unterscheiden ist dabei zwischen formal-systematischen und teleologischen Funktionen der Selbstverteidigung. Beide Aspekte werden im Folgenden aufgegriffen, indem zunächst auf das systematische Verhältnis von Gewaltverbot und Selbstverteidigung und anschließend auf den hinter dem Institut stehenden Zweck ein­ gegangen wird. 1. Gewaltverbot und Selbstverteidigung

Das moderne Selbstverteidigungsrecht ist stets im Lichte des allgemeinen Gewaltverbots zu betrachten1. Jedenfalls reaktive Selbstverteidigung ist dabei ein rechtmäßiges Institut, d. h., es ist ein Teil  des Völkerrechts2. Angesichts dessen ließe sich leicht folgern, dass Selbstverteidigung in ihrer Rechtsfolge auch zur Rechtmäßigkeit von Gewalthandlungen  – also an sich unrechtmäßigem Verhalten – führt. Diese rasche Folgerung gilt es indes sogleich anhand der Systematik von Gewaltverbot und Selbstverteidigung zu überprüfen. Zuvor soll aber der Übersicht halber Folgendes vergegenwärtigt werden: Als unrechtmäßiges Verhalten im Völkerrecht ist allgemein jeder Bruch einer gültigen Völkerrechtsregel zu verstehen. Ein Verstoß gegen das Gewaltverbot ist dabei bloß der Bruch der höchsten Völkerrechtsregel, gleichwohl kann ein solcher im Falle von Selbstverteidigung rechtmäßig sein. Gelegentlich werden mittels Selbstverteidigung auch Verstöße beispielsweise gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot für nicht sanktionswürdig erklärt, ebenso gilt Selbstverteidigung im Deliktsvölkerrecht allgemein als circumstance precluding wrongfulness gemäß Art.  21 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit3. Diese Ergänzungen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Selbstverteidigung daneben auch (bzw. sogar) Gewalt gestattet. Damit dürfte klar werden, dass dann erst recht auch geringere Verstöße zulässig sind. Es genügt also, sich mit dem Verhältnis von Selbstverteidigung und Gewaltverbot auseinanderzusetzen, da diese Erwägungen bereits sämt­ liche geringeren Verstöße als Minus enthalten. Daher wird an dieser Stelle nur das systematische Verhältnis von Gewaltverbot und Selbstverteidigung untersucht und dann auf mögliche Formen von Gewalthandlungen eingegangen, welche einem mutmaßlichen Verteidiger zustehen ­können.



1

Allgemeine Ansicht, vgl. nur z. B. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 29 ff. 2 Zu den Rechtsquellen des Völkerrechts s. genauer u. 5. Kap. C. 3 ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (74 f.), Art. 21, Abschn. 1 ff.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

a) Selbstverteidigung in der Systematik des allgemeinen Gewaltverbots Bislang verstand diese Arbeit legales Handeln eines Verteidigers stillschweigend als logische Folge von Selbstverteidigung. Zurückzuführen ist dies auf die wichtige Abgrenzung zu de lege lata irrelevanten Legitimitätserwägungen4. Es ist nun am Maßstab des systematischen Verhältnisses von Selbstverteidigung und Gewaltverbot5 zu prüfen, ob diese Qualifikation als „legal“ nicht nur für das Institut der Selbstverteidigung selbst, sondern auch für dessen Rechtsfolge bei­behalten werden kann oder ggf. präzisiert werden muss. Dabei ist mit Hilfe der bewährten Methode der Begriffsanalyse zu untersuchen, wie sich Selbstverteidigung inhaltlich zum Gewaltverbot verhält. Die überwiegende Anzahl der Autoren bezeichnet Selbstverteidigung – ebenso wie Maßnahmen kollektiver Sicherheit sowie die inzwischen obsoleten Feindstaatklauseln6  – als Ausnahme7 zum Gewaltverbot. Eine in Selbstverteidigung begangene Gewalthandlung führt demnach bereits auf Tatbestandsebene8 zu einem anfänglichen Ausschluss des grundsätzlich hinsichtlich der Verteidigungsgewalt vermuteten Unrechts; sie wäre also entgegen der dem Gewaltverbot immanenten Vermutung nicht grundsätzlich völkerrechtswidrig9. Dies ändert aller

4



5

s. o. 1. Kap. B. III. Vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung mit historischem Bezug von Voigtländer, Notwehrrecht, S. 58 ff. 6 Vgl. zu dieser Trias statt vieler Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 2 (4), Rn. 39 ff. Die – soweit ersichtlich – letzte nicht von grundsätzlich obsoleten Feindstaatklauseln ausgehende Abhandlung stammt von Eichen, NZWehrr 1988, S. 1 ff. (9). 7 Z. B. Acosta Estévez, AMexDI VI (2006), S. 13 ff. (36); Arend/Beck, Use of force, S. 31; Bothe, EJIL 14 (2003), S. 227 ff. (228); Cassese, Int’l. Law S. 354; Dinstein, War, Aggr., SelfDef., S.  173; Dromi San Martino, Legítima defensa, S.  10; Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (247); Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (116); Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, S.  87; Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 178; Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (159); McCormack, Self-Defense, S. 119; O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (239); Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (503); Pellet, Recours à la force, in: FS-Bothe, S. 249 ff. (251); Schrijver, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 2 (4), S. 446; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 746; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 782 (S. 277); Voigtländer, Notwehrrecht, S.  65; White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S.  235 ff. (239, 253); Wiegandt, ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. (60); Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (965); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 205 ff. 8 Auf eine tiefer greifende Begriffsanalyse von „Ausnahme“ i. S. v. „tatbestandsimmanente Einschränkung“ oder „,echte‘ Ausnahme“ wird hier mangels Relevanz nicht eingegangen, dazu aber Voigtländer, Notwehrrecht, S. 58 ff., 66. 9 Einen gegenteiligen Schluss zieht hieraus lediglich Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S.  98 f. Er stört sich vorwiegend an der Bezeichnung „Ausnahme“, welche „rechtslogisch“ (ibid., S.  100) zu einer grundsätzlichen Rechtswidrigkeit führe und inhaltlich unzutreffend sei. Unter zweifelhafter Verneinung eines „Regel-Ausnahme-Verhältnisses“ von Gewaltverbot und Selbstverteidigung gelangt er aber dennoch zu dem Schluss, dass eine Selbstverteidigungshandlung als legal zu qualifizieren ist (ibid., S. 104).

B. Reaktive Selbstverteidigung

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dings nichts daran, dass für jede Art von tatsächlicher Gewaltanwendung zunächst die Vermutung ihrer Illegalität greift. Kunde10 qualifiziert ähnlich wie Dörr11 das Recht auf Selbstverteidigung als Erlaubnisnorm in kontradiktorischem Verhältnis zum Gewaltverbot als Verbotsnorm. Damit pointiert er die Zusammengehörigkeit von Gewaltverbot und Selbstverteidigung, wobei er zugleich eine zwischen beiden Instituten bestehende „praktische Konkordanz“ annimmt. Nicht eindeutig ist, ob auch nach dieser Ansicht das eigentliche Unrecht der Gewalthandlung von Anfang an als ausgeschlossen gilt oder es zunächst bestehen und dann im Wege „praktischer Konkordanz“ zurücktreten soll. Krisch12 hält das Selbstverteidigungsrecht neben seiner Einordnung als Ausnahme zusätzlich für eine Gegenmaßnahme gegen die Verletzung des Gewaltverbots. Neben dem dadurch implizierten anfänglichen Ausschluss des Unrechts der Gewalthandlung erhebt diese Auffassung das Selbstverteidigungsrecht zu einem Durchsetzungsinstrumentarium zur Aufrechterhaltung einer allgemeinen Gewaltunterlassungspflicht seitens potentieller Angreifer13. Hillgruber14 charakterisiert das Selbstverteidigungsrecht als Vorbehalt zum Gewaltverbot. Dieser dem Völkervertragsrecht entnommene Terminus passt jedoch nicht recht in diese Systematik, weil Vorbehalte einseitig von Staaten gegen einzelne Vertragsteile, aber nicht gegen ius cogens (wie es das Gewaltverbot in seinem Kern ist, s. sogleich) eingelegt werden können15. Gemeint ist allerdings wohl kein Vorbehalt im vertragsrechtlichen Zusammenhang, sondern ebenfalls eine Ausnahme im Sinne der dargestellten überwiegenden Ansicht; immerhin sind auch Vorbehalte lediglich begünstigende Ausnahmeregelungen für Einzelstaaten, während das Selbstverteidigungsrecht universell gilt. Damit führt auch diese Betrachtungsweise im Ergebnis zu einem anfänglichen Ausschluss des Unrechts. Bowett16 schließlich bezeichnet Selbstverteidigung als Rechtfertigung17 und geht dabei auch im Völkerrecht von einer strafrechtlichen Betrachtungsweise mit

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Kunde, Präventivkrieg, S. 197, m. w. N. Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (38), verwendet sowohl die Begriffe „Erlaubnissatz“ als auch „Ausnahme“, zielt dabei aber wohl inhaltlich auf den vorherrschenden Meinungsstand ab. 12 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 296. 13 Ähnlich Schöbener, KJ 2000, S. 557 ff. (570): Zwar lehnt er den Begriff „Ausnahme“ ab und spricht stattdessen gegenteilig von einer „Bestätigung“ des Gewaltverbots, in der Sache stimmt er aber überein. 14 Hillgruber, ZfP 50 (2003), S. 245 ff. (248). 15 Vgl. Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 121 f. (S. 55 f.). 16 Bowett, Self-Defense, S. 117. 17 Diesen Begriff wählen auch Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn.  18 (S. 655), Kittrich, Self-Defense, S. 10 f., und Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 22, jedoch offenbar untechnisch und bedeutungsgleich mit dem Begriff „Ausnahme“, sodass sie keinem eindeutigen Meinungsbild zuzuordnen sind.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Hilfe der Kategorien „Rechtfertigung“ und „Schuld“ aus18. Er sieht in einer Selbstverteidigungshandlung also tatbestandliches Unrecht verwirklicht, welches erst auf Rechtfertigungsebene beseitigt und damit nachträglich legal wird. Ebenso ist auch Kreß19 zu verstehen, der von einem Erlaubnistatbestand in Abgrenzung zu bereits anfänglich konsentierter und damit schon vom Tatbestand des Art.  2  (4) SVN nicht umfasster Gewaltanwendung ausgeht. Anknüpfend an Bowett und Kreß soll nun zur besseren Veranschaulichung20 anhand eines der deutschen Strafrechtsdogmatik nachempfundenen völkerrecht­ lichen Deliktsaufbaus die Systematik von Gewaltverbot und Selbstverteidigung abschließend zusammengefasst werden, also mittels der bekannten Kategorien „Tatbestand“, „Rechtswidrigkeit“ und „Schuld“. Dabei ist empirisch festzustellen, dass das Verhältnis von Gewaltverbot und Selbstverteidigung nicht nur begrifflich verschieden bezeichnet, sondern seine Rechtsfolge auch in einem gemutmaßten völkerrechtlichen Deliktsaufbau unterschiedlich angesiedelt wird. Nach überwiegender Ansicht führt Selbstverteidigung bereits zu einem tatbestandlichen Unrechtsausschluss, gelegentlich wird aber auch von einer Rechtfertigung auf Ebene der Rechtswidrigkeit ausgegangen. Gleiches ergibt sich, wenn man die Parallele zum staatsrechtlichen Aufbau nach „Schutzbereich“, „Eingriff“ und „Rechtfertigung“ bevorzugt21. In diesem Falle gelangte die herrschende Ansicht zu einem ausnahmsweise durch Selbstvertei­digung eingeschränkten Schutzbereich des Gewaltverbots, während die Gegenposition eine Selbstverteidigungshandlung als gerechtfertigten Eingriff verstehen würde. Jedenfalls wäre der Schutzbereich nicht verletzt; systematisch betrachtet ist die Einordnung des Selbstverteidigungsrechts als Ausnahme zum Gewaltverbot nach diesem Ansatz daher erst recht unproblematisch. Gemeinsam haben alle Ansichten, dass sie im Selbstverteidigungsfall das einer Gewalthandlung immanente Unrecht als solches ausschließen. Ob dies von Anfang an, als Rechtfertigung oder gar jenseits einer strafrechtlich geprägten Orientierung geschieht, ist für den weiteren Verlauf dieser Arbeit nebensächlich. Jedenfalls ist festzuhalten, dass auch die Analyse zur Systematik von Selbstverteidigung und Gewaltverbot bestätigt, dass eine im Rahmen von Selbstverteidigung begangene Gewalthandlung – ebenso wie das ihr zu Grunde liegende Institut der Selbstverteidigung – legal im Sinne des Völkerrechts ist. Zwar gilt zunächst

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Ähnlich Kimminich, AVR 33 (1995), S. 430 ff. (435). Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 170 f. 20 Mag sich auch auf das Völkerrecht ein solcher Aufbau nicht ohne Weiteres direkt über­ tragen lassen, da zum einen die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Welt teils zwischen verschiedenen Wertungsebenen der Rechtswidrigkeit und Schuld unterscheiden (vgl. nur Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 565) und da es sich zum anderen bei Völkerrecht um sog. Koordinations- bzw. Kooperationsrecht handelt, dazu Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 55 (S. 26). 21 Vgl. Voigtländer, Notwehrrecht, S. 66.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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angesichts des absolut geltenden Gewaltverbots die Vermutung der (damit originären) Illegalität, welche jedoch unrechtsausschließend durch die „Bereichsausnahme Selbstverteidigung“ widerlegt werden kann. Angesichts dessen erscheint es auch sinnvoll und geradezu angezeigt, in dieser Arbeit dem überwiegenden Kanon entsprechend von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis22 zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigung auszugehen, ohne dabei freilich eine Parallelität zum strafrechtlichen Deliktsaufbau in Frage zu stellen. Zugleich ist auch eine die entsprechenden Tatbestandsmerkmale23 berücksichtigende Selbstverteidigungshandlung ebenso wie das ihr zu Grunde liegende Institut der Selbstverteidigung als legal i. S. d. Völkerrechts zu bezeichnen. b) Das allgemeine Gewaltverbot Das allgemeine Gewaltverbot ergibt sich unmittelbar aus Art. 2 (4) SVN, ist darüber hinaus nach fast allgemeiner Ansicht zumindest in seinem Kern Teil des Völkergewohnheitsrechts24 und sogar des ius cogens25. Der Streit um die letztendlich korrekte Quelle mag dahinstehen angesichts der Tatsache, dass inzwischen fast26 jeder Staat als Mitglied der VN auch der SVN unterliegt27, deren Grundstein28 das Gewaltverbot ist. Zwar war es in den ersten Existenzjahren der SVN nicht ganz klar, ob das darin verankerte Gewaltverbot vielleicht doch nur als ein Programmsatz anzusehen sei29, doch haben sich diese Zweifel nicht manifestiert30. In sei-



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Im Ergebnis ebenso statt vieler Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 171, m. w. N. s. u. 3. Kap. B. II. 2. b). 24 A. A. nur Glennon, HarvardJLPP 25 (2002), S. 539 ff. (554); Reisman, AJIL 78 (1984), S. 642 ff. 25 ICJ Rep. 1986, S.  14–150 (101 ff.), Abschn.  191 ff.; s. auch aktuell Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S.  113 ff. (116); Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S.  582, m. w. N.; Kritsiotis, Topographies of Force, in: FS-Dinstein, S.  29 ff. (49); Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 2 (4), Rn. 52; Schindler, Grenzen des Gewaltverbots, S.  11 ff. (14); Schrijver, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art.  2  (4), S. 459 ff.; Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (144 f.); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 205. 26 Keine VN-Mitglieder mit zugleich anerkannter Staatsqualität sind lediglich die CookInseln, Niue (beides unabhängige Staaten in freier Assoziation mit Neuseeland) und der Staat Vatikanstadt (unabhängig vom Heiligen Stuhl als eigenes Völkerrechtssubjekt). Bei weiteren Gemeinwesen, die keine Mitglieder der VN sind, ist die Staatsqualität umstritten, z. B. bei Kosovo, Nordzypern, Taiwan oder der Westsahara. 27 Vgl. hierzu auch die Darstellungen von Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 159 ff., und Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 20 ff. 28 So prägnant der IGH, Online-Slg. 2005, S. 1–104 (53), Abschn. 148; bestätigt auch vom VN-Weltgipfel 2005, UN Doc. A/RES/60/1, Abschn. 77. 29 Vgl. Wengler, Gewaltverbot, S. 2. 30 Dagegen behaupten andere Stimmen, dass das Gewaltverbot bereits vor In-Kraft-­Treten der SVN zum Völkergewohnheitsrecht gezählt habe, s. z. B. Kinacioglu, JCSL 13 (2008), S. 33 ff. (34).

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

ner u. a. autoritativen31 englischen32 Sprachfassung33 wird das Gewaltverbot nach Art. 2 (4) SVN wie folgt formuliert: All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other ­manner inconsistent with the Purposes of the United Nations34.

Der Wortlaut legt nahe, zwischen Gewalt i. e. S., der Androhung von Gewalt sowie der Zielrichtung von Gewalt zu unterscheiden. Die Untersuchung ange­drohter Gewalt erfolgt aus systematischen Gründen  – besonders wegen ihres auch vorbeugenden Charakters – mit Rückgriff auf den dann ermittelten Gewaltbegriff an späterer Stelle35. Die Zielrichtung von Gewalt  – „against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations“ – ist allenthalben im Hinblick auf den An­ wendungsbereich bzw. Umfang des Gewaltverbots von Bedeutung. Der hier relevante Inhalt des Gewaltverbots wird davon hingegen nicht beeinträchtigt. Deshalb wird eine womöglich eingeschränkte Zielrichtung der vom Gewaltverbot umfassten Gewalt auch erst später im Rahmen des in der dogmatischen Debatte bei bestimmten Fallgruppen angezweifelten Anwendungsbereiches des Gewaltverbots diskutiert36. An dieser Stelle bleibt damit zunächst auf das Tatbestandsmerkmal der Gewalt als solcher einzugehen.

31 Für gleichermaßen verbindlich erklärte Sprachfassungen werden als autoritativ be­zeichnet und entsprechen i. d. R. (nicht aber notwendigerweise)  den jeweils authentischen Vertrags­ texten, vgl. Rosenne, Meaning of „Authentic Text“, in: FS-Mosler, S. 759 ff. (780 ff.), sowie Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S.  171 f., 176. Instruktiv zu autoritativen Sprachfassungen am Beispiel der SVN Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S.  52, sowie ders., in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 111, Rn. 1 ff. Sämtliche ungenau (s. Hilf, ibid.) als „authentisch“ gekennzeichneten Sprachfassungen der SVN sind also gem. Art. 33 (1) WVK in der Vertragsauslegung gleichermaßen als autoritativ zu berücksichtigen. 32 Gem. Art.  111  SVN ist der Wortlaut der chinesischen, französischen, russischen, eng­ lischen und spanischen Version autoritativ; die (wenn auch amtliche)  deutsche Übersetzung der SVN ist für eine verbindliche Wortlaut-Auslegung hingegen irrelevant. Mehr zur Bedeutung der einzelnen Sprachfassungen für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung u. 7. Kap. B. II. 33 Auf den – im Ergebnis praktisch irrelevanten – Streit, ob bei mehrsprachigen Verträgen von einem „Text“ als engere Abgrenzung zu nicht notwendigerweise autoritativen „Fassungen“ oder „Versionen“ zu sprechen ist, soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Insb. spricht der durchgehende Wortlaut von Art.  33  WVK (englisch: „text“) nicht gegen eine gleicher­ maßen zulässige Bezeichnung als „Version“. Indes wird in dieser Arbeit vermittelnd im Folgenden die Bezeichnung „Sprachfassung“ verwendet. Vgl. zu diesem Streit aber z. B. Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 170 f. 34 Hervorh. v. Verf.; in den übrigen autoritativen Sprachfassungen gibt es keine inhaltlichen Unterschiede. 35 s. u. 3. Kap. C.; i. Ü. hierzu umfassend Stürchler, Threat of Force, passim. 36 s. u. zu den hier als anwendungsbereichsspezifisch bezeichneten Theorien 4. Kap. B.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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aa) Gewalt als völkerrechtlicher Begriff Verboten ist grundsätzlich jede Art von Gewalt, nicht nur „Krieg im Rechts­ sinn“37. Trotz dieser Feststellung ist umstritten, welche Handlungen schon als Gewalt oder noch als weniger gravierende  – aber womöglich andere völkerrechtswidrige – Maßnahme anzusehen sind38. Die VN-Generalversammlung hat (auch) zur näheren Eingrenzung des Gewaltbegriffs zwei Resolutionen erlassen, nämlich die Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten (sog. Friendly Relations Declaration, Res. 2625 (XXV) vom 24.10.197039, zum Gewaltbegriff speziell deren erster Grundsatz) und die Erklärung über die Definition der Aggression (sog. Definition of Aggression, Res. 3314 (XXIX) vom 14.12.197440). Abgesehen von der fraglichen völkerrechtlichen Verbindlichkeit dieser Resolutionen41 konnte auch ihr jeweiliger Inhalt allenfalls zu einer teilweisen Klärung des Gewaltbegriffs beitragen. Die Definition of Aggression liefert immerhin einige Anhaltspunkte dahin­ gehend, was jedenfalls als Gewalt zu qualifizieren ist, schließlich ist eine Aggressionshandlung unstreitig ein besonders schwerer Bruch des Gewaltverbots. Zu möglichen weniger gravierenden und dennoch als Gewalt zu verstehenden Handlungen schweigt die Erklärung jedoch. Der erste Grundsatz der Friendly Relations Declaration wurde immerhin vom IGH in seinem Urteil zum Nicaragua-Fall herangezogen, um den Unterschied zwischen „schwersten Formen der Gewalt“ und „weniger schweren Formen der Gewalt“ herauszustellen42. Zu ersteren zähle demnach ein bewaffneter Angriff i. S. v. Art. 51 SVN, zu letzterem immerhin noch folgende Handlungen43: Verletzung internationaler Grenzen, Vergeltungsmaßnahmen, Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Gründung oder Unterstützung der Gründung irregulärer Streitkräfte oder bewaffneter Banden einschließlich Söldnerbanden mit dem Ziel in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates einzufallen sowie Organisierung, Anstiftung oder Unterstützung von Bürgerkriegs- oder Terrorakten in einem



37 Statt vieler Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 9 (S. 649), sowie bereits vor der Friendly Relations Declaration z. B. Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 747 f.; zum „Krieg im Rechtssinn“ s. sogleich. 38 Die vielschichtigen Kontroversen hierzu führen mitunter zu bizarren Verlautbarungen wie folgende von Silver, Use of Force, in: Computer Network Attack, S. 73 ff. (84): „… force is like pornography: the law will recognize certain forms (…) as force when it sees them.“ Angesichts dessen soll der Gewaltbegriff hier nicht stärker als notwendig im Fokus stehen. 39 UN Doc. A/25/2625; s. hierzu auch Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, passim. 40 UN Doc. A/29/3314. 41 Näher Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 150 (S. 68). 42 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (101), Abschn. 191. 43 Vgl. auch Kritsiotis, Topographies of Force, in: FS-Dinstein, S. 29 ff. (50).

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

anderen Staat oder die Teilnahme daran oder die Duldung organisierter Aktivitäten, die auf die Begehung solcher Akte gerichtet sind. Gemeinsam haben all diese Fallgruppen die Verwendung von Waffen. Es entspricht auch dem einhelligen völkerrechtlichen Kanon, dass unter Gewalt vor allem – vielleicht sogar ausschließlich – Waffengewalt zu verstehen ist44. Überträgt man diese Erkenntnis auf den Ausnahmecharakter von Selbstverteidigung in Bezug auf das Gewaltverbot, so zeigt sich, dass damit auch Waffengewalt in Form von Selbstverteidigung legal ist. Es braucht daher nicht weiter auf mögliche geringere Formen von Gewalt i. S. v. Art. 2 (4) SVN eingegangen zu werden45, weil solche – so sie denn in diesem Zusammenhang existieren – bei Vorliegen einer Selbstverteidigungslage erst recht zulässig sein müssen. bb) Ausprägungen von völkerrechtlicher Gewalt Nach dieser analytischen Beschränkung auf Waffengewalt soll nun ein Überblick über die verschiedenen Ausformungen von Waffengewalt verschafft werden, um im Anschluss daran gesicherte Erkenntnisse zu erlangen, ob tatsächlich jede Ausprägung von Waffengewalt als Selbstverteidigungshandlung eine Ausnahme zum Gewaltverbot darstellen kann. Eine besonders qualifizierte Form von wiederkehrender Waffengewalt ist klassischerweise der Krieg46. Der Begriff des Krieges wird in zahlreichen Zusammenhängen sehr facettenreich – oftmals auch außerrechtlich47 und metaphorisch48 wie z. B. im Wort „Nervenkrieg“ – gebraucht, ohne jedoch als Krieg im völkerrecht­ lichen Sinne verstanden zu werden49. Auf letzteren gilt es sich aber einzig im Kontext mit Waffengewalt zu konzentrieren. Eine einheitliche völkerrechtliche Definition von Krieg ist schwer zu ermitteln50, zumal der Begriff als solcher teilweise als überholt angesehen wird51. Doch es besteht in der Sache zumindest Einig­keit darüber, zwischen Krieg im formellen (oder auch: technischen) und Krieg im materiellen Sinne zu unterscheiden52. Dinstein fasst die unterschiedlichen Ansätze treffend wie folgt zusammen: „Krieg ist eine feindliche Interaktion zwischen zwei oder mehreren Staaten, entweder im technischen oder materiellen Sinne. Krieg im

44 Z. B. Constantinou, Right of Self-Defence, S. 35 ff.; Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 86; Kunde, Präventivkrieg, S. 105. 45 s. zu alternativen Formen z. B. Silver, Use of Force, in: Computer Network Attack, S. 73 ff. (92 ff.). 46 Zum Kriegsbegriff und dessen praktische Bedeutung ausführlich im systematischen Überblick Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 24 ff. 47 Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (377). 48 Weiner, Law, Just War, Terrorism, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 137 ff. (138). 49 Vgl. anschaulich Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 3. 50 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 15. 51 Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 595; Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (461). 52 Ausführlich Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 54 ff.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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technischen Sinne ist ein formeller, durch eine Kriegserklärung herbeigeführter Zustand. Krieg im materiellen Sinne wird durch die tatsächliche Anwendung von Waffengewalt hervorgerufen, welche in Bezug auf zumindest eine Konfliktspartei umfassend sein muss.“53 Krieg im formellen Sinne ist heutzutage praktisch bedeutungslos54, schließlich rührt die klassische Vorstellung einer Kriegserklärung und darauf folgender Waffengewalt eher aus einem Zeitalter ohne umfassendes Gewaltverbot her. Die Kriegserklärung hatte dabei die Funktion, die Anwendbarkeit des Konfliktsvölkerrechts – das ius in bello, also allen voran das sog. Haager und Genfer Recht seit 190755 als besondere Form des Konfliktsvölkerrechts56 – zu determinieren57. Die Frage der Rechtmäßigkeit von Selbstverteidigung ist jedoch primär58 eine solche des Friedenssicherungsrechts (auch: Friedensvölkerrechts), also des ius ad bellum59. Auch angesichts dessen ist für die hier thematisierte Ausprägung von Waffengewalt zur Selbstverteidigung Krieg im formellen Sinne irrelevant. Der von solchen Voraussetzungen unabhängige Krieg im materiellen Sinne schließlich grenzt sich von einfacher Waffengewalt dadurch ab, dass die Gewaltanwendung zumindest durch eine Partei mehr als nur unerheblich ausfällt und nicht nur punktuell eingesetzt ist. Solch erhebliche gewaltsame Ausprägungen gehen in der Regel mit einer Invasion oder einer anderen Form der Aggression einher60, sie sind also bereits angesichts ihrer Intensität und ihres offensiven Charakters als völkerrechtswidrig zu qualifizieren. Wer folglich einen Krieg beginnt, kann sich nicht zugleich in Selbstverteidigung befinden, wobei es jedoch gerade eine Frage möglicher vorbeugender Selbstverteidigung ist, ob die zuerst tatsächlich Gewalt anwendende Konfliktpartei vielleicht doch defensiv im Rechtssinne handelte61. Präziser müsste man also formulieren: Wer Krieg herbeiführt – d. h. eine Selbstverteidigungslage mitunter auch ohne gegenwärtige Gewalt auslöst –, kann nicht zugleich Selbstverteidiger sein. Damit kann ein Kriegsbeginn i. S. v. erstmaliger

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Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 15, Übersetzung v. Verf. s. nur Herdegen, Völkerrecht, § 56, Rn. 3 (S. 380 f.). 55 Näher Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 56 (S. 691 f.). 56 s. zum ius in bello insg. Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 66 ff. 57 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 30 f. 58 Erst bei der Ausführung einer Selbstverteidigungshandlung können sekundär auch Aspekte des ius in bello entscheidend sein, s. u. 3. Kap. B. II. 2. b). 59 Zeitgemäß auch als ius contra bellum bezeichnet, z. B. von Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 2 (S. 645); Schweisfurth, Völkerrecht, S. 479, Rn. 5. Vereinzelt wird dem Begriff ius ad bellum sogar eine fortwährende Existenz abgesprochen, Bruha, Ein Recht zum Krieg gibt es nicht mehr, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 289 ff. (289), und ders., Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (160); jedoch soll dieser Begriff auf Grund seiner nach wie vor herrschenden und gängigen Anwendung in dieser Arbeit weiterhin verwendet werden, zumal Selbstverteidigung nachgewiesenermaßen eben doch ausnahmsweise ein Recht auf Gewaltanwendung mit sich bringt. 60 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 34. 61 s. u. 3. Kap. B. III.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Waffengewalt durchaus zulässig sein, wenn er als Handlung vorbeugender Selbstverteidigung rechtmäßig sein kann; der Auslöser dieser Lage handelt hingegen nie rechtmäßig. Dies gilt angesichts von Art. 2 (4) SVN im Übrigen für jede Gewalthandlung, sodass dem Kriegsbegriff im Selbstverteidigungsrecht keine eigenständige Bedeutung zukommen kann. Konsequenterweise ist es innerhalb eines Krieges – unabhängig von dessen genauer Definition – durchaus möglich, selbstverteidigend tätig zu sein. Damit ist Krieg als besondere Form der Waffengewalt nur seitens des Verursachers62 keine durch Selbstverteidigung hervorgerufene Ausnahme zum Gewaltverbot. Wie bereits zu den bislang aufgeworfenen Aspekten des Gewaltverbots gilt auch hier a maiore ad minus, dass weitere Ausformungen von Waffengewalt unterhalb der Schwelle zum Krieg ebenfalls als Selbstverteidigung rechtmäßig sein können. Eine genauere Analyse von Begriffen wie „bewaffneter Konflikt“63 oder „measures short of war“64 erübrigt sich damit in diesem Zusammenhang. Sie alle sind als Form von Waffengewalt gleichzeitig auch im Falle von Selbstverteidigung taugliche Ausnahmen zum allgemeinen Gewaltverbot. Der Übersichtlichkeit halber – und zur Vermeidung zeitgeschichtlich-bedingt unterschiedlich konnotierter Termini65 – soll in dieser Arbeit ohne nähere Qualifikation einheitlich der Begriff „Gewalt“ für sämtliche seiner möglichen Ausformungen verwendet werden66. Einzige Ausnahme hiervon sind die semantisch auf Krieg abstellenden, aber inhaltlich auf Gewalt bezogenen traditionellen Fachbegriffe ius ad bellum und ius in bello67. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht im Hinblick auf den in der Öffentlichkeit viel diskutierten „Krieg gegen den Terror“ („war on terror“)68. Die Frage, ob es sich hierbei um eine bloße Metapher oder doch eher eine Kriegsanalogie im Rechtssinne handelt69, ist im hiesigen Zusammenhang irrelevant. Jedenfalls kann eine Gewalthandlung im „Krieg gegen den Terror“ nur dann in Verbindung mit 62 Vor allem auf diesem häufig unausgesprochenen Aspekt beruhet wohl die h.A. der Völkerrechtswidrigkeit eines Präventivkrieges, s. o. 2. Kap. A. I. 63 s. z. B. Herdegen, Völkerrecht, § 56, Rn. 9 ff. (S. 384 ff.). 64 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 11 ff. 65 Hierauf weist zutr. Steiger, Ius belli, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 59 ff. (60), hin. 66 Ebenso z. B. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 7; Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (363); Kritsiotis, Topographies of Force, in: FS-Dinstein, S. 29 ff. (35). 67 Klarstellend auch Kritsiotis, Topographies of Force, in: FS-Dinstein, S. 29 ff. (33). 68 Oder auch als „Krieg gegen den Terrorismus“ bezeichnet, vgl. McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 24 ff.; s. ausführlich zu diesem Themenkomplex und der gewählten Begrifflichkeit i. Ü. Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff.; Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 223 ff.; Weiner, Law, Just War, Terrorism, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 137 ff. In­zwischen hat die US-Regierung um Präsident Obama den Begriff des „war on terror“ aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen, s. z. B. „Die Welt“ vom 31.03.2009, http://www.welt.de/politik/ article3475271/USA-beenden-Anti-Terror-Krieg-aber-nur-verbal.html; zur NSS 2010 ferner Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. (751); allerdings ist angesichts der neuen NSS 2010 eine auch inhaltliche Erledigung gerade nicht zu verzeichnen, s. genauer u. 4. Kap. C. IV. 3. a) cc). 69 s. Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (164 ff.).

B. Reaktive Selbstverteidigung

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Selbstverteidigung gebracht werden, wenn sich eben diese Gewalthandlung selbst auf „Selbstverteidigung im Rahmen des Krieges gegen den Terror“ beruft70, was jedoch zum bisher Dargestellten keinen Unterschied macht. Es kann somit im Anwendungsbereich des Friedenssicherungsrechts jede nicht aggressive Ausformung von Waffengewalt als Selbstverteidigung eine Ausnahme zum allgemeinen Gewaltverbot begründen und entsprechend legal sein. c) Zusammenfassung Selbstverteidigung begründet zu Gunsten des Verteidigers eine formelle Ausnahme zum grundsätzlichen allgemeinen Gewaltverbot. Gewaltsame Handlungen – ggf. auch solche unter Anwendung schwerster Waffengewalt – im Rahmen einer Selbstverteidigungslage sind damit im Völkerrecht als rechtmäßig einzustufen. 2. Zweck von Selbstverteidigung

Nach dieser Feststellung der systematisch betrachteten Rechtmäßigkeit einer im Rahmen von Selbstverteidigung erfolgten Gewaltanwendung stellt sich nun die Frage nach den hinter dieser bedeutungsschweren Ausnahme zum Gewaltverbot stehenden Zwecken. Zu analysieren sind also die objektiv-teleologischen Aspekte des Instituts der Selbstverteidigung. Die denkbaren teloi des Selbstverteidigungsrechts sind indes umstritten. Als unproblematisch gilt dabei jedenfalls der Zweck der Schadensabwehr71 (vor allem zur Erhaltung staatlicher Integrität72), daneben werden aber auch weitere Zwecke wie Folgenbeseitigung73, Rechtsdurchsetzung74 oder Abschreckung75 als tauglich erachtet, fast einheitlich verneint werden hingegen Vergeltung76 oder Strafe77.

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Vgl. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 250. Statt aller Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S.  175 ff.; zum Zusammenwirken mit dem ­System kollektiver Sicherheit Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 575. 72 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 236; ebenso wohl auch McDougal/ Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 222 ff., unter der leicht missverständlichen Bezeichnung „Bewahrung von Werten“. 73 O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 7. 74 Obwohl dieser Zweck eigentlich der Repressalie zugedacht ist, vertritt dies andeutend Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1468); ausdrücklich D’Amato, Int’l. Law, S. 28; als selbstverständlich betrachtend Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (171). 75 Bejahend Glennon, HarvardJLPP 25 (2002), S. 539 ff. (552); Maizel, NavalLR 35 (1986), S. 47 ff. (71); Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (171); Stürchler, Threat of Force, S. 218; Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (370). 76 Exemplarisch Uniacke, Retaliation in First, in: Preemption, S. 69 ff. (70 ff.); unklar jedoch Radke, Staatsnotstand, S. 149. 77 Vgl. statt vieler nur Kunde, Präventivkrieg, S. 120.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Auf die dazu zahlreich vorhandenen, in der Regel im Zusammenhang mit reaktiver Selbstverteidigung kontrovers ausgetauschten Argumente braucht aber im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen zu werden. Mag auch das allgemeine Selbstverteidigungsrecht unterschiedlichen Zwecken zu Grunde liegen, so ist angesichts der eingangs für diese Arbeit ermittelten Definition vorbeugender Selbstverteidigung spätestens die Diskussion um ihre Rechtmäßigkeit auf den Zweck der Abwehr drohender Schäden beschränkt. Möglichen weiteren tauglichen teleolo­ gischen Ansätzen reaktiver Selbstverteidigung wäre damit die im nächsten Schritt zu erfolgende Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung versagt, sodass sie hier dahinstehen können. Es bleibt damit allein der Zweck der Schadens­abwehr relevant. II. Allgemeine Rechtmäßigkeitsanforderungen an reaktive Selbstverteidigung Die nun zu erörternden allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen an reaktive Selbstverteidigung dienen als wesentliche Verbindung zu der danach zu diskutierenden Variante der vorbeugenden Selbstverteidigung. Als Spezialfall allgemeiner Selbstverteidigung ist hinsichtlich vorbeugender Selbstverteidigung zu vermuten, dass auch für sie keine abweichenden Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen existieren. Daher gelten die nun zu benennenden allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen zunächst für das Selbstverteidigungsrecht generell. Erst in einem anschließenden Schritt sind mögliche Abweichungen im Einzelfall, welche der speziellen Natur vorbeugender Selbstverteidigung geschuldet sind, herauszuarbeiten. Jedoch lässt sich eine Systematisierung der allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen an Selbstverteidigung nicht einfach aus einem allgemein anerkannten Fundus schöpfen, sondern muss eigenständig entwickelt werden78. Anders als man es aus dem deutschen Notwehrrecht gewohnt sein könnte, gibt es im völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrecht kein einheitliches abstraktes Prüfungsschema, mit dessen Hilfe die Erfüllung der jeweiligen Rechtmäßigkeitsanforderungen im Einzelfall überprüft werden kann. Dies ist auf zwei Besonderheiten des Völkerrechts zurückzuführen: Zum einen versperren die zahlreichen im Völkerrecht aufeinander treffenden nationalen Rechtstraditionen und deren unterschiedliche handwerkliche Eigenheiten ein einheitliches Vorgehen; zum anderen wird in der Praxis häufig – dem anglo-amerikanischen case law ähnlich – eine mögliche durch Selbstverteidigung legalisierbare Gewalthandlung einer konkret-individuellen, auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittenen Prüfung unterzogen, ohne dabei auf abstrakt-generelle Maßstäbe zurückzugreifen. 78 Auf diese Weise verfahren auch  – die Besonderheiten ihres Argumentationsweges berücksichtigend und daher nur inhaltlich abweichend – Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 86 ff.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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Unabhängig davon erfordert aber ein Strukturvergleich von reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung einen gewissen Grad von abstrakt-genereller Systematisierung, weil ansonsten die allgemeine Prüfung der möglichen Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung fehlzuschlagen droht79. Für diese Arbeit ist es daher zunächst erforderlich, den allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen an Selbstverteidigung eine sinnvolle und zugleich dem geltenden Völkerrecht konforme Struktur zu verleihen. Eine solche lässt sich sinnvollerweise deduktiv aus einer Gesamtschau des Völkervertrags- und -gewohnheitsrechts ermitteln, nämlich unter Bezugnahme von Art. 51 SVN und den in der Völkerrechtspraxis wiederkehrenden, in Einzelfällen herangezogenen Prüfungspunkten80. Dabei legt es die allgemeine Logik nahe, die dabei im Einzelnen gewonnenen Rechtmäßigkeitsanforderungen in Untergruppen einzuteilen. Für das Selbstverteidigungsrecht als Ausnahme zum Gewaltverbot ergeben sich dabei drei Gliederungselemente, nämlich zunächst die Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht im konkreten Fall überhaupt grundsätzlich Anwendung finden kann (1.)  sowie bejahendenfalls im Anschluss die Unterteilung in objektive (2.) und subjektive Anforderungen (3.) an das jeweilige Bestehen dieses Rechts. Die beiden letztgenannten Gliederungspunkte enthalten dabei die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen, welche für einen positiven Befund der Rechtmäßigkeit kumulativ erfüllt sein müssen. Schließlich ist vorweg noch eine grundsätzliche Bemerkung zum Maßstab der im Folgenden herauszuarbeitenden Kriterien notwendig: Da es an dieser Stelle der Arbeit nur um das Herausfiltern allgemeiner Rechtmäßigkeitsanforderungen und erst im Anschluss daran anknüpfend um die konkrete Rechtsermittlung geht, wird hier nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen. Lediglich offenkundig unvertretbare bzw. untaugliche Anforderungen und die ihnen zu Grunde liegenden Maßstäbe werden dabei ausgeschlossen. Zur Aufrechterhaltung einer später umfassenden Rechtsermittlung werden dagegen in diesem ersten Schritt noch grenzwertige Anforderungen vorübergehend für tauglich erachtet; den dadurch gewonnenen maximal möglichen Rahmen ggf. weiter zu limitieren obliegt erst der späteren Rechtsermittlung. 1. Anwendbarkeit

Bevor die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts für jeden konkreten Fall geprüft werden können, muss feststehen, dass das Selbstverteidigungsrecht als solches überhaupt Anwendung findet. Grundsätzlich ist dies angesichts der völkerrechtlichen Etablierung dieses Instituts anzunehmen, doch 79 Vgl. auch die ähnliche, jedoch stillschweigend vorausgesetzte Vorgehensweise von Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 137 ff. 80 Insoweit erscheint die Position von Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S.  13 f., nach welcher das Mittel der Deduktion im Völkerrecht grundsätzlich unanwendbar sein soll, nicht ohne Zweifel behaftet zu sein.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

kann es in Ausnahmefällen durchaus beachtliche Zweifel an seiner Anwendbarkeit geben. Im Mittelpunkt einer solchen Anwendbarkeitsprüfung stehen nicht etwa solch konstruiert wirkende Konstellationen wie z. B. der vertragliche Verzicht eines Staates auf den ihm zustehenden Schutz des Selbstverteidigungsrechts81, sondern vor allem die Eigenschaft der Selbstverteidigung als subsidiäres Recht82. Die Subsidiarität des Selbstverteidigungsrechts wirkt sich vor allem dann aus, wenn sich der Sicherheitsrat mit derselben Angelegenheit als Maßnahme kollektiver Sicherheit gem. Kapitel VII SVN befasst und die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Wann sich genau diese in Art. 51 SVN verankerte Sperrklausel auf die Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts auswirkt, ist für das Thema dieser Arbeit jedoch nicht von Bedeutung83. Die Auswirkungen der Subsidiarität können für reaktive und vorbeugende Selbstverteidigung nicht unterschiedlich sein, sodass sie hier nicht weiter problematisiert werden müssen. Wichtig für die Frage der Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts ist lediglich die Klarstellung, dass sowohl eine von Anfang an als auch eine nachträglich die Sperrwirkung aktivierende Sicherheitsratsmaßnahme die Heranziehung des Selbstverteidigungsrechts ex nunc verhindert, selbst wenn die nun zu erörternden Tat­ bestandsvoraussetzungen sämtlich erfüllt sind. Eine bis dahin rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung (s. sogleich) müsste dann unverzüglich beendet werden. 2. Objektive Anforderungen

Die objektiven Anforderungen an das Bestehen des Selbstverteidigungsrechts vereinigen sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale, welche für die Einschlägigkeit dieses Rechts im konkreten Fall erfüllt sein müssen. Im Wesentlichen ist dazu die positive Beantwortung zweier Fragen erforderlich, nämlich erstens, ob die konkrete Sachlage eine Gewaltanwendung rechtmäßigerweise zulässt und bejahendenfalls zweitens, wie die daraufhin erfolgende Gewalthandlung beschaffen sein darf, um die Rechtmäßigkeit der Rechtsausübung beizubehalten84. 81 Abgesehen davon, dass eine derartige vertragliche Vereinbarung in ihrer Sinnhaftigkeit bedenklich wäre, darf bereits stark daran gezweifelt werden, ob der Schutz des Selbstverteidigungsrechts überhaupt disponibel ist. Vgl. dazu näher eine ähnliche Diskussion zur Frage der Anwendbarkeit des Gewaltverbots u. unter 4. Kap. B. IV. 82 Nahezu einhellige Ansicht, s. statt vieler nur Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S.  210; Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S.  28; Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 41, jeweils m. w. N. Herdegen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (344), umschreibt daher das Selbstverteidigungsrecht als „kompensatorisches Ventil“ für Untätigkeit des Sicherheitsrats. 83 s. dazu aber Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 126 f.; ausführlich Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 137 ff. 84 Vgl. auch Voigtländer, Notwehrrecht, S.  4 f., der von „Untersuchungsphasen“ spricht, oder Dromi San Martino, Legítima defensa, S. 19, die zwei „Aktionsphasen“ herausstellt.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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Bereits zu Beginn dieser Arbeit vollzogen die exemplarisch dargestellten Sachverhaltskonstellationen diesen Zweischritt auf dem praktischen Wege85; und auch an dieser Stelle erleichtert diese natürliche Anschauung den Zugang zur systematisch-dogmatischen Aufarbeitung. Bereits anfangs wurde mit Hilfe einer natür­ lichen Betrachtungsweise eher untechnisch zwischen einer Selbstverteidigungslage und einer Vorbeugungshandlung differenziert. Ebenso wie sich die anfangs noch natürliche Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung als Rechtsdefinition manifestiert hat, lassen sich auch die praktischen Erkenntnisse aus den konkreten Sachverhaltskonstellationen auf die hier zu erfolgende theoretische Systematisierung ableiten. Die Einzelaspekte des „Ob“ der Zulässigkeit von Gewalt bei konkreter Sachlage ist zweckmäßigerweise auch technisch als Selbstverteidigungslage zu bezeichnen. Parallel dazu sind die Tatbestandsvoraussetzungen des „Wie“ der Gewaltanwendung technisch unter dem Dach der Selbstverteidigungshandlung zusammenzufassen. Gerade im Hinblick auf die später durchzuführende Vergleichsanalyse zwischen reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung ist diese systematisch saubere Trennung vonnöten, zumal es sich zunächst um reine Fragen des ius ad bellum und erst im Anschluss um solche auch des ius in bello handelt. Bereits an dieser Stelle wird es nicht überraschen, dass die wesentlichen Unterscheidungspunkte von reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung im Rahmen der Selbstverteidigungslage anzutreffen sein werden; die Selbstverteidigungshandlung müsste lediglich ggf. im Hinblick auf die im Einzelnen zu erörternden Unterschiede anzupassen sein. Das ius ad bellum ist die entscheidende Materie zur Ermittlung rechtmäßiger Selbstverteidigung, sei es reaktive oder vorbeugende. Daher wäre es aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Genauigkeit unsauber, bei der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Formen von Selbstverteidigung nicht derart zu differenzieren. a) Selbstverteidigungslage Es gilt nun die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen einer reaktiven Selbstverteidigungslage aufzuarbeiten. aa) Anknüpfungspunkt Der erste und zugleich essentielle Schritt zur Bestimmung einer Selbstverteidigungslage ist die Suche nach einem tauglichen Anknüpfungspunkt. Wie gezeigt, gilt das absolute Gewaltverbot als Normalzustand, es ist also ein tatsächliches Abweichen der Faktenlage von diesem Normalzustand zwingend erforderlich; eine

85

s. o. 1. Kap. C.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Selbstverteidigungslage muss mithin aktiv ausgelöst werden. Ein entsprechender Auslöser ist zugleich der tatbestandsmäßige Anknüpfungspunkt zur Bestimmung einer Selbstverteidigungslage; er gilt aus Sicht des Verteidigers gewissermaßen als Realisierungsschwelle86 zwischen dem Grundzustand des Gewaltverbots und dessen durch Selbstverteidigung begründeter Ausnahme. (1) Allgemeine Erwägungen Eine spontane Veränderung der Faktenlage ist schlechterdings undenkbar, es muss also zumindest ein wie auch immer geartetes Ereignis hinzutreten, um eine Abweichung vom Normalzustand zu bewirken. Es verhält sich dabei wie mit einem geschlossenen Stromkreislauf: Dessen Unterbrechung ist auch nur durch ein konkretes Ereignis möglich  – sei es durch Abschalten oder Erlöschen der Stromquelle oder physische Einwirkungen auf den Kreislauf selbst. Anhand dieses Beispiels wird gleichfalls deutlich, dass ein auslösendes Ereignis punktuell bestimmbar sein muss, denn die Frage nach dem Vorliegen des Normalzustandes – des geschlossenen Stromkreislaufes – lässt sich nur absolut – nämlich positiv oder negativ als „an“ oder „aus“ – beantworten. Folglich kann ein auslösendes Ereignis niemals durch einen Zeitraum beschrieben werden; es darf allenfalls die so oft bemühte juristische Sekunde benötigen, welche zum virtuellen Umschalten von Normal- auf Ausnahmezustand erforderlich ist87. Konsequenterweise können auch bloße Gefahrenlagen (wie z. B. die viel dis­ kutierte Verbreitung von Massenvernichtungswaffen) keine Auslöser jedenfalls einer reaktiven88 Selbstverteidigungslage sein. Etwas Anderes könnte höchstens dann gelten, wenn sich derartige Gefahren wiederum auf ein Ereignis reduzieren lassen. Bezogen auf die Problematik der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen etwa wäre dafür eine konkrete Beschaffungshandlung einzelner Waffen oder auch ein Ausspruch der Drohung89 ihrer tatsächlichen Verwendung denkbar. Solche Teilaspekte von (Dauer-)Gefahren lassen sich unzweifelhaft zu Ereignissen 86 So die treffende Bezeichnung von Blumenwitz, ZfP 50 (2003), S.  301 ff. (320), und ders., PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff. (26); übernommen von Kreutzer, Preemptive SelfDefense, S. 31. 87 Nicht zu verwechseln ist in diesem Zusammenhang der denkbare Zeitraum zwischen dem auslösenden Moment eines Schadens und dem eigentlichen Schadenseintritt. Auf letzteren kommt es hier nicht an, da, wie bereits zu Beginn dieser Arbeit klargestellt wurde, der richtige Bezugspunkt des Selbstverteidigungsrechts nicht der Schadenseintritt selbst ist (seine Verhinderung mag lediglich ggf. zum Handeln motivieren), sondern das Ereignis seiner Ver­ ursachung. Dies zeigt sich wiederum anhand des hier gewählten Beispiels: Auch ein unterbrochener Stromkreislauf mag erst verzögert zu negativen Effekten führen, dennoch würde niemand daran zweifeln, dass das Abweichen vom Normalzustand bereits die Unterbrechung des Kreislaufs war. 88 Zum Umgang mit Gefahren bei vorbeugender Selbstverteidigung s. u., 4.  Kap. C., dort insb. IV. 89 s. dazu auch u. 3. Kap. C.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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komprimieren, sie wären damit prinzipiell als Anknüpfungspunkte einer Selbstverteidigungslage geeignet. Es fragt sich jedoch, ob weitere Eingrenzungen zu tätigen sind, um nicht jedes Ereignis mit der folgenschweren Potenz auszustatten, potentiell zu einem Abweichen vom völkerrechtlichen Normalzustand des Gewaltverbots führen zu können. Ansätze für solche Einschränkungen lassen sich unter den beiden Gruppen „Beschaffenheit“ und „Umstände“ des jeweiligen Ereignisses zusammenfassen. (2) Beschaffenheit Im Anschluss an diese allgemeinen Erwägungen stellt sich nun die Frage, ob ein hier zunächst abstrakt beschriebenes Ereignis als Anknüpfungspunkt einer Selbstverteidigungslage besonders beschaffen sein muss. Eine häufig in Bezugnahme auf Art. 51 SVN für notwendig erachtete Beschaffenheitsanforderung ist die Qualifikation des Ereignisses als „bewaffneter Angriff“ (autoritativ u. a.: „armed attack“)90. Probleme bereitet bereits eine genaue Definition dieses Begriffspaares, denn weder in der SVN selbst noch in anderen Rechtsakten der VN findet sich eine solche91. Hinweise zu einer möglichen Auslegung liefert lediglich Art. 3 der Aggressionsdefinition92, dort wird in lit. g eine Aggressionshandlung (act of aggression) u. a. als „attack by the armed forces of a State“ beschrieben; zudem wies der IGH im Nicaragua-Fall Art. 3 lit. g als Beispiel für einen bewaffneten Angriff aus93. Aus diesen Erwägungen wird allgemein geschlossen, dass ein armed attack jedenfalls ein Unterfall der armed aggression sein müsse, also enger i. S. v. „besonders schwerwiegend“94 zu verstehen sei95. Hieraus werden dann verbreitet sich ähnelnde Definitionen abgeleitet, welche z. B. einen bewaffneten Angriff bei „massiver, koordinierter Form militärische[r] Gewalt gegen einen anderen Staat“96 annehmen. Bedeutung97,



90

Dass „weitgehend Einigkeit“ in Bezug auf dieses Beschaffenheitserfordernis bestehen und es für die SVN sogar „geradezu konstitutiv“ sein soll, kann indes entgegen den Behauptungen von Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 173 f., angesichts des sich lebhaft fortsetzenden völkerrechtlichen Diskurses hierzu (vgl. nur jüngst Green, ICJ and Self-Defence, passim) nicht konstatiert werden. 91 Vgl. zum Streitstand aktuell Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (545 ff.), sowie jüngst ausführlich Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 126 ff. 92 s. dazu eingehend Diener, Terrorismusdefinition, S. 224 ff., m. w. N. 93 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (103 f.), Abschn. 195. 94 Kunde, Präventivkrieg, S. 118; zu einzelnen Fallgruppen Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 21 ff. 95 s. nur Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 138, m. w. N.; mit beacht­ lichen Gründen gegen diese Lesart aber Green, ICJ and Self-Defence, S. 147 ff. 96 Herdegen, Völkerrecht, § 34, Rn. 12 (S. 231). 97 Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 207, beschreibt z. B. die Bedeutung des ursprünglich traditionellen Begriffs als „im Umbruch“.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Inhalt98, Zielobjekte99 und notwendiges Mindestausmaß100 eines bewaffneten Angriffs bleiben aber ebenso umstritten101 wie die Frage, ob überhaupt ein bewaffneter102 Angriff als auslösendes Ereignis notwendig ist103. Erkennbare Einigkeit – wenn auch nicht immer ausdrücklich und klar formuliert – besteht einzig in dem Punkt, dass – sei es unter der Bezeichnung armed attack oder hiervon losgelöst – eine gewisse Nachteiligkeit als Folge des Ereignisses zu fordern ist104, damit es eine Selbstverteidigungslage auslösen kann. Der Anknüpfungspunkt muss also eine gewisse Mindestbeschaffenheit zur Auslösung einer nachteiligen Folge aufweisen. Doch selbst wenn diese sehr unterschiedlich bestimmte, häufig ungenau mit „Intensität“ gleichgesetzte105 Mindestbeschaffenheit nicht erreicht wird, soll das Völkerrecht nach weit verbreiteter Auffassung106 „sofortige und verhältnismäßige Abwehrmaßnahmen“ zulassen, nicht aber ein „umfassendes Selbstvertei­ digungsrecht“107. Ein solches der Selbstverteidigung „analoges“ Recht auf counter measures erwog auch der IGH wiederum im Nicaragua-Fall108 und bezieht sich

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Angesichts der steigenden Kreativität von Schädigern sowie wachsender technischer Möglichkeiten ist ein Trend dahingehend zu erkennen, ein möglichst weites Feld schädigender Ereignisse als bewaffneten Angriff zu qualifizieren, s. z. B. Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (160 f.). Dabei wird heute insb. diskutiert, ob angesichts der gegenwärtigen Entwicklung auch schädliche Einwirkungen auf Computernetzwerke als bewaffneter Angriff gelten können, so z. B. Dietz, DÖV 2011, S. 465 ff. (471), oder Silver, Use of Force, in: Computer Network ­Attack, S. 73 ff. Für diesen Trend spricht auch die Aufnahme sog. „Cyber Attacks“ in aktuelle Sicherheitsstrategien, vgl. z. B. den EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie 2008 (s. u. 8. Kap. B. II. 7.), die NSS 2010 (s. u. 4. Kap. C. IV. 3. a) cc)), die britische NSS 2010 (s. u. 8. Kap. B. III. 6.) und das NATO-Konzept 2010 (s. u. 8. Kap. B. III. 7.). 99 Kittrich, Self-Defense, S. 36 f. 100 Vgl. die teils vehemente Kritik an einer strengen Interpretation des Begriffs z. B. von Fitzgerald, VirginiaJIL 49 (2009), S. 473 ff. (485); Kittrich, Self-Defense, S. 72; sowie jüngst differenzierend zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Anknüpfungspunkten Kreß, JCSL 15 (2010), S. 245 ff. (249). 101 Zu den verschiedenen Meinungsständen s. allgemein z. B. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 173 ff.; Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 191 ff.; Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (302 f.); Sicilianos, Les réactions décentralisées á lìllicite, S. 295 ff.; Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (965). 102 Dietz, DÖV 2011, S. 465 ff. (471), scheint jüngst die Diskussion (womöglich un­gewollt) zuzuspitzen, indem er sich zwar auf Art. 51 SVN bezieht, gleichwohl aber lediglich auf einen „Angriff“ abstellt, ohne das Attribut „bewaffet“ auch nur einmal zu erwähnen. 103 Gegen die Notwendigkeit z. B. Bowett, Self-Defense, S.  188; dafür Brownlie, Use of Force, S. 264 f.; Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 4 ff., jeweils m. w. N. 104 Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 168 f. 105 Richtig differenziert hier hingegen Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (966). 106 Constantinou, Right of Self-Defence, S. 206; Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 180 f.; Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (508); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 262 ff.; a. A. Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (966). 107 Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 19 (S. 656). 108 ICJ Rep. 1986, S.  14–150 (110 f., 117), Abschn.  210 f., 249. Im Ergebnis versagte der IGH im konkreten Fall zwar den USA als Drittstaat ein solches Recht, jedoch gestattete er die

B. Reaktive Selbstverteidigung

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auf die dort vorgenommene Differenzierung später im Ölplattform-Fall109. Mit anderen Worten gestattet ein solcher Ansatz die Gewaltanwendung lediglich unter der Prämisse der  – auch vom Selbstverteidigungsrecht zu beachtenden110  – Verhältnismäßigkeit, jedoch ohne dass die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen des insoweit tatsächlich „umfassend“ geregelten Selbstverteidigungsrechts erfüllt sein bräuchten111. Es würde somit eine weitere, von einem eng verstandenen Selbstverteidigungsrecht emanzipierte Ausnahme zum Gewaltverbot mit gleicher Wirkung geschaffen112. Diese erfüllt offenkundig den Zweck, eine hohe – wohl im Einzelfall als zu hoch empfundene – Beschaffenheitsanforderung an einen bewaffneten Angriff als auslösendes Ereignis einer Selbstverteidigungslage zu korrigieren113, um dennoch gewünschte Gewalthandlungen zuzulassen. Diese soeben dargestellten und ungesicherten Meinungsstände geben eher Vagheiten denn Wahrheiten wieder. Als solche führen sie nicht zu einem einheit­ lichen Prüfungsrahmen, gestatten damit keine klare Rechtsermittlung, führen also nicht zum Ziel dieser Arbeit. Lediglich die Erkenntnis, dass es abstrakt eine gewisse Mindestbeschaffenheit eines Ereignisses im Sinne der Herbeiführung einer nachteiligen Folge geben muss, lässt sich mit der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Definition vorbeugender Selbstverteidigung in Einklang bringen und induktiv auch für reaktive Selbstverteidigung anwenden: Ein Ereignis muss zur Auslösung einer Selbstverteidigungslage in seiner Folge für einen gewaltsamen Schaden in irgendeiner Form ursächlich sein114. Weitere Einschränkungen über das Erfordernis dieser Schadenskausalität lassen sich nicht unzweifelhaft feststellen, sind allerdings für die in dieser Arbeit maßgebliche Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung auch nicht erforderlich115. Die bislang zu Grunde gelegte weite Betrachtungsweise des Selbstverteidigungsrechts wird damit bestätigt116; ­ ption entsprechender counter measures für die von unterstellter nicaraguanischer Gewalt diO rekt betroffenen Staaten: „The acts of which Nicaragua is accused (…) could only have justified proportionate counter-measures on the part of the State which had been the victim of these acts (…)“ (ibid., Abschn. 249). 109 ICJ Rep. 2003, S.  159–219 (186 f.), Abschn.  51, mit entsprechendem Verweis auf das ­Nicaragua-Urteil, jedoch ohne ausdrückliche Benennung von counter measures. 110 s. u. 3. Kap. B. II. 2. b) dd). 111 Instruktiv hierzu die grafische Darstellung von Kritsiotis, Topographies of Force, in: FSDinstein, S. 29 ff. (52). 112 Darauf wird u. unter dem Stichwort „Zweckbedingte Ausschlusstheorie“ (4. Kap. B. II.) näher einzugehen sein. 113 Diese Tatsache war wohl eine der Ursachen für den 1970 veröffentlichten und hoch umstrittenen Aufsatz von Franck, AJIL 64 (1970), S. 809 ff., s. dort insb. S. 813; dazu u. mehr unter 4. Kap. B. 114 Vgl. dazu auch Dinstein, Self-Defense, in: Computer Network Attack, S.  99 ff. (105); ­Robertson, Self-Defense under Int’l. Law, in: Computer Network Attack, S.  121 ff. (136); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 72 ff. 115 Als Kontrast zu diesem knappen Umriss ist besonders lesenswert die abschließend von Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 541 ff., vorgeschlagene – immerhin fünf Seiten starke – Definition eines bewaffneten Angriffs. 116 Ebenso in diesem Kontext Hillgruber, ZfP 50 (2003), S. 245 ff. (248).

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

für den weiteren Verlauf dieser Arbeit kann die Frage nach einer über eine Schadenskausalität hinausgehende Qualifizierung der abstrakt erforderlichen Mindest­ beschaffenheit als Realisierungsschwelle mangels Relevanz für die Erörterung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung offen gelassen werden. Im Zuge der Diskussion um die Beschaffenheit eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses ist es weiterhin angezeigt, auf die seit den 1950er Jahren entwickelte117 sog. accumulation-of-events-Doktrin einzugehen118. Sie besagt kurz zusammengefasst, dass mehrere kleinere aufeinanderfolgende Ereignisse, deren Beschaffenheit für sich genommen nicht zum Überschreiten der Realisierungsschwelle zu einer Selbstverteidigungslage ausreicht, in ihrer Akkumulation – einer Nadelstichtaktik gleich – als ein einziges auslösendes Ereignis betrachtet werden können. Diese Theorie verhilft jedoch an dieser Stelle zu keinen neuen Erkenntnissen, da  – wie dargelegt  – hier bereits die Eigenschaft der Schadenskausalität eines auch kleinen Ereignisses als Auslöser einer Selbstverteidigungslage nicht ausgeschlossen wird. Die accumulation-of-events-Doktrin kann eher als alternatives Korrektiv zu grundsätzlich höher eingestuften Anforderungen an das auslösende Ereignis betrachtet werden. Ein solches Korrektiv kann im Rahmen dieser Arbeit angesichts der bloß festgestellten Notwendigkeit einer abstrakten Mindestbeschaffenheit aus den dargelegten Gründen vernachlässigt werden. Denkbar ist jedoch darüber hinaus, dass die abstrakte Mindestbeschaffenheit des Auslösers einer reaktiven Selbstverteidigungslage auch durch das Auf­treten mehrerer, teils vergangener und teils zukünftiger kleinerer Ereignisse, die für sich genommen jeweils unterhalb dieser abstrakten Mindestbeschaffenheit ausfallen, erreicht werden kann. Wäre dies der Fall, könnte die accumulation-of-eventsDoktrin zumindest in Bezug auf zukünftige kleinere Ereignisse die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung für ihren Anwendungsfall nachweisen119. In dieser weiteren Funktion als mögliche Theorie zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung wird später intensiver auf diese Doktrin einzugehen sein120.

117 Vgl. Gazzini, JCSL 11 (2006), S.  319 ff. (330); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 230 f., jeweils m. w. N. 118 Dazu ausführlicher Alexandrov, Self-Defense, S.  166 f.; Diener, Terrorismusdefinition, S.  258 ff.; Gray, Int’l. Law and Use of Force, S.  155 f.; Kittrich, Self-Defense, S.  73 ff.; Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 196 ff.; Kunde, Präventivkrieg, S. 154 ff.; Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 64 ff.; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 168 ff.; Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 78 ff.; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 849 f. (S. 304 f.). 119 Dies verkennt Diener, Terrorismusdefinition, S. 258. 120 s. u. 4. Kap. C. V.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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(3) Umstände Schließlich ist noch auf die Umstände des tauglichen Anknüpfungspunktes einer Selbstverteidigungslage einzugehen. Im Rahmen der hier relevanten reaktiven Selbstverteidigung ist selbstverständlich, dass sich das auslösende Ereignis bereits manifestiert haben muss. Dies ergibt sich allein schon in Abgrenzung zu der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Definition vorbeugender Selbstverteidigung und wurde bereits stillschweigend mit den bisher getätigten Erwägungen vorausgesetzt. Demnach ist das Merkmal der Gegenwärtigkeit zwingend für einen Anknüpfungspunkt einer Selbstverteidigungslage, d. h., das maßgebliche Ereignis muss sowohl tatsächlich als auch zeitlich wahrnehmbar eingetreten sein. (4) Zusammenfassung Nach diesen Feststellungen gilt auch für die Dogmatik des Selbstverteidigungsrechts das bereits unter natürlichen Gesichtspunkten für die praktischen Sachverhaltskonstellationen Konstatierte: Als Auslöser einer Selbstverteidigungslage ist der Zeitpunkt zu verstehen, zu welchem ein für einen späteren gewaltsamen Schaden kausal gewordenes Ereignis eintritt; zu diesem ist im konkreten Fall frühestens ein Staat zur Selbstverteidigung berechtigt. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist dabei nicht der Zeitpunkt des Schadenseintritts, sondern der Zeitpunkt der Schadensverursachung. bb) Völkerrechtsverstoß eines Staates Umstritten ist ferner, ob als weiteres Tatbestandsmerkmal einer Selbstverteidigungslage ein Völkerrechtsverstoß eines Staates zu fordern ist121. Genau genommen wirft dieser Aspekt zwei Fragestellungen auf, nämlich erstens die Frage nach einer möglicherweise notwendigen Staatlichkeit des auslösenden Ereignisses und zweitens die Frage nach der Völkerrechtswidrigkeit dieses Ereignisses. Auf beide Gesichtspunkte wurde in dieser Arbeit im Zusammenhang der Abgrenzungs­ problematik von Selbstverteidigung und Notstand bereits eingegangen122. Es bleibt damit bloß zusammenfassend festzustellen, dass es jedenfalls nicht unvertretbar ist, ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis auch dann anzunehmen, wenn es nicht auf ein staatliches Verhalten und bzw. oder einen Völkerrechtsverstoß123 zurückzuführen ist. Dieses Tatbestandsmerkmal ist mithin bereits 121 Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (153 ff.), fasst das aktuelle Meinungsspektrum zusammen. 122 s. o. 2. Kap. C. II. 123 Jedoch wird faktisch regelmäßig zumindest von einem Völkerrechtsverstoß auszugehen sein, vgl. Kittrich, Self-Defense, S. 21.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

bei reaktiver Selbstverteidigung nicht als zwingend erforderlich nachweisbar und kann somit im weiteren Verlauf dieser Arbeit vernachlässigt werden. cc) Notwendigkeit Problematisch, weil uneinheitlich verstanden und weitgehend unübersichtlich dargestellt124, ist das als solches allgemein anerkannte125 Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit (oder auch synonym: Erforderlichkeit) der Selbstverteidigungshandlung126 als Teil des völkerrechtlich universell geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes127. Auf den ersten Blick mag es überraschen, einen Aspekt der Selbstverteidigungshandlung im Rahmen der Selbstverteidigungslage zu prüfen; gemeint ist jedoch nur die Notwendigkeit der Durchführung einer Selbstverteidigungshandlung, nicht dagegen die Beschaffenheit der Handlung selbst. Es ist nämlich systematisch konsequent, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob eine Gewaltanwendung im konkreten Fall überhaupt angebracht ist; dies ist ausschließlich ein Aspekt des „Ob“ der Zulässigkeit der Gewaltanwendung, also der Selbstverteidigungslage. Erst in einem zweiten Schritt128 ist dann auf das „Wie“ der Selbstverteidigungshandlung, insbesondere deren Verhältnismäßigkeit i. e. S., einzugehen129. Diese Zweiteilung wird allerdings in großen Teilen der völkerrechtlichen Dogmatik unter Bezugnahme der pauschalen Bezeichnung „necessity and proportionality“130 – zum 124 Zur Begriffsvielfalt (auch der Verhältnismäßigkeit i.w.S.) Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 67. 125 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 6; Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 19 f., 74; Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (9, 27). 126 Dafür spricht i. Ü., dass diese Prinzipien gem. Artt. 40–42 SVN explizit für Maßnahmen kollektiver Sicherheit gelten, welche gegenüber dem Selbstverteidigungsrecht zwar systematisch vorrangig, aber in demselben Kontext zu lesen sind, s. dazu instruktiv Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (28). 127 Statt vieler Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 42. 128 Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (473), spricht von einer „doppelten Verhältnismäßigkeits­ prüfung“. Greenwood, in: Handbook of Int’l. Humanitarian Law, S. 37, Rn. 131, beschreibt das Merkmal der Notwendigkeit klarstellend und zu Recht als die aus dem ius ad bellum herrührende absolute Grenze des innerhalb einer verhältnismäßigen Gewalthandlung Erlaubten. 129 Ebenso Gardam, Necessity, Proportionality, Force, passim; Glennon, HarvardJLPP 25 (2002), S.  539 ff. (551); Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S.  208; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (526); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 156 ff.; mittelbar auch Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (967); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 231. 130 Z. B. bei Cassese, Int’l. Law, S. 355; Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FSDinstein, S. 113 ff. (123 f.); Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 148 f.; McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 217 f.; aufgreifend im deutschen Schrifttum Kunde, Präventivkrieg, S. 120; Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 211 ff.; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn.  794 (S.  281); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 280.

B. Reaktive Selbstverteidigung

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Teil mit Verweis auf eine angeblich entsprechende IGH-Rechtsprechung131 – nicht vollzogen132. Dennoch ergibt sich eine solche zwangsläufig aus dem einer „allgemeinen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegenden hierarchisch-konsekutiven Aufbau in Form der Punkte „Geeignetheit“, „Notwendigkeit“ und „Verhältnismäßigkeit i. e. S.“ (oder auch: „Angemessenheit“)133. An dieser Stelle wird die Geeignetheit des Selbstverteidigungsrechts bereits durch die vorhergegangene Annahme der Schadensabwehr der Selbstverteidigungshandlung als gegeben vorausgesetzt. Die im Anschluss daran zu erfolgende prüfungspunktuelle Trennung von Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. ist auf die dem Rechtsinstitut innewohnende Differenzierung zwischen Selbstverteidigungslage und -handlung zurückzuführen. Weiterhin erschwert es die in der englischen Sprache zumeist nicht erkennbare Abgrenzung zwischen Notstand und Notwendigkeit134, die jeweiligen Aspekte des Instituts des Notstands sowie solche der notwendigen Selbstverteidigungshandlung zu differenzieren. Wie bereits kritisch bemerkt, werden auf diese Weise häufig Aspekte sowohl von Notstand als auch von Notwendigkeit einer Selbstverteidigungshandlung miteinander vermengt. Angesichts der für diese Arbeit verwendeten weiten Definition vorbeugender Selbstverteidigung (und damit wiederum induktiv auch bezogen auf die hier zunächst relevante reaktive Selbstverteidigung) ist es jedoch materiell weitgehend unschädlich, Überlegungen zu Notstand und Notwendigkeit zu vermischen; der Inhalt ist entscheidend. Gemeinsam liegt nämlich sowohl dem Institut des Notstands als auch dem Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit das Prinzip der ­ultima ratio zu Grunde135. Notstand soll als letzter Ausweg zulässig sein, wenn andere Wege zur Schadensabwehr keinen Erfolg versprechen; ebenso soll das Tat­ 131 Der IGH, ICJ Rep. 1986, S.  14–150 (103), Abschn.  194; ICJ Rep. 2003, S.  159–219 (196 f.), Abschn. 74; Online-Slg. 2005, S. 1–104 (53, Abschn. 147), unterscheidet jedoch sehr wohl in ständiger Rechtsprechung zwischen „necessity“ bzw. „circumstances of necessity“ einerseits und „proportionality of the measures taken in self-defence“ bzw. „manner that was proportionate“ andererseits und vermengt so beide Aspekte gerade nicht zu einem einzigen Prüfungspunkt. Besonders deutlich wird dies in ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (191), Abschn. 62 a. E., wo ausdrücklich die „necessity of action in self-defence“ in Abgrenzung zu der dort nicht relevanten Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel herausgestellt wird. Unklar formuliert der IGH lediglich in ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (245 ff.), insb. Abschn. 44 und 48. Vgl. zur Position des IGH hierzu i. Ü. Green, ICJ and Self-Defence, S. 76 ff. 132 Vgl. differenzierend und ausführlich Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 91 ff, der jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass sich beide Prinzipien überlappen und deshalb kaum getrennt werden könnten, ibid., S. 124 f. 133 Den Nachweis (auch) völkerrechtlicher Anerkennung dieses Dreischritts führt jedenfalls in Bezug auf – wie hier vorliegende – Fälle von Regel und Ausnahme überzeugend Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (insb. 12 f., 17, 27 f.). 134 s. o. 2. Kap. A. XII. 135 Ausdrücklich z. B. Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S.  5; Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (376); Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff. (223); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 176.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

bestandsmerkmal der Notwendigkeit innerhalb des Selbstverteidigungsrechts eine Gewalthandlung trotz tauglichen Anknüpfungspunktes nur dann als rechtmäßig qualifizieren, wenn es kein schonenderes gleichwertiges Mittel zur Schadensabwehr136 – insbesondere die Wahrung der in Art. 33 SVN verkörperten Pflicht zur Bemühung um friedliche Streitbeilegung137 – gibt138. Diese Wertungsparallelität ist auch einer der maßgeblichen Gründe dafür, dass bis heute umstritten ist, ob der berühmte Caroline-Vorfall139 aus dem Jahr 1837 dem Selbstverteidigungs- oder Notstandsrecht zuzuordnen ist; zugleich ist die Streitbeilegungspflicht mit ihren klaren rechtlichen Konturen ein überzeugendes Argument gegen eine plakative Kategorisierung und für eine inhaltsscharfe Rechtsermittlung. Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit der Selbstverteidigungshandlung darüber entscheidet, ob bei taug­ lichem Anknüpfungspunkt tatsächlich eine Selbstverteidigungslage vorliegt. Das Kriterium ist regelmäßig dann erfüllt, wenn es alternativ zur Gewaltanwendung kein schonenderes und zugleich gleich wirksames Mittel zur Schadensabwehr gibt, die Selbstverteidigungshandlung als solche also ultima ratio wäre. Diese Anforderungen werden im Rahmen vorbeugender Selbstverteidigung allerdings noch einmal zu überprüfen sein. dd) Keine Treuwidrigkeit Kein Spezifikum des Selbstverteidigungsrechts, aber besonders bei der Bewertung des Vorliegens einer Selbstverteidigungslage zu beachten ist ein mög­liches treuwidriges Verhalten des sich auf Verteidigung berufenden Staates. Der all­ gemeine völkerrechtliche Grundsatz des venire contra factum proprium140 wirkt sich dabei dergestalt aus, dass eine Selbstverteidigungslage auch bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsmerkmale nicht angenommen werden kann, wenn der betroffene Staat an ihrer Entstehung mitgewirkt hat, um sodann rechtmäßig Gewalt anwenden zu können. Die Rechtsverwirkung durch rechtsmissbräuchliches Verhalten lässt sich zudem auch aus dem soeben als relevant ermittelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ableiten141. Denkbar wären z. B. vorgelagerte Handlungen der Provokation oder auch die Darstellung falscher Tatsachen, welche wiederum den vermeintlichen Angreifer sich irrtümlich in einer faktisch nicht gegebenen Selbstverteidigungslage wähnen lassen. Hinzu kommt, dass auch der hier einzig relevante Zweck von Selbst­ verteidigung  – Schadensabwehr  – primär nicht erfüllt werden könnte, da der 136

Schadensabwehr ist der einzig relevante Zweck von Selbstverteidigung, s. o. 3. Kap. B. I. 2. Ausdrücklich Kittrich, Self-Defense, S. 27. 138 Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (21). 139 s. ausführlich u. 6. Kap. D. IV. 140 Vgl. statt vieler Hobe, Einführung, S. 197 f. 141 Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (18 f.).

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B. Reaktive Selbstverteidigung

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d­ rohende Schaden ja zuvörderst dem Treuwidrigen zuzurechnen ist. Als jedenfalls ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal ist das Fehlen von Treuwidrigkeit damit beachtlich; es gilt gleichermaßen für reaktive wie vorbeugende Selbst­ verteidigung. ee) Keine Kollision mit im Einzelfall vorrangigem Völkerrecht Des Weiteren kann auch bei Erfüllung der bislang dargestellten Tatbestandsmerkmale eine Selbstverteidigungslage nicht angenommen werden, wenn im Einzelfall vorrangiges Völkerrecht hiermit kollidieren würde. Paradebeispiel hierfür ist zunächst eine ihrerseits zuvor auf Grund von Selbstverteidigung rechtmäßige Gewaltanwendung des vermeintlichen Angreifers. Eine solche muss nicht zwingend durch deliktisches Verhalten des geschädigten Staates hervorgerufen werden142 (dann wäre wohl auch regelmäßig bereits Treuwidrigkeit anzunehmen), sondern es könnte schlicht eine Duldungspflicht143 einer auf dem eigenen Territorium vollzogenen rechtmäßigen Verteidigungshandlung gegen Dritte bestehen. In einem solchen Fall versperrt die bereits als Ausnahme zum Gewaltverbot zu qualifizierende Rechtmäßigkeit einer solchen fremden Handlung das gewaltsame Vorgehen hiergegen. Gleiches gilt auch und erst recht für Maßnahmen des Sicherheitsrats, besonders wenn dieser von seiner Notstandsbefugnis auch über eine längere Dauer Gebrauch macht144. Dies ergibt sich bereits aus der Subsidiarität des Selbstver­ teidigungsrechts, welche gegenüber sämtlichen Handlungen des Sicherheitsrats wirkt. Das Kollisionsverbot mit vorrangigem Völkerrecht gilt aus der Natur seiner ­Sache heraus sowohl für reaktive als auch für vorbeugende Selbstverteidigung. ff) Ergebnis Im Ergebnis lässt sich das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage damit zunächst anhand eines Ereignisses bemessen, welches als Auslöser für den abzuwehrenden Schaden kausal sein muss. Ist sodann eine Gewaltanwendung grundsätzlich als ultima ratio notwendig, nicht treuwidrig und nicht mit vorrangigem Völkerrecht kollidierend, ist eine Selbstverteidigungslage anzunehmen.

142

s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) bb). s. dazu näher u. 3. Kap. B. II. 2. b) aa). 144 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 352 f.

143

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

b) Selbstverteidigungshandlung Unter der Voraussetzung, dass eine reaktive Selbstverteidigungslage vorliegt, sind im Anschluss die Tatbestandsmerkmale einer rechtmäßigen, hierauf be­ zogenen Selbstverteidigungshandlung zu ermitteln. Bereits aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigung und dem daraus resultierenden Ausnahmecharakter ergibt sich, dass auch bei vorliegender Selbstverteidigungslage eine Gewalthandlung nicht schrankenlos erfolgen darf. Zu beantworten ist deshalb die Frage, wie die Gewalthandlung beschaffen sein und innerhalb welcher Grenzen sie sich bewegen darf, um als rechtmäßige Ausübung von Selbstverteidigung zu gelten. Diese Aspekte – teilweise des ius in bello, teilweise aber auch als Fortsetzung des ius ad bellum145 – könnten sodann eine abweichende Bewertung der – wegen einer bestehenden Selbstverteidigungslage grundsätzlich zulässigen – Gewaltanwendung zur Folge haben. aa) Richtige Zielrichtung Das erste wesentliche Tatbestandsmerkmal einer Selbstverteidigungshandlung ist deren richtige Zielrichtung. Zu klären ist also, gegen wen sich die Handlung richten darf, wer also richtiger Adressat ist. Das Ziel der Schadensabwehr als der für diese Arbeit maßgebliche Zweck von Selbstverteidigung sowie die dieser Arbeit zu Grunde liegende direktional ansetzende Definition vorbeugender Selbstverteidigung verdeutlichen bereits, dass sich eine entsprechende Gewalthandlung nur gegen den Auslöser des abzuwehrenden Schadens und die möglichen Elemente einer von ihm in Gang gesetzten Kausalkette richten darf. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob der mögliche Adressatenkreis auf Staaten als taugliche Ziele einer Selbstverteidigungshandlung zu reduzieren ist146. Diese Frage wird zumeist zusammen mit jener nach der hier bereits verneinten Notwendigkeit eines staatlichen Völkerrechtsverstoßes diskutiert147; entsprechend 145

Im Rahmen der Selbstverteidigungshandlung fällt eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Friedenssicherungs- und Konfliktsvölkerrecht schwer, weil zum einen durch die Selbstverteidigungshandlung häufig ein bewaffneter Konflikt ausgelöst wird und damit das ius in bello zur Anwendung kommt, zugleich aber unmittelbar mit dem Selbstverteidigungsrecht verbundene Fragen am ius ad bellum zu messen sind. Da es im Rahmen dieser Arbeit jedoch zumindest nicht entscheidend auf das Konfliktsvölkerrecht ankommt, erübrigt sich auch eine genaue Zuordnung jedes einzelnen Tatbestandsmerkmals der Selbstverteidigungshandlung. 146 Für eine solche Einschränkung heute noch Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (379); da­ gegen bereits Bowett, Self-Defense, S.  56, und aktuell z. B. Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S.  157 ff. (174 f.); s. zur Entwicklung des Streitstandes auch Arend/Beck, Use of force, S. 159 ff., sowie jüngst Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 16 ff. 147 s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) bb).

B. Reaktive Selbstverteidigung

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ähnlich fallen die Argumente aus. Wenn jedoch schon das eine Selbstverteidigungslage auslösende Ereignis nicht zwingend staatlichen Ursprungs sein muss, wäre es ein nicht zu erklärender Wertungswiderspruch, auf der Ebene der Selbstverteidigungshandlung dennoch den Adressatenkreis auf Staaten einzuschränken. Es ergäbe sich eine systematisch nicht begründbare Lücke, welche bei nichtstaatlich hervorgerufenen Selbstverteidigungslagen zugleich eine Selbstverteidigungshandlung per se ausschließen würde148. Damit ist jeder Auslöser einer Selbstverteidigungslage tauglicher Adressat einer Selbstverteidigungshandlung. Eine solche muss sich entweder gegen ihn direkt oder die Folgen seines Auslöserverhaltens als dessen Substrat richten. Richtige Zielrichtung sind also sämtliche Schritte zwischen dem den Schaden verursachenden Ereignis und dem Schadenserfolg. Problematisch wird die bedingungslose Anerkennung dieser Zielrichtung allerdings bei den praktisch relevanten Situationen, in welchen auf fremdem Territorium nur gegen nichtstaatliche Auslöser einer Selbstverteidigungslage, nicht aber zielgerichtet gegen den Aufenthaltsstaat selbst vorgegangen wird149. Auch dabei wird automatisch das Gebiet eines unbeteiligten Drittstaates verletzt150, doch dieser könnte sich bei einer vorangegangenen legalen Gewaltanwendung hiergegen nicht mit Selbstverteidigung zur Wehr setzen. Zu bedenken ist hierzu jedoch, dass das Selbstverteidigungsrecht als ultima ratio erfordert, dass zuvor sämtliche Alternativen zur Schadensabwehr ausgeschöpft wurden; dies wären in der genannten Konstellation z. B. ein Ersuchen des Drittstaates zur seinerseitigen Bekämpfung des Schadensverursachers oder zur Erlaubniserteilung des Betretens seines Hoheits­gebietes für ein eigenes Vorgehen. Wurden solche Versuche nicht unternommen, kann mangels Notwendigkeit bereits nicht von einer Selbstverteidigungslage ausgegangen werden. Waren sämtliche Versuche jedoch erfolglos – regelmäßig mangels Kooperationsbereitschaft des Drittstaates  – so erscheint es zumindest nicht unvertretbar, unter dem Vorbehalt einer sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung eine zielgerichtete – direktionale – Selbstverteidigungshandlung zu Lasten des jeweiligen Aufenthaltsstaates zuzulassen151. Eine solche würde nämlich ihren notwendigen defensiven Charakter behalten und nicht in einen hier nicht zu thematisierenden Aggressivnotstand münden, weil das Ziel der Gewalt weiterhin nur der Schadensverursacher bleibt und der unbeteiligte Drittstaat lediglich 148

Ebenso z. B. Wolfrum, MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff. (36 ff.). Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S.  18 f., differenziert dabei weiter zwischen sog. „echten“ und „unechten Dreieckskonstellationen“. Zumindest die Unterscheidung von Zweiund Mehrparteienverhältnissen ist praktisch und rechtlich bedeutsam, vgl. nur Grote, Categories for Assessing Use of Force, in: Terrorism as a Challenge for National and Int’l. Law, S. 951 ff. (971 f.). 150 Die bloße Verletzung territorialer Integrität bedeutet indes nicht, dass die Gewalt auch zwingend gegen sie gerichtet ist, vgl. z. B. Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 845 (S. 302); a. A. Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (379). 151 Instruktiv Kreß, JCSL 15 (2010), S. 245 ff. (250 f.). 149

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

passiv beeinträchtigt ist152. Darüber hinaus wird häufig die Ansicht vertreten, dass dem unkooperativen bzw. untätigen Drittstaat153 je nach Tragweite des Schadens­ auslösers  – typischerweise bei der Terrorismusbekämpfung  – eine Duldungspflicht154 zu Lasten seiner territorialen Unversehrtheit obliege155. Gelegentlich soll sogar der gesamte völkerrechtliche Schutz in Bezug auf den Aufenthaltsort des Schadensauslösers nicht greifen, weil der Drittstaat durch sein Verhalten den Schadensauslöser aus seinem Hoheitsgebiet ausgesondert habe156. Im Übrigen sind mögliche Schadensersatzansprüche gegen den Verteidiger zur Kompensation entstandener Kollateralschäden nicht ausgeschlossen, der Drittstaat genießt also spätestens auf dieser Ebene einen ausgleichenden Schutz157. In Anbetracht dieser vielschichtigen argumentativen Ansätze ist das hier zu erörternde Tatbestandsmerkmal der richtigen Zielrichtung einer Selbstverteidigungshandlung im Sinne des zu ermittelnden maximal möglichen Rahmens der Rechtmäßigkeit lediglich dahingehend einzuschränken, dass sich die Handlung gegen den Schadensauslöser selbst oder die von ihm verursachten Elemente der bis zum Schadenseintritt führenden Kausalkette zu richten hat. bb) Unmittelbarkeit Als weiteres Tatbestandsmerkmal einer reaktiven Selbstverteidigungshandlung ist das Vorliegen eines Unmittelbarkeitszusammenhangs zwischen Selbstverteidigungslage und -handlung anerkannt158. Grundsätzlich hat die Gewaltanwendung 152

Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (475 f.). Hierzu hat Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff. (154 f., dort Abb. 1), einen diskussionswürdigen Lösungsvorschlag unterbreitet, der in Abhängigkeit von Häufigkeit und Vorhersehbarkeit terroristischer Anschläge einerseits sowie der drittstaatlichen Bemühung zur Verhinderung derselben andererseits abwägt. 154 Dinstein, Self-Defense, in: Computer Network Attack, S.  99 ff. (104, 108); Grote, Categories for Assessing Use of Force, in: Terrorism as  a Challenge for National and Int’l. Law, S.  951 ff. (976 ff.); Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S.  13; Schmitt, ­MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (540); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 112 ff.; Walsh, PaceILR 21 (2009), S.  137 ff. (151 ff.); Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S.  143 ff. (154 f.). Vgl. auch die Argumentation Dinsteins zum extra-territorial law enforcement o. unter 2.  Kap. B. XV. 155 Abzuleiten ist dies i. Ü. aus der Pflicht jeden Staates, sein Gebiet nicht zum Schaden Dritter zu nutzen, vgl. bereits ICJ Rep. 1949, S. 4–169, insb. S. 22, und dazu Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 205 f.; Wolfrum, MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff. (38). Das Ausmaß dieser Duldungspflicht ist jedoch weiterhin umstritten, vgl. Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (39 ff.). 156 Vgl. die Darstellung dieser „Aussonderungslösung“ bei Scholz, Selbstverteidigungsrecht gegen terrorist. Gewalt, S. 28 f., m. w. N. 157 ILC, YBILC 2001 Vol.  II, S.  26 ff. (75), Art.  21, Abschn.  5 a. E. stellt eindeutig klar: „­Article 21 leaves open all issues of the effect of action in self-defence vis-à-vis third States.“ Vgl. auch Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 174. 158 Kittrich, Self-Defense, S. 27 f.; Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (474). 153

B. Reaktive Selbstverteidigung

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schnellstmöglich auf das auslösende Ereignis zu erfolgen. Dies ergibt sich wiederum aus dem Zweck der Schadensabwehr, welche umso Erfolg versprechender gelingen kann, je schneller der Schadensverursacher bekämpft werden kann. Umgekehrt gilt: Je weiter der Auslöser eines Schadens in der Vergangenheit liegt, desto wahrscheinlicher wird eine endgültige Manifestierung des schließlich gänzlich vollendeten Schadens. Dieser kann in der Folge schlechterdings nicht mehr bekämpft werden und eine etwaig erst dann beginnende Gewalthandlung schlüge in eine unzulässige Vergeltungsmaßnahme um159. In tatsächlicher Hinsicht schwer zu beantworten ist allerdings die Frage, wann ein Schaden gänzlich vollendet  – also ohne weitere Auswirkungen  – ist und ob auch angesichts dessen ein absolutes Zeitlimit zur Wahrung der Unmittelbarkeit zu fordern ist160. In der Praxis wird mit diesem Erfordernis  – zumeist unwider­ sprochen – recht großzügig verfahren161. Gründe dafür sind u. a. die erforderlichen Planungsvorbereitungen einer entsprechenden Verteidigungshandlung162, vor allem aber das zuvor einzuhaltende Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit. Wenn der Opferstaat jedes mögliche gleich wirksame und schonendere Mittel auszuschöpfen hat, muss ihm ein gewisser Reaktionsspielraum zugebilligt werden; ansonsten würde er sich paradoxerweise sein Recht auf Selbstverteidigung wegen einer besonders umsichtigen Prüfung der Fakten selbst verwirken. Die Strenge des Unmittelbarkeitserfordernisses richtet sich folglich nach den Umständen des Einzelfalls163. Fest steht jedoch, dass Unmittelbarkeit zu fordern ist und dieses Kriterium jedenfalls dann nicht mehr erfüllt ist, wenn sich der ursprünglich abzuwehrende Schaden endgültig manifestiert hat, von ihm also keine weiteren unmittelbaren Auswirkungen ausgehen. cc) Dauer Nachdem die Selbstverteidigungshandlung grundsätzlich unmittelbar nach dem Schadensauslöser zu beginnen hat, stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, wie lange sie rechtmäßigerweise andauern darf. Als subsidiäres Recht ist die Ausübung von Selbstverteidigung jedenfalls dann zu beenden, wenn sich der Sicherheitsrat der Sache angenommen und entsprechende effektive164 Maßnahmen getroffen hat165; dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 51 SVN.

159

Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 231. Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 19 (S. 658), m. w. N. 161 Beispiele bei Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 150 ff. und Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 231. 162 Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 279. 163 Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 279. 164 Cassese, Int’l. Law, S. 355. 165 Dazu näher Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 175 ff. 160

120

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Darüber hinaus legt der Zweck der Schadensabwehr die Vermutung nahe, dass das Recht auf Gewaltausübung mit dem endgültigen Erreichen dieses Ziels erlischt. So hätte sich der vom Gewaltverbot abweichende Ausnahmezustand gleichsam erledigt und es würde deshalb automatisch zum Grundsatz des Gewaltverbots zurückgekehrt. Dafür spricht wiederum die Subsidiarität der Selbstverteidigung, welche die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts – wie beim Einschreiten des Sicherheitsrats festgestellt  – als einstweilig einstuft166. Lediglich ist es in dieser Konstellation nicht der Sicherheitsrat, sondern die allgemeine Faktenlage, welche mit Rückkehr zum Normalzustand die ausnahmsweise gestattete Gewaltausübungsbefugnis erlöschen lässt. Eine Selbstverteidigungshandlung ist also höchstens bis zum Erreichen ihres Zwecks rechtmäßig, wenn der Sicherheitsrat sie nicht bereits zuvor unterbindet. Zugleich entfallen dann wegen der erfolgreich durchgeführten Selbstverteidigungshandlung auch Anwendbarkeit und Selbstverteidigungslage. Dieses Tatbestandsmerkmal gilt für reaktive wie vorbeugende Selbstverteidigung gleichermaßen. dd) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Als weiteres Tatbestandsmerkmal einer rechtmäßigen Selbstverteidigungshandlung ist aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgend das Tatbestandsmerkmal der Verhältnismäßigkeit i. e. S. anerkannt167. In Abgrenzung zum Erfordernis der Notwendigkeit des Handelns, welches oben im Rahmen der Selbstverteidigungslage geprüft wurde, befasst sich die Verhältnismäßigkeit mit der konkreten Ausformung der defensiven Gewalthandlung und wird daher an dieser Stelle eingrenzend – wie bereits vollzogen – als „Verhältnismäßigkeit i. e. S.“ bezeichnet168. Zu prüfen sind dabei innerhalb einer Selbstverteidigungshandlung  – falls vorhanden – die gesamte Operation wie auch jede einzelne gewaltsame Maßnahme innerhalb der Operation169. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, welche rechtlichen170 Anforderungen genau an die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu stellen 166

Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 124 f.; Kittrich, Self-Defense, S. 93. s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) cc); vgl. aber auch die vereinzelte Skepsis an einer zwingend zu erfüllenden Verhältnismäßigkeit i. e. S. von Vranes, AVR 47 (2009), S. 1 ff. (30 ff.), in Bezug auf die Praxis von EU und WTO. 168 So auch Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 208. Diese Formulierung ist indes nicht zwingend. In der englischsprachigen Literatur wird zumeist schlicht von „pro­ portionality“ gesprochen, im deutschen Schrifttum werden teilweise ähnliche Begriffe verwendet wie z. B. „Proportionalität“ bei Stein, Proportionality, in: LA-Delbrück, S.  727 ff. (729), oder „Angemessenheit“ bei Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 67 ff.; vgl. auch ibid. die Ausführungen zur Begriffsvielfalt. 169 Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (476). 170 Zu den den Rechtsregeln zu Grunde liegenden moralisch-ethischen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit s. Laun, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 33 ff. (35). 167

B. Reaktive Selbstverteidigung

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sind171, namentlich vor allem, ob als Abwägungsgegenstand der Prüfung der Ver­ ursacher einer Selbstverteidigungslage oder deren Schaden heranzuziehen ist172, wie die Gewichtung zwischen Schaden und Nutzen zu erfolgen hat173 und welche schädigenden Auswirkungen im Zielgebiet beachtlich sind174. Mangels Relevanz für diese Arbeit als Teil der Selbstverteidigungshandlung175 nach Feststellung einer auch vorbeugenden Selbstverteidigungslage ist auf die Detailfragen im Einzelnen nicht einzugehen. Klarzustellen ist bloß, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wesentlichen der Maßstab des ius in bello anzu­legen ist176. Welche genauen Konsequenzen dies für eine Gewalthandlung nach sich zieht, ist umstritten177. Jedenfalls aber sind nicht notwendige Verletzungen oder unnötiges Leid unter der Zivilbevölkerung des Zielstaates zu vermeiden, Dosierung und Schwere der angewandten Gewalt also möglichst gering zu halten; Gewaltexzesse sind in jeder Hinsicht unverhältnismäßig178. Im Hinblick auf die anfangs herausgearbeitete der Selbstverteidigung zu Grunde liegende Trennung von finaler Schadensabwehr und direktionaler Vorgehensweise gegen den Schadensverursacher ist es zudem konsequent, primär an den Zweck der Schadensabwehr anzuknüpfen. Dieser muss im Hinblick auf Kollateralschäden möglichst schonend erreicht werden. Der konkrete Schadensverursacher ist dagegen nicht schützenswert und darf daher auch, wenn nötig, vollkommen vernichtet werden. Konsequenterweise sind nahe liegende Anhaltspunkte zur Ermittlung der im Einzelfall maximal möglichen Verteidigungsgewalt solche hinsichtlich Ausmaß und Wirkung der Schadensverursachung179: Zunächst ist gemessen an der Wir 171

Vgl. Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 12; Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 208 ff., 462 ff. 172 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 86 f., 95 ff. 173 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 162 ff.; Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 88 f., 95 ff. 174 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 10 f. 175 Dies verkennt Constantinou, Right of Self-Defence, S. 119 f., weshalb sein Argument der Unanwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf vorbeugende Selbstverteidigung fehlgeht. 176 Cassese, Int’l. Law, S.  355; Greenwood, in: Handbook of Int’l. Humanitarian Law, S. 35 ff., Rn. 131 f.; im Grundsatz auch Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 14 ff. 177 Im Einzelnen ist je nach Einsatzart an unterschiedliche Voraussetzungen zu denken. Beispielsweise haben bei Gewalthandlungen auf Grundlage einer Resolution des VN-Sicherheitsrats eben darin kodifizierte Einschränkungen der Gewaltanwendung als leges speciales Vorrang vor den allgemeinen Regeln. Allenfalls mittelbar gilt dies hingegen für – im Anschluss an eine nach den Gesichtspunkten des ius ad bellum rechtmäßige Gewalthandlung – von der opera­tiven Führung erlassene Rules of Engagement als maßnahmenbezogene und an die Einsatzkräfte gerichtete Konkretisierung der vorrangigen Regeln; sie haben keine Außenwirkung und somit nur Indiziencharakter für die Bewertung der völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit einer Gewaltanwendung nach den Maßstäben des ius in bello, vgl. dazu instruktiv Dreist, NZWehrr 2007, S. 45 ff. 178 Glennon, HarvardJLPP 25 (2002), S. 539 ff. (550); Kittrich, Self-Defense, S. 24. 179 Vgl. auch Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 159.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

kung – dem Schaden – zumindest eine Gewaltanwendung mit vergleichbarem Effekt zulässig180, weil dem Verteidiger grundsätzlich schon nach dem Prinzip der Reziprozität – solange sie notwendig ist – nicht weniger Verteidigung zugestanden werden darf als er zuvor als Schaden zu erleiden hatte181. Daran anknüpfend kann eine Verteidigungshandlung nach aktuellem Völkerrecht umso schwerer aus­ fallen, je größer die vorgelagerte Handlung der Schadensverursachung auf Seiten des Angreifers angelegt war182. Dies führt im Ergebnis zu der hier plastisch als „Spiegelbildvermutung“ bezeichneten Grundannahme, dass die Verteidigungshandlung in Art und Ausmaß als Bestandteil des durch die Selbstverteidigungslage ausgelösten großzügigeren Regimes des Konfliktsvölkerrechts spiegelbildlich zur Angriffshandlung erfolgen darf183. Freilich ist diese Vermutung in jedem Einzelfall erneut zu prüfen184, sodass trotz der aufgezeigten Leitlinien eine gänzlich exakt objektivierbare Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit tatsächlich kaum gelingen kann185. Im Kern bleibt daher festzuhalten, dass für die Verhältnismäßigkeit i. e. S. als Teil  vor allem des ius in bello der Individualrechtsschutz im Vordergrund steht, also jedenfalls nur die für die Zivilbevölkerung schonendsten Mittel der Gewaltanwendung zulässig sein können186. Über das humanitäre Völkerrecht hinaus­ ragende Erwägungen führen bei der Suche nach objektiven Kriterien nicht weiter187, weshalb gelegentlich auch von einer „weitergehenden Heranziehung des ‚Verhältnismä­ßigkeitsgrundsatzes‘“188 gewarnt wird. Für das mit dieser Arbeit verfolgte Ziel der Rechtsermittlung von vorbeugender Selbstverteidigung hat diese Erkenntnis indes mangels Relevanz keine Auswirkungen. Festzuhalten ist, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (i. e. S.) auf der Ebene der Selbstverteidigungshandlung anerkannt ist, dass ihm jedenfalls das humanitäre Völkerrecht zu Grunde liegt und allgemein jedenfalls Gewaltexzesse nicht rechtmäßig sein können. Insofern sind auch keine Unterschiede in der Anwendung dieser Prinzipien auf reaktive und vorbeugende Selbstverteidigung festzustellen. Auf weiterführende denkbare Modifikationen wird indes noch gesondert einzu­ gehen sein.

180

Stein, Proportionality, in: LA-Delbrück, S. 727 ff. (733). Hobe, Einführung, S. 571 f. 182 So sieht es im völkerstrafrechtlichen Notstand auch Art. 31 (1) lit. d des IStGH-Statuts vor, vgl. krit. hierzu Kreß/Wannek, Zum IStGH, S. 231 ff. (242 ff.). 183 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (124). 184 Ago, YBILC 1980 Vol. II, S. 13 ff. (69, Abschn. 121); Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 161; zum Völkerstrafrecht auch Kreß/Wannek, Zum IStGH, S. 231 ff. (243). 185 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 186 f. 186 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 68 ff. 187 Stein, Proportionality, in: LA-Delbrück, S. 727 ff. (737). 188 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 125. 181

B. Reaktive Selbstverteidigung

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ee) Zwischenergebnis Nach Auswertung dieser Untersuchungen ist festzuhalten, dass eine reaktive Selbstverteidigungshandlung dann rechtmäßig ist, wenn sie sich gegen den Auslöser der Selbstverteidigungslage oder die Glieder der von ihm in Gang gesetzten Kausalkette richtet, zeitlich unmittelbar auf die Selbstverteidigungslage folgt, nicht über den Erfolg der endgültigen Schadensabwehr bzw. die Intervention des Sicherheitsrats hinaus fortdauert und mit verhältnismäßigen Mitteln durchgeführt wird. 3. Subjektive Anforderungen

Nachdem die objektiven Anforderungen an Selbstverteidigung herausgearbeitet wurden, stellt sich im Anschluss die Frage, ob darüber hinaus auch subjektive Erfordernisse zu verlangen sind189. Abzustellen sein könnte dabei auf das Wissen und die Beweggründe des sich in Verteidigung wähnenden Staates bzw. seiner Organe190. Zumindest das Vorhandensein eines Verteidigungswillens könnte zur Abgrenzung zwischen rechtmäßiger Selbstverteidigung und rechtswidriger Re­ pressalie behilflich sein191. Über diese Frage wird wenig diskutiert, insbesondere fehlt es dazu an ent­ sprechendem völkerrechtlichen Regelungswerk. Dies lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass sich die Motivationslage einer gewaltsamen Handlung jenseits der Grenzen objektiver Kriterien schnell vom Völkerrecht entfernt und daher auf rein politischer Ebene anzusiedeln ist. Die Politik – und damit auch die politische Motivation – soll aber gerade nicht Prüfungsmaßstab des Völkerrechts sein192. Problematisch ist ferner, dass sich in der Praxis die tatsächliche Motivationslage für eine Gewalthandlung nur schwer wird ermitteln lassen. Der Reflex entscheidender Staatsorgane, sich bei Gewaltanwendung sogleich auf Selbstverteidigung zu berufen, wird immerhin recht schnell ausgelöst193. Damit ist prima facie praktisch immer von der Erfüllung möglicher subjektiver Anforderungen auszugehen, wenn nicht ausnahmsweise der Gegenbeweis – fraglich wäre dann: durch wen? – gelingt. Doch selbst dann darf bezweifelt werden, ob dies etwas an der Recht­ mäßigkeit einer Selbstverteidigungshandlung ändert, die auf einer alle objektiven Anforderungen erfüllenden Selbstverteidigungslage beruht.

189

Hierzu ausführlich Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff., m. w. N. Solche Tendenzen lassen sich jedenfalls in der klassisch-völkerrechtlichen Theorie des gerechten Krieges erkennen, s. u. 4. Kap. D. I. 191 Vgl. die Diskussion bei Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff. (190 ff.). 192 s. o. 1. Kap. B. II. 193 Dies zeigt sich nicht zuletzt an dem später noch darzustellenden weiten Spektrum staatlich jedenfalls behaupteter Selbstverteidigungslagen, s. u. ab 8. Kap. B. 190

124

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Neben dem Argument der politischen Verwässerung völkerrechtlicher Maßstäbe spricht nämlich auch dagegen, dass mögliche fehlgeleitete Motivationen für Gewalt bereits durch die objektive Ermittlung einer Selbstverteidigungslage herausgefiltert werden. Denn wie sich bereits gezeigt hat, ist der Zweck des Selbstverteidigungsrechts jedenfalls Schadensabwehr194. Ohne diese Grundannahme käme es schon nicht zu einer Prüfung der objektiven Kriterien einer Selbstverteidigungslage, weil dann Selbstverteidigung unter keinen Umständen in Betracht käme. Wird aber dieser Zweck grundsätzlich durch die jeweilige Handlung erfüllt, wäre eine Revision dieser Vorprüfung auf subjektiver Ebene systematisch widersprüchlich, weil dies auf ein nachträgliches Hinterfragen einer bereits bejahten Prüfungsvorfrage hinauslaufen würde. Subjektive Anforderungen sind an die Rechtmäßigkeit einer  – reaktiven wie auch vorbeugenden  – Selbstverteidigungslage damit nicht zu stellen. III. Beweislast Im Anschluss an die allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen reaktiver Selbstverteidigung ist nun kurz darauf einzugehen, wer für die Beweislast in Ansehung der Erfüllung jedes einzelnen Tatbestandsmerkmals wie verantwortlich ist. Dabei hilft einmal mehr das anerkannte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Gewaltverbot und Selbstverteidigung weiter. Da das Gewaltverbot als grundsätzlicher Regelfall universell gilt, ist die Rechtmäßigkeit jeder Abweichung hiervon zwingend gesondert zu beweisen. Damit liegt die Beweislast auch hinsichtlich des als Ausnahme qualifizierten Selbstverteidigungsrechts den allgemeinen Regeln entsprechend stets bei dem sich darauf berufenden Staat195. Jede andere Regelung würde das dem Gewaltverbot zu Grunde liegende moderne Völkerrechtssystem ad absurdum führen. Wem gegenüber die Beweisführung zu erfolgen hat, wird im Einzelnen hingegen wenig diskutiert. Gelegentlich wird der Sicherheitsrat als Adressat der Nachweisführung einer Selbstverteidigungslage genannt196, was seiner Rolle als mächtigstes und repräsentatives Organ der VN-Staatengemeinschaft auch gerecht werden dürfte. Jedenfalls muss bei der Beweisführung eine umfassende Kenntnisnahmemöglichkeit der gesamten Staatenwelt – z. B. über ent­ sprechende VN-Organe – gewährleistet sein. Ferner sind das Vorhandensein der Voraussetzungen einer Selbstverteidigungslage im Vorfeld der auf sie folgenden Handlung zu ermitteln197 und der darauf gerichtete Beweis objektiv nachvollziehbar zu erbringen. Regelmäßig wird dabei 194

s. o. 3. Kap. B. I. 2. Statt vieler Cassese, Int’l. Law, S.  357; s. auch ICJ Rep. 2003, S.  159–219 (189), Abschn. 57, sowie zum Sonderproblem der Terrorismusbekämpfung O’Connell, JCSL 7 (2002), S. 19 ff. 196 Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 14. 197 Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (790). 195

B. Reaktive Selbstverteidigung

125

eine klare und überzeugende Beweisführung, nicht zwingend aber der vollständige Ausschluss vernünftiger Zweifel verlangt198. Ein besonderer Ausfluss dieses Beweisgrundsatzes ist die durch Olusanya199 in den Vordergrund gerückte first strike rule, die sog. Erstschlagvermutung200. Demnach gilt derjenige als rechtswidrig handelnder Aggressor, der zu Beginn eines Konflikts erkennbar zuerst Gewalt angewendet hat. Dieser Gedanke beruht auf dem prima-facie-Beweis gem. Art.  2 der Aggressionsdefinition201. Die Vermutung kann widerlegt werden, indem der Gewaltanwender solche Tatsachen, die sein Handeln rechtfertigen würden, im Vorfeld202, öffentlich203 und plausibel204 darlegt, er also typischerweise die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des Selbstverteidigungsrechts beweist. Diese Ausgangsvermutung kommt dem sich reaktiv Verteidigenden regelmäßig zugute, denn er reagiert ja auf einen bereits erfolgten Erstschlag. Damit wird ihm die objektive Beweisführung einer Selbstverteidigungslage merklich erleichtert, sofern er den Nachweis des erlittenen Erstschlages führen kann. Im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung wird auf diese allgemein unproblematischen Erkenntnisse noch gesondert einzugehen sein. IV. Beteiligungsformen von Selbstverteidigung Eine letzte Vorüberlegung zum allgemeinen Selbstverteidigungsrecht gebührt den Beteiligungsformen von Selbstverteidigung, also der Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver205 Selbstverteidigung, welche gem. Art.  51 SVN explizit vorgesehen ist. Bezogen sich die bislang getätigten Überlegungen stets unausgesprochen auf die klassische individuelle Selbstverteidigung, so ist klarzustellen, dass nichts Anderes für die nach weit überwiegender Ansicht als Nothilferecht206 interpretierte kollektive Selbstverteidigung gelten kann. Auch 198

Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff. (187); Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 15. 199 Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 56 ff. 200 Darauf bezog sich bereits Wengler, Gewaltverbot, S. 48. 201 Dazu von Buttlar, Rechtsstreit oder Glaubensstreit, in: FS-Ress, S. 15 ff. (17); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 174. 202 Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 174. 203 Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (968). 204 Der Beweis muss jedenfalls überzeugend („convincing“) sein, O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S.  10. Daneben wird häufig als Maßstab die dem anglo-ameri­ kanischen Recht entnommene Formel beyond a reasonable doubt angelegt, vgl. z. B. Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1395). 205 s. zu der Staatenpraxis und den möglichen Problemfeldern kollektiver Selbstverteidigung z. B. ausführlich Alexandrov, Self-Defense, S.  215 ff.; allgemein Dinstein, War, Aggr., SelfDef., S. 252 ff.; Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 167 ff. 206 Z. B. Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 177 f., m. w. N.

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

wenn in Einzelfällen die Gefahr einer ungewollten Ausdehnung des Selbstverteidigungsrechts bei Gleichbehandlung von individueller und kollektiver Selbstverteidigung gesehen wird207, gibt es dennoch de lege lata keine Ansätze für eine völkerrechtliche Ungleichbehandlung beider Varianten208. Schrifttum209 und Rechtsprechung210 lassen keinen anderen Schluss zu, als dass kollektive Selbstverteidigung sich nur dadurch von individueller abgrenzt, dass sie unter gewissen Voraussetzungen die Beteiligung nicht betroffener Staaten an Selbstverteidigungshandlungen gemeinsam mit dem oder stellvertretend für das Opfer als Nothilferecht211 zulässt212. Folglich gelten grundsätzlich auch sämtliche Ausführungen dieser Arbeit zu reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung gleichermaßen für ihre individuelle wie ihre kollektive Variante als Nothilfe213. Auf letztere Differenzierung wird daher nicht weiter einzugehen sein.

C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt Eine besondere Stellung im Zusammenhang mit Selbstverteidigung nimmt die Androhung von Gewalt ein214. Insbesondere vereinigt sie – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – einige Aspekte auf der Schnittstelle zwischen reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung. Allgemein kann eine Androhung von Gewalt wegen ihrer separaten Erwähnung innerhalb des Gewaltverbots von Art.  2  (4) SVN einerseits möglicher Auslöser einer Selbstverteidigungslage und andererseits taugliche Selbstverteidigungshandlung sein. Bezogen auf – als rechtmäßig unterstellte – vorbeugende Selbstverteidigung könnte die Androhung von Gewalt sogar vorzugswürdig sein: Im Vorgriff auf eine zu befürchtende Gewalthandlung würde als Selbstverteidigungshandlung eine Drohung ausgesprochen, welche den gleichen Effekt wie eine tatsäch­liche Gewalthandlung hat, jedoch weit weniger Aufwand beim Drohenden erfordert

207

Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (515). Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 246. 209 Z. B. Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, § 59, Rn. 41 (S. 1096). 210 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (103), Abschn. 195. 211 Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 79 ff., differenzieren – dogmatisch vorzugswürdig – exakt zwischen Verpflichtungen aus Verteidigungsbündnissen einerseits und einem echtem, stets existenten Nothilferecht („defence of others“) andererseits; sie kritisieren daher den Begriff der kollektiven Selbstverteidigung als unpräzise, gelangen aber im Ergebnis ebenso zu einer Gleichbehandlung von Selbstverteidigung und völkerrechtlicher Nothilfe. 212 s. näher Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 235 ff. 213 s. aber auch u. den Meinungsstand zu kollektiver vorbeugender Selbstverteidigung unter 3. Kap. D. II. 5. 214 Dazu eingehend Hofmeister, AVR 48 (2010), S.  248 ff.; Stürchler, Threat of Force, ­passim. 208

C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt

127

und zugleich geringeren Schaden (nämlich in Form des durch Nötigung gebrochenen Interventionsverbots, s. sogleich) beim Bedrohten verursacht. Damit könnte die Androhung von Gewalt im Rahmen der Selbstverteidigung z. B. ein relevanter Aspekt der dabei anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung215 sein. Auch angesichts dessen ist der wichtigen Frage nachzugehen, ob und ggf. inwiefern die Androhung von Gewalt genau mit Selbstverteidigung – reaktiver wie vorbeugender – in Verbindung gebracht werden kann. Dabei wird nach einer allgemeinen Analyse betreffend Legalität und Illegalität zwischen den Aspekten einer durch Drohung verursachten Selbstverteidigungslage und jenen einer durch Drohung verwirklichten Selbstverteidigungshandlung unterschieden. Abschließend werden die Erkenntnisse hieraus in einem Beispielsfall nebst Lösung veranschaulicht und vertieft. I. Drohungen zwischen Legalität und Illegalität Fraglich ist zunächst, ob das Gewaltverbot tatsächlich durch jede Form einer Drohung zwingend gebrochen wird; sollte dies einmal nicht der Fall sein, bedürfte es überhaupt keines Rekurses auf Selbstverteidigung. Die Relevanz einer Androhung von Gewalt einerseits als Auslöser einer Selbstverteidigungslage und andererseits als Selbstverteidigungshandlung hängt also davon ab, ob der Drohung selbst die Vermutung der Illegalität innewohnt. Einen entscheidenden Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage liefert das Verhältnis der Drohung zu der jeweiligen Gewalthandlung, deren Verwirklichung die Drohung in Aussicht stellt216. Nach einer weit verbreiteten Ansicht217 – u. a. auch des IGH218 – sind Gewalt i. e. S. und deren Androhung streng akzessorisch219; ist also die eigentliche Gewalt illegal, gelte dasselbe für die sich hierauf beziehende Drohung. Umgekehrt dürfe stets mit der Verwirklichung einer im jeweiligen Anwendungsfall legalen Gewaltanwendung gedroht werden220. Für diese Ansicht spricht insbesondere der Wortlaut von Art. 2 (4) SVN mit der darin zum Ausdruck gebrachten Strukturgleichheit von Gewalt und deren Androhung. Diese Ansicht entspricht wohl auch der 215

s. dazu o. 3. Kap. B. II. 2. b) dd) und u. 3. Kap. D. II. 3. c). Stürchler, Threat of Force, S. 38 ff. 217 Brownlie, Use of Force, S. 364 f.; Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 86 (diese Annahme zu Grunde legend auch Gordon, YaleJIL 10 (1985), S. 271 ff.); Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, S. 68; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 779 f.; White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S. 235 ff. (258 ff.). 218 ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (246), Abschn. 47. 219 Differenzierend Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 17 (S. 654 f.), der in der Akzessorietät eine rechtliche Logik sieht, welche sich in der Praxis jedoch nicht immer niederschlage. 220 Noch offen lassend, aber andeutend Goodrich/Hambro/Simons, Charter (3. Aufl.), S. 49. 216

128

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Entstehungsgeschichte der Norm221. In diesem Fall wäre die separate Betrachtung der Drohung unbeachtlich, es kommt allein auf die Bewertung der in Bezug genommenen Gewalthandlung an. Abhängig von dem Ergebnis der rechtlichen Bewertung der zu Grunde liegenden (potentiellen) Gewalthandlung wäre die entsprechende Androhung auf Grund ihrer Akzessorietät stets entweder originär legal oder originär illegal222. Die Gegenposition bewertet die Androhung von Gewalt selbständig zu der in Bezug genommenen tatsächlichen Gewalthandlung223; Drohungen seien demnach Gewalt sui generis224. Gewalt und deren Androhung müssten unterschiedlich behandelt werden, weil sie tatsächlich unterschiedlich seien. Besonders wenn Drohungen von eigentlich unrechtmäßiger Gewalt sachdienlich und das mildeste Mittel zur Verhinderung von schwereren Gewalthandlungen seien, sollten sie aus Gründen der Zweckmäßigkeit im Sinne eines Funktionalismus225 als legal betrachtet werden. Folglich führt nach dieser Ansicht die rechtliche Bewertung einer der Drohung zu Grunde liegenden Gewalthandlung zu keinen Erkenntnissen hinsichtlich der Drohung selbst. Sie ist damit zunächst im Kontext des sie durch Art. 2 (4) SVN umfassenden Gewaltverbots zu bewerten; demnach spricht die Vermutung von Art. 2 (4) SVN immer für die Illegalität der Drohung, welche innerhalb der Einzelfallbetrachtung aber widerlegt werden kann. Im Ergebnis ist die Androhung von Gewalt nach dieser Ansicht aber – im Gegensatz zur Akzessorietätslösung – ausnahmslos originär illegal. Eine Entscheidung unmittelbar für oder wider die eine oder andere Position ist dem Ziel dieser Arbeit nicht dienlich und soll daher unterbleiben. Selbst wenn man aber mit der ersten Ansicht eine Strukturgleichheit von Drohung und ihr zu Grunde liegender Gewalt annehmen möchte, so ist doch festzuhalten, dass in Bezug auf Selbstverteidigung die Drohung einerseits und die Gewalt i. e. S. andererseits jeweils einen eigenen Anknüpfungspunkt begründen. Auch eine durch die Annahme 221 Wie selbstverständlich deutet darauf kurz nach Gründung der Vereinten Nationen die Feststellung von Goodrich/Hambro, Charter (2. Aufl.), S. 104, hin: „The threat of the use of such (i. e. armed, d. Verf.) force is also prohibited.“ 222 Die Einführung der Bezeichnungen „originär legal“ bzw. „originär illegal“ sind notwendig angesichts fehlender einheitlicher völkerrechtlicher Kriterien zur Bewertung der Recht­ mäßigkeit eines Verhaltens. In Anlehnung an das o. (3.  Kap. B. I. 1.) analysierte Verhältnis von Gewaltverbot und Selbstverteidigung würde „originär legal“ für einen Ausschluss der Tat­ bestandsmäßigkeit ohne die vorherige Vermutung der Illegalität stehen und somit die Anwendung einer Strafnorm von Anfang an ausschließen. Dagegen würde „originär illegal“ die Erfüllung der Tatbestandsmäßigkeit eines Straftatbestandes indizieren und einen möglichen Unrechtsausschluss entweder durch Erbringen des Gegenbeweises auf Tatbestandsebene oder erst nach einer Zäsur in einem nächsten Schritt auf Rechtfertigungsebene zulassen. Im Unterschied zu den Kriterien „Tatbestand“ und „Rechtswidrigkeit“ geht es hierbei also um Fragen der Beweisverteilung im Hinblick auf den Drohenden. 223 Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (231); Sadurska, AJIL 82 (1988), S. 239 ff. (250); jedenfalls mittelbar auch Robertson, zit. bei Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (55). 224 Folgerung von Stürchler, Threat of Force, S. 43. 225 Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (232).

C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt

129

von Akzessorietät verlangte rechtliche Gleichbewertung kann nicht über die Tat­ sache hinwegsehen lassen, dass Drohung und Gewalt ihrem Wesen wie auch ihrem Schädigungspotential nach verschieden sind; deshalb muss bei der Prüfung möglicher Selbstverteidigung streng zwischen beiden Varianten als Anknüpfungspunkt unterschieden werden. Dabei sind die für den Bereich der Selbstverteidigung nun folgenden, aus beiden Theorien abzuleitenden Erkenntnisse maßgeblich. II. Drohungen als Auslöser einer Selbstverteidigungslage Allgemein besteht Einigkeit in der Annahme, dass eine Drohung für ihre Beachtlichkeit ernsthaft ausgesprochen und tatsächlich umsetzbar sein muss226. Diese Grundvoraussetzungen führen dazu, dass bei ihrer Erfüllung angesichts einer ernstlich zu befürchteten physischen Beeinträchtigung in die Autonomie des Bedrohten eingegriffen, also gegen das völkerrechtliche Interventionsverbot ver­ stoßen wird. Letzteres verschafft den Staaten zugleich ein subjektives Recht auf Unterlassung einer Einmischung durch Dritte227. Eine Drohung verursacht damit einen durch Verletzung des Interventionsverbots begründeten Schaden in der Autonomie des Bedrohten, sie ist folglich als schadenskausales Ereignis ein nach den oben beschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen prinzipiell geeigneter Auslöser einer Selbstverteidigungslage. Darüber hinaus muss die Drohung illegal sein. Folgt man der Akzessorietäts­ lösung, bemisst sich dies unmittelbar nach der ihr zu Grunde liegenden Gewalt; die Drohung wäre also bei Rechtswidrigkeit der angedrohten Gewalt Auslöser einer Selbstverteidigungslage. Bei selbständiger Betrachtung der Drohung führt ihre originäre Illegalität dazu, dass ohne den Beweis ihrer Rechtmäßigkeit die Drohung stets Auslöser einer Selbstverteidigungslage sein kann. Der Gegenbeweis kann vor allem unter Zuhilfenahme des Selbstverteidigungsrechts angetreten werden, nämlich dann, wenn die Drohung ihrerseits als Selbstverteidigungshandlung zu qualifizieren ist (s. sogleich). Fraglich sind im Anschluss an diese Überlegungen die Konsequenzen für die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der auf einer durch Drohung verursachten Selbstverteidigungslage folgenden Selbstverteidigungshandlung. Nach dem trotz aller Konturenunschärfen anwendbaren Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erscheint es nämlich fragwürdig, mit physischer Gewalt auf eine bloße Drohung reagieren zu können. Diese Problematik wird sogleich in Variante 2 des anzusprechenden Beispielsfalles aufgeworfen.

226

Vgl. nur Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (235). Statt vieler Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, § 59, Rn. 51 (S. 1100).

227

130

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

III. Drohungen als Selbstverteidigungshandlung Vorab ist zu konstatieren, dass es hinsichtlich Ziel, Zweck und Intensität die unterschiedlichsten Arten von Drohungen gibt, welche hier nicht im Einzelnen analysiert werden sollen228. Da sich eine Selbstverteidigungshandlung vor allem durch Zwangseinwirkung auf ein bestimmtes Ziel (mit dem Zweck der Schadensabwehr) bestimmt, soll auch bei der Androhung von Gewalt dahingehend differenziert werden, ob sich die Drohung gegen ein konkretisiertes Ziel oder eine abstrakte Gefahrenquelle richtet. Letzterer Fall würde dem Hintergrund der eingangs beschriebenen automatisiert-reaktiven Konstellation229 entsprechen, welche sich in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung bereits als unbeachtlich erwiesen hat. Drohungen gegen nicht konkretisierte Adressaten sollen daher hier nicht berücksichtigt werden; die folgenden Erwägungen beziehen sich nur auf konkret-zielgerichtete Drohungen. Darüber hinaus gilt hinsichtlich der rechtlichen Bewertung von Drohungen: Der Akzessorietätslösung folgend sind originär legale Drohungen schon von Anfang an nicht in Verbindung mit Selbstverteidigung zu bringen. Vor allem können sie für den vermeintlichen Verteidiger keine Form der Selbstverteidigungshandlung sein, weil ihre Rechtmäßigkeit eben originär ist und nicht erst in einem weiteren Schritt durch eine Bezugnahme auf Selbstverteidigung entsteht. Dagegen bedürfen originär illegale Drohungen für ihre Bewertung als rechtmäßig – ebenso wie jede Drohung bei selbständiger Betrachtung – stets eines besonderen Grundes. Ein solcher wird in den meisten tatsächlich denkbaren Fällen im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts zu suchen sein. Als regelmäßig milderes Mittel gegenüber physischer Gewalt ist eine taugliche Selbstverteidigungshandlung durch Drohung jedenfalls in Antwort auf eine rechtswidrige physische Gewalthandlung wie auch eine Drohung evident anzunehmen. IV. Fallbeispiel Als anschauliche wie unterstützende Illustration zu diesen Erkenntnissen soll schließlich folgender Fall dienen: Staat B bedroht den unbescholtenen Staat A widerrechtlich und ernsthaft mit einem bewaffneten Angriff, daraufhin reagiert Staat A (1) mit einer eigenen ernsthaften Drohung ähnlicher Qualität bzw. (2) mit einer tatsächlichen gewaltsamen Handlung gegenüber Militärstützpunkten in Staat B. Handelte Staat A rechtmäßig nach den Regeln des Völkerrechts?

228

Einen Überblick liefern Hofmeister, AVR 48 (2010), S. 248 ff. (253 ff.), sowie Randelz­ hofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 2 (4), Rn. 38. 229 s. o. 1. Kap. C. IV.

C. Der besondere Fall: Androhung von Gewalt

131

1. Fallvariante (1)

Bei Variante (1) führt bereits das Anknüpfen an die durch Staat B ausgesprochene Drohung selbst zum Erfolg. Die Drohung durch Staat B war tauglicher Auslöser einer Selbstverteidigungslage. Hierauf reagierte Staat A mit ähnlicher Qualität, insbesondere also  – jedenfalls nach der Vermutung der grundsätzlich rechtmäßigen Spiegelbildlichkeit der Gewalthandlungen230 – verhältnismäßig. Die Antwortdrohung durch Staat A bezog sich zudem auf eine Gewalthandlung, die auf Grund von Selbstverteidigung rechtmäßig gewesen wäre, wenn wiederum Staat B zuvor seine Drohung umgesetzt hätte. Befürwortet man die Akzessorietät von Drohung und Gewalthandlung, wäre also schon deshalb die Drohung von Staat A als rechtmäßig zu beurteilen. Die Drohung wäre originär rechtmäßig, deshalb muss auch keiner Vermutung der Unrechtmäßigkeit mit Selbstverteidigung begegnet werden. Möchte man die Drohung selbständig prüfen  – sie also als originär unrecht­ mäßig betrachten  – gelangt man zu demselben Ergebnis: Die vorherige widerrechtliche Drohung durch Staat B war als gegenwärtiges Ereignis schon der Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage, auf welche Staat A durch Drohung in rechtmäßiger Selbstverteidigungshandlung reagierte. Nach der Akzessorietätslösung wäre Selbstverteidigung von vorneherein nicht einschlägig, bei selbständiger Betrachtung der Drohung führte der Weg über reaktive Selbstverteidigung zum gleichen Ergebnis der Legalität der Antwortdrohung. Für eine Prüfung vorbeugender Selbstverteidigung bestünde damit nach beiden Ansätzen kein Raum mehr. 2. Fallvariante (2)

Bei Variante (2) ist angesichts der tatsächlichen Anwendung physischer Gewalt direkt auf Selbstverteidigung einzugehen. Dabei ist zunächst reaktive Selbstverteidigung zu prüfen. Wiederum ist die Drohung durch Staat B als gegenwärtiger Auslöser einer Selbstverteidigungslage zu werten. Die hierauf erfolgte Handlung durch Staat A  – die Gewaltanwendung gegenüber militärischen Stützpunkten  – kann im Vergleich zur Drohung durch Staat B jedoch unverhältnismäßig gewesen sein. Im vorliegenden Fall ist mangels weiterer Angaben im Sinne der „Spiegelbildvermutung“ von der Unverhältnismäßigkeit auszugehen. Damit scheidet eine Legalität der Handlung nach reaktiver Selbstverteidigung mangels rechtmäßiger Selbstverteidigungshandlung aus.

230

s. o. 3. Kap. B. II. 2. b) dd).

132

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Erst jetzt kann auf vorbeugende Selbstverteidigung abgestellt werden231. Anknüpfungspunkt ist dabei aber nicht mehr die von Staat B ausgehende Drohung selbst, denn diese hat sich in dieser Fallvariante ja bereits als untauglich für die Heranziehung des Selbstverteidigungsrechts erwiesen. Vielmehr kann auf einer weiteren Ebene der Inhalt der Drohung herangezogen werden. Der angedrohte bewaffnete Angriff ist in seiner tatsächlichen Gestalt nach allgemeinem Verständnis Auslöser einer Selbstverteidigungslage; hier ist er jedoch (noch) nicht gegen­ wärtig. Wäre er dies, wäre die Selbstverteidigungshandlung von Staat A nach allgemeinem Verständnis rechtmäßig. Unter den gegebenen Umständen der fehlenden Gegenwärtigkeit hängt also die Rechtmäßigkeit der konkreten Gewalthandlung allein von der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ab. V. Ergebnis Die Androhung von Gewalt kann sowohl eine Selbstverteidigungslage auslösen als auch eine Selbstverteidigungshandlung begründen. Offen ist jedoch bislang die Frage, ob die Anwendung physischer Gewalt als Reaktion auf eine rechtswidrige Drohung nach dem Recht der Selbstverteidigung legal sein kann. Dies hängt von der Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ab. Die weiteren Aspekte einer Gewaltandrohung sind dagegen solche reaktiver Selbstverteidigung oder sogar außerhalb des Selbstverteidigungsrechts anzusiedeln.

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung Die gewonnenen Erkenntnisse zu reaktiver Selbstverteidigung werden nun dahingehend untersucht, ob sie für den speziellen Fall der vorbeugenden Selbstverteidigung besonders beachtlich und ggf. in einigen Gesichtspunkten notwendigerweise zu modifizieren sind. Freilich wird erst in einem späteren Schritt darauf eingegangen, ob vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht tatsächlich rechtmäßig sein kann; die folgenden Erwägungen sollen demnach auch kein Vorgriff auf ein entsprechendes Ergebnis sein. Vielmehr soll an dieser Stelle die Legalität vorbeugender Selbstverteidigung abstrakt unterstellt werden, um mit Hilfe dieser Fiktion die Voraussetzungen zu untersuchen, welche später zur konkreten Rechtsermittlung herangezogen werden können. Im Ausgangspunkt wird angesichts der Tatsache, dass reaktive wie vorbeugende Selbstverteidigung auf dasselbe völkerrechtliche Institut zurückzuführen sind, die Anwendbarkeit des soeben ermittelten Prüfungsschemas für beide Varianten vermutet. Ausgehend davon gilt es an dieser Stelle herauszufinden, welche der auf 231

s. zur doppelten Subsidiarität vorbeugender Selbstverteidigung sogleich u. unter II. 1.

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

133

gezeigten Anforderungen an allgemeine reaktive Selbstverteidigung überhaupt tauglich sind, Aufschluss über die zu untersuchende Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung zu liefern. Dies erfolgt angelehnt an die dieser Arbeit zu Grunde liegende Definition vorbeugender Selbstverteidigung in zwei Schritten: Zunächst werden kurz solche Aspekte wiederholt, welche als Konsequenz aus der Definition gleichermaßen für reaktive und vorbeugende Selbstverteidigung gelten. Darauf folgt die Untersuchung der für die Abgrenzung beachtlichen Aspekte, wobei in diesem Rahmen die für vorbeugende Selbstverteidigung besonderen Unterscheidungsmerkmale herausgearbeitet werden. Dadurch wird ein verlässliches Prüfungsschema für vorbeugende Selbstverteidigung gewonnen, mit dessen Hilfe die spätere Rechtmäßigkeitsprüfung durchgeführt werden kann. I. Mit reaktiver Selbstverteidigung übereinstimmende Anforderungen Da das Institut des Selbstverteidigungsrechts als solches in seiner reaktiven wie vorbeugenden Variante unverändert bleibt, gelten sämtliche Aspekte zur Funktion von Selbstverteidigung232 entsprechend für beide Varianten. Insbesondere sind auch unter vorbeugender Selbstverteidigung erfolgte Gewaltanwendungen als rechtmäßig zu bezeichnen, wenn sich vorbeugende Selbstverteidigung selbst ebenfalls als rechtmäßig erweist. Wie bereits festgestellt, sind bei Ermittlung einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage hinsichtlich der Verbote von Treuwidrigkeit und der Kollision mit vorrangigem Völkerrecht die gleichen Erwägungen anzustellen wie bei der Prüfung einer reaktiven Selbstverteidigungslage. Hierauf braucht also im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht weiter eingegangen zu werden; die Anforderungen stehen fest. Die Aspekte der Selbstverteidigungshandlung spielen als vorwiegend solche des ius in bello schon rein systematisch bei der Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung – also im Wesentlichen einer Frage des ius ad bellum – eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch werden zu den einzelnen Tat­ bestandsmerkmalen geringe Modifikationen notwendig sein, welche sich aber aus der Natur der Vorbeugung im Gegensatz zur Reaktion ergeben und nicht richtungsweisend für den späteren Verlauf der Rechtsermittlung sein werden. So kann an dieser Stelle schon einmal festgehalten werden, dass auch eine vorbeugende Selbstverteidigungshandlung nicht den Zeitpunkt ihrer Zweckerfüllung  – also das Abwehren des (potentiellen) Schadensverursachers  – überdauern darf. Da­ neben sind subjektive Anforderungen generell irrelevant. Im Übrigen ist auf unten zu verweisen.

232

s. o. 3. Kap. B. I.

134

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

II. Für vorbeugende Selbstverteidigung gesondert zu analysierende Aspekte Nach dem soeben Festgestellten konzentriert sich die Untersuchung dieser Arbeit damit auf die nun folgend zu analysierenden Anforderungen, nämlich auf ausgewählte Fragen zu Anwendbarkeit, Selbstverteidigungslage, Selbstverteidigungshandlung, Beweislast und Beteiligungsformen. Anschaulich betrachtet ergibt sich damit folgendes nun sukzessive zu komplettierendes Prüfungsschema: Übersicht 1 Prüfungsschema vorbeugender Selbstverteidigung mit offenen für vorbeugende Selbstverteidigung gesondert zu analysierenden Aspekten

Die mit noch offenem Status gekennzeichneten Anforderungen werden nun genauer betrachtet und ggf. für vorbeugende Selbstverteidigung modifiziert. Dabei sind jeweils zwei mögliche Ergebnisse denkbar: Einerseits kann sich eine Anforderung als abschließend untersucht – i. d. R. dann als gesichert – erweisen. Typischerweise geschieht dies durch eine sich aus dem Wesen und der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Definition vorbeugender Selbstverteidigung ergebende unmittelbar ableitbare Modifikation einer Anforderung. Umgekehrt kann sich aber auch bei genauerer Untersuchung gerade keine Modifikation im Vergleich zu reaktiver Selbstverteidigung ergeben, wodurch der Status der Anforderung gleichwohl als gesichert zu bezeichnen wäre. Darüber hinaus kann eine Anforderung schließlich als nicht notwendig qualifiziert werden; auf eine solche wäre dann gar nicht mehr einzugehen.

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

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Andererseits kann es sich um eine Anforderung handeln, deren Modifikation im Hinblick auf vorbeugende Selbstverteidigung je nach Interpretation unmittelbaren Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der vorbeugenden Variante des Instituts der Selbstverteidigung hat. In diesem Fall läge ein zu separierender untersuchungsrelevanter Aspekt für die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung vor. Ein solcher ist dann erst im nächsten Schritt dieser Arbeit auf seinen völkerrechtlichen Status hin zu untersuchen und als Bemessungsgrundlage für die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung heranzuziehen. 1. Anwendbarkeit: doppelte Subsidiarität

Bevor eine vorbeugende Selbstverteidigungslage überhaupt in Erwägung gezogen werden kann, dürfen mögliche im Rahmen derselben Situation vorrangig einschlägige Aspekte zur Rechtmäßigkeitsbeurteilung nicht zum Erfolg führen. In der Einzelfallbetrachtung wird daher jedenfalls eine eindeutig vorliegende reaktive Selbstverteidigungslage ausgeschlossen sein müssen. Dies ergibt sich bereits aus der dem Thema dieser Arbeit innewohnenden Ausnahmestellung vorbeugender Selbstverteidigung sowie der Tatsache, dass vorbeugende Selbstverteidigung als Spezialfall gegenüber allgemeiner Selbstverteidigung einzuordnen ist. Zudem ist es logisch zwingend, den für Selbstverteidigung maßgeblichen Anknüpfungspunkt zunächst auf das denkbar ereignisnächste Geschehen zu legen, da sich aus bereits geschehenen Tatsachen – vor allem einem bereits eingetretenen Auslöser einer Selbstverteidigungslage  – selbstverständlich die sichersten Informationen zum Einzelfall und dessen rechtlicher Bewertung ableiten lassen. Vorbeugende Selbstverteidigung hat dabei gleichsam als Auffangtatbestand des ohnehin schon subsidiären reaktiven Selbstverteidigungsrechts zunächst zurückzutreten. Praktische Relevanz erlangt dieses Erfordernis in solchen Fällen, zu welchen es mehrere denkbare Anknüpfungspunkte gibt. Anschaulich wird dies in dem eben233 besprochenen Beispielsfall zur Androhung von Gewalt: Zunächst ist eine mögliche originäre Legalität der jeweiligen Gewaltanwendung zu untersuchen (Fallvariante 1). Erst bei Nichtvorliegen originärer Legalität kann auf Selbstverteidigung abgestellt werden. Dabei gilt es zwischen mehreren möglichen Auslösern einer Selbstverteidigungslage zu differenzieren. Erst wenn die möglichen gegenwärtigen Anknüpfungspunkte nicht zum Ziel führen, wird vorbeugende Selbstverteidigung geprüft (Fallvariante 2). Vorbeugende Selbstverteidigung ist damit doppelt subsidiär, nämlich erstens gegenüber solchen der Selbstverteidigung generell vorgehenden Rechtsakten und zweitens gegenüber reaktiver Selbstverteidigung. Vorbeugende Selbstverteidigung ist folglich nur unter Berücksichtigung dieser doppelten Subsidiarität anwendbar. Dieses Erfordernis hat zwar keinen Einfluss auf die mögliche Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung, ist jedoch bei Be 233

s. o. 3. Kap. C. IV.

136

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

jahung der Rechtmäßigkeit einer Einzelfallhandlung in Anwendung des Rechts zwingend zu beachten. Der doppelten Subsidiarität vorbeugender Selbstverteidigung steht es allerdings nicht entgegen, bei nicht eindeutig zu bejahenden oder verneinenden reaktiven Selbstverteidigungslagen hilfsweise auch – ihre Rechtmäßigkeit unterstellt – vorbeugende Selbstverteidigung zu prüfen. Liegt nämlich eine vorbeugende Selbstverteidigungslage bei zugleich zweifelhafter reaktiver Selbstverteidigungslage vor, so kommt diese zwar nur bei endgültiger Verneinung reaktiver Selbstverteidigung im konkreten Fall zum Tragen, ist aber im Übrigen unschädlich, weil sie umgekehrt bei endgültiger Bejahung reaktiver Selbstverteidigung im konkreten Fall schlicht keine Wirkung entfalten kann. Darüber hinaus wirkt sich die Frage der Anwendbarkeit auf die zur vorbeugenden Selbstverteidigung zu diskutierenden anwendungsbereichsspezifischen Theorien aus, auf welche unten näher eingegangen wird234. Ihnen liegt die Annahme zu Grunde, dass der Anwendungsbereich des Gewaltverbots nicht zwingend als eröffnet zu betrachten ist; daher kann eine Gewalthandlung auch ohne zuvor manifestierten Schadensauslöser im Sinne der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Definition vorbeugender Selbstverteidigung als originär legal einzustufen sein. Die Beurteilung der anwendungsbereichsspezifischen Theorien ist also ein Kriterium zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung. Vorläufig ist daher der Status der Anwendbarkeit in solchen Fällen noch als offen einzustufen. 2. Vorbeugende Selbstverteidigungslage

Von den Anforderungen an eine vorbeugende Selbstverteidigungslage sind noch die Tatbestandsmerkmale des Anknüpfungspunktes sowie der Notwendigkeit als offen gekennzeichnet. Sie gilt es hier zu untersuchen. a) Anknüpfungspunkt Als Anknüpfungspunkt einer reaktiven Selbstverteidigungslage wurde ein den späteren Schaden kausal auslösendes Ereignis ermittelt. Angesichts der Tatsache, dass sich vorbeugende Selbstverteidigung gerade gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser richtet und dabei noch kein Schaden entstanden ist, müsste auf den ersten Blick auch ihr Anknüpfungspunkt unterschiedlich sein. Doch ist vorbeugende Selbstverteidigung nur eine Variante allgemeiner Selbstverteidigung und als doppelt subsidiäres Recht nur in Ermangelung einer reaktiven Selbstverteidigungslage anwendbar. Eine zu starke Entfremdung von reaktiver 234

s. u. 4. Kap. B.

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

137

Selbstverteidigung widerspräche demnach dem engen Verwandtschaftsverhältnis beider Varianten. Ihr Unterschied liegt nicht in ihrem Wesen, sondern in ihrer zeitlichen Dimension; vorbeugende Selbstverteidigung geschieht früher als reaktive, hat sich aber im Übrigen an den Anforderungen reaktiver Selbstverteidigung zu messen. Daher kann sich auch ihr Anknüpfungspunkt nicht in seinem Wesen unterscheiden, sondern ist lediglich seinen Umständen nach auf einer anderen Ebene zu ermitteln. Es ist folglich gleichermaßen nach einem einen Schaden kausal aus­lösenden Ereignis zu suchen  – allerdings mit dem einzigen Unterschied, dass Schaden und Ereignis eben noch nicht gegenwärtig sind. Gegenwärtigkeit ist also das entscheidende Abgrenzungskriterium des Auslösers einerseits einer reaktiven und andererseits einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage. Damit läuft auch die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung auf die vorgeschaltete Frage hinaus, ob (und dann ggf. wie weit) sich ein schadenskausales Ereignis von dem für reaktive Selbstverteidigung notwendigen Kriterium der Gegenwärtigkeit entfernen darf. Damit bleibt das auf den ersten Blick banal anmutende Ergebnis festzuhalten, dass es als Anknüpfungspunkt einer auch vorbeugenden Selbstverteidigungslage notwendigerweise eines Ereignisses bedarf. Die Tragweite dieser Erkenntnis ist indes nicht zu unterschätzen: Erst unter der zwingenden Voraussetzung eines Ereignisses lässt sich ein für diese Arbeit sachgerechter Diskussionsrahmen ziehen; es wurde nämlich an dieser Stelle gezeigt, dass gleichermaßen mögliche Sachverhalte wie theoretische Ansätze, welche – abgesehen von der eben angesprochenen Frage des Anwendungsbereiches  – nicht einmal an ein Ereignis anknüpfen, per se außerhalb des Themenkomplexes der vorbeugenden Selbstverteidigung stehen und damit in keinem Falle zur Rechtmäßigkeit einer gewaltsamen Handlung unter eben dieser Prämisse führen können. Die in dieser Arbeit zu beantwortende Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ist folglich notwendigerweise davon abhängig, ob und ggf. wie weit von den streng skizzierten Umständen eines eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses zu Lasten des Gegenwärtigkeitserfordernisses abgewichen werden darf. Darüber hinaus können  – wie oben beschrieben235  – im Falle der accumulation-of-events-Doktrin unterhalb der grundsätzlichen Mindestbeschaffenheit ausfallende Ereignisse zusätzlich die Frage nach der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung zu beantworten helfen.

235

s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2).

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

b) Notwendigkeit Das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit verkörpert das ultima-ratio-Prinzip der Selbstverteidigung bereits in ihrer reaktiven Form. Erst recht muss damit vorbeugende Selbstverteidigung das mildeste zur Verfügung stehende Mittel zur Schadensabwehr als Zweckerreichung sein. Freilich fällt es dabei auch im Lichte der Erstschlagvermutung236 noch schwerer, Gewaltanwendung als schonendste Handlung gegenüber friedlichen Möglichkeiten zu qualifizieren, wenn überhaupt keine vorausgegangene körperlich wahrnehmbare Schadensverursachung vorliegt237. Es erscheint damit nur konsequent, die Anforderungen an die Notwendigkeit einer vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung weiter zu verschärfen238. Jedoch ist logisch eine weitere Einschränkung über das bereits anerkannte Prinzip der ultima ratio hinaus nicht zu konstruieren; das schonendste gleichwertige Mittel kann nicht noch schonender oder in besonderem Maße gleichwertig sein. Daher beziehen sich die Forderungen einer verschärften Notwendigkeitsprüfung bei Lichte betrachtet trotz entsprechender Verlautbarungen auch keineswegs auf das Tatbestandsmerkmal selbst, sondern auf die zu erbringenden Anstrengungen des mutmaßlichen Verteidigers, die Erfüllung des Notwendigkeitskriteriums nachzuweisen. Das Kriterium selbst wird damit aber nicht modifiziert, sondern bleibt als ultima ratio erhalten. Auf möglicherweise verschärfte Anforderungen an die Beweislast ist hingegen an dieser Stelle nicht einzugehen239. Darüber hinaus wird dem Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit teilweise noch weitaus größeres Gewicht verliehen, indem hiervon die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung als solcher abhängig gemacht wird240. Die in diesem Zusammenhang gelieferten Argumente unterscheiden sich jedoch materiell nicht von den im Rahmen des aktuellen Diskussionsstands unten darzustellenden241; sie werden lediglich formal der Notwendigkeit zugeordnet. Solch ein Vorgehen führt jedoch zu einem systematischen Bruch des auf seine unterschiedlichen Tatbestandsmerkmale aufbauenden Prüfungsschemas und damit zu erheb­ licher Unübersichtlichkeit. Dies ist dem Ziel der Rechtsermittlung durch streng systematisches Vorgehen abträglich und widerspricht daher dem Ansatz dieser Arbeit. Außerdem lässt das dem Merkmal der Notwendigkeit im Wesentlichen innewohnende ultima-ratio-Prinzip schlicht keinen Raum für Fragen der Rechtmä-

236

s. o. 3. Kap. B. III. und u. sogleich unter 4. Vgl. auch Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 154 f. 238 So ausdrücklich Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 154; Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (531). 239 s. aber u. 3. Kap. D. II. 4. 240 Z. B. von McDougal, AJIL 57 (1963), S. 597 ff. (598); Mégret, EJIL 13 (2002), S. 361 ff. (376). 241 s. u. 4. Kap. 237

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

139

ßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung als solcher, sondern beeinflusst nur die Rechtmäßigkeit von Gewaltanwendung in jedem einzelnen Anwendungsfall. Damit gilt für das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit bei vorbeugender Selbstverteidigung dasselbe wie bei reaktiver: Die jeweils zu prüfende Gewalt­ anwendung muss das mildeste gleich wirksame Mittel nach Maßgabe der oben genannten Erwägungen sein. 3. Vorbeugende Selbstverteidigungshandlung

Als Teil vorwiegend des ius in bello stehen die Anforderungen an eine vorbeugende Selbstverteidigungshandlung für das Ziel dieser Arbeit nicht im Vordergrund. Dennoch ergeben sich aus der umstandsbedingten Unterscheidung zwischen vorbeugender und reaktiver Selbstverteidigungslage  – namentlich deren verschieden nivellierten Anknüpfungspunkten – unmittelbare Konsequenzen auch auf Seiten der vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung. Diese sollen hier unter Berücksichtigung des bislang Festgestellten untersucht, auf ihre Relevanz für die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung als solcher überprüft und ggf. für den Fall vorbeugender Selbstverteidigung modifiziert werden. a) Richtige Zielrichtung Zunächst ist die Frage der richtigen Zielrichtung aufzugreifen. Bei reaktiver Selbstverteidigung waren dies der Schadensauslöser selbst oder die von ihm verursachten Elemente der bis zum Schadenseintritt führenden Kausalkette. In Folge der bei vorbeugender Selbstverteidigung nicht mehr gegebenen Gegenwärtigkeit des Anknüpfungspunktes kann diese Zielrichtung hier nicht existieren. Sie ist folgerichtig dahingehend zu modifizieren, dass sich die vorbeugende Selbstverteidigungshandlung gegen den ihrem Anknüpfungspunkt zu Grunde liegenden nicht gegenwärtigen Schadensauslöser oder die mutmaßlichen Glieder der von ihm zu erwartenden Kausalkette zu richten hat. Praktisch dargestellt könnten dies beispielsweise bei einem noch nicht erfolgten Angriff durch einen Raketenabschuss die Abschussbasis selbst oder die zur anschließenden Steuerung erforderlichen technischen Vorrichtungen sein. Die Zielrichtung verschiebt sich also immer nur entsprechend der Verschiebung der relevanten Umstände des Anknüpfungspunktes. b) Unmittelbarkeit Bei reaktiver Selbstverteidigung hatte die Verteidigungshandlung schnellstmöglich auf den Auslöser einer Selbstverteidigungslage zu erfolgen, dabei durfte sich der Schaden jedenfalls nicht gänzlich manifestiert haben. Diese Kriterien sind für die Variante der vorbeugenden Selbstverteidigung mangels Gegenwärtigkeit des

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Auslösers ersichtlich ungeeignet. Von diesen Grundgedanken ausgehend lässt sich nun in zwei Richtungen auf eine mögliche Modifikation für vorbeugende Selbstverteidigung hinwirken: Einerseits könnte das Unmittelbarkeitserfordernis bei vorbeugender Selbstverteidigung aus der Natur der Sache heraus obsolet sein. Eine vorbeugende Selbstverteidigungslage verleiht nämlich dem mutmaßlichen Verteidiger (die Recht­ mäßigkeit dieser Variante unterstellt) zwar das Recht, jedoch keinesfalls die Pflicht zur Gewaltanwendung242. Ihm steht es damit trotz eines bei ihm zu erwartenden höheren Schadens frei, auf den Eintritt einer reaktiven Selbstverteidigungslage zu warten, auf welche er wiederum unter Beachtung des Unmittelbarkeitserfordernisses mit Gewalt antworten dürfte. Die Funktion der geforderten Unmittelbarkeit der Handlung ist es also, die rechtmäßige Reaktionszeit auf eine Selbstverteidigungslage auf ein die Interessen aller Beteiligten berücksichtigendes Maß zu beschränken. Bei vorbeugender Selbstverteidigung fehlt es jedoch bereits an einer Reaktion als solcher, deren Zeit damit nicht beschränkt werden kann. Die Funktion des Unmittelbarkeitserfordernisses würde ins Leere laufen. Andererseits kann das Unmittelbarkeitserfordernis in Anbetracht der unterschiedlichen Nivellierung des Anknüpfungspunktes bei vorbeugender Selbstverteidigung genau gegenteilig aufzufassen sein: Während es bei reaktiver Selbstverteidigung das zulässige „Noch“ einer Gewaltanwendung beschreibt, könnte es umgekehrt  – gleichsam als „negative Unmittelbarkeit“  – das zulässige „Schon“ einer vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung zum Ausdruck bringen. Im ersteren Fall jedoch liegt bereits eine reaktive Selbstverteidigungslage vor, im letzteren hingegen würde die Beschreibung eines zulässigen „Schon“ erst das frühstmögliche Bestehen einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage begründen. Die Unmittelbarkeit würde damit als Mindestbedingung einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage auf das ius ad bellum transferiert, was sachlich schwerlich mit dem Unmittelbarkeitserfordernis des ius in bello vereinbar ist243. Im Übrigen befassen sich die unten noch zu beantwortenden Fragen rund um die Umstände des eine vorbeugende Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses gerade mit einem denkbar frühestmöglichen Gewaltanwendungszeitpunkt; sie konsumieren damit bereits vorgelagert die hier zur Unmittelbarkeit der Handlung getätigten Gedanken und lassen einen Transfer des Unmittelbarkeitserfordernisses auf die Ebene des ius ad bellum ebenso obsolet erscheinen. Beide möglichen Ansätze einer zu fordernden Unmittelbarkeit der vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung führen damit zu dem Ergebnis, dass diese Anforderung für die Beurteilung vorbeugender Selbstverteidigung obsolet ist. 242

Vgl. dazu bereits o. Fn. 12 im 1. Kap. Vgl. dazu die instruktive Differenzierung von einerseits Unmittelbarkeit der Selbstverteidigungshandlung („immediacy“) und andererseits zeitlicher Nähe des Anknüpfungspunktes („imminence“) durch Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (469); nun detaillierter ders., ICJ and Self-Defence, S. 96 ff. 243

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

141

c) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Zu den Mindestanforderungen einer verhältnismäßigen reaktiven Selbstverteidigungshandlung wurde festgehalten, dass jedenfalls das humanitäre Völkerrecht zu beachten ist und Gewaltexzesse nicht rechtmäßig sein können. Zu untersuchen ist nun, ob über diese Mindestanforderungen hinaus der weiterhin hoch umstrittene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für eine vorbeugende Selbstverteidigungshandlung auf weitere Mindestbedingungen hin zu konkretisieren ist. Zum Teil wird dazu angemerkt, vorbeugende Selbstverteidigung impliziere ein weiteres Verständnis von Verhältnismäßigkeit244. Gemeint ist damit eine flexiblere Anwendung dieses Grundsatzes im Einzelfall245, teilweise unter Vermischung von Aspekten der Notwendigkeit. Als Konsequenz müsste dann auch die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung per se einzelfallabhängig beurteilt werden. Ausschließlich einzelfallbezogene Erwägungen gestatten aber weder eine verlässliche Analyse zur möglichen Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung als solcher noch eine objektivierbare Kriterienermittlung für die Prüfung von Anwendungsfällen mutmaßlicher vorbeugender Selbstverteidigung. Es drängt sich daher in Bezug auf die Forderung einer flexibleren Anwendung der Gedanke einer gewünschten bloßen Einzellegitimierung zu Lasten einer rechtlichen Lösung auf. Eine solche Verzerrung unter Vorgabe einer flexiblen Handhabung von Verhältnismäßigkeit ist daher abzulehnen. Ein weiterer Ansatz zu möglichen Modifizierungen der Verhältnismäßigkeit bei vorbeugender Selbstverteidigung stellt auf das Entgegenwirken möglicher Prognosefehler bei der Beurteilung einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage ab246 und fordert dabei das Anlegen besonders strenger Maßstäbe247. Da die Einschätzung der Lage zunächst durch den mutmaßlichen Verteidiger selbst erfolgt, können diesem unabhängig von den ihm dabei zu stellenden Anforderungen248 unvermeidbare Fehleinschätzungen unterlaufen. Solchen soll mit einer von vornherein strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung begegnet werden. Eine derartige Forderung erscheint nicht unplausibel, jedoch eröffnet sie ein daran anknüpfendes weiteres Diskussionsfeld wie z. B. die Frage, ob sich der Grad der geforderten Strenge wiederum an der Schwere des zu erwartenden Schadens oder dem prognostizierten zu erwartenden Zeitraum bis zum Schadenseintritt zu richten hat. Letztlich läuft die Diskussion wiederum auf eine von vielen Faktoren abhängige Einzelfall­prüfung der konkreten Handlung hinaus, welche jedenfalls bei der Suche nach Mindestanforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht weiterhilft. 244

Beschrieben von Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 150, m. w. N. Taft IV, YaleJIL 29 (2004), S. 295 ff. (305). 246 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 179 f. 247 Krugmann, Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, S. 25. 248 s. dazu sogleich unter 4.

245

142

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

Im Vergleich zu reaktiver Selbstverteidigung sind hier folglich die Mindest­ anforderungen zumindest nicht zu unterschreiten, weitere allgemein gültige Modifikationen für vorbeugende Selbstverteidigungshandlungen lassen sich dagegen nicht ermitteln. Da dies aber auch keinen Einfluss auf die vorrangige Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung als solcher hat, kann hier an den Mindestanforderungen der Verhältnismäßigkeit reaktiver Selbstverteidigungshandlungen festgehalten werden. 4. Qualifizierte Anforderungen an die Beweislast: Prognose

Grundsätzlich sind die zu reaktiver Selbstverteidigung herausgearbeiteten249 Anforderungen an die Beweislast zu Grunde zu legen. Diese werden jedoch regelmäßig schwieriger zu erfüllen sein, weil für Außenstehende mangels ersichtlichen Schadens keine Verteidigungslage offenkundig ist. Da also das eine vorbeugende Selbstverteidigungslage auslösende Ereignis (noch) nicht sichtbar ist, muss dessen zukünftiges oder wahrscheinliches Eintreten bei ungehindertem Geschehensablauf nachgewiesen werden. Dazu muss ex ante eine Gefahrenprognose abgegeben werden, welche nur bei hinreichender Sicherheit zur Annahme einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage berechtigen kann250. Fraglich ist, wie hinreichend sicher diese Einschätzung sein muss; allerdings ist diese Frage bloß ein Reflex der Anforderungen an den Anknüpfungspunkt vorbeugender Selbstverteidigung, sodass sie nicht im Rahmen der Beweislast zu beantworten ist251. An dieser Stelle geht es vielmehr um die notwendige Qualität der durch den sich auf Verteidigung berufenden Staat anzustellenden Prognose, also die Frage, welcher Standard für die Prognosetätigkeit gelten muss. Diese Differenzierung wird im gegenwärtigen Schrifttum selten vollzogen, dennoch sind zum Standard der Beweislast zwei Positionen festzustellen: Zum einen wird auf einen primär subjektiven Maßstab, den sog. reasonable state standard verwiesen252; demnach soll es ausreichen, dass der mutmaßliche Verteidiger ausgehend von den ihm zur Verfügung stehenden Informationen vernünftigerweise – und im Zweifel auch zu seinen Gunsten – von einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage ausgehen durfte. Dadurch würde dem Gewaltanwender ein recht hoher Einschätzungsspielraum eingeräumt253. Zum anderen wird eine Prognose aus objektiver Sicht gefordert, indem neben der Gutgläubigkeit des mutmaßlichen Verteidigers eine Möglichkeit der objekti-

249

s. o. 3. Kap. B. III. Vgl. dazu problemübergreifend Marauhn, Konfliktfolgenbewältigung, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 249 ff. 251 Vgl. dazu u. 4. Kap. C. IV. 252 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1397), m. w. N. 253 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1397). 250

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

143

ven Erforschbarkeit der vorbeugenden Selbstverteidigungslage bestehen muss254. Es wird dabei also von dem Gewaltanwender verlangt, die seiner Einschätzung der Lage zu Grunde liegenden Informationen einem unbestimmten Adressatenkreis objektiv nachvollziehbar darzulegen. Dem vorausgehend hat nach dieser Ansicht auch schon die Ermittlung der Faktenlage – typischerweise durch die zur Verfügung stehenden Organisations- und Personaleinheiten wie z. B. nationale Geheimdienste – besonders sorgfältig zu erfolgen255. Der tatsächlich zu fordernde Standard lässt sich wiederum am besten mit Rückgriff auf das bereits ermittelte Regel-Ausnahme-Verhältnis von Gewaltverbot und Selbstverteidigung einerseits sowie das Merkmal der doppelten Subsidiarität vorbeugender Selbstverteidigung andererseits ermitteln. Als Ausnahme von der Regel muss Gewaltanwendung bereits im Falle von reaktiver Selbstverteidigung besonders begründet werden; ferner ist vorbeugende Selbstverteidigung per se der reaktiven nachrangig. Damit können die Anforderungen an die Beweislast hier jedenfalls nicht geringer ausfallen als bei reaktiver Selbstverteidigung, welche u. a. eine (objektiv) plausible Beweisführung verlangt. Folglich ist ein rein subjektiver Standard bereits deshalb ausgeschlossen. Besonders relevant wird darüber hinaus in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Erstschlagvermutung256. Bei einer vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung geht notwendigerweise die erste sichtbare Gewaltanwendung von dem sich auf Verteidigung berufenden Staat aus, die Erstschlagvermutung wirkt also immer zu Lasten des vorbeugenden Verteidigers. Während der sich reaktiv Verteidigende lediglich auf die Erfüllung der regelmäßig objektiv unschwer erkennbaren Tatbestandsmerkmale allgemeiner Selbstverteidigung zu verweisen braucht, wird hingegen von dem sich vorbeugend Verteidigenden verlangt, die Existenz einer vorbeugenden, also (noch) nicht allgemein wahrnehmbaren Selbstverteidigungslage durch eine objektiv nachvollziehbare Prognose nachzuweisen. Mithin fällt zu Ungunsten des sich vorbeugend Verteidigenden im Vergleich zu den Anforderungen an reaktive Selbstverteidigung die Beweislast zu vorbeugender Selbstverteidigung qualifiziert aus. Die von ihm angestellte Prognose einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage muss für Dritte objektiv nachzuvollziehen sein, indem die Erstschlagvermutung plausibel widerlegt wird.

254 Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 19; Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (968). 255 Ausführlich hierzu die von Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (640 ff.), aufgestellten Regeln einer Aufklärung nach dem von ihm entwickelten strict scrutiny-Standard. 256 s. o. 3. Kap. B. III.

144

3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung 5. Kollektive vorbeugende Selbstverteidigung

Abschließend ist noch eine Bemerkung zu möglichen Beteiligungsformen vorbeugender Selbstverteidigung notwendig. Nachdem bereits oben der Nothilfe­ charakter kollektiver Selbstverteidigung festgestellt wurde257, stellt sich nun die Frage, ob angesichts dessen unterschiedliche Anforderungen an reaktive und vorbeugende Nothilfe zu stellen sind. Nach einer Ansicht ist vorbeugende kollektive Selbstverteidigung als vorbeugende Nothilfe unzulässig, weil es dritten Staaten nicht möglich sei, das Vorliegen einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage verlässlich einzuschätzen258. Nur der unmittelbar bedrohte Staat verfüge angesichts seiner Nähe zur Bedrohung über die Fähigkeit, die Lage richtig einschätzen zu können und wäre daher – wenn überhaupt – allein zu einer vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung berechtigt. Dagegen wird argumentiert, dass sich das kollektive Selbstverteidigungsrecht jedenfalls teilweise auch in vorbeugender Form in der Vertragspraxis nach 1945 manifestiert habe259. Zudem verkenne die ablehnende Ansicht, dass jeder Nothilfehandlung ein Nothilfeersuchen des betroffenen Staates vorgeschaltet ist, welcher erst auf Grund seiner vorherigen Einschätzung der Lage um Hilfe bittet260; der geforderten Einschätzungsprärogative des Opferstaates wäre damit Genüge getan261. Letztere Ansicht überzeugt, weil sie das einzige Argument der Gegenposition bereits im Ansatz widerlegt. Somit ist festzuhalten, dass sich kollektive vorbeugende Selbstverteidigung jedenfalls dann nicht von individueller vorbeugender Selbstverteidigung unterscheidet, wenn das potentielle Gewaltopfer auf Grund eigener richtiger Einschätzung einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage Drittstaaten um Hilfe bei der darauf bezogenen Selbstverteidigungshandlung bittet. Die Rechtmäßigkeit dieser Handlung ist freilich für jeden Beteiligten separat zu ermitteln. Es muss damit im weiteren Verlauf dieser Arbeit bei der Rechtsermittlung von vorbeugender Selbstverteidigung nicht zwischen individueller und kollektiver Ausformung unterschieden werden. III. Ergebnis Es hat sich damit gezeigt, unter welchen Voraussetzungen eine Gewaltanwendung im Rahmen vorbeugender Selbstverteidigung rechtmäßig sein kann. Dies gilt freilich nur unter der hier unterstellten Prämisse der Rechtmäßigkeit der vorbeugenden Variante des Selbstverteidigungsrechts als solcher. Dieser übergeordneten 257

s. o. 3. Kap. B. IV. Luban, PhilPublAff 32, S. 207 ff. (221 ff.). 259 Kunde, Präventivkrieg, S. 158. 260 Kunde, Präventivkrieg, S. 159, m. w. N. 261 Indirekt bestätigt dies auch der IGH, ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (103), Abschn. 194.

258

D. Übertragung auf vorbeugende Selbstverteidigung

145

Fragestellung wird sogleich im Anschluss nachzugehen sein. Da sie gleichwohl an dieser Stelle noch nicht beantwortet ist, erscheint es zwar ungewöhnlich, die (daher eher als mutmaßlich zu kennzeichnenden) Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einzelner Anwendungsfälle von vorbeugender Gewaltanwendung herauszuarbeiten ohne vorher die Rechtmäßigkeit der ihnen zu Grunde liegenden vorbeugenden Variante des Instituts als solcher sichergestellt zu haben. Doch war es nur auf diese Weise möglich, die für die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung relevanten und weiter zu untersuchenden Tatbestandsmerkmale im Vergleich der reaktiven und vorbeugenden Variante von Selbstverteidigung exakt zu separieren; dies war im Übrigen auch der Hauptzweck der Analyse des Prüfungsschemas. Der tatsächliche Wert des dabei erlangten Nebenproduktes – den Rechtmäßigkeitsanforderungen vorbeugender Selbstverteidigung im Einzelfall – erschließt sich dann im Anschluss an die Beantwortung der Frage nach der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit der vorbeugenden Variante von Selbstverteidigung. Die Anforderungen an vorbeugende Selbstverteidigung lassen sich im Überblick folgendermaßen festhalten: Übersicht 2 Prüfungsschema vorbeugender Selbstverteidigung mit den für die Frage ihrer Rechtmäßigkeit offenen Aspekten

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3. Kap.: Von reaktiver zu vorbeugender Selbstverteidigung

E. Fazit: Untersuchungsrelevante Aspekte Ausgehend von den soeben erlangten Ergebnissen konnten zwei für die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung untersuchungsrelevante Aspekte aus den gesammelten Anforderungen an reaktive wie vorbeugende Selbstverteidigung separiert werden. Es handelt sich dabei zum einen um den Anwendungsbereich des Gewaltverbots und zum anderen um den Anknüpfungspunkt einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage, welcher notwendigerweise ein Ereignis sein muss. Somit ist von nun an nurmehr das ius ad bellum Gegenstand der weiteren Untersuchung. Dessen relevante Aspekte sind jetzt auf eine mögliche zulässige Abweichung im Verhältnis zu den sicheren Erkenntnissen reaktiver Selbstverteidigung zu überprüfen. Dabei sind insgesamt drei Fragestellungen zu beantworten, die sich aus diesen Erwägungen ergeben: 1. Wenn der Anwendungsbereich des Gewaltverbots ausgeschlossen werden kann, sind Gewalthandlungen (auch) im Sinne der hiesigen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung rechtmäßig. Fraglich ist also, ob der Anwendungsbereich des Gewaltverbots unter gewissen Voraussetzungen ausgeschlossen werden kann. 2. Wenn ein Ereignis geringer ausfällt als die (hier abstrakt bestimmte und an Nachteiligkeit für das Opfer orientierte) Mindestbeschaffenheit eines grundsätzlich eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses und in bestimmten Situationen dennoch eine Gewalthandlung hierauf als zulässig betrachtet werden kann, so könnte auch dabei vorbeugende Selbstverteidigung nach hiesiger Betrachtungsweise vorliegen. Denn (noch) nicht hinreichend schadenskausale Ereignisse könnten einerseits in einer möglichen zukünftigen Anhäufung die Schwelle zur Mindestbeschaffenheit überschreiten und bei frühzeitigem Vorgehen hiergegen vorbeugende Selbstverteidigung auslösen. Dies entspräche einem Gedanken der accumulation-of-events-Doktrin. Andererseits könnte ein geringer beschaffenes Ereignis gleichsam der „Vorbote“ eines anderen, mindestbeschaffenen Ereignisses sein und damit bereits eine gewaltsame Handlung zulassen. Fraglich ist also, ob die Mindestbeschaffenheit eines eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses situationsbedingt geringer ausfallen kann. 3. Wenn die Umstände eines eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses nicht notwendigerweise an dessen tatsächlich-gegenwärtiges Auftreten geknüpft sind, könnte vorbeugende Selbstverteidigung zulässig sein. Ist nämlich ein solches Ereignis zeitlich nur bevorstehend oder sein Eintritt nur potentiell gegenwärtig denkbar und dennoch eine hierauf gestützte Gewalthandlung als rechtmäßig einzustufen, wäre die hiesige Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung erfüllt. Fraglich ist also, ob die Anforderungen an die Umstände eines grundsätzlich eine reaktive Selbstverteidigungslage aus­ lösenden Ereignisses unterschiedlich sein können.

E. Fazit: Untersuchungsrelevante Aspekte

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Im Einzelnen lassen sich die für die nun folgende Untersuchung zu tätigenden Schritte im Überblick folgendermaßen darstellen: Übersicht 3 Relevante Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung

Sollten die Antworten auf sämtliche Fragen negativ ausfallen, sind keine Abweichungen von den Anforderungen an reaktive Selbstverteidigung völkerrechtlich vertretbar; folglich wäre vorbeugende Selbstverteidigung illegal. Im Falle der Bejahung einer oder mehrerer Fragen ist hingegen vorbeugende Selbstverteidigung im Wirkungskreis der jeweiligen Frage als legal einzustufen. Dann gilt es daran anknüpfend das Ausmaß der Legalität zu bestimmen.

4. Kapitel

Der aktuelle Diskussionsstand A. Überblick und Vorgehensweise Angelehnt an die drei soeben herausgearbeiteten Leitfragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung soll nun der aktuelle Diskus­ sionsstand zu diesem Thema zusammengefasst und wiedergegeben werden1. Den separierten untersuchungsrelevanten Anforderungen entsprechend werden dazu sämtliche vertretenen Ansichten zunächst grob in anwendungsbereichsspezifische und ereignisspezifische Theorien unterteilt. Innerhalb dieser beiden Obergruppen erfolgt dann eine genauere Systematisierung gemäß der jeweiligen Inhalte jeder einzelnen Theorie. Einen Sonderstatus nehmen abschließend die als „außerrechtliche Ansätze“ bezeichneten Erklärungsversuche für vorbeugende Selbstverteidigung ein, welche das Verständnis der einzelnen Ansichten durch kritischen Vergleich schärfen sollen, darüber hinaus jedoch mangels Rechtscharakter das Ziel dieser Arbeit nicht unmittelbar fördern. Im Rahmen der inhaltlich umfassenden und systematisch möglichst fein strukturierten Theoriendarstellung wird nun jeder dogmatische Ansatz zunächst vorgestellt und dessen Argumentationsgang beschrieben. Zur besseren Veranschaulichung folgt in einem zweiten Schritt die Darstellung der aus der jeweiligen Theorie resultierenden Auswirkungen auf die eingangs aufgeführten tatsächlichen Sachverhaltskonstellationen. Eine eingehende rechtliche Bewertung der einzelnen Ansätze soll an dieser Stelle zu Gunsten einer zunächst rein systematischen und lückenlosen Darstellung des grundsätzlich Vertretbaren unterbleiben. Einschränkend muss jedoch bereits hier jeder Ansatz auf eine mögliche evidente völkerrechtliche Unvertretbarkeit überprüft werden, da sich aus zwingend logischen Gründen eine rechtliche Analyse nur unter der Annahme einer wie auch immer gearteten Rechtserheblichkeit jeder einzelnen Theorie sinnvoll durchführen lässt. Sollten sich also schon an dieser Stelle ein oder mehrere der in der Völkerrechtswissenschaft gleichwohl diskutierten Ansätze als in jeder Hinsicht evident unvertretbar erweisen, werden sie auch schon in diesem Stadium der Untersuchung als unerheblich verworfen.

1 Vgl. dazu und für weitere Quellenangaben auch die eher groben Darstellungen von Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (143), sowie Schwehm, AVR 46 (2008), S. 368 ff. (374 ff.).

B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien

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B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien Begonnen werden soll mit den hier als „anwendungsbereichsspezifische Theorien“ bezeichneten Ansätzen. Ihnen liegt der gemeinsame Ausgangsgedanke zu Grunde, dass unter bestimmten Voraussetzungen bereits der Anwendungsbereich des Gewaltverbots als nicht eröffnet betrachtet wird. Folglich wäre in solchen Fällen eine Gewalthandlung auch ohne zuvor manifestierten Schadensauslöser als originär legal einzustufen2. Dabei setzt die rechtliche Bewertung solcher Handlungen bereits im ersten Prüfungspunkt des oben aufgestellten Prüfungsschemas – nämlich der Anwendbarkeit vorbeugender Selbstverteidigung  – an und verneint sie angesichts der unterstellten originären Legalität von nicht unter das Gewaltverbot fallenden Gewalthandlungen. Dem Schema nach handelt es sich dann systematisch zwar nicht um vorbeugende Selbstverteidigungshandlungen; jedoch sind sie materiell von der dieser Arbeit zu Grunde liegenden weiten Definition vorbeugender Selbstverteidigung umfasst und damit beachtlich. Es gilt daher an dieser Stelle die einzelnen Ansichten zum Ausschluss der Anwendbarkeit des Gewaltverbots zu untersuchen und dann zu überprüfen, ob es tatsächlich Fälle originär legaler Gewaltanwendung ohne zuvor manifestierten Schadensauslöser geben kann. I. Desuetudo-Theorie Eine fundamentalistische Position innerhalb der anwendungsbereichsspezifischen Theorien vertreten die Anhänger der hier als „Desuetudo-Theorie“3 bezeichneten Meinung. Demnach sei das Gewaltverbot  – namentlich Art.  2  (4) SVN – durch entgegengesetzte Staatenpraxis beseitigt worden, es habe sich also durch „negatives Gewohnheitsrecht“ (sog. desuetudo4) grundsätzlich erledigt5. Gewaltanwendung wäre also unter allen Umständen rechtmäßig, da niemals verboten.

2

Für Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (158 f.), ist dieser Gedanke ohne ausdrückliches Verbot sogar die Ausgangsvermutung. Im Gegensatz dazu soll in dieser Arbeit auf Grund des bereits o. Dargestellten die grundsätzliche Geltung des Gewaltverbots angenommen werden. 3 Die Bezeichnung ist angelehnt an Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (159), und Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (35). 4 Zum Wesen der desuetudo s. statt vieler Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 257 ff., sowie in Bezug auf die SVN Karl/Mützelburg/Witschel, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 108, Rn. 13; vgl. i. Ü. u. 8. Kap. A. I. 1. b). 5 Glennon, ForeignAff 82 (2003), S. 16 ff. (22 ff.); ders., HarvardJLPP 25 (2002), S. 539 ff. (554 f.). Ähnlich argumentiert Franck, AJIL 64 (1970), S. 809 ff., jedoch scheint er den Ausschluss des Gewaltverbots eher als einstweilig statt dauerhaft zu vestehen, s. dazu ibid., S. 837: „… there may be an opportunity to return to an international legal system of norms such as in Article 2 (4).“ Vgl. i. Ü. auch Arend/Beck, Use of force, S. 184 f.; Kearley, WyomingLR 3 (2003), S. 664 ff. (672 f.), m. w. N.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Diese oberflächlich zwar an völkerrechtlichen Maßstäben orientierte Argumentation lässt sich jedoch nur unscharf von einer vollkommenen Leugnung der Geltung eines Völkerrechts trennen, da das moderne Völkerrecht sich im Ausgangspunkt gerade durch das Gewaltverbot konstituiert. Eine generelle Abkehr vom Gewaltverbot käme daher einem Wegfall der Geschäftsgrundlage des modernen Völkerrechts als solchem gleich, welche insbesondere angesichts der weiterhin gängigen Staatenpraxis, sich zu eigenem wie fremdem völkerrechtsrelevanten Verhalten zu äußern6, nicht ernstlich in Betracht gezogen werden kann7. Im Übrigen führt die bloße gelegentliche Nichtbefolgung von Rechtsregeln auch im Völkerrecht unzweifelhaft nicht zur Außer-Kraft-Setzung derselben8. Erforderlich wäre vielmehr eine diesbezügliche konsistente Rechtsüberzeugung oder, für die in diesem Falle zutreffende Annahme von ius cogens gem. Art. 53 S. 2 WVK, dessen ausdrückliche Ablehnung durch ausnahmslos alle Staaten9; von beidem kann gegenwärtig nicht die Rede sein. Weiterhin kann damit auch über den speziellen Ansatz der Desuetudo-Theorie hinaus keineswegs von einem Geltungsverlust des modernen Völkerrechts ausgegangen werden10. Die Desuetudo-Theorie ist daher bereits in ihrem Ansatz als völkerrechtsfremd und damit evident unvertretbar abzulehnen. II. Zweckbedingte Ausschlusstheorie Weniger drastisch als die Desuetudo-Theorie verhält sich die Ansicht, nach welcher ein Ausschluss des grundsätzlich geltenden Gewaltverbots immer dann anzunehmen sei, wenn sich ein solcher als zweckdienlich erweist. Angesichts dessen wird hier von der „zweckbedingten Ausschlusstheorie“ gesprochen. Ihre Vertreter stellen regelmäßig auf den sog. „Kern“ von Art. 2 (4) SVN ab11. Die Grundlage zur Gewaltanwendung soll hiernach die bloße (und oftmals aus rein moralischen oder auf sonstige Werte bezogenen Gesichtspunkten beurteilte12) Legitimität einer Handlung sein. Als solche käme infolgedessen auch vorbeugende Selbstverteidigung in 6 Exemplarisch zur völkerrechtlichen Staatenpraxis s. u. 8. Kap. B.; vgl. i. Ü. Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (35 f.); Ipsen, Legitime Gewaltanwendung, in: LA-Delbrück, S. 371 ff. (372). 7 Ebenso Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (159); Kittrich, Self-Defense, S. 201; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 201 ff., und früher bereits Gordon, YaleJIL 10 (1985), S. 271 ff. (275). 8 Vgl. z. B. White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S. 235 ff. (237); Wippmann, MinnesotaJIL 16 (2007), S. 387 ff. 9 Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (36 f.). 10 s. dazu bereits o. 1. Kap. B. II. 11 Vgl. die (weitläufige) als „The ‚core interpretist‘ approach“ bezeichnete Darstellung dazu bei Arend/Beck, Use of force, S. 182 ff., welche zu einem Teil rein zweckbedingt argumentiert. Ein weiterer, hiervon als selbständig betrachteter Ansatz dieser „Kerninterpreten“ ist der geringfügigkeitsbedingte Ausschluss, dazu sogleich. 12 Vgl. Gordon, YaleJIL 10 (1985), S. 271 ff. (276).

B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien

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Betracht13, wenn ein gewaltsames Vorgehen unter besonderen Umständen – z. B. gegen failed states14, gegen sog. „Schurkenstaaten“15, im Falle der Terrorismusbekämpfung16, zur humanitären Intervention17 oder bei Untätigkeit des Sicherheitsrats18 – auch unter vorbeugenden Aspekten als zweckdienlich zu rechtfertigen wäre. Zweifelhaft erscheint diese Ansicht schon allein wegen ihrer Anknüpfung an Legitimitätsgesichtspunkte, die für die dieser Arbeit zu Grunde liegende lex lata bereits thematisch irrelevant sind. So wird auch von den Vertretern dieser Ansicht eine durchgängig völkerrechtliche Herleitung für die zweckbedingte Ausschlusstheorie in letzter Konsequenz nicht geliefert; es wird lediglich ausgehend von Fallbeispielen, zu welchen das Gewaltverbot nicht anwendbar sein soll, auf eine Zweckmäßigkeit geschlossen. Dieses vorausgesetzte Resultat könnte jedoch durchaus nach einer erfolgreichen völkerrechtlichen Herleitung vertretbar sein, daher soll eine solche hier unternommen und überprüft werden: Wie an früherer Stelle gesehen, ist konstruktiv ein rein zweckorientiertes Vorgehen völkerrechtlich überhaupt nur durch eine ausdrücklich auf Zweckmäßigkeitserwägungen verweisende Norm rechtmäßig19; andernfalls würde sich das Recht selbst als unverbindlich ad absurdum führen. Es müsste also nachzuweisen sein, dass das Gewaltverbot in Form von Art. 2 (4) SVN eine solche Norm in Form einer Generalklausel enthält, die zur ausnahmsweise zweckmäßigen Gewaltanwendung ermächtigt. Eine solche Generalklausel kann – wenn überhaupt – in Form eines negativen Tatbestandsmerkmals in Art. 2 (4) SVN als Umkehrschluss aus der Formulierung „against the territorial integrity or political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations“ interpretiert werden, ist also nur bei restriktiver Auslegung von Art. 2 (4) SVN denkbar. Gewaltanwendung wäre demnach nur gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates verboten20, im Übrigen nur bei einem den Ver

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Vgl. Arend/Beck, Use of force, S. 186. Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (170). 15 Vgl. Rawls, Das Recht der Völker, S. 113 ff.; als ausdrücklich politische Konzeption (ibid., S. 129) passt diese Argumentation jedoch nicht in hier zu Grunde gelegten völkerrechtlichen Zusammenhang. s. ferner zu „Schurkenstaaten“ auch u. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb) (4). 16 Travalio, WisconsinILJ 18 (2000), S. 145 ff. (166 f.); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 125, diskutiert in diesem Zusammenhang eine teleologische Reduktion des Gewaltverbots, m. w. N. 17 Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 496 ff., diskutiert diesen Aspekt formal als Nothilferecht nach Art. 51 SVN analog, jedoch inhaltlich an Ausnahmesituationen und Zweckmäßigkeit orientiert. 18 Bei Untätigkeit des Sicherheitsrats trotz Handlungserfordernis entfalle nach einer Ansicht die Geschäftsgrundlage des Gewaltverbots, sodass staatliche Gewaltanwendungen dann als rechtmäßig zu bewerten seien, vgl. die Darstellung bei Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 285 f., m. w. N. 19 s. o. 1. Kap. B. III. 20 Dies vertritt z. B. D’Amato, AJIL 77 (1983), S. 584 ff. (585), und ders., AJIL 84 (1990), S. 516 ff. (520), jedoch ohne daraus die Konsequenz einer bedingten Gewaltermächtigung zu ziehen; Gewalt wird stattdessen vorbehaltlos anerkannt.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

einten Nationen widersprechenden Ziel bzw. Zweck21. Im Umkehrschluss wären alle mit den Vereinten Nationen vereinbaren Zwecke generalklauselartig als rechtlich zulässig verankerte Begründungen für Gewalt heranzuziehen. Dabei lässt sich wiederum an die soeben erwähnten Umstände anknüpfen. Ein prägnantes Beispiel wäre die Terrorismusbekämpfung, welche unzweifelhaft den Zielen der Vereinten Nationen unterfällt22. Demnach wäre in der Tat jede Gewalthandlung zur Bekämpfung des Terrorismus vom allgemeinen Gewaltverbot ausgenommen, es dürfte also auch vorbeugend gegen Terroristen ohne absehbaren Auslöser einer Selbstverteidigungslage vorgegangen werden. Der „Krieg gegen den Terror“ wäre plötzlich greifbar und allgegenwärtig. Bezieht man jedoch die – insbesondere in Art. 1 SVN formulierten – Ziele der Vereinten Nationen ein, bleibt schlicht kein Raum für eine ergänzende Zwecke zulassende Generalklausel23; Art. 1 SVN macht das Gewaltverbot umfassend24. Insbesondere formuliert Art.  1  (1) SVN die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit als oberstes Ziel, welches durch Kollektivmaßnahmen verwirklicht werden soll. Es steht damit gerade keinem Staat frei, diesen Zweck individuell und ohne Auftrag oder Zustimmung der Vereinten Nationen zu verfolgen. Das System kollektiver Sicherheit hat oberste Priorität im modernen Völkerrecht, wie sie sich auch in der bereits festgestellten Subsidiarität des Selbstverteidigungsrechts äußert25. Alle weiteren Ziele haben sich dieser Hierarchie unterzuordnen. Erst wenn bestimmbare staatseigene Rechtsgüter betroffen sind, greift das in der individuellen Schadensabwehr begründete Selbstverteidigungsrecht, welches gerade keine generalklauselartige, sondern konkret ausgeprägte Ausnahme vom Gewaltverbot ist. Zum Hüter abstrakter Zwecke der Weltgemeinschaft ohne eigene Betroffenheit soll sich hingegen gerade kein Staat gerieren dürfen. Dieser Auffassung schloss sich auch die Staatenwelt einstimmig bereits 1965 bei der Entwicklung der Friendly Relations Declaration an26. Als Bekräftigung dieses Ergebnisses steht der zweckbedingten Ausschlusstheorie außerdem die ständige Staatenpraxis entgegen, welche sich bei Gewaltanwendungen regelmäßig auf konkrete Ausnahmen vom Gewaltverbot, nicht aber dessen vermeintliche einzelfallbezogene Unanwendbarkeit bezog27. Darüber hinaus kann man durch weitere Auslegung zu dem Schluss gelangen, dass der in Rede stehende Wortlaut von

21 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1377); McCormack, Self-Defense, S. 132; Travalio, WisconsinILJ 18 (2000), S. 145 ff. (166 ff.). 22 Vgl. nur die beiden Resolutionen des VN-Sicherheitsrats zur Bekämpfung des interna­ tionalen Terrorismus, UN Doc. S/RES/1368 (2001) und UN Doc. S/RES/1373 (2001). 23 Schindler, Grenzen des Gewaltverbots, S.  11 ff. (14); Scholz, Selbstverteidigungsrecht gegen terrorist. Gewalt, S. 29. 24 Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 176. 25 s. o. 3. Kap. B. II. 1. 26 Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, S. 69 ff., insb. 71 f.; Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S. 49 ff. (58). 27 Hofmeister, JURA 2007, S. 767 ff. (768).

B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien

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Art. 2 (4) SVN lediglich besonders wichtige Schutzgüter hervorhebt28 und deshalb gerade keine zweckorientierte Generalklausel schafft. Insgesamt ist daher nach genauerer Analyse die zweckbedingte Ausschlusstheorie trotz ihres oberflächlich einschlägig anmutenden Anscheins als evident unvertretbar abzulehnen. III. Geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie Nach einer weiteren Ansicht soll das Gewaltverbot zumindest im Falle geringfügiger Gewalthandlungen nicht tangiert sein; sie soll daher „geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie“ genannt werden. Auch hierbei beziehen sich ihre Anhänger auf einen „Kern“29 von Art.  2  (4) SVN, welcher Gewalt nur ab einer bestimmten Qualität verbiete30. Unterhalb dieser Schwelle lägen vor allem sog. ­surgical strikes31, also kleinste Anwendungsformen von Gewalt32 – typischerweise Grenzzwischenfälle. Hieran anknüpfend wird gelegentlich und nicht gerade klarstellend von „kleiner Selbstverteidigung“33 gesprochen34, um zu verdeutlichen, dass selbstverteidigungsähnliche Handlungen unterhalb der Vorgaben von Art. 51 SVN durchgeführt wurden. Solche sind aber bereits von dem dieser Arbeit zu Grunde liegenden Verständnis allgemeiner Selbstverteidigung umfasst und bedürfen daher keiner Sonderbehandlung auf der vorgelagerten Ebene der Anwendbarkeit des Gewaltverbots. Unabhängig davon darf auch entgegen gelegentlicher Schrifttumspraxis vermeintlich „kleine Selbstverteidigung“ nicht mit der inhaltlich verschiedenen geringfügigkeitsbedingten Ausschlusstheorie gleichgesetzt werden. Erstere Konstruktion ist nämlich auf die separate opinion von Richter Simma im Ölplattform-Fall des IGH zurückzuführen35, in welcher sich der Autor – in anderen Worten und unter Zurückhaltung klarstellender Bezeichnungen – materiell eben doch für das dieser Arbeit zu Grunde liegende weite Verständnis von Selbstverteidigung



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So zutr. in einem anderen Zusammenhang Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 205 ff. 29 Vgl. dazu bereits o. Fn. 11 in diesem Kap. 30 D’Amato, AJIL 84 (1990), S. 516 ff. (520). 31 Vgl. insg. D’Amato, Int’l. Law, passim. 32 Eine andere Frage ist, was genau unter dem Begriff der Gewalt zu verstehen ist, s. dazu bereits o. 3. Kap. B. I. 1. b) aa); hier geht es nur noch um den Ausschluss materiell als solche anerkannter Gewalt im Rahmen des Gewaltverbots. 33 Nicht zu verwechseln ist hiermit eine in der Diskussion stehende Geringfügigkeitsschwelle für den Auslöser einer Selbstverteidigungslage, s. dazu o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2); hier geht es um eine mutmaßliche Selbstverteidigungshandlung. 34 Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S.  33 ff. (38); Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (149). 35 Simma, ICJ Rep. 2003, S. 324 ff. (331 f.), Abschn. 12.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

ausspricht36. Ungenaue Wiedergaben der Meinung Simmas verleiten jedoch dazu, ihn als Verfechter der geringfügigkeitsbedingten Ausschlusstheorie zu kennzeichnen. Jedoch ist für Simma gerade das Vorliegen kleinerer Gewalt, die explizit als illegal bewertet wird, erst die Voraussetzung für eine Verteidigungshandlung von geringerer Intensität. Diese ist also gerade nicht als geringfügigkeitsbedingte Ausnahme vom Gewaltverbot, sondern als defensive Antwort auf einen geringen und dennoch rechtswidrigen Bruch des Gewaltverbots rechtmäßig. Die geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie hingegen bewertet jede weniger schwere Form von Gewalt als nicht vom Gewaltverbot umfasst und hat damit nichts mit „kleiner Selbstverteidigung“ zu tun. Die Argumentation für den geringfügigkeitsbedingten Ausschluss des Gewaltverbots setzt vielmehr an dem bereits bekannten Wortlautargument an37: Kleinste „chirurgische“ Gewalteinsätze verletzten weder die territoriale Integrität noch die politische Unabhängigkeit eines Staates und sollten schon deshalb eine rechtmäßige, Art. 2 (4) SVN immanente Ausnahme sein. Der Unterschied zur zweckbedingten Ausschlusstheorie besteht darin, dass sich ihre Begründung nicht am Zweck der ihr zu Grunde liegenden Handlung, sondern vorgelagert streng am Wortlaut von Art. 2 (4) SVN orientiert; auf den ersten Blick scheint sie damit dem Völkerrecht näher zu stehen. Doch gilt hier nicht nur die oben anhand von Art. 1 (1) SVN nachgewiesene Absolutheit des Gewaltverbots; zusätzlich beschränkt Art. 2 (4) SVN a. E. das Gewaltverbot gerade nicht auf den für die geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie herangezogenen Wortlaut. Man könnte formulieren: „Chirurgisch“ kleine Gewalthandlungen sind nur im Falle der  – systemwidrigen  – „Amputation“ eines Teils von Art. 2 (4) SVN nicht vom Gewaltverbot umfasst, die gesamte Norm verbietet diese Theorie indes bereits ihrem Wortlaut nach. Die geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie ist damit als evident unvertretbar abzulehnen. IV. Vertragsbedingte Ausschlusstheorie Schließlich sollen noch diejenigen Situationen angesprochen werden, in welchen sich Staaten auf Grund eines zuvor geschlossenen Vertrags dem Schutz des Gewaltverbots ganz oder teilweise entzogen haben könnten. Gegen sie wäre dann  – bei Gültigkeit des jeweiligen Vertrags  – eine Gewaltanwendung recht­ mäßig. Diese Ansicht soll hier „vertragsbedingte Ausschlusstheorie“ heißen. Zurückzuführen ist diese Theorie auf die Völkerrechtsentwicklung im Kalten Krieg, namentlich die sog. Breschnew-Doktrin. Sie sah eine nur begrenzte Souve 36 „I would suggest (…) below the level of Article  51, justifying proportionate defensive measures on the part of the victim, equally short of the quality and quantity of action in selfdefence expressly reserved in the United Nations Charter.“ (Simma, ICJ Rep. 2003, S. 324 ff. (332), Abschn. 12.) 37 Ebenso Scholz, Selbstverteidigungsrecht gegen terrorist. Gewalt, S. 24 ff.

B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien

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ränität der Staaten des Warschauer Paktes mit der Konsequenz vor, dass eine gewaltsame sowjetische Intervention im Falle einer innerstaatlichen anti-sozialistischen Konterrevolution rechtmäßig gewesen wäre38. Solche vorweggenommenen Zustimmungen zu Gewaltanwendungen wurden unter konkludentem Verzicht auf den Schutz von Art. 2 (4) SVN in bilateralen Verträgen der betroffenen OstblockStaaten mit der Sowjetunion kodifiziert39. Faktisch wurde so einer vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung in dem Sinne vorweggegriffen, dass eine gewaltsame Verteidigung des damaligen sozialistischen status quo bereits in frühesten Ansätzen für ausdrücklich rechtmäßig erklärt wurde. Aber nicht nur eine solche aus heutiger Sicht überwundene Ausübung offener Hegemonialmacht bringt Konstellationen der vertragsbedingten Ausschluss­theorie zu Tage. Auch außerhalb der nunmehr erledigten kommunistischen Zwangszusammenschlüsse stehenden Regionalabkommen werden vertragliche Teilverzichts­ erklärungen auf den Schutz des Gewaltverbots nachgesagt, namentlich der OAS40, der KSZE41 sowie sogar der EU42. Unabhängig davon, ob man solche Regionalabkommen als Verwirklichungsbeispiele der vertragsbedingten Ausschlusstheorie anerkennen möchte43, stellt sich die Frage, wie ein solcher Ausschluss völkerrechtlich zu bewerten ist. Zunächst ist genau zwischen einem vertraglichen Verzicht auf den Schutz von Art. 2 (4) SVN einerseits und auf das Recht zur Selbstverteidigung andererseits zu differenzieren. Eine Verzichtserklärung auf das Recht zur Selbstverteidigung ist für die hier zu beantwortende Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nicht relevant; eine solche Erklärung würde nämlich nur bedeuten, dass ein Angriff weiterhin rechtswidrig ist, eine Verteidigung hiergegen jedoch prinzipiell ausgeschlossen sein soll. Mag man auch einen Verzicht auf das Selbstverteidigungsrecht für möglich halten44, so wäre der Anwendungsbereich des Gewaltverbots dennoch nicht in Zweifel gezogen. Gewaltanwendung wäre weiterhin völkerrechtswidrig, lediglich die Ausübung von Selbstverteidigung als Antwort auf solch völkerrechtswidrige Gewalt soll nicht zulässig sein. Dann ist aber erst 38 Vgl. dazu Grant, Doctrines, Rn. 22 ff., in: MPEPIL, Online-Ausgabe; Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 2 (4), Rn. 51 f.; Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, S. 147 ff. (158 f.); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 247. 39 Z. B. für die ehemalige DDR im „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ vom 7. Oktober 1975; s. für weitere Nachweise Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 247, dort Fn. 263. 40 Franck, AJIL 64 (1970), S. 809 ff. (835); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 248. 41 Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 248. 42 Hier wird freilich nur auf gemeinsam zu verwirklichende Ziele in Art. 11 Abs. 1 Unterstrich 5 EUV a. F. (heute dürfte wohl Art. 24 EUV gemeint sein) verwiesen ohne explizite Ermächtigung zur gewaltsamen Durchsetzung, s. Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 248. 43 Für einen vertragsbedingten Verzicht Franck, AJIL 64 (1970), S. 809 ff. (835); dagegen Corten, EJIL 16 (2005), S. 803 ff. (819); Henkin, AJIL 65 (1971), S. 544 ff. (544). 44 Vgl. dazu Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 296 f.; Radke, Staatsnotstand, S. 205.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

recht vorbeugende Selbstverteidigung irrelevant. Maßgeblich ist damit allein die vom Selbstverteidigungsrecht losgelöste Frage, ob der Schutz des Gewaltverbots als solches vertraglich abbedungen werden kann, also ob eine entsprechende völkerrechtliche Vereinbarung wirksam wäre. Für eine Disponibilität des Gewaltverbots spricht die grundsätzliche Vertragsfreiheit aller Staaten nach dem Rechtsgedanken von Art. 6 WVK, welcher auch den Verzicht auf einzelne Rechte gestattet. Darüber hinaus kann ein Staat seine eigene Souveränität sogar freiwillig gänzlich aufgeben, indem er in einen anderen Staat inkorporiert wird; damit müsste erst recht auch eine vertragliche Teilaufgabe seiner Rechte möglich sein. Der entscheidende Schwachpunkt dieses „Vertragsfreiheit-Arguments“ liegt aber im Detail: Zwar ist eine staatliche Totalauflösung möglich, jedoch nur unter der Bedingung der Freiwilligkeit zum Zeitpunkt der Auflösung, also der Bedingung der eigenen vollen Kontrolle über das Geschehen – dies verlangt das Prinzip der Souveränität. Sobald aber ein Verzicht für die Zukunft erklärt wird, erhalten automatisch die begünstigten Dritten die Kontrolle über das verzichtete Recht – die Folge wäre die fortan bestehende Irrelevanz des – sich womöglich verändernden – Willens des Verzichtserklärers45. Er könnte sein Fortbestehen nicht mehr selbst beeinflussen und wäre daher in der Frage des Ob und Wie seiner weiteren Existenz von Dritten abhängig. Das „Vertragsfreiheit-Argument“ läuft also seinem Erst-Recht-Schluss zuwider und kann daher die vertragsbedingte Ausschlusstheorie allein nicht begründen. Trotzdem könnte eine Verzichtserklärung mit all ihren denkbaren einschneidenden Konsequenzen wirksam sein, wenn sie gem. Art. 53 WVK46 nicht gegen ius cogens verstößt47. Wie bereits oben festgestellt, gehört jedenfalls der Kern des Gewaltverbots zum zwingenden Völkerrecht48. Wenn also auch ein Verzicht auf den Schutz des Gewaltverbots als Verstoß gegen das Gewaltverbot selbst zu werten ist, wäre ein solcher völkerrechtlich nichtig. Da das Gewaltverbot als Eckpfeiler des modernen Völkerrechts universell und nicht nur im bilateralen Verhältnis zweier Staaten zueinander gilt, ist es ein Rechtsgut der gesamten Staatengemeinschaft. Ein einzelner Verzicht hierauf wäre also im Verhältnis zur Staatengemeinschaft wirkungslos, da auf Universalrechtsgüter schlichtweg nicht verzichtet werden kann49. Umgekehrt mag zwar der gegen den Verzichtserklärer Gewalt Anwendende ihm gegenüber keinen so empfundenen Schaden zufügen, jedoch schädigt er zugleich der Weltgemeinschaft und verstößt damit wiederum gegen das Gewaltverbot. Der Verzicht auf den Schutz des Gewaltverbots fördert damit gewaltsame Handlungen, welche als Verstoß gegen das Gewaltverbot als Universalrechtsgut

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Vgl. dazu auch Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 295. s. auch Corten, EJIL 16 (2005), S. 803 ff. (819). 47 Eine erzwungene Verzichtserklärung wäre bereits wegen Art. 52 WVK nichtig und wird daher hier nicht thematisiert. 48 s. o. 3. Kap. B. I. 1. a). 49 Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 2 (4), Rn. 52; Wengler, Gewaltverbot, S. 50.

B. Anwendungsbereichsspezifische Theorien

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der gesamten Staatengemeinschaft schaden50. Der Schutz des Gewaltverbots ist damit nicht nur indisponibel, sondern eine Verzichtserklärung auf denselben wirkt in ihrer Konsequenz wie ein direkter Verstoß gegen das Gewaltverbot selbst und ist damit aus den zwingenden Gründen von Art. 53 WVK nichtig. Ein weiteres Argument gegen die vertragsbedingte Ausschlusstheorie liefert schließlich die Systematik der SVN. In den Artt. 53 und 107 SVN wurden nämlich die sog. Feindstaaten des Zweiten Weltkrieges ausdrücklich von einem Teil des Schutzes des Gewaltverbots ausgeschlossen51. Die Signatarstaaten der SVN behielten sich also vor, den Schutzbereich des von ihnen kodifizierten Art. 2 (4) SVN in demselben Dokument zu bestimmen und nahmen von diesem Recht im Gründungsvertrag selbst Gebrauch. Wenn aber eine Einschränkung des Schutz­ bereiches bereits in der SVN selbst vorgenommen wurde, kann eine weitergehende Einschränkung nach dem für die Normen der Vereinten Nationen in Art. 103 SVN verbrieften Grundsatz lex superior derogat legi inferiori nicht mehr auf einer niedrigeren Stufe der völkerrechtlichen Normenhierarchie erfolgen52. Dafür spricht auch, dass die materiell längst obsoleten Feindstaatklauseln weiterhin – trotz anderweitiger Empfehlung des seinerzeitigen VN-Generalsekretärs Annan53  – formell existieren; die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sahen bislang keine Veranlassung, von dem Einschränkungsprimat der SVN abzusehen, was sie u. a. durch eine Streichung der Feindstaatklauseln hätten andeuten können54. Somit ist auch die vertragsbedingte Ausschlusstheorie aus mehreren Aspekten nicht mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen und folglich als evident unvertretbar abzulehnen. V. Zwischenfazit Es hat sich damit gezeigt, dass sämtliche anwendungsbereichsspezifischen Theorien wegen ihrer evidenten Unvertretbarkeit im Völkerrecht scheitern. Das Gewaltverbot kann als Grundbedingung des modernen Völkerrechts nicht umgangen werden, sein Anwendungsbereich ist daher stets eröffnet. Folglich ist auch das Recht zur Selbstverteidigung grundsätzlich immer anwendbar, wenn ihm keiner der oben diskutierten Ausschlussgründe entgegensteht. Vorbeugende Selbstverteidigung kann also nur noch im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen von Selbstverteidigung als solcher völkerrechtlich begründet werden. Dazu kann nach dem bisher Analysierten höchstens noch an die Mindestbeschaffenheit sowie die

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Ähnlich argumentiert Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 249. Vgl. auch Kunde, Präventivkrieg, S. 132. 52 Bernhardt, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 103, Rn. 6 ff. 53 Annan, UN Doc. A/59/2005 ff., S. 52, Abschn. 217 f. 54 Vgl. zu der politischen Sensibilität einer möglichen Streichung der Feindstaatklauseln und der Uneinigkeit der Staatenwelt und VN-Gremien hierzu Pallek, Anmerkungen zum VN-Weltgipfel, in: GS-Blumenwitz, S. 577 ff. (582 f.).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Umstände des auslösenden Ereignisses angeknüpft werden. Im Überblick lässt sich der hiesige Stand der Analyse folgendermaßen darstellen: Übersicht 4 Erstes Zwischenergebnis zu den relevanten Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung

Vorbeugende Selbstverteidigung kann somit nur noch anhand der hier als „ereignisspezifische Theorien“ bezeichneten Ansichten begründet werden.

C. Ereignisspezifische Theorien Sämtliche noch für die völkerrechtliche Bewertung vorbeugender Selbstverteidigung in Frage kommenden Theorien knüpfen an das jeweils eine grundsätzlich reaktive Selbstverteidigungslage auslösende Ereignis an. Sie werden daher ihrer Gattung nach als „ereignisspezifische Theorien“ bezeichnet. Bevor auf ihre unterschiedlichen Ausformungen eingegangen wird, werden die ihnen gemeinsam zu Grunde liegenden Annahmen gleichsam „vor der Klammer“ als Vorbemerkungen dargestellt. Im Anschluss daran wird als restriktivste These die Gegenwärtigkeitstheorie vorgestellt, um wiederum daraufhin die unterschiedlichen auf vorbeugende Selbstverteidigung abstellenden Ausformungen dieser Grundthese zu beschreiben. Im Wesentlichen sind dies ihrem Inhalt nach all jene Theorien, welche sich in unterschiedlicher Ausformung hinter der Gesamtheit der eingangs vorgestellten völkerrechtlich relevanten Bezeichnungen für vorbeugende Selbstverteidigung verbergen. Systematisch lassen sie sich ihrer Klassifikation nach in zeitpunktorientierte und wahrscheinlichkeitsorientierte ereignisspezifische

C. Ereignisspezifische Theorien

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Theorien unterteilen. Zum Schluss schließt die systematisch als Sonderfall einzuordnende accumulation-of-events-Doktrin die Darstellung des völkerrechtlichen Diskussionsstandes ab; an selbiger Stelle wird schließlich noch auf eine mög­ liche Abweichung der Mindestbeschaffenheit des auslösenden Ereignisses ein­ gegangen. I. Vorbemerkungen Wie oben ermittelt, beantwortet sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung danach, ob und ggf. wie die Voraussetzungen an Beschaffenheit und Umstände des eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses völkerrechtlich vertretbar im Vergleich zum status quo reaktiver Selbstverteidigung modifiziert werden können. Die grundlegende Unterscheidung zwischen den Umständen eines Ereignisses einerseits und der Beschaffenheit eben dieses Ereignisses andererseits verdeutlicht die folgende Grafik (Abbildung  1). Dabei beschreiben X- und Y-Achse jeweils abstrakt (und zwar bewusst ohne konkrete Werte auf den Achsen) die Umstände hinsichtlich Zeitpunkt und Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines eine dann mögliche reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses. Die schwarze kreisförmige Fläche beschreibt das jeweilige Ereignis und seine Beschaffenheit; jedoch ist sie in ihrer jeweiligen Lage entgegen ihrer hiesigen Darstellung (nämlich als Fläche) im mathematischen Sinne als Punkt aufzufassen. Dieser Punkt wird hier als Fläche dargestellt, um auf diese

Abbildung 1: Das Ereignis zwischen Zeitpunkt (X-Achse) und Wahrscheinlichkeit (Y-Achse) seines Eintritts in grafischer Darstellung

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Weise mittels Flächengröße die Mindestanforderungen an die Beschaffenheit des Ereignisses zu beschreiben55. Angelehnt an diese Ausgangsgrafik lässt sich jede der nun folgenden Theorien darstellen, indem das schwarze Ereignisfeld dem jeweiligen Theorieninhalt entsprechend zwischen Zeitpunkt und Wahrscheinlichkeit bewegt wird. Bei dieser Ausgangsdarstellung steht übrigens weder der sichere Eintritt eines schädigenden Ereignisses zeitnah bevor (zeitpunktorientierter Blickwinkel), noch ist ein gegenwärtiger Eintritt wahrscheinlich oder auch nur möglich (wahrscheinlichkeitsorientierter Blickwinkel). Diese doppelte Unbestimmtheit führt unweigerlich zur Völkerrechtswidrigkeit einer auf einer solchen Annahme basierenden Gewalthandlung, weil sie mangels Konkretheit keinem Anknüpfungspunkt, sondern einem nur abstrakt bestimmbaren Zeitraum – in concreto einer abstrakten, weil weder zeitlich noch nach Wahrscheinlichkeit bestimmbaren Gefahr – zu Grunde liegt56. Das ultima-ratio-Prinzip wäre so niemals erfüllt57. Dies entspräche im Übrigen einer für den Einzelfall nicht möglichen kumulativen Verbindung von zeitpunkt- und wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien. Dagegen ist es nicht auszuschließen, dass sich Theorien verschiedener Klassifikationen in alternativer Weise miteinander verbinden lassen, z. B. die absolute Imminenztheorie mit der Evidenztheorie (s. dazu sogleich). Es wäre also denkbar, dass sich später in der Rechtsermittlung die Vertretbarkeit vorbeugender Selbstverteidigung sowohl innerhalb eines gewissen Zeit- als auch eines gewissen Wahrscheinlichkeitsrahmens erweist58. Dies gilt es freilich erst später zu verifizieren. Bei der hier zu unternehmenden Darstellung der vertretenen Theorien soll lediglich für ein besseres Verständnis die Unvereinbarkeit kumulativer klassifikationsübergreifender Verbindungen (wie in Abbildung 1) sowie die Vereinbarkeit alternativer klassifikationsübergreifender Verbindungen vergegenwärtigt werden. 1. Beschaffenheit des Ereignisses

Vor der Darstellung der ereignisspezifischen Theorien gilt es zunächst den Umfang einer (Mindest-)Beschaffenheit des eine (vorbeugende) Selbstverteidigungs 55 Auf mathematische Korrektheit wurde hier zu Gunsten der Übersichtlichkeit verzichtet, weil es bei mathematisch präziser Darstellung des Ereignisses als Punkt statt Kreisfläche einer dritten Achse (als Z-Achse) bedurft hätte, um dann auf dieser die erforderliche Beschaffenheit des Ereignisses als Halbgerade ausgehend von dem Punkt der Mindestanforderungen an die Beschaffenheit darzustellen. 56 s. dazu o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa). 57 Aus diesem Grunde abzulehnen ist die Konstruktion von Dietz, DÖV 2011, S.  465 ff. (471), an dem Erfordernis eines bewaffneten Angriffs festzuhalten, gleichwohl aber den Zeitpunkt des Angriffsbeginns auf unbestimmte Zeit vorzuverlegen; dies käme einem Zeitraum statt Zeitpunkt als Auslöser gleich. 58 Daher können mitunter auch dieselben Autoren als Vertreter verschiedener Theorien in Betracht kommen, ohne dass in ihren Thesen deshalb ein Widerspruch zu finden wäre.

C. Ereignisspezifische Theorien

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lage auszulösen tauglichen Ereignisses – vulgo die Mindestgröße der schwarzen Fläche der Grafik – festzulegen. Diese Mindestbeschaffenheit soll jedoch nicht in absoluten Werten bestimmt werden, weil die einzelnen Ansichten hierzu zu stark divergieren und dies im Übrigen für das Ziel der Rechtsermittlung vorbeugender Selbstverteidigung nicht förderlich wäre59. Es genügt stattdessen eine variable Mindestbeschaffenheit orientiert an der bereits als notwendig herausgearbeiteten Schadenskausalität als kleinsten gemeinsamen Nenner abstrakt anzuerkennen; dieser Mindestbeschaffenheit wird die in der Ausgangsgrafik dargestellte Standardgröße der schwarzen Fläche zugeordnet. Jedes Ereignis, das diese abstrakte Schwelle überschritten hat, vermag grundsätzlich eine Selbstverteidigungslage auszulösen. Zu ermitteln ist dann nur noch die Antwort auf die für diese Arbeit maßgebliche Frage, ob diese Selbstverteidigungslage auch vorbeugend bestehen kann oder nicht. Eine Sonderstellung bezüglich der Beschaffenheit nimmt schließlich die accumulation-of-events-Doktrin ein, auf die unten gesondert einzugehen sein wird. Jedoch muss auch für sie kein konkreter Mindestwert der Beschaffenheit ermittelt werden. 2. Umstände des Ereignisses

Im Sinne einer möglichst hohen Vergleichbarkeit der zu vorbeugender Selbstverteidigung vertretenen Theorien soll an den bisherigen abstrakten Bezeichnungen festgehalten werden. Diese als „Umstände des Ereignisses“ umschriebene Kategorie gestattet es, den Inhalt des weiten Meinungsspektrums sichtbar zu machen, welcher sich in seiner einzelnen Herleitung jedoch zuweilen unterscheidet. So kann es durchaus zu identischen Ergebnissen kommen, obwohl eine Lehrmeinung als Ereignis für Art. 51 SVN einen vermeintlich gegenwärtigen bewaffneten Angriff zwingend voraussetzt, diesen aber inhaltlich weit bis in seine Vorbereitungsphase hinein definiert60, wohingegen eine andere Ansicht großzügiger mit dem Erfordernis eines gegenwärtigen Angriffs verfährt, jedoch dessen Inhalt eng eingrenzt61. Solchen wesensmäßig gleichen Aussagen kann mit der hier verwendeten abstrakten Terminologie am besten begegnet werden. Dabei ist im Hinblick auf die Umstände des eine mögliche vorbeugende Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses – wie angedeutet – zwischen zeitpunktorientierten und wahrscheinlichkeitsorientierten Aspekten zu differenzieren. Das Vorliegen einer rechtmäßigen vorbeugenden Selbstverteidigungslage lässt sich nämlich einerseits an der Zeitnähe eines als tatsächlich bevorstehend geltenden Ereignisses messen. Andererseits kann auch maßgebend sein, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich ein potentielles Ereignis gegenwärtig realisieren könnte. Der

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Ausführlicher hierzu o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2). Z. B. Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (496). 61 Z. B. Rouillard, MiskolcJIL 1 (2004), S. 104 ff. (118).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Übersichtlichkeit halber wird daher in der folgenden Darstellung zwischen zeitpunktorientierten und wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien unterschieden, jeweils ausgehend von dem jeweiligen Hauptansatzpunkt der einzelnen Theorie. Bei der Darstellung dieser Theorien gilt es wiederum zu beachten, dass diese mitunter nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, sondern je nach Grund­ positionierung innerhalb einer Ebene fließende Übergänge in die eine oder andere Richtung – und zwar hinsichtlich Zeitpunkt ebenso wie hinsichtlich Wahrscheinlichkeit – nicht auszuschließen sind62. Der Übersichtlichkeit und Prägnanz halber wird im Folgenden dennoch strukturiert zwischen den verschiedenen Theorien unterschieden und die angekündigte Klassifizierung vollzogen. II. Gemeinsamer Ursprung aller ereignisspezifischen Theorien: die Gegenwärtigkeitstheorie Die hier als „Gegenwärtigkeitstheorie“ bezeichnete Ansicht beschreibt die in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung strengste Position. Ein Ereignis muss demnach als Auslöser einer Selbstverteidigungslage stets gegenwärtig sein, sodass vorbeugende Selbstverteidigung unter keinen Umständen zulässig ist. Grafisch ist die Gegenwärtigkeitstheorie demnach auf dem Nullpunkt zwischen Zeitpunkt und Wahrscheinlichkeit darzustellen:

Abbildung 2: Die Gegenwärtigkeitstheorie grafisch aufgearbeitet 62 Vgl. zur Überschneidung des Meinungsspektrums auch Wilmshurst, ICLQ  55 (2006), S. 963 ff. (965).

C. Ereignisspezifische Theorien

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In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist niemals rechtmäßig. 1. Argumentation

Die Vertreter der Gegenwärtigkeitstheorie lassen keine Abweichungen von den Tatbestandsvoraussetzungen reaktiver Selbstverteidigung zu63. Das eine Selbstverteidigungslage auslösende Ereignis habe ohne Ausnahme gegenwärtig zu sein, da Selbstverteidigung schon ihrer begrifflichen Bedeutung nach immer nur eine Reaktion auf etwas Geschehenes sein könne64. Dies ergebe sich unmittelbar aus dem (unausgesprochen: englischen) Wortlaut65 von Art. 51 SVN, denn die Formulierung „if an armed attack occurs“ schließe jeglichen vorbeugenden Bezug aus66. Bisweilen wird dieser Schluss zusätzlich aus der Interpretation des vor der SVN geltenden Völkerrechts gezogen, welches die SVN nur bestätigt habe67. Im Übrigen führe jede weitergehende Auslegung von Art. 51 SVN zu einer hohen Missbrauchsgefahr, weil jeder Staat das Vorliegen der Selbstverteidigungsvoraussetzungen nach eigenem Gutdünken festlegen könne68. Zuletzt verfolge Art. 51 SVN den Zweck, das Selbstverteidigungsrecht durch Maßnahmen kollektiver Sicherheit zu ersetzen69, es könne daher nie vorbeugend sein70.

63 Al Chalabi, Légitime défense, S.  78 ff.; Breitwieser, NZWehrr 2005, S.  45 ff. (57); ­ rownlie, Use of Force, S. 275 ff.; Cassese, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 51, S. 1341, B 1358 ff.; wohl auch Condorelli, RGDIP 105 (2001), S.  829 ff. (840 f.); Diener, Terrorismusdefinition, S. 255 f.; Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff.; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 465 i. V. m. S. 92 f., 99; Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 204 ff.; Mulcahy/Mahony, HanseLR 2 (2006), S. 231 ff. (235); Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 527. 64 Acosta Estévez, AMexDI VI (2006), S. 13 ff. (36); vgl. ferner dazu die nicht immer wohl reflektierten, aber wegen ihres eigenwilligen Stils unter feuilletonistischen Aspekten dennoch lesenswerten Ausführungen von Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (447 ff.). 65 Häufig missverstanden wird in diesem Zusammenhang Hofmann, GYIL 45 (2002), S. 9 ff., da er zwar in Bezug auf Art. 51 SVN allein als Vertreter der Gegenwärtigkeitstheorie verstanden werden könnte (ibid., S. 30), dies jedoch nur ein Zwischenergebnis vor der weitergehenden Analyse des Völkergewohnheitsrechts (ibid., S. 31) ist. 66 Bothe, EJIL 14 (2003), S. 227 ff. (229 f.); Constantinou, Right of Self-Defence, S. 113 ff., 207; Dromi San Martino, Legítima defensa, S.  30, 45; Kelsen, Law of the UN, S.  797 f.; Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 39 f.; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 250 ff.; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 767; Wright, AJIL 57 (1963), S. 546 ff. (560). 67 Al Chalabi, Légitime défense, S. 79; Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (466); Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 207 ff. 68 Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, S. 90. 69 Zum Inhalt von Art. 51 SVN ist zu unterscheiden zwischen einerseits seinen verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten und andererseits seinem Verhältnis zum Völkergewohnheitsrecht. Teilweise werden diese beiden unterschiedlichen Aspekte in der Völkerrechtslehre miteinander vermischt, sodass die Argumente der einzelnen Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung auf unterschiedlichen Voraussetzungen gründen. Diesem Umstand wird in dieser Arbeit später bei der Rechtsermittlung in unterschiedlichen Schritten Rechnung getragen (s. u. 7. Kap.); bei der hier zunächst vorzunehmenden Darstellung des Meinungsstandes soll aber vorerst auf eine solche Trennung im Sinne einer authentischen und vollständigen Wiedergabe verzichtet werden. 70 Graf zu Dohna, Grundprinzipien des Völkerrechts, S. 90.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Einige Vertreter der Gegenwärtigkeitstheorie lassen es zur Annahme der Gegenwärtigkeit – wie Dinstein unter dem Stichwort „abfangende Selbstverteidigung“71 – ausdrücklich genügen, wenn ein Schadensauslöser bereits in Erscheinung getreten ist, es jedoch noch zu keinem Schaden selbst gekommen ist72. Andere Vertreter der Gegenwärtigkeitstheorie schweigen zu solchen Konstellationen; jedoch ist angesichts der zur Anknüpfung entscheidenden Schadenskausalität des Ereignisses zu erwarten, dass sie auch unter diesen Bedingungen eine Selbstverteidigungslage als gegenwärtig und damit rechtmäßig einschätzen würden73. Unterstützt wird dieses Ergebnis durch einen Blick auf die Notwehrregelung im nationalen – hier exemplarisch deutschen – Strafrecht: Ein rechtswidriger Angriff i. S. v. § 32 Abs. 2 StGB gilt jedenfalls auch dann als gegenwärtig, wenn er sich schon im Versuchs-, noch nicht aber im Vollendungsstadium befindet74. Das völkerrechtliche Pendant hierzu ist „abfangende Selbstverteidigung“ nach Dinstein. 2. Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen

Nach der Gegenwärtigkeitstheorie wäre keine der eingangs aufgeführten tatsächlichen Sachverhaltskonstellationen als rechtmäßig einzustufen, weil es an einem gegenwärtigen Auslöser einer Selbstverteidigungslage fehlte. III. Zeitpunktorientierte ereignisspezifische Theorien Von der grafisch auf dem Nullpunkt stehenden Gegenwärtigkeitstheorie entfernen sich die zeitpunktorientierten ereignisspezifischen Theorien. Sie haben gemeinsam, dass die Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintritts sich in objektive Gewissheit bei ungehindertem Geschehensablauf verdichtet; daher wird sich die grafische Darstellung der zeitpunktorientierten ereignisspezifischen Theorien stets auf der X-Achse bewegen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen den hier als „absolute“ und „relative Imminenztheorie“ bezeichneten Ansätzen.



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s. o. 2. Kap. A. VII. Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (137, 174 f.); vgl. i. Ü. die Aufzählung bei Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (126). 73 Unklar äußert sich aber (nur) in diesem Punkt Tomuschat, VN 2/2003, S. 41 ff. (42), der den Ansatz Dinsteins offenbar im Sinne der in dieser Arbeit so bezeichneten absoluten Imminenztheorie oder der Evidenztheorie (dazu sogleich) versteht und deshalb von Kritik hiergegen berichtet. 74 Vgl. statt vieler Roxin, Strafrecht AT1, Rn. 21 ff., insb. 24 (S. 665 ff.).

C. Ereignisspezifische Theorien

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1. Absolute Imminenztheorie

Den ersten von der Gegenwärtigkeitstheorie abweichenden Schritt auf zeitlicher Ebene unternimmt die absolute Imminenztheorie. Das in der deutschen Sprache eher selten anzutreffende Substantiv „Imminenz“ leitet sich dabei von dem Erfordernis eines unmittelbar bevorstehenden – imminenten – Auslösers einer Selbstverteidigungslage ab. In der überwiegend englischsprachigen Völkerrechtsliteratur wurde für solche Fallkonstellationen der Begriff des imminent attack geprägt75, welcher sich seinerseits überwiegend auf einen im zeitlichen Verständnis unmittelbar bevorstehenden Auslöser einer Selbstverteidigungslage bezieht76. Wichtig ist dabei zu vergegenwärtigen, dass lediglich der Auslöser imminent sein muss, nicht jedoch notwendigerweise auch der zu erwartende Schaden; letztere Fälle werden bei einem bereits in Erscheinung getretenen Auslöser von der Gegenwärtigkeitstheorie umfasst und sind daher kein Anwendungsfall von vorbeugender Selbst­ verteidigung. Daher lässt sich die absolute Imminenztheorie in folgender grafischer Form darstellen:

Abbildung 3: Die absolute Imminenztheorie grafisch aufgearbeitet



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Z. B. bei Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 90. Zu vernachlässigen ist die in diesem Zusammenhang zuweilen verwendete Bezeichnung „immediacy“, da sie sich richtigerweise jedenfalls nicht auf das zeitliche Bevorstehen eines Auslösers bezieht, sondern entweder Aspekte der Wahrscheinlichkeit umfasst und bzw. oder auf die Unmittelbarkeit der Selbstverteidigungshandlung abstellt, vgl. instruktiv Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (146, 151); s. i. Ü. bereits o. Fn. 243 im 3. Kap.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist recht­ mäßig, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in naher Zukunft ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde. a) Argumentation Zahlreiche Autoren halten vorbeugende Selbstverteidigung unter den strengen Voraussetzungen der absoluten Imminenztheorie letztlich77 für zulässig78, was auch aktuelle Strömungen innerhalb der Vereinten Nationen nahe legen79 und trotz anders lautender weiterer Dokumente80 sogar durch eine aktuelle Veröffentlichung der USA gestützt wird81. Sie verweisen in ihrer Argumentation häufig auf den Vorfall zwischen den USA und der damaligen oberkanadischen Kolonialmacht, dem Vereinigten Königreich, im Zusammenhang mit der Zerstörung des kanadischen Dampfschiffs Caroline vom 29.  Dezember 1837 und die Essenz der darauf folgenden diplomatischen Aufarbeitung82. Nach der daraus resultierenden sog. ­Webster-Formel wäre Selbstverteidigung rechtmäßig, wenn auf Seiten des Gewaltanwenders „a necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice 77 I. E. trifft dies auch auf Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 147, zu, der sich jedoch in seiner vorangegangenen Argumentation noch klar für die Gegenwärtigkeitstheorie ausspricht (ibid., S. 143). An diesem sich am Rande des Widerspruchs bewegenden Beispiel zeigt sich einmal mehr die allgemein festzustellende Unsicherheit, völkerrechtlich klar Stellung zu beziehen. 78 Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (526); Boyle, ASIL Proc. Vol. 81 (1987), S. 287 ff. (294 f.); Dörr, HuV 16 (2003), S. 181 ff. (183); Eichen, NZWehrr 1988, S. 1 ff. (10); Fischer, HuV 16 (2003), S.  4 ff. (6); Freiherr von Lepel, HuV 16 (2003), S.  77 ff. (79); GarwoodGowers, JCSL 16 (2011), S. 263 ff. (270 ff.); Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff.; Herdegen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (344); Hillgruber, ZfP 50 (2003), S. 245 ff. (249); Hofmann, GYIL 45 (2002), S.  9 ff. (31); Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S.  325 ff. (345 f.); Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (125 – er wird nur wegen seiner deutschen Schlussbemerkung ibid., S. 134, oft missverstanden); Kreß, ZStW 115 (2003), S.  294 ff. (314 f.); wohl auch Kreutzer, Pre­ emptive Self-Defense, S.  26, 31; Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S.  61 f.; Malanczuk, Akehurst’s Int’l. Law, S. 314; indirekt Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff. (920 f.); Rothwell, UQueenslandLJ 24 (2005), Art. Nr. 23, Abschn. VII. a. E.; Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S.  94; Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S.  142 ff.; Streinz, JöR 52 (2004), S.  219 ff. (226 f.); Tomuschat, VN 2/2003, S.  41 ff. (42); ders., Jahrbuch Menschenrechte 2004, S.  121 ff. (127); Vallarta Marrón, AMexDI VIII (2008), S.  955 ff. (969); Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (498); Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (171); Wildhaber, Gewalt­verbot und Selbstverteidigung, S.  147 ff. (153 f.); Williamson, Terrorism, War, Int’l. Law, S. 123 f.; Wolfrum, MPUNYB 7 (2003), S. 1 ff. (33); Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (272). 79 Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 124; High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S. 54 f., Abschn. 188 ff. 80 Vor allem die NSS 2002/2006, s. u. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb). 81 Dictionary of Military and Associated Terms, S. 492 (26.08.2008) bzw. S. 327 (31.12. 2010), jedoch ohne auf einen näheren Inhalt des Begriffs „imminent“ einzugehen. 82 Vgl. die ausführliche Darstellung der Entwicklung u. 6. Kap. D. IV.

C. Ereignisspezifische Theorien

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of means, and no moment for deliberation“ nachgewiesen werden kann83. Diese Voraussetzungen implizierten die Möglichkeit auch vorbeugender Selbstverteidigung, und zwar unter der Bedingung, dass ein bewaffneter Angriff imminent sei, was sich allgemein aus den Kriterien „instant“ und „no moment for deliberation“ ableite84. Da diese Kriterien streng sind und sich grundsätzlich als in jedem Einzelfall besonders zu begründende Abweichung von der Gegenwärtigkeitstheorie verstehen85, sind sie in dieser Arbeit als „absolut“ gekennzeichnet – auch in Abgrenzung zu der sogleich anzusprechenden relativen Imminenztheorie. Neben den mutmaßlich86 unverändert gültigen historischen Regeln des Völkergewohnheitsrechts87, welche nicht von Art. 51 SVN außer Kraft gesetzt worden seien88, spreche für die absolute Imminenztheorie ferner der Gedanke der Notwendigkeit einer Handlung im Angesicht eines sonst unvermeidbaren Schadenseintritts89 (im Gegensatz zu einem bloß wahrscheinlichen Schaden90). Zudem beweise auch die ständige von Rechtsüberzeugung getragene Staatenpraxis die Gültigkeit der absoluten Imminenztheorie, weil sie vorbeugende Selbstverteidigung nicht per se, sondern nur unter allzu ausgedehnten Voraussetzungen ablehne91. Gestützt werde diese Auffassung auch von einem obiter dictum des IGH92 im Nicaragua-Fall93. b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen Nach der absoluten Imminenztheorie beschriebe nur die Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts eine völkerrechtlich legale Maßnahme vorbeugender Selbstverteidigung – und auch nur dann, wenn der Eintritt der (reaktiven) Selbstverteidigungslage unmittelbar bevorsteht. Dagegen wäre die Gewalthandlung der

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s. u. 6. Kap. D. IV. 2. d). Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (60 f.) 85 Vgl. Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (329); Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 205. 86 Trotz Kritik bejahend Shaw, Int’l. Law, S. 1140; vgl. zu den wenigen Gegenpositionen i. Ü. o. Fn. 67 in diesem Kap.  87 Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 124; Jennings/Watts, Oppenheim’s Int’l. Law, S. 422; McDougal, AJIL 57 (1963), S. 597 ff. (598); Rouillard, MiskolcJIL 1 (2004), S. 104 ff. (118). Rouillard geht allerdings ohne erkennbaren Anknüpfungspunkt davon aus, dass seine enge Betrachtungsweise der Imminenz historisch notwendig auf die Caroline-Kriterien der Webster-Formel zurückzuführen sind: „There is no reason to change the criterion established more than a century and a half ago.“, ibid. 88 Bowett, Self-Defense, S. 191; Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (498). 89 So bereits in Ansehung des von Atomwaffen ausgehenden Vernichtungspotentials Goodrich/Hambro, Charter (2. Aufl.), S. 300 f. 90 Koh, Comment, in: Striking First, S. 99 ff. 91 Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (331). 92 Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (315). 93 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (103), Abschn. 194.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts nach dieser Ansicht allein als rechtswidrig einzustufen. Ebenso wenig wäre die Konstellation des abgestuften Eintritts hiernach allein als rechtmäßig zu qualifizieren. 2. Relative Imminenztheorie

Noch einen Schritt weiter von der Gegenwärtigkeitstheorie entfernt sich die auf der absoluten Imminenztheorie aufbauende These, die hier als „relative Imminenztheorie“ bezeichnet werden soll. Den entscheidenden Impuls für ihre völkerrechtliche Beachtlichkeit versetzte ihr im Jahr 2003 Greenwood94. Er knüpft wie die ihm folgenden bekennenden Befürworter95 an ein zeitliches Verständnis eines unmittelbar bevorstehenden Auslösers einer Selbstverteidigungslage an96. Dessen Betrachtung soll aber im Gegensatz zur älteren absoluten Imminenztheorie nicht starr am Kriterium der Unmittelbarkeit festhalten, sondern daneben die Schwere des auslösenden Ereignisses – also Angriffsumfang und zu erwartenden Schaden – mit einbeziehen. Ähnlich wie im deutschen Gefahrenabwehrrecht97 wäre ein über die notwendige Realisierungsschwelle einer Selbstverteidigungslage hinausreichendes, gravierenderes Ereignis damit schon in fernerer als „unmittelbarer“ Zukunft ein tauglicher Auslöser einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage. Dem Verteidiger würde damit eine effektivere vorbeugende Schadensabwehr gestattet, weil er bei starrem Festhalten an dem engen Unmittelbarkeitserfordernis der absoluten Imminenztheorie bei massiven bevorstehenden Angriffen gleichwohl nicht zu einer vollkommenen Abwehr  – die ihm schon bei reaktiver Selbstverteidigung zustehen würde – in der Lage wäre98. Zwar muss der zukünftige Eintritt des schadenskausalen Ereignisses bei ungehindertem Geschehensablauf weiterhin feststehen, jedoch gestattet die relative Imminenztheorie abhängig von dessen Schwere eine flexiblere Handhabung des dem Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit innewohnenden ultima-ratio-Prinzips99, um dem Verteidiger nicht das Risiko eines scheiternden Versuchs der friedlichen Streitbeilegung oder der erfolglosen Sicherheitsratsvorlage verbunden mit dem damit einhergehenden Zeitverlust zur dann nicht mehr möglichen effektiven Schadensabwehr zuzumuten. Je gravierender sich der

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Greenwood, SDILJ 7 (2003), S. 7 ff. (15 f.). Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S.  33 ff. (43 ff.); Kunde, Präventivkrieg, S.  139 ff.; Nolte, FAZ vom 10.01.2003, zit. von Breitwieser, NZWehrr 2005, S.  45 ff. (57, dort Fn. 77); Hofmeister, AVR 44 (2006), S. 187 ff. (192 ff.); Roscini, NILR 54 (2007), S.  229 ff. (272 ff.); Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S.  18; Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (65 ff.); Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (967 ff.). Zu den sich nur implizit (auch vor Greenwood)  für diese Theorie aussprechenden Autoren vgl. sogleich den Argumentationsgang. 96 Ausdrücklich ablehnend mit entsprechender Begründung hingegen Garwood-Gowers, AustralianYIL 23 (2004), S. 51 ff. (59). 97 Dörr, Gewaltverbot, in: Randelzhofer-Symposium, S. 33 ff. (45). 98 Hofmeister, AVR 44 (2006), S. 187 ff. (196 f.). 99 s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) cc).

C. Ereignisspezifische Theorien

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zukünftige Auslöser einer Selbstverteidigungslage darstellt, desto früher darf er nach der relativen Imminenztheorie bei einer ansonsten nicht mehr als effektiv gewährleisteten Schadensabwehr gewaltsam bekämpft werden. Die dazugehörige grafische Darstellung sieht dann wie folgt aus:

Abbildung 4: Ausformungen der relativen Imminenztheorie grafisch aufgearbeitet

In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist rechtmäßig, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde, wobei der frühestmögliche Zeitpunkt der vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung in abgestuftem Verhältnis zu dem Schädigungsausmaß des auslösenden Ereignisses zu bestimmen ist. a) Argumentation Die Grundargumente für die relative Imminenztheorie entsprechen ihrem Wesen nach denjenigen der absoluten Imminenztheorie. Darauf aufbauend wird in einem weiteren Schritt für eine flexiblere Handhabung des im Ausgangspunkt starren Unmittelbarkeitserfordernisses der Rechtsgedanke der Webster-Formel auf die in der modernen Zeit im Einzelfall unterschiedlich ausfallende Zerstörungskraft eines Angriffs angepasst. Der bereits in der Streitbeilegung des Caroline-Vorfalls hervorgetretene Abwägungsgedanke werde demnach nur konsequent auf die heute bestehende größere Diskrepanz zwischen kleineren Grenzzwischen­fällen

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

und Großangriffen mit Massenvernichtungswaffen angewendet100. Die Notwendigkeit einer Handlung sei folglich aus teleologischen Gesichtspunkten flexibler zu bestimmen101. Insbesondere wenn die Existenz eines Staates gefährdet ist, seien anerkanntermaßen  – wie das Atomwaffengutachten des IGH von 1996 gezeigt habe102  – weiter reichende Gewalthandlungen zur Sicherung des eigenen Über­ lebens gerechtfertigt, sodass dieses Prinzip auch dem Unmittelbarkeitserfordernis in einer flexibleren Form zu begegnen habe103. b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen Nach der relativen Imminenztheorie läge in der Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts regelmäßig – d. h. bei im Einzelfall angepasster Interessenabwägung  – eine völkerrechtlich legale Maßnahme vorbeugender Selbstverteidigung vor. Dagegen wäre weiterhin eine Gewaltanwendung in Form der Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts nach der relativen Imminenztheorie illegal. Gleiches gilt für die Konstellation des abgestuften Eintritts. IV. Wahrscheinlichkeitsorientierte ereignisspezifische Theorien Im Gegensatz zu den zeitpunktorientierten ereignisspezifischen Theorien knüpfen die nun darzustellenden wahrscheinlichkeitsorientierten Ansichten nicht an die zeitliche Nähe des Auslösers einer Selbstverteidigungslage an, sondern an die Wahrscheinlichkeit dessen umgehender Verwirklichung. Damit haben alle wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien gemeinsam, dass in zeitlicher Hinsicht das Ereignis immer sofort einzutreten vermag. Wäre dies nicht der Fall  – bestünde also die ernstzunehmende Annahme, dass es an einer potentiellen Gegenwärtigkeit fehlt – wäre eine Gewaltanwendung von vorneherein nicht notwendig und damit rechtswidrig, weil es bei kumulierter Ungewissheit von Zeitpunkt und Wahrscheinlichkeit104 immer ein milderes Mittel als Gewalt zur Abwendung der Gefahr gibt105. Solche Faktenlagen entsprächen im Übrigen der Konstellation des Kalten Krieges, welcher als solcher unbestrittenermaßen zu keiner Gewaltanwendung be 100

Greenwood, SDILJ 7 (2003), S. 7 ff. (16); Kurth, ZRP 2003, S. 195 ff. (196 f.); Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (273); Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (967). 101 Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (503 ff.); zumindest als Option diskutierend Herdegen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (354 f.); andeutend Radke, Staatsnotstand, S. 44; in der Herleitung differenzierend Wilmshurst, ICLQ 55 (2006), S. 963 ff. (968). 102 ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (265 ff.), Abschn. 105; s. i. Ü. u. 8. Kap. C. I. 3. 103 Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (792, 795); Kunde, Präventivkrieg, S. 140 f.; andeutend auch Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (66). 104 Die Vagheit einer solchen unter Kumulation mit zeitpunktorientierten Gesichtspunkten erzeugten Konstellation ließe sich unter Bezugnahme von Abbildung 1 (s. o. 4. Kap. C. I.) wie folgt wiedergeben: „Es könnte sein, dass bald ein schädigendes Ereignis bevorstehen wird.“ 105 Klarstellend auch Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff. (221).

C. Ereignisspezifische Theorien

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rechtigt hätte. Dies ist zugleich der historische wie gewohnheitsrechtliche Beleg dafür, dass – bildlich gesprochen – ohne jede Achsenberührung eines Ereignisses alle Gewaltanwendung unrechtmäßig ist. Ist jedoch die Möglichkeit eines sich jederzeit verwirklichenden Schadens­ auslösers gegeben, stellt sich die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen vorbeugende Selbstverteidigung zulässig sein kann. Eine Antwort darauf versuchen die sich grafisch vom Nullpunkt der Gegenwärtigkeitstheorie auf der Y-Achse hinwegbewegenden Thesen zu geben, welche hier als „Evidenztheorie“, „Indikationstheorie“ und „Latenztheorie“ bezeichnet werden. 1. Evidenztheorie

Die Befürworter106 der hier „Evidenztheorie“ genannten Ansicht lassen vorbeugende Selbstverteidigung unter Wahrscheinlichkeitsaspekten lediglich dann zu, wenn das jederzeit mögliche Eintreten einer reaktiven Selbstverteidigungslage evident erscheint. Zwar sind hierbei die Prognoseerkenntnisse nicht vollständig gesichert, verdichten sich aber zu dem Ergebnis einer fast an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der umgehend zu erwartenden Materialisierung eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses. Die Evidenztheorie kann damit als Bereichsausnahme der Gegenwärtigkeitstheorie qualifiziert werden, weil sie deren grundsätzlich strenge Maßstäbe auf die für jedermann greifbare Wahrscheinlichkeit eines Schadensauslösers ausweitet. Sie verhält sich damit ihrer Strenge nach zur Gegenwärtigkeitstheorie auf Wahrscheinlichkeitsebene ähnlich wie die absolute Imminenztheorie auf zeitlicher Ebene. Da aber in der Völkerrechtslehre bedauerlich häufig nur unscharf zwischen zeitpunkt- und wahrscheinlichkeitsorientierten Ansätzen unterschieden wird, überschneiden sich zum Teil  auch die Ansichten zu diesen beiden Theorien107. Dass die Evidenztheorie im Vergleich zur absoluten Imminenztheorie vergleichsweise wenige Anhänger auf sich vereinigen kann, liegt formell an der grundsätzlich zeitlich aufzufassenden Formulierung des unmittelbaren Bevorstehens. Lediglich in den Fällen, in welchen explizit eine Bemerkung zu Wahrscheinlichkeitsaspekten geäußert wurde, konnte daher eine Befürwortung der Evidenztheorie festgestellt werden108.

106

Shah, JCSL 12 (2007), S. 95 ff. (118: „high degree of certainty“); Tomuschat, Leviathan 31 (2003), S. 450 ff. (459 f.). 107 Vgl. die Aufzählung bei Schindler, Grenzen des Gewaltverbots, S. 11 ff. (16, dort Fn. 12). 108 Vgl. exemplarisch einerseits mit zeitpunktorientiertem Bezug Tomuschat, VN 2/2003, S. 41 ff. (42), bzw. ders., Jahrbuch Menschenrechte 2004, S. 121 ff. (127), und andererseits mit wahrscheinlichkeitsorientiertem Bezug ders., Leviathan 31 (2003), S. 450 ff. (460); mit Bezug (wohl alternativ) auf beide Anknüpfungspunkte Freiherr von Lepel, HuV 16 (2003), S. 77 ff. (79).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Grafisch lässt sich die Evidenztheorie folgendermaßen beschreiben:

Abbildung 5: Die Evidenztheorie grafisch aufgearbeitet

In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist rechtmäßig, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis mit sich aufdrängend hoher Wahrscheinlichkeit eintreten könnte. a) Argumentation Für die Evidenztheorie spreche zunächst die teleologische Auslegung von Art. 51 SVN, weil ihr Wortlaut allein nicht als „Zwangsjacke“ betrachtet werden dürfe109. Sinn der Vorschrift sei eine wirksame Verteidigung, welche gefährdet sei, wenn man von einem Angriffsopfer erwarte, auf einen konkret vorhersehbaren, gleichsam unabwendbaren Geschehensablauf gleichwohl noch nicht reagieren zu dürfen110. Es sei infolgedessen im Sinne der eigenen staatlichen Integrität nicht zumutbar, nur um des Nicht-Handelns willen das eigene Risiko dramatisch zu er 109

Kamp, IP 6/2004, S. 42 ff.; Tomuschat, Leviathan 31 (2003), S. 450 ff. (460). Tomuschat, Leviathan 31 (2003), S. 450 ff. (460), und ihn in diesem Punkt übernehmend Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S.  143 ff. (161), schreiben diese auf die Evidenztheorie zugeschnittene Formulierung ungenau der von Dinstein entwickelten interceptive self-defence zu (s. o. 2. Kap. A. VII.), obwohl Dinstein dabei gerade einen schon in Erscheinung getretenen Schadensauslöser voraussetzt. Inhaltlich vertreten die beiden erstgenannten Autoren damit durchaus die Evidenztheorie, auch wenn sie sich formell nicht direkt dazu bekennen. 110

C. Ereignisspezifische Theorien

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höhen111; damit soll wohl auf eine Verschiebung der Abwägungskriterien beim Merkmal der Notwendigkeit im Falle der Evidenztheorie wiederum aus teleologischen Gründen hingewirkt werden112. Zugleich könne Gewaltanwendung über diese Ausnahme hinaus nicht rechtmäßig sein, weil dies nach dem weiterhin nicht zu vernachlässigenden Wortlaut von Art. 51 SVN nicht gedeckt wäre. b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen Die Evidenztheorie führt zu einer rechtmäßigen Gewaltanwendung in der Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts, wenn die ihr zu Grunde liegenden Indizien den Schluss auf eine fast an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit einer jederzeit möglichen reaktiven Selbstverteidigungslage zulassen. Im Übrigen vermag diese These eine Rechtmäßigkeit weder in der Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts noch in jener des abgestuften Eintritts zu begründen. 2. Indikationstheorie

Die der Evidenztheorie folgende Abstufung auf Wahrscheinlichkeitsebene wird hier als „Indikationstheorie“ bezeichnet. Sie stellt weniger hohe Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit des gegenwärtigen Eintritts eines Schadensauslösers als die zuvor genannte These, weil sie hierfür keine fast an Sicherheit grenzende, sondern nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit fordert. Dabei verlangt sie aber zur Absicherung einer gewissen Verlässlichkeit der Prognose einen oder mehrere konkrete Indikatoren dafür, dass eine reaktive Selbstverteidigungslage mit hinreichender Wahrscheinlichkeit jederzeit eintreten kann. a) Fallgruppen Im Rahmen dieser Theorie werden regelmäßig verschiedene Fallgruppen von Indikatoren für möglich gehalten, welche sowohl alternativ als auch kumulativ erfüllt sein können:

111

Kamp, IP 6/2004, S. 42 ff. Vgl. zur Wiedergabe des Argumentationsganges auch Kittrich, Self-Defense, S.  162 ff., sowie von Buttlar, Rechtsstreit oder Glaubensstreit, in: FS-Ress, S. 15 ff. (22 ff.), und deren jeweils anschließende kritische Würdigung. 112

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

aa) Eindeutige Vorbereitungshandlungen (Fallgruppe 1) Nach einem Ansatz müssen bei dritten Akteuren – Staaten oder Privaten – eindeutige Vorbereitungshandlungen festzustellen sein, welche unweigerlich auf das Eintreten einer jederzeit möglichen reaktiven Selbstverteidigungslage hindeuten. Insbesondere gelte dies bei transnationalen terroristischen Vereinigungen, wenn ihre Entwicklung oder Mittelbeschaffung ein Ausmaß annimmt, welches angesichts des originären Zwecks einer solchen Vereinigung nur mit einem geplanten Angriff zu erklären ist113. Diesem Gedanken entspricht auch das Fallbeispiel einer akuten Krise zwischen zwei Staaten, innerhalb welcher sich der Besitz erheblicher Mengen von Angriffswaffen offenbart114. Ein weiterer Fall für eine eindeutige Vorbereitungshandlung wäre ein im gegenwärtigen Zeitalter moderner Computertechnologie anhand von Datenverarbeitungsvorgängen abzuleitendes virtuelles Planen eines schädigenden Ereignisses115. Neben diesen Einzelfallbeispielen wären weitere ebenso nahe liegende Vorbereitungshandlungen in Ansehung eines wahrscheinlichen Angriffs denkbar. Indikator wäre dann jeweils diese typische und zielgerichtete Vorbereitungshandlung. bb) Multiplikationslösung (Fallgruppe 2) Einen weiteren, nicht starr auf Vorbereitungshandlungen abstellenden Indikator hat Doyle116 mit seiner sog. Multiplikationslösung entwickelt. Überschreiten die von ihm so bezeichneten Faktoren „Letalität“ (des potentiellen Ereignisses), „Wahrscheinlichkeit“ (dessen tatsächlichen Eintritts), „Legitimität“ (der Gewalthandlung) und „Legalität“ (des Ursprungs des Ereignisses) in ihrer Gesamtschau eine gewisse Intensitätsschwelle117, so sei ein gewaltsames Vorgehen gegen ein dadurch indiziertes Ereignis rechtmäßig. Im Unterschied zu anderen Indikatoren gleicht Doyle mit seiner Lösung eine geringere Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintritts mit fehlender rechtlicher und moralischer Verankerung seines Ausgangspunktes aus; folglich wäre bei gleich geringer Wahrscheinlichkeit eine Gewalthandlung gegen einen Staat eher unrechtmäßig, gegen eine Terrororganisation dagegen eher rechtmäßig118. Zwar können nach dem dieser Arbeit zu Grunde liegenden völkerrechtlichen Primat solche Legitimitätserwägungen nicht zur Bewertung der Rechtmäßigkeit beitragen119, doch ist zumindest die Bezugnahme auf eine mögliche Legalität des Ereignisursprungs nicht von vorneherein unvertretbar. 113

Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (174). Kurtulus, MidEastJ 61 (2007), S. 220 ff. (225 ff.). 115 Robertson, Self-Defense under Int’l. Law, in: Computer Network Attack, S. 121 ff. (139). 116 Doyle, Standards, in: Striking First, S. 43 ff. 117 Doyle, Standards, in: Striking First, S. 43 ff. (63). 118 s.  dazu die historischen Fallbeispiele von Doyle, Standards, in: Striking First, S.  43 ff. (83). 119 s. o. 1. Kap. B. II. 114

C. Ereignisspezifische Theorien

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Damit könnte die Multiplikationslösung von Doyle zumindest hinsichtlich der drei übrigen Faktoren einen tauglichen Indikator im Sinne der Indikationstheorie begründen. Unterstützt wird Doyle in seiner Ansicht von McMahan, der die genannte Formel jedoch um den Faktor „Verantwortlichkeit“ (des Ereignisursprungs) ergänzt haben möchte120. cc) Bereits abgeschlossene Selbstverteidigungslage (Fallgruppe 3) Ein anderer Indikator könnte ein Ereignis sein, das bereits zuvor eine Selbstverteidigungslage ausgelöst hatte121. Wäre eine Selbstverteidigungshandlung noch nicht erfolgt122 und auch auf Grund nunmehr fehlender Unmittelbarkeit zur eigentlich vorliegenden reaktiven Selbstverteidigungslage nicht mehr rechtmäßig123, könnte in Einzelfällen dennoch eine Gewalthandlung unter vorbeugender Selbstverteidigung legal sein, wenn die im konkreten Fall mit dem abgeschlossenen Ereignis einhergehenden Umstände deutlich darauf hinweisen, dass ein weiteres, ähnlich gelagertes und hieran anknüpfendes Ereignis zu erwarten ist124. Eine solche Konstellation würde gleichsam eine Grauzone zwischen reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung beschreiben, wenn das Unmittelbarkeitserfordernis der reaktiven Selbstverteidigungshandlung allzu sehr ausgedehnt scheint, zugleich aber derselben Quelle zuzuordnende weitere Schadensauslöser zu befürchten sind. Hielt man z. B. das US-amerikanische Vorgehen gegen Afghanistan125 nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 (wohl zu Recht) nicht mehr für unmittelbar und damit unter Gesichtspunkten reaktiver Selbstverteidigung für rechtswidrig126, könnte es unter Anwendung der Indikationstheorie als vorbeugende Selbstverteidigungshandlung – zumal das Hauptmotiv die Verhinderung weiterer Schäden war – legal gewesen sein, da von al-Qaida, die von Afghanistan aus frei operieren konnte, im Zuge ihrer fortwährenden Anschläge weitere ähnliche Maßnahmen gegen vergleichbare Ziele zu befürchten waren127. Teilweise wird diese 120

McMahan, Comment, in: Striking First, S. 129 ff. (147). Im Gegensatz zu kumulativ unterhalb der Schwelle eines Auslösers liegenden Ereignissen im Sinne der accumulation-of-events-Doktrin, s. u. 4. Kap. C. V. 122 Klarstellend Minnerop, Paria-Staaten, S. 467. 123 s. dazu o. 3. Kap. B. II. 2. b) bb). 124 Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S.  271 ff.; andeutend Gardam, ­Necessity, Proportionality, Force, S. 179, sowie Occelli, SDILJ 4 (2003), S. 467 ff. (484). Im Umkehrschluss folgt dies auch aus der Bemerkung von Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 199, wonach die Rechtmäßigkeit von Gewaltanwendung nur im Falle eines beendeten Angriffs ohne „die Gefahr einer weiteren Attacke“ verneint wird. 125 s. dazu u. 8. Kap. B. II. 1. 126 Für die Einordnung als reaktive Selbstverteidigung wegen angenommener Wahrung des Unmittelbarkeitserfordernisses aber z. B. Schaller, Friedenssicherungsrecht und Terrorismus, S. 14, m. w. N. 127 Rockefeller, DenverJILP 33 (2004), S. 131 ff. (138), spricht in diesem Zusammenhang von „zyklischer“ Gewaltanwendung. 121

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Fallgruppe nur zur Terrorismusbekämpfung für anwendbar erklärt128, was jedoch an der Feststellung eines gewissen grundsätzlichen Zuspruchs für diese Form der Indikationstheorie nichts ändert. dd) Sonstige bereits erlittene Schädigungen (Fallgruppe 4) Hieran anknüpfend könnten konsequenterweise auch für sich genommen kleinere, unterhalb der Realisierungsschwelle für reaktive Selbstverteidigung anzusiedelnde Ereignisse, die aber in ihrer Gesamtheit als ein fingiertes Ereignis diese Schwelle überschreiten würden129, ein Indikator für ein wahrscheinlich auftretendes, darauf folgendes auslösendes Ereignis einer reaktiven Selbstverteidigungslage sein130. Typischerweise ist wiederum die Terrorismusbekämpfung ein Anwendungsfall hierfür: Sollte jeder einzelne kleinere Anschlag nicht zum Auslösen reaktiver Selbstverteidigung ausreichen131, so täte dies doch die Summe der bisher geschehenen, wenn das Äquivalent hierfür ein einziger massiver Anschlag ge­wesen wäre. Unabhängig von der Frage, ob man diese Summe  – wie es die ­accumulation-of-events-Doktrin besagt – als ein auslösendes Ereignis für reaktive Selbstverteidigung betrachten möchte, kann doch die bereits durch Kontinuität erlittene Schwere des Gesamtschadens in Verbindung mit eben dieser Kontinuität auf weitere diesen Schaden vervielfachende Ereignisse schließen lassen132. Damit würde also die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines sich jederzeit realisierbaren, eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses indiziert. ee) Zusammenfassung: Der indikationsspezifische Verknüpfungszusammenhang Zusammenfassend ist festzustellen, dass all diese beispielhaften Fallgruppen ihren Denkansätzen nach auf ein gemeinsames Erfordernis zurückzuführen sind: 128 Grote, Categories for Assessing Use of Force, in: Terrorism as a Challenge for National and Int’l. Law, S. 951 ff. (979). 129 Dies ist ein Teil  der später zu diskutierenden accumulation-of-events-Doktrin, welche im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung auch in der Gesamtheit der ihr zu Grunde liegenden kleineren Ereignisse von einer noch nicht überschrittenen Realisierungsschwelle ausgeht, s. u. 4. Kap. C. V. 130 Feinstein, IsraelLR 20 (1985), S.  362 ff. (386 ff.); Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 165, 179; Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 203 f.; Kunde, Präventivkrieg, S. 154 ff.; Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff. (158 f.). 131 Unabhängig von einer konkret zu definierenden Realisierungsschwelle einer Mindestbeschaffenheit des Ereignisses, die in dieser Arbeit nicht thematisiert werden soll, s. o. 3. Kap. B. I. 2. a) aa) (2). 132 Ausdrücklich Johnstone, ColumbiaJTL 43 (2005), S.  337 ff. (373), m. w. N.; ähnlich Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 273; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 231.

C. Ereignisspezifische Theorien

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Notwendigerweise ist nach der Indikationstheorie immer eine logische Verknüpfung zwischen Indikator und dem indizierten zukünftigen Auslöser einer dann reaktiven Selbstverteidigungslage in ihrer konkreten Gestalt zu fordern, weil ansonsten der Indikator nicht auf den spezifisch zu verhindernden zukünftigen Schaden hinzudeuten in der Lage wäre. Bei Fallgruppe 1 wäre dies die auf einen konkreten Angriff ausgelegte Zielrichtung der Vorbereitungshandlung, bei Fallgruppe 2 die Verknüpfung der drei übrig gebliebenen tauglichen Multiplikatoren sowie bei den Fallgruppen 3 und 4 die bereits zuvor zu verzeichnende Opfereigenschaft des sich gegen ein bekanntes Ziel vorbeugend verteidigenden Staates als denk­barer prima-facie-Beweis weiterer schädigender Ereignisse. Zudem muss bei sämtlichen Fallgruppen das zu verteidigende zukünftige Angriffsziel hinreichend bestimmbar sein. Diese der Indikationstheorie  – auch in Abgrenzung zu anderen Theorien133  – notwendigerweise innewohnende Verknüpfung der konkretisierten Schadensquelle mit dem durch sie wahrscheinlich zu verursachenden konkreten Schaden wird hier als „indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang“ bezeichnet. Er zeichnet sich durch seine konkrete Individualisierbarkeit von Schadensursache und -wirkung aus und beschreibt zudem die in seinen geringeren Anforderungen festzustellende Unterscheidung zur Evidenztheorie. Stark vereinfacht lässt sich auch die Indikationstheorie in all ihren Ausformungen grafisch darstellen:

Abbildung 6: Die Indikationstheorie grafisch aufgearbeitet. Der Indikator ist hierbei nicht notwendigerweise als ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis aufzufassen und kann auch aus mehreren Elementen bestehen 133

Insb. zur Latenztheorie, s. sogleich unter 3.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist recht­ mäßig, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten könnte, wobei die Wahrscheinlichkeit auf Grund vorheriger Geschehnisse, die einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang begründen, indiziert sein muss. b) Argumentation Zum einen wird die Indikationstheorie im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung noch als vom Wortlaut des Art. 51 SVN umfasst angesehen, weil bereits geschehene Anschläge  – insbesondere nach den Fallgruppen 3 und 4  – im Sinne eines bewaffneten Angriffs aufzufassen seien und zugleich das der Norm immanente Unmittelbarkeitserfordernis der Handlung teleologisch im Lichte der Terrorismusbekämpfung flexibler zu handhaben sei134. Zwar habe die Terrorismusbekämpfung als solche stets das Verhindern zukünftiger Anschläge zum Ziel, knüpfe aber an bereits Geschehenes an, sodass diese Erwägungen noch der Gegenwärtigkeitstheorie zuzuordnen sein sollen135. Diese Argumentation möchte offensichtlich formell an der Gegenwärtigkeitstheorie festhalten, zielt aber inhaltlich explizit auf vorrangige vorbeugende Aspekte ab, sodass sie richtigerweise – auch im Sinne der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Definition vorbeugender Selbstverteidigung – der Indikationstheorie zuzuordnen ist. Dafür spricht auch das auf die Terrorismusbekämpfung bezogene und gleichwohl der vorbeugenden Selbstverteidigung zugeordnete Argument, dass bei einem Indikator eines zukünftigen Ereignisses, der bereits mit einem Schaden verbunden war, ein weiteres Abwarten auf weitere Prognoseerkenntnisse schlicht nicht zumutbar sei136. Der bereits durch Gewalt erlittene Schaden verringere gleichsam die Schutzwürdigkeit des Zieles der auf Grund eines Indikators vorgenommenen vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung137. Im Lichte der Terrorismusbekämpfung als modernes völkerrechtliches Phänomen wird ferner eine Fortentwicklung des Tatbestandsmerkmals der Notwendigkeit propagiert; das ultima-ratio-Prinzip könne nach dessen Sinn und Zweck angesichts der modernen Faktenlage nicht mehr nur unter rein temporalen Gesichtspunkten effektiv erfüllt werden138. Stattdessen erfordere es das Abstellen auf Indikatoren, weil auf Grund des hohen Vernichtungspotentials terroristischer Angriffe ein Einschreiten erst bei absoluter Sicherheit der Fakten des Einzelfalles zu 134

Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 273. Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 283. 136 Minnerop, Paria-Staaten, S. 467. 137 Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 179. 138 Rockefeller, DenverJILP 33 (2004), S. 131 ff. (138 f., 144).

135

C. Ereignisspezifische Theorien

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spät sein könnte139. Diese Erwägungen entsprechen zum Teil solchen der relativen Imminenztheorie auf zeitlicher Ebene140, sodass von Vertretern der Indikations­ theorie nicht notwendigerweise die zeitpunktorientierten Theorien abgelehnt, sondern diese durch die Indikationstheorie ergänzt werden141. Darüber hinaus machen sich auch Vertreter der Indikationstheorie die Erkenntnisse der Webster-Formel zu eigen, welche ihrem Inhalt nach auch auf die Rechtmäßigkeit von Gewaltanwendung auf Grund eines indizierten schädigenden Ereignisses abstelle142. c) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen Nach der Indikationstheorie wäre eine Gewaltanwendung bei den meisten unter der Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts denkbaren Sachverhalten rechtmäßig, wenn sie auf Grund eines entsprechenden Indikators erfolgte. Ebenso führte die Konstellation des abgestuften Eintritts in ihrer Variante a) zur Legalität von Gewaltanwendung, also wenn die abgeschlossenen abgestuften Eingriffe in ihrer Summe einem tauglichen Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage – und damit einem Indikator für eine vorbeugende Selbstverteidigungslage – entsprechen. Die Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts wird hingegen allein noch nicht von der Indikationstheorie abgedeckt. 3. Latenztheorie

Am weitesten entfernt vom Nullpunkt der Gegenwärtigkeitstheorie bewegt sich auf Wahrscheinlichkeitsebene die hier unter dem Namen „Latenztheorie“143 geführte Ansicht144. Sie erlaubt bereits dann vorbeugende Selbstverteidigungshandlungen, wenn sich ein schadenskausales Ereignis als Folge einer abstrakten (aber latenten) Gefahr unabhängig von der Höhe der Wahrscheinlichkeit seines tatsäch 139

Rockefeller, DenverJILP 33 (2004), S. 131 ff. (143 ff.). s. o. 4. Kap. C. III. 2. 141 So zwar nicht ausdrücklich, aber inhaltlich Rockefeller, DenverJILP 33 (2004), S. 131 ff. (139, 143). 142 Feinstein, IsraelLR 20 (1985), S. 362 ff. (388); Robertson, Self-Defense under Int’l. Law, in: Computer Network Attack, S. 121 ff. (140). 143 Oft wird diese Ansicht „präemptiver Selbstverteidigung“ zugeordnet, jedoch wird dieser Begriff hier mit Bedacht im Hinblick auf die dargestellte Begriffskonfusion (s. o. 2. Kap. A.) vermieden. 144 Die Latenztheorie wird befürwortet von Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff.; Darby, Pre-emption, in: FS-Ress, S.  29 ff.; Schildkraut, MinnesotaJIL  16 (2007), S.  193 ff.; Smith, ­YaleJIL 19 (1994), S. 455 ff.; Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff.; ders., International Security, in: Progress in Int’l. Law, S. 541 ff.; Taft IV, The Legal Basis for Preemption; ders., ASIL Proc. 98 (2004), S. 331 ff.; ders./Buchwald, AJIL 97 (2003), S. 557 ff. (563); Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. 140

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

lichen Eintritts und ohne indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang zumindest jederzeit (und zu ergänzen wäre das häufig Unausgesprochene: an jedem Ort) zu Lasten des sich vorbeugend Verteidigenden materialisieren könnte, also gleichsam latent „in der Luft“ liegt. Die Latenztheorie nimmt damit nach Ansicht mancher Autoren eine „Ausweitung des Imminenzkonzepts“145 vor, weil sie ihr Hauptaugenmerk auf die Größe der zu begegnenden Gefahr richte146. Anders als die relative Imminenztheorie wägt die Latenztheorie nicht trennscharf zwischen Schwere und Entfernung des Auslösers einer reaktiven Selbstverteidigungslage ab, sondern blickt pauschal auf den zu befürchtenden Schaden und lässt in Ansehung dessen eine lediglich als angemessen qualifizierte Handlung zu147, welche am Maßstab eines vernünftigen (dritten) Staates bewertet werden soll148. Angemessenheit sei in diesem Sinne typischerweise dann zu bejahen, wenn angesichts der jederzeitigen Verwirklichungsgefahr eines zu befürchtenden massiven Schadens von im Vorfeld nicht zu ermittelnder Herkunft gewaltlose Alternativmaßnahmen als aussichtslos erscheinen149. Im Einzelfall sollen zur Annahme dieser Angemessenheit i. d. R. zwei Voraussetzungen zu erfüllen sein150: Erstens muss das Ziel der mutmaßlichen vorbeugenden Verteidigungshandlung das (militärische)  Potential zum Auslösen einer Selbstverteidigungslage besitzen und zweitens muss es subjektiv den Willen haben, gegenwärtig oder in absehbarer Zeit  – jedenfalls so schnell wie möglich  – von diesem Potential zur Schädigung des sich auf vorbeugende Selbstverteidigung Berufenden Gebrauch zu machen. Dies trifft typischerweise wiederum auf terroristische Vereinigungen zu. Nur wird nach der Latenztheorie – im Gegensatz zur Indikationstheorie  – nicht mehr notwendigerweise ein konkreter Indikator eines wahrscheinlichen schadenskausalen Ereignisses gefordert, sondern es soll die bloße Existenz eines gewissen Zerstörungspotentials Dritter ausreichen. Nur so könne der terroristischen Gefahr, welche sich i. d. R. aus dem Verborgenen heraus materialisiert, wirksam entgegengetreten werden151. Wichtig ist hier die Abgrenzung zu einer von vorneherein nicht mehr auch nur ansatzweise unter vorbeugender Selbstverteidigung zu diskutierenden Konstellation kumulierter Unsicherheit von Zeit und Wahrscheinlichkeit  – also eines nur möglicherweise und dann auch nur später bevorstehenden Ereignisses152  – klar­ 145 Und zwar über eine rein zeitliche Betrachtungsweise hinaus, vgl. Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (490). 146 White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S.  235 ff. (236); Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (572). 147 Sofaer, International Security, in: Progress in Int’l. Law, S. 541 ff. (561). 148 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1397), spricht von einem sog. „reasonable state standard“. 149 Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff. (220 ff., 223). 150 Vgl. dazu Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (575). 151 Vgl. auch die Darstellung bei Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 311 f. 152 s. o. Darstellung 1, 4. Kap. C. I.

C. Ereignisspezifische Theorien

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zustellen: Die Latenztheorie geht sehr wohl – jedenfalls theoretisch – davon aus, dass sich ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis jederzeit aus einer konkreten Gefahr heraus verwirklichen kann; lediglich an die Wahrscheinlichkeit des sofortigen Eintritts werden geringe Anforderungen gestellt. In grafischer Darstellung lässt sich dies wie folgt illustrieren:

Abbildung 7: Die Latenztheorie grafisch aufgearbeitet

In einem Satz zusammengefasst: Vorbeugende Selbstverteidigung ist rechtmäßig, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis auf Grund einer latenten Gefahr eintreten könnte. a) Argumentation Zur Begründung der Latenztheorie ist historisch bedingt zwischen zwei argumentativen Ansätzen zu unterscheiden, und zwar zwischen der Argumentation vor der erstmaligen Veröffentlichung der sog. Bush-Doktrin im Jahr 2002153 einerseits sowie der sich hiernach auf sie stützenden Argumentation andererseits. Die Latenztheorie ist nämlich kein Produkt der beiden NSS 2002/2006 unter der Administration des ehemaligen US-Präsidenten Bush jun.154, jedoch erhielt sie dadurch 153

Kodifiziert durch die NSS 2002 und bestätigt durch die NSS 2006, vgl. auch o. Fn. 51 im 2. Kap. 154 Dies stellt ausdrücklich z. B. Moore, ASIL Proc. 98 (2004), S.  325 ff., klar. Die Aus­ arbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie ist i. Ü. für jede US-Regierung gegenüber dem

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

zahlreiche neue Impulse und einen nicht zu verachtenden Aktualitätsbezug. Angesichts des dadurch hervorgerufenen zeitlichen Wendepunktes im Jahr 2002 sollen nun beide Argumentationsstränge getrennt voneinander erwähnt sowie letzterer angesichts seiner gegenwärtigen Relevanz genauer dargestellt werden. aa) Die Zeit vor Veröffentlichung der NSS 2002 Vor dem Jahr 2002 waren die – wenigen – die Latenztheorie befürwortenden Stimmen zumeist in Verbindung mit einem weltpolitisch relevanten Ereignis zu vernehmen155. Besonders während der Kuba-Krise 1962156 und diversen Kampfhandlungen des Staates Israel in seiner unmittelbaren Nachbarschaft mit dem vorläufigen Höhepunkt der Zerstörung eines irakischen Atomreaktors 1981157 traten die Vertreter der Latenztheorie in Erscheinung158. Bekräftigt wurden sie seitens der US-Regierung unter Präsident Reagan durch eine unter dem Namen Shultz-Dok­ trin im Jahr 1984 bekannt gewordene politische Leitlinie159; auch weitere US-amerikanische Strategien brachten Gedankenansätze der Latenztheorie hervor160. Der Argumentationsgang verlief dabei nach folgendem Schema: Da das System kollektiver Sicherheit nicht nach den ursprünglichen Vorstellungen der Verfasser der SVN funktioniere, sei es aus Gründen der einzelstaatlichen Sicherheit erforderlich, das Selbstverteidigungsrecht in größerem Ausmaß zu interpretieren. Im Übrigen hätten sich die Urheber der SVN auch nicht gegen eine solch weite Inter-

Kongress gem. Section 603 des Goldwater-Nichols Department of Defense Reorganization Act (1986) verpflichtend, daher wurde auch die Bush-Doktrin zweimal  – jeweils einmal für jede Amtszeit der Bush-Administration – als NSS 2002/2006 kodifiziert; s. insg. Meiertöns, ­Doctrines, passim. Ein solches Strategiedokument entfaltet keine unmittelbare Außenwirkung, kann jedoch als Ausdruck der Rechtsüberzeugung der letzten verbliebenen Supermacht das völkerrechtliche Geschehen maßgeblich beeinflussen und womöglich auch zur Völkerrechtsentwicklung beitragen. Vgl. dazu ferner Kamp, Von Prävention zu Präemption?, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 125 ff. (125), sowie ausführlich Kunde, Präventivkrieg, S. 173 f., und jüngst Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. (738 ff.). 155 Capezzuto, NYLSJICL 14 (1993), S.  375 ff. (393 ff., insb. 398 f.); McCormack, Self-­ Defense, passim; Reisman, HoustonJIL 22 (1999), S.  4 ff. (18); Shoham, MilitaryLR 109 (1985), S. 191 ff. (194); Smith, YaleJIL 19 (1994), S. 455 ff. (493 ff.). 156 s. u. 8. Kap. B. I. 5. 157 s. u. 8. Kap. B. I. 15. 158 Vgl. auch Hill, ASIL Proc. 98 (2004), S. 329 ff. (329); Trachtenberg, Preventive War, in: Preemption, S. 40 ff. (46 ff.). 159 Benannt nach dem seinerzeitigen US-Außenminister George P. Shultz, offiziell als National Security Directive bezeichnet, s. dazu z. B. Sofaer, MilitaryLR 126 (1989), S. 89 ff. 160 Dies waren vor allem die National Security Decision Directive 207 von 1986, die Defense Planning Guidance von 1992 (hierzu lesenswert Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 80 ff.), die National Security Strategy for a New Century von 1998 und die National Security Strategy for a Global Age von 2000; s. umfassend zur Entwicklung all dieser Strategien nur Reisman/ Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (529 ff.).

C. Ereignisspezifische Theorien

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pretation versperren wollen161. Im Ergebnis sei eine Selbstverteidigungshandlung aus teleologischen Gründen in Vorbeugung bereits dann zulässig, wenn eine Gewalthandlung aus Sicht des bedrohten Staates vernünftig erscheint162. Zudem habe sich die Latenztheorie in der Staatenpraxis bewährt, wie sich in Anlehnung an die Lehren des klassischen Völkerrechts gezeigt habe: Gewalt sei rechtens, wenn sie auf eine hinreichende Bedrohungslage und eine sichtbare Verletzungsabsicht des mutmaßlichen Verteidigungsziels erfolgt sowie ein weiteres Abwarten als unzumutbar erscheint163. Dieses letzte Argument bewegt sich freilich außerhalb des Völkerrechts und kann daher in dieser Arbeit keine ernsthafte Beachtung finden; jedoch ist es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, weil die Latenztheorie sich jedenfalls vor 2002 generell in einem Randbereich des Völkerrechts bewegte. Inwiefern sie nach Veröffentlichung der NSS 2002 sowie in deren wissenschaftlichem Nachhall eine völkerrechtliche Konturenschärfe erlangen konnte, ist in den nun folgenden Ausführungen zu ermitteln. bb) Die Zeit nach Veröffentlichung der NSS 2002 Das Konzept der beiden NSS der Bush-Administration polarisierte die Völkerrechtswissenschaft164. Die durch die beiden Bush-NSS zum Ausdruck gebrachte und in ihrer Existenz gestärkte Latenztheorie hat seitdem deutlich mehr Anhänger165, welche sich nun um eine völkerrechtliche Herleitung bemühen. Die Re­ aktionen auf die NSS 2002 und deren Gefolgschaft waren mannigfaltig: Von Erstaunen („wie ein Phönix aus der Asche“166) über dringende Zustimmung aus mutmaßlicher faktischer Notwendigkeit heraus167 bis hin zu Entsetzen („ohne Sinn und Verstand“168) war der jeweiligen rechtspolitischen Motivation169 entsprechend alles Denkbare zu vernehmen. Die deutlich unterschiedlichen Reaktionen erklären sich angesichts des umstrittenen Inhalts der häufig als unpräzise170 empfundenen NSS 2002, welcher of 161

McDougal, AJIL 57 (1963), S. 597 ff. (599 f.). McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 207 ff., insb. 241. Vgl. auch die im zeitgeschichtlichen Kontext entstandene Darstellung (mit im Ergebnis ablehnender Bewertung) von Schachter, AJIL 83 (1989), S. 259 ff. (272 f.). 163 Walzer, Just and unjust wars, S. 81. 164 Ausführlich dazu auch mit historischem Hintergrund Trachtenberg, Preventive War, in: Preemption, S. 40 ff., m. w. N. 165 s. o. Fn. 144 in diesem Kap. 166 Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (599). 167 Auch in der deutschen Literatur wahrnehmbar z. B. durch Gose, HuV 16 (2003), S. 121 ff. 168 Vallarta Marrón, AMexDI VIII (2008), S. 955 ff. (981), schrieb im Original: „sin ton ni son“. Krit. ebenso Anghie, ASIL Proc. 98 (2004), S. 326 ff. 169 Vgl. Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (600). 170 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 221; Hofmeister, AVR 44 (2006), S. 187 ff. (189 ff.). 162

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

fensichtlich unter den Einflüssen der Terroranschläge des 11.  September 2001 entstand171. Im Wesentlichen basierend auf einer von Bush jun. am 1. Juni 2002 gehaltenen Rede an der US-Militärakademie West Point172 sagt die NSS 2002 (und daran anknüpfend ihr Nachfolgedokument 2006) in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung Folgendes aus: (1) Zum Inhalt der Bush-Doktrin Eine der Handlungsmaximen173 der NSS 2002/2006174 ist das unter den hier dargestellten Voraussetzungen der Latenztheorie verstandene Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung. Wenn notwendig, werden die Vereinigten Staaten in Ausübung dieses Rechts auf Selbstverteidigung gegen Terroristen „präemptiv“ vor­gehen175. Dies verlangten die so bezeichneten neuen tödlichen Herausforderungen, welche von Terroristen und „Schurkenstaaten“176 hervorgebracht worden seien177. Zur Fähigkeit dieser Rechtsausübung müssten die USA bereit sein, bevor Terroristen oder „Schurkenstaaten“ sie oder ihre Alliierten und Freunde bedrohen oder mit Massenvernichtungswaffen angreifen könnten178. Die Motive von Terroristen und „Schurkenstaaten“, welche anders als die Feinde im Kalten Krieg keine Angst vor eigener Zerstörung zeigten und deshalb nicht bloß passiv abgeschreckt werden könnten, verlangten von den USA, auf unmittelbare Bedrohungen hin zu handeln. Das Völkerrecht habe über Jahrhunderte vorbeugende Selbstverteidigung gegen unmittelbar bevorstehende Angriffe als rechtmäßig betrachtet, jedoch seien heutzutage  – anders als in früherer Völkerrechtsgeschichte – unmittelbar bevorstehende Angriffe nicht mehr in Gestalt von eindeutigen Vorbereitungshandlungen wahrnehmbar und damit auch nicht mehr sicher vorherzusagen179. Daher müsse das bewährte Konzept der Selbstverteidigung im Verhältnis zu den Feinden der USA den aktuellen Gegebenheiten angepasst 171 Zur zeitlich umfassenderen Entwicklung amerikanischer Sicherheitsstrategien ausführlich und lesenswert Kunde, Präventivkrieg, S. 162 ff. 172 Bush, Graduation Speech at West Point (01.06.2002), passim. 173 Vgl. zu den (zwei) weiteren, für diese Arbeit irrelevanten Handlungsmaximen der NSS 2002/2006 Kunde, Präventivkrieg, S. 176 f. 174 s. hierzu insg. die taktischen Erklärungsversuche von Gose, HuV 16 (2003), S. 121 ff., sowie das Zusammenspiel von Theorie und Praxis auf Grundlage der NSS 2002 von Henderson, JCSL 9 (2004), S. 3 ff. 175 NSS 2002, S. 6. Anfangs wird aber von „Prävention“ gesprochen (ibid., S. 1), sodass auch die NSS 2002 zur o. (2. Kap. B.) dargestellten Begriffskonfusion beiträgt. 176 Diese skurril wirkende Übersetzung entspricht tatsächlich dem Inhalt beider die BushDoktrin verkörpernden NSS 2002/2006, da darin terminologisch konstant von rogue states gesprochen wird. 177 NSS 2002, S. 13. 178 NSS 2002, S. 14. 179 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Entstehung der NSS 2002 z. B. Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff., sowie Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (515 ff.).

C. Ereignisspezifische Theorien

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werden180. Die USA hätten sich im Übrigen lange das Recht auf „präemptive“ Verteidigung vorbehalten181, auf welches nun zurückgegriffen werden soll  – sogar wenn eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich Zeit und Ort des feindlichen Angriffs bestehen bleibt182. Der Zweck US-amerikanischer Handlungen werde es dabei immer sein, eine spezifische Bedrohung der USA oder ihrer Alliierten und Freunde auszuschalten; die Begründung einer solchen Maßnahme würde klar, die mit ihr verwirklichte Gewalt maßvoll und die ihr zu Grunde liegenden Beweggründe würden gerecht sein183. Die NSS 2006 wiederholt den Inhalt der NSS 2002 zusammenfassend184 und sogar bekräftigend185, bilanziert ihre als solche verbuchten „Erfolge“186 und widmet sich sodann einem aktuellen Ausblick187. Darin fokussiert sie die von Terroristen und „Schurkenstaaten“ mit Zugang zu Massenvernichtungswaffen ausgehende Gefahr. Angesichts dessen soll vorwiegend auf die Mittel internationaler Diplomatie zurückgegriffen werden, jedoch behalten sich die USA stets und weiterhin vor, nach den als „lange feststehende Prinzipien der Selbstverteidigung“ bezeichneten Regeln auch Gewalt anzuwenden, bevor ein Angriff geschieht und auch im Falle von Unsicherheit von Zeit und Ort des Angriffs. Die massive von Massenvernichtungswaffen ausgehende Gefahr erlaube es nicht abzuwarten, bis sie sich zu einem unabwendbaren Schaden verdichten könnte188. Neben den für diese Arbeit nicht relevanten politisch-ideologischen Äußerungen189 auch zu vorbeugender Selbstverteidigung  – man beachte nur die Berufung der NSS 2002/2006 auf völkerrechtlich unbedeutende „gerechte Beweg­ gründe“190  – kann aus diesen beiden NSS ferner eine Herleitung herausgelesen 180 Dieses Verständnis der Latenz wird teilweise sehr weit  – nämlich über den Inhalt der NSS 2002/2006 hinausgehend – ausgedehnt. Nach der von Doyle, Int’l. Law, in: Striking First, S. 7 ff. (25), so benannten „One Percent Doctrine“ soll vorbeugende Selbstverteidigung bereits bei einer Angriffswahrscheinlichkeit von nur einem Prozent legal sein; dieses auf Äußerungen des ehemaligen US-Vizepräsidenten Cheney zurückzuführende Verständnis ist jedoch selbst bei extensiver Auslegung der Bush-Doktrin offenkundig nicht mehr vertretbar. 181 So sei dies bereits 1984 durch die Shultz-Doktrin und danach durch die Verteidigungs­ strategie der Clinton-Administration 1998 geschehen, s. o. Fn. 160 in diesem Kap. und insb. Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (527 ff.). 182 NSS 2002, S. 15. 183 NSS 2002, S. 16. 184 NSS 2006, S. 18. 185 So zutr. Kunde, Präventivkrieg, S. 190 f., und auch Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (190 f.); neutral Meiertöns, Doctrines, S. 226; zweifelnd hingegen Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (87). 186 NSS 2006, S. 18 f. 187 NSS 2006, S. 19 ff. 188 NSS 2006, S. 23. 189 s. bereits o. 1. Kap. B. II.; i. Ü. dazu auch differenzierend Lee, Preventive Intervention, in: Intervention, Terrorism, and Torture, S. 119 ff. (129 ff.). 190 s. zu solchen außerrechtlichen Erwägungen i.Ü u. 4. Kap. D.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

werden, die noch dem Völkerrecht zuzuordnen sein mag191: Nach klassischem Verständnis wird vorbeugende Selbstverteidigung unter den inhaltlichen Voraussetzungen der absoluten Imminenztheorie grundsätzlich nach Völkergewohnheitsrecht für rechtmäßig gehalten. Von diesem anerkannten Ausgangspunkt soll aber aus besonderen – d. h. vor allem teleologisch bedingten – Gründen abzuweichen sein192. Solche besonderen Gründe spiegelten sich in der als Faktum betrachteten neuen Bedrohungslage wider, der sich die Vereinigten Staaten mit ihren Alliierten und Freunden ausgesetzt sehen. Wesentlicher Bestandteil dieser Bedrohungslage seien Terroristen und „Schurkenstaaten“, die objektiv durch den Zugang zu Massenvernichtungswaffen und subjektiv angesichts ihrer feindlichen Gesinnung gegenüber den USA und ihren Verbündeten ein besonderes Bedrohungsund Zerstörungspotential aufweisten. Die Argumentation stützt sich damit auf drei Eckpfeiler: erstens den Paradigmenwechsel von einem zeitpunktorientierten Verständnis der Imminenz zu einem wahrscheinlichkeitsorientierten, zweitens den Zugang zu Massenvernichtungswaffen als Anknüpfungspunkt der vorbeugendverteidigenden Gewaltanwendung sowie drittens die Rolle von Terroristen und „Schurkenstaaten“ als Indikator des potentiellen Angreifers. Diese drei wesentlichen Bestandteile der Bush-Doktrin – und damit auch der gegenwärtigen Ausprägung der Latenztheorie – sollen nun genauer auf ihren völkerrechtlichen Gehalt und eine – zumindest grundsätzlich – mögliche völkerrechtliche Vertretbarkeit hin analysiert werden. (2) Begründung für einen Paradigmenwechsel angesichts neuer Bedrohungen Die Erweiterung des Imminenz-Verständnisses über die Zeitebene (nach der Webster-Formel) hinaus auf die Wahrscheinlichkeitsebene wird mit der Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels angesichts neuer Bedrohungslagen begründet193. Die veränderten tatsächlichen Gegebenheiten des Weltgeschehens wirken sich demnach auch auf das Völkerrecht aus: Während Menschen wie Webster anhand der wenig fortgeschrittenen Waffentechnik des 19. Jahrhunderts noch objektiv und zeitlich determiniert hätten vorhersehen können, ob sich bald eine reaktive 191

Hieran wird freilich vereinzelt gezweifelt, so spricht Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (166 ff.), von „meta-juristischen“ Argumenten („arguments méta-juridiques“). Unklar auch Taft IV/Buchwald, AJIL 97 (2003), S.  557 ff. (557), die konstatieren: „The use of force preemptively is sometimes lawful and sometimes not.“ Vgl. auch insg. Bakircioglu, IndianaICLR 19 (2009), S. 1 ff. 192 Gelegentlich wird diese Möglichkeit des Abweichens von der absoluten Imminenz­ theorie aus einem übergeordneten Notstandsrecht abgeleitet, vgl. Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (524 ff.). Diese begrifflich orientierte Konstruktion ist aber für die inhaltsbezogene Analyse dieser Arbeit unbeachtlich. 193 Für eine hierzu oft tendenziös geführte Argumentation vgl. exemplarisch Slocombe, Survival 45:1 (Spring 2003), S. 117 ff. (123 ff.); i. Ü. Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (572 ff.).

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Selbstverteidigungslage einstellen würde, könne in der modernen Welt mit ihren ausgereiften und effektiven Waffentechnologien schlicht keine verlässliche Prognose mehr abgegeben werden194. Damit soll der völkerrechtliche Kern des Selbstverteidigungsrechts nach der Webster-Formel erhalten bleiben, lediglich seine Auswüchse hätten sich den veränderten tatsächlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Diese Anpassungsmöglichkeit habe bereits Webster selbst vor(her)gesehen, als er die Ausformung des übereinstimmend angenommenen Rechts auf Selbstverteidigung vom konkreten Fall abhängig gemacht habe195; man könne sich also auch insofern auf Völker­ gewohnheitsrecht berufen196. Das auch hieran anknüpfende Argument der BushDoktrin ist dann ein kombiniert systematisch-teleologisches: Die Gewährleistung der fortwährenden Effektivität eines anerkannten Rechtsinstituts erfordert beizeiten seine strukturelle Anpassung, um seinen Zweck – nämlich die effektive Ver­ teidigung – aufrechterhalten zu können197. So verhalte es sich hier auch mit dem auf der absoluten Imminenztheorie gestützten und einst dadurch ausreichend ausgefüllten Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung; dieses könne nur anhand seiner interpretatorischen Erweiterung nach Maßgabe der Latenztheorie weiterhin die ihm zugedachte Funktion erfüllen198. (3) Der Zugang zu Massenvernichtungswaffen als Anknüpfungspunkt Da das Selbstverteidigungsrecht seinem Wesen nach nicht verändert, sondern nur in seiner Ausprägung angepasst werden soll, müssen konsequenterweise auch die oben herausgearbeiteten allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen fortgelten. Es bleibt also grundsätzlich bei der Anknüpfung an einen Schadensauslöser für reaktive Selbstverteidigung. Die veränderten sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen erfordern für vorbeugende Selbstverteidigung nach den NSS 2002/2006 allerdings einen Ersatz für den Anknüpfungspunkt des zukünftig zeitlich gewissen Eintritts eines schädigenden Ereignisses. 194

Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (534); Slocombe, Survival 45:1 (Spring 2003), S. 117 ff. (125); Taft IV, ASIL Proc. 98 (2004), S. 331 ff. (332). 195 Taft IV, The Legal Basis for Preemption. 196 Taft IV, The Legal Basis for Preemption, a. E. auch mit Bezug zur Staatenpraxis durch ­Israel 1981, s. dazu i. Ü. mehr u. 8. Kap. B. I. 15. 197 Dass eine Interpretationsanpassung des Selbstverteidigungsrechts an das jeweils herrschende tatsächliche Weltgeschehen sich auch auf Ebene des Völkergewohnheitsrechts manifestiert haben soll, versucht Schildkraut, MinnesotaJIL 16 (2007), S. 193 ff., nachzuweisen. Die bei seiner empirischen Studie herangezogenen Datenbanken müssten jedoch wie auch die von ihm gezogenen Schlüsse hinterfragt werden, was aber dieser Arbeit nicht zweckdienlich ist. 198 Ebenso die NSS 2002 interpretierend, sachlich jedoch ablehnend White, Self-defence, ­Security Council, Iraq, in: GS-McCoubrey, S. 235 ff. (236).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Als solcher wird abstrakt eine „glaubhafte Bedrohung“ determiniert199. Eine solche wird konkret bei einem bestehenden Zugang zu Massenvernichtungswaffen200 durch Terroristen und „Schurkenstaaten“ angenommen, wobei unter „Zugang“ als Sammelbegriff sowohl deren tatsächlicher Besitz als auch deren allgemeine Verbreitung201 mit jederzeitiger und konkreter Zugriffsmöglichkeit zu verstehen ist202. Auf die spezielle Rolle von Terroristen und „Schurkenstaaten“ wird sogleich näher einzugehen sein; an dieser Stelle sollen vorerst Existenz und Bestimmbarkeit dieser Personengruppen als gegeben unterstellt werden. Hier ist jedenfalls die Kombination aus einem Zugang zu Massenvernichtungswaffen und dessen konkreter Wahrnehmung durch einen als gefährlich eingestuften Personenkreis im Sinne der Glaubhaftigkeit entscheidend203. Das Vorliegen einer solchen Begebenheit ist nämlich conditio sine qua non für einen besonders verheerenden Angriff, der bei seiner tatsächlichen Existenz zweifellos zu einem reaktiven Selbstverteidigungsrecht führen würde. Dabei sind gerade die im Falle einer Angriffsrealisierung zugleich feststehenden schwerwiegenden Angriffsfolgen der Grund für eine durch die Latenztheorie implizit im Rahmen der Notwendigkeit vorgenommenen Abwägungsverschiebung zu Gunsten des sich auf vorbeugende Verteidigung Berufenden. In den qualifizierten Fällen von besonders starken Beeinträchtigungen durch zugleich verdeckt operierende Personenkreise wird die Eliminierung eines womöglich nicht letzten Gliedes einer bloß wahrscheinlich existenten Kausalkette dann als ultima ratio betrachtet. Weil zugleich zumindest die Möglichkeit einer jederzeitigen massiven Angriffsrealisierung besteht, bewegt sich die Latenztheorie auch nach den NSS 2002/2006 noch auf lediglich wahrscheinlichkeitsorientierter Ebene mit zugleich gegenwärtiger Realisierungsgefahr. Ein Szenario wie oben in Abbildung 1 dargestellt204 beschreibt sie nicht, auch wenn dies ihre Formulierung „even if uncertainty remains as to the time and place of the enemy’s attack“205 auf den ersten Blick nahelegen könnte. Eine Unsicherheit hinsichtlich Zeit und Ort des Auslösers einer reaktiven Selbstverteidigungslage bedeutet nämlich gleichzeitig auch, dass eine sofortige Realisierung eben nicht auszuschließen ist (weil auch diese Variante unsicher ist), 199

Taft IV, The Legal Basis for Preemption; ders., ASIL Proc. 98 (2004), S. 331 ff. (332). Zum Begriffsinhalt von „Massenvernichtungswaffen“ prägnant Smith, Deterring America, S. 12 f. 201 Zu trennen ist in diesem Zusammenhang zwischen hier relevanter Selbstverteidigung und anderen (i. d. R.) gewaltlosen Maßnahmen gegen die abstrakte Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ohne qualifizierende Zugriffsmöglichkeit durch einen spezifischen Personenkreis, vgl. dazu Smith, Deterring America, S. 97 ff. 202 Ein solcher Denkansatz ist entgegen mancher Einschätzung nicht durch die NSS 2002 neu entstanden. Bereits 1966 wurde in ähnlicher Form eine auf Angriffs- und Verteidigungswaffen als Anknüpfungspunkt basierte Argumentation von Wengler, Gewaltverbot, S. 6, diskutiert (und im Ergebnis abgelehnt). 203 Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff. (226). 204 s. o. 4. Kap. C. I. 205 NSS 2002, S. 15; NSS 2006, S. 18. 200

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also deren Möglichkeit stets besteht. Dass diese Möglichkeit auch eher vage sein kann, liegt gerade in der Natur der Latenztheorie in Abgrenzung zu den davor dargestellten, der Gegenwärtigkeitstheorie näher stehenden wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien. (4) Die Rolle von Terroristen und „Schurkenstaaten“ als Indikator des potentiellen Angreifers Die Latenztheorie im Sinne der Bush-Doktrin erfordert zuletzt einen qualifizierten Personenkreis mit der Möglichkeit des soeben angesprochenen Zugangs zu Massenvernichtungswaffen. Damit ist nicht jede Zugangsmöglichkeit durch jeden Staat für vorbeugende Selbstverteidigung von Bedeutung, sondern nur solche durch Terroristen und „Schurkenstaaten“206. Die erste Gruppe – die der Terroristen – soll an dieser Stelle nicht im Vordergrund stehen. Terrorismusbekämpfung ist zwar auch ein Teilgebiet für den möglichen Anwendungsbereich von vorbeugender Selbstverteidigung, jedoch sind die als solche unumstrittenen Eigenschaften von Terroristen, namentlich eine feindliche Gesinnung sowie jederzeitige Bereitschaft zur Schädigung von anderen Staaten, unabhängig von einer genauen Terrorismusdefinition207 allgemein anerkannt. Problematisch ist Selbstverteidigung gegen Terrorismus vor allem angesichts der Nichtstaatlichkeit der Schädiger, weniger aber unter vorbeugenden Gesichtspunkten. Staatlichkeit steht aber nicht im Fokus dieser Arbeit208, sodass im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung im Sinne der Bush-Doktrin nicht weiter auf eine nähere Bestimmung von Terrorismus eingegangen werden braucht. Anders verhält es sich mit den sog. „Schurkenstaaten“, in den NSS 2002/2006 als rogue states bezeichnet209. Hierbei handelt es sich zwar um keinen völkerrechtlich anerkannten Begriff, doch ist der seinem Inhalt zu Grunde liegende Gedanke von außerhalb der konstituierten Staatengemeinschaft stehenden Staaten nicht unbekannt und auch im von grundsätzlicher Staatengleichheit ausgehenden modernen ius ad bellum nicht neu. In der Völkerrechtspraxis erklärten die Vereinten Nationen selbst einen Teil des durch die SVN kodifizierten Völkerrechts bereits bei ihrer Gründung in Bezug auf Feindstaaten gem. Artt. 53 und 107 SVN für unanwendbar210 und schufen damit für einen dato nicht absehbaren Zeitraum ein auch auf Ungleichheit aufbauendes Völkerrechtsregime. Daneben sind in der völkerrechtlichen Entwicklung 206

Vgl. zur Problematik dieser Abstufungen – auch im umgekehrten Hinblick auf die den „Schurkenstaaten“ konsequenterweise nicht zuzugestehende Ausübungsbefugnis des Selbstverteidigungsrechts – Anghie, ASIL Proc. 98 (2004), S. 326 ff. (327 f.). 207 s. dazu bereits o. Fn. 96 im 2. Kap. 208 s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) bb). 209 NSS 2002, S. 13 ff.; NSS 2006, S. 18 ff. 210 s. bereits o. 4. Kap. B. IV.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

immer wieder Versuche zu erkennen, vermeintlich feindlich gesinnte Staaten auf Grund ihres inkompatiblen Verhältnisses zur ordnungsgebenden Vormachtgemeinschaft auszusondern211, teils durch ähnlich negativ konnotierte Bezeichnungen wie „outlaw states“ oder „Paria-Staaten“. Auch in der Völkerrechtsphilosophie existieren denuntiative Ansätze zur Konstituierung einer Ungleichbehandlung innerhalb der Staatenwelt. So differenzierte Rawls – wenn auch nicht ohne substantielle Kritik gegen seine Theorie zu erfahren212 – u. a. zwischen sog. „wohlgeordneten Völkern“ und „Schurkenstaaten“, welche sich auf Grund ihrer feindlichen Gesinnung außerhalb der grundsätzlich friedlichen und toleranten Staatengemeinschaft befänden213. Gemeinsam haben all diese  – unabhängig von der Bush-Doktrin unternom­ menen  – völkerrechtlichen214 Ansätze und Versuche, dass durch die Herleitung einer begründeten Ungleichbehandlung grundsätzlich gleichberechtigter Staaten ein gewaltsames Vorgehen gegen den Ausgesonderten auf rechtlichem Wege erleichtert werden soll. Im Falle der heute obsoleten Feindstaatklauseln ging dies unmittelbar aus dem Vertragswerk der SVN hervor, wonach trotz umfassend geltenden Gewaltverbots gegen Feindstaaten auch gewaltsame Maßnahmen entweder auf Grund regionaler Abmachungen (Art. 53 (1) S. 2 SVN) oder als Folge des Zweiten Weltkrieges (Art. 107 SVN) zulässig waren215. Anders formuliert: Für Feindstaaten galt eine weitere Ausnahme216 des Gewaltverbots, auf deren Inanspruchnahme sie selbst bis zu ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen keinen Einfluss hatten, weil ihnen durch die SVN die Vermutung der Feindseligkeit zugewiesen wurde. Diese Vermutung war i. V. m. den Zusatzvoraussetzungen der Artt. 53 oder 107 SVN – weiterhin jedoch unter Beachtung des Völkergewohnheitsrechts217  – einzige Recht­ mäßigkeitsvoraussetzung für Gewaltanwendung. Der vor allem auf Rawls zurückzuführende völkerrechtsphilosophische Ansatz verfährt ähnlich: In seiner als „realistische Utopie“ bezeichneten These geht 211

Vgl. instruktiv und umfassend Minnerop, Paria-Staaten, passim. Z. B. Arenhövel, Gerechtigkeit als Grundlage, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 1 ff.; Derrida, Schurken, passim. 213 Rawls, Das Recht der Völker, passim; instruktiv dazu Herdegen, RCDI 7 (2006), S. 339 ff. (350), m. w. N., demzufolge solche Denkansätze sogar bei Kant erkennbar seien (und zwar in dessen „Metaphysik der Sitten“, die 1797 erschien – und damit zwei Jahre nach dessen oft zitierten völkerrechtlichem Hauptwerk „Zum ewigen Frieden“). 214 Nicht beachtet werden sollen hier die zahlreichen historischen, nicht dem Völkerrecht zuzuordnenden Beispiele, welche nur als Resultate eines lediglich erfolgreichen Hegemonialstrebens eines Gemeinwesens zu Lasten eines anderen zu bewerten sind, vgl. Minnerop, PariaStaaten, S. 11 ff. 215 Ress/Bröhmer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 53, Rn. 38 ff., sowie. Ress, ibid., Art. 107, Rn. 5 ff. 216 s.  dazu bereits o. 3.  Kap. B. I. 1.  a)  sowie zu diesem Themenkomplex insb. Minnerop, ­Paria-Staaten, S. 72. 217 Minnerop, Paria-Staaten, S. 73. 212

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er von einem auf gemeinsame Grundwerte gestützten friedlichen Zusammen­ leben „wohlgeordneter Völker“ als „Idealtheorie“ aus, welche sich ihrerseits zuvörderst durch einen inneren demokratischen Frieden218, die Beachtung der Menschenrechte219 und Toleranz gegenüber „nichtliberalen“, aber dennoch friedlichen Völkern220 definieren. Solche Gemeinwesen, die (oder präziser: deren Regierungen221) sich gegen dieses – nach den Worten Rawls’ – auf Vernunft und Gerechtigkeit gegründete Zusammenleben durch Nichtbefolgen der „Idealtheorie“ zu Gunsten von Kriegsführung zur Befriedigung ihrer eigenen Interessen richten, werden als „Schurkenstaaten“ bezeichnet222. Gegen solche Schurkenstaaten soll es den „wohlgeordneten Völkern“ gestattet sein Krieg zu führen, um dadurch das friedliche Zusammenleben im Sinne der „Idealtheorie“ zu bewahren223. Die unübersehbaren Parallelen zu der von den Gründern der Vereinten Nationen gewählten Option der Ungleichbehandlung von Feindstaaten sind bemerkenswert. Jeweils wird ein System des friedlichen Zusammenlebens souveräner Gemeinwesen geschaffen, welches jedoch bestimmte andere Gemeinwesen auf Grund ihrer ihm gegenüber feindlichen Konstitution ausschließt und sein eigentliches Prinzip der Gewaltfreiheit für sie umkehrt. Auch wenn diese Umsetzung in den Vereinten Nationen inzwischen obsolet geworden ist, da ehemalige Feindstaaten nun friedliebende Mitglieder sind, so lebt die grundsätz­liche Idee einer solchen Ungleichbehandlung doch sowohl im Text der SVN selbst als auch in der Rechtsphilosophie fort. Ferner ist nach beiden Ansätzen eine Versöhnung mit „Schurkenstaaten“ möglich, wie sie bereits im Gefüge der Vereinten Nationen vollzogen wurde224. Das moderne Völkerrecht steht damit einer nicht dauerhaften Stigmatisierung bestimmter Staaten zumindest nicht gänzlich verschlossen gegenüber225. Folglich ist der Ansatz der Bush-Doktrin, „Schurkenstaaten“ in die Argumentation zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung einzuflechten, zumindest vom Grundsatz her nicht als völkerrechtlich evident unvertretbar zu bewerten. Hinzu kommt, dass die Vereinigten Staaten selbst schon vor Ende des Kalten Krieges den Gedanken der Stigmatisierung einzelner Staaten unter unterschied­ 218

Rawls, Das Recht der Völker, S. 49 ff. Rawls, Das Recht der Völker, S. 96 ff. 220 Rawls, Das Recht der Völker, S. 71 ff. 221 Schulte, in: Reed/Ryall, Price of Peace, S. 142. 222 Rawls, Das Recht der Völker, S. 114. 223 Rawls, Das Recht der Völker, S. 115 ff. 224 Verwirklicht wurde eine solche Versöhnung in der Realität durch die Aufnahme der ehemaligen Feindstaaten in die VN; ebenso sieht die Rechtsphilosophie die Versöhnung als finalen Schritt zu einer endgültigen „Idealtheorie“ vor, Rawls, Das Recht der Völker, S. 157 ff. 225 Vgl. aus der Literatur vor der Bush-Doktrin hierzu z. B. Capezzuto, NYLSJICL 14 (1993), S. 375 ff. (383), der ohne konkreten Handlungsbezug den Irak, Libyen, Syrien und den Iran pauschal als „blatant violaters of customary international law“ bezeichnet, sowie Reisman, HoustonJIL 22 (1999), S. 4 ff. (17), der wie selbstverständlich die Existenz von rogue states annimmt. 219

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lichen Bezeichnungen226 verfolgt hatten, ohne dass diese Vorgehensweise regel­ mäßig nennenswerte  – jedenfalls völkerrechtliche  – Reaktionen hervorgerufen hätte. Insbesondere führten die USA seit 1979 eine Liste mit wechselnden Staaten, welchen sie Unterstützung von Terrorismus nachsagten227 und für die bereits seit der Clinton-Administration 1994 die Bezeichnung rogue state verwendet wurde228. Als solche ist sie also keineswegs eine Erfindung von Bush jun. und seinem Beraterstab, sondern war schon längst von etablierter politischer Bedeutung. In den völkerrechtlichen229 Fokus gelangte der Begriff der „Schurkenstaaten“ jedoch in der Tat erst mit der NSS 2002 und seiner Verbindung zu vorbeugender Selbstverteidigung. Dort werden rogue states wie folgt definiert: „These states: •• brutalize their own people and squander their national resources for the personal gain of the rulers; •• display no regard for international law, threaten their neighbors, and callously violate international treaties to which they are party; •• are determined to acquire weapons of mass destruction, along with other advanced military technology, to be used as threats or offensively to achieve the aggressive designs of these regimes; •• sponsor terrorism around the globe; and •• reject basic human values and hate the United States and everything for which it stands.“230

Von völkerrechtlicher Relevanz ist hierbei vor allem der zweite, auf grenzüberschreitende Gewalt bezogene Definitionspunkt, wonach „Schurkenstaaten“ keine Rücksicht auf das Völkerrecht nehmen, ihre Nachbarn bedrohen und vertrags­ brüchig sind231. Genau solche Eigenschaften veranlassten auch die Gründer der Vereinten Nationen zur Ungleichbehandlung von Feindstaaten, ebenso erfüllen sie Rawls’ Vorstellung von „Schurkenstaaten“. Im systematischen und historischen völkerrechtlichen Gesamtzusammenhang knüpft der völkerrechtliche Definitionsteil von „Schurkenstaaten“ im Sinne der Bush-Doktrin also an das soeben dar­gestellte Verständnis an, weshalb die Vorgaben der NSS 2002/2006 auch hieran zu messen sind. Die übrigen Definitionspunkte sind eher politisch geprägt 226 Z. B. „terrorist state“, „state sponsor of terrorism“, „renegade regime“, „renegade state“, „backlash state“, „group of outlaws“; vgl. eingehend und dezidiert Minnerop, Paria-Staaten, S. 79 ff., sowie krit. Derrida, Schurken, S. 134 ff. 227 Minnerop, Paria-Staaten, S. 86 ff. 228 Minnerop, Paria-Staaten, S. 125, 130 ff. 229 Zuvor waren rogue states und andere stigmatisierende Begriffe vorrangig politisch von Bedeutung, fanden darüber hinaus aber auch im innerstaatlichen Recht der USA Verwendung, s. dazu Minnerop, Paria-Staaten, S. 156 ff. 230 NSS 2002, S.  13 f.; Hervorh. v. Verf.; s. auch Neuhold, „Rogue States“, in: FS-Bothe, S. 215 ff. (215 f.). 231 Vgl. dazu auch die ähnlich lautende Definition in der Literatur von Schulte, in: Reed/­ Ryall, Price of Peace, S. 143 ff.

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oder wieder­holen nur die bereits dargestellten Elemente der Latenztheorie nach der Bush-Doktrin (vor allem in Bezug auf Terrorismus und Massenvernichtungswaffen). Zugleich limitieren sie aber den völkerrechtlichen Definitionsteil, weil jeder in der NSS 2002 genannte Punkt kumulativ vorliegen muss, wie sich am Wort „and“ am Ende des vorletzten Gliederungspunktes ablesen lässt. Es genügt damit nicht, dass „Schurkenstaaten“ in ihrem Naturell völkerrechtsfeindlich sind, sie müssen sich darüber hinaus auch noch im Sinne der übrigen Vorgaben als feindlich gesinnt erweisen. Nach der NSS 2002 treffe dies auf den Irak und Nord­korea zu232, die NSS  2006 ergänzt diese Aufzählung um den Iran233. Außerhalb dieser beiden NSS wurde von Seiten der Bush-Administration in Bezug auf die genannten Staaten zudem von einer „Achse des Bösen“ (axis of evil) gesprochen; dieser Begriff führt aber zu keinen neuen inhaltlichen Erkenntnissen234. Weitere feindlich gesinnte Einordnungen erfuhren zeitweise unter der seinerzeitigen US-Regierung Libyen, Syrien, Sudan und Kuba235 sowie ferner Burma, Weißrussland und Simbabwe236. Ironischerweise nahmen viele dieser Staaten ihre eigene Stigmatisierung zum Anlass, ihrerseits die USA (und teilweise auch Israel) als rogue state zu bezeichnen237 und verliehen damit diesem Begriff eine über seine ursprünglich einseitig auf die USA zurückzuführende Unilateralität hinausgehende multilaterale Bedeutung. Unabhängig von der Frage, ob es nach den Vorgaben der Bush-Doktrin konkret und aktuell überhaupt „Schurkenstaaten“ geben kann, welche dies ggf. sein könnten und wer dann zur Vergabe einer solchen Bezeichnung berechtigt ist, gilt es in Bezug auf die Latenztheorie aber bloß herauszufinden, wie das abstrakt nicht auszuschließende Phänomen der Staatenstigmatisierung dogmatisch einzuordnen ist. Dabei ist zu bedenken, dass es sich auch bei der Latenztheorie nach wie vor um eine Ausprägung des grundsätzlich reaktiven Selbstverteidigungsrechts handelt, dass also weiterhin grundsätzlich die allgemeinen Anforderungen an das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage gelten. Lediglich die Vorverlagerung des Auslösers einer Selbstverteidigungslage steht nach wie vor in Rede. Andere Erfordernisse gelten weiterhin, und zwar u. a. auch die allgemeinen Grundsätze zur Beweislast238. Wer sich folglich auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der Latenztheorie beruft, muss jedenfalls vorher beweisen, dass gegen einen „Schurkenstaat“ vorgegangen wird, dieser Staat also tatsächlich sämtliche Voraussetzungen der NSS 2002 hierfür erfüllt. Diese im Einzelfall (und nicht etwa bloß in Berufung auf eine mögliche Liste von so bezeichneten rogue states) nachgewiesene 232

NSS 2002, S. 14. NSS 2006, S. 20. 234 Vgl. Minnerop, Paria-Staaten, S. 151 ff.; Sofaer, EJIL 14 (2003), S. 209 ff. (226); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 173 ff. 235 Minnerop, Paria-Staaten, S. 152, 155. 236 Neuhold, „Rogue States“, in: FS-Bothe, S. 215 ff. (216). 237 Minnerop, Paria-Staaten, S. 283 ff., 299. 238 s. o. 3. Kap. B. III. 233

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Eigenschaft verbunden mit dem erwiesenen Zugang zu Massenvernichtungswaffen würde dann zur Rechtmäßigkeit einer vorbeugenden Gewaltanwendung gegen diesen „Schurkenstaat“ im Sinne der Bush-Doktrin und der sich darauf gründenden Latenztheorie führen. Bewiesen werden müssten also nicht die Möglichkeit eines sich jederzeit manifestierenden Angriffs, sondern, eine Stufe zuvor, die beiden noch nicht notwendigerweise miteinander verbundenen Elemente für diese Möglichkeit: eine feindliche Gesinnung des Gegenübers ermittelt anhand fester Kriterien und dessen objektive Fähigkeit, einen Angriff durchzuführen. Durch diese Vorverlagerung239 der Beweisführung obliegt es dann umgekehrt dem jeweiligen „Schurkenstaat“ seinerseits zu beweisen, dass er keine Schädigung des sich auf vorbeugende Selbstverteidigung berufenden Staates vornehmen wird. In letzter Konsequenz führt die Einordnung als rogue state also zu einer Beweislastumkehr240 im Rahmen des Friedenssicherungsrechts zu Lasten der weiterhin grundsätzlich durch das Gewaltverbot geschützten241, aber stigmatisierten Staaten. Diese dogmatische Einordnung korrespondiert auch mit der Feindstaatenlösung bei Gründung der Vereinten Nationen sowie dem rechtsphilosophischen Verständnis von „Schurkenstaaten“ nach Rawls. In dieser durch Stigmatisierung hervorgerufenen Beweislastumkehr in Vorgriff242 auf die Manifestierung eines möglichen bevorstehenden konkreten Angriffs liegt der entscheidende dogmatische Unterschied zu den zuvor dargestellten Theorien; besonders deutlich wird dies im Vergleich mit der Indikationstheorie. Im Gegensatz zur dieser zieht die Latenztheorie durch die Bezugnahme von „Schurkenstaaten“ kein konkretes, einen möglichen Angriff vorbereitendes Ereignis als Indikator einer hinreichenden Angriffswahrscheinlichkeit heran, sondern stellt auf eine bloß latente, ereignisunabhängige Gefahr eines als gefährlich eingestuften Personenkreises mit Schädigungspotential ab. Zugleich sind die Folgen dieser kumuliert subjektiven (auf Grund einer feindlichen Gesinnung) und objektiven (auf Grund eines Schädigungspotentials) Gefahr derart unvorhersehbar, dass jederzeit mit einer Schadensrealisierung gerechnet werden muss. 239 Andeutend auch Arenhövel, Gerechtigkeit als Grundlage, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 1 ff. (17). 240 Mittelbar (aber in der Sache nicht zustimmend)  ist so auch Seidel, AVR 41 (2003), S.  449 ff. (476), zu verstehen, der unter der Bush-Doktrin die Verzichtbarkeit des Nachweises tatsächlich vorhandener Waffen versteht; ähnlich Luban, PhilPublAff 32, S. 207 ff. (231 f.); Kunde, Präventivkrieg, S. 188. 241 Manche Autoren gehen einen Schritt weiter und halten „Schurkenstaaten“ für generell nicht mehr vom Völkerrecht geschützt, z. B. Kamp, IP 6/2004, S. 42 ff., sowie Kunig, AVR 41 (2003), S. 327 ff. (331), der pointiert vom „vogelfrei gestellten Schurken“ spricht. Diese extensiven Interpretationen dürften jedoch von vorneherein nicht mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen sein, sodass solche Auslegungsmöglichkeiten bereits bei der hier vorzunehmenden völkerrechtlichen Analyse im Rahmen des zumindest nicht offenkundig Unvertretbaren vernachlässigt werden können und müssen. 242 Prägnant dazu Smith, Deterring America, S. 134: „… capability equals culpability, (…) possession is the same as use.“

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cc) Die NSS 2010: Revision durch die Obama-Administration? Nachdem Barack Obama im September 2008 als Nachfolger von George W. Bush zum US-Präsidenten gewählt worden war, zeichnete sich ein erneuter Paradigmenwechsel auch im Völkerrechtsverständnis der US-amerikanischen Außenpolitik ab. Ein einschlägiger völkerrechtlicher Impetus für die Fragen des Friedenssicherungsrechts wurde mit Spannung in Obamas erster NSS erwartet243. Diese – wenn man so will – Obama-Doktrin wurde schließlich – etwas verspätet – am 27.05.2010 veröffentlicht244. Das immerhin 52 Seiten starke Dokument bemüht sich deutlich, ein international-kooperatives Element in den Vordergrund zu rücken245 und sich so von der recht konfrontativen Bush-Doktrin abzusetzen. Ihre Schlüsselformulierung zu auch vorbeugender Gewaltanwendung findet sich im Einschub „Use of Force“ unter Kapitel III; dort246 heißt es u. a.: „Military force, at times, may be necessary to defend our country and allies or to preserve broader peace and security (…). We will draw on diplomacy, development, and international norms and institutions to help resolve disagreements, prevent conflict, and maintain peace, mitigating where possible the need for the use of force. This means credibly underwriting U. S. defense commitments with tailored approaches to deterrence and ensuring the U. S. military continues to have the necessary capabilities across all domains (…). While the use of force is sometimes necessary, we will exhaust other options before war whenever we can, and carefully weigh the costs and risks of action against the costs and risks of inaction. When force is necessary, we will continue to do so in a way that reflects our ­values and strengthens our legitimacy, and we will seek broad international support, working with such institutions as NATO and the U. N. Security Council. The United States must reserve the right to act unilaterally if necessary to defend our ­nation and our interests, yet we will also seek to adhere to standards that govern the use of force. (…)“247

Die diplomatische – man könnte auch sagen: häufig wenig präzise248 – Wortwahl der aktuellen Sicherheitsstrategie im Rahmen internationaler Gewaltanwendung entspricht dem generellen Tonfall der NSS 2010. Dieser durchaus begrüßenswerte Stil kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest eine ausdrückliche Abkehr von der Latenztheorie gerade nicht aus Obamas Strategie hervorgeht. So gilt auch sie unter der Prämisse, dass sich die USA seit dem 11.  September 2001 in einem fortwährenden Krieg gegen internationale Terror-

243

s. kurz vor Veröffentlichung der NSS 2010 Kreß, NJW 2010, Forum, S. 16 f. s. zur NSS 2010 insg. Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. 245 Vgl. insb. NSS 2010, S. 40 ff. 246 NSS 2010, S. 22. 247 Hervorh. v. Verf. 248 So Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. (764).

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netzwerke befänden249 und vor diesem Hintergrund die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – vor anderen neuartigen Bedrohungen wie z. B. Angriffen aus dem Internet250 – die größte Bedrohung der Nation darstelle251. Der Sache nach252 wird also ein „war on terror“ weiterhin unter besonderer Berücksichtigung des Bedrohungspotentials von Massenvernichtungswaffen auch von der NSS  2010 zu Grunde gelegt. Bezeichnend ist daneben das nicht in ihr Erwähnte; so verzichtet die NSS 2010 auf die der Bush-Doktrin typischen Schlüsselbegriffe „Präemption“ und „Schurkenstaaten“253. Dies zeugt von einem extensiven Verständnis dieses „Krieges gegen des Terrorismus“, der nicht auf Gewaltanwendung im Völkerrecht zu beschränken, sondern dem auch mit innenpolitischen und wirtschaftlichen Instrumentarien zu begegnen sein soll254. Darauf beruhende internationale Betätigungen der USA sollen nach der NSS 2010 zuvörderst politischer und kooperativer Natur und gerade nicht auf Gewaltanwendung ausgerichtet sein255. Dessen ungeachtet spricht der Wortlaut der NSS 2010 in den für Gewalt relevanten Passagen dennoch dafür, dass die Vereinigten Staaten weiterhin die Latenztheorie für rechtmäßig halten, mag sie (nunmehr) auch vom Ergebnis einer strengen ultima-ratio-Vorprüfung abhängen256. Auffallend häufig wird die Wendung „necessary“ in Verbindung mit Gewaltanwendung genannt. Dies mag zunächst auf eine der völkerrechtlichen Faktenlage entsprechenden257 Annäherung von Notstand und Selbstverteidigung hindeuten. Wann und unter welchen Umständen aber konkret Gewaltanwendung „notwendig“ sein soll, bleibt weitgehend verklau­ suliert und vage. Jedenfalls aber im Verteidigungsfall soll Gewalt auch zum Zwecke so bezeichneter Konfliktsvermeidung und Friedenserhaltung rechtmäßig sein. 249 So bereits im Vorwort Obamas sowie durchgehend in Kap. I der NSS 2010, insb. S. 4: „As we secure the world’s most dangerous weapons, we are fighting a war against a far-reaching network of hatred and violence.“; entsprechend zum rechtspolitischen Hintergrund Kreß, NJW 2010, Forum, S. 16 f. 250 NSS 2010, S. 27 f. („Secure Cyberspace“). 251 NSS 2010, insb. S. 4, 8 und 20. 252 An dem technischen Begriff des „war on terror“ hält die Obama-Administration hingegen nicht mehr fest, s. bereits o. Fn. 68 im 3. Kap. 253 Stattdessen wird der Begriff der „At-Risk States“ eingeführt, welche durch die USA besonders gestärkt werden sollen, vgl. NSS 2010, S. 21 u. 27. Unabhängig davon, ob dies unter Zwang erfolgen soll, bilden derart gerade als nicht feindlich klassifizierte Staaten jedenfalls keinen (neuen) Theoriebestandteil von vorbeugender Selbstverteidigung. 254 I. Ü. zeugt die NSS 2010 insgesamt von politischer Weitsicht, weil sie sämtliche Bereiche der Innen- und Außenpolitik einbezieht und unter nationalen Sicherheitsaspekten beleuchtet. Dieser Schwerpunkt der NSS 2010 ist indes aus völkerrechtlicher Sicht nicht von Bedeutung und soll daher hier ausgeklammert werden. 255 Vgl. NSS 2010, S. 11 f. 256 Das als Leitmotiv der NSS 2010 zu verstehende Zusammenspiel u. a. von „Defense“ und „Diplomacy“ verdeutlicht die Vorgabe, sämtliche friedlichen Mittel zur Konfliktlösung auszuschöpfen, ohne dabei aber auf ein militärisches Abschreckungspotential verzichten zu wollen, vgl. instruktiv den Einschub „Strengthening National Capacity – A Whole of Government ­Approach“ dort auf S. 14 ff. 257 s. dazu o. 2. Kap. C.

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Vorbeugende Selbstverteidigung per se wird also ausdrücklich als legal erachtet, soweit das Kriterium der „necessity“ zweifelsfrei erfüllt ist. Zwar wird zur (versuchten) inhaltlichen Bestimmung dieses Falles nun auf den unter Bush  jun. so polarisierenden Begriff der Präemption verzichtet. Gleichwohl ist eine inhaltliche Anknüpfung hieran erkennbar258, denn „[w]hen force is necessary [the USA] will continue to do so in a way that reflects our values and strengthens our legitimacy (…)“259. Dabei mag das Ziel der Gewaltanwendung unbestimmt und völkerrechtlich unbeachtlich sein, weil eine Berufung gerade auf Werte und Legitimität rein politisch zu verstehen sein muss. Wenn die Vereinigten Staaten aber ausdrücklich die Fortsetzung ihrer bisherigen Gewaltanwendungsprämissen propagieren, fällt darunter im systematischen Zusammenhang auch ein stillschweigendes Bekenntnis zur Latenztheorie im Sinne der NSS 2002/2006. Damit ist der zwar politischen Revision des US-amerikanischen Sicherheitsverständnisses durch die NSS 2010 – jedenfalls zu ihrem Veröffentlichungszeitpunkt  – keine veränderte Rechtsüberzeugung zu Lasten der Latenztheorie zu entnehmen. Möglich erscheint indes die Prognose, dass die NSS 2010 durch Nichtübernahme des für die NSS 2002/2006 typischen Vokabulars und ihre teils offene Formulierung die Latenztheorie stillschweigend mit zunehmendem Zeitablauf zukünftig erledigen lässt260. dd) Zusammenfassung Die Latenztheorie erfuhr durch die Bush-Doktrin in Form der NSS 2002/2006 eine besondere Konturierung und wurde durch Obamas NSS 2010 zumindest nicht widerrufen. Die Anknüpfung an einen Angriff, der sich nur auf Grund einer latenten Gefahr und auch nur bei geringer Wahrscheinlichkeit jederzeit zu realisieren droht, bleibt fortbestehen. Das zuvor zur Bewertung einer solchen Lage herangezogene Kriterium der Unzumutbarkeit weiteren Abwartens wurde durch Bezugnahme auf die heute vorzufindende tatsächliche Lage des Weltgeschehens konkretisiert. Einen besonderen – wenn nicht sogar den praktisch einzig relevan 258 Dies gilt umso mehr im Kontext mit der vor Veröffentlichung der NSS  2010 betriebenen US-amerikanischen Völkerrechtspolitik der Obama-Administration, vgl. Kreß, NJW 2010, ­Forum, S.  16 f. Auch vermag ein bloßer Begriffstausch von „Präemption“ zu „Prävention“, vollzogen in einer Rede von US-Außenminister Biden am 07.02.2009, keine inhaltliche Veränderung zu propagieren: „we will strive to act preventively, not pre-emptively“ (zit. nach Meiertöns, Doctrines, S. 228). 259 NSS 2010, S. 22. A. A. Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. (755 f.), der eine Abkehr von den Prinzipien der Bush-Doktrin jedoch allein wegen des nicht mehr verwendeten Begriffs der Präemption erkennen möchte. Dagegen differenziert richtig Meiertöns, Doctrines, S. 227, indem er aus den Ansichten der Obama-Administration lediglich eine nicht mehr deklarierte Politik der Bush-Doktrin ableitet, i. Ü. aber nicht von einer Abkehr ausgeht. 260 Dafür spricht auch die deutliche Revision des Dictionary of Military and Associated Terms durch die Obama-Administration, welche darin nun u. a. zumindest den Begriff preventive war ersatzlos gestrichen hat, s. o. Fn.  23 im 2.  Kap.; dies meint letztlich wohl auch ­Pfisterer, ZaöRV 70 (2010), S. 735 ff. (755).

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ten – Anwendungsfall beschreibt dabei das Zusammenspiel von Terroristen bzw. „Schurkenstaaten“ und deren Zugriffsmöglichkeit auf Massenvernichtungswaffen. Der kumulierte Nachweis der Existenz dieser beiden Voraussetzungen beschreibt mangels konkreter gegenseitiger Verknüpfung zu einer auf Schadenserfolg gerichteten Vorbereitungshandlung noch nicht zwingend die Möglichkeit einer jederzeit eintretenden schädigenden Handlung. Allerdings soll es darauf angesichts der Tatsache, dass eine solche zwischengeschaltete Vorbereitungshandlung auf Grund moderner Gegebenheiten zeitlich zu vernachlässigen ist, nicht ankommen, wie es gerade für eine latente Bedrohung typisch ist. Im Übrigen versteht sich die Latenztheorie als Fortentwicklung strengerer zeitpunkt- und wahrscheinlichkeitsorientierter Theorien, sodass sie weiterhin auch eine Gewaltanwendung unter eben jenen Voraussetzungen für rechtmäßig hält. Diese einzelnen Voraussetzungen mögen jeweils völkerrechtlich fragwürdig erscheinen, jedoch ist mit dem Dargestellten allein noch kein hinreichender Beleg für eine evidente Unvertretbarkeit der Bush-Doktrin und damit der Latenz­theorie erbracht worden. Es ist folglich von ihrer grundsätzlichen völkerrechtlichen Relevanz auszugehen; daher ist die Latenztheorie in die später durchzuführende Rechtsermittlung mit einzubeziehen. b) Auswirkungen auf die Sachverhaltskonstellationen Nach der Latenztheorie wäre eine Gewalthandlung unter der Konstellation des wahrscheinlichen Eintritts regelmäßig rechtmäßig. Ebenso ist hiernach von einer grundsätzlichen Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung unter der Konstellation des abgestuften Eintritts auszugehen, da der Eintritt einer latent drohenden reaktiven Selbstverteidigungslage in Hinblick auf mehrere kleinere, bereits geschehene schädigende Ereignisse typischerweise als nicht unwahrscheinlich zu bewerten ist. Lediglich eine Gewalthandlung unter der Konstellation des zeitlich gewissen Eintritts vermag die Latenztheorie allein nicht zu legalisieren; jedoch ist auf Grund ihres Selbstverständnisses als Fortentwicklung strengerer Theorien zu erwarten, dass ihre Anhänger in solchen Fällen hilfsweise auf die – für sich genommen restriktiveren – zeitpunktorientierten Theorien zurückgreifen werden. Damit wäre faktisch eine Gewalthandlung unter jeder Konstellation als rechtmäßig einzustufen. V. Der Sonderfall: Die accumulation-of-events-Doktrin Als letztes soll nun auf die im Friedenssicherungsrecht häufig diskutierte accumulation-of-events-Doktrin eingegangen werden. Sie ist vor allem in der Praxis Israels261 als Reaktion auf wiederkehrende Angriffe gegen sein Staatsgebiet vorzu 261

Überblick bei Alexandrov, Self-Defense, S. 172 ff.

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finden und wird daher in der Regel als Theorie zur Terrorismusbekämpfung durch Selbstverteidigung herangezogen. Wie bereits oben dargestellt262, lautet die Formel dieser „Nadelstich-These“: Mehrere kleinere schädigende und gegen einen Staat gerichtete Ereignisse, die ihrerseits angesichts ihrer geringeren Intensität noch nicht zur Auslösung einer Selbstverteidigungslage führen, aber in ihrer gedachten anhäufenden Zusammenfassung zu einem Gesamtereignis die notwendige Realisierungsschwelle überschreiten würden, berechtigen zur Selbstverteidigung. Grafisch dargestellt sähe dies folgendermaßen aus:

Abbildung 8: Die accumulation-of-events-Doktrin grafisch aufgearbeitet

Damit zielt diese Doktrin zuvörderst auf die Beschaffenheit eines eine reaktive263 Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses ab, indem sie das Erfüllen der  – als über die reine Schadenskausalität hinausreichend qualifizierten  – Mindestbeschaffenheit eines Auslösers durch Zusammenfassen von Ereignissen mit für sich genommen geringerer, aber addiert ausreichender Beschaffenheit fingiert. Auf die bereits oben offen gelassene Frage nach der konkret hinreichenden Mindestbeschaffenheit eines Auslösers einer Selbstverteidigungslage jenseits der Schadenskausalität kommt es indes hier nicht an. Ebenso wenig im Zentrum der hier zu führenden Diskussionen steht die darüber hinaus in Lehre und Praxis re-

262

s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2). Gardam, Necessity, Proportionality, Force, S. 146, stellt die accumulation-of-events-Doktrin sogar ausdrücklich der vorbeugenden Selbstverteidigung als hiervon zu unterscheidenden Anwendungsfall gegenüber. Vgl. dagegen differenzierter Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 186 ff.

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levante Einwirkung dieser Theorie in Bezug auf die Beurteilung der Verhältnis­ mäßigkeit einer Selbstverteidigungshandlung264. Hinsichtlich vorbeugender Selbstverteidigung kann die ratio der accumulationof-events-Doktrin aber dennoch von Bedeutung sein. Zum einen könnte das durch diese Theorie dargestellte Szenario einen Indikator für das Vorliegen einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage beschreiben. Die dazu zu treffenden systema­ tischen Erwägungen wurden bereits an der dafür relevanten Stelle oben zur In­ dikationstheorie erörtert265 und bedürfen hier keiner Wiederholung. Zum anderen kann aber auch ein – zwar abstrakter – vorbeugender Aspekt im Sinne der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung von Bedeutung sein. Erreicht nämlich auch die Akkumulierung bereits abgeschlossener kleinerer schädigender Ereignisse noch nicht die im konkreten Fall ge­forderte Mindestbeschaffenheit des Auslösers einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage, würde diese zugleich aber mit dem nächsten zu erwartenden kleineren Ereignis dann durch Fiktion der Anhäufung aller Ereignisse erreicht, so könnte gegen dieses letzte zu erwartende Glied der Akkumulierungskette bereits vorbeugend vorgegangen werden266. Entsprechend äußert sich dies in der grafischen Dar­stellung:

Abbildung 9: Die accumulation-of-events-Doktrin unter spezifisch vorbeugend-verteidigenden Aspekten grafisch aufgearbeitet

264

s.  speziell dazu Ago, YBILC 1980 Vol.  II, S.  13 ff. (69); ferner Kittrich, Self-Defense, S. 76; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 175 f. 265 s. o. 4. Kap. C. IV. 2. a) dd). 266 Ähnlich Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 190 f.

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Dieser Anwendungsfall ist der einzige aller hier dargestellten Theorien, welcher für sich genommen entscheidend auf die Beschaffenheitsanforderungen an ein auslösendes Ereignis abstellt. Die zuvor wiedergegebenen Ausführungen beschäftigten sich dagegen sämtlich nur mit den Anforderungen an die Ereignisumstände, höchstens am Rande traten vereinzelt Beschaffenheitserwägungen eher als Begleiterscheinung – wie oben bei der Indikationstheorie – auf. Die vorliegende Ausformung der accumulation-of-events-Doktrin ist jedoch nur auf den ersten Blick als weiterer Ansatz zur Begründung von vorbeugender Selbstverteidigung diskutabel. Tatsächlich ist nämlich auch diese Konstellation bei genauerer Betrachtung nicht neu. Als Konsequenz der regelmäßigen reak­tiven Anwendungsfälle der accumulation-of-events-Doktrin hängt sie von der Ausgangsthese ab, dass mehrere kleinere Ereignisse in ihrer Gesamtheit die – dabei recht hoch angelegte – Realisierungsschwelle des Auslösers einer Selbstverteidigungslage zu überschreiten vermögen. Damit korrespondiert die Eigenständigkeit dieses Anwendungsfalles mit der Vermutung einer über bloße Schadenskausalität hinausgehenden notwendigen Mindestbeschaffenheit des Auslösers. Für die separierte Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ist die Determinierung einer Mindestbeschaffenheit des auslösenden Ereignisses über die stets zu fordernde Schadenskausalität hinaus jedoch nicht von Bedeutung; konsequenterweise wurde für diese Arbeit auch auf das Erfordernis einer erhöhten konkreten Mindestbeschaffenheit zu Gunsten einer möglichst weiten Ermittlung vorbeugender Aspekte verzichtet267. Die durch Abbildung 9 dargestellte Konstellation lässt sich aber nicht von dem der accumulation-of-events-Doktrin immanenten Erfordernis einer erhöhten Mindestbeschaffenheit lösen und wäre damit als solche nach den Grundvoraussetzungen dieser Arbeit als eigener theoretischer Ansatz von vorbeugender Selbstverteidigung irrelevant. Die Grundgedanken der gesamten accumulation-of-events-Doktrin wirken zwar auf die dargestellten ereignisspezifischen Theorien ein, liefern dabei jedoch nur Impulse zu einer möglichen Verlagerung der Umstandsanforderungen an das Ereignis. Selbständige verringerte Anforderungen an die Beschaffenheit eines auslösenden Ereignisses konnten entgegen der im Ausgangspunkt aufgezeigten Möglichkeit nicht geliefert werden. Dies gilt schließlich auch für die hier zuletzt aufgeführte Konstellation der accumulation-of-events-Doktrin: Überträgt man diese auf die dieser Arbeit zu Grunde liegende weite Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung  – also ohne die Forderung einer über die Schadenskausalität hinausreichenden Mindestbeschaffenheit ihres Auslösers  –, so handelt es sich auch bei einer Situation nach Abbildung 9 nicht mehr um ein Spezifikum der accumulation-of-events-Doktrin, sondern kann auf die bereits dargestellten Ansätze zur Begründung vorbeugender Selbstverteidigung übertragen werden. Für die genauere Einordnung dieser Konstellation ist dann lediglich von Bedeutung, unter welchen Umständen das zu er-

267

s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

wartende Ereignis einzuordnen ist, also ob sein Eintritt an zeitpunkt- oder wahrscheinlichkeitsorientierten Maßstäben zu messen ist. Angesichts der vorherigen abgeschlossenen Ereignisse dürfte es sich dabei regelmäßig um einen Anwendungsfall der Indikationstheorie handeln; es sind jedoch stets die Umstände des Einzelfalls zu beachten. Die accumulation-of-events-Doktrin liefert damit über das bereits Dargestellte hinaus keine weitere These zur Begründung von vorbeugender Selbstverteidigung. Sie beeinflusst aber die übrigen theoretischen Ansätze durch ihre ergänzenden Anforderungsverschiebungen an die Mindestbeschaffenheit eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses sowie als möglichen Anwendungsfall der Indikationstheorie.

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze Zum Abschluss dieses Teils soll nach der soeben vervollständigten Darstellung der völkerrechtlich relevanten Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung kurz auf die beiden in diesem Zusammenhang stehenden außerrechtlichen Ansätze eingegangen werden. Diese sind zwar für die Analyse der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung de lege lata nicht von Bedeutung, könnten jedoch zumindest auf teleologischer Ebene Auslegungsimpulse hierzu liefern und ggf. sogar de lege ferenda zu einer zukünftigen Veränderung oder Erweiterung des völkerrechtlichen acquis beitragen268. Eine Einschätzung hierzu wird nach der Darstellung beider Ansätze abzugeben sein. Es handelt sich dabei zum einen um die aus den Anfängen des Völkerrechts herrührende Theorie des gerechten Krieges, deren „Wiederauferstehung“ jüngst von einigen völkerrechtskritischen Verfechtern – wohl etwas voreilig – vorangetrieben wurde269. Zum anderen wird als inhaltlicher Kontrast dazu der dennoch gleichwohl außerrechtliche Ansatz des namhaften Völkerrechtlers Cassese vor­ gestellt. I. Die Theorie des gerechten Krieges Die Theorie des gerechten Krieges ist die wohl älteste völkerrechtliche Doktrin auch zum ius ad bellum und kann daher nicht ohne einen zumindest groben völkerrechtsgeschichtlichen Überblick verstanden werden270. Es wird daher zunächst 268 Anders als für die Analyse des bestehenden Rechts sind extralegale Erwägungen für das entstehende Recht tatsächlich höchst relevant, vgl. Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 333. 269 Vgl. z. B. Gose, HuV 16 (2003), S. 121 ff. (124). 270 Vgl. dazu auch Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 102 ff.; Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 13 ff.

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze

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kurz auf die historische Entwicklung dieser Lehre und danach auf deren gegenwärtige theoretische Bedeutung eingegangen. 1. Völkerrechtsgeschichtliche Entwicklung

Einige271 ihrer ersten Auswüchse findet die Theorie des gerechten Krieges in der europäischen Antike. Bereits Aristoteles erwähnte den gerechten Krieg als „natürlich gerechtes Mittel“ der griechischen Stadtstaaten zur Bekämpfung sog. „Barbaren“272. Auch zu Zeiten der römisch-republikanischen Vorherrschaft im antiken Europa war der bellum iustum von Bedeutung273. Das dort geltende ius ­fetiale274 unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen, wobei dieses Werturteil mit Recht- bzw. Unrechtmäßigkeit einer Kampfhandlung gleichgesetzt wurde. Zur Beurteilung der Gerechtigkeit eines Krieges entwickelten sich gewisse – zumeist prozedurale – Kriterien, wie z. B. die vorherige Warnung des Gegners oder die formelle Kriegserklärung275. Im späteren Kaiserreich wurde besagte Theorie durch das letztlich zur Staatsreligion erhobene Christentum auf­ gegriffen und zu Lasten des bis dahin vorherrschenden christlichen Pazifismus weiterverfolgt. Der heilige Augustinus erhob mit Bezugnahme auf einen gerechten Kriegsgrund die Kriegsführung in seinem Werk De Civitate Dei zu einem „bedauernswerten, aber notwendigen Phänomen zur Bekämpfung der Feinde“276. Auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches lebte die Lehre des gerechten Krieges in der christlichen Theologie fort und breitete sich weiter aus277. Ihre nächste bedeutende Erwähnung erfuhr die Lehre des gerechten Krieges durch Thomas von Aquin, der einen gerechten Krieg – bellum iustum – unter drei Voraussetzungen annahm: (1) auctoritas principis – die Kriegsführung unter der Herrschaft eines Fürsten (und nicht etwa als Privatangelegenheit), (2) causa iusta – Vorliegen eines gerechten Kriegsgrundes sowie (3) intentio recta – die richtige Absicht, für das Gute und gegen das Böse zu kämpfen278. Diese Aquin’sche 271

Über das exakte zeitlich und örtlich erste Aufkommen konfliktsvölkerrechtlicher Er­ wägungen besteht wenig Einigkeit, so erwähnt z. B. Alexandrov, Self-Defense, S. 1 f., bereits das antike China aus dem 7.  Jahrhundert v. Chr. als Quelle kriegsrechtlicher Erkenntnisse. Diese Arbeit muss sich aber auf Grund ihres Themenschwerpunktes des aktuell gültigen Völkerrechts auf die hier vorzufindende knappe Darstellung beschränken. 272 Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 37 f., m. w. N. 273 s.  dazu ausführlich Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S.  63 ff.; Kunde, Präventivkrieg, S. 48 ff.; Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 9 ff.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 38 f. 274 Das ius fetiale war das Recht der Fetialen, einer frührömischen Priesterschaft, welche maßgeblichen Einfluss auf das außenpolitische Handeln der Römischen Republik hatte. 275 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 63. 276 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 64. 277 Alexandrov, Self-Defense, S. 3, m. w. N. 278 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 64; Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 151 ff.; Kunde, Präventivkrieg, S. 52 f.

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Lehre war vorherrschend vom Mittelalter bis zur Gründung der ersten Nationalstaaten und wurde während dieser Zeit von der sich entwickelnden völkerrecht­ lichen Lehre adaptiert und interpretiert279. Eine Schlüsselposition nimmt dabei das 1625 von Hugo Grotius vollendete Werk De Jure Belli ac Pacis Libri Tres280 ein281. Als eine der bis heute bedeutendsten völkerrechtlichen Abhandlungen war die Schrift Grotius’ schon zu Lebzeiten des Autors als Anleitung zur Überprüfung der damals weiterhin mit Gerechtigkeit gleichgesetzten Rechtmäßigkeit282 von Kriegen wissenschaftlich weithin anerkannt, galt sie doch als Darstellung des seinerzeit geltenden Naturund Völkerrechts283. Neben Abhandlungen über allgemeine (oft auch zivilrechtliche) Rechtsverhältnisse einerseits sowie dem im dritten Buch behandelten völkerrechtlichen ius in bello andererseits nimmt die Theorie des gerechten Krieges bezogen auf das ius ad bellum eine zentrale Stellung innerhalb der ersten beiden Bücher des Gesamtwerkes ein. Grotius geht dabei von der seinerzeit gefestigten Annahme aus, dass ein Krieg grundsätzlich gerecht sein kann, weil sich dies aus dem Naturrecht und den christlichen Rechtsvorstellungen ergebe284. Grundsätzlich sei auch jedermann zur Kriegsführung berechtigt285, das Aquin’sche Erfordernis der auctoritas principis sieht er also nicht286. Voraussetzung des gerechten Krieges sei aber unabhängig davon die Erfüllung mindestens eines so bezeichneten Rechtfertigungsgrundes, namentlich konnte dies sein Verteidigung, Wiedererlangung des Genommenen und (sogar!) Bestrafung287. Bereits dieser numerus clausus der gerechten Kriegsgründe schränkt die Theorie des gerechten Krieges in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung auf den ersten der von Grotius genannten Rechtfertigungsgründe – Verteidigung – ein. Es sind daher nurmehr solche Passagen in seinem Werk beachtlich, die sich auf den Kriegsgrund der Verteidigung stützen. Eine „gerechte Verteidigung“ erfordert dabei ihrerseits einen „ungerechten Angreifer“, also die Nichterfüllung der drei genannten Voraussetzungen für gerechte Kriege auf Seiten des Gegners288. Darüber hinaus bringt Grotius an späterer 279

Z. B. von den Scholastikern Francisco de Vitoria, Francisco Suárez und Hugo Grotius; dazu näher Alexandrov, Self-Defense, S. 4 ff.; Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 65 f.; Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, S. 63 ff.; Hobe, Einführung, S. 35; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 42 ff. 280 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, passim; vgl. dazu auch Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 3 (S. 645 f.). 281 Eingehend dazu die jüngste umfassende Kommentierung des Werkes Grotius’ durch Kunde, Präventivkrieg, S. 19 ff. 282 Zur Bedeutung des Begriffs „Recht“ im Sinne Grotius’ instruktiv und ausführlich Kunde, Präventivkrieg, S. 27 ff. 283 Kunde, Präventivkrieg, S. 73. 284 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, erstes Buch, 2. Kap., Abschn. I ff. 285 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, erstes Buch, 5. Kap., Abschn. I ff. 286 Kunde, Präventivkrieg, S. 57. 287 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 1. Kap., Abschn II. 288 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 1. Kap., Abschn. IV.

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze

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Stelle weitere ausdrücklich ungerechte Kriegsgründe hervor, die als solche jedenfalls nicht mit dem zuvor genannten numerus clausus in Einklang gebracht werden können289. Diese würde man heute wohl als subjektive Elemente der Verteidigung bezeichnen, weil sich Grotius dabei sämtlich auf die innere Einstellung des Kriegführenden bezieht, der objektiv zwar einen der gerechten Kriegsgründe erfüllt haben mag, sich jedoch von einer anderen Motivation – nämlich aus sog. „ver­ lockenden Gründen“ – hat leiten lassen. Recht deutlich äußert sich Grotius auch explizit zu „zuvorkommender“ Ver­ teidigung; eine solche sieht er nämlich nur bei einer offenen Feindseligkeit des Gegners, nicht aber bereits bei bloß vermuteter Gefahr als gerechtfertigt an290. Auch dabei ist die Trennung von objektiven und subjektiven Erwägungen von Bedeutung. Dieser seinerzeit nicht häufig wissenschaftlich fokussierte Passus fand immerhin bei dem deutschen Völkerrechtler und Nachfolger Grotius’, Samuel Pufendorf, Beachtung. Pufendorf stimmt der Rechtmäßigkeit vorbeugender Verteidigung nach Maßgabe der Lehre des gerechten Krieges zu, weil es das Naturrecht nicht gebiete, den ersten Schlag des Gegners abzuwarten291. Doch beschränkt auch er die relevanten Anwendungsfälle auf solche Situationen, bei welchen die Angriffsabsicht des Gegners offensichtlich ist. Die grotianische Ansicht zu vorbeugender Verteidigung überdauert also das Werk ihres Schöpfers, wenn sie denn erkannt wird. Schließlich deutet Grotius indirekt das auch heute noch stets beteuerte Er­ fordernis der Verhältnismäßigkeit von Schaden und Abwehrhandlung als erforderlich an292. Daraus lässt sich auch das an anderer Stelle des zweiten Buches indirekt dargestellte Prinzip der ultima ratio des Krieges ableiten. So sollen (vor allem subjektiv) „zweifelhafte Kriegsgründe“ tendenziell nicht zur Kriegsführung berechtigen, da zuvor alle friedlichen Möglichkeiten zur Streitbeilegung auszuschöpfen seien293. Bestärkt wird dies durch die Forderung, nicht vorschnell einen Krieg zu beginnen, wie auch durch den bemerkenswerten Appell, im Zweifel aus Barmherzigkeit auf das grundsätzlich zustehende Kriegsführungsrecht zu verzichten294. In ihrer Gesamtbetrachtung erzeugt die Theorie des gerechten Krieges nach Grotius damit folgendes Bild: Verteidigung gegen einen aus nicht gerechten Gründen handelnden Gegner gilt als gerechtfertigt. Die ungerechte Handlung des Gegners muss dabei gegenwärtig sein oder sich offenkundig feindselig ankündigen; eine vermutete Gefahr reicht nicht für einen objektiv gerechten Kriegsgrund aus. Im Übrigen bieten die objektiven Kriterien aber einen weiten Spielraum zur 289

Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 22. Kap., Abschn. I ff. Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 1. Kap., Abschn. V. 291 Kunde, Präventivkrieg, S.  81 f., m. w. N.; Suppert, Notwehr und notwehrähnliche Lage, S. 359. 292 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 1. Kap., Abschn. X. 293 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 23. Kap., Abschn. I ff., insb. VI. 294 Grotius, De Jure Belli ac Pacis, zweites Buch, 24. Kap., Abschn. I ff. 290

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Gewalt­anwendung auch über die Verteidigung hinaus. Als Korrektiv dazu dienen die zusätzlich zu erfüllenden subjektiven Kriterien in Form des Ausschlusses „verlockender Gründe“ sowie die mehrfach anzutreffende Forderung nach Verhältnismäßigkeit und Mäßigung. Realistisch betrachtet kann dies jedoch nur als mahnender Appell an den regelmäßig absoluten Herrscher verstanden werden, da die sich entwickelnden Gemeinwesen keiner Kontrollinstanz unterlagen – mit Ausnahme konkurrierender Herrschaftsgebiete, die einen vermeintlichen Regelverstoß anderer Gemeinwesen leicht mit dem gerechten Kriegsgrund der Bestrafung ahnden konnten. Entscheidend war letztlich nur die Vernunft des jeweiligen Herrschers, auf die das Werk Grotius’ jedoch möglichst hohen Einfluss ausüben wollte. Etwas Anderes konnte in einer Zeit ohne absolutes Kriegsverbot freilich auch nicht geleistet werden295. Letztlich führte die auch historisch bedingte Vermengung von Recht und Gerechtigkeit dazu, dass aus subjektiv gerecht empfundenen und nach dieser Maßgabe unter die Theorie von Grotius als passend subsumierten Gründen Krieg in fast jeder Situation für rechtmäßig gehalten wurde. Situationsbedingt gefühlte Gerechtigkeit reichte daher in der Regel bereits für einen rechtmäßigen Krieg nach der Lehre des bellum iustum aus. Auch die formell eher begrenzten grotianischen Voraussetzungen für vorbeugende Verteidigung bleiben damit nicht mehr als ein rechtlich schimmerndes Spiegelbild von so interpretierter Gerechtigkeit, zumal unter den beiden übrigen gerechten Kriegsgründen die Erstanwendung von Gewalt ohnehin möglich war. Folglich verlor die Theorie des gerechten Krieges mit fortschreitender Gründung von Nationalstaaten ab der Zeit des Westfälischen Friedens 1645 bis zum 19. Jahrhundert an entscheidender Bedeutung296. Angesichts zunehmender Souveränitätsansprüche neuer Gemeinwesen und ihrer ambitionierten Herrscher verlagerte sich die Entscheidung zur Kriegsführung mehr und mehr auf den alleinigen Willen der einzelnen Fürsten, ohne sich von einem Kodex wie das Werk Grotius’ leiten und damit einschränken lassen zu wollen297. Stattdessen ging man dazu über, sich über Verträge gegenseitig inter partes zu verpflichten, anstatt allgemein gültige Regeln anzuerkennen; ein bellum iustum wandelte sich so zum bellum legale, der nur durch Übereinkommen souveräner Staaten gesteuert wurde298.

295 Diese selbstverständliche, aber auch gleichermaßen wichtige Erkenntnis gilt es bei der historischen Betrachtung der Entstehung des Völkerrechts stets zu beachten, s. dazu auch Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 152 f. 296 Dies begann freilich schon im auslaufenden 17. Jahrhundert, bestärkt durch die Lehre der Völkerrechtler Christian Wolff und Émer de Vattel, vgl. Kunde, Präventivkrieg, S. 83 ff.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 46 ff. 297 Alexandrov, Self-Defense, S. 9.; Kunde, Präventivkrieg, S. 75 f. 298 Alexandrov, Self-Defense, S. 9 f.

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze

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2. Gegenwärtige Bedeutung

Wie erkannt wurde, büßte die Theorie des gerechten Krieges bereits kurz nach den Lebzeiten von Grotius in der Praxis der aufkommenden Nationalstaaten an entscheidender Bedeutung ein. Umso erstaunlicher ist, dass sie, obwohl sie aus einer Zeit ohne absolutes Kriegsverbot stammt, heutzutage in Teilen der Lehre des modernen, auf Gewaltverbot gegründeten Völkerrechts eine gewisse Renaissance erfährt. Gemeint sind damit jedoch nicht die – inhaltlich interessanten, aber die Theorie gerade nicht wiederaufleben lassenden – Vergleichsstudien der Lehre vom gerechten Krieg mit gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungen299 und speziell der Bush-Doktrin300; vielmehr wird die Theorie des gerechten Krieges als solche auf das moderne Völkerrecht übertragen. Dies geschieht wiederum in zwei unterschiedlichen Ausprägungen. Zum einen wird die Theorie des gerechten Krieges auf die Einrichtung der Vereinten Nationen übertragen, indem angenommen wird, dass die klassische Lehre unter den modernen institutionellen Vorzeichen fortlebt. Die heutigen gerechten Kriege seien demnach Selbstverteidigungshandlungen301 nach Art. 51 SVN sowie Maßnahmen kollektiver Sicherheit302. Eine solche Interpretation verkennt jedoch – jedenfalls begrifflich – die gerade dem modernen Völkerrecht innewohnende notwendige Trennung von Recht und Gerechtigkeit zu Gunsten einer einheitlichen, auf Gewaltverbot aufbauenden Rechtsordnung, wie sie auch durch die Kodifikation der SVN zum Ausdruck kommt303. Letztlich ist in diese Auslegungsart des modernen Völkerrechtssystems nur ein Strukturvergleich ohne eigenständige Bedeutung hineinzulesen304, durch welchen die durchaus teils fortschrittlichen theoretischen Vorzüge der grotianischen Lehre auf ein nun verbindliches Fundament installiert werden sollen. Unbenommen soll dieser Lesart der SVN daher sein, die Ideen Grotius’ zu würdigen und sie deshalb auch darin wiederzufinden. Eine eigenständige Bedeutung der Theorie des gerechten Krieges wird auf diese Weise jedoch nicht begründet. Zum anderen wird die klassische Theorie des gerechten Krieges als solche aufgegriffen und auf die heutige Zeit übertragen305. Eine besondere Ausprägung der Theorie des „modernen gerechten Krieges“ wurde dabei von dem politischen 299

Z. B. von Reed/Ryall, Price of Peace, passim. Die Bush-Doktrin bezieht sich  – wenig überraschend  – gerade nicht auf die Theorie des gerechten Krieges, weist jedoch einige Ähnlichkeiten auf, welche wissenschaftlich ver­ gleichend herausgearbeitet wurden z. B. von Hilger, Präemption und humanitäre Intervention, passim, und Kunde, Präventivkrieg, passim. 301 Nur auf Selbstverteidigung in Verbindung mit der Lehre des gerechten Krieges stützt sich die Analyse der jüngeren Staatenpraxis von Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 130 ff. 302 Umfassend dazu Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 64 ff., m. w. N. 303 Vgl. auch Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 65. 304 So ist wohl letztlich auch Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 138, zu verstehen. 305 Vgl. zu einigen Anwendungskonzeptionen Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 67 ff. 300

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Philo­sophen Michael Walzer begründet306 und erfährt neben der politischen und philosophischen Ebene auch auf völkerrechtlichem Terrain Gehör. Walzer trennt dabei bewusst nicht zwischen Recht und Gerechtigkeit, sondern macht die Rechtmäßigkeit von Kriegen von situationsbedingten Einschätzungen abhängig. Dabei lässt er sich von dem Grundgedanken leiten, dass sich Kriege als Aggressionen und Interventionen kategorisieren lassen, wobei erstere grundsätzlich ungerecht und letztere grundsätzlich gerecht sein sollen307. Ein absolutes Gewaltverbot existiert damit nach der Lehre Walzers nicht, er beschränkt sich auf ein enger verstandenes Aggressionsverbot. Vorbeugende Verteidigung soll dabei gerade nicht als Aggression, sondern üblicherweise als gerechter Kriegsgrund gelten308; mit dieser deut­ lichen Klarstellung geht Walzer übrigens weiter als es Grotius tat, der vorbeugende Verteidigung nur unter vergleichsweise strengen Voraussetzungen als gerecht betrachtete. Damit ist die Theorie des gerechten Krieges weiterhin tief im Bewusstsein der modernen Lehre verwurzelt  – sowohl als historisches Faktum der Völkerrechts­ entwicklung als auch als (wieder) modern werdende Herangehensweise an völkerrechtlich relevante Vorgänge wie vor allem vorbeugende Selbstverteidigung. Diese diskursive Beachtlichkeit darf jedoch nicht mit dem tatsächlichen völkerrecht­ lichen acquis verwechselt werden; dazu gehört die Theorie des gerechten Krieges als außerrechtlicher Ansatz eben nicht. II. Der „Schuld-Ansatz“ von Cassese Cassese knüpft im Kontrast dazu nicht an althergebrachte Thesen an, sondern beschränkt sich zunächst auf eine Analyse des völkerrechtlichen status quo309. Trotz der von ihm als uneindeutig eingeordneten Vertrags- und Praxislage gelangt er dabei zu dem Ergebnis, dass vorbeugende Selbstverteidigung niemals nach Maßstäben des Völkerrechts rechtmäßig sein kann310. Vom Grundsatz her vertritt Cassese damit die Gegenwärtigkeitstheorie. Dieses restriktiv anmutende Zwischenergebnis, von dessen völkerrechtlicher Konsistenz er überzeugt ist, soll aber in Hinblick auf die auch in dieser Arbeit bereits mehrfach angesprochene neue Bedrohungslage in der Welt jenseits des Völkerrechts korrigiert werden311. Dieser Ansicht liegt das jedenfalls dem kontinental­

306

Walzer, Just and unjust wars, passim. Walzer, Just and unjust wars, S. 51 ff., 86 ff. 308 Walzer, Just and unjust wars, S. 74 ff. 309 Cassese, Int’l. Law, S. 357 ff.; i. Ü. als außerrechtlicher Lösungsansatz jüngst erwähnt bei Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (31). 310 Cassese, Int’l. Law, S. 361. 311 „… actions prove illegal but are in some respects justified by other grounds.“, Cassese, Int’l. Law, S. 361 f. 307

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze

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europäischen Strafrecht bekannte Schuldprinzip zu Grunde, wonach auch eine rechtswidrige Handlung nicht zwingend zur Bestrafung des Täters führen muss. Dieses Prinzip möchte Cassese zumindest indirekt auf das Völkerrecht über­ tragen, indem er konstatiert, dass auch eine völkerrechtswidrige Handlung – wie die von ihm so qualifizierte vorbeugende Selbstverteidigung  – aus moralischen oder politischen Gründen  – man könnte ergänzen: mangels Vorwerfbarkeit  – „gerechtfertigt“312 werden kann. Er verfolgt damit inhaltlich einen auf eine fiktive Schuldebene abstellenden Ansatz313. Auf völkerrechtlichem Terrain würde sich eine solche Konstellation dergestalt äußern, dass die internationale Gemeinschaft zwar die Illegalität eines Handelns feststellt, zugleich aber auf eine Ver­urteilung des sich auf vorbeugende Selbstverteidigung berufenden Staates verzichtet. Ins­ besondere gelte dies, wenn der jeweilige Staat überzeugende Beweise dafür liefern kann, dass er sich angesichts der seiner Kenntnis zur Verfügung stehenden Indizienlage unmittelbar bedroht und damit zur Handlung gerechtfertigt fühlen durfte314. Die Maßstäbe für ein solches subjektiviertes Zugutehalten im Einzelfall ähneln dabei jenen der Vertreter der Latenztheorie für die Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung315; solche nennt Cassese auch zu Anfang seiner Ausführungen und setzt sich mit ihnen auseinander. Für ihn sind dies jedoch sämtlich „metalegale“316 Argumente und daher trotz ihrer Beachtlichkeit nicht innerhalb des Völkerrechts zu verwerten. Bemerkenswert ist in Anbetracht der zuvor dargestellten verschiedenen Positionen des aktuellen völkerrechtlichen Meinungsstandes, dass sich Cassese in seinem „Schuld-Ansatz“ sowohl auf Argumente der Gegenwärtigkeitstheorie als engste Ansicht als auch auf solche der Latenztheorie als weiteste Ansicht zu vorbeugender Selbstverteidigung beruft. Er ordnet diese nur unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu, gibt sich also als restriktiver Völkerrechtler, aber im Ergebnis liberaler Politologe. Angesichts der soeben aufgezeigten Lage unterschiedlichster Diskussionsansätze eines divergierenden Meinungsstandes erscheint dieser – bislang wenig beachtete und teilweise kritisierte317 – alternative „Schuld-Ansatz“ Casseses auf den ersten Blick auch nicht ohne Charme. So liegt nach dem bisher gewonnenen Bild die Vermutung nicht fern, dass es sich bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung weniger um eine

312 Cassese verwendet hier etwas unglücklich den Begriff „justified“, obwohl es ihm gerade ersichtlich nicht um eine Rechtfertigung – auch nicht im strafrechtlichen Sinne – geht. 313 Auf das Element der Entschuldbarkeit von Gewalthandlungen berief sich seinerzeit bemerkenswerterweise auch der politische Berater der US Air Force in Europa, Gose, HuV 16 (2003), S. 121 ff., am Ende seiner Erklärungsversuche zur NSS 2002. Ebenso (erst) auf Schuldebene diskutiert Rodin, Prevention, in: Preemption, S. 143 ff. (162 f.), Erklärungsansätze für sog. „notwendige Selbstverteidigung“. 314 Cassese, Int’l. Law, S. 362; Hervorh. v. Verf. 315 s. ausführlich o. 4. Kap. C. IV. 3. 316 Cassese, Int’l. Law, S. 358. 317 von Buttlar, Rechtsstreit oder Glaubensstreit, in: FS-Ress, S. 15 ff. (28).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

Rechts- als vielmehr um eine Glaubensfrage handelt318. Es ist dennoch festzustellen, dass trotz gelegentlich politisch motivierter Sanktionsverzichte zu grundsätzlich völkerrechtswidrigem Handeln hierzu kein verlässliches Regime existiert, sondern es bei politischen Einzelfallentscheidungen verbleibt. Daher ist auch hier keine Parallele zum strafrechtlichen Schuldprinzip zu ziehen, denn strafrechtliche Schuldausschließungsgründe sind im Gegensatz zu völkerrechtlichem Sanktionsverzicht rechtlich geregelt und eben nicht bloß Gegenstand politischer Einzelfallentscheidungen319. Ferner fehlt es an einer völkerrechtlichen Ermächtigungsgrundlage zur möglichen Verrechtlichung solcher politischer Entscheidungen320, sodass Casseses „Schuld-Ansatz“ höchstens de lege ferenda beachtlich werden kann321. III. Konsequenzen der außerrechtlichen Ansätze Trotz der in ihrer Ausgangslage entgegenstehenden Anknüpfungspunkte und ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen haben beide dargestellten Thesen gemeinsam, dass sie sich zwar im Ausgangspunkt auf das Völkerrecht beziehen, im Ergebnis jedoch zu eindeutig außerrechtlichen Lösungen gelangen. Der eingangs dieser Arbeit als notwendig klargestellten Trennung zwischen Legalität und Legitimität halten sie nicht stand. 318

Diesen Schluss zieht von Buttlar, Rechtsstreit oder Glaubensstreit, in: FS-Ress, S. 15 ff. (20 f.), aus dem von ihm ermittelten „rechtlichen Patt“ und konstatiert sodann einen „Glaubenstest“. Die Einordnung des jeweils vertretenen Ergebnisses als Glaubensfrage spricht allerdings demselben bereits einen völkerrechtlichen Charakter ab: Formal-juristisch wird so nämlich nur zum Schein von einem rechtlichen Ausgangspunkt – der Frage nach den möglichen Voraussetzungen vorbeugender Selbstverteidigung  – ausgegangen, um dann das Ergebnis mittels von eigener Überzeugung getragener, aber eben nicht nach juristischer Methodik ermittelter Argumente in den zuvor determinierten politischen Kontext zu bewegen. 319 Davon zu unterscheiden ist die – hoch interessante, aber im Umfang dieser Arbeit nicht zu erörternde – Frage, ob dem Ansatz Casseses nicht an anderer Stelle (etwa auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen einer dezidierten Verhältnismäßigkeitsprüfung) Rechnung getragen werden kann. 320 s. dazu bereits o. 1. Kap. B. III. 321 Das allerdings mit einer völkerrechtlichen Verwirklichung dieses Ansatzes einher­gehende Dilemma der Suche nach einer im Einzelfall gerecht anmutenden, aber ohne rechtliche Anknüpfungspunkte versehenen Lösung zeigt sich beim Heranziehen der eingangs dieser Arbeit vorgestellten Sachverhaltskonstellationen: Jede einzelne dieser Konstellationen wäre ohne Rücksicht auf tatbestandliche Anforderungen per se rechtswidrig, steht aber unter dem Vorbehalt politischer Billigung oder gar Zustimmung. Die Motive einer solchen politischen Entscheidung ex post sind aber ex ante weder bestimmbar noch einzugrenzen. Eine jede Maßnahme vorbeugender Selbstverteidigung wird so zum Vabanquespiel; Staaten werden letztlich dazu animiert, Gewalt „auf gut Glück“ anzuwenden um dann, je nach dem wie die politischen Würfel fallen, auf eine spätere Absolution zu spekulieren. Eine verlässliche Analyse ist zu keiner denkbaren Konstellation möglich, weil die Konsequenzen eines wie auch immer gearteten staatlichen Handelns bei Gewaltanwendung stets unvorhersehbar bleiben. Nicht zuletzt wird beim Verlassen der rechtlichen Ebene grundsätzlich und zu Recht angemahnt, dass, je stärker außerrechtliche Argumente in den Vordergrund treten, umso geringere Anforderungen an die rechtliche Argumentation gestellt werden (vgl. dazu auch Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 32). Dies ist für eine rechtliche Analyse stets kontraproduktiv.

D. Exkurs: Außerrechtliche Ansätze

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Dies sollte zwar zunächst nicht über Gebühr verurteilt werden, ist es dem Völkerrecht doch grundsätzlich zuzugestehen, sich als besondere Rechtsform auf der Schnittstelle322 zwischen Recht und Politik zu bewegen323, um so den mannigfaltigen Anforderungen einer heterogenen324 und doch auf souveräner Gleichheit325 beruhenden (Staaten-)Welt gerecht zu werden. Doch vermögen bloße politische Argumentationen den völkerrechtlichen acquis nicht zu verändern; dies kann nur anhand von politischen Entscheidungen zur Rechtsetzung durch dazu legitimierte Entscheidungsträger gelingen. Genau diese Erkenntnis wurde durch die Darstellung der beiden außerrechtlichen Ansätze bestärkt: Es mag nach Cassese unter Umständen wünschenswert sein, auch im Völkerrecht zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld einer Handlung zu differenzieren, um dadurch ergiebigere Feststellungen über den Unrechtsgehalt einer Handlung einerseits und die Vorwerfbarkeit eines Verhaltens andererseits treffen zu können. Allein gibt dies das geltende Recht nicht her, weshalb auch die charmantesten Ansätze im Rechtssinne keine Rolle spielen können. Der Vergleich der nun abgeschlossenen Darstellung der völkerrechtlichen Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung mit zwei ausgewählten außerrechtlichen Ansätzen hilft zudem den Scheidepunkt zwischen völkerrechtlich möglicherweise noch Vertretbarem und evident Völkerrechtsfremdem zu bestimmen. Die Gegenüberstellung mit den inhaltlich teilweise nicht sehr weit von den völkerrecht­ lichen Theorien entfernten außerrechtlichen Ansätzen zeigt recht klar die Grenze zwischen im Völkerrecht evident unvertretbaren und nicht evident unvertretbaren Theorien auf. Nur das nicht evident Unvertretbare soll eine eingehendere völker 322 Man könnte diese Schnittstelle auch problemorientiert als „Spannungsfeld“ bezeichnen, wie es Radke, Staatsnotstand, S.  115 ff., in Bezug auf das Verhältnis von Macht und Recht pflegt. 323 Zum Zusammenwirken von Recht und Politik vgl. Koskenniemi, MichiganJIL 17 (1996), S. 455 ff., der das Wechselspiel zwischen Recht und Politik im Sicherheitsrat aus eigener Erfahrung skizziert, dabei ein (nicht eindeutig auf Legalität oder Legitimität bezogenes) „Rechtfertigungsbedürfnis“ jedes Handelns feststellt und so völkerrechtliches Agieren als politische Aktion vorbehaltlich rechtlicher Unbedenklichkeit erlebt. Völkerrecht wird damit zu einem Binde­glied zwischen Politik und Recht unter dem Primat des Rechts. Unterstrichen wird dies in den Vorüberlegungen zu ihrer Untersuchung auch von Minnerop, Paria-Staaten, S. 8. Bestärkt wird diese Ansicht durch die Ausführungen von Cremer, ZaöRV 67 (2007), S. 267 ff., der am Ende seines Aufsatzes die Frage, ob sich der rechtliche vom politischen Diskurs trennen lässt, zwar nicht beantwortet (ibid., S. 295, dort Fn. 149), aber doch gerade durch das abschließende Aufwerfen dieser Fragestellung die Schnittstellenposition des Völkerrechts zwischen Recht und Politik voraussetzt. I. Ü. soll auf die Ausführungen zu Beginn dieser Arbeit verwiesen werden. 324 Dies gilt in tatsächlicher Hinsicht, sei es einerseits bezüglich der Unterschiede beispielsweise in Territorium, Bevölkerungszahl, internationaler Gefolgschaft, Bündniszugehörigkeit, Wirtschaftskraft, politischem Selbstverständnis oder andererseits gemessen an der als solchen unbestrittenen Einteilung in sog. Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer. 325 Dies ist die völkerrechtliche Antwort auf die tatsächlichen Gegebenheiten in Form des Grundsatzes souveräner Staatengleichheit aus Art. 2 (1) SVN sowie aus ius cogens; vgl. dazu auch die problembewusste Auseinandersetzung von Karagiannis, Légalisation, in: Droit int. à la croisée, S. 105 ff. (112).

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4. Kap.: Der aktuelle Diskussionsstand

rechtliche Untersuchung durchlaufen, um hieraus eine – letztlich mit umgekehrten Vorzeichen – evident vertretbare Aussage über den status quo hervorbringen zu können. Dazu eignen sich nun nachgewiesenermaßen nur die ereignisspezifischen Theorien.

E. Fazit: Der beachtliche Diskussionsstand Der aktuelle Stand der Diskussionen ergibt folgendes Bild: Allenfalls die ereignisspezifischen Theorien könnten angesichts der ihnen gemeinsamen Qualifizierung als nicht evident unvertretbar die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung begründen. Sie allein müssen sich also an der nun folgenden Rechtsermittlung auf ihre tatsächliche völkerrechtliche Vertretbarkeit hin messen lassen. Innerhalb der ereignisspezifischen Theorien hat sich die durchzuführende Rechtsermittlung nur auf die Frage der Anforderungen an die Umstände eines auslösenden Ereignisses zu konzentrieren. Dagegen zeigte sich in Bezug auf dessen Beschaffenheit, dass insofern keine Anforderungsverringerung im Vergleich zu reaktiver Selbstverteidigung als selbständiges Kriterium herausgebildet werden kann. Zwar ist die Beschaffenheit des auslösenden Ereignisses für sich genommen relevant, für die hier allein zu beantwortende Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung hilft eine Untersuchung einer konkreten Mindestbeschaffenheit jedoch nicht weiter. Für den hiesigen Stand der Zwischen­ ergebnisübersicht bedeutet dies: Übersicht 5 Zweites Zwischenergebnis zu den relevanten Fragen zur Ermittlung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung

E. Fazit: Der beachtliche Diskussionsstand

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Damit hängt die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nur noch von der Frage ab, ob und ggf. wie sich die Anforderungen an die Umstände eines grundsätzlich eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses im völkerrechtlich zulässigen Rahmen verschieben lassen. Die Ermittlung des geltenden Völkerrechts hat sich also nur an den Argumenten der zeitpunkt- und wahrscheinlichkeitsorientierten ereignisspezifischen Theorien auszurichten. Zu untersuchen sein wird folglich, ob die einzelnen relevanten und als nicht evident unvertretbar eingeordneten Theorien tatsächlich geltendes Völkerrecht wieder­ geben.

„Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.“1 „And our security will require all Americans to be forward-looking and resolute, to be ready for preemptive action when necessary to defend our liberty and to defend our lives.“2

Teil 3

Vorbeugende Selbstverteidigung im geltenden Völkerrecht – Bestandsaufnahme und Rechtsermittlung 5. Kapitel

Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung A. Überblick und Vorgehensweise Nachdem die ereignisspezifischen Theorien sich als einzig mögliche Ansätze zur Völkerrechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung erwiesen haben, gilt es nun das Völkerrecht als solches im Lichte dieser Erklärungsversuche zu ana­lysieren. Der eigentlichen Rechtsermittlung ist dieses Kapitel als „allgemeiner Teil“ vorangestellt, welches sich mit den generellen Vorgaben zur Rechtsermittlung befasst. Gemäß dem Ziel dieser Arbeit werden zunächst die zur Rechtsermittlung notwendigerweise zu beantwortenden Fragestellungen formuliert und ihre Beantwortungsanforderungen herausgearbeitet. Ferner werden die Rechtsquellen des Völkerrechts dargestellt, anhand welcher sich die dann folgende Rechtsermittlung orientiert. Die Vorgehensweise der später in diesem Teil  innerhalb dieser Bahnen verlaufenden Rechtsermittlung kann als kombiniert systematisch-chronologisch bezeichnet werden. Dabei wird sich die eigentliche Rechtsermittlung in zwei thematische Blöcke teilen, welche sich durch die Zäsur des epochenwandelnden Ausgangs des Zweiten Weltkrieges und die darauf folgende Gründung der Vereinten Nationen voneinander abgrenzen. In beiden Blöcken werden die für die Rechtsermittlung tauglichen und vorher ermittelten Quellen herangezogen und im Lichte der ereignisspezifischen Theorien orientiert an den zuvor formulierten Fragestellungen analysiert.



1 Cato dem Älteren zugeschrieben (um 150 v. Chr.), zit. z. B. bei Hofmeister, AVR 48 (2010), S. 248 ff. (263 f.). 2 Bush jun., Graduation Speech at West Point (01.06.2002).

B. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen

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Zunächst gilt es dabei den völkerrechtlichen Stand zu Fragen vorbeugender Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen herauszuarbeiten. Das heute geltende Völkerrecht kann vernünftigerweise nicht ohne seine historischen Wurzeln verstanden werden, weil die vorerst letzte Völkerrechtsepoche ihre Wirkung schließlich nicht isoliert von den vorherigen entfaltete. Darüber hinaus wird sich auch zeigen, dass das Recht bei Gründung der Vereinten Nationen in Abhängigkeit vom zuvor gültigen Völkerrecht stand und auch daher darauf einzugehen ist. Ohne eine genaue Analyse der historischen Entwicklungen wäre ein direkter Rekurs auf das Vertragsrecht der SVN deshalb unverständlich und unvollständig. Epochenbedingt erfolgt die Rechtsermittlung vor dem Zeitalter des VN-Völkerrechts vorbehaltlos analytisch dahingehend, dass für vorbeugende Selbstverteidigung relevante Übereinkommen und Geschehnisse ausgewertet und auf die einzelnen Theorien übertragen werden. Mangels Einschlägigkeit ist das dem modernen Völkerrecht typische Gewaltverbot dort noch nicht zu berücksichtigen. Diesem wird erst im zweiten Analyseblock Rechnung getragen werden müssen, weshalb dort die Rechtsermittlung nicht ohne Weiteres vorbehaltlos erfolgen kann, sondern stets im Kontext veränderter Völkerrechtsgrundsätze zu vollziehen sein wird. Erst mit Abschluss der Untersuchungen bis 1945 wird auf die Bestimmungen der SVN als gültige vertragsrechtliche Grundlage des modernen Völkerrechts einzugehen sein. Die für vorbeugende Selbstverteidigung relevanten Schlüssel­ begriffe werden dabei herausgearbeitet und gezielt im Hinblick auf die relevanten Fragestellen ausgewertet. Dabei werden sich Verknüpfungen zum vorher geltenden Völkerrecht wie auch zu den nachfolgenden Entwicklungen ergeben, welche in einem letzten Schritt betrachtet werden sollen. Bevor aber mit dieser eigentlichen Auswertung des geltenden Völkerrechts zu vorbeugender Selbstverteidigung begonnen werden kann, sollen hier zunächst die für diese Rechtsermittlung allgemein gültigen Anforderungen dargestellt werden. Die Ergebnisse dieses „allgemeinen Teils“ der Rechtsermittlung sind dann für die darauf folgende Quellenanalyse durchweg von Belang.

B. Die für die Rechtsermittlung relevanten Fragestellungen Wie sich aus dem bisher Festgestellten ergibt, sind für die Rechtsermittlung zu vorbeugender Selbstverteidigung nur solche Aspekte von Bedeutung, die rechtsverbindliche Aussagen darüber treffen können, ob die Anforderungen an die Umstände einer Selbstverteidigungslage vom Ausgangspunkt der reaktiven Selbstverteidigung abweichen können. Die daran geknüpfte Ermittlung des völkerrechtlichen acquis zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung erfolgt logisch anhand zweier voneinander abhängender Fragestellungen. Diese

216

5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

für den weiteren Verlauf dieser Arbeit wegweisende Orientierung an vorweg festgelegten und formulierten Fragestellungen präzisiert die folgende umfangreiche Analyse und schafft zugleich einen stets gültigen, „vor die Klammer gezogenen“ Bezugspunkt. Die dafür maßgeblichen Fragestellungen sollen hier als [F1] und [F2] bezeichnet werden. [F1]: Kann vorbeugende Selbstverteidigung im Grundsatz überhaupt recht­mäßig sein?

Wenn die Antwort auf [F1] negativ ausfällt, wäre die Gegenwärtigkeitstheorie die erwiesenermaßen einzig vertretbare Ansicht, sodass vorbeugende Selbstverteidigung als jedenfalls rechtswidrig zu bewerten wäre. Wenn die Antwort auf [F1] positiv ausfällt, stellt sich hieran anknüpfend die Anschlussfrage [F2]. [F2]: Unter welchen Voraussetzungen ist vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig?

Nach den im vorangegangenen Teil  durchgeführten Analysen ist [F1] jedenfalls dann positiv zu beantworten, wenn die Anforderungen an die Umstände eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses grundsätzlich unterschiedlich ausfallen können, das Ereignis also nicht ausschließlich sowohl tatsächlich als auch zeitlich wahrnehmbar zwingend eingetreten sein muss. Die Beantwortung von [F2] knüpft dann bejahendenfalls an die als nicht evident unvertretbar herausgearbeiteten Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung an. Für beide Fragestellungen gibt es einige Vorgaben zu beachten, auf welche nun kurz eingegangen werden soll. I. Allgemeine Vorgaben der Rechtsermittlung Da das Institut des Selbstverteidigungsrechts als solches unbestritten anerkannt ist und zugleich eine Fülle von nicht evident unvertretbaren Theorien zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung existiert, könnte man zur negativen Beantwortung von [F1] die explizite Feststellung der Rechtswidrigkeit vorbeugender Selbstverteidigung verlangen. Jedoch sprechen die Universalität des Gewaltverbots als fundamentaler Grundsatz des modernen Völkerrechts und das hieraus abzuleitende Gebot zurückhaltenden Umgangs mit den Ausnahmen zum Gewaltverbot für striktere Ermittlungsvorgaben. Daher soll [F1] nur dann als positiv beantwortet gelten, wenn sich Regelungen zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung aus dem geltenden Völkerrecht auch positiv3 finden lassen. Gelingt dies durchweg nicht, wird eine negative Beantwortung unterstellt und die Gegenwärtigkeitstheorie als alleingültig bejaht.



3

Positiv braucht jedoch nicht notwendigerweise auch eindeutig zu heißen, sondern ist vielmehr als feststellbares, wenn auch streitbares Merkmal in Abgrenzung zu ergebnisneutralen (Nicht-)Bewertungen zu verstehen, vgl. zu den Maßstäben der Ermittlung späterer Praxis auch u. 8. Kap. A. II.

C. Die Quellen des Völkerrechts

217

Für die mögliche Beantwortung von [F2] kann dann kein anderer Maßstab gelten. Hier darf zur Bestimmung des Ausmaßes eines mutmaßlichen Rechts auf vorbeugende Selbstverteidigung erst recht nur ein ausdrücklich erlaubter Rahmen als maximal rechtmäßiger Umfang gelten; Grauzonen verliefen zu Lasten des grundsätzlichen Gewaltverbots und damit gegen die Vorgaben des modernen Völkerrechts. II. Insbesondere [F1] Zur positiven Beantwortung von [F1] ist mindestens eine gegenwärtig gültige völkerrechtliche Norm zu finden, welche die Einordnung vorbeugender Selbstverteidigung als prinzipiell rechtmäßig gestattet, mit anderen Worten eine Verschiebung der Umstände eines eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses zulässt. Heranzuziehen sind dazu die anerkannten Quellen des Völkerrechts, aus welchen solche als Erlaubnissätze zu kennzeichnenden Ergebnisse hervorgebracht werden könnten. Sollten sich dabei mehrere voneinander unabhängige Quellen mit gleichem Ergebnis erschließen, so ist dies unschädlich und als Be­stärkung der dann positiven Antwort von [F1] zu bewerten. III. Insbesondere [F2] [F2] kann im Unterschied zu [F1] weder positiv noch negativ, sondern nur relativ beantwortet werden. Doch auch hier sind sämtliche taugliche Rechtsquellen heranzuziehen. Sollten dabei unterschiedliche Ergebnisse im Umfang des zulässigen Rahmens vorbeugender Selbstverteidigung zu verzeichnen sein, so gilt der größtmögliche gemeinsam noch als rechtmäßig ermittelte Rahmen – gleichsam als „kleinster gemeinsamer Nenner“ – als universell maximal zulässige Ausprägung eines mutmaßlichen Rechts auf vorbeugende Selbstverteidigung. Daneben sind aber auch Abweichungen zu Gunsten eines weiter ausgedehnten Rahmens denkbar, wenn diese einheitlich innerhalb einer Rechtsquelle oder in Bezug auf einen eindeutig bestimmbaren Adressatenkreis zu determinieren sind. In einem solchen Fall kann zu einem universell als maximal rechtmäßig anerkannten Ausmaß ein partiell großzügigerer und dennoch rechtmäßiger Rahmen hinzutreten.

C. Die Quellen des Völkerrechts Als Vorfrage der zur Rechtsermittlung von vorbeugender Selbstverteidigung zu beantwortenden Fragen [F1] und [F2] stellt sich zunächst jene nach den Quellen des Völkerrechts. Denn nur eine tatsächliche Rechtsquelle kann als An­ knüpfungspunkt zur Rechtsermittlung herangezogen werden. Dagegen taugen

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

andere Aspekte mit völkerrechtlich relevantem Inhalt, jedoch ohne eigene Rechtsquellenqualität, nicht als eigener Anknüpfungspunkt, sondern dienen stattdessen der Rechtsfindung innerhalb einer Quelle. Ein systematisch stimmiges Vorgehen muss daher zwischen Rechtsquelle als Anknüpfungspunkt  – gleichsam als Zugang zu einer Rechtsgrundlage – und ihrem jeweiligen Argumentationsinhalt unterscheiden. I. Rechtsquellen des Völkerrechts allgemein Im Völkerrecht sind jedenfalls4 drei Rechtsquellen anerkannt, nämlich Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze. Subsidiär wird zudem als Hilfs- oder Erkenntnisquellen auf richterliche Entscheidungen und Lehrmeinungen zurückgegriffen5. Diese Quellen sind jedenfalls mit Gründung des StIGH6 durch Art. 38 seines Statuts allgemein gültig7 und heute auf die wortlautgleiche Nachfolgeregelung des Art. 38 (1) IGH-Statut8 zurückzuführen, worauf sogleich einzugehen sein wird. Darüber hinaus sind weitere Rechts­quellen denkbar, soweit sie ihrem Wesen nach nicht in Wahrheit einer der drei unstreitigen Quellen zuzuordnen sind und Übereinstimmung9 hinsichtlich ihrer jeweiligen Bindungswirkung besteht10. Exemplarisch seien hier einerseits Akte der VN-Generalversammlung und andererseits Resolutionen des VN-Sicherheitsrats aufgeführt. Erstere können gem. Artt.  10 bis 14 SVN nur empfehlenden Charakter haben und kommen daher als eigene Rechtsquelle nicht in Betracht11. Sie können aber als Hilfsmittel zur Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht herangezogen werden, wenn ihnen beispiels­weise der Ausdruck unwidersprochener staatlicher Rechtsüberzeugung

4 Zu weiteren möglichen Rechtsquellen s. Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 148 ff. (S. 66 ff.); Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 24 (S. 9 f.). 5 Im Überblick statt vieler Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn.  113 ff. (S. 50 ff.). 6 Der StIGH existierte als erstes permanentes Weltgericht zwischen 1922 und 1945 und war Vorgänger des IGH, dazu näher Spiermann, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Historical Introduction, Rn. 1 ff., sowie Pellet, ibid., Art. 38, Rn. 4 ff. 7 Vgl. Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S.  41. Vor In-Kraft-Treten des StIGH-Statuts entwickelten sich die Völkerrechtsquellen gewohnheitsrechtlich, wobei wiederum die dem Völkergewohnheitsrecht zu Grunde liegende Staatenpraxis erst im beginnenden 19. Jahrhundert an völkerrechtlicher Bedeutung gewann, Scupin, History 1815 to WW II, Rn. 6, in: MPEPIL, Online-Ausgabe. Das Bestehen dieser Rechtsquellen kann also seit dieser Zeit als gesichert gelten. 8 BGBl. 1973 II, S. 505. 9 Zur inhaltlichen Differenzierung zwischen Übereinstimmung und Einvernehmlichkeit s. u. 8. Kap. A. III. 10 Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 148 (S. 66 f.). 11 Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 150 (S. 68).

C. Die Quellen des Völkerrechts

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inne­wohnt12, sodass sie nicht als eigener Anknüpfungspunkt, sondern möglicher Argumentationsinhalt zu bewerten sind. Umgekehrt kann sich aus ihnen durch nachträgliche Staatenpraxis Gewohnheitsrecht entwickeln13. Resolutionen des VN-Sicherheitsrats hingegen entfalten – jedenfalls wenn sie nach Kapitel VII SVN getroffen wurden – gem. Art. 25 SVN unmittelbare Bindungswirkung für ihre Adressaten14. Für diese sind sie dann als eigene Rechtsquelle einzustufen. Als allgemein völkerrechtliche Quelle hingegen taugen sie wiederum wegen ihrer auf ihren Adressatenkreis beschränkten Bindungswirkung nicht, solange sie sich nicht an die gesamte Staatenwelt richten15. Doch selbst in diesem Fall wäre dann eine absolute Grenze erreicht, wenn eine Resolution ihre Funktion als Exekutivakt faktisch verlieren und stattdessen eine Blankettermächtigung zur Gewaltanwendung statuieren würde, wie sie allenfalls durch eine abstrakt-generelle Rechtsnorm möglich wäre16. Gleichwohl können durch sie zum Ausdruck gebrachte Argumentationslinien bei gleichzeitiger allgemeiner Rechtsüberzeugung Erkenntnisse über den Inhalt von Gewohnheitsrecht liefern sowie als Darstellung allgemeiner Rechtsgrundsätze interpretiert werden17. Angesichts dieser jeweils im speziellen Einzelfall relevanten Sonderfragen konzentriert sich diese Arbeit grundsätzlich auf die drei anerkannten Rechtsquellen und wird – falls angezeigt – nur ausnahmsweise auf spezielle Rechtsquellen­fragen eingehen. II. Art. 38 (1) IGH-Statut insbesondere Art. 38 (1) IGH-Staut zählt – wie bereits seine Vorgängervorschrift aus Art. 38 des Statuts des StIGH – nach allgemeiner Ansicht die ersten drei unzweifelhaft anerkannten Rechtsquellen des Völkerrechts auf. Die Vorschrift lautet in ihrer u. a. autoritativen englischen Version18:

12

Brownlie, Principles, S.  15; Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn.  150 (S.  68); Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn.  23 (S.  221) sowie § 18, Rn. 21 f. (S. 241 f.), jeweils m. w. N. 13 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 23 (S. 221). 14 Klein/Schmahl, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Abschn., Rn. 150 f. (S. 334 f.). 15 Auf diesen Aspekt machen Arend/Beck, Use of force, S. 8, aufmerksam. 16 So auch zutr. Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 297 ff., m. w. N.; s. i. Ü. o. 1. Kap. B. III. 17 Corten, EJIL 16 (2005), S. 803 ff. (807). 18 Die autoritativen Sprachfassungen des IGH-Statuts als integraler Bestandteil der SVN (s. Art. 92 SVN) sind gem. Art. 111 SVN die chinesische, französische, russische, englische und spanische Version (s. bereits o. Fn. 31 im 3. Kap.), auch wenn gem. Art. 39 (1) IGH-Statut die offiziellen Verhandlungssprachen des Gerichtshofs lediglich Englisch und Französisch sind; dazu Kohen, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 39, Rn. 2 und 22, sowie Rosenne, Meaning of „Authentic Text“, in: FS-Mosler, S. 759 ff. (762). Im Hinblick auf Art. 38 IGH-Statut unterscheiden sich die fünf Sprachfassungen inhaltlich nicht voneinander, sodass sich eine Gegenüberstellung hier erübrigt.

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

The Court, whose function is to decide in accordance with international law such disputes as are submitted to it, shall apply: a. international conventions, whether general or particular, establishing rules expressly recognized by the contesting states; b. international custom, as evidence of a general practice accepted as law; c. the general principles of law recognized by civilized nations; d. subject to the provisions of Article 59, judicial decisions and the teachings of the most highly qualified publicists of the various nations, as subsidiary means for the determination of rules of law.

Lit. d als ausdrücklich subsidiäre Vorschrift kann an dieser Stelle vernachlässigt werden; erst wenn die übrigen drei Quellen kein eindeutiges Ergebnis der Rechtsermittlung liefern sollten, kann auf sie nachträglich zurückgegriffen werden. Aus dem Wortlaut des IGH-Statuts lässt sich hingegen nicht unmittelbar ablesen, ob im Übrigen ein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Rechtsquellen besteht. Auf diese Frage ist sogleich einzugehen, um daran anknüpfend die sich aus den für die zu tätigende Rechtsermittlung relevanten Rechtsquellen ergebenden Vorgaben genauer herauszustellen. III. Rangverhältnis der Rechtsquellen Bereits zu Zeiten der Entstehung des StIGH-Statuts herrschte in der Völkerrechtswissenschaft Streit über die Frage, ob es ein Rangverhältnis unter den einzelnen Rechtsquellen gibt19. Die Antwort hierauf ist für die Rechtsermittlung aus den jeweiligen Quellen insoweit unmittelbar von Bedeutung, als im Falle einer feststehenden Rangfolge die Reihenfolge der Quellenbearbeitung stets vorgegeben wäre. Folglich ist an dieser Stelle verbindlich festzustellen, ob und ggf. in welcher Ausformung von einem Rangverhältnis der Rechtsquellen auszugehen ist. Die enumerative Quellendarstellung in Art.  38  (1) IGH-Statut deutet zumindest aus systematischen Gesichtspunkten auf eine absteigende Hierarchie hin, zumal sich lit.  d als letzter Aufzählungspunkt ausdrücklich subsidiär gegenüber litt. a bis c verhält. Doch nicht nur die formelle Aufzählungsreihenfolge der Quellen, auch ihre wesensmäßige Betrachtung führt zu diesem Ergebnis. Verträge (lit. a) sind die erkennbar am besten auszuwertende und am bestimmtesten ausgeformte Rechtsquelle. Sie begründen zwischen den einzelnen Parteien ein unmittelbares, in Zeit und Ausmaß genau festgelegtes Rechtsverhältnis und sind deshalb die speziellste der vier Rechtsquellen. Gewohnheitsrecht hingegen definiert sich zwar anhand fester Vorgaben20, entwickelt sich jedoch weniger konkret und sichtbar als Verträge und ist nur unter deutlich höherem Aufwand nachweisbar. Allge

19



20

Zur Historie Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 168 ff. s. u. 5. Kap. C. IV. 2.

C. Die Quellen des Völkerrechts

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meine Rechtsgrundsätze schließlich sind bereits dem Wortlaut ihrer Bezeichnung nach bloß „allgemein“, darüber hinaus erfordert ihre Ermittlung einen Rückgriff auf sämtliche weltweit zu verzeichnende Rechtsordnungen und damit einen ungleich höheren Aufwand bei zugleich nur abstrakter Analyse21. Aus diesen Feststellungen folgt ein abgestuftes Spezialitätsverhältnis von Vertragsrecht als lex specialis über Gewohnheitsrecht bis hin zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen22. Die soeben getätigten Gedanken lassen sich im Übrigen auch ohne die formelle Anknüpfung an Art. 38 (1) IGH-Statut verifizieren. Geht man nämlich ohne die Grundannahme einer textlich-systematisch vorgegebenen Hierarchie der Rechtsquellen – wie dies von den Entwicklern zumindest des StIGH-Statuts23 auch ausdrücklich nicht beabsichtigt war24 – von der Eigenständigkeit jeder Quelle aus, so gelangen einfache Schlüsse aus der Rechtslogik zu demselben Ergebnis. Als ausdrückliche, von Bindungswillen getragene und verbriefte Vereinbarung zweier oder mehrerer Parteien haben Verträge den größtmöglichen normativen Charakter, welcher sich im Verhältnis zu Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsgrundsätzen aus den bereits genannten Gründen stufenweise verringert. Im Kollisionsfall lassen sich aus Verträgen stets verlässlichere Erkenntnisse ermitteln als aus Gewohnheitsrecht25 und aus Gewohnheitsrecht immer noch genauere als aus all­ gemeinen Rechtsgrundsätzen26. Hinzu tritt ein rein praktisch-empirisches Argument für die Annahme einer Rangfolge: Vertrags- und Gewohnheitsrecht erwiesen sich in der Anwendung des Völkerrechts – auch durch StIGH und IGH27 – als die bei weitem vorherrschenden Bezugspunkte; auf allgemeine Rechtsgrundsätze wurde dagegen eher selten als Rechtsquelle rekurriert28. Dabei erhielten Verträge immer dann den Vorzug, wenn sie im konkreten Fall für alle Parteien gültig waren, erst im negativen Falle wurde auf Gewohnheitsrecht abgestellt29. Im Ergebnis ist also nach der Gesamtschau aller Argumente ein zumindest faktisch und rechtslogisch zu begründendes Rangverhältnis der Rechtsquellen trotz

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s. u. 5. Kap. C. IV. 3. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 20, Rn. 2 (S. 252). 23 Die Entwickler der SVN und damit auch des IGH-Statuts hingegen gingen bereits von einer festen Rangfolge aus und verzichteten daher auf eine klarstellende Formulierung in Art. 38 IGH-Statut, Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 267. 24 Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 168. 25 Dies bezweifelt abweichend Schildkraut, MinnesotaJIL 16 (2007), S.  193 ff. (195 ff.), der auf Grund einer aus zweifelhaften Gründen aufgestellten Annahme einer nur bei Gewohnheitsrecht möglichen Universalität eben das Völkergewohnheitsrecht als höchstrangige Rechtsquelle einordnet. 26 Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 155 (S. 77). 27 Zur Herangehensweise des IGH vgl. Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 270 ff. 28 Brownlie, Principles, S. 5. 29 So auch Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 154, 159 (S. 49 f.).

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

ursprünglich widersprechender Intention der Entwickler des StIGH-Statuts30 nicht zu leugnen31. Die Rechtsermittlung zu vorbeugender Selbstverteidigung hat deshalb zunächst an das geltende Vertragsrecht anzuknüpfen, erst danach sind das Gewohnheitsrecht und nur ggf. in einem letzten Schritt allgemeine Rechtsgrundsätze zu analysieren32. Das Vorliegen einer Quellenhierarchie bedeutet jedoch nicht, dass sich die unterschiedlichen Rechtsquellen nicht auch ergänzen könnten. Insbesondere existieren im Völkerrecht häufig vertrags- und gewohnheitsrechtliche Regelungen nebeneinander, was von Art.  38 WVK auch ausdrücklich anerkannt wird. Zudem bestätigt Art. 31 (3) lit. b. WVK die Möglichkeit der Einflussnahme auch von späterer Praxis auf das Vertragsrecht: There shall be taken into account, together with the context: (…) any subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation; (…)33

Ein Nebeneinander von Vertrags- und Gewohnheitsrecht wird damit für möglich erachtet; jedoch vermag das Gewohnheitsrecht dem Wortlaut von Art. 31 (3) lit. b WVK nach das Vertragsrecht nicht zu derogieren, was wiederum das hier gewonnene Ergebnis einer Rangfolge der Rechtsquellen bestätigt. Somit sind Verträge zwar die vorzugsweise heranzuziehende Rechtsquelle, doch ist eine anschließende (zumindest) ergänzende Betrachtung des Gewohnheitsrechts immer angezeigt. Etwas Anderes gilt hingegen für die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle. Sie sind nach dem soeben Festgestellten nicht nur hierarchisch hinter Vertrags- und Gewohnheitsrecht anzusiedeln, sondern darüber hinaus nur subsidiär – und nicht etwa zwingend ergänzend – heranzuziehen. Sind nämlich schon hinreichend bestimmte und unzweifelhafte Rechtserkenntnisse aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht gezogen worden, werden mit ihnen häufig zugleich auch allgemeine Rechtsgrundsätze in konkreter Ausgestaltung aufgegriffen. Ein weitergehender Rekurs auf abstrakte Grundsätze bei gleichzeitig bereits vorhandenen konkreten Ergebnissen wäre zudem in der Regel rechtslogisch widersinnig. Ein ergänzendes Heranziehen ist damit zwar möglich, jedoch nicht geboten34. Daher soll auf allgemeine Rechtsgrundsätze in dieser Arbeit zunächst nicht abgestellt werden.

30 Nur aus diesem Grunde möchte Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 171, als Vertreter einer wenig potenten a. A. an der Gleichrangigkeit der Rechtsquellen festhalten. 31 Für eine Zusammenfassung der Argumente m. w. N. vgl. Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 268. 32 Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 165 (S. 52). 33 Hervorh. v. Verf. 34 s. hierzu insg. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rn. 6 ff. (S. 233 f.).

C. Die Quellen des Völkerrechts

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IV. Einfluss der Rechtsquellen auf die Rechtsermittlung Nachdem nun die Rangfolge der Rechtsquellen feststeht, gilt es in einem weiteren Schritt ihren Einfluss auf die im Anschluss durchzuführende Rechtsermittlung herauszustellen. 1. Völkerrechtliche Verträge

Völkerrechtliche Verträge sind alle zwischen zwei oder mehreren Völkerrechtssubjekten getroffenen Vereinbarungen auf völkerrechtlicher Ebene und gelten als Hauptrechtsquelle des Völkerrechts35. Ihr Inhalt ist schriftlich fixiert (vgl. Art 2 (1) lit.  a WVK) und ihre Auslegung durch die auch gewohnheitsrechtlich anerkannten Regelungen der WVK36 – zumindest in Bezug auf Staaten – vorgezeichnet; damit sollte die Rechtsermittlung aus Verträgen verhältnismäßig klar durchzuführen sein. Zu beachten ist aber, dass Verträge grundsätzlich nur inter partes bindend sind und daher zunächst keinen Anspruch auf universelle Geltung erheben können. Etwas Anderes gilt für als law-making treaties qualifizierte Verträge37; solche enthalten – wie nationale Gesetze – abstrakt-generelle Regelungen für die Zukunft im Verhältnis zu einer Vielzahl von Vertragsparteien und erledigen sich daher nicht durch die Erfüllung eines in ihnen bestimmten Ziels38. Bestes Beispiel hierfür ist die SVN, welche sich als multilateraler Vertrag schnell zu einer Art Verfassung der Weltgemeinschaft emanzipierte. Über ihren ohnehin schon multilateralen Adressatenkreis hinaus können sich law-making treaties ferner als universell bindend fortentwickeln, wenn sich ihre Regelungen völkergewohnheitsrechtlich festigen. Dies galt in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls für die SVN, als noch nicht an­ nähernd jeder Staat der Welt zugleich Mitglied der Vereinten Nationen war. Doch sogar nicht als law-making treaties konzipierte Vereinbarungen können sich entweder auf diese Weise zu Völkergewohnheitsrecht fortentwickeln, oder zumindest können sie als manifestierter Ausdruck staatlicher Rechtsüberzeugung ein Bestandteil hiervon losgelösten Gewohnheitsrechts sein39. Letztlich ist also auf In 35 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, vor § 9, Rn.  4 sowie § 9, Rn.  1 ff. (S. 115 ff.). 36 s. dazu u. 7. Kap. B. I. 37 Die hier getroffene Differenzierung gilt in Teilen der Lehre als überholt, vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 9, Rn. 7 (S. 119), jedoch veranschaulicht sie die Rolle völkerrechtlicher Verträge als Völkerrechtsquelle am besten und wird daher hier beibehalten. In diesem Sinne verfährt auch Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 202, der zwar an einer für den IGH relevanten Typenunterscheidung von Verträgen zweifelt, gleichwohl aber die Existenz inhaltlich unterschiedlicher Vertragskategorien bestätigt. 38 Brownlie, Principles, S. 13. 39 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 22 (S. 220 f.); Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 203.

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

halt und Adressatenkreis abzustellen, um völkerrechtliche Verträge als unmittelbar heranzuziehende Rechtsquelle bewerten zu können. Werden folglich völkerrechtliche Verträge zur Rechtsermittlung konsultiert, ist zunächst zu prüfen, ob sie universelle Geltung beanspruchen können; ist dies nicht der Fall, sind sie nurmehr als Aspekt möglichen Völkergewohnheitsrechts zu untersuchen. 2. Völkergewohnheitsrecht

Wie bereits mehrmals angesprochen, besteht Völkergewohnheitsrecht aus von Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis) getragener Staatenpraxis in Form allgemeiner Übung (usus)40. Geäußerte Rechtsüberzeugung grenzt sich dabei von bloßen Floskeln (z. B. aus reiner Höflichkeit im Einzelfall) ab, allgemeine Übung soll sich von lediglich erwogenen, aber nicht umgesetzten Rechtsstandards unterscheiden41. Entsprechend definiert der IGH Gewohnheitsrecht in ständiger Rechtsprechung seit dem Libyen/Malta-Festlandsockel-Fall folgendermaßen: „It is of course axiomatic that the material of customary international law is to be looked for primarily in the actual practice and opinio juris of States (…)“42

Durch Gewohnheitsrecht tritt eine universelle Bindungswirkung gegenüber der gesamten Staatenwelt ein und nicht etwa nur gegenüber den explizit mit Rechtsüberzeugung praktizierenden Staaten43. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nur dann – und auch nur in Bezug auf einzelne Staaten –, wenn sich der jeweilige Staat als persistent objector gegen die Entwicklung von Gewohnheitsrecht ausdrücklich und beständig wehrt44. Über die auch in Art. 38 (1) lit. b IGH-Statut festgeschriebenen Merkmale hinaus besteht jedoch wenig Einigkeit über die genauen Anforderungen an die Bildung von Gewohnheitsrecht. Unterschiedliche Ansichten werden vor allem in Bezug auf die allgemeine Übung als objektives Merkmal und teilweise in Bezug auf die Rechtsüberzeugung als subjektives Merkmal geknüpft45. 40 Ausführlich Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 205 ff.; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 122 ff. (S. 38 ff.). 41 Postema, Custom in int’l. law, S. 279 ff. (279 f.). 42 ICJ Rep. 1985, S. 13–58 (29), Abschn. 27; Hervorh. im Original. 43 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 25 ff. (S. 222). Dieser Umstand wird von Wiegandt, ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. (64 f.), als Argument für eine erhöhte Einflussnahmemöglichkeit auf die Völkerrechtsentwicklung durch politisch potentere Staaten – de lege ferenda  – herangezogen, was aber auf die lex lata gerade keinen Einfluss hat; s. dazu auch Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 45 f. 44 Brownlie, Principles, S. 11; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 26 (S. 222); Villiger, VCLT, Issues, Rn. 8 f. Die Figur des persistent objector ist zugleich, wie Wiegandt, ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. (65), zu Recht anmerkt, ein taugliches Korrektiv gegen eine erhöhte Machtausübung politisch einflussreicherer Staaten. 45 Vgl. zum genaueren Meinungsstand Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 4 ff. (S. 214 ff.).

C. Die Quellen des Völkerrechts

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a) Staatenpraxis Staatenpraxis kann grundsätzlich aus jedem staatlichen Verhalten abzuleiten sein, z. B. aus Regierungshandlungen, Gesetzgebung, Rechtsprechung oder auch Vertragsschlüssen46. Dabei ist allerdings umstritten, ob Staatenpraxis als konstitutives oder bloß bestätigendes Element von Gewohnheitsrecht zu betrachten ist47. Im letzteren Falle wäre die Bildung von „spontanem Gewohnheitsrecht“ (instant customary law)48 durch lediglich kundgetane Rechtsüberzeugung denkbar. Für die in dieser Arbeit zu vollziehende Rechtsermittlung zu vorbeugender Selbstverteidigung ist der Streit indes für das moderne dem Gewaltverbot verpflichtete Völkerrecht irrelevant; denn im Falle nachzuweisender Praxis ist gegenwärtig von einer jedenfalls vorhandenen objektiven Voraussetzung von Völkergewohnheitsrecht auszugehen. Im umgekehrten Falle nicht nachzuweisender Praxis und zugleich ohne jeden praktischen Anwendungsfall lediglich geäußerter Rechtsüberzeugung kann hingegen eine völkergewohnheitsrechtlich geschaffene oder ausgedehnte Ausnahme vom zwingenden Gewaltverbot – wie es bei vorbeugender Selbstverteidigung der Fall wäre – auch nach der Theorie des „spontanen Gewohnheitsrechts“ nicht angenommen werden. Sie bezieht sich nämlich lediglich auf die Schaffung neuen Rechts, nicht aber auf die Einschränkung vorhandener Normen. Letzteres geschähe aber gerade bei spontan-gewohnheitsrechtlicher Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts, da dies auf Grund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Gewaltverbot und Selbstverteidigung zugleich eine Einschränkung des Gewaltverbots nach Art. 2 (4) SVN zur Folge hätte. Dazu bedarf es jedoch parallel zum Vertragsrecht eines qualifizierten Prozesses, der im Sinne der Auslegungsregel von Art. 31 (3) lit. b WVK jedenfalls auch und zumindest49 durch staatliche Übung vollzogen werden muss. Das Erfordernis eines den Rechtswillen nach außen manifestierenden Elements bei Vertragseinschränkungen ergibt sich zudem aus dem Gedanken, dass erst der Gewohnheit als nach außen kundgetaner und somit gewissermaßen förmlicher Handlung eine qualifizierte Normativität innewohnt, welche zur Vertragsmodifizierung unerlässlich ist50. Durchaus möglich ist es hingegen, dass eine zuvor geäußerte Rechtsüberzeugung durch nachfolgende Praxis bestätigt wird und dadurch dann Völkergewohnheitsrecht entstanden ist51. 46 Ausführlich Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 111 ff.; Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Art. 38, Rn. 212; Villiger, VCLT, Issues, Rn. 2 ff. 47 Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 132 (S. 61); für bloße Kundgabe von Rechtsüberzeugung Bleckmann, Praxis des Völkergewohnheitsrechts, in: FS-Mosler, S. 89 ff. 48 s. dazu Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 5 (S. 214), sowie die beachtlichen ablehnenden Argumente von Postema, Custom in int’l. law, S. 279 ff. 49 Vgl. zur staatlichen Übung als Mindesterfordernis für nachträgliche Veränderungen auch formgebundener Verträge Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 374 ff. 50 Zur Normativität der Gewohnheit ausführlich und überzeugend Postema, Custom in int’l. law, S. 279 ff. (282 ff.). 51 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 5 (S. 215).

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

Im Anschluss an diese Überlegungen ist festzustellen, dass beim Erfordernis von Staatenpraxis die Übung auch von einer gewissen Dauer, Einheitlichkeit und Verbreitung sein muss52. Strenge und unflexible Anforderungen sind hieran jedoch nicht zu stellen, vielmehr kommt es bei der Bewertung „allgemeiner“ Übung jeweils auf den konkreten Zusammenhang an. Dies bestätigt auch der IGH im Nordsee-Festlandsockel-Fall: „Although the passage of only a short period of time is not necessarily, or of itself, a bar to the formation of a new rule of customary international law on the basis of what bras originally a purely conventional rule, an indispensable requirement would be that within the period in question, short though it might be, State practice, including that of States whose interests are specially affected, should have been extensive and virtually uniform in the sense of the provision invoked; – and should moreover have occurred in such a way as to show a general recognition that a rule of law or legal obligation is involved.“53

Im Rahmen der in dieser Arbeit vorzunehmenden Rechtsermittlung ist folglich bei einem Rekurs auf Völkergewohnheitsrecht zunächst ein nach außen getra­genes staatliches Handeln als erster Anknüpfungspunkt zu suchen, welcher sodann im gegebenen Kontext auf seine Eigenschaft als Teil allgemeiner Übung zu überprüfen ist. Danach ist auf eine diese Übung möglicherweise tragende Rechtsüberzeugung einzugehen. b) Rechtsüberzeugung Die geäußerte Überzeugung, dass das in Bezug genommene Handeln dem Völkerrecht entspricht, muss verbindlich sein und darf deshalb nicht bloßer ­courtoisie entsprechen54. Der IGH beschreibt dies wiederum im Nordsee-Festlandsockel-Fall wie folgt: „The need for such a belief, i. e., the existence of a subjective element, is implicit in the very notion of the opinio juris sive necessitatis. The States concerned must therefore feel that they are conforming to what amounts to a legal obligation. The frequency, or even habitual character of the acts is not in itself enough. There are many international acts, e.g., in the field of ceremonial and protocol, which are performed almost invariably, but which are motivated only by considcrations of courtesy, convenience or tradition, and not by any sense of legal duty.“55

Rechtsüberzeugung bedeutet dabei nicht etwa die Äußerung eines mit der Zeit wandelbaren Willens, sondern die Kundgabe einer über die Momentaufnahme hinaus gefestigten Einsicht, dass das gezeigte Verhaltensmuster per se rechtens

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53

Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 8 ff. (S. 215 ff.). ICJ Rep. 1969, S. 3–56 (43), Abschn. 74. 54 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn.  12 (S.  217); Villiger, VCLT, ­Issues, Rn. 14 ff. 55 ICJ Rep. 1969, S. 3–56 (44), Abschn. 77.

C. Die Quellen des Völkerrechts

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ist56. Wie es der Wortlaut von Art.  38  (1) lit.  b IGH-Statut  – „general practice accepted as law“ – verdeutlicht, kommt es für das Vorliegen von Rechtsüberzeugung nicht auf eine positive Bekundung jedes einzelnen Staates an. Vielmehr spiegelt sich hier das im Völkerrecht vorherrschende Konsensprinzip wider, sodass von einer stillschweigenden Akzeptanz ausgegangen werden kann, solange sich kein persistent objector hiergegen ausspricht57. Zuweilen, jedoch nicht stringent, schließt die Rechtsprechung bereits aus bloßem Handeln auf konkludente Rechtsüberzeugung58; letztlich ist die Tauglichkeit eines solchen Vorgehens jedoch wiederum eine Frage der Einzelfallgestaltung. Bei der vorzunehmenden Rechtsermittlung muss daher bei jedem Anwendungsfall nach damit verknüpfter Kundgabe von Rechtsüberzeugung gesucht werden, die ggf. bei entsprechender Sachlage auch konkludent getätigt sein kann. Ebenso wichtig ist es, nach möglichem Protest gegen die untersuchten Handlungen zu forschen, welcher einer Festigung zu Gewohnheitsrecht entgegenstehen könnte. 3. Allgemeine Rechtsgrundsätze

Allgemeine Rechtsgrundsätze59 nach Art. 38 (1) lit. c IGH-Statut sind nicht zu verwechseln mit allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts; letztere ergeben sich aus dem geltenden Völkergewohnheitsrecht und sind daher nicht als selbständige Rechtsquelle, sondern als Bestandteil des Gewohnheitsrechts zu qualifizieren60. Diese Unterscheidung gilt es bei der Auswertung des Völkergewohnheitsrechts zur Rechtsermittlung von vorbeugender Selbstverteidigung stets zu beachten. Allgemeine Rechtsgrundsätze sind vielmehr als selbständige Rechtsquelle des Völkerrechts all diejenigen Prinzipien, welche auf Konsens in sämtlichen Rechtsordnungen der Welt stoßen61. Der aus dem StIGH-Statut übernommene Zusatz „recognized by civilized nations“ (im Deutschen oft als „Kulturvölker“ wiedergegeben) kann heutzutage als unzeitgemäßes Relikt eines eurozentrischen Blick­ winkels des Völkerrechts vernachlässigt werden62. Unabhängig von der Frage, wie genau allgemeine Rechtsgrundsätze zu ermitteln sind, um auf völkerrechtlicher Ebene eine eigene Quellenqualität zu erlangen, sind auf Grund ihrer eben dargestellten Subsidiarität weitere Ausführungen hierzu an dieser Stelle müßig.

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Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn.  14 (S.  218); Villiger, VCLT, ­Issues, Rn. 14. 57 Näher statt vieler Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 137 ff. (S. 43 f.). 58 Brownlie, Principles, S. 8 ff. 59 Hierzu umfassend Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 13 ff. 60 Brownlie, Principles, S. 19; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rn. 1 (S. 231); Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 160 ff. (S. 50 f.). 61 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rn. 3 (S. 231 f.). 62 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 17, Rn. 2 (S. 231).

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5. Kap.: Allgemeine Vorgaben zur Rechtsermittlung

D. Fazit: Allgemeines Untersuchungsspektrum Für die nun zu tätigende Rechtsermittlung sind angesichts des herausgestellten Rangverhältnisses der Rechtsquellen zunächst sämtliche Erkenntnisse aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht beachtlich. Dabei wird nach Aufarbeitung des vor Gründung der Vereinten Nationen gültigen Völkerrechts ein mögliches Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung zunächst anhand der heute gültigen völkerrechtlichen Verträge überprüft; im Anschluss erfolgt eine Analyse der späteren Praxis auch unter Einbeziehung des modernen Völkergewohnheitsrechts.

6. Kapitel

Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

A. Überblick und historischer Rahmen Die Ermittlung des völkerrechtlichen Status von vorbeugender Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen  – mithin vor In-Kraft-Treten der SVN  – verläuft grundsätzlich chronologisch bis zum Ende des Zweiten Welt­ krieges. Noch nicht geklärt ist damit jedoch die Frage, wie weit die Analyse in die Vergangenheit zurückreichen soll. Es ist jedenfalls zweckdienlich, die Rechtsermittlung dort anzusetzen, wo erstmals zarte wie zaghafte Ansätze einer sich in der Entwicklung befindenden Völkerrechtsordnung im heutigen Sinne zu erkennen sind. Dazu bedarf es mehr als ausschließlich bloßer bilateraler Übereinkünfte, welche lediglich inter partes galten, sondern Rechtsregeln mit multilateralem Charakter. Solcherlei Ansätze sind erstmals im beginnenden 19. Jahrhundert – dem sog. „englischen Zeitalter“1 – zu erkennen, als die Herausbildung der modernen Nationalstaaten weitgehend abgeschlossen und gefestigt war2. Namentlich mit dem Wiener Kongress 1815 als Wendepunkt3 begann sich langsam ein kollektives Sicherheitsbewusstsein und -bedürfnis herauszubilden4, wodurch letztlich das Fundament für zuvor in diesem Maße nicht vorhandene internationale positivierte Regelungen mit Rechtscharakter gegossen wurde5. Dem Ziel der Rechtsermittlung nicht dienlich wäre es hingegen, die Völkerrechtsgeschichte umfassend darzustellen6. Die Erkenntnisse aus Zeiten des klassischen Völkerrechts lassen sich schlicht keiner Rechtmäßigkeitsüberprüfung unterziehen, da sich die Maßstäbe des dort geltenden bellum iustum – wie oben gezeigt7 – nur am subjektiven Willen des Herrschers zu bewähren hatten. Die Motivation zur Ausübung  – jedenfalls so dargestellter – vorbeugender Selbstverteidigung mag unabhängig davon weit in die Geschichte zurückreichen. Historiker sind sich uneinig darüber, ob beispielsweise die Zerstörung Karthagos durch das Römische Weltreich als erste bedeutende umfassende vorbeugende Gewalthandlung einzustufen sein soll oder



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Hierzu umfassend Grewe, Epochs, S. 429 ff. Grewe, Epochs, S. 137 ff. 3 Weiterführend Scupin, History 1815 to WW II, Rn. 1 ff., in: MPEPIL, Online-Ausgabe. 4 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (324). 5 Scupin, History 1815 to WW II, Rn. 1 f., in: MPEPIL, Online-Ausgabe. 6 Grewe, Epochs, passim. 7 s. o. 5. Kap. D. I.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

doch schon der Peloponnesische Krieg im antiken Griechenland8. Auch mögen die politischen Argumentationen im antiken römischen Senat weit weniger von jenen der inzwischen abgewählten Administration des ehemaligen US-Präsidenten Bush jun. abweichen als man gemeinhin vermuten sollte und somit von zeitloser Aktualität sein. Für eine völkerrechtliche Messlatte fehlt ihnen dennoch die Stabilität in Form von allgemein-rechtlicher Verbindlichkeit. Es werden hier also die Entwicklungen ab dem beginnenden 19.  Jahrhundert berücksichtigt9. Systematisch ist dabei zwischen für die Frage von vorbeugender Selbstverteidigung relevanten Verträgen und vertragsunabhängiger Staatenpraxis zu unterscheiden, da erstere einen unmittelbaren Rechtsbindungswillen zum Ausdruck bringen, wohingegen letztere nur mittelbar durch Interpretation auf eine Rechtsüberzeugung und entsprechendes Völkergewohnheitsrecht schließen lässt und daher mehr in den historisch-völkerrechtlichen Gesamtkontext einzuordnen ist. Der Analyse vorgelagert ist schließlich noch eine Aufarbeitung grundsätz­licher Erwägungen zur Rechtserheblichkeit der Selbstverteidigung, welche der Natur der untersuchungsrelevanten Epoche ohne universelles Gewaltverbot geschuldet ist. Die dort gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen erst eine dem Völkerrecht gerecht werdende Analyse in Abgrenzung zu rein politik- oder legitimitätsspezifischen Resultaten.

B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung Möchte man die völkerrechtlichen Entwicklungen eines möglichen Rechts auf vorbeugende Selbstverteidigung vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen betrachten, stellt sich zunächst die Frage, ob solche Anstrengungen überhaupt für das moderne Völkerrecht verwertbare Erkenntnisse zu Tage bringen können10. In diesem Zusammenhang wird häufig moniert, dass damals schließlich (zunächst) der hergebrachte Grundsatz der Zulässigkeit schrankenloser Gewaltanwendung existierte, weil es doch bis zum In-Kraft-Treten der SVN zumindest11 kein universelles

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Vgl. Doyle, Standards, in: Striking First, S. 43 ff. (50), sowie Hill, ASIL Proc. 98 (2004), S. 329 ff. (329). 9 I. Ü. lässt sich angesichts der erst in dieser Epoche als solche feststehenden Völkerrechtsquellen – insb. der erst seitdem anerkannten Bedeutung von Völkergewohnheitsrecht – eine aufschlussreiche Rechtsermittlung vollziehen, s. bereits o. Fn. 7 im 5. Kap. 10 Zweifelnd Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S. 176, der die Ausübung von Selbstverteidigung im 19. Jahrhundert als „meta-juristisch“ bezeichnet. Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 137 f., wirft diese Frage auch auf, vermeidet eine abstrakte Lösung aber mit der einzelfallbezogenen Feststellung, dass zumindest die Prinzipien des Caroline-Vorfalls (s. ausführlich u. 6. Kap. D. IV.) durch das moderne Völkerrecht rezipiert worden seien. 11 Noch weiter reichende Ansätze, namentlich die Leugnung der Existenz oder Relativierung des Rechtscharakters von Völkerrecht vor 1945 insgesamt, scheitern bereits mangels Erbringung eines wissenschaftlichen Nachweises aus jener Zeit selbst, vgl. nur Lauterpacht, Function of Law, S. 399 ff., m. w. N.

B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung

231

Gewaltverbot gab12. Man könnte also hierauf bezogen annehmen, dass erst das Bestehen eines solchen allgemein gültigen Prinzips die hieran anknüpfenden völkerrechtlichen Ausnahmetatbestände wie das Selbstverteidigungsrecht relevant werden lässt13. Plakativ formuliert hieße dies: Ohne rechtlich bindendes Gewaltverbot kann es kein rechtlich relevantes Selbstverteidigungsrecht geben. Vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen wären damit sämtliche Erwägungen auch hinsichtlich vorbeugender Selbstverteidigung unter Legalitätsaspekten irrelevant; denkbar wären höchstens Erkenntnisse über deren Aussagekraft unter politisch legitimierenden Gesichtspunkten, was aber gerade nicht Ziel dieser Arbeit ist14. Es wäre dann geradezu widersinnig, trotz eines zunächst uneingeschränkt anerkannten ius ad bellum ein mögliches Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung zu diskutieren. Dieses vermeintliche Paradoxon kann jedoch mit gewichtigen Gegenargumenten entkräftet werden. Auf diese soll nun vorab eingegangen werden. I. Strikte Unterscheidung von Krieg und übriger Gewalt Das für die zu untersuchende Epoche häufig propagierte Recht auf universelle zwischenstaatliche Gewaltanwendung war exakt gesprochen als freies Kriegs­ führungsrecht zu verstehen, welches als politisches Mittel ausgeübt werden konnte15. Unter diesem Aspekt ist bereits umstritten, ob deshalb schon von einem „Recht auf Gewaltanwendung“ ausgegangen werden darf oder sich das Völkerrecht nicht vielmehr indifferent hinsichtlich des Rechts zum Kriege zeigte16. Unabhängig davon, wie man die freie Kriegsführung seinerzeit einzuordnen versucht, ist jedenfalls festzuhalten, dass über den Zustand von Krieg im formellen Sinne jeder souveräne Herrscher frei entscheiden konnte17. Für geringere Gewalthandlungen galt dies entgegen einer verbreiteten Annahme – womöglich inkonsequenterweise18 – nicht; Gewalt ohne Kriegserklärung musste separat begründet werden19. Entscheidend war also auf den Zustand des Krieges im formellen Sinne abzustellen20: Waren die Formalia der Kriegsführung erfüllt, waren auch Gewalthandlungen erlaubt.



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Zuletzt Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 287. So beklagt es ausdrücklich Sicilianos, Les réactions décentralisées á lìllicite, S. 297. 14 s. o. 1. Kap. B. II. 15 Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 3 (S. 645 f.); Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (243); Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, § 59, Rn. 2 (S. 1069 f.). 16 Bilfinger, ZaöRV 15 (1953/54), S. 453 ff. (463 ff.). 17 Vgl. die Entwicklung aus der klassischen Theorie des gerechten Krieges bereits o. 4. Kap. D. I. 18 Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (468). 19 Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 3 (S. 646). 20 Vgl. bereits o. 3. Kap. B. I. 1. b) bb).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Im Übrigen war es also schon in der Zeit ohne universelles Gewaltverbot erforderlich, Begründungen für zwischenstaatliche Gewalthandlungen in Friedenszeiten – wenn also keine formelle Kriegserklärung vorlag – zu liefern21. Schließlich konnte es auch durchaus von Interesse sein, auf einen Krieg als schärfste und umfassende Form der Gewaltanwendung zu verzichten, da immerhin einerseits durch die der Kriegserklärung innewohnenden Warnfunktion das Überraschungsmoment seitens des Gewaltbereiten verloren ging und andererseits ein Krieg lange, verlustreich, kostspielig – und vor allem mit großem Ansehensverlust verbunden – ausarten konnte22. Dies alles galt für auch damals nicht unbekannte measures short of war nicht, sie bedurften als Maßnahmen in Friedenszeiten aber stattdessen einer völkerrechtlichen Begründung23. Neben der damals erlaubten Repressalie als Sanktion konnte auch Selbstverteidigung formell nicht-kriegerische Gewaltanwendung legalisieren. Die Realität sah also bereits damals folgendermaßen aus: Wer keinen Krieg wollte und dennoch Gewalt anwendete, musste sich hierfür im originär rechtlichen Sinne rechtfertigen24. Soweit also eine gewaltsame Auseinandersetzung nicht als Krieg nach klassisch-formellem Verständnis einzustufen war, bedurfte es hierfür schon im Völkerrecht vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen einer Begründung im Rechtssinne. Das Fehlen eines verbindlichen Gewaltverbots bedeutet also insbesondere in Bezug auf die im „englischen Zeitalter“ hervorgebrachten Regeln zur Selbstverteidigung keineswegs, dass es sich hierbei um völkerrechtlich irrelevante Entwicklungen gehandelt habe. II. Selbstverteidigung als Ausschluss für Staatenverantwortlichkeit Neben der damaligen Unterscheidungsbedürftigkeit zwischen Krieg und übriger Gewalt liefert auch ein Blick auf die Voraussetzungen der Staatenverantwortlichkeit Aufschluss über die rechtserhebliche Bedeutung der Selbstverteidigung. Das Institut der Staatenverantwortlichkeit ist nämlich keine Errungenschaft erst des modernen Völkerrechts. Vielmehr war das Prinzip der Kompensation von zu Unrecht erlittener Schäden auch im zwischenstaatlichen Verhältnis zumindest in Friedenszeiten schon lange zuvor etabliert25. Ein durch die Ausübung von Selbstverteidigung erlittener Schaden galt hierbei als rechtmäßig verursacht, sodass das Selbstverteidigungsrecht schon damals die Staatenverantwortlichkeit auszuschließen vermochte. 21 Dies gehörte zur allgemeinen Staatenpraxis, so z. B. ausdrücklich bereits Moore, Digest of Int’l. Law, S. 413. 22 Ohne Berücksichtigung dieser realitätsorientierten Differenzierung mag man indes vorschnell, wie Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 137 f., zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangen. 23 Kunde, Präventivkrieg, S. 144. 24 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (127, dort Fn. 44). 25 Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 1.

B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung

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Damit war die Einordnung einer Gewalthandlung als Selbstverteidigung auch im Hinblick auf Fragen der Staatenverantwortlichkeit rechtserheblich26. Die Erkenntnisse zu Voraussetzungen und Grenzen des Selbstverteidigungsrechts schlugen sich folglich bereits im „englischen Zeitalter“ unmittelbar auf das Völkerrecht nieder und sind daher auch unter diesem Aspekt als relevant im Rechtssinne einzustufen. III. Rechtserheblichkeit versus „politische Entschuldigung“ Darüber hinaus sind in Bezug auf die zu untersuchende Epoche unabhängig von dem soeben Festgestellten weitere Erwägungen beachtlich. Selbst wenn man nämlich untechnisch von einem grundsätzlichen „Recht auf freie Gewaltanwendung“ ausgehen möchte, ohne die in Realität vollzogene formelle Unterscheidung zwischen Krieg und übriger Gewalt zu beachten, ist es nicht zu leugnen, dass ein Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht in der Völkerrechtspraxis von Bedeutung war27. Zweifler an der Rechtserheblichkeit dieses Faktums verweisen in diesem Zusammenhang immerhin auf die rechtskonträre Funktion einer „politischen Entschuldigung“28; es habe nämlich für ohnehin schon generell erlaubte Gewaltanwendung keiner „Entschuldigung“ im Rechtssinne bedurft. Diesem Gedankengang lässt sich jedoch Beträchtliches entgegenhalten. 1. Relativität des völkerrechtshistorischen Kontextes

Zunächst lässt sich die zu diskutierende Rechtserheblichkeit der mutmaßlich „politischen Entschuldigung“ im Lichte ihrer späteren Auswirkungen auf das moderne Völkerrecht mit umfassendem Gewaltverbot betrachten. Möchte man nämlich unterstellen, dass Selbstverteidigung im „englischen Zeitalter“ ausschließlich die genannte politische Funktion erfüllt hätte, so geschieht dies nur deshalb, weil es keiner Rechtserheblichkeit bedurft hätte. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass grundsätzlich erlaubte Gewaltanwendung keinen Raum für weitere Rechtmäßigkeitsqualifikationen böte und deshalb Bekräftigungen des eigenen Handelns zwingend als lediglich politisch einzuordnen wären. Mangels Bedarf an einer Legalitätserklärung erfüllt damit der politische Rekurs in Form der bloßen Legitimierung eigenen Handelns gleichsam die Funktion des hinter den bereits erschöpften Rechtserwägungen stehenden nächst geringeren Auffangmittels. Zugleich wäre die Selbstverteidigung als Form der (politischen) Legitimierung die ranghöchste und gewichtigste Begründung für Gewaltanwendung.

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Ebenso statt vieler Kearley, WisconsinILJ 17 (1999), S. 325 ff. (332). s. u. 6. Kap. D. 28 Vgl. Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S.  177; Walker, CornellILJ 31 (1998), S.  321 ff. (335).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Überträgt man dieses Verhältnis auf das Zeitalter der Vereinten Nationen, erkennt man eine bemerkenswerte Parallelität: Selbstverteidigung hat nun als Ausnahme zum Gewaltverbot zwar unstreitig Rechtscharakter, ist aber – wie schon in der vorangegangenen Epoche als (unterstellte)  bloße Legitimierung  – weiterhin funktionell ranghöchste individuelle Begründung für Gewaltanwendung. Der Stellenwert der Selbstverteidigung hat sich damit im Vergleich zum „englischen Zeitalter“ nicht gewandelt29. Einzig die Abkehr von dem unterstellten Prinzip generell zulässiger Gewaltanwendung ist von Bedeutung; diese hat sich aber gerade nicht erhöhend auf den Stellenwert der Selbstverteidigung ausgewirkt. Als Konsequenz war Selbstverteidigung im „englischen Zeitalter“ der Selbstverteidigung im modernen Völkerrecht mindestens gleichwertig. Wenn aber der ursprüngliche Stellenwert trotz unterstellt politischem Charakter dem heutigen jedenfalls nicht unterlegen war, so ist nicht zu erklären, warum Selbstverteidigung zu Beginn des 19.  Jahrhunderts als „politische Entschuldigung“ ohne rechtliche Relevanz herabgewürdigt werden soll. Vielmehr ist das epochenübergreifend beständige Selbstverteidigungsrecht jeweils in der Relativität des völkerrechtshistorischen Kontextes zu verstehen. Funktional und inhaltlich galt und gilt es als gewichtigste Form der Begründung für individuelle Gewaltanwendung. Selbst wenn diese Begründung vormals nur politisch gewesen sein soll, existierte sie inhaltlich gefestigt. Möchte man dennoch der Selbstverteidigung ihre Rechtserheblichkeit vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen absprechen, so wirkt sich dies gleichwohl nicht auf ihren Inhalt aus. Spätestens mit Beginn des modernen Völkerrechts wird dann dieser Inhalt notwendigerweise völkerrechtlich relevant, weil die hergebrachten – wenn auch nur vermeintlich poli­ tischen – Grundsätze hierzu inhaltsgleich geblieben sind und zugleich nun auch rechtlich auf sie abgestellt wurde. 2. Vermutung der Legalität freier Gewaltanwendung

Greift man ferner den der Qualifizierung als „politische Entschuldigung“ zu Grunde liegenden Gedanken der grundsätzlichen Gewaltanwendungsfreiheit auf, lässt sich dieser auch als Vermutungsregel formulieren: Es gilt demnach die Vermutung, dass Gewaltanwendung legal ist, wenn sie nicht explizit (z. B. durch bilateralen Vertrag) ausgeschlossen ist. Daraus ergeben sich wiederum zwei Kon­ sequenzen: Zumindest bei Gewaltanwendung trotz vertraglichen Verbots hätte es zwingend einer rechtserheblichen Begründung hierfür bedurft, welche im Falle von Selbstverteidigung inhaltlich schwerlich hätte anders ausfallen können als eine politisch 29 Man könnte sogar vertreten, dass der Stellenwert im Zeitalter der Vereinten Nationen abgenommen hat, da Maßnahmen kollektiver Sicherheit – wenn sie denn getroffen werden – immer dem Selbstverteidigungsrecht vorgehen.

B. Rechtserheblichkeit von Selbstverteidigung

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begründete Selbstverteidigung. Es ist nämlich nicht zu erklären, wie eine Berufung auf denselben „Entschuldigungsgrund“ einmal mit politischem und ein anderes Mal mit rechtlichem Charakter hätte inhaltlich unterschiedlich ausfallen sollen. Deshalb ist es aber gerade nicht einzusehen, dem Institut des Selbstverteidigungsrechts als solchem eine nur situationsbedingte Rechtserheblichkeit zuzugestehen. Wenn es rechtserhebliche Fälle von Selbstverteidigung gab – was angesichts der Existenz gegenseitiger Verträge mit der Verpflichtung zum Gewaltverzicht nachgewiesen ist30 –, kann das dadurch inhaltlich definierte Recht auf Selbstverteidigung nicht plötzlich als völkerrechtliches Institut in unterstellt politischen Anwendungsfällen seine Rechtserheblichkeit einbüßen, weil eine bloß fehlende Rechtsanwendbarkeit im Einzelfall nicht auch eine fehlende Rechtserheblichkeit des ganzen Instituts implizieren kann31. Das Selbstverteidigungsrecht mag also allenfalls im Einzelfall keine Rechtswirkung entfalten, da es schlicht keiner weiteren Rechtswirkung in ohnehin erlaubten Situationen bedurft hätte. Rechtserheblich als solches bleibt es jedoch. Darüber hinaus lässt sich auf Grundlage der Vermutung legaler Gewaltanwendung sogar argumentieren, dass selbst in Fällen nicht ausnahmsweise ausgeschlossener Gewaltanwendung eine Bezugnahme auf Selbstverteidigung rechtserheblich sein kann. Diejenigen, die hierin eine bloß „politische Entschuldigung“ erkennen möchten, weisen auf die fehlende Notwendigkeit einer rechtserheblichen „Entschuldigung“ hin; doch ist nicht ersichtlich, warum eine bloß fehlende Notwendigkeit zur Rechtserheblichkeit eben diese zugleich ausschließen soll. Eine Begründung für ein ohnehin erlaubtes Verhalten kann nämlich möglichen Einwänden gegen die Erlaubnis als Bekräftigung entgegenwirken und würde spätestens dann Rechtscharakter entfalten. Wenn also Staat A gegen Staat B grundsätzlich erlaubte Gewalt anwendet und diese zusätzlich mit Selbstverteidigung begründet, kann sich Staat A auf zwei Erlaubnissätze berufen. Wird von Staat B jedoch die generelle Zulässigkeit der Gewaltanwendung für den möglicherweise besonderen Einzelfall in Zweifel gezogen, kann dieser Einwand dahinstehen, wenn weiterhin die Voraussetzungen der Selbstverteidigung erfüllt sind. In diesem Falle wäre der Berufung auf Selbstverteidigung plötzlich jedenfalls Rechtscharakter zuzugestehen; dass dieser Rechtscharakter aber von einem willkürlichen Einwand Dritter abhängen soll, ist nicht einzusehen. Damit ist auch die bloße Bekräftigung einer grundsätzlich erlaubten Rechtsausübung rechtserheblich. Im Ergebnis ist also zu konstatieren, dass selbst bei Ausblendung der völkerrechtlichen Fragen aus dem „englischen Zeitalter“ zur Unterscheidung von Krieg

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s. sogleich unter C. So wird im deutschen Strafrecht auch nicht die institutionelle Existenz des Notwehrrechts nach § 32 StGB in Zweifel gezogen, nur weil in bestimmten Anwendungsfällen trotz möglicher Einschlägigkeit von § 32 StGB bereits auf Tatbestandsebene – z. B. durch Einverständnis – eine Strafbarkeit ausgeschlossen werden kann und es nur daher nicht zu einem Rekurs auf das Notwehrrecht kommt.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

und übriger Gewalt sowie zur Staatenverantwortlichkeit das Institut der Selbstverteidigung auch bei Annahme eines grundsätzlichen Rechts auf freie Gewaltausübung stets und ausnahmslos als rechtserheblich einzustufen ist. IV. Schlussfolgerungen Es ist somit festzuhalten, dass das auf den ersten Blick zu vermutende Paradoxon einer Rechtserheblichkeit der (allgemeinen) Selbstverteidigung trotz fehlenden Gewaltverbots in Wahrheit nicht existiert32. Bereits im „englischen Zeitalter“ war das Institut der Selbstverteidigung in vollem Maße völkerrechtlich relevant und anerkannt. Damit ist auch ein mögliches Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung als solches bereits vor In-Kraft-Treten der SVN33 von völkerrechtlicher Bedeutung. Nun gilt es zu untersuchen, ob und ggf. in welchem Ausmaß ein solches Recht bis dato auch tatsächlich bestand.

C. Völkerrechtliche Verträge Es werden nun die für die in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung relevante Rechtsermittlung in Frage kommenden völkerrechtlichen Verträge aus dem „englischen Zeitalter“ in chronologischer Reihenfolge analysiert. Dabei soll das Augenmerk lediglich auf die zentralen Fragestellungen [F1] und [F2] gerichtet werden, also ob und ggf. inwieweit vorbeugende Selbstverteidigung nach den jeweiligen Übereinkommen als rechtmäßig einzustufen ist. I. Bi- und multilaterale Abkommen vor der Gründung des Völkerbundes In einem ersten Schritt wird die aufkommende völkervertragsrechtliche Entwicklung vor der Gründung des Völkerbundes überblickt. Der Zäsur, welche der Völkerbund für das bis dato bestehende Völkerrechtsverständnis bedeutete, wird auch hier durch eine getrennte Betrachtung Rechnung getragen.

32 Dies stellte als Zeitzeuge bereits vor Existenz der SVN Lauterpacht, Function of Law, S.  178 f., heraus. Vor diesem Hintergrund erscheint die heute geführte Diskussion um die Rechtserheblichkeit der Selbstverteidigung vor 1945 geradezu als nachträglich konstruiertes Problem. 33 Zur Relevanz für das Zeitalter der Vereinten Nationen s. u. 7. Kap.

C. Völkerrechtliche Verträge

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1. Die Anfangszeit nach dem Wiener Kongress

Mit dem Wiener Kongress 1815 begannen die ersten multilateralen Zusammenschlüsse mit kollektiven Beistandsverpflichtungen im Kriegsfall. Das erste dieser Bündnisse war die sog. „Heilige Allianz“ zwischen Österreich, Preußen und Russland, die sich im September 1815 gründete; im Jahr 1818 trat zudem Frankreich hinzu34. Ziel waren regelmäßige Konsultationen sowie die obligatorische Bereitstellung von Streitkräften im Konfliktsfall mit Nicht-Bündnisstaaten. Letzteres bezog sich dabei auch auf Konstellationen vorbeugender Selbstverteidigung35, um sich anbahnende Konflikte gewaltsam in deren Vorfeld auszuschalten. Ge­ nauere Kriterien hierfür sah das Bündnis jedoch nicht vor, da ja weiterhin eine formelle Kriegserklärung zur Rechtfertigung von Gewalt genügte. Die konkrete Bereitschaft zu vorbeugend-selbstverteidigenden Handlungen zeigten Preußen und Russland 1848, als sie eingriffsbereite Truppen an der Grenze zu Frankreich stationierten, um einer möglichen Bedrohung durch die revolutionär entstandene „Zweite Republik“ entgegenzuwirken36. Zu tatsächlichen Gewalthandlungen führte dies letztendlich zwar nicht, jedoch zeigte man sich dem Bündnisgedanken folgend deutlich gewillt, auf Grund der innenpolitischen Lage in Frankreich gestützt auf den Bündnisvertrag vorbeugend gewaltsam einzugreifen. [F1] wäre damit für diesen Teil zu bejahen. Solche Bestrebungen wären zur Beantwortung von [F2] nach heutigem Verständnis wohl der Latenztheorie zuzuordnen, auch wenn die innenpolitische Lage als Indikator bedrohend auf die Außenpolitik gewirkt haben könnte; für eine Annahme der heutigen Indikationstheorie statt der Latenztheorie fehlt es aber an einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang. 2. Der Krimkrieg von 1853 bis 1856 als Anlass für verstärkte Vertragsschlüsse

Als am 3.  Juli 1853 russische Truppen die osmanischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei besetzten, erklärte das Osmanische Reich kurz darauf Russland den Krieg. Zur Unterstützung des sich im Zerfall befindenden Osmanischen Reiches traten Frankreich, das Vereinigte Königreich und das Königreich Sar­ dinien als Alliierte hinzu, wodurch sich der Krieg rasch ausweitete. U. a. fanden seit 1854 auch Kampfhandlungen auf der Halbinsel Krim statt, welche schon bald den Schwerpunkt des Krieges ausmachten, weshalb der Krieg als „Krimkrieg“ in die Geschichte einging.



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s. eingehend Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (325 ff.). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (326), m. w. N. 36 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (327).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Für vorbeugende Selbstverteidigung sind die anlässlich dieses Krieges geschlossenen Beistands- und Verteidigungsbündnisse aufschlussreich, zu deren Entwicklung der Krimkrieg einen nennenswerten Beitrag leistete37. Zunächst verpflichteten sich die am Krimkrieg unbeteiligten Staaten Österreich und Preußen zu gegenseitigem Beistand im Falle eines russischen Angriffs. Ein solcher wurde dabei als bereits indiziert angesehen, wenn Russland Gebiete auf dem Balkan – also außerhalb der Territorien der Vertragsparteien, wohl aber in ihrer Nähe – besetzen sollte38. Kurz darauf schlossen Frankreich, das Vereinigte Königreich und Österreich ein ähnlich lautendes Verteidigungsbündnis, ebenso geschah dies 1855 unter Einbeziehung Sardiniens39. Auch hierbei wurden jeweils sich vorzeichnende Ereignisse einem tatsächlichen Angriff gleichgesetzt. In demselben Jahr kam es zu einem weiteren Bündnis zwischen Frankreich, dem Vereinigten Königreich und Schweden, um russische Aggressionen oder auch nur „Anmaßungen“40 gegenüber den Vertragsparteien frühzeitig zu unterbinden. Dabei kann auch eine (noch) nicht unmittelbar als Angriff zu wertende Anmaßung eine Vorbereitungshandlung hierzu sein, welche wiederum als Indikation zur Selbstverteidigung berechtigen würde. Insofern enthielt auch dieser Vertrag vorbeugend-selbstverteidigende Elemente auf Grund einer Indikation. Insgesamt produzierte der Krimkrieg in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung eine beachtliche Ansammlung von verschiedenen gegen Russland gerichteten Verteidigungsverträgen, welche in ihrem Kern eine Gewaltanwendung bereits bei Verletzungen von Nachbargebieten oder angriffsvorbereitenden Handlungen für rechtmäßig erklärten. Die Bejahung von [F1] kann damit aufrechterhalten bleiben. Für [F2] gilt dann: Angesichts eines dabei jeweils zu erkennenden indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs wird vorbeugende Selbstverteidigung aus heutiger Sicht hier schwerpunktmäßig nicht mehr nach Maßgabe der extensiveren Latenztheorie, sondern nach der Indikationstheorie als recht­mäßig konstituiert. 3. Der Verlauf im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

In der Folgezeit bildeten und lösten sich wieder weitere multilaterale Beistandsverpflichtungsverträge, z. B. der „Dreibund“ zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien 1879/1882 oder die „Entente Cordiale“ zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich 1904, die sich nach dem Beitritt Russlands 1907 zur „Triple Entente“ fortentwickelte41. Einige der in jener Zeit häufig wech

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Vgl. zum Verlauf Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (327 ff.). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (328), m. w. N. 39 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (328). 40 Im Vertragstext ist tatsächlich von „pretensions“ die Rede, so der Textausschnitt zit. bei Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (328). 41 Für einen genaueren Überblick s. Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (330 ff.).

C. Völkerrechtliche Verträge

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selnden Bündnisverträge sahen vorbeugende Selbstverteidigung explizit vor, ohne jedoch näher auf mögliche Voraussetzungen hierfür einzugehen42. So schrieb die „Schönbrunner Konvention“ 1873, die in demselben Jahr zum „Dreikaiserabkommen“ zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland weiterentwickelt wurde, eine gegenseitige gewaltsame Beistandspflicht auch im Falle der bloßen Bedrohung durch einen Drittstaat vor43. Auf eine Bedrohung zielte auch das Verteidigungsbündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn 1879 ab, das wiederum bereits dann zu vorbeugend-selbstverteidigendem Beistand verpflichtete44. Daneben begründete der bereits erwähnte „Dreibund“ von 1882 eine Beistandspflicht auch im Falle fremder Bedrohung45. Als Reaktion hierauf schlossen Frankreich und Russland mehrere sich inhaltlich fortentwickelnde Bündnisse seit 1891, welche jeweils auch auf eine reine Bedrohungslage abstellten und darunter sogar weiter eine bloß abstrakte Gefährdung des Friedens nach heutigem Inhalt der Latenztheorie verstanden46. 4. Auswertung

Es bleibt somit zusammenfassend festzuhalten, dass die zahlreichen bi- und multilateralen Abkommen seit 1815 von der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ausgingen, indem sie im Bündnisfall den bzw. die Vertragspartner zu ebensolcher verpflichteten. Der Auslöser der Verpflichtung zu einer vorbeugendselbstverteidigenden Handlung war einerseits die Indikation eines Angriffs durch erkennbare kriegerische Vorbereitungshandlungen oder bereits erfolgte Gewaltanwendung in Grenznähe, andererseits aber auch die schlichte Bedrohung durch einen Drittstaat, deren Kriterien jedoch nicht näher bestimmt wurden47. Jedenfalls vor Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 war vorbeugende Selbstverteidigung ein institutioneller Bestandteil des vertraglich geltenden Völkerrechts48, [F1] war zu bejahen. Dabei galten durchaus auch Vorgehensweisen in Gestalt der heutigen Latenztheorie als zulässig, sodass die Antwort auf [F2] hier weit ausfällt.

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Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (330). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (330), m. w. N. 44 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (331), m. w. N. 45 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (332), m. w. N. 46 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (333), dort etwas missverständlich als „Entente Cordiale“ bezeichnet, was jedoch historisch für ein hieran anknüpfendes Bündnis mit franzö­ sischer Beteiligung von 1904 (s. o.) reserviert ist. 47 Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 142 ff., fasst den Eintritt solcher vorbeugend-verteidigenden Bündnisfälle unter dem Sammelbegriff der „Provokation“ zusammen, ohne jedoch auf die durch eine solche hervorgebrachte Indikationswirkung einzugehen. Darüber hinaus stellt er zwar nachvollziehbar auf das rechtlich allein relevante Innenverhältnis der Vertragsparteien ab, folgert daraus allerdings kein Vorliegen staatlicher Rechtsüberzeugung. Aus diesen Gründen gelangt er zu einem abweichenden Ergebnis hinsichtlich der frühen Vertrags­praxis, welches nicht geteilt werden kann. 48 Übereinstimmend Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (336).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

II. Die Satzung des Völkerbundes Als Antwort auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges wurde am 28. April 1919 der Völkerbund ins Leben gerufen49. Ursprüngliche Mitglieder des Völkerbundes waren 32 Siegermächte und 15 neutrale Staaten, niemals jedoch die USA. Die Satzung des Völkerbundes (SVB), welche dem ersten Teil  des Versailler Friedensvertrags entsprach, hatte als oberstes Ziel, weitere Kriege zu verhindern50. Dazu erließ sie ein partielles Kriegsverbot, welches sich gem. Art. 10 SVB auf Eroberungs- und Unterdrückungsgewalt erstreckte. Daneben konstituierte Art. 12 Abs. 1 SVB vor jeder potentiellen Gewaltanwendung die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, welche durch ein schiedsgerichtliches Verfahren (Art.  13 SVB), den Völkerbundrat (Art. 15 SVB) oder seit 1922 auch durch den StIGH in Den Haag (Art. 14 SVB) vollzogen werden konnte. Sämtliche Verfahren führten jedoch nur zu einem temporären Kriegsverbot, drei Monate nach Ausspruch des Schiedsspruchs gewannen die Konfliktsparteien ihr suspendiertes Kriegsrecht in vollem Umfang zurück. Die SVB stellte also nur sicher, dass Eroberung und Unterdrückung per se als Kriegsgründe unrechtmäßig waren und dass darüber hinaus dem Recht auf Kriegsführung ein friedliches Verfahren zwingend vorgeschaltet war. Das Recht auf Selbstverteidigung war in der SVB selbst nicht geregelt51. Es herrschte aber Einigkeit darüber, dass am status quo durch die SVB nichts geändert werden sollte52, was ebenso der Völkerbundrat später ausdrücklich bestätigte53. Es war damit weiterhin auch das Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung aus der Vorkriegszeit anerkannt54. Zudem sah der Friedensvertrag von Versailles55 als das mit der SVB einhergehende Dokument eine Form vorbeugender Selbstverteidigung vor56: In dessen Teil III Abschnitt III verbietet er es Deutschland, am linken Rheinufer und innerhalb der ersten 50 Kilometer des rechten Rheinufers militärische Befestigungen beizubehalten oder anzulegen (Art. 42) sowie dort mit Streitkräften präsent zu sein (Art.  43). Gem. Art.  44 sollte jeder Verstoß gegen diese beiden Vorschriften als Störung des Weltfriedens die Mitglieder des Völkerbundes zu gewaltsamen Gegenmaßnahmen ermächtigen. Damit war zumindest ein Anwendungsfall vorbeugen 49 s. dazu ausführlicher Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (244 f.); Kunde, Präventivkrieg, S. 92 ff.; Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (337 ff.). 50 Ausführlich Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 36 ff. 51 Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (245), und ders., Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (107), möchte jedoch eine indirekte Regelung aus Art. 13 Abs. 4 und Art. 15 Abs. 6 SVB e contrario erkennen. 52 Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (245); Kunde, Präventivkrieg, S. 93. 53 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (340). 54 Freilich wurde dies nicht unkritisch hingenommen, vgl. den Nachweis bei Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (112 f.). 55 RGBl. 1919, 687. 56 Vgl. auch Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (339).

C. Völkerrechtliche Verträge

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der Selbstverteidigung für den Falle der Militarisierung des Rheinlandes im Sinne einer Angriffsvorbereitungshandlung als Indikator für das Bevorstehen eines Verteidigungsfalles nach der heutigen Indikationstheorie dokumentiert. III. Anschlussabkommen an die SVB Weitere solcher nach dem Vorbild von Versailles indizierten Anwendungsfälle sahen – allerdings nicht ratifizierte – Anschlussabkommen an die SVB zwischen dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten und Frankreich vor57; weiterhin galt dies für ein militärisches Geheimbündnis zwischen Polen und Frankreich von 1921 sowie für die französisch-tschechoslowakische Allianz von 192458. Daneben war insbesondere das Genfer Protokoll59 vom 2.  Oktober 1924 als Weiterentwicklung der SVB gedacht und sollte in seinem Kern jeden Angriffskrieg (Art.  2)60 sowie jede Angriffsdrohung (Art.  8 Abs.  1)61 verbieten. Es begriff dabei jeden Staat als Angreifer, der sich den Statuten des Protokolls widersetzt hätte (Art. 10 Abs. 1 S. 1), und dehnte diesen Begriff – nach Versailler Vorbild  – auch auf eine Verletzung entmilitarisierter Zonen aus (Art.  10 Abs.  1 S.  2). Damit wurde wiederum die Überzeugung einer rechtmäßigen vorbeugenden Selbstverteidigung nach Indikation62 zum Ausdruck gebracht und bekräftigt. Das Selbstverteidigungsrecht als solches bestand zudem vorbehaltlos und wurde weiterhin nur durch die Einschätzungsprärogative des mutmaßlichen Verteidigers überprüft63. Diese Rechtsüberzeugung der seinerzeitigen Auffassung zu Selbstverteidigung bestätigt auch der Eingangsbericht zur fünften Vollversammlung im Völkerbundrat 1924, worin es u. a. heißt: „The right of legitimate self-defence continues, as it must, to be respected.“64 Mehr hingegen vermochte das Genfer Protokoll nicht zu bewirken, da es mangels Zustimmung des Vereinigten Königreichs nie in Kraft getreten ist65.



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Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (340), m. w. N. Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (340), m. w. N. 59 Abgedruckt bei Wehberg, Genfer Protokoll, S. 159 ff.; s. weiterführend Roscher, BriandKellogg-Pakt, S. 46 ff. 60 Vgl. dazu Alexandrov, Self-Defense, S. 43 f.; Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S. 241 ff. (245); Wehberg, Genfer Protokoll, passim. 61 Darauf weist Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 47, ausdrücklich hin. 62 Gerade für eine möglichst sichere Prognose der Kriegsvorbereitung wurde auf die Indikation durch Militarisierung sog. neutralisierter Zonen zurückgegriffen, vgl. Wehberg, Genfer Protokoll, S. 117 f. 63 Schinzel, Notwehr im Völkerrecht, S. 39; Wehberg, Genfer Protokoll, S. 6. 64 Zit. nach Alexandrov, Self-Defense, S. 43 f. 65 Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (108); Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 156, jeweils m. w. N.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

IV. Das Vertragswerk von Locarno 1925 Auf Initiative des deutschen Außenministers Gustav Stresemann wurde am 16.  Oktober 1925 das Vertragswerk von Locarno66 vor allem67 zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich geschlossen. Mit der Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund am 10. September 1926 trat das Vertragswerk in Kraft. Es sah u. a. das Verbot jeder Form von Angriffen vor, insbesondere konstituierte Art. 2 Abs. 1 des sog. Westpaktes als Bestandteil des Vertragswerkes zwischen Deutschland und Belgien sowie Deutschland und Frankreich ein absolutes Kriegsverbot68. Damit verschärfte das Vertragswerk von Locarno insgesamt das relative Gewaltverbot der SVB im Verhältnis der Vertragsstaaten untereinander69. Doch auch außerhalb der Vertragsstaaten70 sowie in der siebten Vollversammlung des Völkerbundes71 war eine deutliche Zustimmung zu den Inhalten der Locarno-Verträge zu verzeichnen, was stark für eine seinerzeitige Rechtsüberzeugung über die beteiligten Parteien hinaus spricht. Besondere Bedeutung gewinnt das Vertragswerk von Locarno, weil es nach dem Ersten Weltkrieg die erste in Kraft getretene ausdrückliche Regelung zum Selbstverteidigungsrecht enthält. Hierauf kommt Art. 2 Abs. 2 Ziff. 1 des Westpaktes explizit zu sprechen, wonach das Kriegsverbot aus Art. 2 Abs. 1 keine Anwendung finden soll bei: (…) Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung, d. h. um den Widerstand gegen eine Verletzung der Verpflichtung des vorstehenden Absatzes oder gegen einen flagranten Verstoß gegen die Artikel 42 und 43 des Vertrags von Versailles, sofern ein solcher Verstoß eine nicht provozierte Angriffshandlung darstellt und wegen der Zusammenziehung von Streitkräften in der demilitarisierten Zone eine sofortige Aktion notwendig ist; (…)72

Damit wird der status quo des Völkerrechts auf dem Stand von 1925 mit einem über reaktive Selbstverteidigung hinausreichenden Selbstverteidigungsrecht erstmals rechtsverbindlich kodifiziert und definiert. War es der SVB noch nicht gelungen, konkret auf das Selbstverteidigungsrecht einzugehen, holt das Vertragswerk von Locarno dies nun – wenn auch nur inter partes – nach.

66 Vgl. dazu Nathusius, Locarno und Völkerbund, passim; Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 50 ff. 67 Das Vertragswerk umfasste tatsächlich sechs verschiedenartige Verträge auch zwischen anderen Staaten wie Polen und der Tschechoslowakei, vgl. Nathusius, Locarno und Völkerbund, S. 20 f., deren Inhalt ist hier jedoch nicht weiter relevant. 68 Nathusius, Locarno und Völkerbund, S. 26. 69 Alexandrov, Self-Defense, S.  44 ff.; Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S.  241 ff. (245 f.); ders., Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (109 f.); Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (341 f.). 70 Nathusius, Locarno und Völkerbund, S. 45. 71 Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S.  241 ff. (246); ders., Selbstverteidigung und Staaten­ gemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (110). 72 Zit. nach Nathusius, Locarno und Völkerbund, S. 28.

C. Völkerrechtliche Verträge

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Dabei wird an der etablierten Rechtsüberzeugung einer auch nach Indikation zulässigen vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung festgehalten, indem sich Art. 2 Abs. 2 Ziff. 1 des Westpaktes auf die für Indikation relevanten Bestimmungen des Versailler Vertrags bezieht. Nicht hingegen umfasst ist nunmehr ein vormals noch als rechtmäßig betrachtetes Handeln nach der heutigen Latenztheorie. Inhaltlich konkretisiert diese Regelung die Anforderungen an die Indikation einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage durch Militarisierung neutraler Zonen, indem sie zum einen qualifiziert einen flagranten Verstoß verlangt und zum anderen vertraglich erstmals zwingend eine Notwendigkeitsprüfung vor einer möglichen Selbstverteidigungshandlung festsetzt. Erstere Anforderung hebt sich in ihrer Konsequenz von der bis dato vorherrschenden Einschätzungsprärogative des sich in Verteidigung wähnenden Staates zu Gunsten objektiver Kriterien ab, während letztere das heute anerkannte ultima-ratio-Prinzip konstituiert. Bestärkt wird diese formelle Einschränkung durch den in diesem Zusammenhang häufig zitierten Art. 4 Abs. 1 des Vertrags: Ist einer der Hohen Vertragschließenden Teile der Ansicht, daß eine Verletzung des Artikel 2 dieses Vertrages oder ein Verstoß gegen die Artikel 42 oder 43 des Vertrags von Versailles begangen worden ist oder begangen wird, so wird er die Frage sofort vor den Völkerbundsrat bringen.

Bei dieser Vorschrift handelt es sich also über Art.  2 Abs.  2 Ziff.  1 hinaus um eine grundsätzliche Kompetenzübertragung zur Feststellung einer Selbstverteidigungslage auf den Völkerbundrat. Mitunter wird dies als „interessante Einschränkung“73 oder gar „revolutionäre Bestimmung“74 verstanden, welche das Selbstverteidigungsrecht begrenzt und die Handlungsmacht der beteiligten Staaten entscheidend geschwächt haben soll. Systematisch vollständig ist die Bestimmung aber stets mit Art. 4 Abs. 3 zu lesen, der wie folgt lautet: Im Falle einer flagranten Verletzung des Artikel 2 dieses Vertrages oder eines flagranten Verstoßes gegen die Artikel 42 oder 43 des Vertrages von Versailles durch einen der Hohen Vertragschließenden Teile verpflichtet sich schon jetzt jede der anderen vertragschließenden Mächte, sobald ihr erkennbar geworden ist, daß diese Verletzung oder dieser Verstoß eine nicht provozierte Angriffshandlung darstellt, und daß im Hinblick, sei es auf die Überschreitung der Grenze, sei es auf die Eröffnung der Feindseligkeiten oder die Zusammenziehung von Streitkräften in der demilitarisierten Zone, ein sofortiges Handeln geboten ist, demjenigen Teile, gegen den eine solche Verletzung oder ein solcher Verstoß gerichtet worden ist, sofort ihren Beistand zu gewähren. Dessenungeachtet wird der gemäß Absatz 1 dieses Artikels mit der Frage befaßte Völkerbundsrat das Ergebnis seiner Feststellungen bekanntgeben. Die Hohen Vertragschließenden Teile verpflichten sich, in solchem Falle nach Maßgabe der Empfehlungen des Rates zu handeln, die alle Stimmen mit Ausnahme derjenigen der Vertreter der in die Feindseligkeiten verstrickten Teile auf sich vereinigt haben.

73 Fassbender, EuGRZ 31 (2004), S.  241 ff. (246); ders., Selbstverteidigung und Staaten­ gemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (110). 74 Kunde, Präventivkrieg, S. 95.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Damit wird die Kompetenzübertragung auf den Völkerbundrat ihrerseits wieder eingeschränkt, denn bei flagranten Verstößen gegen das Kriegsverbot dürfen die Vertragsstaaten ohne vorherige Feststellung des Völkerbundrats zur gebotenen Selbstverteidigung schreiten. Die beiden Voraussetzungen des Rechts sofortig zu handeln – Flagranz und Gebotenheit – finden sich jedoch bereits in der Ursprungsregelung des Art. 2 Abs. 2 Ziff. 1 wieder, der bereits eine flagrante Verletzung und Gewalt als ultima ratio voraussetzt. Die vermeintlich „revolutionäre“ Kompetenzübertragung aus Art.  4 Abs.  1 schränkte somit das Selbstverteidigungsrecht tatsächlich nicht ein, sondern erweiterte im Gegenteil die Einschätzungsmöglichkeiten der jeweils konkreten Lage auf Anwendungsfälle, welche der Völkerbundrat seinerseits nach Vorbringen einer Vertragspartei als Selbstverteidigungslage qualifizieren konnte. Folglich tangierte Art. 4 Abs. 1 den Inhalt des Selbstverteidigungsrechts nicht, sondern bestärkte lediglich das Erfordernis einer möglichst objektiven Lagebestimmung zur jeweiligen Situation75. Nur insoweit kann von einer eingeschränkten Handlungsmacht der Vertragsstaaten gesprochen werden, nicht jedoch in Bezug auf das Selbstverteidigungsrecht als solches nach der Indikationstheorie. Die Anforderungen an die Umstände des Auslösers einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage an sich – namentlich die Indikation durch Militarisierung – wurden dadurch nämlich nicht beschnitten. Sie wurden sogar in ihrem Bestehen bekräftigt, indem der Völkerbundrat als Organ einer nicht eben kleinen Staatengemeinschaft mit der Erforschung ihres jeweiligen Vorliegens betraut wurde. Damit festigte das Vertragswerk von Locarno die seinerzeit vorherrschende Auffassung, dass eine bloße Indikation auch als Auslöser einer dann vorbeugenden Selbstverteidigungslage ausgereicht hat76. Zugleich bedeutete dies aber auch eine Abkehr von der Latenztheorie. [F1] wird demnach durch das Vertragswerk von Locarno abermals bejaht, [F2] ist mit der Indikationstheorie zu beantworten. V. Der Briand-Kellogg-Pakt 1928 Der Briand-Kellogg-Pakt77 vom 27.  August 1928 ging als sog. „Kriegsächtungspakt“ in die Geschichte ein78. Dem Vertrag, der auf Initiative des französischen Außen­ministers Aristide Briand und des US-amerikanischen Außenministers Frank B. Kellogg geschlossen wurde, traten in kurzer Zeit die meisten Staaten der Welt bei, sodass er schnell universelle Geltung erlangte und auch für Nicht­



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Alexandrov, Self-Defense, S. 47. Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 53; Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (341). 77 Der offizielle Name lautet „Treaty Providing for the Renunciation of War as an Instrument of National Policy (Pact of Paris)“, vgl. Kunde, Präventivkrieg, S. 95. 78 Umfassend hierzu Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, passim; vgl. auch den dort, S. IX f., abgedruckten Vertragswortlaut.

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signatarstaaten als Völkergewohnheitsrecht bindende Wirkung entfaltete79. Endgültig erreicht wurde diese weltumspannende Geltung spätestens mit In-Kraft-Treten des Saavedra-Lamas-Paktes im Oktober 1933, in welchem die zuvor nicht dem Briand-Kellogg-Pakt beigetretenen lateinamerikanischen Staaten sich in einem eigenen Vertragswerk auf Initiative des argentinischen Außenministers Carlos Saavedra Lamas zum Inhalt des Briand-Kellogg-Paktes bekannten80. Der Briand-Kellogg-Pakt besitzt bis heute Gültigkeit, auch wenn er nun von den meisten weitergehenden Bestimmungen der SVN faktisch verdrängt wurde81. Seine Unterzeichner verpflichteten sich, auf Krieg als Mittel der nationalen Politik zu verzichten (Art. I) und internationale Streitigkeiten friedlich zu lösen (Art. II). Damit wurde erstmals ein universell gültiges Kriegsverbot – nicht jedoch Gewaltverbot82 – erlassen, wie es inter partes bereits zuvor nach dem Westpakt bestand. Anders als das Vertragswerk von Locarno enthält der Briand-Kellogg-Pakt jedoch keine Bestimmung zum Selbstverteidigungsrecht; eine solche von Frankreich gewünschte Formel scheiterte am Widerstand der Vereinigten Staaten83. Dabei äußerten sich die USA in einer formellen Note an zahlreiche Regierungen wie folgt: „(…) (1) Self-defense. There is nothing in the American draft of an anti-war treaty which restricts or impairs in any way the right of self-defense. That right is inherent in every sovereign state and is implicit in every treaty. Every nation is free at all times and regardless of treaty provisions to defend its territory from attack or invasion and it alone is competent to decide whether circumstances require to war in self-defense. If it has a good case, the world will applaud and not condemn its action. Express recognition by treaty of this inalienable right, however, gives rise to the same difficulty encountered in any effort to define aggression. It is the identical question approached from the other side. Inasmuch as no treaty provision can add to the natural right of self-defense, it is not in the interest of peace that a treaty should stipulate a juristic conception of self-defense since it is far too easy for the unscrupulous to mold events to accord with an agreed definition. (…)“84

Die Vereinigten Staaten sprachen sich damit gegen eine Kodifikation des Selbstverteidigungsrechts zu Gunsten des geltenden Völkergewohnheitsrechts aus85. Somit erfolgte durch den Briand-Kellogg-Pakt zumindest keine Einschränkung des bis dahin geltenden status quo86, es darf also weiterhin zumindest von der Recht 79 s. nur Bothe, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 8. Abschn., Rn. 6 (S. 647); Roscher, BriandKellogg-Pakt, S. 103, m. w. N. 80 Brownlie, Use of Force, S. 95 f. (mit Abdruck des Vertragstextes); Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 234 ff. 81 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (342). 82 Vgl. zu den Schwächen des bloßen Kriegsverbots Kunde, Präventivkrieg, S. 97 f. 83 Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (114), m. w. N. 84 Abgedruckt in AJIL 22 (1928), Suppl., S. 109 f. 85 Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 88 f. 86 Lauterpacht, Function of Law, S. 182; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 744.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

mäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach Indikation einer bevorstehenden Schädigungshandlung ausgegangen werden. Erwähnenswert ist außerdem, dass die USA wiederum dem sich mutmaßlich verteidigenden Staat die Einschätzungsprärogative einer Selbstverteidigungslage zugestehen, ohne dabei – wie in den Locarno-Verträgen geschehen  – an objektive Kriterien anzuknüpfen. Der US-amerikanischen Auffassung schlossen sich Australien, Belgien, das Deutsche Reich, Frankreich, Indien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Polen, die Südafrikanische Union, die Tschechoslowakei und das Vereinigte Königreich ausdrücklich an87; von den weiteren Staaten war zumindest kein Protest hiergegen zu vernehmen88. Auch wenn der Briand-Kellogg-Pakt demnach keine vertragsrechtliche Regelung zum Selbstverteidigungsrecht hervorbrachte, sorgte er mit seinem Inhalt als gleichzeitiges Völkergewohnheitsrecht dennoch für eine Verfestigung des geltenden gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts, welches zumindest nach derzeitigem Stand der Vertragspraxis auch vorbeugend zulässig war89. Für [F1] und [F2] gilt also das zuvor Festgestelle fort. VI. Drei Konventionen über eine Aggressionsdefinition von 1933 Die Tatsache, dass eine universell gültige Kodifikation des Selbstverteidigungsrechts weiterhin fehlte, führte auf Bestreben der Sowjetunion am 3., 4. und 5. Juli 1933 zu drei Konventionen über eine Aggressionsdefinition90. Dabei wurde der vorangehende und gescheiterte Versuch des Völkerbundes, auf globaler Ebene eine Aggressionsdefinition zu verabschieden, durch das Nichtmitglied Sowjetunion regional verwirklicht91. Anknüpfend an die US-amerikanische Note zum BriandKellogg-Pakt wurden Angriff und Verteidigung nicht isoliert, sondern in gegen­ seitiger Abhängigkeit voneinander betrachtet, sodass auch Selbstverteidigung in der Aggressionsdefinition geregelt wurde. Am Rande einer Weltwirtschaftskonferenz in London unterzeichneten sowjetische Vertreter drei im Wesentlichen inhaltsgleiche Versionen solcher Konventionen, von welchen zwei für die Nachbarstaaten der Sowjetunion und die dritte uni

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Bestätigung der US-amerikanischen Note, abgedruckt in AJIL 23 (1929), Suppl., S. 1–13. Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (115), m. w. N. 89 Vgl. dazu auch Lauterpacht, Function of Law, S. 178 f.; zu möglichem weiter reichenden Völkergewohnheitsrecht aus dieser Zeit s. u. 6. Kap. D. 90 Hierzu insgesamt Alexandrov, Self-Defense, S. 72 f. (jedoch von nur zwei Konventionen ausgehend), sowie Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 221. 91 Die Sowjetunion bezog sich dabei ausdrücklich auf den zuvor auf globaler Ebene im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenzen 1932/33 abgelehnten Vorstoß des griechischen Delegierten und Berichterstatters Politis, s. ausführlich Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 212 ff., 220.

C. Völkerrechtliche Verträge

247

versell gelten sollte92. Darin konstatierte der jeweilige Art. III i. V. m. Art. II Ziff. 3, dass die Abgabe des ersten Schusses stets als Angriff zu werten sei und sich deshalb hierbei nicht mehr auf Selbstverteidigung berufen werden könne; demnach wäre vorbeugende Selbstverteidigung als ausnahmslos rechtswidrig einzustufen. Dieser extrem restriktive sowjetische Vorstoß rief nahezu allgemeine Ablehnung in der Staatenwelt hervor. Namentlich das Verbot vorbeugender Selbstverteidigung war eines der Hauptargumente gegen die Annahme der Konventionen93. Letztendlich auch deshalb wurden die Konventionen nur von weiteren zehn Staaten ratifiziert94, sodass sie keine universell-völkerrechtliche Bedeutung erlangen konnten. Die klare Ablehnung dieser restriktiven Auslegung von Selbstverteidigung durch die große Staatenmehrheit ist stattdessen im Gegenteil als weitere völkergewohnheitsrechtlich relevante Bekräftigung des auch vorbeugende Selbstverteidigung zulassenden Völkerrechts jener Zeit zu werten; die Beantwortung von [F1] und [F2] bleibt damit unverändert. VII. Das Abkommen von Nyon 1937 Ein weiteres Abkommen von zumindest regionaler Bedeutung mit Bezug zu vorbeugender Selbstverteidigung wurde 1937 in Nyon geschlossen95. Neun Staaten – hiervon einige ohne eigene Mittelmeerküste – verständigten sich darauf, dass im Mittelmeerraum sämtliche Handelsschiffe und zivile Luftfahrzeuge eines jeden Staates vor Angriffen durch Schiffe, Flugzeuge oder Unterseeboote kollektiv verteidigt werden sollten. Insbesondere in Bezug auf Unterseeboote wurde dabei ein weites Verständnis von Selbstverteidigung zum Ausdruck gebracht, indem die bloße Präsenz von Unterseebooten in der Nähe eines Handelsschiffes oder innerhalb von ausgewiesenen Zonen vertragsstaatlicher Schiffspatrouillen als Indikator für einen bevorstehenden Angriff ausreichen sollte96. Die Angriffsabsicht wurde durch die Kombination „Unterseeboot plus Nähe zu schützenswerten Objekten“ als indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang unterstellt, was den in jener Zeit völkervertraglichen Habitus einer durch Indikation rechtmäßig eingestuften vorbeugenden Selbstverteidigung weiter bestätigt.

92 Vgl. für tiefgreifende Angaben Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S.  221, sowie den ab­ gedruckten Konventionstext, ibid., S. 222 f. 93 Kunde, Präventivkrieg, S. 100, m. w. N. 94 Dies waren Afghanistan, Estland, Finnland, Jugoslawien, Lettland, Persien, Polen, Rumänien, die Tschechoslowakei und die Türkei, s. Kunde, Präventivkrieg, S. 100. 95 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (345 f.). 96 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (346).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

VIII. Weitere bi- und multilaterale Abkommen In den Folgejahren standen keine weiteren Vertragsentwürfe mit universellem Geltungsanspruch zur Diskussion. Kurz vor dem und dann im Zweiten Weltkrieg schlug der Trend wieder zu partiellen Militärbündnissen um, welche zum Teil auch Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung regelten. Diese sollen hier kurz erwähnt werden. Vor ihrer eigenen Beteiligung am Zweiten Weltkrieg schloss die Sowjetunion im Jahr 1939 Verträge mit der Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand mit Estland und Litauen97. Sie sahen jeweils eine Pflicht zu kollektiver Verteidigung vor, wenn ein Vertragsstaat angegriffen wurde. Darunter wurde auch die Drohung eines Angriffs verstanden, sodass die Beistandsverträge auch vorbeugende Selbstverteidigung – wenn auch inhaltlich nicht näher bestimmt – als rechtmäßig betrachteten. Dies ist insbesondere angesichts der zuvor restriktiven sowjetischen Sicht, welche ausnahmslos reaktive Selbstverteidigung zuließ, bemerkenswert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte sich damit die ohnehin geringe Rechtsüberzeugung aus den Konventionen über eine Aggressionsdefinition von 1933 erledigt haben. Die (noch) nicht am Zweiten Weltkrieg mitwirkenden amerikanischen Staaten riefen ebenfalls 1939 die Deklaration von Panama aus98. Sie sah vor, dass die Verletzung einer 300-Meilen-Zone vor der amerikanischen Küste durch einen feindlichen Akt oder auch nur den Versuch eines solchen als Angriff gewertet und zur Verteidigung berechtigen würde. Sowohl hinsichtlich der weiten Auslagerung der besagten Zone auf die Hohe See als auch durch das bloße Genügenlassen eines Verletzungsversuchs ist die Deklaration für vorbeugende Selbstverteidigung relevant. Ähnlich wie die in den Vorjahren häufig angeführte Verletzung entmilitarisierter Gebiete dient auch die Verletzung eines eigentlich frei zugänglichen Gebietes angrenzend an das Territorium potentiell betroffener Staaten als Indikator für einen bevorstehenden Angriff. Als weiterer tauglicher Indikator wird zudem ein Verletzungsversuch eingeordnet, sodass die Anforderungen an die Umstände des zu vorbeugender Selbstverteidigung berechtigenden Ereignisses durchaus groß­ zügig gehandhabt werden99. Insgesamt wird also durch die Deklaration von Panama die in jener Zeit gängige Auffassung von rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung nach Indikation bestärkt und sogar ausgeweitet. Ebenfalls Raum für vorbeugende Selbstverteidigung ließ die Akte von Havanna 1940, welche einen Notverteidigungsplan für angegriffene oder bedrohte Kolonien oder Besitztümer eines westlichen Kriegsbeteiligten begründete100. Jede amerikanische Republik nahm sich auch im Falle der bloßen Bedrohung das Recht, allein oder kollektiv das gefährdete fremde Gemeinwesen zu schützen. Auch hier

97

Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (348). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (349), m. w. N. 99 Ähnlich Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (349). 100 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (350). 98

C. Völkerrechtliche Verträge

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diente bereits eine Bedrohung als Indikator für eine vorbeugende Selbstverteidigungslage. Neben der Akte von Havanna stellte auch ein Verteidigungsbündnis zu Gunsten Grönlands zwischen den Vereinigten Staaten und Dänemark aus dem Jahr 1941 auf eine bloße Bedrohungslage ab und festigte damit die bestehende Auffassung zu vorbeugender Selbstverteidigung101. Zwar nicht auf die Akte von Havanna bezogen, inhaltlich aber ähnlich ausgelegt war ein Verteidigungsbündnis zwischen den USA und Island. Auch hier sollte reine Bedrohung als Auslöser von Selbstverteidigung ausreichen102. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges schließlich wurde mit der Akte von Chapultepec103 1945 der Grundstein für ein interamerikanisches Verteidigungssystem gelegt. Nach ihrem Teil 1 Ziff. 3 verpflichteten sich die amerikanischen Staaten zu gegenseitigem Beistand bei Aggressionshandlungen gegenüber einem Staat der westlichen Hemisphäre; dabei sollte eine Aggression gegenüber jedem Signatarstaat eine selbst erlittene Aggression indizieren. Folglich konstatierte die Akte von Chapultepec auch ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung unter den seinerzeit anerkannten Voraussetzungen104. IX. Zusammenfassung Die Auswertung der für vorbeugende Selbstverteidigung relevanten völkerrechtlichen Verträge ergibt damit folgendes Bild: 1. Keine universell gültige vertragsrechtliche Regelung

Eine universell gültige vertragsrechtliche Regelung existiert bereits nicht in Bezug auf das Selbstverteidigungsrecht als solches. Stattdessen wurden in einigen Regionalabkommen und bilateralen Verträgen Vereinbarungen über die Voraussetzungen von zulässiger Selbstverteidigung getroffen, welche fast durchgehend auch auf vorbeugend-verteidigende Aspekte abzielten. Besonders auffällig war dabei die annähernd kontinuierliche Bezugnahme auf gewisse Vorbereitungshandlungen, welche zu einem zukünftigen Angriff führen könnten und daher bereits mit Selbstverteidigung berechtigterweise hätten bekämpft werden dürfen. Solche Indikatoren für das Vorliegen einer rechtmäßigen vorbeugenden Selbstverteidigungslage waren namentlich die Verletzung von Gebieten, die in der Nähe 101

Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (349 f.). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (350). 103 Benannt ist das Abkommen nach dem Ort seiner Verabschiedung, nämlich Schloss Chapultepec in Mexiko-Stadt. 104 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (351). 102

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

des Territoriums des mutmaßlichen Verteidigers lagen, jedoch gerade nicht hierzu zählten – typischerweise entmilitarisierte Zonen in Grenzgebieten – sowie (noch) nicht zum Schadenserfolg verdichtete gewaltsame Vorbereitungs- und Versuchshandlungen. Insoweit erzielte man auf vertragsrechtlicher Ebene Einigkeit darüber, dass vorbeugende Selbstverteidigung zumindest unter den Voraussetzungen der heutigen Indikationstheorie inter partes ständig – und damit quasi-universell – als rechtmäßig einzustufen war. 2. Universelles Gewohnheitsrecht aus partiellem Vertragsrecht

Aus diesen zunächst nur partiell gültigen vertraglichen Regelungen lässt sich wiederum angesichts der dargestellten ständigen Staatenpraxis zwischen den beiden Weltkriegen und der dabei zu Tage getretenen Rechtsüberzeugungen auf entsprechendes Völkergewohnheitsrecht schließen105. Sämtliche dargestellten und die Indikationstheorie bejahenden Abkommen schufen ein zwar dezentralisiertes, aber in ihrer Gesamtheit überregionales Netz an Verteidigungsbündnissen mit jeweils zu Grunde liegender vergleichbarer Rechtsüberzeugung, ohne dass es widersprechende Stimmen hiergegen gegeben hätte. Wenn auch die universelle vertragliche Bindungswirkung dabei fehlte, so ist dennoch die von gleicher Überzeugung getragene staatliche Vertragspraxis eine taugliche Grundlage für die Feststellung, dass sich aus dem partiellen Vertragsrecht ein universelles Gewohnheitsrecht auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie ableiten lässt. Bestärkt wird dieses Resultat zudem dadurch, dass sich spätestens im Zweiten Weltkrieg diese Universalität auch offen gegenüber Nichtvertragsstaaten in den dazu abgegebenen Verteidigungserklärungen und -bündnissen auswirkte. [F1] ist damit aus vertragsrechtlicher Sicht bis 1945 zu bejahen, für [F2] galt die Indikations­ theorie als zulässiger Rahmen. 3. Gewohnheitsrecht neben dem Vertragsrecht

Darüber hinaus sind weitere Schlüsse aus dem ebenfalls häufig zu verzeichnenden Schweigen zu Fragen der vorbeugenden Selbstverteidigung zu ziehen. Vor allem überregionale Abkommen wie die SVB oder der Briand-Kellogg-Pakt trafen bewusst keine Regelung zum Selbstverteidigungsrecht, um es nicht unnötig zu beschneiden oder zu verändern. Man ging also von einem umfassenden gewohnheitsrechtlichen Recht auf Selbstverteidigung aus, welches nicht verändert werden sollte. Somit konnte das – freilich in seinem Umfang noch zu ermittelnde – Gewohnheitsrecht auf vorbeugende Selbstverteidigung jedenfalls nicht durch das Vertragsrecht bis 1945 eingeschränkt werden. Das soeben festgestellte Recht auf 105 Dies verkennt Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 286 ff., und gelangt auch daher zu einem konträren Ergebnis.

D. Staatenpraxis

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vorbeugende Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie ist also nicht als in sich abgeschlossen, sondern vielmehr als Teilmenge des Selbstverteidigungsrechts zu verstehen, welches über die Aspekte der Indikation hinaus noch unter weiteren Voraussetzungen zulässig sein kann. Diese Entwicklung des vertragsunabhängigen Gewohnheitsrechts gilt es nun in einem nächsten Schritt aus der staatlichen Völkerrechtspraxis zu extrahieren.

D. Staatenpraxis Ebenso wie die Analyse des beginnenden Vertragsrechts soll die Ermittlung der übrigen Staatenpraxis aus den gleichen Gründen mit dem sog. „englischen Zeitalter“ beginnen. Da sich diese Epoche allerdings durch den Wiener Kongress als Folge des napoleonischen Niedergangs entwickelte, wird darüber hinaus die sie einleitende Praxis als notwendige Vorphase zu den später geschlossenen Verträgen kurz angesprochen. Daran schließt sich die chronologische Ermittlung des Gewohnheitsrechts zu vorbeugender Selbstverteidigung unter Berücksichtigung der nun bewiesenen Erkenntnis an, dass es hierzu keine einschränkenden oder entgegenstehenden Verträge gegeben hat. Das Ergebnis der Praxisanalyse ist also bei gleichzeitig vorhandener Rechtsüberzeugung als in dieser Zeit unmittelbar geltendes Völkerrecht zu qualifizieren. I. Das Vorgehen des Vereinigten Königreichs gegen die dänische Flotte in Kopenhagen 1807 Der erste dem „englischen Zeitalter“ vorangehende Praxisfall vorbeugender Selbstverteidigung106 ereignete sich in einem nichtkriegerischen, aber gewaltsamen Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und Dänemark im Jahr 1807107. Während der napoleonischen Kriege befanden sich u. a. das Vereinigte Königreich und Frankreich miteinander im Kriegszustand, während Dänemark neutral war. Nachdem das Vereinigte Königreich die französischen Streitkräfte in der Schlacht von Trafalgar am 21. Oktober 1805 besiegen und sich damit zunächst in Sicherheit wägen konnte, spitzte sich die Lage nach den von den napoleonischen Truppen gegen andere europäische Mächte gewonnenen Schlachten von Austerlitz (gegen Österreich am 2.  Dezember 1805), Jena und Auerstedt (gegen Preußen am 14. Oktober 1806) sowie Friedland (gegen Russland am 14. Juni 1807) erneut zu. 106 So auch ausdrücklich z. B. Alexandrov, Self-Defense, S. 20; Berber, Allg. Friedensrecht, S. 197; McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 211. 107 Vgl. hierzu instruktiv die umfassende klassische Darstellung von Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff.; s. ferner auch Brownlie, Use of Force, S. 310; Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 760.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Nach dem Friedensvertrag von Tilsit am 7. Juli 1807 teilten Frankreich und das zwar besiegte, aber napoleonfreundliche Russland den europäischen Kontinent in gemeinsame Interessenzonen auf. Das Vereinigte Königreich wurde dabei offen unter Androhung eines französisch-russischen Angriffs aufgefordert, mit Frankreich und Russland nach vorgegebenen Bedingungen Frieden zu schließen108. In einer geheimen Klausel des Vertrags von Tilsit wurde Frankreich zudem das Recht zugestanden, die Flotte des neutralen Dänemarks an sich zu reißen109. Mit deren Hilfe beabsichtigte Napoleon die britischen Inseln anzugreifen, falls sich das Vereinigte Königreich nicht zum Friedensschluss entscheiden sollte. Das Vereinigte Königreich erlangte jedoch Kenntnis von dieser zunächst geheim gehaltenen Bedrohung durch eine instrumentalisierte dänische Flotte. Deshalb gingen die Briten selbst – nach erfolglos verlaufenden Verhandlungsversuchen mit Dänemark110 – am 16. August 1807 militärisch gegen Kopenhagen und vor allem die dort stationierte dänische Flotte vor, bis die dänische Hauptstadt am 7. September kapitulierte. Am 21. Oktober zog das Vereinigte Königreich mit 76 Schiffen der dänischen Marine ab und machte Dänemark so als Instrument für eine spätere Operation gegen britisches Territorium unbrauchbar111. Obwohl das Vorgehen des Vereinigten Königreichs damals leicht durch eine einfache Kriegserklärung hätte gerechtfertigt werden können112, wurde es nach zeitgenössischem Verständnis als Selbstverteidigungshandlung eingeordnet113. Zwar hätte das neutrale Dänemark das Vereinigte Königreich selbst nicht angegriffen, jedoch wurde es von Frankreich zuvor genötigt, entweder für Napoleon oder für die britische Krone in den Krieg zu ziehen und war somit faktisch seiner Un­ abhängigkeit entledigt114. Ferner drohte Frankreich offen mit einem Angriff auf das Vereinigte Königreich – unter vergeblicher Geheimhaltung der Zuhilfenahme der dänischen Flotte –, wenn die Briten dem Vertrag von Tilsit nicht zustimmen würden. Ein Versuch friedlicher Konfliktbeilegung durch das Vereinigte Königreich selbst scheiterte. Der Einsatz dänischer Kriegsschiffe gegen britisches Territorium war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorgezeichnet, sodass das britische Vorgehen gegen Kopenhagen auch nach Auffassung anderer europäischer Staaten unvermeidbar war115. Der Einsatz des Vereinigten Königreichs gegen die dänische Flotte in Kopen­ hagen war somit ein früher Anwendungsfall vorbeugender Selbstverteidigung. 108

Zur offenen Drohung explizit Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (280). Brownlie, Use of Force, S. 310. 110 Zum Verhandlungsablauf s. Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (299 ff.). 111 Zum zusammengefassten geschichtlichen Ablauf insgesamt s. auch Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (280). 112 Ein Kriegszustand wurde nur von Dänemark und erst nach Beginn der britischen Maßnahmen festgestellt, Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (305). 113 Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (309), m. w. N. 114 Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (299). 115 Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (308). 109

D. Staatenpraxis

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Als solcher war er anerkannt, jedoch wurden im Zuge des Konflikts keine allgemeinen Kriterien für vorbeugende Selbstverteidigung herausgearbeitet. Einigkeit bestand nur in Bezug auf die – verhältnismäßige, da mit geringstmöglichem Schaden durchgeführte – Maßnahme angesichts der konkreten Faktenlage: Dass Frankreich durch Dänemark die britischen Inseln angegriffen hätte, galt unumstritten als sicher, jedoch stand ein solcher Angriff mangels seinerzeitiger Vereinnahmung der dänischen Flotte durch napoleonische Truppen noch nicht unmittelbar bevor. Wäre es jedoch einmal zur französisch-dänischen (Zwangs-)Allianz gekommen, hätte eine solche angesichts der strategisch-geografischen Überlegenheit und des bereits durch die vorherigen Kriege unter Beweis gestellten unbedingten Machtstrebens auf Seiten Napoleons zu einer Existenzbedrohung des Vereinigten Königreichs geführt, welche nur mit weitaus stärkeren militärischen Mitteln und wesentlich höheren Verlusten auf beiden Seiten hätte abgewendet werden können. Die durchaus schonende, zeitlich begrenzte und im Schaden gering gehaltene Maßnahme des Vereinigten Königreichs nur gegen die Stadt Kopenhagen galt daher nach allgemeiner Auffassung unter Aspekten der Selbstverteidigung als gerechtfertigt116. [F1] ist demnach hier zu bejahen. Nach moderner Völkerrechtslehre wäre [F2] angesichts des rein zeitlich noch nicht unmittelbar bevorstehenden, aber sicheren und vernichtenden Angriffs durch Napoleon als zulässiger Anwendungsfall der relativen Imminenztheorie zu beantworten. II. Zwei Handlungen der USA gegen spanisches Territorium 1817 Im Jahr 1817 kam es zu zwei gewaltsamen Handlungen der Vereinigten Staaten gegen Amelia Island und Westflorida, jeweils  – jedenfalls noch de iure117  – spanisches Territorium118. Zunächst vertrieben die Vereinigten Staaten sich auf der Insel Amelia Island niedergelassene Bukaniere, welche von dort aus die USA bedrohten119. Die sich vor der Atlantikküste Floridas befindende Insel gehörte damals noch der spanischen Krone, welche gegen das gewaltsame Vorgehen gegen ihr Territorium protestierte. Die USA beriefen sich auf Selbstverteidigung, weil Spanien ihrer Auffassung nach unfähig war, für die Abwendung der von den Privatleuten ausgehenden Gefahr auf ihrem Territorium zu sorgen. Daher hätten sie einem Angriff der Bukaniere auf Amelia Island selbst zuvorkommen müssen120. 116

Vgl. die Nachweise bei Kulsrud, AJIL 32 (1938), S. 280 ff. (281 f., 309 ff.). Der Status Westfloridas war im Jahr 1817 bereits umstritten, jedoch trat Spanien die Kolonie erst 1819 mit dem Adams-Onís-Vertrag völkerrechtlich wirksam an die USA ab. 118 Stevens, Border Diplomacy, S. 25 f. 119 Vgl. ausführlicher Moore, Digest of Int’l. Law, S. 406 ff. 120 Alexandrov, Self-Defense, S. 21; Berber, Allg. Friedensrecht, S. 197; Occelli, SDILJ 4 (2003), S. 467 ff. (481); Stevens, Border Diplomacy, S. 26. 117

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Im selben Jahr kam es zu einem weiteren gewaltsamen Zwischenfall in der spanisch zugeordneten Kolonie Westflorida121. Diesmal gingen US-amerikanische Streitkräfte gegen von dort aus gegen die USA operierende Stämme indigener Einwohner vor und nahmen dazu die Städte St. Marks und Pensacola in Besitz. Die Begründung dafür gleicht jener im Vorfall von Amelia Island, nämlich dass Spanien selbst die Bedrohung nicht habe abwenden können122 und die USA deshalb im Hinblick einer „imminent danger“ dann „by the necessities of self-defence“ gehandelt hätten123. Beide Handlungen sollten nach Sichtweise der USA aus identischen Gründen mit vorbeugender Selbstverteidigung als legal betrachtet werden. Die jeweils von den USA angeführten Argumente sind dabei am ehesten – insbesondere angesichts des Rekurses auf eine bloße „imminent danger“ – der Latenztheorie zuzuordnen. Jedoch sind in beiden Fällen keine weiteren völkerrechtlich relevanten Ausführungen und damit auch keine messbare Rechtsüberzeugung zu verzeichnen. Insofern verhält sich das Vorgehen der Vereinigten Staaten gegen spanisches Territorium aus dem Jahr 1817 trotz praktischer Einschlägigkeit inhaltlich völkerrechtlich indifferent. Zu beachten bleibt aber, dass eine Rechtfertigung ausdrücklich im Rahmen des Völkerrechts – namentlich des Selbstverteidigungsrechts – erfolgen sollte und damit der vom Vereinigten Königreich zehn Jahre zuvor eingeleitete Trend zur Entwicklung eines völkergewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts unterfüttert wurde. III. Die Monroe-Doktrin 1823 Kein konkretes Ereignis, wohl aber die weltpolitische Gemengenlage124 nach dem Wiener Kongress veranlasste den seinerzeitigen US-amerikanischen Präsidenten James Monroe dazu, die Grundzüge der langfristig angelegten US-amerikanischen Außenpolitik festzulegen. Die als Monroe-Doktrin125 bekannt gewordenen Vorgaben zielten im Wesentlichen auf die Etablierung unveränderlicher Unabhängigkeit aller amerikanischer Staaten von Europa ab; vor allem dem Kolonialismus als solchem wurde der Kampf angesagt und ein gewaltsames Vorgehen der USA gegen jeden Versuch der Rückgängigmachung des erklärten Zieles angekündigt126. Die Monroe-Doktrin verstand sich als Verfechterin von Unabhängigkeit 121

Dazu wiederum ausführlicher Moore, Digest of Int’l. Law, S. 402 ff. Occelli, SDILJ 4 (2003), S. 467 ff. (481). 123 Stevens, Border Diplomacy, S. 26. 124 Genauer hierzu Root, AJIL 8 (1914), S. 427 ff. (428). 125 Nähere Erläuterungen zur und ein auszugsweise abgedruckter Inhalt der Doktrin finden sich bei Root, AJIL 8 (1914), S. 427 ff.; s. i. Ü. zur Sichtweise aus Zeiten des Völkerbundes Kolbeck, Völkerbund und Monroedoktrin, passim, und aus heutiger Sicht Grant, Doctrines, Rn. 3 ff., in: MPEPIL, Online-Ausgabe, sowie Meiertöns, Doctrines, S. 25 ff. 126 Krit. hierzu Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 139 ff. 122

D. Staatenpraxis

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und Demokratie im Gegensatz zum europäischen Trend der Repression revolutionärer Entwicklungen zu Gunsten monarchischer Herrschaftsverbände. Auch wenn der Doktrin eine unmittelbare völkerrechtliche Relevanz als bloße politische Leitlinie weitgehend versagt wird127, kommt durch sie doch ein beachtliches Maß an Rechtsüberzeugung der Vereinigten Staaten zum damaligen Völkerrecht zum Ausdruck. Wenn nämlich die USA die gewaltsame Einmischung in jeden beliebigen Staat des gesamtamerikanischen Kontinents als eigene unmittelbare Bedrohung betrachten und sich daher zu gewaltsamem Einschreiten hiergegen berechtigt sehen, korrespondiert diese Ansicht inhaltlich auch mit einigen Aspekten vorbeugender Selbstverteidigung. Der Angriff auf einen amerikanischen Drittstaat konstruiert nach der Monroe-Doktrin eben nicht nur einerseits einen hieraus unmittelbar zu folgernden Angriff auf alle amerikanischen Staaten und führt so zum Fall der einseitig-verpflichtend erklärten kollektiven Selbstverteidigung128. Andererseits führt ein solcher Angriff nämlich auch zu der Vermutung eines hierauf folgenden und deshalb indizierten Angriffs gegen das Gebiet der USA selbst129. Die im Kontext des Panamerikanismus hervorgebrachte Doktrin sah angesichts dessen durchaus auch einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang durch einen Angriff gegen jeden Staat des Kontinents gegeben, auch wenn sich der betroffene Staat nicht in Nachbarschaft zu den USA befand. Während die erst sechs Jahre zuvor geäußerten Überzeugungen der USA im Sinne der heutigen Latenztheorie noch keinen Anklang fanden, bildeten die prägnanteren Erwägungen der Monroe-Doktrin nun die ersten – zumindest auf dem amerikanischen Kontinent – zustimmungsfähigen Rechtsansichten zu vorbeugender Selbstverteidigung im Völkerrecht. Monroe bringt zur Beantwortung von [F1] und [F2] mit der in den Vereinigten Staaten seinerzeit widerspruchslos anerkannten Doktrin also die Rechtsüberzeugung seines Staates zum Ausdruck, dass vorbeugende Selbstverteidigung jedenfalls nach Maßgabe der heutigen Indikationstheorie rechtmäßig ist.

127 Grant, Doctrines, Rn.  7, in: MPEPIL, Online-Ausgabe; Kreutzer, Preemptive SelfDefense, S.  140; Kolbeck, Völkerbund und Monroedoktrin, S.  14 ff.; Root, AJIL 8 (1914), S. 427 ff. (431). 128 Grant, Doctrines, Rn. 6, in: MPEPIL, Online-Ausgabe. 129 Bradford, NDLR 79 (2004), S.  1365 ff. (1381); ebenso und klarstellend Root, AJIL 8 (1914), S. 427 ff. (432), der hierfür das inhaltlich korrespondierende Konzept der self-protection anführt.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

IV. Der Caroline-Vorfall 1837 Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Selbstverteidigungsrechts lieferten sodann der berühmte Caroline-Vorfall130 aus dem Jahr 1837 und die anschließende diplomatische Korrespondenz zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich131. Auf Grund seiner herausragenden Stellung im Völkerrecht verdient der Konfliktverlauf seit jeher besondere Beachtung132. 1. Die historischen Geschehnisse

Im Jahr 1837 rebellierten zahlreiche Bewohner der britischen Kolonie Ober­ kanada133 unter der Führung von William Lyon Mackenzie gegen die Kolonial­ herren mit dem Ziel der vollständigen Unabhängigkeit134. Dieser Teil der „Kana­ dischen Rebellion“ fand viele Sympathisanten unter der Bevölkerung der als Nation noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika, insbesondere in den Grenzgebieten zu Oberkanada; die US-amerikanische Regierung bemühte sich jedoch um Zurückhaltung innerhalb des Konflikts. Trotz der erklärten Neutralität konnten sich einige Rebellen nach einem gescheiterten Marsch auf Toronto gemeinsam mit Mackenzie in den US-Bundesstaat New York zurückziehen und ihre Aktivitäten fortsetzen135. Besonders in Buffalo profitierten die Aufständischen von tatkräftiger Unterstützung durch US-amerikanische Staatsbürger, insbesondere erhielten sie von ihnen regelmäßige Waffen- und Lebensmittellieferungen136. Im Dezember 1837 operierte die weit überwiegend aus US-amerikanischen Staatsbürgern zusammengestellte und inzwischen ca. 1.000 Mann starke Widerstandsgruppe gezielt und fortdauernd gegen oberkanadisches Territorium. Am 13. Dezember besetzte sie die der britischen Krone gehörende Insel Navy Island im Grenzfluss 130 Es wird in dieser Arbeit bewusst von einem „Vorfall“ gesprochen, da der Sachverhalt nie als „Fall“ i. e. S. vor einem rechtlich implementierten Spruchkörper verhandelt wurde, was vor allem Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (125), als einer von wenigen Autoren ausdrücklich feststellt. Der Austausch der jeweiligen Rechtsansichten erfolgte  – wie die letztendliche Streitbeilegung  – ausschließlich auf diplomatischem Wege. Einige Literaturdarstellungen mit der Bezeichnung als „Fall“ sind insoweit untechnisch zu verstehen, vgl. dazu auch Hartmanns treffende Umschreibung als „Faktensituation“, in: Hartmann, Staatl. Beteiligung an terrorist. Gewalt, S. 201. Von dem Caroline-Vorfall i. e. S. zu trennen ist das Strafverfahren The People v. McLeod (1841) vor dem Supreme Court of New York, s. sogleich. Zum Gesamtgeschehen s. i. Ü. umfassend Stevens, Border Diplomacy, passim. 131 Die folgenden Ausführungen zum Caroline-Vorfall beruhen in wesentlichen Teilen auf Kreß/Schiffbauer, JA 2009, S. 611 ff. 132 Schon seit Moore, Digest of Int’l. Law, S. 409 ff. 133 Oberkanada – oder „Upper Canada“ – entsprach damals dem südlichen Teil der heutigen kanadischen Provinz Ontario. 134 Dies war die radikalste Strömung unter der uneinheitlich verlaufenden Rebellion, vgl. Sautter, Geschichte Kanadas, S. 102. 135 Sautter, Geschichte Kanadas, S. 103; Wittke, A History of Canada, S. 109. 136 Für eine historische Gesamtdarstellung s. nur Wittke, A History of Canada, S. 108 ff.

D. Staatenpraxis

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Niagara River, ca. zwei Meilen von den Niagara-Fällen entfernt. Dort bildete Macken­zie eine provisorische Regierung für das noch zu „befreiende“ Ober­ kanada. Die Okkupation von Navy Island konnte einstweilen gewaltsam aufrechterhalten werden. Die Versorgung der Besatzer erfolgte über den Niagara River durch ein Dampfschiff namens Caroline. Die durch US-Amerikaner betriebene Caroline agierte zum Teil von Buffalo aus, zumeist aber von ihrem Heimathafen, nämlich der Befestigung Fort Schlosser im Bundesstaat New York. Am Morgen des 29. Dezember 1837 legte die Caroline von Buffalo ab und fuhr über den Niagara River in Richtung Navy Island. Auf dem Weg dorthin überstand sie britische Artilleriegeschosse schadlos. Am Nachmittag legte sie in Fort Schlosser an und pendelte bis zum Einbruch der Dunkelheit zweimal nach Navy Island. Für die anbrechende Nacht sollte sie in Fort Schlosser liegen; neben der Besatzung von zehn Männern nutzten weitere 23 US-amerikanische Staatsbürger die Caroline als Nachtquartier137. Gegen Mitternacht jedoch stürmten 50 bis 80138 bewaffnete Mitglieder einer britisch-kanadischen Einheit gewaltsam das Dampfschiff. Sämtliche Insassen flüchteten panikartig an Land. Der Übergriff führte zu bis zu zwei US-amerikanischen Todesopfern, nämlich dem Aufständischen Amos Durfee sowie einem nicht namentlich überlieferten Kabinenjungen139. Als die Caroline vollständig verlassen war, fixierten die Truppenangehörigen das Steuerruder, setzten das Schiff in Brand und ließen es auf dem Niagara River treiben, bis die Caroline die Niagara-Fälle hinabstürzte und in den Fluten versank140. Nach diesem Vorfall folgten emotionsgeladene anti-britische Demonstrationen in den USA141 sowie erhebliche diplomatische Spannungen zwischen den beiden beteiligten Staaten. Die USA sahen sich als Opfer eines britischen Angriffs auf ihr Territorium, während sich das Vereinigte Königreich auf sein Verteidigungsrecht berief. Der Vorfall wurde in dem recht langen Zeitraum von 1838 bis 1842 in schriftlicher Korrespondenz beider Staaten aufgearbeitet und schließlich diplomatisch beigelegt. Neben diesem zwischenstaatlichen Konflikt kam es zu einem Strafprozess vor einem ordentlichen Gericht142. Der britische Staatsbürger Alexander McLeod, ein stellvertretender Sheriff in Oberkanada, prahlte während eines Aufenthaltes im US-Bundesstaat New York damit, am Caroline-Vorfall tatkräftig beteiligt gewesen zu sein; am 12.11.1840 wurde er beim Wort und in Untersuchungshaft genommen. 137

Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (84). Die genauen Zahlen variieren, vgl. hierzu nur einerseits Rogoff/Collins Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (495), und andererseits Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (84). 139 Jennings, AJIL 32 (1938), S.  82 ff. (84); Rogoff/Collins  Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (495). Einige Überlieferungen erwähnen den Kabinenjungen nicht, unstreitig war jedenfalls der Tod Durfees, vgl. Wittke, A History of Canada, S. 110 und 153. 140 Zum Geschehen des 29. Dezember 1837 vgl. auch die Darstellung von Wittke, A History of Canada, S. 110. 141 Anschaulich hierzu Jones, D. Webster – The Diplomatist, S. 203 ff. (204). 142 Vgl. dazu ausführlicher Stevens, Border Diplomacy, S. 71 ff., 136 ff. 138

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Die Anklage vor dem Supreme Court of New York lautete schließlich auf Mord an Amos Durfee sowie Brandstiftung. Der Prozess um McLeod trieb nicht nur die bereits dargestellten und zu diesem Zeitpunkt schleppenden diplomatischen Verhandlungen an, sondern führte auch zur Einmischung der britischen Regierung in das Strafverfahren143. Verlangt wurde von den USA die Freilassung McLeods, weil dieser als Beteiligter einer staatlichen Operation des Vereinigten Königreichs nicht persönlich für sein Verhalten haftbar gemacht werden könne. Die grundsätzliche Bereitschaft der US-amerikanischen Regierung, der Forderung Folge zu leisten, war jedoch fruchtlos, da sie auf den in der Hoheit des Bundesstaates New York liegenden Prozess nach geltendem Verfassungsrecht keinen Einfluss ausüben durfte144. Erst der Regierungswechsel in den USA 1841 brachte Bewegung in den Fall, da man nun die Ansicht des Vereinigten Königreichs teilte und den Prozess politisch zu beeinflussen versuchte. McLeod kam schließlich frei, jedoch nicht wegen des vom Vereinigten Königreich geltend gemachten Prozesshindernisses, sondern erst im Oktober 1841 nach der gerichtlichen Hauptverhandlung auf Grund eines Freispruches in der Sache selbst145. Eine spätere Schadensersatzforderung McLeods gegen die Vereinigten Staaten wurde schließlich rechtskräftig mit der Begründung abgelehnt, dass sich die Streitbeilegung zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA aus dem Jahr 1842 auf sämtliche Umstände ausgewirkt habe und damit alle an den Streit anknüpfende Forderungen als erledigt zu betrachten seien146. 2. Die diplomatische Korrespondenz

Die diplomatische Korrespondenz zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich orientierte sich eng an den unstreitigen Fakten mit dem Ziel, den Streit möglichst unbeschadet und unter Wahrung des eigenen Ansehens beizulegen. Besonders deutlich zeigt dies die Brisanz des angesprochenen Strafverfahrens The People v. McLeod, von dessen Ausgang ein möglicher Krieg zwischen beiden Mächten abhängen konnte147. Das Resultat der zwischenstaatlichen Verhand­ 143

Dazu näher Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 120 ff. Um solche Unannehmlichkeiten für die Zukunft zu verhindern und einen Einfluss der USRegierung auf solche Strafverfahren zu ermöglichen, erließ der US-amerikanische Kongress am 29.08.1842 ein Gesetz, welches die Zuständigkeit für Strafsachen gegen im Auftrag eines anderen Staates handelnde Ausländer automatisch auf den Bund überträgt, Stevens, Border Diplomacy, S. 162 f.; vgl. auch den Nachweis des Gesetzestextes bei Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (96, dort Fn. 51). 145 Dazu insg. Jennings, AJIL 32 (1938), S.  82 ff. (94 f.); Jones, D. Webster  – The Diplo­ matist, S. 203 ff. (205 f.). 146 So der von Jennings, AJIL 32 (1938), S.  82 ff. a. E. zitierte Schlichterspruch; s. i. Ü. ­Stevens, Border Diplomacy, S. 170. 147 „McLeod’s execution would produce war“, zit. nach Jones, D. Webster – The Diplomatist, S. 203 ff. (205). 144

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lungen war also offenkundig entscheidend, nicht so sehr dagegen die genaue rechtliche Bewertung. Für das Vereinigte Königreich agierte zunächst der in Washington abgesandte Botschafter148 Henry S. Fox, für die USA Außenminister John Forsyth. Den entscheidenden Briefwechsel149 führten aber 1841 und 1842 der britische Sondergesandte Lord Ashburton150 und der neue amerikanische Außenminister Daniel Webster. Beide Parteien waren sich einig, dass ein Vorgehen wie im CarolineVorfall völkerrechtlich zulässig ist, wenn der Gewalt anwendende Staat folgende Umstände beweisen kann: „(…) necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation. (…)“151 Diese als Webster-Formel152 berühmt gewordenen Voraussetzungen wurden von britischer Seite akzeptiert und zu Websters Überraschung im Caroline-Vorfall als erfüllt angesehen. Zugleich brachte Lord Ashburton sein tiefes Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck und entschuldigte sich im Namen Ihrer Majestät förmlich für die begangene Verletzung amerikanischen Territoriums. Webster akzeptierte die Entschuldigung in einem Brief vom 06.08.1842 ohne weitere Stellungnahme dazu, ob seine Formel im Caroline-Vorfall tatsächlich erfüllt wurde. Der völkerrechtliche Streit war damit diplomatisch beigelegt. Die Bestandsaufnahme des hierbei zum Ausdruck gekommenen Völkerrechts erfordert einen eingehenderen Blick auf die Korrespondenz. Sie gestaltete sich im Einzelnen wie folgt: a) 05.01.1838 In der Beschwerdenote von Forsyth an Fox vom 05.01.1838 fordern die USA als erste Reaktion auf den Caroline-Vorfall Wiedergutmachung („redress“)153. 148 Die in den englischsprachigen Originaltexten verwendete Bezeichnung lautet durch­gängig „Minister“, eine wörtliche Übernahme ist nach deutschem Verständnis aber eher irreführend. 149 Hiervon streng zu trennen ist der häufig in diesem Zusammenhang erwähnte, aber in der Sache unabhängige Webster-Ashburton-Treaty, ein völkerrechtlicher Vertrag zur Beilegung von Streitigkeiten zur Grenzziehung zwischen den USA und den britisch-kanadischen Gebieten, welcher die Staatsgrenze auf den noch heute gültigen Stand festsetzte, vgl. Jones, D. Webster – The Diplomatist, S. 203 ff. (211 ff.), und Wittke, A History of Canada, S. 154. Die Korrespondenz zum Caroline-Vorfall war kein völkerrechtlicher Vertrag. 150 Häufig unerwähnt bleibt, dass Lord Ashburton (auch: Baron Ashburton) ein britischer Adelstitel ist; die in der hier maßgeblichen Korrespondenz hinter diesem Titel stehende Person hieß Alexander Baring, s. Jones, D. Webster – The Diplomatist, S. 203 ff. (206); Schneider, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S.  825; Stevens, Border Diplomacy, S. 159; Wittke, A History of Canada, S. 153. 151 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 110. 152 Von Webster in einem Brief aufgestellt am 24.04.1841 und in einer Note bekräftigt am 27.07.1842, s. sogleich. 153 Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (85).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

b) 06.02.1838 Im Antwortbrief von Fox an Forsyth vom 06.02.1838 wird dies mit folgender Begründung abgelehnt: „(…) The piratical character of the steam boat „Caroline“ and the necessity of self-defence and self-preservation under which Her Majesty’s subjects acted in destroying the vessel, would seem to be sufficiently established. (…) Through such violence, Her Majesty’s subjects in Upper Canada had already severely suffered; and they were threatened with still further injury and outrage. (…)“154

Die Verteidigung gründete also auf zwei Aspekten: Piraterie sowie necessity of self-defence and self-preservation. Ersterer bezieht sich als Vorwurf der Piraterie auf das Vorgehen gegen Private. Das gewaltsame Handeln gegen Piraten (also als besonders kriminell qualifizierte Privatleute155) galt als generell zulässig und wäre daher eine dankbare Rechtfertigung, wenn in diesem Fall die Besatzung der Caroline von den USA als Piraten anerkannt worden wäre156. Der zweite Aspekt – begrifflich nicht klar definiert – soll jedenfalls den Verteidigungscharakter der Handlung zum Ausdruck bringen. Die anschließende Erklärung dazu zeigt, dass ein solcher zumindest auch vorbeugend als rechtmäßig betrachtet wird. c) 21.02.1838 und 25.03.1839 Zu dem Vorfall und der bis dato vollzogenen Korrespondenz äußern sich zwei Berichte der sog. Law Officers of the Crown157 vom 21.02.1838 und 25.03.1839: „(…) capturing the steam boat „Caroline“ was, under the circumstances, perfectly justi­fiable by the Law of Nations.“ (21.02.1838)158 „(…) the grounds on which we consider the conduct of the British Authorities to be ­justified is that it was absolutely necessary as a measure of precaution for the future and not as a measure of retaliation for the past. (…)“ (25.03.1839)159

Es herrschte somit seitens des Vereinigten Königreichs die Rechtsüberzeugung, dass vorbeugende Gewaltanwendung – wie im Caroline-Vorfall geschehen – mit dem Völkerrecht im Einklang steht. Auf den zweiten Bericht hin reagierte der amerikanische Botschafter in London umgehend, indem er die Forderung nach Wiedergutmachung wiederholte. Das Vereinigte Königreich sah sich daraufhin jedoch nicht veranlasst, von seinem 154

Zit. nach Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (85); Hervorh. v. Verf. Vgl. dazu für das heutige Verständnis die Definition der Seeräuberei in Art. 101 SRÜ. 156 Vgl. zum Umgang mit dem Problem der Piraterie zu jener Zeit Grewe, Epochs, S. 552 f. 157 Dies sind die ranghöchsten Rechtsberater der britischen Regierung. 158 Zit. nach Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (87). 159 Zit. nach Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (87); Hervorh. im Original.

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Standpunkt abzuweichen160. Im Anschluss ruhte die Angelegenheit bis zur Inhaftierung McLeods und dem anschließenden britischen Protest hiergegen. d) 24.04.1841 So folgte erst zwei Jahre später der Brief des neuen US-Außenministers ­Webster an Fox, nämlich am 24.04.1841. Zunächst äußerte sich Webster in Bezug auf die Besatzung der Caroline: „(…) Their offense, whatever it was, had no analogy to cases of piracy. Supposing all that is alleged against them to be true, they were taking a part in what they regarded as a civil war, and they were taking part on the side of the rebels. Surely England herself has not regarded persons thus engaged as deserving the appellation Her Majesty’s Government bestows on these citizens of The United States. (…)161 (…) they who join those concerned in it (…) cannot be denominated pirates, without departing from all ordinary use of language in the definition of offenses. (…)162 The United States have thought, also, that the salutary doctrine of non-intervention by one nation with the affairs of others is liable to be essentially impaired if, while Government refrains from interference, interference is still allowed to its subjects, individually or in masses. (…) it stands on the admission of very high British authority, that during the recent Canadian troubles, although bodies of adventurers appeared on the border, making it necessary for the people of Canada to keep themselves in a state prepared for self-defense, yet that these adventurers were acting by no means in accordance with the feeling (…) of the government of the United States. (…)“163

Nach dieser scharfen Zurückweisung des Piraterievorwurfs wurde ein solcher von keiner Seite mehr erwähnt; dass Piraterie im Caroline-Vorfall nicht einschlägig war, wurde somit konkludent und zutreffend anerkannt. Webster verdeutlicht aber indirekt, dass das Kapern der Caroline unabhängig davon ein Vorgehen gegen Private war164 und erkennt in diesem Zusammenhang das völkerrechtliche Prinzip des zwischenstaatlichen Interventionsverbots an. Im Anschluss finden sich erstmalig Websters berühmte Ausführungen zur rechtlichen Bewertung der necessity of self-defence: „(…) it will be for Her Majesty’s Government to show, upon what state of facts, and what rules of national law, the destruction of the Caroline is to be defended. It will be for that

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Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (88). Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 106. 162 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 107. 163 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 108, Hervorh. v. Verf. 164 s. hierzu im Einzelnen Kreß/Schiffbauer, JA 2009, S. 611 ff. (614). Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit dem Caroline-Vorfall häufig vernachlässigt, teilweise sogar als nicht einschlägig betrachtet, vgl. nur Guiora, JCSL 13 (2008), S. 3 ff. (11). 161

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Government to show a necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment for deliberation. It will be for it to show, also, that the local authorities of Canada (…) did nothing unreasonable or excessive; since the act, justified by the necessity of self-defense, must be limited by that necessity, and kept clearly within it. (…)“165

Es folgt eine ausführliche Aufzählung der zur Bewertung der Erforderlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Handlung mit einzubeziehenden Umstände. ­Webster folgert sodann: „A necessity for all this, the Government of The United States cannot believe to have existed.“166

Webster beginnt mit einer Bemerkung zur Darlegungs- und Beweislast, denn der sich auf Verteidigung berufende Staat muss darlegen, dass die rechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind. Dies entspricht der heutigen allgemeinen Auffassung167. Erwähnenswert ist außerdem, dass Webster dem Verteidiger auch einen Rekurs auf das eigene nationale Recht zubilligt, obwohl man sich auf völkerrechtlicher Ebene bewegt. Dies legt den Schluss nahe, dass Völkerrecht und nationales Recht nicht unbedingt als voneinander getrennte Rechtsordnungen betrachtet werden. Wegweisend wird es dann mit der Beschreibung der Voraussetzungen der n­ ecessity of self-defence. Der Begriff entspricht teilweise den bis dahin unbeachteten Worten des britischen Botschafters Fox vom 06.02.1838, jedoch ohne den Annex der self-preservation. Das Selbsterhaltungsrecht war mangels einer Existenzbedrohung der Kolonie Oberkanada – geschweige denn des Vereinigten Königreichs – evident nicht betroffen, weshalb wohl auch Webster es nicht aufgriff168. Es bleibt damit necessity of self-defence übrig. Nicht aufzuklären ist, ob sich ­Webster (oder auch zuvor Fox) auf Selbstverteidigung („self-defence“), Notstand („necessity“) oder aber eine Kombination aus beidem bezog169. Abgesehen von der unklaren Begriffsbestimmung kann aber festgehalten werden, dass Webster eine eindeutige inhaltliche Aussage treffen wollte, welche mit der hier vorgenommenen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung im Einklang steht. Dass sich die Parteien in ihrer gesamten diplomatischen Korrespondenz zum Völkerrecht bekennen, ist nicht nur angesichts der unwidersprochenen Klarstellung der Law Officers of the Crown offenkundig. Lediglich eine genaue institutionell-völkerrechtliche Zuordnung ihrer Rechtsauffassungen dürfte für beide Staaten zweitrangig gewesen sein, weil es nur um eine Einzelfalllösung des Caroline-Vorfalls ging. Mit anderen Worten: Wie die Webster-Formel völkerrechtlich exakt zu qualifizieren ist, bleibt offen; ihr völkerrechtlich relevanter Inhalt dagegen nicht.

165

Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 110; Hervorh. v. Verf. Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 110. 167 s. o. 3. Kap. B. III. 168 Rogoff/Collins Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (498). 169 s. bereits o. 2. Kap. A. XIII.

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Nachdem im Rahmen einer zulässigen Selbstverteidigungslage Gewaltanwendung gegen Private auf fremdem Territorium prinzipiell für möglich und legal gehalten wird, wäre nun auf ihren Zeitpunkt einzugehen. Einen solchen nennt Webster allerdings nicht, sondern geht unmittelbar  – und ohne dabei genau zu differenzieren  – auf Erforderlichkeitsmaßstäbe sowie Verhältnismäßigkeitserwägungen der Handlung ein: augenblicklich, überwältigend, ohne Wahlmöglichkeit anderer Mittel und ohne Bedenkzeit. Hierin sind zwar als Abwägungskriterien jeweils zeitliche Anforderungen an eine Selbstverteidigungslage enthalten, doch lassen sie gerade die Vorfrage des Zeitpunktes als selbständiges Kriterium unberücksichtigt170. Dies ist allerdings auf die Tatsache zurückzuführen, dass zu Zeiten Websters schlicht noch keine Unterscheidung von Tatbestandsmerkmalen nach heutigem – zumal der kontinentaleuropäischen Rechtstradition zuzuordnendem – Verständnis bekannt war. Was damals pauschal unter den Stichworten „Notwendigkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ geprüft wurde, würde heute präziser und vorgelagert im Rahmen des Anknüpfungspunktes einer Selbstverteidigungslage angesprochen; diese formalen Verschiebungen ändern jedoch nichts am grundsätzlich zeitpunktorientierten Inhalt der Webster-Formel: Ein ansonsten unabwend­ barer gewaltsamer Geschehensablauf kann mit keinen anderen Mitteln als vorbeugende Gewalt verhindert werden. In der Konsequenz bedeutet dies: Vorbeugende Selbstverteidigung als Maßnahme gegen einen sonst zeitlich gewiss eintretenden Schaden – wie sie bereits zuvor auf britischer Seite von Fox und den Law O ­ fficers of The Crown als legal bezeichnet wurde  – wird auch von Webster wie selbstverständlich als grundsätzlich rechtmäßig anerkannt, wenn sie denn als ultima ratio erforderlich ist. Erfordert die Lage eine Handlung, so wird erst diese streng reglementiert und anhand eng definierter Kriterien überprüft. Dies entspricht im Wesentlichen nach heutigen Maßstäben dem Inhalt der absoluten Imminenztheorie. Bedenken gegen diese streng im Sinne der absoluten Imminenztheorie verlaufende Interpretation lässt höchstens eine andere Passage in den Ausführungen Websters aufkommen: „It is admitted that a just right of self-defense attaches always to nations as well as to individuals (…). But the extent of this right is a question of to be judged of by the circumstances of each particular case; and when its alleged exercise has led to the commission of hostile acts within the territory of a power at peace, nothing less than a clear and absolute necessity can afford ground of justification.“171

Die bloße Formulierung nämlich, dass es zur Bestimmung des Ausmaßes des Selbstverteidigungsrechts auf die Umstände des Einzelfalls ankommen soll, lässt sich bei isolierter Betrachtung mangels ausdrücklich zeitlichen Bezugs auch auf 170

Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (61), sieht indes in den Formulierungen „instant“ und „no moment for deliberation“ zeitpunktorientierte Aspekte und gelangt so direkt zur Anwendung der absoluten Imminenztheorie. 171 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 105, Hervorh. v. Verf.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

ein wahrscheinlichkeitsorientiertes Verständnis ausweiten. Es mag daher auch nicht verwundern, dass ein Argument für die Latenztheorie im Sinne der NSS 2002 sich genau auf dieses Zitat Websters beruft172. Jedoch entstammt die zuletzt zitierte Textpassage aus den einleitenden Formeln des Briefes von Webster an Fox (nämlich von S. 105 des zitierten Dokuments), war also entsprechend allgemein gehalten, um den Leser auf die darauf folgende detailliertere Analyse (ab S. 106 des zitierten Dokuments) vorzubereiten. Dabei ist es schließlich genau die erwähnte „absolute necessity“, welche sodann in den zuvor interpretierten Textstellen mit rein zeitlichen Aspekten ausgefüllt wird. Selbst wenn man also vom Wortlaut der Einleitung des Briefes von Webster orientiert einen wahrscheinlichkeitsbezogenen Anknüpfungspunkt seiner völkerrechtlichen Ausführungen für möglich hält, so wäre eine Subsumtion unter die Latenztheorie auf Grund des systematischen Zusammenhangs der Briefpassagen nicht tragbar. Allenfalls eine Auslegung in Richtung der Indikationstheorie wäre diskutabel, wenn im Rahmen der erwähnten Einzelfallbezogenheit hier auf die bereits erfolgten Gewalthandlungen der Aufständischen abgestellt wird173. Eine Abkehr von der bereits zuvor durch die Monroe-Doktrin174 für zulässig erachteten Indikationstheorie kann aus dem Briefwechsel jedenfalls nicht herausgelesen werden, sodass vorbeugende Selbstverteidigung auch auf Wahrscheinlichkeitsebene nach Indikation rechtmäßig sein kann. Im Caroline-Vorfall jedoch verdichtete sich eine als Anknüpfungspunkt denkbare Wahrscheinlichkeit derartig, dass sogar über die Anforderungen der Evidenztheorie als strengere Form der Indikationstheorie hinaus schon von Gewissheit des nächsten Angriffs der Aufständischen ausgegangen werden musste, weshalb die Äußerungen Websters in ihrem historischen Kontext doch zuvörderst zeitpunkt­ orientiert zu verstehen sein mussten. Die Webster-Formel war also in ihrem Ursprung nicht ausdrücklich für auf wahrscheinlichkeitsorientierte vorbeugende Selbstverteidigung ausgerichtet, sondern gibt nach heutigem Verständnis den Inhalt der absoluten Imminenztheorie wieder; dabei ist jedoch kein Widerspruch zur Indikationstheorie festzustellen. e) 27.07.1842 Auf den Brief Websters erfolgte zunächst keine Reaktion von britischer Seite. Die Kompetenz zur Streitbeilegung wurde Lord Ashburton übertragen, mit dem die Korrespondenz fortan zu führen war. An ihn adressierte Webster eine Note, datiert auf den 27.07.1842. Ihr lag auch eine Kopie seines Briefes an Fox aus dem Vorjahr bei, auf dessen Inhalt sich Webster bezog:

172

s. o. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb) (2). s. zur Indikationstheorie bereits o. 4. Kap. C. IV. 2. 174 s. o. 6. Kap. D. III.

173

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„(…) These papers you have, no doubt, already seen; but they are, nevertheless, now communicated, as such communication is considered a ready mode of presenting the view which this government entertains of the destruction of that vessel. (…)“175

Damit bekräftigte Webster die soeben dargelegte und analysierte Rechtsauffassung der Vereinigten Staaten zum Caroline-Vorfall. f) 28.07.1842 Nur einen Tag später, am 28.07.1842, antwortete Lord Ashburton. In seinem Brief heißt es u. a.: „(…) It is so far satisfactory to perceive that we are perfectly agreed as to the general principles of international law applicable in this unfortunate case. (…) Every consideration, therefore, leads us to set (…) this paramount obligation of reciprocal respect for the independent territory of each. But however strong this duty may be, it is admitted by all writers, by all jurists, by the occasional practice of all nations, not excepting your own, that a strong overpowering necessity may arise, when this great principle may and must be suspended. (…)176 Agreeing, therefore, on the general principle, and on the possible exception to which it is liable, the only question between us is whether (…) to use your words, there was „that necessity of self-defense, instant, overwhelming, leaving no choice of means,“ (…)177 I might safely put it to any candid man, acquainted with the existing state of things, to say whether the military commander in Canada had the remotest reason, on the 29th day of December, to expect to be relieved from this state of suffering by the protective intervention of any American authority. How long could a Government, having the paramount duty of protecting its own people, be reasonably expected to wait for what they had no reason to expect? (…)178 Some importance is attached to the attack having been made in the night, and the vessel having been set on fire and floated down the falls of the river, and it is insinuated, rather than asserted, that there was carelessness as to the lives of the persons on board. (…) The time of night was purposely selected as most likely to ensure the execution with the least loss of life; and it is expressly stated, that the strength of the current not permitting the vessel to be carried off, and it being necessary to destroy her by fire, she was drawn into the stream for the express purpose of preventing injury to persons or property of the inhabitants of Schlosser. (…)“179

Lord Ashburton lässt nicht den geringsten Zweifel an der Rechtsauffassung Websters aufkommen, sondern bekräftigt sie. Er konzentriert sich dann auf die Subsumtion des Caroline-Vorfalls unter die von Webster konkretisierten zeitpunkt­ orientierten Vorgaben der necessity of self-defence und gelangt zu dem Schluss, 175

Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 104. Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 113. 177 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 114. 178 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 115. 179 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 116.

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dass die strengen Kriterien an die Erforderlichkeit der Selbstverteidigungslage und die Verhältnismäßigkeit der Handlung erfüllt seien. Die Webster-Formel findet somit volle Anerkennung als geltendes Völkerrecht durch das Vereinigte Königreich. Neben der für das Vereinigte Königreich günstigen Subsumtion überbringt Lord Ashburton den größten Ausdruck des Bedauerns über den Vorfall und entschuldigt sich förmlich dafür, dass dieses Bedauern nicht schon zuvor geäußert wurde: „Looking back to what passed at this distance of time, what is, perhaps, most to be regretted is, that some explanation and apology for this occurence was not immediately made; (…)“180

g) 06.08.1842 Webster antwortete hierauf in seinem (zu diesem Vorfall letzten) Brief vom 06.08.1842 u. a. mit den Worten: „(…) Undoubtedly it is just, that (..) it is admitted that exceptions growing out of the great law of self-defense do exist, (…) Understanding these principles alike, the difference between the two governments is only whether the facts in the case of the „Caroline“ make out a case of such necessity for the purpose of self-defense. (…)181 (…) seeing, finally, that it is now admitted that an explanation and apology for this violation was due at the time, the President (…) will make this subject (…) the topic of no further discussion between the two governments. (…)“182

Webster bestärkt damit abermals die einhellige Rechtsauffassung, lässt aber die Einschlägigkeit seiner Formel im Caroline-Vorfall offen. Er betont dabei noch einmal die Wichtigkeit der Tatsache, dass sich beide Regierungen über den Grundsatz des Interventionsverbots und dessen begrenzte Ausnahmen einig sind. Damit verlieh er seiner Formel weitere völkerrechtliche Festigkeit. Ohne weiter auf die Rechtfertigung des Vereinigten Königreichs einzugehen nimmt er dann die Entschuldigung an und legt damit den Streit bei. 3. Auswertung

Der Caroline-Vorfall führte zu folgenden völkerrechtlichen183 Erkenntnissen für das Jahr 1842 jedenfalls im Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA: Das Interventionsverbot ist ein völkerrechtlich bindendes Prinzip. Ver 180

Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 117. Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 118. 182 Dipl. and Official Papers of D. Webster, S. 119. 183 So zutr. statt vieler bereits Lauterpacht, Function of Law, S.  178 f., sowie aktuell Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 62 f.; Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 136 ff., jeweils m. w. N.; a. A. Kolb, ZöR 59 (2004), S. 111 ff. (113), und Occelli, SDILJ 4 (2003), S. 467 ff. (479), die in der gesamten Korrespondenz keine völkerrechtliche Relevanz er 181

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stöße hiergegen können sowohl durch Staaten als auch durch Privat­personen begangen werden. Gegen solche Verstöße darf sich der verletzte Staat gewaltsam auch gegen Private und auch auf fremdem Territorium verteidigen, und zwar auf Grundlage des Völkerrechts wie auch des nationalen Rechts. Eine solche Verteidigung kann auch vorbeugend erfolgen, ist aber ultima ratio und unterliegt einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Kriterien der Webster-Formel. Unklar ist hingegen – trotz der vielfach vollzogenen Bezeichnung des Caroline-Vorfalls als „locus classicus of the law of self-defence“184 – die Qualifikation des der Verteidigungshandlung zu Grunde liegenden Rechtsinstituts mit der Bezeichnung necessity of self-defence, da die Terminologie insbesondere von necessity und selfdefence während der gesamten Korrespondenz nicht eindeutig gebraucht wird185. Hinsichtlich der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Auffassung von vorbeugender Selbstverteidigung ist jedoch allein der völkerrechtliche Inhalt entscheidend. Dieser besagt, dass vorbeugende Selbstverteidigung als rechtmäßig betrachtet wird – [F1] –, und zwar jedenfalls im Rahmen der absoluten Imminenztheorie und unausgesprochen auch nach der Indikationstheorie – [F2]. V. Der Pelzrobben-Schiedsspruch 1893 Nicht unmittelbar mit vorbeugender Selbstverteidigung, wohl aber mit der Webster-Formel und ihrer Rechtserheblichkeit befasste sich der sog. „PelzrobbenSchiedsspruch“186 von 1893. Ein weiterer Streit zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich wurde nunmehr vor einem internationalen Schiedsgericht beigelegt, dessen Schiedsspruch auch auf die Webster-Formel einging187. Vorausgegangen war die Beschlagnahmung von insgesamt 14 kanadischen Segelschonern durch die Vereinigten Staaten in der Beringsee zwischen 1886 und 1889. Die Besatzung der Schiffe machte auf den Pribilof-Inseln Jagd auf Pelz­ kennen möchten; krit. auch Schneider, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 827 ff.; Walzer, Just and unjust wars, S. 75. 184 Stets zit. seit Jennings, AJIL 32 (1938), S. 82 ff. (92); Hervorh. im Original. 185 Streitig ist bis heute vor allem, ob es sich um eine Form von Selbstverteidigung oder von Notstand handelte. s.  für Selbstverteidigung z. B. Green, CardozoJICL 14 (2006), S.  429 ff. (476), und für Notstand z. B. Gazzini, JCSL 13 (2008), S. 25 ff. (26), unter Bezugnahme auf ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (81), Art. 25, Abschn. 5; für den Ausgangspunkt einer Entwicklung des zunächst weiten Selbsterhaltungsrechts zu einem engeren Selbstverteidigungsrecht Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 761. Für Notstand spricht sich letztlich auch Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 168, aus, nachdem er zuvor den Wortlaut der Ausführungen Websters losgelöst von diesem rechtlichen Diskurs als bloße „historische Zufälligkeit“ (ibid., S. 158) bezeichnet, was angesichts der über fünf Jahre intensiv und gewissenhaft unter mehreren Experten geführten Korrespondenz wenig sachgerecht erscheint. 186 Im Original: fur seal arbitration. 187 Sachverhalt aufgegriffen von Rogoff/Collins Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (502 ff.), m. w. N.

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robben, welche sich dort in großer Zahl zur Aufzucht ihrer Jungen befanden. Die zwischen Alaska und Sibirien gelegenen Inseln gehören zum Staatsgebiet der USA, weshalb diese sich in ihrer territorialen Integrität verletzt sahen. Die Beschlagnahme der Schiffe sollte weitere Gebietsverletzungen verhindern, erfolgte jedoch auf Hoher See. Der Vertreter der USA, James Carter, berief sich vor dem Schiedsgerichtshof dabei auf Selbstverteidigung mit Bezugnahme zum CarolineVorfall188. Der Schiedsspruch ging schließlich auch darauf ein, erklärte die Prinzipien der Webster-Formel für geltendes Völkerrecht, hielt sie in der Sache aber für nicht erfüllt: „(…) in such a case as the present, where there is no such instant overwhelming necessity of self-defence, where there was time for device of means, where there was time for deliberation, where there was time for diplomatic expostulation and representation, that it is idle to try to treat this case as a case of necessary self-defence (…)“189

Nach dem verlorenen Schiedsverfahren hatten die USA eine beträchtliche Summe an Schadensersatz zu begleichen. Weit wichtiger ist aber die Feststellung, dass die Webster-Formel mit ihrem oben dargelegten Inhalt bereits 1893 als anerkannter Völkerrechtssatz galt, zugleich jedoch nicht schrankenlos für jede Art von Gewaltanwendung herangezogen werden konnte. Die für das Jahr 1842 festgehaltenen Ergebnisse verfestigten sich damit über den Caroline-Vorfall hinaus. VI. Der spanisch-amerikanische Krieg 1898 Vereinzelt wird der spanisch-amerikanische Krieg von 1898190 mit seinem Schauplatz Kuba191 als Beispiel für vorbeugende Selbstverteidigung angeführt, dann jedoch bemerkenswerterweise als vermeintlich einziger historischer Anwendungsfall192. In besagtem Krieg begannen die Vereinigten Staaten mit Gewalthandlungen u. a. auf dem Gebiet der damals noch spanischen Kolonie Kuba, um die schon länger nicht mehr dem spanischen Herrscherstaat treue Karibikinsel in die politische Unabhängigkeit zu führen, was ihnen letztlich auch gelang. Der vorbeugend-verteidigende Charakter dieses Krieges soll darin gelegen haben, dass sich die Vereinigten Staaten nach der Monroe-Doktrin durch Kolonien in der unmittelbaren Umgebung ihres Staatsgebiets bedroht fühlten und deshalb gegen diese abstrakte Bedrohung durch die Kolonialmächte vorgingen. Unabhängige 188

Rogoff/Collins Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (503). Zit. nach Rogoff/Collins Jr., BrooklynJIL 16 (1990), S. 493 ff. (504); Hervorh. im Original. 190 Weitere Kriegsgebiete waren Puerto Rico und die Philippinen, vgl. zu diesem Krieg insg. Smith, Spanish-American War, passim. 191 Zum Konflikt auf Kuba umfassend und instruktiv Pérez Jr., War of 1898, passim. 192 Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (47); Grimmett, CRS Report for Congress (18.09.2002), S. 1 f. 189

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Staaten wurden im Gegensatz zu Einflussgebieten europäischer Mächte nicht als Gefährdung betrachtet193. Wenn man in diesem Ereignis noch Elemente vorbeugender Selbstverteidigung herauszufiltern versucht, dann wäre dies höchstens nach den entferntesten Maß­ stäben der heutigen Latenztheorie möglich. Selbst danach ist jedoch zweifelhaft, ob die bloße Unterstellung, dass von Kolonien als solchen derart latente Gefahren ausgingen, dass für sie die Anwendung von Gewalt nach der Latenztheorie ausreicht. Nicht von ungefähr spricht sogar US-Kongressberichterstatter Grimmett als Verfechter dieser Ansicht von einem US-amerikanischen Angriff auf Kuba194, was gerade gegen ein verteidigendes Motiv spricht. Im Übrigen fehlen weitere Anhaltspunkte für einen tatsächlichen Verteidigungswillen der USA. Im Gegenteil sind sich Historiker einig darüber, dass der Krieg rein politisch motiviert war, um die US-amerikanische Vormachtstellung gegenüber Spanien auszuweiten und den Kolonialismus auf dem amerikanischen Kontinent zu besiegen195. Der spanischamerikanische Krieg ist daher kein tauglicher Anhaltspunkt für die Rechtsermittlung zu vorbeugender Selbstverteidigung. VII. Handlungen des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg Auch einige Handlungen des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg werden mitunter als Beispiele für vorbeugende Selbstverteidigung herangezogen196. Genannt werden dabei häufig der Einmarsch in das neutrale Belgien in der Nacht zum 4. August 1914 sowie diverse U-Boot-Einsätze gegen Neutrale im Verlauf des Krieges197. Berühmt wurde die Rechtfertigung der Besetzung Belgiens durch Reichskanzler von Bethmann-Hollweg im Reichstag: „Not kennt kein Gebot.“ Deutschland gab sich also der Überzeugung hin, nach dem alten Recht der Selbsterhaltung für sein eigenes Fortbestehen alles Notwendige unternehmen zu dürfen  – mithin auch die vorsorgliche Vereinnahmung neutraler Territorien, um sie nicht dem Feind zu überlassen. Auf den ersten Blick erinnert diese Vorgehensweise an die britische Verein­ nahmung der dänischen Flotte von 1807198. Jedoch war zu Beginn des Ersten Weltkrieges keineswegs eine Bemächtigung Belgiens durch Kriegsgegner, geschweige denn ein späterer Zwang Belgiens gegen Deutschland zu kämpfen, ersichtlich. Vielmehr verkündete Kriegsgegner Frankreich zuvor, die Neutralität Belgiens

193

Grimmett, CRS Report for Congress (18.09.2002), S. 2. Grimmett, CRS Report for Congress (18.09.2002), S. 2. 195 Pérez Jr., War of 1898, S. 109 ff.; Smith, Spanish-American War, S. 226 ff.; vgl. auch die zeitgenössischen Zitate bei Pérez Jr., War of 1898, S. 1 ff. 196 Baron, Staatsnotwehr, S. 7; Schinzel, Notwehr im Völkerrecht, S. 32. 197 Zusammenfassend Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 567. 198 s. o. 6. Kap. D. I. 194

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zu respektieren, solange dies auch durch die gegnerische Seite geschehe199. Damit war Deutschland in Wahrheit der alleinige Initiator der vorher nicht geplanten Kampfhandlungen auf belgischem Territorium; ein Vergleich mit 1807 verbietet sich schon deshalb. Angesichts einer nicht einmal latent von neutralem belgischen Territorium ausgehenden Gefahr wäre die Besetzung außerdem selbst nach den weiten Möglichkeiten der Latenztheorie nicht als vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig gewesen200. Damit kann der deutsche Einmarsch nicht als tauglicher Teil der Staatenpraxis zu vorbeugender Selbstverteidigung herangezogen werden. Für den U-Boot-Krieg wurden gleich lautende Argumente angeführt; Deutschland habe sich in einer Lage „verzweifelter Notwehr“201 befunden und deshalb auch vorbeugende Gewalt anwenden dürfen. Genauere Fakten werden hingegen nicht geschildert, sodass ein Rekurs auf das seinerzeit anerkannte Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung auch hier unter allen denkbaren Auslegungsmöglichkeiten versagen muss. VIII. Das Vorgehen der USA auf mexikanischem Territorium zwischen 1916 und 1917 Außerhalb der Ereignisse des Ersten Weltkrieges war am 14. März 1916 eine für vorbeugende Selbstverteidigung relevante Verletzung der Grenze zu Mexiko durch die Vereinigten Staaten festzustellen, der ein bis 1917 andauernder Aufenthalt US-amerikanischer Truppen folgte. Ein mexikanischer Aufständischer und von den USA als hochkrimineller Bandit eingestufter mexikanischer Staatsbürger namens Pancho Villa202 überfiel zuvor mit seiner Guerillagefolgschaft u. a. ein US-Militärcamp in der Stadt Columbus im Bundesstaat New Mexico203. Dort töteten die Aufständischen ca. 20 Menschen, brannten die Stadt nieder und erbeuteten zahlreiche Güter und Nutztiere. US-Präsident Wilson sandte daraufhin Truppen in einer Stärke von mehr als 10.000 Soldaten über die mexikanische Grenze, um gegen Pancho Villa und seine Guerilleros vorzugehen204. Dies geschah unter abgenötigter Zustimmung der mexikanischen Regierung205, welche den USA zu Beginn der Expedition jedoch noch nicht bekannt gewesen sein konnte206. Zwar gelang eine beträchtliche Dezimierung der Aufständischen, jedoch konnte ihr An 199

Brownlie, Use of Force, S. 310, m. w. N. A. A. noch Schinzel, Notwehr im Völkerrecht, S. 32 ff. 201 Baron, Staatsnotwehr, S. 7. 202 Vgl. zu den genaueren historischen Vorgängen umfassend Clendenen, USA  & Pancho Villa, passim. 203 Clendenen, USA & Pancho Villa, S. 234 ff. 204 Clendenen, USA & Pancho Villa, S. 247 ff. 205 Clendenen, USA & Pancho Villa, S. 252. 206 Erst am 18. März 1916 wurde von mexikanischer Seite festgestellt: „There is now complete understanding between Mexican and American forces.“, s. Clendenen, USA & Pancho Villa, S. 256. 200

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führer nicht gefasst werden. Im Februar 1917 schließlich zogen sich die US-amerikanischen Truppen wieder in ihr Heimatland zurück. Das Vorgehen gegen Pancho Villa auf dem Gebiet des von inneren Unruhen geplagten Staates Mexiko wird in der Debatte um vorbeugende Selbstverteidigung selten erwähnt207, auch ist hierzu keine Bekundung rechtlicher Einordnung außerhalb der USA zu vernehmen. In den Vereinigten Staaten selbst wurde häufig von einer „Strafexpedition“ nach Mexiko gesprochen; diese sollte jedoch zugleich vorbeugend-verteidigende Zwecke erfüllt haben, weil weitere Gewalthandlungen Pancho Villas gegen US-Territorium befürchtet wurden208. Die Motive der Gewaltanwendung waren also gemischt, dennoch passt das Vorgehen inhaltlich zum Themenkomplex vorbeugender Selbstverteidigung. Wie beim Caroline-Vorfall hatten Aufständische bereits fremdes Staatsgebiet verletzt, nur konnte eine weitere Verletzung nicht als bereits feststehend eingestuft werden. Stattdessen indizierte aber der historische Kontext zu den Gewalthandlungen Pancho Villas angesichts seines Vorverhaltens eine hohe Wahrscheinlichkeit weiterer Schädigungshandlungen gegen bestimmbare Ziele. Die bereits erlittenen Schäden begründeten damit auch einen hinreichenden indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang, sodass insgesamt die zeitweilige mexikanische Gebietsverletzung durch die USA nach Maßgabe der Indikationstheorie als rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigung einzustufen war, zumal entgegenstehende Rechtsüberzeugungen anderer Staaten nicht zu verzeichnen waren und Mexiko letztlich im Nachhinein zustimmte. [F1] ist also einmal mehr zu bejahen, für [F2] gilt wieder die Indikationstheorie. IX. Der griechisch-bulgarische Konflikt 1925 Am 19. Oktober 1925 kam es zu einem Schusswechsel zwischen bulgarischen und griechischen Wachtposten an der gemeinsamen Grenze am Ort Demir-Kapu, wodurch zwei griechische Soldaten getötet wurden209. Auf Grund dieses Vorgangs fühlte sich Griechenland von Bulgarien bedroht, marschierte deshalb ebendort ein und übte in Bulgarien teils tödliche Gewalt aus. Bulgarien reagierte hierauf jedoch nicht gleichermaßen gewaltsam, sondern übergab die Sache dem Völkerbund nach Artt. 10 und 11 SVB, um eine friedliche Konfliktbeilegung zu erreichen210. Die angestrebte friedliche Lösung gelang nach einigem Hinauszögern auf griechischer Seite letztlich auch am 28. Oktober. Zudem wurde eine Untersuchungskommis 207 Für eine Zuordnung zu vorbeugender Selbstverteidigung spricht sich immerhin Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (541), m. w. N., aus. 208 Clendenen, USA & Pancho Villa, S. 251, 253. 209 Zum genaueren Hergang s. ausführlicher Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 14 ff., sowie Bowett, Self-Defense, S. 129 ff.; Fassbender, Selbstverteidigung und Staaten­ gemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (119 f.). 210 Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 107 ff.

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sion zur Aufklärung des vorangegangenen Geschehens sowie zur endgültigen Lösung des Konflikts einberufen211, deren Bericht212 eine Streitbeilegung u. a. nach Zahlung von Schadensersatz durch Griechenland vorsah, jedoch ein grundsätz­ liches Recht zur Selbstverteidigung nicht anzweifelte. Beachtlich sind die auf diesem Wege geäußerten völkerrechtlichen Stellungnahmen. Innerhalb der Anhörungen beider Parteien vor dem Völkerbundrat noch während der griechischen Besetzung berief sich Griechenland auf sein Recht zur Selbstverteidigung: „Il est évident que toutes mesures auxquelles le commandement militaire dut recourir ont un caractère incontestable de légitime défense.“213

Auch nach dem grundsätzlich akzeptierten Lösungsvorschlag zur Streitbeilegung behielt Griechenland seinen Standpunkt legaler Selbstverteidigung bei214. Es verdeutlichte somit mehrmals, dass nach seiner Ansicht ein beendeter Grenzzwischenfall mit eigenen Verlusten gleichwohl eine rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung zur Folge haben kann215. Dafür wurde es zwar vom Völkerbundrat (nur) aus politischen Gründen kritisiert216, das Selbstverteidigungsrecht sollte ihm zugleich aber in diesem Fall nicht abgesprochen werden. Zumindest stillschweigend war sich also auch der Völkerbundrat in der Sache darüber einig, dass Selbstverteidigung hier eine rechtmäßige Option war, auch wenn er dies aus politischen Gründen nicht gern bekundete. Zur konkreten Beurteilung der Selbstverteidigungslage Griechenlands ist Folgendes zu bedenken: Angesichts der Tatsache, dass der Zwischenfall abgeschlossen war und es zweifelhaft erscheint, ob eine reaktive Selbstverteidigungshandlung im getätigten Ausmaß hierauf noch als verhältnismäßig einzustufen wäre, ist der Vorfall nicht am Maßstab reaktiver Selbstverteidigung zu messen. Das Geschehen lässt sich besser dem Horizont der Indikationstheorie zuordnen. Die Tötung zweier griechischer Soldaten an der Grenze durch Soldaten der Gegenseite könnte nämlich durchaus als Vorbote weiterer und schwerwiegenderer Gewalthandlungen in unmittelbarer Nachbarschaft beider Staaten gedeutet werden, sodass hier auch ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang angenommen werden kann. Der griechisch-bulgarische Konflikt bestätigt damit die seinerzeitig angenommene Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung – [F1] – nach der Indikationstheorie auf Grund gewaltsamer Vorgeschehnisse – [F2]. 211

Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 149 ff. Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 156 ff. 213 Zit. nach Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (120); s. zur Korrespondenz vor dem Völkerbundrat auch Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 109 ff. 214 Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 180. 215 Ahooja-Patel, Greco-Bulgarian Dispute, S. 136. 216 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 41. 212

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X. Die japanische Invasion in die Mandschurei 1931 Ein weiteres für die Debatte um vorbeugende Selbstverteidigung wichtiges Ereignis war die Invasion Japans in die chinesische Region Mandschurei217 im Jahr 1931218. Nach zahlreichen Spannungen zwischen China und Japan kam es am 18. September 1931 zum sog. Mukden-Zwischenfall, einem – wie sich später herausstellte – von japanischer Seite in der Mandschurei inszenierten219 Sprengstoffanschlag auf die japanisch betriebene Südmandschurische Eisenbahn innerhalb eines japanischen Pachtgebietes. Die japanische Armee sah sich daraufhin veranlasst, zum Schutz der Eisenbahn das von Japan gepachtete Gebiet um die Eisenbahnstrecke herum zu besetzen; von dort aus marschierten die Truppen in die gesamte Mandschurei ein und eroberten das Territorium. China befasste daraufhin den Völkerbund gem. Art.  11 SVB mit der Sache, welcher Japan zum Rückzug seiner Streitkräfte aufforderte220; dieses Vorgehen blieb jedoch ohne Erfolg. Zur Aufklärung der Fakten wurde zudem die sog. „Lytton-Kommission“ als Untersuchungskommission im Krisengebiet eingesetzt, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem Briten Lord Lytton221. Die Experten um Lytton sollten ferner die Rechtslage beurteilen und Lösungsvorschläge für den Konflikt erarbeiten. Letztere Versuche blieben noch während des Mandats ohne Erfolg222, denn am 18. Februar 1932 wurde schließlich die Mandschurei von China getrennt und der von Japan abhängige Staat Mandschukuo ausgerufen223. Relevant bleibt aber die rechtliche Einschätzung. Unabhängig von den vielschichtigen Fragen rund um den schon seit Jahrzehnten zuvor schwelenden Konflikt um die Mandschurei soll hier nur die Invasion durch Japan am Maßstab vorbeugender Selbstverteidigung überprüft werden, da dies einer der japanischen Rechtfertigungsansätze hierfür war224. Die japanische Regierung bezog am 21. November 1931 vor dem Völkerbundrat wie folgt Stellung: „(…) It is nothing but the aggregate of Japan’s exceptional treaty rights (…) and vital and justified measures of self-protection as the standard principle laid down in the Caroline case, that every act of self-defence must depend for its justification on the importance of the interests to be defended, or the imminence of the danger and the necessity of the act. (…) The statements at the time of the negotiations which led up to the signature of the BriandKellogg Treaty. for the outlawry of war (…)clearly reserved the right of self-defence, and 217

Dieses Gebiet entspricht der heutigen Region Nordostchina zwischen den Territorien von Russland und Nordkorea. 218 Vgl. zum Geschehenshergang ausführlich Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 201 ff. 219 Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 201, m. w. N. 220 Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (450). 221 Hierzu insg. Kuhn, AJIL 27 (1933), S. 96 ff. 222 Kuhn, AJIL 27 (1933), S. 96 ff. (99). 223 Kuhn, AJIL 27 (1933), S. 96 ff. (97). 224 Zur japanischen Auffassung s. instruktiv Brown, AJIL 27 (1933), S. 100 ff.

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

none contradict the observations made by Mr. Kellogg that „every nation … is alone competent to decide whether circumstances require recourse to war in self-defence,“ which the British and French notes expressly corroborate. (…)“225

Japan bezog sich mit seiner Erklärung im Wesentlichen auf zwei Völkerrechtsquellen, nämlich das völkergewohnheitsrechtliche Recht zur Selbstverteidigung nach der Webster-Formel und den Briand-Kellogg-Pakt mit seinen einhergehenden Erklärungen zur Beibehaltung des geltenden Selbstverteidigungsrechts. Es wird gefolgert, dass ein Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung nach den Kriterien des Caroline-Vorfalls bestehe und dass jeder Staat die alleinige Einschätzungsprärogative besitze, das tatsächliche Vorliegen einer Selbstverteidigungslage hiernach festzustellen. Letzterer Punkt war bereits 1931 umstritten und konnte nur wegen der Ausführungen Kelloggs in seiner formellen Note226 zum BriandKellogg-Pakt überhaupt sinnvoll angesprochen werden. Eine Einschätzungsprärogative des mutmaßlichen Verteidigers wurde indes nun auch von den USA bestritten227, sodass dieser Punkt mehr und mehr an Bedeutung verlor; er ist heute auch nicht mehr ernsthaft zu diskutieren. Zu analysieren bleibt die Bedeutung des Mandschurei-Konflikts für vorbeugende Selbstverteidigung nach der Webster-Formel. Dabei ist nach damaligem Kenntnisstand zu unterstellen, dass es tatsächlich einen chinesischen Anschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn gegeben hatte; nach der späteren Aufdeckung der Inszenierung ist eine völkerrechtswidrige Angriffshandlung Japans freilich unbestritten. Doch auch unter Vorspiegelung falscher Tatsachen wird von Japan nicht dargelegt, welche Einzelheiten im konkreten Fall genau den Caroline-­ Kriterien entsprachen. Von einem zukünftig gewissen, also unmittelbar bevorstehenden weiteren Angriff gegen die Südmandschurische Eisenbahn, geschweige denn gegen Japan selbst, konnte auch unter damaliger Annahme eines chinesisch geleiteten Anschlags nicht ausgegangen werden. Zu eben diesem Ergebnis gelangte ebenso die Lytton-Kommission in ihrem Abschlussbericht228. Daraufhin bekräftigte auch der Völkerbundrat diese Rechtsauffassung und lehnte einen Rekurs auf vorbeugende Selbstverteidigung im vorliegenden Fall als nicht einschlägig ab229. Ein unterstellt-chinesischer Anschlag hätte höchstens als Indikator für weitere Schädigungshandlungen herangezogen werden können, welchem angesichts der räumlichen Nähe zu Japan und dem länger andauernden Gesamtkonflikt in der Region auch ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang innegewohnt haben könnte. Eine solche Auslegung wurde jedoch weder angeführt noch wurde ihr widersprochen, zudem findet sie hier angesichts der tatsächlichen japa 225

Zit. nach Brown, AJIL 27 (1933), S. 100 ff. (100 f.). s. o. 6. Kap. C. V. 227 Alexandrov, Self-Defense, S. 62 f.; Kunde, Präventivkrieg, S. 99. 228 Kuhn, AJIL 27 (1933), S. 96 ff. (98). 229 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1385).

226

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nischen Urheberschaft des Anschlags sachlich keine Anwendung. Eine sachgemäße völkerrechtliche Begründung für die Gewalthandlungen gegen die Mandschurei schloss sich also bereits ursprünglich aus. Dennoch geben die Geschehnisse um die Invasion herum einigen Aufschluss zum damaligen völkerrechtlichen status quo. Zu Fragen des Selbstverteidigungsrechts als solchem gab es nämlich keinen sachlichen Widerspruch zwischen Japan und der übrigen Staatengemeinschaft, insbesondere des Völkerbundes. Man war sich darüber einig, dass nach dem geltenden Völkergewohnheitsrecht auch vorbeugende Selbstverteidigung rechtmäßig war, deren Voraussetzungen sich wiederum an der Webster-Formel zu messen hatten. Obwohl die Invasion in die Mandschurei tatsächlich kein Anwendungsfall von Selbstverteidigung, sondern im Gegenteil klar völkerrechtswidrig war, bestätigte die völkerrechtliche Debatte dazu einmal mehr die universelle Rechtsüberzeugung, dass vorbeugende Selbstverteidigung nach Maßgabe der Caroline-Kriterien als rechtmäßig galt230. Damit wurde nach heutiger Sicht vorbeugende Selbstverteidigung als recht­ mäßig – [F1] – unter der Bedingung der zuvor anerkennten absoluten Imminenztheorie wie auch der Indikationstheorie – [F2] – nach damals geltendem Völkerrecht bestätigt. XI. Der Abessinien-Krieg 1935 Am 3.  Oktober 1935 marschierte Italien in den souveränen, dem Völkerbund zugehörigen ostafrikanischen Staat Abessinien231 ein und unterwarf ihn bald darauf232. Damit schuf Italien eine schon im vorherigen Jahrhundert angestrebte Großkolonie am Horn von Afrika, welche sich von den bereits zuvor schon länger kolonisierten Gebieten Eritrea im Norden bis nach Somalia im Süden ausdehnte. Neben den bereits in dieser Zeit klar völkerrechtswidrigen, von Unterwerfungsdrang geleiteten Motiven berief sich Italien bei seinem Vorgehen auch auf das Recht zur Selbstverteidigung. Abessinien sei nie den Vorgaben des Völkerbundes zur Einhaltung völkerrechtlicher Regeln wie die Abschaffung der Sklaverei nachgekommen und hätte zudem die italienischen Nachbargebiete ständig bedroht, wobei allerdings eine konkrete Bedrohungslage nicht dargelegt wurde. Da Italien zur Einschätzung der mutmaßlichen Selbstverteidigungslage auch selbst berechtigt gewesen sei, sei auch die Gewalthandlung gegen Abessinien nach der gelieferten Argumentation rechtmäßig gewesen233.

230

Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1385). Auf dem Gebiet des damaligen Kaiserreichs Abessinien befindet sich der heutige Staat Äthiopien. 232 Ausführlich hierzu Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 248 ff. 233 Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 250, dort auch Fn. 17. 231

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Nicht nur die spätere klar völkerrechtswidrige Annexion Abessiniens wurde von der überwältigenden Staatenmehrheit wie auch dem Völkerbund als illegal zurückgewiesen, sondern der allseits erfolgte vehemente Widerspruch war auch schon in Bezug auf den Ausgangspunkt der Gewalt gegen Abessinien zu vernehmen234. Zum ersten Mal sprach zudem der Völkerbund Sanktionen nach Art. 16 SVB gegenüber einem Mitgliedstaat, der Italien damals noch war, aus. Es bestand inzwischen Einigkeit darüber, dass die Einschätzungsprärogative einer Selbstverteidigungslage nicht schrankenlos bei dem sich hierauf berufenden Staat liegen kann und dass außerdem die von Italien genannten Voraussetzungen auch materiell keine Selbstverteidigungslage begründen konnten. Selbst wenn die behauptete abstrakte Bedrohung von Eritrea und Somalia durch Abessinien oder der Vorwurf von Völkerrechtsverletzungen wahr gewesen wären, hätte dies nach allgemeiner Rechtsauffassung allein nicht zu vorbeugender Selbstverteidigung berech­tigen können. Die Argumentation Italiens, welche stark an einzelne Teile der Latenztheorie erinnert, schied für vorbeugende Selbstverteidigung aus, sodass das damalige grundsätzlich anerkannte Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung jedenfalls nicht derart extensiv bestand. Damit ist [F1] hier wiederum positiv, [F2] hingegen jedenfalls negativ im Hinblick auf die Latenztheorie zu beantworten. XII. Vorbeugende Selbstverteidigung im Zweiten Weltkrieg Nach den aufgezeigten Anwendungsfällen zur Rechtsermittlung vorbeugender Selbstverteidigung gab es keine weitere Völkerrechtspraxis hierzu vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Jedoch brachte dieser vernichtende Krieg selbst einige für vorbeugende Selbstverteidigung relevante Geschehnisse zu Tage, welche als solche außerhalb des durch den Kriegszustand ausgelösten Rechts zur unbeschränkten Gewaltanwendung standen235. Beachtlich bleibt das Selbstverteidigungsrecht im Krieg jedenfalls dann, wenn nicht gerade Konfliktsparteien gegeneinander vorgehen. 1. Die Verminung norwegischer Küstengewässer durch das Vereinigte Königreich

Am 8. April 1940 begann das Vereinigte Königreich im Rahmen der sog. Operation Wilfred einen Großteil des Küstengewässers des neutralen Norwegens zu verminen, um damit eine deutsche Invasion gegen Norwegen zu verhindern236. ­Dieses Ziel wurde zwar angesichts der nur einen Tag später erfolgreichen deutschen Besetzung Norwegens (über Dänemark) verfehlt, doch stellt sich gleichwohl die 234

Roscher, Briand-Kellogg-Pakt, S. 250 f., m. w. N. Die unter Beteiligung der später unterlegenen Kriegsparteien entstandenen Anwendungsfälle werden im Rahmen der anschließenden Kriegsverbrecherprozesse aufgearbeitet, s. u. 6. Kap. D. XII. 4. 236 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Erstes Buch, Kap. 21 (S. 244 f.). 235

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Frage, ob die Gebietsverletzung Norwegens durch das Vereinigte Königreich auf Grundlage von vorbeugender Selbstverteidigung zulässig war. Stellt man auf die bloße Besetzung durch Deutschland ab, ist angesichts der konkreten Vorbereitungshandlungen einer Invasion  – insbesondere im Hinblick auf die bereits abgeschlossene deutsche Planung zu diesem Zeitpunkt237 – bereits von ihrem unmittelbaren Bevorstehen auf zeitlicher Ebene auszugehen. Die Verminung durch das Vereinigte Königreich wäre also schon nach der absoluten Imminenztheorie rechtmäßig gewesen, wenn die Besetzung eines neutralen Staates in eigener Nachbarschaft durch einen Kriegsgegner als Anknüpfungspunkt zum Auslösen einer Selbstverteidigungslage ausreicht. Darauf wird sogleich näher einzugehen sein. 2. Die britische Operation Catapult gegen Frankreich

Einen zusätzlichen Anwendungsfall vorbeugender Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen spricht im aktuellen Schrifttum nur Gill an238. Es handelt sich dabei um eine britische Zwangsmaßnahme innerhalb des Zweiten Weltkrieges vom 3. und 4. Juli 1940, Operation Catapult genannt, mittels welcher sich das Vereinigte Königreich der gesamten französischen Flotte bemächtigte239. Kurz zuvor musste Frankreich als britischer Verbündeter im Zweiten Weltkrieg nach Einmarsch der Wehrmacht gegenüber Deutschland kapitulieren. Der nicht besetzte französische Reststaat im südlichen Landesteil wurde fortan von dem Kurort Vichy aus regiert und galt als nicht kriegsbeteiligt. Obwohl die Vichy-Regierung international kaum nennenswerten Einfluss hatte, war sie immer noch Oberbefehlshaberin über die weiterhin als mächtig eingestufte französische Flotte. Der britische Premierminister Churchill befürchtete daher, dass diese bald in deutsche Hände fallen könnte und befahl deshalb die Durchführung der Operation Catapult. Die Einnahme der weltweit vielerorts stationierten französischen Flottenteile gelang über weite Strecken reibungslos und meist unblutig; das Vereinigte Königreich ging dabei auch möglichst schonend vor. Große Probleme bereitete hin­gegen die Eroberung des stärksten Flottenteils in Nordafrika; hier ließ die fran­zösische Führung ein britisches Ultimatum verstreichen240 und setzte sich heftig zur Wehr. Nach blutigen Kämpfen mit über 1.300 französischen Todesopfern gelang es dem Vereinigten Königreich jedoch schließlich, die französische Flotte vollständig zu besiegen241. 237

s. genauer u. 6. Kap. D. XII. 4. Zuvor deuteten dies nur McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 211, und Skubiszewski, in: Manual of Public Int’l. Law, S. 762, an. 239 Ausführlich Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 365 ff.); mit völkerrechtlicher Analyse Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (129 ff.). 240 Wortlaut bei Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 371). 241 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (132). 238

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Wäre die britische Operation naheliegenderweise als kriegerische Handlung im Rahmen des Zweiten Weltkrieges einzuordnen, gäbe es hierzu keine nennens­ werten völkerrechtlichen Probleme. Jedoch gestaltet sich die Situation hier anders, da Vichy-Frankreich keine Konfliktspartei war und deshalb auch nicht ohne weiteres militärisch hätte bekämpft werden dürfen. Die Situation erinnert daher vielmehr an den klassischen Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und Dänemark von 1807242. Das Vereinigte Königreich bemächtigte sich wieder einer fremden Flotte, um ihre Instrumentalisierung für einen zukünftigen Angriff durch einen Kriegsgegner zu verhindern. Im Gegensatz zu 1807 drohte der Kriegsgegner hier jedoch nicht mit der Bemächtigung der Flotte, auch wurde das Vereinigte Königreich von deutscher Seite in diesem Zusammenhang nicht zu einem widerwilligen Verhalten zu nötigen versucht. Allerdings zeigten die kurz zuvor erlittene Besetzung Frankreichs durch NaziDeutschland, das Machtstreben Hitlers sowie die erwiesene Schwäche der VichyRegierung, dass eine zukünftige Instrumentalisierung der französischen Flotte durch Deutschland (oder auch Italien) – zwangsweise oder sogar auf Angebot der Vichy-Regierung  – durchaus wahrscheinlich war243. Es verbietet sich daher an­ dererseits ein Vergleich der Operation Catapult mit der klar völkerrechtswidrigen Besetzung Belgiens durch Deutschland im Ersten Weltkrieg244. Folglich war Catapult zum einen weder evident völkerrechtswidrig, zum anderen noch ein Anwendungsfall der relativen Imminenztheorie, wie es 1807 der Fall war. Fest steht jedoch, dass die Operation von weiten Teilen der nicht mit Deutschland verbündeten Staaten wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Insbesondere unter den nicht Krieg führenden Staaten war zumindest keine Zurückweisung der britischen Vorgehensweise zu vernehmen245, was jedenfalls im Kontext des Zweiten Weltkrieges auf ein stillschweigendes Einverständnis nach der Lehre zur Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht schließen lässt246. Diese Tatsache sowie die Feststellung einer potentiellen deutschen Kontrolle über die französische Flotte reichen für Gill aus, von rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung zu sprechen247. Obwohl es keine konkreten Anzeichen einer deutschen Übernahme gegeben haben soll248, sei die Gefahr doch nah genug gewesen, um nach den Kriterien des Caroline-Vorfalls von zulässiger Ausübung des Selbstverteidigungsrechts auszugehen249.

242

s. o. 6. Kap. D. I.; diese Parallele zieht bereits auch Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 369). 243 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (134). 244 s. o. 6. Kap. D. VII. 245 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (133). 246 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 16, Rn. 13 (S. 217 f.). 247 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (134). 248 Dies möchte Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (133), ausdrücklich festgestellt wissen. 249 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (134).

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Wie oben gezeigt250, umfasst die Webster-Formel jedoch nur zeitpunktorientierte Ansätze und auf Wahrscheinlichkeitsebene stillschweigend möglicherweise noch die Indikationstheorie. Da Gill hingegen von einer bloßen Gefahr als Anknüpfungspunkt ausgeht und eine Indikation der Flottenübernahme gerade ausschließt, scheint er inhaltlich hier die Latenztheorie heranziehen zu wollen, welche jedoch gerade nicht von den Caroline-Kriterien gedeckt ist. Es fragt sich daher, ob die Operation Catapult – die Anerkennung ihrer Legalität unterstellt – eine Fortentwicklung des bis dato geltenden Völkerrechts zur Latenztheorie hin eingeleitet haben kann. Dazu ist sie zunächst am völkerrechtlichen Meinungsstand zu vorbeugender Selbstverteidigung zu messen. Wie bereits bemerkt, scheidet hier schon die relative Imminenztheorie aus, sodass nach einer Lösung über die wahrscheinlichkeitsorientierten Ansätze zu suchen ist. Dabei stellt sich trotz vermeintlicher Ablehnung Gills die Frage nach der damals inhaltlich anerkannten Indikationstheorie. Es hätte sich folglich eine Instrumentalisierung der französischen Flotte durch Deutschland für einen Angriff gegen das Vereinigte Königreich im Rahmen der konkreten Umstände angezeigt haben müssen. Zwar sah Art. 8 des Waffenstillstandsvertrags zwischen Deutschland und Frankreich vor, die französische Flotte unter deutscher oder italienischer Kontrolle zu entwaffnen, jedoch wurde Frankreich zugesichert, sie dabei nicht für eigene Zwecke zu verwenden251; formell kündigte sich somit keine Instrumentalisierung an. Nicht abzustreiten ist hingegen – wie bereits dargestellt –, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dahingehend bestand, dass die Flotte bald durch Kriegsgegner des Vereinigten Königreichs ausgenutzt würde, wenn eine gegnerische Kontrolle über sie schon vertraglich festgeschrieben war252. Auch wenn hierfür keine konkreten Pläne bekannt waren, wie es Gill mit Hinweis auf Churchills Memoiren feststellen möchte253, drängte sich dieses Geschehen doch im Gesamtkontext des deutschen Eroberungsstrebens geradezu auf, zumal es wiederholt zu offenen Feindseligkeiten zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich im Verlauf des Krieges kam. Man kann daher trotz allem noch zutreffend von einer Indikation der Bemächtigung durch Deutschland oder seine Verbündeten aus­ gehen, wie es im Übrigen auch Churchill ausdrücklich tat254. Dieses Ereignis wäre jedoch nicht als unmittelbar schadenskausal auf Seiten des Vereinigten Königreichs zu qualifizieren, denn hierfür hätte es eines weiteren Zwischenaktes bedurft. Grundsätzlich wäre die bloße deutsche Übernahme der französischen Flotte damit kein Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage gewesen, ihre Indikation ferner auch kein Auslöser einer vorbeugenden Selbstver 250

s. o. 6. Kap. D. IV. 3. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 368 f.). 252 So argumentierte lebensnah auch Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 368 f.): „Doch welcher vernünftige Mensch konnte dem Wort Hitlers nach seiner schmäh­ lichen Vergangenheit und den Geschehnissen der Stunde noch trauen?“ 253 Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (133, dort Fn. 58). 254 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 9 (S. 368 f.). 251

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

teidigungslage. Gegen diese grundsätzliche Annahme spricht jedoch, dass bereits durch ihre Übernahme die Flotte selbst zu einem Kriegsgegner geworden wäre, gegen den das Vereinigte Königreich dann ohnehin hätte Gewalt anwenden dürfen. Das Recht zur Selbstverteidigung hätte sich damit erledigt. Zugleich wäre aber schon vor der eigentlichen Übernahme der Flotte ihre zukünftige Kriegsgegnerschaft indiziert gewesen. Diese wesentliche Stärkung des Kriegsgegners allein ist jedoch schon hinreichend kausal für jeden im Krieg entstehenden und damit zu Kriegszeiten unmittelbaren Schaden. Angesichts der im konkreten Konflikt bereits gezeigten erbitterten Feindseligkeiten zwischen den Kriegsparteien ist auch ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang zwischen Bemächtigung und zukünftigen Schäden leicht zu bejahen; eine bloß abstrakte Bedrohung anzunehmen widerspricht hingegen dem historischen Kontext. Auf der Schwelle zwischen Friedenssicherungs- und Konfliktsvölkerrecht ist damit ausnahmsweise die Übernahme der französischen Flotte durch Kriegsgegner als schadenskausales Ereignis zu werten, gegen welches ein Recht auf reaktive Selbstverteidigung bestünde, wenn es nicht vom Recht freier Gewaltanwendung im Kriegsfalle verdrängt worden wäre. Relevant wird das verdrängte Recht zur reaktiven Selbstverteidigung dann im Vorfeld zur Bewertung vorbeugender Selbstverteidigung: Eine bloß durch vorrangiges Recht verdrängte reaktive Selbstverteidigungslage führt bei Indikation des sie grundsätzlich auslösenden Ereignisses – hier die Bemächtigung der Flotte durch Kriegsgegner – zum Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie255. Eine eben solche Situation beschrieb die Operation Catapult. Folglich war das britische Vorgehen gegen die französische Flotte von der bereits zuvor anerkannten Indikationstheorie – [F2] – als rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigungshandlung – [F1] – abgedeckt, eine Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts wurde mit ihr nicht begründet. Die Latenztheorie kommt nicht zur Anwendung, vielmehr wird der völkerrechtliche status quo hier bestätigt. 3. Die britische Besetzung Islands

Am 10.  Mai 1940 besetzten britische Streitkräfte das damals zum neutralen Däne­mark gehörende Island. Der wesentliche Grund hierfür war die Absicht des Vereinigten Königreichs, einer deutschen Besetzung aus kriegsstrategischen Gründen zuvorzukommen256, um eine weitere gegen die Alliierten gerichtete Expansion des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg zu verhindern257. Zudem sah sich das Vereinigte Königreich durch ein deutsch besetztes Island selbst unmittelbar be 255 Aus den gleichen Gründen war damit die Verminung norwegischer Küstengewässer nach den Maßstäben der absoluten Imminenztheorie rechtmäßig; sie wird dadurch bestätigt, s. o. 6. Kap. D. XII. 1. 256 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 17 (S. 465). 257 Brownlie, Use of Force, S. 311, m. w. N.

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droht. Obwohl die dänische (von Deutschland kontrollierte258) wie auch die isländische (von Dänemark abhängige) Regierung gegen die Besetzung protestierten, waren darüber hinaus keine gegen das britische Vorgehen gerichtete Rechtsüberzeugungen zu vernehmen259. Nach der kurz zuvor verwirklichten Besetzung der neutralen Staaten Dänemark, Norwegen, Belgien, Niederlande und Luxemburg durch deutsche Truppen260 drängte sich eine Fortführung dieser Taktik in unmittelbarer Nachbarschaft des Vereinigten Königreichs geradezu auf. Auch wenn es möglicherweise keinen tatsächlichen deutschen Plan zur Einnahme Islands gegeben haben sollte, zeigten die unmittelbar vorausgegangenen Vorgänge doch eine klare Tendenz weiterer Ex­pansion auf. Wie schon bei der Operation Catapult ist deshalb in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung auch hier ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang gerichtet auf eine auch isländische Kriegsgegnerschaft zu erkennen, weshalb die Besetzung Islands im Sinne der Indikationstheorie nach damaligen Maßstäben als rechtmäßig einzustufen war. Zugleich wurde die Indikationstheorie damit weiter durch wiederholte und von Rechtsüberzeugung getragene Praxis bestätigt. 4. Die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg und Tokio

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Ende von unbeschreiblichem weltweiten Leid und unzähligen Gräueltaten, bestand höchstes Interesse daran, die dafür Verantwortlichen persönlich zur Rechenschaft zu ziehen. Die Einrichtung der Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio galt als Meilenstein der Entwicklung des Völkerstrafrechts, einer damals neuen völkerrechtlichen Disziplin261. Doch nicht nur für Fragen individueller Strafbarkeit der Entscheidungsträger im Krieg, sondern auch für genuin völkerrechtliche Fragen waren die Prozesse äußerst aufschlussreich. Auch wenn sie erst nach der Gründung der Vereinten Nationen beendet wurden, bilden sie doch den Abschluss der letzten Völkerrechtsepoche ohne universelles Gewaltverbot und projizieren damit als letzte Aufarbeitung des Völkerrechts vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen das endgültige Abbild des damaligen völkerrechtlichen Besitzstandes. Besonders gilt dies im Hinblick auf das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht, welches in den Strafverfahren von Nürnberg und Tokio als individueller Rechtfertigungsgrund gegen die angeklagten Völkerstraftatbestände grundsätzlich anerkannt und dessen Inhalt deshalb einmal mehr von außerordentlicher Bedeutung war262. 258

s. sogleich unter 4. a). Im Gegenteil ging Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Zweites Buch, Kap. 17 (S. 465), von einer Besetzung mit Zustimmung der isländischen Bevölkerung aus. 260 s. sogleich unter 4. a). 261 Vgl. dazu z. B. Mettraux, Nuremberg Trial, passim, und Boister/Cryer, Tokyo Tribunal, passim, jeweils mit umfangreichen Literaturangaben. 262 s. nur Bowett, Self-Defense, S. 138 ff.; ausführliche Darstellung in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung i. Ü. bei McCormack, Self-Defense, S. 253 ff. 259

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

a) Nürnberg Der für vorbeugende Selbstverteidigung relevante Teil des Nürnberger Prozesses 263 befasste sich mit den Geschehnissen um die deutsche Besetzung Dänemarks und Norwegens am 9. April 1940264. Das vom Angeklagten (und später zu lebenslanger Haft verurteilten265) Großadmiral Raeder initiierte deutsche Unternehmen Weserübung sah vor, die neutralen Staaten Dänemark und Norwegen zu besetzen, u. a. um sich im Kriegsverlauf strategische Vorteile zu verschaffen und einer Vereinnahmung durch die Alliierten zuvorzukommen266. Letzterer Punkt war für die Verteidigung im Prozess wesentlich, denn daraus wurde eine rechtmäßige Ausübung des Selbstverteidigungsrechts durch Deutschland zu konstruieren versucht, weswegen eine Verurteilung der Angeklagten nicht hätte in Betracht kommen sollen. Konkret wurde argumentiert, dass man Norwegen zum eigenen Schutz habe besetzen müssen, um so eine alliierte Invasion abzuwenden267. Eine ähnliche Argumentation wurde in Bezug auf die zeitgleiche Besetzung Dänemarks übrigens nicht geliefert; daher beziehen sich die Ausführungen des Militärgerichtshofs zum Umfang des Selbstverteidigungsrechts nur auf die Invasion in Norwegen268. Das nicht weiter konkretisierte Ziel, einer alliierten Besetzung zuvorkommen gewollt zu haben, misst der Militärgerichtshof an der Webster-Formel: „It must be remembered that preventive action in foreign territory is justified only in case of „an instant and overwhelming necessity for self-defense, leaving no choice of means, and no moment of deliberation“ (The Caroline Case, Moore’s Digest of International Law, II, 412).“269

Abgesehen von dem leicht verändert wiedergegebenen Wortlaut der WebsterFormel bezieht sich der Militärgerichtshof offensichtlich auf das seinerzeit gewohnheitsrechtlich anerkannte Selbstverteidigungsrecht. Es wird dabei nochmals betont, dass grundsätzlich durchaus auch eine vorbeugende Maßnahme als rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung qualifiziert werden kann. Auf den konkreten Fall angewendet vermag das Gericht zunächst nicht festzustellen, inwieweit der Glaube an rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigung in deutschen Kreisen 263 Das vollständige Urteil des Nürnberger Militärgerichtshofs vom 01.10.1946 ist ver­ öffentlicht in AJIL 41 (1947), S. 172 ff. In der gekürzten Fassung von Friedmann, Law of War, S. 922 ff., fehlen die für vorbeugende Selbstverteidigung relevanten Passagen. 264 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (203 ff.). 265 s. auch die Verurteilungsübersicht in AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (333). 266 Vgl. zum Geschehenshergang auch die Schilderung von Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Erstes Buch, Kap. 21 (S. 245 ff.). 267 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (205). 268 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (207). 269 Zit. nach AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (205). Zunächst bezog sich das Gericht übrigens versehentlich auf einen anderen Fall namens „Caroline“ aus dem Jahr 1808 und veröffentlichte zunächst ein insoweit fehlerhaft begründetes Urteil, s. Schwarzenberger, The Judgment of Nurem­berg, S. 167 ff. (185, dort Fn. 78).

D. Staatenpraxis

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wirklich verbreitet war. Dagegen spreche jedenfalls ein Memorandum Raeders vom 3. Oktober 1939 sowie die mehrmals bestätigte Einschätzung der deutschen Führung vor der Invasion, dass ein alliiertes Vorgehen gegen Norwegen sich nicht abzeichnen würde270. Daraus folgert der Militärgerichtshof: „From all that it is clear that when the plans for an attack on Norway were being made, they were not made for the purpose of forestalling an imminent Allied landing, but, at the most, that they might prevent an Allied occupation at some future date.“271

Das Gericht beschreibt somit ein nach der heutigen Latenztheorie durchgeführtes Szenario in Norwegen, welches gerade nicht mehr als rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigung gelten konnte. Bestärkt wird hingegen die heutige absolute Imminenztheorie nach der Webster-Formel, welche das deutsche Vorgehen bei einer entsprechenden Faktenlage als rechtmäßig dargestellt hätte272. Keine Erwähnung findet hingegen die bis dato ebenfalls rechtmäßige Selbstverteidigung begründende Indikationstheorie. Auf einen möglichen Indikator der alliierten Besetzung Norwegens abzustellen, ergab sich allerdings auch aus dem gegebenen Sachverhalt nicht. Daraus, dass das Gericht ausdrücklich nur Gewalthandlungen nach der Latenztheorie ausschließt und ausdrücklich auf die Caroline-Kriterien, welche zumindest mittelbar die Indikationstheorie umfassen, rekurriert, wurde hier die Indikationstheorie zumindest nicht geschwächt oder gar verworfen. In seinem Urteil bricht der Militärgerichtshof jedenfalls nicht mit ihr, sondern festigt das aus der Webster-Formel hervorgegangene völkergewohnheitsrechtliche Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung273. Im weiteren Verlauf bestärkt er seine Ansicht, indem er die deutschen Schutzbehauptungen vorbeugender Selbstverteidigung bei der Besetzung von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg am 10. Mai 1940274 sowie im Feldzug gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1945275 zwar erwähnt und das Recht als solches wiederum anerkennt, zugleich aber in der Sache als offensichtlich nicht einschlägig ablehnt. [F1] ist damit weiterhin positiv zu beantworten. Die Antwort auf [F2] umfasst eindeutig nicht mehr die Latenztheorie, jedenfalls aber die absolute Imminenztheorie. Die Position der Indikationstheorie schließlich kann als zumindest nicht negativ verändert angegeben werden. Im Übrigen räumt der Militärgerichtshof endgültig mit der Ansicht auf, dass der sich auf Verteidigung berufende Staat eine Einschätzungsprärogative der Situation 270

AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (206). Zit. nach AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (206). 272 Bowett, Self-Defense, S. 142 f.; Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 117. 273 Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 166 f., bewertet den dem Prozess zu Grunde liegenden Sachverhalt zwar zu Recht nicht als Selbstverteidigungslage, schließt allerdings daraus und aus seinem restriktiven Verständnis von Selbstverteidigung – gegen den Wortlaut des Urteils – kaum überzeugend auf eine allgemeine Irrelevanz des Urteils im Hinblick auf Selbst­ verteidigung und gelangt deshalb zu einem gegenteiligen Ergebnis. 274 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (208 f.); hierauf Bezug nehmend Brownlie, Use of Force, S. 311. 275 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (213); hierauf Bezug nehmend Brownlie, Use of Force, S. 258; Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (61). 271

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

habe276 und festigte damit endgültig die Unvertretbarkeit dieser Ansicht seit der japanischen Invasion in die Mandschurei277. b) Tokio Ähnlich wie das Nürnberger Tribunal für Europa befasste sich der internationale Militärgerichtshof für den Fernen Osten in Tokio mit den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges im asiatischen Raum, vor allem in Bezug auf Japan278. Das Gericht listet in seinem Urteil zunächst die für seine Entscheidungsfindung relevanten Völkerrechtsquellen auf und interpretiert sie. Dabei geht es u. a. auf den Briand-Kellogg-Pakt ein, aus welchem es die für seine Rechtsfindung entscheidenden Überlegungen zum Selbstverteidigungsrecht zieht: „Any law, international or municipal, which prohibits recourse to force, is necessarily limited to the right of self-defense. The right of self-defense involves the right of the State threatened with impending attack to judge for itself in the first instance whether it is justified in resorting to force. (…) the right of self-defense does not confer upon the State resorting to war the authority to make  a final determination upon the justification for its action.“279

Neben der Feststellung des inzwischen anerkannten Prinzips, dass der sich auf Selbstverteidigung berufende Staat zwar das faktische Vorhandensein einer Selbstverteidigungslage selbst ermitteln darf, dabei aber keine rechtliche Einschätzungsprärogative besitzt, bekennt sich diese Interpretation klar zum Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung. Wer mit einem bevorstehenden Angriff bedroht wird, darf sich hiergegen gewaltsam wehren. Diese Darstellung gibt den Inhalt der absoluten Imminenztheorie wieder, wie sie in dieser Zeit auch anerkanntes Völkergewohnheitsrecht war280. Zudem lässt die Formulierung „to judge for itself in the first instance“ auch Raum für eine wahrscheinlichkeitsorientierte Betrachtungsweise: Wer zunächst (d. h. angesichts der sich ihm bietenden Faktenlage) über eine vorbeugende Gewaltanwendung entscheiden darf, muss so nicht notwendigerweise nur auf Grund eines sicher eintretenden Schadens handeln; ein Rekurs zur Gewaltanwendung durch einen bloß „threatened“ Staat ist dem Wortlaut nach auch möglich, wenn sich aus dem konkreten Zusammenhang „in the first instance“ bereits ein zukünf 276 AJIL 41 (1947), S. 172 ff. (207); ebenso Blumenwitz, PolS 391 (Sept./Okt. 2003), S. 21 ff. (25); Kunde, Präventivkrieg, S. 147. 277 s. o. 6. Kap. D. X. 278 s.  dazu die umfassende Dokumentensammlung von Boister/Cryer, Documents on the ­Tokyo Tribunal, passim. 279 Zit. nach Boister/Cryer, Documents on the Tokyo Tribunal, Majority Judgment, Rn. 48.495 (S. 103); ebenso die gekürzte Fassung in Friedmann, Law of War, S. 1044. 280 Kittrich, Self-Defense, S. 156.

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tiger Schaden (mittels Indikation) deutlich abzeichnet, ohne letztlich sicher eintreten zu müssen. Damit kann die Interpretation des Militärgerichtshofs – einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang vorausgesetzt – auch im Sinne der Indikationstheorie verstanden werden. Jedenfalls spricht sie sich nicht gegen diese damals anerkannte These aus, sondern möchte lediglich das geltende Völkergewohnheitsrecht wiedergeben. Darüber hinaus geht das Urteil in der Sache selbst auf vorbeugende Selbst­ verteidigung ein. Die Verteidigung der japanischen Angeklagten argumentierte u. a. gegen den Vorwurf des Angriffskrieges gegenüber den Niederlanden (konkret: gegen die niederländischen Überseegebiete) im Winter 1941, dass es sich lediglich um Verteidigung gehandelt hätte; die Niederlande hätten nämlich – was zutrifft – ihrerseits zuvor Japan den Krieg erklärt. Darauf ließ sich das Gericht jedoch nicht ein, sondern wertete die niederländische Kriegserklärung und die ihr folgenden Gewalthandlungen als vorbeugende Selbstverteidigung: „In these circumstances we find in fact that orders declaring the existence of a state of war and for the execution of a war of aggression by Japan against the Netherlands were in effect from the early morning of 7th December 1941. The fact that the Netherlands, being fully apprised of the imminence of the attack, in self-defence declared war against Japan on 8th December and thus officially recognised the existence of a state of war which had been begun by Japan cannot change that war from a war of aggression on the part of Japan into something other than that.“281

Zunächst ist bei diesem Urteilsspruch eine im Vergleich zu Nürnberg umgekehrte Ausgangslage festzustellen. Nicht nur die Verteidigung bezieht sich auf ihr (in der Sache dann nicht erfülltes) Selbstverteidigungsrecht, sondern dem Opfer wird dieses Recht schon vorher zugestanden. Bemerkenswert ist dabei, dass der Militärgerichtshof dieses vorbeugende Selbstverteidigungsrecht der Niederlande selbst prüft und bejaht, während es in Nürnberg zu einer solchen Prüfung erst dann kam, als sich die Verteidigung hierauf berief. Die Tokioter Prüfung ex oficio zeigt also, wie sehr vorbeugende Selbstverteidigung zum Zeitpunkt des Prozesses institutionell gefestigt war282. Auch inhaltlich sind die Ausführungen des Gerichts für die Rechtsermittlung verwertbar. Es wird konstatiert, dass baldige Angriffshandlungen Japans gegen niederländische Gebiete bereits feststanden und deshalb ein niederländisches Einschreiten hiergegen legal war. Ohne sie direkt zu benennen, bestätigt das Gericht einmal mehr die Vorgaben der Webster-Formel im Sinne der absoluten Imminenztheorie283.

281 Zit. nach Boister/Cryer, Documents on the Tokyo Tribunal, Majority Judgment, Rn. 49.586 (S. 529). 282 Skeptisch hingegen Brownlie, Use of Force, S. 258. 283 Bowett, Self-Defense, S.  144; Kunde, Präventivkrieg, S.  148; Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (358).

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6. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung vor Gründung der VN

Darüber hinaus werden keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen, sodass zu den weiteren Theorien keine Erkenntnisse geliefert werden. Es dürfte sich allerdings aus dem Gesamtkontext des Urteils und der Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges ergeben, dass das anerkannte Völkergewohnheitsrecht – und damit auch die Indikationstheorie – durch den Urteilsspruch bestätigt werden sollte. Unterstellt man zudem, dass die Niederlande selbst von einem bereits feststehenden Angriff durch Japan nichts wussten, sondern ihn angesichts der gegenwärtigen Faktenlage – insbesondere dem verheerenden japanischen Angriff auf Pearl Harbor nur einen Tag zuvor – als bevorstehend indiziert betrachteten und von seinem baldigen Eintritt überzeugt waren284, wären sie gleichwohl nach dem Urteilsspruch des Gerichts gerechtfertigt gewesen285. Insgesamt bestätigte somit auch der Tokioter Militärgerichtshof den bereits in Nürnberg dargelegten Status rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung – [F1] – sowohl nach der absoluten Imminenztheorie als auch nach der Indikationstheorie – [F2].

E. Fazit: Der völkerrechtliche Besitzstand bis 1945 Die Ermittlung des völkerrechtlichen Besitzstandes zu vorbeugender Selbstverteidigung vor Gründung der Vereinten Nationen ergab folgende Erkenntnisse: [F1] ist durchgehend zu bejahen, vorbeugende Selbstverteidigung galt als grundsätzlich rechtmäßig. Für die Beantwortung von [F2] ist zu konstatieren: Die Indikationstheorie beschrieb nach dem aus der Vertragspraxis abzuleitenden Völkergewohnheitsrecht sowie nach einigen Anwendungsfällen von Rechtsüberzeugung getragener Staatenpraxis den zulässigen Umfang vorbeugender Selbstverteidigung auf Ebene der wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien. Sie kam insbesondere dann zur Anwendung, wenn bereits Gewalthandlungen in grenznahen Gebieten stattfanden oder hinreichend klare, sich (noch) nicht zum Schadenserfolg verdichtete gewaltsame Vorbereitungs- und Versuchshandlungen zu erkennen waren. In den übrigen Anwendungsfällen, in welchen der Inhalt der Indikationstheorie nicht erwähnt wurde, war zumindest auch keine ablehnende Rechtsüberzeugung zu verzeichnen. Somit galt die Indikationstheorie insgesamt als taugliche Beschreibung rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung. Alternativ tritt von den zeitpunktorientierten Theorien jedenfalls die absolute Imminenztheorie hinzu. Ihr konsensfähiger Inhalt war in der analysierten Staatenpraxis und der sie tragenden Rechtsüberzeugung vorwiegend anzutreffen. Besonders gilt dies für die Aufarbeitung des Caroline-Vorfalls als daher zu Recht 284

Hierauf kommt es dann insb. nach Kunde, Präventivkrieg, S. 148, an. So versteht dies auch Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (146). 285

E. Fazit: Der völkerrechtliche Besitzstand bis 1945

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so bezeichneten locus classicus des Selbstverteidigungsrechts286, dessen Webster-Formel sich als maßgebliches Kriterium zur Ermittlung rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung etabliert hatte. Seither wurde er teils unter mit Inbrunst getragener Rechtsüberzeugung zur Beschreibung der zulässigen Umstände vorbeugender Selbstverteidigungslagen zitiert, sodass die durch ihn definierte absolute Imminenztheorie, noch hervorstechender als die Indikationstheorie, ebenfalls die Voraussetzungen rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung auf zeitpunktorientierter Ebene manifestierte287. Schließlich war ein  – sehr früher  – Anwendungsfall im Jahre 1807 zu registrieren, welcher inhaltlich der relativen Imminenztheorie zuzuordnen ist. Im weiteren historischen Verlauf ereigneten sich jedoch schlicht keine weiteren Vorfälle, zu welchen eine derartige Argumentation hätte geführt werden können oder wollen; gleichzeitig kam es aber auch nicht zu ablehnender Rechtsüberzeugung hinsichtlich der relativen Imminenztheorie. Der Caroline-Vorfall zielt zwar auf das vordergründig zeitpunktorientierte Tatbestandsmerkmal der Imminenz ab, differenziert aber inhaltlich nicht zwischen den Abstufungen „absolut“ und „relativ“. Lediglich die inhaltlichen Aussagen der ihm zu Grunde liegenden Korrespondenz lassen ihn nach modernen Maßstäben als Anwendungsfall der absoluten Imminenztheorie erscheinen, ohne jedoch eine relative Komponente auszuschließen. Mangels weiterer Anhaltspunkte ist es letztlich für den gegebenen Untersuchungszeitraum nicht möglich, ein gefestigtes Gewohnheitsrecht nach der relativen Imminenztheorie zu erkennen, zugleich kann aber ihr expliziter Ausschluss auch nicht konstatiert werden. Daher beschrieb die absolute Imminenztheorie bei Gründung der Vereinten Nationen zwar kein gesichertes Völkergewohnheitsrecht, ihrer Entwicklung zu solchem durch schlichte weitere von Rechtsüberzeugung getragene Staatenpraxis steht aber angesichts der bisherigen weitgehend indifferenten bis wohlwollenden Einstellung ihr gegenüber nichts entgegen. Anders ist die Latenztheorie zu bewerten. Wenn ihre inhaltlichen Voraussetzungen angesprochen wurden, dann geschah dies ablehnend als negative Abgrenzung zu noch zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung. Es kann daher von einer gefestigten ablehnenden Rechtsüberzeugung hinsichtlich der Latenztheorie ausgegangen werden. Damit galt jedenfalls bis zum Gründungstag der Vereinten Nationen vorbeugende Selbstverteidigung alternativ unter den Voraussetzungen der Indikationstheorie wie auch unter solchen der absoluten Imminenztheorie nach dem Völkergewohnheitsrecht als rechtmäßig.

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s. o. Fn. 184 in diesem Kap. s.  auch z. B. Bradford, NDLR 79 (2004), S.  1365 ff. (1381 f.); Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (657).

287

7. Kapitel

Vorbeugende Selbstverteidigung im mehrsprachigen Kontext von Art. 51 SVN A. Überblick über das aktuelle Völkervertragsrecht Nach den soeben gewonnenen Erkenntnissen aus der letzten Völkerrechts­ epoche ohne allgemeines Gewaltverbot gilt es nun der Rangfolge der Rechtsquellen folgend auf das aktuelle Vertragsrecht einzugehen. Die Vertragsanalyse knüpft an kurze Feststellungen zum ihr zu Grunde liegenden methodischen Ansatz an. Der seit 1945 und bis heute mit Abstand wichtigste und höchstrangige völkerrechtliche Vertrag ist die SVN, deren universelle Geltung als law-making treaty unbestritten ist und die zuweilen sogar als „Verfassung der internationalen Gemeinschaft“ bezeichnet wird1. Es versteht sich von selbst, dass bei der Analyse des aktuellen Vertragsrechts hauptsächlich der Regelungsinhalt des  – mehrsprachigen! – Art. 51 SVN auszuwerten ist. Auf Grund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Gewaltverbot und Selbstverteidigung soll aber vorangehend Art. 2 (4) SVN als Verbriefung des Gewaltverbots nicht unbeachtet bleiben. Komplettiert wird die Vertragsanalyse schließlich zuletzt noch mit der kurzen Untersuchung weiterer gültiger Vertragstexte zum Selbstverteidigungsrecht. I. Methodischer Ansatz der Vertragsanalyse Vor der eigentlichen Analyse der relevanten Vertragstexte soll kurz auf den dabei zu Grunde zu legenden methodischen Ansatz eingegangen werden. Bereits das eingangs dieser Arbeit festgelegte Primat des Völkerrechts gegenüber politisch geprägten Erwägungen erfordert ein nach rein rechtlichen Auslegungsvorgaben angelegtes Vorgehen2. Dabei werden die vertrags- und gewohnheitsrechtlich an­ erkannten Auslegungsregeln bemüht, welche grundsätzlich objektiv an den Text des jeweils auszulegenden Vertragsteils anknüpfen. Vom Grundsatz dieses jeweils zu Grunde liegenden Textes werden dann die Auslegungsmittel der juristischen Methodenlehre im Sinne des Völkerrechts angewandt. Diese textorientierte Auslegung entspricht auch dem heute nahezu unbestrittenen völkerrechtlichen Duktus3. Andere Auslegungsmethoden wurden zwar gele

1



2



Bernhardt, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 103, Rn. 37. s. o. 1. Kap. B. II. 3 s. nur instruktiv und ausführlich Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 34 ff.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

289

gentlich anzuwenden versucht, vermochten sich jedoch gerade angesichts ihrer von Unsicherheit geprägten Ergebnisse und ihres rechtlichen Defizits nicht durchzusetzen4. Die textorientierte Auslegung wird zunächst ein Ergebnis für den Zeitraum des In-Kraft-Tretens der jeweiligen Vertragsbestimmung liefern. Erst in einem weiteren Schritt wird auch auf die Auswirkungen der nachfolgenden Praxis einzugehen sein, welche als solche vor allem sowohl auslegungsrelevant für den heutigen Status des zu analysierenden Vertragsrechts als auch für die Beurteilung des nunmehr gültigen Gewohnheitsrechts sein kann. Im Sinne der hier bevorzugten systematisch-chronologischen Vorgehensweise ist auf diese Aspekte nach Abschluss der Vertragsanalyse zum Gründungszeitpunkt der Vereinten Nationen einzugehen5. II. Insbesondere Art. 2 (4) SVN Wie bereits ausführlich dargestellt, ist Art. 2 (4) SVN die Kernbestimmung des auf dem Grundsatz allgemeinen Gewaltverbots beruhenden modernen Völkerrechts6. Eine umfangreiche Analyse fand aus systematischen Gründen bereits an früherer Stelle dieser Arbeit statt und soll deshalb hier nicht wiederholt werden. Daher soll an dieser Stelle lediglich ins Bewusstsein gerufen werden, dass Art. 2 (4) SVN als Grundsatznorm das logische Fundament für die zu analysierende Ausnahmeregelung von Art. 51 SVN ist und sich folglich eine isolierte Betrachtung von Art. 51 SVN verbietet.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN Auslegung und Analyse von Art.  51 SVN verlaufen in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten. Zunächst gilt es kurz die Auslegungsregelungen für den Vertragstext der SVN im Sinne der WVK klarzustellen. Danach werden die autoritativen Sprachfassungen der SVN gegenübergestellt und miteinander ver­ glichen. Die sich aus diesem Vergleich ergebenden und für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung relevanten Schlüsselbegriffe werden sodann nach den allgemeinen Regeln ausgelegt. In einem letzten Schritt schließlich wird auf den Umgang mit solchen Unklarheiten einzugehen sein, welche sich auch nach abgeschlossener Auslegung nicht ausräumen lassen. 4 Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S.  29 ff., nennt und analysiert ablehnend in diesem Zusammenhang einen „radikal-induktiven Ansatz“, eine „Arbeit mit ‚­second-order-levels of legal inquiry‘“ sowie die „These von der Inadäquanz der objektiven Aus­legung“. 5 s. u. 8. Kap. B. 6 s.  zum Wortlaut von Art.  2  (4) SVN sowie der daran anknüpfenden Analyse bereits o. 3. Kap. B. I. 1. b).

290

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

I. Vertragstext der SVN und Regelungen der WVK Der Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen richtet sich unter dem vorherrschenden textorientierten Ansatz grundsätzlich nach den Bestimmungen der WVK. Für die an dieser Stelle relevante Auslegung einzelner Vertragsvorschriften sind Artt. 31 ff. WVK von Bedeutung7. Dabei normieren Art. 31 WVK die primären Auslegungsregeln und Art.  32 WVK die ergänzenden Auslegungsregeln, falls Art. 31 WVK zu keinem eindeutigen Ergebnis führen sollte8. Auf mehrsprachige Verträge findet zudem Art.  33 WVK Anwendung, worauf sogleich einzugehen sein wird. Die primär geregelten Auslegungsaspekte sind nach Art. 31 (1) WVK der Wortlaut (nach der bereits erwähnten ordinary meaning rule)9, Ziel und Zweck10 sowie Systematik11 des Vertragstextes. Die Bedeutung von Systematik wird in Art. 31 (2) WVK auch auf außervertragliche Aspekte hin erweiternd konkretisiert12. Hinzu treten davon unabhängige außervertragliche Aspekte i. S. v. Art. 31 (3) WVK, nämlich spätere Übereinkünfte, Staatenpraxis und Völkerrechtssätze13. Eine Hierarchie zwischen den primären Auslegungsregeln existiert nicht14. Dagegen kann auf sekundäre, insbesondere entstehungsgeschichtliche Aspekte gem. Art. 32 WVK, nur ergänzend15 eingegangen werden16. Da die SVN ein Gründungsvertrag einer internationalen Organisation ist, findet die WVK auf sie grundsätzlich gem. Art. 5 WVK ausdrücklich unmittelbare Anwendung17. Jedoch datiert die SVN auf den 26. Juni 1945, während die WVK erst

7

Dazu umfassend Köck, Vertragsinterpretation, passim; Villiger, VCLT, Artt. 31 f., jeweils Rn.  1 ff.; vgl. auch Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S.  288 ff., sowie Zoller, ASIL Proc. 98 (2004), S. 333 ff. (335). 8 Köck, Vertragsinterpretation, S. 83 ff.; Villiger, VCLT, Art. 32, Rn. 7 ff. 9 Köck, Vertragsinterpretation, S. 86; Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 9. 10 Köck, Vertragsinterpretation, S.  88; Villiger, VCLT, Art.  31, Rn.  11 ff.; Ziel und Zweck sind dabei nicht als zwei getrennte Elemente eines Auslegungsaspektes, sondern als Einheit zu betrachten, Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 291 f., m. w. N. 11 Köck, Vertragsinterpretation, S. 89; Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 10. 12 So ist schon Köck, Vertragsinterpretation, S. 89 ff., zu verstehen; vgl. ferner auch Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 292, sowie Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 17 ff. 13 Im Falle von Art. 51 SVN ist mangels anderer Anwendungsfälle nur die spätere Praxis gem. Art. 31 (3) lit. b WVK relevant, s. dazu u. 8. Kap. 14 Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 29. 15 Zur Kritik an einer historisierenden Auslegung besonders bei multilateralen Verträgen mit offener Mitgliedschaft  – wie die SVN  – überzeugend Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 139 ff.; vgl. i. Ü. Köck, Vertragsinterpretation, S. 92 ff.; Villiger, VCLT, Art. 32, Rn. 3 ff. 16 Angesichts dessen erfolgt Kühns, Präventive Gewaltanwendung, S. 316 ff. – zumal als relevant erachtete – genetische Analyse von Art. 51 SVN voreilig. Gleiches gilt – obwohl lesenswert – für Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 60 ff. 17 Dies gilt ebenso für den nahezu gleichlautenden Art. 5 des noch nicht in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen oder zwischen internationalen Organisationen von 1986. Auf dieses soll aber als reine Bekräftigung des hier Festgestellten ohne eigenständige Bedeutung nicht weiter eingegangen werden. Unklar bleibt, warum lediglich McCormack, Self-Defense, S. 146, letztere Konvention für die SVN als primär anwendbar betrachtet.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

291

am 23. Mai 1969 verabschiedet wurde. Gem. Art. 4 WVK kann sie aber auf keine zuvor geschlossenen Verträge angewendet werden und bindet darüber hinaus nur solche Staaten, welche die WVK ihrerseits ratifiziert haben. Die WVK besitzt damit keine universelle und rückwirkende Gültigkeit und vermag deshalb als Vertrag allein keine allgemein gültigen Auslegungsregeln für die SVN zu formulieren. Unabhängig davon gelten aber unbestrittenermaßen und auch nach ständiger Rechtsprechung des IGH18 zumindest die für die Interpretation von Art. 51 SVN maßgeblichen Inhalte der Artt. 31 bis 33 WVK zugleich als inzwischen19 universelles Völkergewohnheitsrecht20. Da sich diese gewohnheitsrechtlichen Regelungen im Text der WVK nunmehr kodifiziert wiederfinden21, soll in dieser Arbeit der Einfachheit halber auch weiterhin auf den Text der WVK Bezug genommen werden. Wird die WVK dabei der besseren Übersicht halber im Rahmen der Analyse der SVN angeführt, so ist dies als Rekurs auf das entsprechende Völker­ gewohnheitsrecht zu verstehen. II. Die fünf autoritativen Sprachfassungen der SVN Da es sich bei der SVN um einen mehrsprachigen Vertrag i. S. v. Art.  33  (1) WVK handelt, müssen vor der eigentlichen Auslegung nach Artt. 31 f. WVK die Besonderheiten für Vertragstexte mit zwei oder mehr autoritativen Sprachen gem. Art. 33 WVK beachtet werden22. Zwar ist umstritten, ob Art. 33 WVK grundsätzlich einen anfänglichen Textvergleich aller autoritativen Sprachfassungen eines Vertrags erfordert oder dies doch erst situativ bei sich abzeichnenden textlichen Divergenzen geschehen soll23. Im für diese Arbeit relevanten Kontext vorbeu

18

Vgl. Aufzählung bei Ress, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Interpretation, Rn.  8, m. w. N. 19 Dies prognostizierte bereits Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 ff. (55). 20 Boyle/Chinkin, The Making of Int’l. Law, S. 191; Brownlie, Principles, S. 608; Graf Vitz­ thum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn., Rn. 123 (S. 56), m. w. N.; Hobe, Einführung, S. 215; Ress, Verfassung und vör. Vertragsrecht, in: FS-Doehring, S. 803 ff. (852). Dafür sprachen zudem schon die letztlich eindeutigen Positionen auf der Wiener Konferenz zur Kodifikation des völkerrechtlichen Vertragsrechts, vgl. Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 ff. (27 ff.). Für die Bundesrepublik Deutschland bestätigte dies bereits bald darauf das BVerfG inzident in seinem Beschluss zu den Ostverträgen vom 7. Juli 1975 (BverfGE 40, S. 141–179), indem es die Anwendung der Auslegungsregelungen der WVK generell als selbstverständlich annahm (ibid., S. 167), obwohl die WVK in Deutschland erst am 20. August 1987 in Kraft trat (vgl. BGBl. 1987 II, S. 757). 21 Zur Kodifikation von Völkergewohnheitsrecht durch die WVK ausführlich und instruktiv Villiger, VCLT, Issues, Rn. 52 ff. 22 Dieses Erfordernis bleibt weitgehend unbeachtet; es beschäftigt sich damit überhaupt (soweit ersichtlich) einzig und nur ansatzweise Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 40 ff. 23 Zum Meinungsstreit ausführlicher Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 73 ff., sowie Shelton, HastingsICLR 20 (1996/97), S.  611 ff. Zur frühestmöglichen Ausräumung von Missverständnissen dürfte allerdings ein obligatorischer anfänglicher intratextueller Vergleich

292

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

gender Selbstverteidigung haben sich aber schon unabhängig von einer konkreten Betrachtung des Art. 51 SVN allein schon im allgemeinen Sprachgebrauch – und selbst dabei nur des Deutschen und des Englischen – unverhältnismäßig viele begriffliche Unklarheiten aufgetan24. Angesichts dessen ist zur Schärfung des begrifflichen Zerrbildes unabhängig vom jeweiligen Streitstand zur generellen Anwendung von Art. 33 WVK ein Vergleich aller autoritativen Sprachfassungen des Art. 51 SVN in concreto angezeigt. 1. Grundlagen eines Textvergleichs

Wie in dieser Arbeit bereits kurz angeschnitten wurde25, sind gem. Art. 111 SVN die autoritativen und damit gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen26 der SVN die chinesische, französische, russische, englische und spanische. Von den autoritativen Sprachfassungen der SVN sind die sog. Arbeitssprachen verschiedener Konferenzen und Organe der Vereinten Nationen zu unter­scheiden27, welche unabhängig von den Vorgaben des Art. 111 SVN bestehen28. Einerseits genügt es daher nicht, zur Interpretation nur die englische und französische Sprachfassung der SVN heranzuziehen, auch wenn nur dies die Arbeitssprachen der VN-Gründungskonferenz von San Francisco waren29. Andererseits ist die zusätzliche Interpretation der arabischen Sprachfassung der SVN bedeutungslos, auch wenn Arabisch heute neben den fünf autoritativen Sprachen der SVN die sechste offizielle Arbeitssprache der VN-Generalversammlung ist30. aller autoritativen Sprachfassungen die sachgerechtere Lösung sein, so auch Kuner, ICLQ 40 (1991), S. 953 ff. (962 ff.). Diesen Gedankengang bestätigt Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 306, analog für einen intertextuellen Vergleich zur Koordinierung mehrerer Verträge. 24 s. o. 2. Kap. B. 25 Zu den autoritativen Fassungen s. o. Fn. 31 im 3. Kap. 26 Zur Verwendung der hier als neutral eingestuften Bezeichnung „Sprachfassung“ s. o. Fn. 33 im 3. Kap. 27 Dies gilt jedenfalls für die SVN, allerdings wird in neueren Verträgen zunehmend auf eine Unterscheidung zwischen offiziellen (d. h. für den Vertrag autoritativen) Sprachen und Arbeitssprachen mit der Folge verzichtet, dass auch Arbeitssprachen eine autoritative Sprachfassung hervorbringen können, vgl. Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 39. 28 Würde man nur die Arbeitssprache der Entstehung eines Vertrags als autoritative Ur­ sprache heranziehen, wäre dies die Bezugnahme auf einen Sonderfall der travaux préparatoires, welche aber gem. Art. 32 WVK gerade nur subsidiär zur Auslegung heranzuziehen sind, Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 273 ff. (289). Gleiches gilt für jeden nicht von allen Vertragsparteien unterzeichneten Urtext als Vorläufer der in Kraft getretenen mehrsprachigen Vertragstexte, Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 92. 29 Hilf, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art.  111, Rn.  5; Ress, ibid., Interpretation, Rn. 16; Jacque, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 111, S. 2234; Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 71. 30 Hilf, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 111, Rn. 11; Jacque, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 111, S. 2234. In neueren Abkommen hat sich hingegen das Arabische inzwischen ebenso etabliert, s. Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 305.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

293

Aus der Vorgabe, dass jede Sprachfassung ohne jede Einschränkung als maßgeblich gilt, ergibt sich bei der Auslegung auch von Art. 51 SVN nach der heute herrschenden sog. „Lehre der untrennbaren Einheit“ der Grundsatz des einheitlichen Sinnes31. Daran ist auch die Vermutung von Art. 33 (3) WVK zu messen, nämlich in der Form, dass den entsprechenden Begriffen in jeder autoritativen Sprachfassung dieselbe Bedeutung widerlegbar32 unterstellt wird33: The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authentic text.

Diese Vermutung schließt jedoch keinen interlingualen Textvergleich aus34, sondern gibt lediglich den Grundsatz einer sinngemäß einheitlichen Auslegung vor – soweit dies möglich ist. Daher gilt es die Vermutung regelmäßig auf ihre konkrete Bestätigung hin zu untersuchen. Erst recht gilt dies, weil sich Divergenzen in den verschiedenen Sprachfassungen – und besonders bei solchen aus unterschiedlichsten Sprach- und Kulturräumen wie es bei den verschiedenen autoritativen Versionen der SVN der Fall ist – aus der Natur der sprachlichen Vielfalt heraus niemals vermeiden lassen35. Tatsächlich kann also zumindest für die Frage vorbeugender Selbstverteidigung von einer begrifflichen Übereinstimmung auch innerhalb der SVN schon im Grundsatz keineswegs ausgegangen werden36; nur geringe Abweichungen, welche sich sinnerhaltend gegenseitig übersetzen lassen, sind hingegen i. S. v. Art. 33 (3) WVK als bedeutungsgleich zu werten, wenn nicht zwingende Gründe dagegen sprechen37. Vor Anwendung der aus Artt.  31 f. WVK folgenden Interpretationsregeln ist daher jede autoritative Version von Art. 51 SVN auf

31 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 70 ff.; Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 273 ff. (282 f.); Ress, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm, ICJ, Interpretation, Rn. 15. 32 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 73. 33 Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 273 ff. (300). 34 Zwar konnte sich die ILC beim Entwurf der WVK nicht dazu durchringen, grundsätzlich einen Sprachenvergleich vor jeder Interpretation anzuordnen (vgl. ILC, YBILC 1966 Vol. I/2, S. 1 ff., insb. S. 209 ff.; i. Ü. Villiger, VCLT, Art. 33, Rn. 8), jedoch wirkt sich die stattdessen verabschiedete Lösung nur auf den prima-facie-Beweis der Einheitlichkeit aus. Die bloße Tatsache, dass ein Sprachenvergleich nicht explizit angeordnet ist, lässt nicht die Schlussfolgerung seiner Verzichtbarkeit zu. Das Unterlassen eines Sprachenvergleichs birgt nämlich stets die Gefahr, bei einer konkreten Widerlegbarkeit der Vermutung zu einer ungenauen und unvollständigen Auslegung zu gelangen. Es ist daher unabhängig von der Ausgangsvermutung angezeigt, jede autoritative Sprachfassung zumindest nicht zu ignorieren. 35 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S.  20 ff.; mit instruktiven Beispielen Shelton, HastingsICLR 20 (1996/97), S. 611 ff. (618 ff.); ebenso für das IStGH-Statut Fronza/Malarino, ZStW 118 (2006), S. 927 ff. (932). Umso mehr gilt dies für die SVN angesichts ihrer zu unterschiedlichen Zeitpunkten (vgl. auch sogleich u. Fn. 40 in diesem Kap.) erstellten Sprachfassungen, Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 192. 36 Überzeugend für ein generelles Vergleichserfordernis hinsichtlich aller autoritativer Sprachfassungen an Beispielen des IStGH-Statuts Fronza/Malarino, ZStW 118 (2006), S.  927 ff. (935 ff.). 37 Geringe Abweichungen sind etwa dann zu verzeichnen, wenn sich die jeweiligen Begriffe verschiedener Sprachfassungen in jeweils kongruenten Synonymfeldern wiederfinden, s. dazu genauer u. 7. Kap. B. II. 3 sowie Abbildung 10.

294

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

e­ twaige Textabweichungen vergleichend zu untersuchen38. Dies entspricht bereits einer für mehrsprachige Texte notwendigerweise vorgelagerten Interpretationsanalyse, da jede Übersetzung39 – wie sie bei mehrsprachigen Verträgen üblicherweise vollzogen wird40 – stets auch Auslegung bedeutet41. Sodann gelten die Vorgaben von Art. 33 (4) WVK: (…) when a comparison of the authentic texts discloses a difference of meaning which the application of articles 31 and 32 does not remove, the meaning which best reconciles the texts, having regard to the object and purpose of the treaty, shall be adopted.

Findet sich also beim Vergleich der Sprachfassungen ein wesentlicher Bedeutungsunterschied bestimmter Begriffe, ist dieser gem. Art. 33 (4) WVK zunächst im Rahmen der üblichen Interpretationsregeln nach Artt. 31 f. WVK in eine einzige einheitliche Bedeutung interpretatorisch anzupassen42. Gelingt dies nicht oder nicht eindeutig, gilt diejenige Bedeutung als maßgeblich, welche – gleichsam qualifiziert teleologisch43 – nach Ziel und Zweck des Vertrags die einzelnen Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Der teleologischen Auslegung kommt folglich beim Vergleich divergierender Sprachfassungen eine besondere Rolle zu44. 2. Vergleich der autoritativen Sprachfassungen

Zunächst sind also die für die Beantwortung der Frage vorbeugender Selbst­ verteidigung in Betracht kommenden Schlüsselbegriffe der verschiedenen autoritativen Sprachfassungen aus den einzelnen Texten zu extrahieren und zu ver­ 38 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 85; vgl. auch die instruktive Darstellung von Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 177. 39 Zur Praxis des Erstellens und Übersetzens verschiedener autoritativer Sprachfassungen unterschiedlicher völkerrechtlicher Verträge anschaulich und ausführlich Shelton, HastingsICLR 20 (1996/97), S. 611 ff. (623 ff.). 40 Der Text der SVN wurde während der VN-Entstehungskonferenz von San Francisco ­parallel in den Arbeitssprachen Englisch und Französisch verfasst, erst danach wurden die chinesische, russische und spanische Version aus der englischen übersetzt, s. Goodrich/Hambro/Simons, Charter (3. Aufl.), S. 651, sowie jeweils m. w. N. Rosenne, Meaning of „Authentic Text“, in: FS-Mosler, S. 759 ff. (762, dort Fn. 11); Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 38 f., 191. 41 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 22. 42 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 86; Villiger, VCLT, Art. 33, Rn. 10; s. auch instruktiv Fronza/Malarino, ZStW 118 (2006), S. 927 ff. (941 ff.); Shelton, HastingsICLR 20 (1996/97), S. 611 ff. (635). 43 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 101 f., sieht in dieser Bestimmung einen gewissen Widerspruch, weil sie u. a. erst nach Scheitern der in Art. 31 (1) WVK angeordneten teleologischen Auslegung zur Anwendung kommen und zu einer Lösung führen soll. Jedoch ist der teleologische Ansatz in Art. 33 (4) WVK schon seinem Wortlaut nach („reconcile“ statt „interpret“) nur ein Hilfsmittel der primären Anordnung, divergierende Sprachfassungen miteinander in Einklang zu bringen, und nicht etwa als eine unmittelbare Auslegungsregel wie in Art. 33 (1) WVK formuliert. Vgl. dazu auch Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 176 f. 44 Villiger, VCLT, Art. 33, Rn. 11 f.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

295

gleichen. Dazu wird nun jede autoritative Version von Art. 51 SVN herangezogen, wobei entgegen der Reihenfolge der SVN aus systematisch-analytischen Gründen mit den europäischen Sprachen begonnen und danach auf Russisch sowie Chinesisch eingegangen wird45. a) Englisch Die englische Sprachfassung lautet: Nothing in the present Charter shall impair the inherent right of individual or collective selfdefence if an armed attack occurs against a Member of the United Nations, until the Security Council has taken measures necessary to maintain international peace and security. Measures taken by Members in the exercise of this right of self-defence shall be immediately reported to the Security Council and shall not in any way affect the authority and responsibility of the Security Council under the present Charter to take at any time such action as it deems necessary in order to maintain or restore international peace and security.46

Kernbegriff ist hierbei – thematisch selbsterklärend – das Wort „self-defence“ als Bezeichnung des beschriebenen Rechtsinstituts, wovon im Übrigen in jeder Sprachfassung auszugehen ist. Dabei handelt es sich um ein „inherent right“, welches durch nichts in der SVN verhindert werden darf („nothing (…) shall impair“). Als „innewohnendes und uneingeschränktes Recht“ könnte es so zu verstehen sein, dass ein möglicher vor Gründung der Vereinten Nationen geltender völkerrechtlicher Besitzstand zum Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung von Art. 51 SVN umfasst ist. Geknüpft ist Selbstverteidigung dann an den Auslöservorbehalt „if an armed attack occurs“; damit muss also die Anwendbarkeit des Rechts trotz grundsätz­ licher Geltung unter dem Vorbehalt eines speziellen Anknüpfungspunktes als Auslöser geprüft und positiv festgestellt werden. Da diese Wendung auf zeit­liche Gesichtspunkte abstellt, ist ihre Interpretation ebenfalls für die Frage nach der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung relevant. Zudem gilt es im Rahmen der folgenden Auslegung für alle Sprachfassungen zu klären, ob sich die hier als Auslöservorbehalt gekennzeichneten Schlüsselbegriffe auf das Selbstverteidigungsrecht selbst oder doch auf die Aussagen zu seiner grundsätzlichen Geltung beziehen47.

45

Die folgenden Ausführungen zur russischen und chinesischen Sprachfassung (die übrigen authentischen Sprachen der SVN beherrscht der Verf. selbst) beruhen auf einem dem Verf. vorliegenden Übersetzungsgutachten von Diplomsprachmittler für Chinesisch und Russisch (BDÜ) Jörg Hellwig (http://www.ktc-translations.de), dem an dieser Stelle ein herzlicher Dank für seine große Hilfe gebührt. Das gleiche gilt für die hier vorzufindenden Bemerkungen zur Methodik des Übersetzens. 46 Hervorh.  v. Verf.; englische Sprachfassung online abrufbar unter http://www.un.org/en/ documents/charter/chapter7.shtml. 47 s. u. 7. Kap. B. III. 2. a) bb).

296

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Alle weiteren Aussagen beziehen sich nicht auf das Wesen des Selbstverteidigungsrechts  – also vor allem die Umstände des Anknüpfungspunktes  –, sondern befassen sich mit der hier irrelevanten Unterscheidung von individueller und kollektiver Selbstverteidigung sowie mit der weiteren Entwicklung der Selbstverteidigungshandlung im Rahmen einer zunächst bestehenden Selbstverteidigungslage. Von Bedeutung sind folglich die Wendungen in Bezug auf die Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts, seine grundsätzliche Geltung sowie den Vorbehalt eines speziellen Auslösers. Die zugehörigen relevanten Begriffe lassen sich nach ihren funktionellen Merkmalen eingeteilt wie folgt systematisch zueinander in Verhältnis setzen: Übersicht 6 Die Umschreibung von „self-defence“ in der englischen Sprachfassung von Art. 51 SVN

An diesen Einteilungsvorgaben orientiert sollen nun die Auswertung der übrigen autoritativen Sprachfassungen und daran anknüpfend ein funktionaler Vergleich der relevanten Schlüsselbegriffe folgen. b) Französisch Die französische Sprachfassung lautet: Aucune disposition de la présente Charte ne porte atteinte au droit naturel de légitime défense, individuelle ou collective, dans le cas où un Membre des Nations Unies est l’objet d’une agression armée, jusqu’à ce que le Conseil de sécurité ait pris les mesures nécessaires pour maintenir la paix et la sécurité internationales. Les mesures prises par des Membres dans l’exercice de ce droit de légitime défense sont immédiatement portées à la connaissance du Conseil de sécurité et n’affectent en rien le pouvoir et le devoir qu’a le Conseil, en vertu de la présente Charte, d’agir à tout moment de la manière qu’il juge nécessaire pour maintenir ou rétablir la paix et la sécurité internationales.48

48 Hervorh. v. Verf.; französische Sprachfassung online abrufbar unter http://www.un.org/fr/ documents/charter/chap7.shtml.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

297

Selbstverteidigung wird im Französischen als „légitime défense“ bezeichnet; man könnte daher geneigt sein, bei der Interpretation eingangs dieser Arbeit angesprochene Legitimierungsaspekte auch einzubeziehen. Dies ist indes ersichtlich nicht gemeint49. Es ist vielmehr zunächst von einem gleichermaßen zu verstehenden Kernbegriff der „légitime défense“ auszugehen. Dabei handelt es sich eigenschaftlich um ein „droit naturel“, welches durch keine Bestimmung der SVN beeinträchtigt wird („aucune disposition (…) ne porte atteinte“). Die Bedingung dieser Feststellungen ist „le cas (…) d’une agression armée“. Systematisch zugeordnet stellen sich diese Begriffe folgendermaßen dar: Übersicht 7 Die Umschreibung von „légitime défense“ in der französischen Sprachfassung von Art. 51 SVN

c) Spanisch Die spanische Sprachfassung lautet: Ninguna disposición de esta Carta menoscabará el derecho inmanente de legítima defensa, individual o colectiva, en caso de ataque armado contra un Miembro de las Naciones Unidas, hasta tanto que el Consejo de Seguridad haya tomado las medidas necesarias para mantener la paz y la seguridad internacionales. Las medidas tomadas por los Miembros en ejercicio del derecho de legítima defensa serán comunicadas inmediatamente al Consejo de Seguridad, y no afectarán en manera alguna la autoridad y responsabilidad del Consejo conforme a la presente Carta para ejercer en cualquier momento la acción que estime necesaria con el fin de mantener o restablecer la paz y la seguridad internacionales.50

Wiederum steht Selbstverteidigung als Kernbegriff  – hier unter der Bezeichnung „legítima defensa“ – im Mittelpunkt. Einmal mehr gilt es, sich von der Bezeichnung „legítima“ nicht irritieren zu lassen und deshalb auch nicht auf hier irrelevante Legitimitätsaspekte abzustellen. Die „legítima defensa“ wird in ihrer Eigenschaft als als „derecho inmanente“ beschrieben, welches durch keine Bestimmung der SVN eine Beeinträchtigung erfährt („ninguna disposición (…) menoscabará“). Angeknüpft wird dabei wieder „en caso de ataque armado“.

49



50

Dinstein, Round Table, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 382. Hervorh.  v. Verf.; spanische Sprachfassung online abrufbar unter http://www.un.org/es/ documents/charter/chapter7.shtml.

298

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Eine systematische Zuordnung sieht demnach so aus: Übersicht 8 Die Umschreibung von „legítima defensa“ in der spanischen Sprachfassung von Art. 51 SVN

d) Russisch Die russische Sprachfassung lautet: Настоящий Устав ни в коей мере не затрагивает неотъемлемого права на индивидуальную или коллективную самооборону, если произойдет вооруженное нападение на Члена Организации, до тех пор пока Совет Безопасности не примет мер, необходимых для поддержания международного мира и безопасности. Меры, принятые Членами Организации при осуществлении этого права на самооборону, должны быть немедленно сообщены Совету Безопасности и никоим образом не должны затрагивать полномочий и ответственности Совета Безопасности, в соответствии с настоящим Уставом, в отношении предпринятия в любое время таких действий, какие он сочтет необходимыми для поддержания международного мира и безопасности.51

Auch hier bildet das Wort für Selbstverteidigung („самооборону“) den im Mittelpunkt stehenden Kernbegriff. Dieses auch hier als solches bezeichnete Recht gilt nach dieser Version ebenso uneingeschränkt, weil es „die vorliegende Satzung in keiner Weise berührt“ („ни в коей мере не затрагивает“). In seiner Eigenschaft wird es im Gegensatz zu den bisher untersuchten Sprachfassungen als „unabdingbar“ („неотъемлемого“) bezeichnet, welches unter dem in perfektiver Futurform dargestellten Vorbehalt „wenn sich ein bewaffneter Angriff ereignet haben wird“ („если произойдет вооруженное нападение“) steht52.

51

Hervorh. v. Verf.; russische Sprachfassung online abrufbar unter http://www.un.org/ru/ documents/charter/chapter7.shtml. 52 Die hier vom Verf. vorgenommene deutsche Übersetzung gibt den Bedeutungsinhalt der russischen Sprachfassung am präzisesten wieder, obwohl im Russischen gerade nicht zwischen den Formen „Futur I“ und „Futur II“ unterschieden wird. Wie alle anderen slawischen Sprachen differenziert aber das Russische zwischen den im Deutschen unbekannten „Aspekten“, welche durch entsprechende Verbformen einerseits die Vollendung („perfektiver Aspekt“) und andererseits die Unvollendetheit („imperfektiver Aspekt“) einer Handlung oder eines Zustands zum Ausdruck bringen. Das Wort „произойдет“ steht in der perfektiven Futurfom von „sich ereignen“ und bringt präzise zum Ausdruck, dass ein (nur aus Sichtweise des Lesers von Art. 51 SVN!) zukünftiges Ereignis vollendet seit muss, um eine Selbstverteidigungslage zu begründen. Gemeint ist dabei freilich die Vollendung des Zustands des Ereigniseintritts, nicht etwa erst die Beendigung des Ereignisses selbst. Diese sprachliche Besonderheit ist entscheidend für das richtige Ver-

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

299

Eine systematische Zuordnung ergibt folgendes Bild: Übersicht 9 Die Umschreibung von „самооборону“ in der russischen Sprachfassung von Art. 51 SVN

e) Chinesisch Die chinesische Sprachfassung lautet: 联合国任何会员国受武力攻击时,在安全理事会采取必要办法,以维持国际和平及 安全以前,本宪章不得认为禁止行使单独或集体自卫之自然权利。会员国因行使此 项自卫权而采取之办法,应立向安全理事会报告,此项办法于任何方面不得影响该 会按照本宪章随时采取其所认为必要行动之权责,以维持或恢复国际和平及安全。53

Wie in den übrigen Sprachfassungen ist auch hier der Begriff für Selbstverteidigung – „自卫“ („zìwèi“) – zentraler Bezugspunkt der Vorschrift. Im Übrigen fällt die Analyse der chinesischen Fassung jedoch etwas anders aus als die vorherigen Auswertungen der miteinander (zumindest entfernt) verwandten Sprachfassungen, was sich bereits an der deutlich veränderten Satzstellung bemerkbar macht. Hier wird mit dem Auslöservorbehalt begonnen: „Wenn (ein Mitglied der VN) einem ˇ lì gōngjī militärischen54 Angriff ausgesetzt ist (…)“ – „受武力攻击时“ („shòu wu shí“), wobei das chinesische Äquivalent zur deutschen Konjunktion „wenn“ rein zeitlich zu verstehen ist. Sodann folgt eine dem Chinesischen eigene Formulierungsweise einer Auslegungsanweisung zur SVN („本宪章不得认为禁止行使“ – „běn xiàn zhāng bùdé rèn wéi jìnzhĭ xíngshĭ“) in Form des sog. „Sinnpassivs“, welche sich am ehesten wie folgt ins Deutsche übertragen lässt: „(…) diese Satzung darf nicht für die Ansicht herangezogen werden, die Ausübung [des Selbstverteiständnis der russischen Sprachfassung, weil es sich hierbei gerade um keine Form des (im Russischen sogar unbekannten) „Futur I“ handelt und somit einen erst zukünftigen Ereigniseintritt mit vorheriger Auslösung einer Selbstverteidigungslage nicht umfasst. Insofern ist der schlicht falschen Darstellung von Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 307, zu widersprechen. 53 Hervorh. v. Verf.; chinesische Sprachfassung online abrufbar unter http://www.un.org/zh/ documents/charter/chapter7.shtml. 54 Die Besonderheit des hier als „militärisch“ bezeichneten Angriffs kann im Rahmen dieser Arbeit vernachlässigt werden, da als Auslöser die abstrakte Form des „Ereignisses“ hergeleitet wurde; bei der (hier nicht zu beantwortenden) Frage von Selbstverteidigung gegen nicht-militärische Schädigungshandlungen sollte diese mutmaßliche Divergenz jedoch beachtlich sein.

300

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

digungsrechts] zu versagen (…)“; daraus ergibt sich demnach die Schlüsselformulierung für die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts. Erst danach wird die Selbstverteidigung als solche genannt und mit den Attributen „自然“ („zìrán“ – „Natur“, „natürlich“) und „权利“ („quánlì“ – „Recht“) versehen. Diese Erkenntnisse lassen sich wiederum systematisch darstellen: Übersicht 10 Die Umschreibung von „自卫“ („zìwèi“) in der chinesischen Sprachfassung von Art. 51 SVN

3. Auswertung des Sprachfassungsvergleichs

Es hat sich herausgestellt, dass das Äquivalent zum deutschen Begriff „Selbstverteidigung“ in jeder Sprachfassung eindeutig als der das Rechtsinstitut beschreibende Kernbegriff erfasst werden kann. Eine jeweilige Übersetzung dieser Begriffe in eine der anderen autoritativen Sprachen führt zu dem Begriffsergebnis „Selbstverteidigung“, wobei jedoch grundsätzlich die interpretatorische Komponente im Übersetzungsvorgang nicht verkannt werden darf: Je nach Sprache kann ein Begriff wie hier „Selbstverteidigung“ z. B. im Deutschen (das hier als neutrale, weil nicht-autoritative Sprache gut als Vergleichsinstrument geeignet ist) unterschiedlich wiedergegeben werden (hier z. B. als „Selbstschutz“ oder „Notwehr“), wovon jedoch stets auch eine Möglichkeit das Wort „Selbstverteidigung“ ist. Letztere ist das jeweils im konkreten Zusammenhang stimmigste Synonym innerhalb einer nach translatorischem Terminus als Synonymfeld bezeichneten Auswahl. Die daraus resultierende Konsequenz ist, dass eine „Wort-für-Wort-Übersetzung“ in der Regel nicht existiert55, sondern die Übersetzungstätigkeit stets als das interpretatorische Ermitteln einer Kongruenz in mehrsprachigen Synonymfeldern zu verstehen ist. Solange dabei der Bedeutungsinhalt eines Begriffs durch Rückgriff auf das ihn umgebende Synonymfeld gewahrt werden kann, liegen im Vergleich zu entsprechend anderssprachigen Texten keine Divergenzen vor. Für das Beispiel der Begriffe für „Selbstverteidigung“ lassen sich die Synonymfelder zweier fiktiver Sprachen A und B mit einem kongruenten Übersetzungsergebnis exemplarisch (aber dennoch realitätsnah und -typisch) folgendermaßen darstellen:

55

Vgl. dazu auch instruktiv Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 131 ff.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

301

Abbildung 10: Die beispielhafte Ermittlung eines Übersetzungsergebnisses der Begriffe für „Selbstverteidigung“ aus der Kongruenz zweier Synonymfelder

Es ist auch hier wieder zu erkennen, dass es nicht unbedingt auf die Bezeichnung, sondern den Inhalt einer rechtserheblichen Aussage – gerade im mehrsprachigen Kontext – ankommt. Die bereits zuvor gefestigte Erkenntnis, sich von angezeigten Begriffskonfusionen abzuwenden und lediglich dem Inhalt einer Aussage Beachtung zu schenken56, gewinnt damit auch in diesem Zusammenhang eine weitere Bestätigung. Die Konsequenzen dieser translatorischen Notwendigkeit gilt es auch für die fünf autoritativen Fassungen von Art. 51 SVN zu beachten, deren Vergleichserfordernis nun daran zu messen sein wird, ob die zu überprüfenden Schlüsselbegriffe noch als bedeutungsinhaltsgleich im Sinne kongruenter Teile ihrer Synonymfelder gelten können oder aber der Bedeutungsinhalt derartig abweicht, dass Divergenzen festzustellen sind. Im Lichte dieser übersetzungswissenschaftlichen Information lässt sich im Übrigen auch Art. 33 (3) WVK klarer verstehen: Die Vermutung einer einheitlichen Bedeutung bestätigt sich immer dann, wenn sich Kongruenzen in den Synonymfeldern der jeweiligen verschiedensprachigen Vergleichsbegriffe ergeben; widerlegt ist sie hingegen, wenn die Synonymfelder inkongruent sind und damit die Bedeutung einer Textpassage im Vergleich zu einer anderen Sprachfassung unausweichlich divergiert. Auf den in diesem Beispiel jeweils nicht divergierenden Begriff für Selbstverteidigung bezogen sich jeweils nähere Beschreibungen, welche sich in einem groben Raster durchweg als Kennzeichnungen der Eigenschaften  (a)  sowie der Bedingungen der grundsätzlichen Geltung (b) wie auch der vorbehaltlichen Aus­ lösung (c) des Selbstverteidigungsrechts einordnen lassen. Diese Kennzeichnungen gilt es nun in ihrem jeweiligen Bedeutungsinhalt zu vergleichen.

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s. o. bereits zum Begriff vorbeugender Selbstverteidigung 2. Kap. D.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

a) Eigenschaften In der englischen und spanischen Sprachfassung wird Selbstverteidigung jeweils als „inherent right“ bzw. „derecho inmanente“ – im Deutschen also als „innewohnendes Recht“  – bezeichnet. Dies beschreiben die zu diesem Begriff in beiden Sprachen kongruenten Synonymfelder, damit stimmen beide Begriffe inhaltlich miteinander überein. Im Französischen hingegen wird zwar auch von einem Recht („droit“) gesprochen, dieses ist hier jedoch „naturel“ – also „natürlich“ oder „naturgegeben“; gleiches gilt für die chinesische Sprachfassung, welche Selbstverteidigung als ein „natürliches Recht“ oder „Naturrecht“ („自然权利“ – „zìrán quánlì“) begreift. Ein noch anderes Verständnis lässt sich aus der russischen Version gewinnen, nach welcher das Selbstverteidigungsrecht „unabdingbar“ („неотъемлемого“) sein soll. Damit sind bei den Schlüsselbegriffen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts pro Sprachfassung prima facie jeweils zwei Divergenzen festzustellen, wobei die englisch-spanische und französisch-chinesische Version zumindest jeweils auf eine wie auch immer geartete vorherige Existenz des Selbstverteidigungsrechts zu verweisen scheinen, also vergangenheitsgerichtet sind. Die rus­ sische Fassung fokussiert sich hingegen auf die Zukunft, indem sie das Selbst­ verteidigungsrecht für unabdingbar erklärt; sie scheint also stärker von den anderen Versionen zu divergieren als die restlichen Fassungen untereinander. Inwieweit es sich dabei tatsächlich um Divergenzen oder doch noch im Rahmen kongruenter Synonymfelder aufzulösende Unterschiede handelt, ist bei der sogleich folgenden Auslegung zu ermitteln57. In einer tabellarischen Gegenüberstellung stellt sich das Ergebnis vorläufig folgendermaßen dar: Übersicht 11 Die Gegenüberstellung der für die Eigenschaft des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller autoritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN



57

s. u. 7. Kap. B. III. 3. b).

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

303

b) Grundsätzliche Geltung Was die Aussage zur grundsätzlichen Geltung des Selbstverteidigungsrechts betrifft, so sind sich alle Sprachfassungen inhaltlich dahingehend einig, dass eine solche uneingeschränkt vorliegt. Zwar unterscheidet sich der genaue Ausdruck dieses Inhalts zum Teil marginal voneinander – mal soll „nichts“, mal „keine Bestimmung“ das Selbstverteidigungsrecht beeinträchtigen –, doch ändert dies nichts an der gemeinsamen Annahme, dass das Selbstverteidigungsrecht vom Grundsatz her ohne Einschränkungen gilt. Erst recht vermittelt dies trotz sehr abweichender Ausdrucksweise auch die chinesische Version, welche in der seltener üblichen Form einer Auslegungsanweisung58 zur SVN die Verhinderung der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts – also erst auf Ebene der Selbstverteidigungshandlung – verbietet und damit erst Recht von einer grundsätzlichen Geltung des Rechtsinstituts ausgeht. Erwähnenswert ist zur grundsätzlichen Geltung zudem, dass in jeder Sprach­ fassung eine negative Ausdrucksweise verbunden mit dem Wort für „beeinträch­ tigen“ verwendet wird – im Russischen sogar eine sprachtypische doppelte Verneinung – und nicht etwa umgekehrt eine positive Herangehensweise vorgenommen wird59. Divergenzen sind hierzu nicht zu verzeichnen. Dies verdeutlicht noch einmal eine Gegenüberstellung der verwendeten Ausdrucksweisen: Übersicht 12 Die Gegenüberstellung der für die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller autoritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN

58 Auslegungsanweisungen in Form von Auslegungsverboten finden sich z. B. noch in Art. 10 des IStGH-Statuts und in Art. IV des Antarktisvertrags; für die SVN sind sie untypisch. 59 s. dazu mehr im Rahmen der systematischen Auslegung u. 7. Kap. B. III. 3. b) bb).

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

c) Auslöservorbehalt Nachdem in Bezug auf die uneingeschränkte grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts in allen Sprachfassungen Einigkeit festgestellt wurde, sollen zuletzt die Aussagen zum Auslöservorbehalt im konkreten Einzelfall betrachtet werden. Untersuchungsgegenstand ist dabei also die noch zu beantwortende Frage des Auslösers einer – womöglich auch vorbeugenden – Selbstverteidigungslage. Gemeinsam haben dabei sämtliche Sprachfassungen, dass der Auslöservorbehalt des Selbstverteidigungsrechts positiv mittels einer Konditionalform zum Ausdruck gebracht wird. Divergenzen ergaben sich hingegen in Bezug auf den Inhalt der jeweiligen Konditionalform. Zum einen wird der Auslöservorbehalt selbst inhaltlich unterschiedlich bezeichnet, nämlich einerseits als „bewaffneter Angriff“ (englisch, spanisch, russisch) oder sogar genauer „militärischer Angriff“ (chinesisch) und andererseits als „bewaffnete Aggression“ (französisch). Der Bedeutungsinhalt der für „Angriff“ verwendeten Wörter stellt dabei andere Anforderungen an die insoweit gemeinsam vorausgesetzte Waffengewalt als jener der für „Aggression“ verwendeten Wörter. Je nach Verständnis würde man in einem Fall eher von einem umfangreichen und umfassenden Angriff in der qualitativen Nähe eines Angriffskrieges auszugehen haben, was die Abgrenzung zum jeweils anderen Ausdruck allein nicht erfordert. Gemeinsam haben sämtliche Begriffe hingegen, dass sie ein Ereignis beschreiben, welches als solches alleiniger tauglicher Auslöser einer jeden Selbstverteidigungslage bereits nach der eingangs dieser Arbeit herangezogenen natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung sein kann; somit wird dieses Ergebnis60 hier bestätigt. Für die Frage der Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung kommt es allerdings auf eine besondere Mindestbeschaffenheit des Ereignisses über bloße Schadenskausalität hinaus gerade nicht an61, sodass die hier ermittelte Divergenz zur Ereignisqualifikation im weiteren Verlauf dieser Arbeit für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung irrelevant ist. Zum anderen wird der Auslöservorbehalt eines Ereignisses entweder geknüpft an dessen „Geschehen“ bzw. dessen Zustandsvollendung (englisch: „occurs“, russisch: „произойдет“) oder schlicht an dessen „Fall“ (französisch, spanisch). Eine Sonderform beschreibt das Chinesische, wonach der Auslöservorbehalt erfüllt sein soll, wenn (im zeitlichen Sinne) ein Staat einem schädigenden Ereignis „aus­ gesetzt“ ist. Die englische Formulierung als Verb in aktivischer Präsensform sowie die russische in perfektiver Futurform62 scheinen dabei prima facie auf die Notwendigkeit eines gegenwärtigen Auslösers hinzudeuten, während die französisch-spanische Fassung ganz ohne Verb auskommt und ohne zeitlichen Bezug auch ein

60



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s. o. 4. Kap. B. V. s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2) und 4. Kap. C. I. 1. 62 s. o. Fn. 52 in diesem Kap.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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lediglich konkretes, aber nicht notwendigerweise gegenwärtiges Ereignis heranzuziehen vermag63. Die chinesische Version schließlich lässt sich von ihrer inhalt­ lichen Bedeutung nach in romanischen Kategorien am besten in passivischer Verbform wiedergeben, wobei das Passiv durch die chinesische Grammatik vorgegeben, die Verbform aber mangels vergleichbarer Wortartdifferenzierung eher eine Hilfskonstruktion ist. Die Passivform ist somit dominant und als solche besser dem abstrakteren Synonymfeld „Fall“ als dem konkreteren Synonymfeld „Geschehen“ zuzuordnen, zumal ein „Ausgesetzt-sein“ durchaus auch Fälle vor Eintritt eines konkreten Schadens – etwa in Form einer konkreten Bedrohungslage – umfasst. Folglich ist der chinesische Schlüsselbegriff von seinem Bedeutungsinhalt her dem französischen und spanischen zuzuordnen. Divergenzen ergeben sich also zwischen der englisch-russischen und der französisch-spanisch-chinesischen Version. Gerade im Hinblick auf vorbeugende Selbstverteidigung wird die Interpretation dieser Divergenz deshalb noch von Bedeutung sein. Die Vergleichsübersicht zum Auslöservorbehalt des Selbstverteidigungsrechts stellt sich dann nach den für diese Arbeit relevanten Wendungen wie folgt dar: Übersicht 13 Die Gegenüberstellung der in dieser Arbeit für den Auslöservorbehalt des Selbstverteidigungsrechts relevanten Schlüsselbegriffe aller autoritativer Sprachfassungen von Art. 51 SVN

4. Zwischenergebnis

Unproblematisch, weil ohne Divergenzen sind die Ausführungen zur grundsätzlichen Geltung des Selbstverteidigungsrechts. Hierbei werden keine Aussagen zu einer Differenzierung zwischen reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung getroffen, insbesondere schließt jede Formulierung als solche eine mögliche Zu 63 Anders und insoweit wenig einleuchtend hingegen Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 39 (dort Fn. 140), wo eine Übereinstimmung mit der englischen und spanischen Version im Gegensatz zur französischen Fassung darzulegen versucht wird.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

lässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nicht aus. Im Rahmen der zu tätigenden Auslegung ist unabhängig davon freilich noch zu erörtern, ob [F1] auch positiv zu beantworten ist. Angesichts der Indifferenz hinsichtlich der möglichen Ausprägungsformen von Selbstverteidigung braucht auf die Formulierungen zur unbestrittenen grundsätzlichen Geltung des Rechtsinstituts der Selbstverteidigung hingegen nicht weiter eingegangen zu werden. Divergenzen ergaben sich allerdings in Bezug auf die Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts sowie dessen Auslöservorbehalt, in ersterem Falle sogar mit möglicherweise drei verschiedenen Bedeutungsinhalten; Näheres wird im Rahmen der Auslegung zu klären sein. Angesichts der sich im Übrigen aufgetanen Divergenzen sind sämtliche verbliebenen und über den Sprachfassungsvergleich hinaus zu interpretierenden Schlüsselbegriffe für die Frage der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung zugleich auch eine Quelle textlicher Divergenzen in den autoritativen Sprachfassungen der SVN. Die Auslegung dieser Schlüsselbegriffe als solche – direkt nach Artt. 31 f. WVK – kann daher mit der durch Auslegung zu erzielenden Bedeutungsanpassung – durch Verweis über Art. 33 (4) WVK angeordnet – einhergehen, wobei im Falle unklarer Auslegungsergebnisse der teleologischen Interpretation besondere Bedeutung zuzumessen ist64. III. Auslegung der Schlüsselbegriffe Als Schlüsselbegriffe zur Bewertung der möglichen Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung orientiert an [F1] und [F2] haben sich zum einen die Ausführungen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts und zum anderen solche zum Auslöservorbehalt herausgestellt. Beide sind nun im Lichte von [F1] und ggf. [F2] zu untersuchen65, wobei stets mit [F1] begonnen und dann nur bejahendenfalls auf [F2] eingegangen wird. Aus der Interpretation der Schlüsselbegriffe müsste sich insgesamt mindestens ein Erlaubnissatz als Ermächtigungsgrundlage für vorbeugende Selbstverteidigung ergeben. Es müsste sich also aus mindestens einem der Schlüsselbegriffe ableiten lassen, dass die Umstände eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses nicht streng an der Gegenwärtigkeitstheorie zu messen sind. Darüber hinaus ist ggf. in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob sich auch Aussagen über das Ausmaß vorbeugender Selbstverteidigung interpretatorisch ermitteln lassen.



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65

s. o. 7. Kap. B. II. 1. Die folgenden verschiedenen Untersuchungsschritte erfolgen nach Maßgabe der vom Verf. hergeleiteten Auslegungsmaximen und sollen daher – soweit bereits andernorts geschehen  – im Einzelnen nicht im umfassenden Maße mit korrespondierendem oder widersprechendem Meinungsstand gekennzeichnet werden. Die Ermittlung des Meinungsstandes erfolgte bereits an früherer Stelle im Rahmen der Darstellung der ereignisspezifischen Theorien (o. 4. Kap. C.), worauf jeweils verwiesen werden soll.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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1. Auslegungsansätze

Vor der zu erfolgenden eigentlichen Auslegung der Schlüsselbegriffe ist noch auf eine in der völkerrechtlichen Doktrin gelegentlich anzutreffende Eigenart einzugehen. Wenn es nämlich darum geht, Art. 51 SVN auf seine Aussagen zu vorbeugender Selbstverteidigung zu untersuchen, wird häufig pauschal von zwei gegensätzlichen Interpretationsströmungen gesprochen66: von sog. „Restriktivis­ten“ und „Gegen-Restriktivisten“67. Dieses Klassifikationsmuster gilt es zunächst darzustellen und zu bewerten. Im Anschluss werden aus den bisherigen Erkenntnissen die hier heranzuziehenden Ansätze zur Auslegung der Schlüsselbegriffe aufgestellt. a) Von „Restriktivisten“ und „Gegen-Restriktivisten“ Beide der so bezeichneten Gruppierungen werden häufig gegenübergestellt und voneinander abgegrenzt. Schon bei der Abgrenzung sind keine einheitlichen Kriterien wie auch keine kongruente Zuordnung bestimmter Eigenschaften zu erkennen. In grober Zusammenfassung – dies soll an dieser Stelle genügen68 – verfährt die Abgrenzung aber nach folgendem Muster: Wie es die Bezeichnung schon vermuten lässt, berufen sich nach dieser Klassifizierung „Restriktivisten“ auf eine Auslegung der SVN-Bestimmungen mit dem Ziel grundsätzlich restriktiver Gewaltanwendung, speziell in Bezug auf Art. 2 (4) SVN und Art. 51 SVN. Diese Vorgehensweise wird mit dem Grundsatz des universellen Gewaltverbots erklärt, welcher zur Gewährleistung einer tatsächlich ernsthaften Wirkung zugleich auch eine möglichst eingeschränkte Auslegung seiner Ausnahmen erfordere. Ohne Berücksichtigung der verschiedenen Sprachfassungen wird auf die englische Formulierung „if an armed attack occurs“ abgestellt, welche ersichtlich keine vorbeugenden Aspekte zulassen könne. Auch früheres Recht sei schlicht unbeachtlich. Aus diesem Grunde wird auch der Formulierung „inherent right“ keine große Bedeutung zugemessen. Ziel und Zweck der SVN 66 Nachweise und Gegenüberstellung der beiden vermeintlich einzigen Positionen bei: Arend, WQ 26 (2003), S. 89 ff. (92 f.); ders./Beck, Use of force, S. 73, 105 ff., 131 ff.; Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (515); Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1378 ff.); Corten, EJIL 16 (2005), S. 803 ff. (804); Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (447); Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 221; ausführlich McCormack, Self-Defense, S. 122 ff.; Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 65 f.; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (550 ff.); Shah, JCSL 12 (2007), S. 95 ff. (97 ff.); Smith, Deterring America, S. 123; Smith, YaleJIL 19 (1994), S. 455 ff. (482). Differenzierter, aber die Bezeichnungen beibehaltend Kearley, WyomingLR 3 (2003), S. 664 ff. (670 f.). 67 Gelegentlich wird auch bedeutungsgleich von „Restriktionisten“ und „Gegen-Restrik­ tionisten“, bei letzteren auch von „Expansionisten“, „Permissivisten“ oder „Pragmatisten“ gesprochen. 68 Näheres, jedoch wenig Erhellendes in den o. (Fn. 66 in diesem Kap.) genannten Quellen.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

würden im Übrigen nur diese Ansicht zulassen, besonders im Hinblick auf das systematisch zwingende Austauschverhältnis von Art. 2 (4) SVN und Art. 51 SVN. Im Gegensatz dazu sollen die als „Gegen-Restriktivisten“ klassifizierten Autoren auf eine extensive Auslegung der SVN bestehen. Dies sei darin begründet, dass die Schöpfer der SVN keineswegs das bereits bestehende gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht einzuschränken beabsichtigten. Dies erkenne man – wiederum ohne Beachtung der übrigen autoritativen Sprachfassungen – vor allem an der Formulierung „inherent right“. Der übrige Wortlaut werde dieser Wendung untergeordnet und gleichsam für obsolet erklärt. „Gegen-Restriktivisten“ hielten daher auch das Gewohnheitsrecht für die höchstrangige Rechtsquelle und würden das Völkerrecht eher politisch als rechtlich orientiert auffassen. Aus diesen Gründen hätten Vertreter dieser Position auch keine Probleme damit, ein weitestgehendes Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung für legal zu halten. Die Argumentationen von beiden Positionen erscheinen recht pauschal und undifferenziert. Die Auslegungsregeln der WVK werden bei beiden Positionen vermischt oder lückenhaft angewendet, das vor der SVN gültige Recht wird entweder überdeutlich herangezogen oder gänzlich ignoriert, die Auswirkungen der späteren Praxis auf das Vertragsrecht werden entweder über- oder unterbewertet. Dabei steht stets ein relevanter Schlüsselbegriff von Art. 51 SVN bedingungslos im Vordergrund, während demgegenüber ein anderer für generell unbeachtlich gehalten wird. Ein wenig reflektierendes Schwarzweißbild zeichnet sich deutlich ab. Der als „Restriktivisten“ bezeichnete Personenkreis stellt zwar richtig auf ein notwendigerweise streng zu verstehendes Gewaltverbot ab, überträgt dieses Prinzip jedoch stur auch auf dessen Ausnahmeregelung in Form von Art.  51 SVN. Doch ist dies keine zwingende Schlussfolgerung: Auch eine Ausnahme zu einem strengen Grundsatz kann für einen bestimmten Bereich weit ausfallen ohne der Strenge des Grundsatzes abträglich zu sein, wenn und soweit der Grundsatz in seiner Gesamtheit, also bereichsübergreifend, deutlich vorherrschend bleibt. Genau darauf ist die Ausnahme mit Fokussierung auf einen bestimmten Bereich – wie das Selbstverteidigungsrecht  – zugeschnitten. Selbstverteidigung ist heute eine von nur zwei Bereichsausnahmen des Gewaltverbots, während zahlreiche übrige denkbare Gewalthandlungen aus verschiedensten Motivationsbereichen heraus absolut verboten bleiben. Ein beispielhafter Blick ins deutsche Strafrecht bekräftigt diese These: Das Leben eines Menschen gilt als höchstes Rechtsgut und genießt daher besonders ausgeprägten (und dabei auch besonders hohen strafrechtlichen) Schutz. Dennoch begründet im Falle der Notwehr nach § 32 StGB die Tötung eines Menschen unter bestimmten Voraussetzungen nicht notwendigerweise ein strafrechtliches Unrecht. In diesem Bereich gilt also eine (zu Recht) weite Ausnahme des grundsätzlich strengen Lebensschutzes, ohne dass dieser dadurch konter­kariert würde. Darüber hinaus erinnert die Übertragung strenger Grundsatzanforderungen einer Norm auf andere Bereiche an die Suche nach einem „kleinsten gemeinsa-

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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men Nenner“. Diese Auslegungsmethode wurde früher – durch den StIGH69 – im Rahmen der Interpretation mehrsprachiger Texte zur Diskussion gebracht, gilt aber heute nach weit überwiegender Ansicht wegen ihrer Starrheit und ihrer Ignoranz gegenüber einer Überzahl vertretbarer Ergebnisse als erledigt70. Diese Lehre nun zu Gunsten eines „Restriktivismus“ im Sinne der SVN wiederaufleben zu lassen, erscheint nicht sachgerecht. Dem als „Gegen-Restriktivisten“ bezeichneten Personenkreis kann dagegen ein zu nachlässiger Umgang mit dem weltweit wichtigsten völkerrechtlichen Vertrag vorgeworfen werden. Es erscheint bedenklich, zu Gunsten eines einzigen Wortes in Art. 51 SVN den übrigen Wortlaut ohne weitere Differenzierung für obsolet zu erklären. Zudem widerspricht es den Vorgaben der WVK, die subsidiäre Auslegungsregel des mutmaßlichen historisch ermittelten Parteiwillens zur Stützung des Wortlautergebnisses, jedoch ohne Beachtung der weiteren Vorgaben von Art. 31 WVK, heranzuziehen. Dass zudem ein politisches Primat im Völkerrecht de lege lata notwendigerweise abzulehnen ist, spricht inzwischen für sich und soll darüber hinaus nicht weiter thematisiert werden. Im Übrigen soll nicht verschwiegen werden, dass nicht alle als „Restriktivisten“ oder „Gegen-Restriktivisten“ klassifizierten Personen die ihnen zugeschriebenen pauschalen Ansichten auch tatsächlich so vertreten. Dies beweist allein schon das oben dargestellte differenzierte Meinungsbild zu vorbeugender Selbstverteidigung, welches sich nicht einfach auf zwei starre Positionen zusammenstauchen lässt. Es scheint vielmehr das Resultat einer sich teilweise in der Literatur eingesetzten Bequemlichkeit zu sein, Vertreter verschiedener Meinungsstände plakativ – und damit natürlich auch prägnant – in lediglich zwei konträre Lager einzuteilen. In Wirklichkeit aber verdient der vorgetragene mannigfaltige Meinungsstand mit seinen zahlreichen nicht evident unvertretbaren Theorien eine differenziertere Auseinandersetzung. Dazu gehört auch, fortan auf die Pauschalbezeichnungen „Restriktivisten“ und „Gegen-Restriktivisten“ zu verzichten. b) Vorzugswürdige Ansätze Anstatt eines schwer zu differenzierenden Gesamtrekurses auf den Text von Art.  51 SVN en bloc sollen hier vorzugswürdig die einzeln herausgearbeiteten Schlüsselbegriffe entscheidende Beachtung erlangen. Aus ihnen ergeben sich statt pauschal (und dem Verdacht der Ergebnisorientiertheit behafteter) „restriktiver“ oder „gegen-restriktiver“ Auslegungsergebnisse zwei verästelte Herleitungsstränge zur positiven oder auch negativen Beantwortung von [F1] sowie ggf. zur

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Im sog. Mavrommatis-Konzessionen-Fall von 1924 (PCIJ Rep. 1924, S. 19 ff.), s. dazu nur Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 273 ff. (284). 70 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 95 ff.; Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 273 ff. (284 f.); Tabory, Multilingualism in Int’l. Law, S. 172, jeweils m. w. N.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Ausmaßbestimmung i. S. v. [F2]. Es handelt sich dabei um zwei Ansätze mit unterschiedlichem Anknüpfungspunkt: Einerseits könnte der ermittelte Schlüsselbegriff zu den Eigenschaften des SVNSelbstverteidigungsrechts (z. B. englisch: „inherent right“) das vor In-Kraft-Treten der SVN gültige Selbstverteidigungsrecht fortgelten und auch für alle Mitgliedstaaten anwendbar sein lassen. So würde eine weiterhin vorhandene Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung – von der Idee her den „Gegen-Restriktivisten“ ähnlich, in seiner Herleitung aber sehr wohl differenziert – angeordnet. Dies geschähe dann jedoch eher als Verweis auf vorheriges Recht denn als direkte Begründung eines neuen Rechts zu vorbeugender Selbstverteidigung. Daher soll bei diesem Weg von einem mittelbaren Ansatz gesprochen werden. Andererseits ist aber auch an einen unmittelbaren Ansatz zu denken. Einen solchen könnte der Schlüsselbegriff zum Auslöservorbehalt (z. B. englisch: „if (…) occurs“) verfolgen, wenn er nämlich ein neues Recht zur Selbstverteidigung generell unter einer neuen Voraussetzung formuliert. Dabei kommen wiederum zwei Zielrichtungen in Betracht: Zum einen könnte der Schlüsselbegriff zum Auslöservorbehalt ein neues Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung begründen, zum anderen könnte er allerdings auch ein solches explizit ausschließen. Im letzteren Fall wäre wiederum fraglich, wie sich dies im Verhältnis zu dem zuvor in Erwägung gezogenen mittelbaren Ansatz verhält. Es wäre nämlich durchaus möglich, dass der unmittelbare Ansatz bereits einen Rekurs auf den mittelbaren Ansatz aus Gründen der Priorität ausschließt. Eine solche Ausschlusswirkung ließe sich damit begründen, dass ein aus dem Vertragstext von Art.  51 SVN unmittelbar zu entnehmendes Verbot vorbeugender Selbstverteidigung als Teil des höchstrangigen Völkervertragsrechts die nachrangige bis dahin gültige gewohnheitsrechtliche (Erlaubnis-)Regel zumindest für alle VN-Mitglieder aufhebt. Daher soll in der nun folgenden Interpretation mit dem unmittelbaren Ansatz, also dem Schlüsselbegriff zum Auslöservorbehalt, begonnen werden. 2. Unmittelbarer Ansatz

Zur definitiven Beantwortung von [F1] über den unmittelbaren Ansatz gilt es zu überprüfen, ob die Schlüsselbegriffe zum Auslöservorbehalt ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung schaffen oder es umgekehrt explizit ausschließen. a) Wortlaut Abzustellen ist also nach der englischen und russischen Sprachfassung auf die Ereignis-bezogene Formulierung „geschieht“ bzw. „sich ereignet haben wird“ („occurs“ bzw. „произойдет“), nach der französischen und spanischen Version auf „im Fall von“ („dans le cas de“ bzw. „en caso de“) sowie auf das chinesische

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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„Ausgesetzt-sein“ („受“  – „shòu“). Zu untersuchen ist die jeweils gewöhnliche Bedeutung der Formulierungen nach der ordinary meaning rule sowie ihre grammatische Funktion im Rahmen von Art. 51 SVN. aa) Ordinary meaning rule Die Darstellungsform „Geschehen“ bzw. „sich ereignet haben werden“ im Sinne der englischen und russischen Sprachfassung setzt nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung in der wiedergegebenen aktivischen indikativischen Präsensform bzw. ihrer perfektiven Futurform einen tatsächlichen Handlungsablauf in der Gegenwart voraus, während die divergierende modus-, tempus- und aspektneutrale Formulierung „im Fall von“ auch bloße Eventualitäten, also Handlungsabläufe in der Zukunft oder nicht sicher eintretende Geschehnisse umfasst. Gleiches gilt für die in dieses Synonymfeld einzuordnende passivische chinesische Formulierung des „Ausgesetzt-seins“. Ein „Geschehen“ ist wie auch ein zukünftig abgeschlossenes Ereignis nach dieser Gegenüberstellung eine konkret-gegenwärtige Teilmenge eines abstrakten „Falles“, sodass der Wortlaut der englischen und russischen Sprachfassung deutlich enger zu verstehen ist. Der englisch-russische Schlüsselbegriff zum Aus­ löservorbehalt würde somit seinem Wortlaut nach die Möglichkeit zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung ausschließen71, während dies die drei übrigen autoritativen Sprachfassungen gerade nicht täten. Insbesondere ein nur passives „Ausgesetzt-sein“ im chinesischen Sinne erfordert nicht notwendigerweise eine bereits erfolgte Schädigung wie es eine indikativisch-aktive oder perfektive Formulierung verlangen würde, bestätigt aber zugleich das schon im vorherigen dogmatischen Teil dieser Arbeit herausgestellte Erfordernis der Schadenskausalität72. Kongruente Synonymfelder lassen sich demnach innerhalb der englischen und russischen sowie der französischen, spanischen und chinesischen Version finden, nicht aber innerhalb aller autoritativen Sprachfassungen zugleich. Folglich handelt es sich bei den Formulierungen zum Auslöservorbehalt im Verhältnis zwischen den englisch-russischen und den französisch-spanisch-chinesischen Sprachfassungen um eine nicht unerhebliche Divergenz, welche weitere Untersuchungen erfordert. Teilweise wird zur Widerlegung einer engen englischsprachigen Betrachtungsweise angeführt, dass der Wortlaut von Art. 51 SVN – zu ergänzen wäre richtigerweise: in allen Sprachfassungen – auf eine Einschränkung durch das Wort „nur“ verzichtet, es also beispielsweise im Englischen nicht heißt „only if an armed at

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Bestätigend z. B. Breitwieser, NZWehrr 2005, S.  45 ff. (57); Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 158; Kamp, TIP Spring 2003, S. 17 ff. (19); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 310. 72 s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2).

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

tack occurs“. Daher könne die gegebene Formulierung nur exemplarischen Charakter haben73, was folglich zumindest kein Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung auszuschließen vermag. Dem kann wiederum entgegengehalten werden, dass ein exemplarischer Charakter doch sinnvoller durch einen Zusatz wie „insbesondere“ gekennzeichnet worden wäre74, was aber eben auch nicht geschehen ist. Beide Argumente neutralisieren sich damit gegenseitig. bb) Grammatik In grammatischer Hinsicht ist zunächst für vier Sprachfassungen zu klären, ob sich die Konditionalformulierung zum Auslöservorbehalt auf die Textstelle zur grundsätzlichen Geltung des Selbstverteidigungsrechts (z. B. englisch: „nothing (…) shall impair“) oder auf die textlich nachfolgende Passage des Selbstverteidigungsrechts selbst (z. B. „right of self-defence“) beziehen soll. Diese Frage stellt sich nur für die chinesische Version nicht, da dort schon die Satzkonstruktion abweichend ist und zudem eine etwas andere inhaltliche Aussage getroffen wird. Die Konditionalform leitet dort den Text von Art. 51 SVN ein und lässt auf Grund der darauf folgenden Formulierungen nur ein mögliches Bezugsobjekt zu, nämlich die der chinesischen Sprachfassung eigene Auslegungsanweisung der Satzung („不得认为禁止行使 (…) 自卫“ – „bùdé rèn wéi jìnzhĭ xíngshĭ (…) zìwèi“). Demnach darf bei Verwirklichung des durch die Konditionalformulierung Beschriebenen die SVN nicht dahingehend ausgelegt werden, dass sie die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts verbietet. Das Selbstverteidigungsrecht selbst wird dadurch nicht berührt, denn im Umkehrschluss sagt die chinesische Version nur aus, dass, wenn die Konditionalformulierung nicht verwirklicht wird, eine Auslegung der SVN gegen die Ausübung des Selbstverteidigungsrecht möglich ist. Es kann demnach also nur zum einen auf die Auslegung der SVN und zum anderen auf die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts Einfluss genommen werden, nicht auf seinen Inhalt. Eine Einschränkung des Selbstverteidigungsrechts als solchem wäre demnach bereits aus grammatischen Gründen ausgeschlossen. Nach den übrigen autoritativen Fassungen ist hingegen eine textliche Bezugnahme der Konditionalformulierung auf die grundsätzliche Geltung von Selbstverteidigung wie auch auf das Recht selbst denkbar. In ersterem Fall wäre zwar die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts von der Qualifikation des Auslöservorbehalts abhängig, das Selbstverteidigungsrecht als solches jedoch nicht daran gebunden. Mit anderen Worten: Bezieht sich die Konditionalformulierung auf die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts, so kann diese (nur!) durch andere Bestimmungen der SVN beschränkt werden, es sei denn

73 So das berühmte Zitat von Richter Schwebel, ICJ Rep. 1986, S. 259 ff. (347), ­Abschn. 172 f., wohl zurückgehend auf McDougal, AJIL 57 (1963), S. 597 ff. (600). 74 Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 175.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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„an [Ereignis] occurs“. Ein Recht zur Selbstverteidigung würde dann stets vorbehaltlos gelten, lediglich seine Anwendbarkeit könnte in anderen Fällen als jenen des Auslöservorbehalts durch die SVN beschnitten werden – wie es auch die chinesische Version zum Ausdruck bringt. Das Selbstverteidigungsrecht als solches würde dadurch jedoch nicht verändert, insbesondere auch nicht eingeschränkt. Die herausgestellten sprachlichen Divergenzen wären in diesem Fall für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung unbeachtlich, weil dann durch die SVN auf das Selbstverteidigungsrecht selbst überhaupt kein Einfluss ausgeübt werden könnte. Verdeutlichen würde diese Lesart in den vier übrigen Sprachfassungen eine veränderte Reihenfolge der jeweiligen Satzglieder; es könnte dann ebenso heißen: „Nothing in the present Charter shall impair, if an armed attack occurs, the inherent right of (…) self-defence (…)“ „Aucune disposition de la présente Charte ne porte atteinte, dans le cas où un Membre des Nations Unies est l’objet d’une agression armée, au droit naturel de légitime défense (…)“ „Ninguna disposición de esta Carta menoscabará en caso de ataque armado el derecho inmanente de legítima defensa (…)“ „Настоящий Устав ни в коей мере не затрагивает, если произойдет вооруженное нападение, неотъемлемого права (…) самооборону (…)“

Die hier vorgenommene veränderte Satzstellung ergibt für die in Frage kommenden Sprachfassungen dieser veränderten Beispiele einen eindeutigen Sinn dahingehend, dass sich der Auslöservorbehalt nur auf die grundsätzliche Geltung des Selbstverteidigungsrechts beziehen kann. Aus dem Satzbau der OriginalTexte ergab sich ein solch eindeutiges Ergebnis hingegen nicht; jedoch lässt sich umgekehrt eine eindeutige Bezugnahme des Auslöservorbehalts auf das Selbst­ verteidigungsrecht selbst auch nicht darstellen. Folglich beschreiben die tatsäch­ lichen Sprachfassungen von Art.  51 SVN die für die Darstellung eines Bezugs zum Selbstverteidigungsrecht selbst klarstmögliche Form, während dies für einen Bezug auf die grundsätzliche Geltung die hier dargestellten und im Satzbau ver­ änderten Versionen sind. Aus dieser grammatischen Analyse wird deutlich, dass sich in den vier verbleibenden Originalfassungen von Art.  51 SVN die Formulierungen zum Auslöservorbehalt auf das Selbstverteidigungsrecht selbst beziehen müssen; ansonsten hätte man zumindest in einigen der vier nicht eindeutigen Sprachfassungen auch eine der genannten veränderten Beispiele verwendet und sich auf eine bloß veränderte Anwendbarkeit (sprich: Ausübung) des Selbstverteidigungsrechts beschränkt. Eben dies geschah jedoch in der chinesischen Fassung mit der zusätz­ lichen Besonderheit, dass diese ferner nur auf die Auslegung der SVN abstellt. Damit hat sich nach grammatischen Gesichtspunkten herausgestellt, dass gemäß vier der fünf autoritativen Versionen der SVN der Auslöservorbehalt Einfluss auf das Selbstverteidigungsrecht selbst nehmen, es also einschränken oder ausweiten kann. Lediglich die chinesische Fassung vermag von ihrem Wortlaut

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

her das Selbstverteidigungsrecht selbst nicht anzutasten, sondern nur Einfluss auf seine Ausübung zu nehmen. Angesichts dieser grammatisch indizierten Divergenz und angesichts der Tatsache, dass die weit überwiegende Zahl der Sprachfassungen einen Einfluss der SVN auf das Selbstverteidigungsrecht selbst gestatten, sind auch die Divergenzen in den verschiedenen Sprachfassungen zum Auslöser­ vorbehalt weiterhin für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung beachtlich. cc) Zwischenergebnis Die Wortlaut-Auslegung bringt somit kein eindeutiges Ergebnis zu Tage75. Festzustellen ist aber in quantitativer Hinsicht, dass ein vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich verbietender Wortlaut nur in der englischen und russischen Sprachfassung zu erkennen ist, während die drei anderen autoritativen Versionen im Gegenteil gerade keinen solchen Ausschluss formulieren. Dabei verbietet im Kontrast zu den beiden erstgenannten Versionen der Wortlaut der chinesischen Fassung sogar jede Einflussnahme der SVN auf den Inhalt des Selbstverteidigungsrechts. b) Systematik Die Systematik der SVN insgesamt könnte die Interpretation der Formulierungen zum Auslöservorbehalt fördern. Im Einzelnen können folgende Zusammenhänge für Aufklärung sorgen: aa) Zusammenhang mit dem Gesamttext von Art. 51 SVN Näheren Aufschluss könnte eine Betrachtung des Gesamttextes von Art.  51 SVN liefern. In Bezug auf den Auslöservorbehalt als aufschiebende Bedingung für die Legalität verteidigender Gewaltanwendung gilt es dabei das Gegenstück, nämlich die auflösende Bedingung der Sicherheitsratsübernahme76, zu beachten. Diese Bestimmung kennzeichnet das Selbstverteidigungsrecht – wie bereits dargestellt – als subsidiäres Recht im Notfall, nämlich immer dann, wenn der Sicherheitsrat untätig geblieben ist. Als solches Notrecht wird es naturgemäß immer dann virulent, wenn ein tatsächlicher Notfall vorliegt. Wie bereits im Rahmen der theoretischen Grundlagen entwickelt, liegt ein solcher Notfall jedenfalls dann vor, wenn Gewaltanwendung zur Schadensabwehr ultima ratio ist. Das ultima-ratioPrinzip erfordert aber nicht zwangsläufig, dass ein schädigendes Ereignis bereits

75 A. A. – allerdings ohne Begründung oder Nachweise – Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (454). 76 s. o. 3. Kap. B. II. 2. b) cc).

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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geschehen sein muss; dafür genügt auch eine bevorstehende Selbstverteidigungslage, welche nicht anders abgewendet werden kann. Knüpft man also einen Zusammenhang zwischen aufschiebender und auflösender Bedingung des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 SVN, gelangt man über den Weg des daraus resultierenden Charakters als Notrecht, welches dem ultimaratio-Prinzip unterliegt, zu einer auch rechtmäßigen vorbeugenden Selbstverteidigung ganz im Sinne des französischen, spanischen und chinesischen Wortlautes. bb) Zusammenhang mit Art. 2 (4) SVN Ferner ist, wie bereits erwähnt, Art.  51 SVN stets im Zusammenhang mit Art. 2 (4) SVN zu lesen, wodurch das universelle und grundsätzlich streng aus­ zulegende Gewaltverbot konstituiert wird. Der daraus abgeleitete Ausnahme­ charakter von Art. 51 SVN ist bereits hinreichend deutlich geworden77. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Normen werden häufig auch voneinander abhängende Auslegungsmaßstäbe abgeleitet. Ist also Art.  2  (4) SVN anerkanntermaßen streng auszulegen, solle dies auch für Art. 51 SVN gelten. In einem Falle divergierender Formulierungen wie dem vorliegenden hätte eine möglichst strenge Auslegung von Art.  51 SVN ein generelles Verbot vorbeugender Selbstverteidigung zur Folge. Wie jedoch bereits zu den Positionen vermeintlicher „Restriktivisten“ klargestellt, kann ein solcher systematischer Schluss nicht gezogen werden78. Er entspricht keinem logischen Zwang und würde zudem die überholte Regel des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ wiederaufleben lassen, wofür erst recht bei der Analyse divergierender Sprachfassungen kein Raum mehr besteht. Für die Schlüsselformulierungen zum Auslöservorbehalt liefert der systematische Zusammenhang mit Art.  2  (4) SVN keine fördernden Erkenntnisse außer derjenigen, dass ein Verbot vorbeugender Selbstverteidigung hieraus nicht abgeleitet werden kann. cc) Zusammenhang mit Kapitel VII SVN Es darf ferner nicht verkannt werden, dass Art. 51 in Kapitel VII der SVN angesiedelt ist, also in demjenigen Bereich, der (interlingual nicht divergierend) überschrieben ist mit der beispielhaften englischen Formulierung „Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression“. Solche Maßnahmen sind von Art. 39 SVN bis einschließlich Art. 51 SVN geregelt; hier finden sich die beiden einzigen relevanten Ausnahmen zum universellen Gewaltverbot wieder. Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen:



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s. o. 3. Kap. B. I. 1. a). s. o. 7. Kap. B. III. 1. a) sowie die Nachweise dort unter Fn. 70.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Zum einen könnte die thematische Vorgabe von Kapitel VII SVN auf die gesamten dort aufgeführten Vorschriften abstrahlen, sodass der Formulierung des Auslöservorbehalts nur unter diesem Lichte eine entscheidende Bedeutung zukäme. Umfasst wäre damit auch eine bloße Friedensbedrohung („threat to the peace“), welche gerade keinen gegenwärtigen Auslöser einer Selbstverteidigungslage voraussetzt, sondern im Gegenteil ein striktes Abstellen auf die Gegenwärtigkeitstheorie versagen würde. Diese Lesart wäre auch mit dem allgemeiner formulierten Wortlaut der französischen und spanischen Sprachfassung, die je einen abstrakten „Fall“ eines Auslösers erfordert, wie auch der passivischen chinesischen Formulierung kompatibel. Die auch in Kapitel VII SVN geregelte Friedensbedrohung wäre eine Variante des zukünftigen oder wahrscheinlichen „Falles“ eines solchen Ereignisses, auch wäre ein Staat bereits dann einem Ereignis „ausgesetzt“. Vorbeugende Selbstverteidigung wäre so prinzipiell möglich. Zum anderen könnte die Formulierung des Auslöservorbehalts bei Bezugnahme auf die strenge englisch-russische Fassung nur exemplarisch – gleichermaßen als pars pro toto – aufzufassen sein. Das „Geschehen“ bzw. die Zustandsvollendung des Auslösers wäre eine Teilmenge des in Kapitel VII SVN behandelten Themenkomplexes, zu welcher die übrigen Gesichtspunkte – und mit ihnen auch die Friedensbedrohung  – hinzugelesen werden müssten. Den Inhalt des Auslöservorbehalts gäbe dann das übergeordnete Thema von Kapitel VII SVN – wie dies auch für die Artt. 39 bis 50 SVN gilt – vor, während die Funktion von Art. 51 SVN sich darauf beschränken würde, die Begleitumstände dieses Inhalts zu formulieren. Die konditionale Wirkung der Formulierungen zum Auslöservorbehalt würde damit gewahrt und auf die übergeordneten Vorgaben von Kapitel VII SVN angewendet. Beide Argumentationswege sind jedoch nicht systematisch zwingend, weil man auch folgenden gegenteiligen Standpunkt vertreten könnte: Danach würde sich Kapitel VII SVN in Wahrheit nur mit Fragen kollektiver Sicherheit befassen, wie dies auch bei Artt. 39 bis 50 SVN der Fall ist. Art. 51 SVN wäre dann nur als Annex einzuordnen, der daran erinnert, dass ungeachtet der vorherigen Bestimmungen, welche ein Gewaltmonopol79 beim VN-Sicherheitsrat ansiedeln möchten, staat­ liche Gewaltanwendung unter den dort festgeschriebenen Voraussetzungen ebenso rechtmäßig ist. Damit würden die Voraussetzungen von Art. 51 SVN aber losgelöst von den thematischen Vorgaben des Kapitels VII SVN aufzufassen sein und sich nur auf die insofern speziellere Einzelvorschrift beziehen. Dies würde wiederum gegen einen systematischen Zusammenhang mit den Vorgaben von Kapitel VII SVN zu Gunsten eines vorbeugenden Selbstverteidigungsrechts sprechen80. 79 Vgl. auch Schöbener, KJ 2000, S. 557 ff. (569 f.), der sachlich gleich argumentiert und lediglich die Schlussfolgerung eines Gewaltmonopols ablehnt. 80 Ähnlich Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 238 f., der daraus allerdings recht radikal auf eine materielle Minderwertigkeit von Art. 51 SVN als „zweitrangige Ausnahme“ (Hervorh. im Original) schließt. Dieses Ergebnis überrascht umso mehr, weil er im Anschluss (ibid., S. 243) die heute obsolete Feindstaatklausel des Art. 53 (1) S. 2 SVN strukturell mit (dem unstreitig nicht obsoleten) Art. 51 SVN gleichsetzt.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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Damit verhilft die systematische Auslegung in Ansehung von Kapitel VII SVN zu keiner eindeutigen Erkenntnis in Bezug auf die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung. dd) Zwischenergebnis Die systematische Auslegung bringt jedenfalls kein Verbot vorbeugender Selbstverteidigung hervor. Im Übrigen ist zu unterscheiden: Die Analysen der Zu­ sammenhänge mit Art. 2 (4) SVN sowie mit Kapitel VII SVN führen bei der Be­ antwortung von [F1] zu einem indifferenten Ergebnis. Dagegen spricht nach der Auswertung der Systematik von Art. 51 SVN als Gesamtvorschrift einiges dafür, hieraus über die Eigenschaft als Notrecht einen Erlaubnissatz zu lesen und vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich für rechtmäßig zu erachten. c) Ziel und Zweck Als Teil der SVN sind auch die Formulierungen zum Auslöservorbehalt nach Art.  51 SVN an Ziel und Zweck des Gesamtvertrags  – unter Berücksichtigung des institutionellen Zwecks des Selbstverteidigungsrechts81  – zu messen. Dabei erzeugen Präambel82 und Kapitel I der SVN in jeder Sprachfassung ein unzweideutiges Bild: Die Vereinten Nationen und die ihr zu Grunde liegende Satzung stehen – kurz gesagt – für den Weltfrieden, freundschaftliche, auf Zusammenarbeit beruhende Beziehungen unter den Staaten und internationale Sicherheit83. Die Durchsetzung dieser Ziele soll gem. Art. 1 (1) SVN grundsätzlich kollektiv erfolgen. Bereits deshalb ist von einem streng auszulegenden universellen Gewaltverbot als Grundlage dieser Ziele nicht abzuweichen. Teil dieses friedensgeprägten84 Leitmotivs ist notwendigerweise die Integrität eines jeden Staates. Auf sie darf sich nach Vorgaben der Vereinten Nationen auch jeder Staat auf Grund des Zieles internationaler Sicherheit verlassen85, sie erwächst gewissermaßen zu einem Unterlassungsanspruch eines jeden Staates gegen potentielle Schädiger. Staat­liche Integrität bleibt bei Verwirklichung dieser Ziele auch stets gewahrt. Da dieses Idealbild jedoch fast zwangsläufig kaum jemals zu erreichen sein wird, gibt es das in Art.  51 SVN wiedergegebene Recht zur Selbstverteidigung. Dieses Notrecht tritt immer dann ein, wenn die Vereinten Nationen selbst nicht für die Wah-



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s. bereits o. 3. Kap. B. I. 2. Vgl. auch Wolfrum, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Preamble, Rn. 1 ff. 83 Eine sehr ausführliche teleologische Interpretation von Art.  51 SVN findet sich bei ­McCormack, Self-Defense, S. 186 ff. 84 Zur Bedeutung des Begriffs „Frieden“ s. Wolfrum, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 1, Rn. 8 f. 85 Wolfrum, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 1, Rn. 10.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

rung ihrer Ziele im Einzelfall einstehen können86. Es wäre jedoch sinnwidrig, aus diesem Subsidiaritätsverhältnis zum System kollektiver Sicherheit und den Gewalt verneinenden Zielen der Vereinten Nationen ein generelles Verbot vorbeugender Selbstverteidigung abzuleiten, da es im Gegensatz zum Recht auf staatliche Integrität und dem daraus folgenden Unterlassungsanspruch gegen potentielle Schädiger einen Anspruch auf Rechtsschutz durch die Vereinten Nationen gerade nicht gibt87. Überdies können Subsidiarität und das damit auch einhergehende ultimaratio-Prinzip schon ihrem Wesen nach kein absolutes Verbot begründen88. Weitere Gründe finden sich im Rahmen der bereits besprochenen systema­ tischen Auslegung wieder und erlangen an dieser Stelle eine weitere, teleologische Verankerung: Denn der Zweck von Selbstverteidigung ist die Wahrung eigener Integrität durch Schadensabwehr89 – und auch die SVN bezweckt die Wahrung staatlicher Integrität. Als Notrecht kommt Selbstverteidigung hingegen immer erst dann zur Anwendung, wenn die Mechanismen der SVN im Einzelfall keine Wirkung entfalten (können). So kommt erst dann das Selbstverteidigungsrecht zur Entfaltung und wahrt die staatliche Integrität, verfolgt also gleichsam in Ver­ tretung ein Ziel der SVN90. Wie dies vorrangig der Sicherheitsrat anordnen darf, darf notwendige Verteidigung subsidiär ebenso ausnahmsweise gewaltsam geschehen, um durch Schadensabwehr ein entscheidendes Prinzip zu wahren. Selbstverteidigung entspricht damit dem telos der SVN insgesamt, weshalb sie notfalls auch die gleichen Durchsetzungsmechanismen zur Erreichung dieses Zieles anwenden dürfen muss. Dazu kann auch vorbeugende Selbstverteidigung gehören, wenn sie sich als u­ ltima ratio erweist. Andernfalls würde durch den Angreifer nicht nur das Gewaltverbot verletzt, was bei einer Selbstverteidigungslage stets zu beklagen ist; zusätzlich würde aber mangels ausreichenden Verteidigungsrechts die Wahrung staat­ licher Integrität verletzt, mithin ein weiteres Ziel der Vereinten Nationen. Dies kann aber ersichtlich nicht im Sinne der SVN sein. Auch deshalb spricht einiges dafür, aus teleologischen Gründen vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich als rechtmäßig einzustufen und somit [F1] zu bejahen. Folglich müsste sich die Auslegung der Formulierungen zum Auslöservorbehalt an der Bedeutung der französischen, spanischen und chinesischen, nicht aber der englischen und russischen Sprachfassungen orientieren.

86 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S.  70 (mit Verweis auf ibid., S. 48 ff.); Wolfrum, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 1, Rn. 13. 87 Doehring, Völkerrecht, Rn. 762 (S. 329); ähnlich Zoller, ASIL Proc. 98 (2004), S. 333 ff. (336). 88 Dies blendet Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 59, aus und kommt deshalb zu einem gegenteiligen Ergebnis. 89 Vgl. o. 3. Kap. B. I. 2. 90 Ähnlich Schöbener, KJ 2000, S. 557 ff. (570).

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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d) Schlussfolgerungen Die Auslegung der Schlüsselbegriffe zum Auslöservorbehalt des Selbstvertei­ digungsrechts als unmittelbarer Ansatz zur Beantwortung der Fragen [F1] und [F2] verhilft zu folgendem Ergebnis: Die Schlüsselbegriffe divergieren im Vergleich der autoritativen Sprachfassungen in nicht unerheblichem Maße, da die englische und russische Version [F1] zu verneinen scheinen, während die übrigen Sprachfassungen zumindest eine negative Antwort ausschließen. Die Interpretation der Schlüsselbegriffe zur Umdeutung der Divergenz wie auch zur direkten Beantwortung von [F1] führten sodann zu teils indifferenten, teils zu [F1] bejahenden Ergebnissen, insbesondere angesichts der im Zweifel vorzugswürdigen teleolo­ gischen Auslegung. Nach diesem zumindest teilweise klaren Zwischenergebnis könnte man über einen Rekurs auf ergänzende Auslegungsmittel gem. Art. 32 WVK – insbesondere die genetische Analyse – nachdenken. Jedoch würde ein solcher für die Frage zu individueller Selbstverteidigung allgemein nicht aufschlussreich sein91; darüber hinaus wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch auf die gem. Art. 31 (3) WVK vorrangig zu behandelnde spätere Praxis einzugehen sein92, sodass die Heran­ ziehung ergänzender Auslegung schon an dieser Stelle schlicht unstatthaft wäre. Aus eben diesem Grund soll an dieser Stelle auch den teleologischen Auslegungsergebnissen kein hervortretender Wert beigemessen werden, da sie erst im endgültigen Zweifelsfall ausschlaggebend sein sollen. Als Zwischenergebnis sind die Schlüsselbegriffe zum Auslöservorbehalt an dieser Stelle jedenfalls so zu verstehen, dass sie ein Verbot vorbeugender Selbstverteidigung ausschließen. Zudem sprechen gewichtige systematische und teleologische Argumente für eine Bejahung von [F1]. Zur Beantwortung von [F2] hingegen lieferten die Schlüsselbegriffe zum Auslöservorbehalt keine Ergebnisse. 3. Mittelbarer Ansatz

Der mittelbare Ansatz zur Beantwortung von [F1] und [F2] im Rahmen von Art. 51 SVN orientiert sich an den Schlüsselbegriffen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts (z. B. englisch: „inherent right“). Ergibt sich nämlich aus der Eigenschaftsbezeichnung, dass das bis zur Gründung der Vereinten Nationen existente gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht fortgilt, wäre das dabei gewonnene Ergebnis für den Zeitraum des In-Kraft-Tretens der SVN zunächst zu übernehmen. Daran anknüpfend stellt sich – die Fortgeltung unterstellt – dann die Frage, in welchem Verhältnis das fortgeltende Gewohnheitsrecht und das in Art. 51 SVN beschriebene Selbstverteidigungsrecht zueinander stehen.

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s. dazu nur Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 181 f. s. u. 8. Kap. B.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Darüber hinaus führt die Auswertung des mittelbaren Ansatzes zu einer entscheidenden Erkenntnis hinsichtlich der heute für das Selbstverteidigungsrecht gültigen Rechtsquellen. Denkbar ist nunmehr nämlich die Existenz sowohl einer einzigen rein vertraglichen, d. h. satzungsrechtlich zu verstehenden Regelung, deren Inhalt keine Unterschiede mehr zu möglichem Gewohnheitsrecht zulässt, als auch von jeweils einer vertrags- und einer gewohnheitsrechtlichen Quelle. Bei letzterem Fall ist wiederum annehmbar, dass die jeweiligen inhaltlichen Aussagen des Rechts voneinander abweichen, also möglicherweise je nach Rechtsquelle ein unterschiedliches Ausmaß des Selbstverteidigungsrechts zu verzeichnen ist. Dies hat wiederum Einfluss auf die später zu analysierende Staatenpraxis nach 1945. Zu dieser speziellen Frage ist unabhängig vom bereits dargestellten Meinungsstand93 zu vorbeugender Selbstverteidigung eine ebenfalls weit gefächerte Ansichtsvielfalt zu verzeichnen. Diese soll vor der eigentlichen Auslegung der Schlüsselbegriffe zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts dargestellt werden, um anhand der dabei dargelegten Argumente eine pointiertere Interpretation folgen lassen zu können. a) Die vertretenen Theorien Für die Herleitung des Verhältnisses zwischen dem vor der SVN gültigen Gewohnheitsrecht und Art. 51 SVN ist – wie soeben dargelegt und dennoch häufig anzutreffen – nicht auf die zweifelhafte Unterscheidung von „Restriktivisten“ und „Gegen-Restriktivisten“ einzugehen. Vielmehr sind bei differenzierter Betrachtung drei verschiedene Grundpositionen erkennbar, welche im Folgenden als „Verdrängungstheorie“, „Koexistenztheorie“ und „Identitätstheorie“ bezeichnet werden sollen und nun genauer zu untersuchen sind94. aa) Verdrängungstheorie Die wohl radikalste Antwort auf die Frage des zu untersuchenden Verhältnisses geben die Vertreter der hier als „Verdrängungstheorie“ bezeichneten Ansicht95. Demnach habe das Recht der SVN sämtliches vorher geltendes Gewohnheitsrecht

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s. o. 4. Kap. C. Dies deutet auch – ohne Streitentscheidung – Schweisfurth, Völkerrecht, S. 360 f., Rn. 281, an. 95 Brownlie, Use of Force, S. 272 ff.; Cassese, Int’l. Law, S. 359; Diener, Terrorismusdefinition, S. 279; Freiherr von Lepel, HuV 16 (2003), S. 77 ff. (78 f.); Genoni, Notwehr, S. 103 ff.; Guiora, CornellILJ 41 (2008), S.  631 ff. (657 f.); Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 600; Kelsen, Law of the UN, S. 792; Kittrich, Self-Defense, S. 166; Kotzur, AVR 40 (2002), S. 454 ff. (469); Mulcahy/Mahony, HanseLR 2 (2006), S. 231 ff. (234); O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 13; Schindler, Grenzen des Gewaltverbots, S. 11 ff. (17); wohl auch Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 94; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 289; Voigtländer, Notwehrrecht, S. 70.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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in Form progressiver Entwicklung96 verdrängt, sodass letzteres mit In-Kraft-Treten der SVN seine Gültigkeit verloren habe, ohne auf die Regelung von Art. 51 SVN Einfluss nehmen zu können. Argumentiert wird für die Verdrängungstheorie dahingehend, dass die Anerkennung des zuvor geltenden Gewohnheitsrechts Art. 51 SVN zu einer rein deklaratorischen Norm degradieren würde. Besonders die Formulierung „droit naturel“ in der französischen Fassung sei als bloße Reminiszenz auf das im Naturrecht wurzelnde Grundrecht der Staaten zur Selbstverteidigung, nicht aber als Bezug zum Gewohnheitsrecht zu verstehen. Nähme man eine Fortgeltung des alten Gewohnheitsrechts nur wegen des Wortes „inherent“ an, so käme dies einer unverhältnismäßigen Privilegierung dieses Wortes gegenüber dem restlichen Wortlaut und dem Zweck der SVN gleich. Es widerspräche ferner jeder Logik, wenn Art. 51 SVN nur einen kleinen, streng zu verstehenden Teil der Selbstverteidigung regeln und der große Rest dem Gewohnheitsrecht überlassen würde. Außerdem läge ein systematischer Bruch vor, einerseits ein gewohnheitsrechtliches Selbstverteidigungsrecht anzuerkennen, zugleich aber dessen Folgepflicht  – Benachrichtigung des Sicherheitsrats – wiederum vertragsrechtlich zu begründen. Oft wird indes die Verdrängungstheorie ohne die dargelegten Argumente einfach stillschweigend vor­ ausgesetzt. Die Verdrängungstheorie lässt sich grafisch wie folgt darstellen:

Abbildung 11: Die Verdrängungstheorie grafisch aufgearbeitet

bb) Koexistenztheorie Einer zweiten Ansicht nach bestehen die Regelungen zum Selbstverteidigungsrecht in Vertrags- und Gewohnheitsrecht ohne gegenseitige Verdrängung fort. Sie wird daher in dieser Arbeit als Koexistenztheorie bezeichnet. Sie knüpft an die 96 Zur Unterscheidung zwischen progressiver Entwicklung und Kodifikation früheren Gewohnheitsrechts s. Villiger, VCLT, Issues, Rn. 18 f.

322

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Debatten der Konferenz von San Francisco an, wo zunächst Einigkeit darüber bestand, dass das Selbstverteidigungsrecht gewohnheitsrechtlich weitergelte und deshalb eine Erwähnung in der SVN für nicht notwendig erachtet wurde97. Dieser Grundgedanke sei auch nach Einführung von Art. 51 SVN nicht verworfen worden, weshalb von einer Koexistenz beider Quellen auszugehen sei. Innerhalb der Koexistenztheorie sind teilweise98 unterschiedliche Auffassungen über das Rangverhältnis der vertrags- und gewohnheitsrechtlichen Regelungen zu erkennen. Zum einen wird ein Anwendungsvorrang des Vertragsrechts mit unterstellter Sperrwirkung im Hinblick auf das Gewohnheitsrecht (1), zum anderen gerade keine Sperrwirkung (2) angenommen. Ein sich wie auch immer darstellendes Privileg des Gewohnheitsrechts bei gleichzeitiger koexistentieller Geltung des Vertragsrechts wird indes innerhalb der Koexistenztheorie nicht diskutiert99. Dies mag angesichts der Überlegung, dass in der Konsequenz das Vertragsrecht zu einem rein deklaratorischen Akt herabgestuft und damit bei selbständiger Geltung in seinem Sinn entfremdet würde, auch nicht weiter verwundern. Angesichts dieser beiden zu verzeichnenden Abstufungen wird hier zwischen einer „streng-vertragsvorrangigen“ und einer „eingeschränktvertragsvorrangigen“ Koexistenztheorie unterschieden. (1) Streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie Die Vertreter der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie100 halten zwar das vor Gründung der Vereinten Nationen gültige Gewohnheitsrecht für grundsätzlich beachtlich und schließen deshalb nicht aus, dass sich die Schlüsselbegriffe zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts in Art. 51 SVN grundsätzlich auch darauf beziehen können. Jedoch überlagere Art. 51 SVN in seiner Gesamtheit das bis dahin gültige Gewohnheitsrecht auf Grund seiner Gesamtaussage. Grundlage dieser Annahme ist der von den meisten Vertretern dieser Theorie nicht – obwohl es eigentlich der Trennschärfe wegen notwendig wäre – separat verfolgte Gedanke, dass sich aus der Gesamtauslegung von Art. 51 SVN ein ge

97



98

Doc. 944 I/1/34 (1), DocUNCIO Vol. 6, S. 446 ff. (459). Für die Koexistenztheorie ohne Äußerungen zu weiteren Abstufungen Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (508 f.); Bowett, Self-Defense, S. 184 ff.; Dromi San Martino, Legítima defensa, S.  23 ff.; Garwood-Gowers, AustralianYIL 23 (2004), S.  51 ff. (53); Schwebel, ICJ Rep. 1986, S. 259 ff. (347 f.), Abschn. 173. 99 Eine andere Frage ist hingegen jene des Privilegs der gewohnheitsrechtlichen Regelung bei Unselbständigkeit des Vertragsrechts, s. zur Diskussion dazu im Rahmen der Identitäts­ theorie u. 7. Kap. B. III. 3. a) cc). 100 Dinstein, War, Aggr., Self-Def., S.  181 f.; Fassbender, Selbstverteidigung und Staaten­ gemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 99 ff. (129); Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (149 ff.); Randelzhofer, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 51, Rn. 45.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 233; nicht ausdrücklich, aber ebenso zu verstehen zudem Bothe, EJIL 14 (2003), S. 227 ff. (232).

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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nerell engeres Verständnis von Selbstverteidigung ergebe als aus dem vorherigen Gewohnheitsrecht. Nach den Kriterien dieser Arbeit gesprochen würde dies bedeuten: Bereits der unmittelbare Ansatz zur Auslegung der Schlüsselbegriffe von Art. 51 SVN müsste demnach zu einem Verbot vorbeugender Selbstverteidigung führen und Art. 51 SVN für einen Rekurs auf das bis dahin allgemein geltende Gewohnheitsrecht sperren101. Folglich betrachten die Vertreter dieser Theorie für den Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen lediglich den Inhalt der Gegenwärtigkeitstheorie als für die Mitgliedstaaten geltendes Völkerrecht. Im Hinblick auf Selbstverteidigung wird also Anwendungsvorrang ohne Rückgriffsmöglichkeit auf das Gewohnheitsrecht konstruiert. Ungeachtet dessen existiere aber das alte Gewohnheitsrecht fort. Dies gelte jedoch nur für Nichtmitglieder der Vereinten Nationen, während die Bestimmung von Art. 51 SVN absoluten Anwendungsvorrang vor dem koexistierenden Gewohnheitsrecht genieße. Die streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie lässt sich am besten folgendermaßen darstellen, wobei der Vorrang des Vertragsrechts mit dem Hervorgehen des zugehörigen Pfeils aus dem Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen gekennzeichnet werden soll:

Abbildung 12: Die streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie grafisch aufgearbeitet

Ob der angenommene Anwendungsvorrang mit Sperrwirkung heutzutage zugleich auch die faktische Erledigung der gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigung bedeutet102, da nun fast jeder Staat Mitglied der Vereinten Nationen ist, kann im Übrigen nicht so eindeutig beantwortet werden wie es auf den ersten Blick scheint. Denn mag man auch von einem absoluten Vorrang der SVN im Verhältnis 101 Das Gegenteil ist bereits bewiesen, s. o. 7. Kap. B. III. 2. d). I. Ü. wäre es dessen ungeachtet für die Vertreter der gegenteiligen Ansicht konsequent, sich überhaupt nicht mehr mit dem mittelbaren Ansatz zu beschäftigen, sich also nicht zur möglichen Einwirkung des Gewohnheitsrechts zu äußern. 102 Explizit Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (150).

324

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

der Mitgliedstaaten untereinander ausgehen, so muss diese Annahme nicht auch für das heute im Rahmen der Terrorismusbekämpfung virulente Vorgehen gegen Private gelten. Hier kann man zum einen die Position vertreten, dass zumindest mittelbar stets auch VN-Mitglieder beeinträchtigt sind und deshalb auch immer die SVN Anwendung finden müsse. Zum anderen kann man aber auch auf das jeweilige Primärziel einer Selbstverteidigungshandlung abstellen, welches in einer Vielzahl der aktuellen Fälle privater – und damit nicht völkervertraglich gebundener – Natur ist. In letzterem Falle wäre folglich auch nach der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie das fortgeltende Gewohnheitsrecht beachtlich, womit sich diese Auffassung deutlicher von der Verdrängungstheorie absetzt als dies zunächst hätte vermutet werden können. Zu diesem Themenkomplex äußern sich die Vertreter der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie jedoch nicht. (2) Eingeschränkt-vertragsvorrangige Koexistenztheorie Die Vertreter der eingeschränkt-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie103 hingegen gehen basierend auf der (insoweit jedenfalls vorrangigen) Formulierung des Art.  51 SVN von einem grundsätzlich gleichberechtigten104 Nebeneinander von Vertrags- und Gewohnheitsrecht aus. Dabei wird – teils stillschweigend – die SVN als den Mitgliedstaaten untereinander nächstes Regelungswerk regelmäßig vorrangig konsultiert. Insoweit ist auch innerhalb der eingeschränkt-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie von einem Anwendungsvorrang der SVN auszugehen. Im Gegensatz zu den Vertretern der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie wird aber gerade keine Sperrwirkung im Hinblick auf das bis zur Gründung der SVN gültige Gewohnheitsrecht angenommen, sondern im Gegenteil eine überwiegende Übereinstimmung mit Art. 51 SVN unterstellt. Dies folgt aus der grundsätzlich vermuteten Rückgriffsmöglichkeit auf das Völkergewohnheitsrecht bei unklarer oder unterbliebener Regelung durch Art. 51 SVN. Diese Grundannahme ist konsequent, weil sie im Gegensatz zu den Vertretern der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie keiner Konfusion der hier als mittelbar und unmittelbar bezeichneten Ansätze zur Auslegung von Art. 51 SVN unterliegt. Das vor Gründung der Vereinten Nationen gültige Gewohnheitsrecht gelte folglich seitdem ohne Veränderung fort, während zugleich Art. 51 SVN eine vertragsrechtliche Vorschrift geschaffen habe. Eine absolute Überlagerung des Gewohn 103

Bradford, NDLR 79 (2004), S.  1365 ff. (1387 ff.); Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (792); Doehring, Völkerrecht, Rn. 764; Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff. (184 f.); Hofmann, GYIL 45 (2002), S.  9 ff. (31); Kunde, Präventivkrieg, S.  116; Occelli, SDILJ 4 (2003), S.  467 ff. (468); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S.  53; Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (571). 104 Glennon, HarvardJLPP 25 (2002), S. 539 ff. (553 ff.), und wohl auch Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 66, tendieren sogar als einige von wenigen Vertretern zu einem Vorrang des in Art.  51 SVN nur „erwähnten“ Gewohnheitsrechts, gehen aber dennoch von der Ko­ existenz beider Rechtsquellen aus.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

325

heitsrechts durch die SVN komme dabei wegen der Bezugnahme des Wortlautes auf ein „naturgegebenes Recht“ nicht in Frage, weil ein solches schlechterdings nicht eingeschränkt werden könne. Der wesentliche Unterschied beider Regelungsquellen liege bloß im System kollektiver Sicherheit, welches bei Tätig­werden des Sicherheitsrats die Ausübung des „naturgegebenen Rechts“ übernehme und damit ein vertraglich geregeltes Verfahren verwirkliche. Nach dieser Maßgabe kann auch das IGH-Urteil im Nicaragua-Fall in Bezug auf das anzuwendende Recht verstanden werden: „The Court does not consider that, in the areas of law relevant to the dispute, it can be claimed that all the customary rules which may be invoked have a content exactly identical to that of the rules contained in the treaties which cannot be applied by virtue of the United States reservation. On a number of points, the areas governed by the two sources of law do not exactly overlap, and the substantive rules in which they are framed are not identical in content. But in addition, even if a treaty norm and a customary norm relevant to the present dispute were to have exactly the same content, this would not be a reason for the Court to take the view that the operation of the treaty process must necessarily deprive the customary norm of its separate applicability. Nor can the multilateral treaty reservation be interpreted as meaning that, once applicable to a given dispute, it would exclude the application of any rule of customary international law the content of which was the same as, or analogous to, that of the treaty-law rule which had caused the reservation to become effective.“105

Implizit bestätigte der IGH diese Rechtsansicht auch später im ÖlplattformFall106. Nach diesen Vorgaben stellt sich die eingeschränkt-vertragsvorrangige Ko­ existenztheorie grafisch folgendermaßen dar:

Abbildung 13: Die eingeschränkt-vertragsvorrangige Koexistenztheorie grafisch aufgearbeitet

105

ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (93 f.), Abschn. 175; Hervorh. v. Verf. ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (186 f.), Abschn. 51.

106

326

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Nicht recht deutlich wird aus den Bemerkungen des IGH und einiger Vertreter der hier in Rede stehenden Theorie allerdings, ob tatsächlich regelmäßig von einem  – wenn auch für das Gewohnheitsrecht großzügig gestalteten  – Anwendungsvorrang der SVN auszugehen ist. Zu kritisieren wäre bei dann denkbarer absoluter Gleichrangigkeit der Rechtsquellen, dass zumindest keine offenkundige Antwort auf die Frage gegeben wird, wie verfahren werden soll, wenn das Selbstverteidigungsrecht aus beiden Quellen anwendbar ist und zugleich die Subsumtion beider Quellen zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Die Annahme vorbehaltloser Gleichrangigkeit beider Quellen ist unter diesen Voraussetzungen nicht zwingend plausibel. Der IGH brauchte sich zu diesem Problem nicht zu äußern, weil er im Nicaragua-Fall die Anwendung der SVN ausgeschlossen hatte. Vor diesem Hintergrund ließe sich zunächst generell annehmen, dass eine spezielle Rangfolge der Rechtsquellen zwar nicht materiell, dafür aber für jeden Einzelfall anhand der jeweils einschlägigen prozessualen Voraussetzungen definierbar sein kann. Einschlägig sein könnten etwa das IGH-Statut oder auch eine bilaterale Schiedsvereinbarung, wodurch eine prozessual vorrangige Rechtsquelle bestimmt werden könnte. Gestattet das jeweils anwendbare Prozessrecht gleichwohl die Heranziehung beider Quellen, so wäre sodann nach der Natur des Prozessgegenstandes zu entscheiden: Steht die einem Unwerturteil gleichkommende Völkerrechtswidrigkeit staatlicher Gewaltanwendung in Rede, wäre nach dem allgemeinen Grundsatz in dubio pro reo die günstigere Quelle heranzuziehen. Geht es hingegen um zwischenstaatliche Schadensersatzforderungen, wären zunächst die für die jeweilige Partei günstigeren Quellen heranzuziehen und dann ein darauf basierender Interessenausgleich nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu schaffen. Auch wenn staatliches Handeln regelmäßig nicht vom Gedanken an spätere gerichtliche Auseinandersetzungen bestimmt sein mag, würde mit dieser Lösung auch dem sich auf die für ihn günstigere Quelle berufenden Staat das mit gewaltsamen Handlungen verbundene Risiko zumindest auf Ebene der Staatenverantwortlichkeit hinreichend verdeutlicht. cc) Identitätstheorie Eine dritte Ansicht107 lehnt die radikale Verdrängung einer Regelungsform zu Gunsten einer anderen ebenso wie die Vertreter der Koexistenztheorien ab. Zugleich wird aber auch ein voneinander unabhängiges Fortbestehen von inhaltlich 107 Alexandrov, Self-Defense, S. 95; Bothe, AVR 41 (2003), S. 255 ff. (255 f.); Constantinou, Right of Self-Defence, S. 53 ff., 204; Corten, EJIL 16 (2005), S. 803 ff. (813); Gill, ­Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S.  113 ff. (117 f.); Goodrich/Hambro/Simons, Charter (3. Aufl.), S. 344; Guiden, AZJICL 11 (1994), S. 215 ff. (242); Janse, IYHR 36 (2006), S. 149 ff. (164 f.); Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 27 f.; Lamberti Zanardi, Legittima Difesa, S. 224; Maizel, NavalLR 35 (1986), S. 47 ff. (60, 70); McCormack, Self-Defense, S. 211;

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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abweichendem Vertrags- und Gewohnheitsrecht verneint. Was zunächst paradox erscheinen mag, wird bei genauerem Studium anhand der Betrachtungsweise erklärt, dass sich die vertrags- und gewohnheitsrechtlichen Regelungen durch Gründung der Vereinten Nationen und insbesondere durch In-Kraft-Treten von Art. 51 SVN inhaltlich miteinander verbunden hätten, gleichsam ineinander verschmolzen seien108. Auf diese Weise werden inhaltliche Inkongruenzen zwischen beiden Regelungssträngen – welche bei Annahme der Koexistenztheorien bestehen können  – von vorneherein ausgeschlossen. Beide Regelungen existieren demnach als eine Einheit unter einer nur formellen Rechtsquellenunterscheidung zwischen Vertrags- und Gewohnheitsrecht mit identischem Inhalt. Für Mitgliedstaaten der VN wäre diese Quelle die SVN selbst, für Nichtmitglieder wäre dies das dann mit Art. 51 SVN identische Völkergewohnheitsrecht. Dabei wäre Identität in beide Richtungen gegeben: Die für Selbstverteidigung relevanten völkergewohnheitsrechtlichen Elemente aus der Zeit vor 1945 hätten Einzug in Art. 51 SVN gefunden, aber auch durch Art. 51 SVN möglicherweise neu Geschaffenes109 wäre Teil des Gewohnheitsrechts geworden. Angesichts dessen wird im Folgenden von der Identitätstheorie gesprochen. Argumentiert wird für diese These dahingehend, dass durch den Wortlaut „in­ herent“ kein neues Recht geschaffen, sondern nur die bestehende Rechtslage bestätigt worden sei. Damit mache sich die SVN den Besitzstand aus Zeiten vor Gründung der Vereinten Nationen gleichsam zu eigen und bilde so eine im materiellen Sinne kombinierte vertrags- und gewohnheitsrechtliche Einheitsquelle. Hierzu wird wiederum das historische Argument der Konferenz von San Francisco bemüht, wonach eine Regelung des Selbstverteidigungsrechts ursprünglich nicht einmal vorgesehen war. Im Übrigen sei Art.  51 SVN als Ausgangspunkt allein McDougal/Feliciano, Law and Minimum World Public Order, S. 232 ff.; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 18 f.; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (557); Schmitt, Responding to Transnational Terrorism, in: FS-Dinstein, S. 157 ff. (163); Schöbener, KJ 2000, S. 557 ff. (569); Scholz, Selbstverteidigungsrecht gegen terrorist. Gewalt, S. 16; Sicilianos, Les réactions décentralisées á lìllicite, S. 335; Slocombe, Survival 45:1 (Spring 2003), S. 117 ff. (123); Smith, ­YaleJIL 19 (1994), S. 455 ff. (482 f.); Volk, Begrenzung kriegerischer Konflikte, S. 136; Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (496 f.). 108 Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 283 f., argumentiert insofern sehr differenziert, als er nach langer Untersuchung zu dem Ergebnis gelangt, dass die SVN zwar ein formell, nicht aber materiell abgeschlossenes Regime enthalte, in welchem Art. 51 SVN als „Brückennorm“ für „außerchartiale Rechtstitel“ fungiere. Bei Lichte betrachtet handelt es sich hierbei um eine verklausulierte Darstellung der Identitätstheorie. Hiervon ausgenommen sein soll allerdings – wenig konsequent – ein mögliches „prächartiales“ Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung, das nicht fortbestanden haben könne, ibid., S. 347 ff. 109 Zu denken wäre etwa an das erst durch Art. 51 SVN eingeführte Erfordernis, den VNSicherheits­rat über eine Selbstverteidigungshandlung zu benachrichtigen, wenn man dieses nicht bloß formell als Verfahrensvorschrift, die der Natur der Sache nach nur auf Mitgliedstaaten anwendbar sein kann, betrachtet; vgl. dazu jüngst instruktiv Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 68 ff., der i. Ü. bei unterlassener Benachrichtigung allenfalls einen „indicative value in considering the lawfulness of the recourse to force“ (ibid., S. 91) erkennt.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

nicht aussagekräftig genug, um Inhalt und Ausmaß von Selbstverteidigung selbständig begründen zu können, weswegen notwendigerweise auf das bestehende Recht zurückgegriffen werden müsse. Nicht ausgeschlossen wird von Vertretern der Identitätstheorie indes, dass Art. 51 SVN nach Aufgriff des fortgeltenden Rechts dessen Inhalt eingeschränkt bzw. verändert haben könnte; Einigkeit besteht aber darin, dass – im Gegensatz zur Verdrängungstheorie – kein neues Recht geschaffen, sondern bestehendes aufgegriffen wurde und als solches fortgelten soll. Ein weiterer, wenig vertretener, aber im Ergebnis die Identitätstheorie bejahender Argumentationsstrang bezieht sich unabhängig von den soeben dargelegten Thesen auf die Rolle des Selbstverteidigungsrechts als ius cogens110. Unterstellt man nämlich die Zugehörigkeit dieses Instituts zum zwingenden Völkerrecht, so wäre allein deshalb eine Veränderung durch Vertragsrecht schlechterdings nicht möglich; demnach könnte Art. 51 SVN zwangsläufig nur den status quo von 1945 aufgegriffen haben und würde fortan als dessen kodifizierte Bestätigung gelten. Allerdings ist schon zweifelhaft, ob Selbstverteidigung als solche dem ius cogens zuzuordnen ist111; vorbeugende Selbstverteidigung als Sonderform ist dies jedenfalls nicht112, sodass auf diesen Argumentationsgang nicht weiter eingegangen werden braucht. Unabhängig von einem vorzugswürdigen Argumentationsgang lassen sich auch die Aussagen der Identitätstheorie veranschaulichen:

Abbildung 14: Die Identitätstheorie grafisch aufgearbeitet

Zugestanden sei an dieser Stelle, dass sich die Vertreter der Identitätstheorie nicht immer völlig von den beiden zuvor dargestellten Gruppierungen separieren lassen, weil sich ihre Argumente teilweise ähneln, aber ihre Schlussfolgerungen in Bezug auf den Inhalt des heute geltenden Selbstverteidigungsrechts uneinheitlich 110

Cassese, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 51, S. 1357; Sicilianos, Les réactions décentralisées á lìllicite, S. 304 ff. 111 Ausführlich Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 273 ff. 112 O’Connell, The Myth of Preemptive Self-Defense, S. 13.

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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sind113 und sie deshalb oft pauschal nur vermeintlichen „Restriktivisten“ oder „Gegen-Restriktivisten“ zugeordnet werden. Die Konsequenzen, welche die jeweiligen Autoren aus ihren Darstellungen zum Verhältnis des vor und nach 1945 geltenden Rechts – unabhängig von möglichen inhaltlichen Veränderungen  – ziehen, lassen in der Regel aber eine Abgrenzung zu: Werden nach 1945 zwei unabhängig nebeneinander existierende Quellen des Selbstverteidigungsrechts anerkannt, so handelt es sich dabei um die Ansicht der Anhänger der Koexistenztheorie. Wird hingegen faktisch nur eine Quelle gleichen Inhalts für Vertrags- und Gewohnheitsrecht für existent erachtet, so ist zu unterscheiden, ob das vor Gründung der Vereinten Nationen gültige Gewohnheitsrecht aufgehoben und durch eine Neuregelung in Art. 51 SVN ersetzt wurde (Verdrängungstheorie) oder ob das alte Gewohnheitsrecht mit Fortgeltungsanspruch durch Art.  51 SVN inkorporiert und ggf. modifiziert wurde (Identitätstheorie). Exemplarisch dafür kann die oben zitierte Passage des Nicaragua-Urteils114 herangezogen werden: Der IGH hätte auch nach der Identitätstheorie die Möglichkeit gehabt, in der Sache zu entscheiden, obwohl er sich nicht zuständig sah, die SVN als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Er hätte dabei lediglich auf ein mit Art. 51 SVN inhaltlich identisches Völkergewohnheitsrecht abstellen müssen und so implizit auch auf Grundlage von Art. 51 SVN entscheiden können. Genau dies tat er aber nicht. Er stellte keine Identität fest, sondern meinte, „the areas governed by the two sources of law do not exactly overlap, and the substantive rules in which they are framed are not identical in content.“ Es bleibt abzuwarten, ob er an dieser wohl eher aus Pragmatismus vertretenen Auffassung festhält. b) Interpretation im Lichte der Theorien Nach Darstellung der Theorien in Bezug auf den aus den Formulierungen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts hergeleiteten mittelbaren Ansatz gilt es diese nun im Rahmen der üblichen Auslegungsregeln zu bewerten. aa) Wortlaut Der Wortlaut der Formulierungen zu den Eigenschaften von Selbstverteidigung führt wiederum zum Verdacht von Divergenzen in den verschiedenen Sprachfassungen. Das Selbstverteidigungsrecht soll demnach „innewohnend“ (englisch, spanisch), „natürlich“ (französisch, chinesisch) oder „unabdingbar“ (russisch) sein. Stützt man sich auf die englische und spanische Formulierung „innewohnend“, so scheint es zunächst an einem Bezugsobjekt hierzu zu fehlen; es ist auf den 113

Exemplarisch Alexandrov, Self-Defense, S. 95. s. o. 7. Kap. B. III. 3. a) aa) (2).

114

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

e­ rsten Blick nicht ersichtlich, wem oder worin das Selbstverteidigungsrecht inne­ wohnend sein soll. Aus der Satzstellung von Art. 51 SVN eröffnet sich jedoch die Möglichkeit, dass „the present Charter“ bzw. „esta Carta“ sich hierauf beziehen kann. Eine Alternative gibt die Formulierung für sich genommen grammatisch nicht her, es sei denn, man möchte eine übergeordnete und nicht ausdrücklich genannte Instanz als Bezugsobjekt heranziehen. Letzteres spräche für einen auch durch den französisch-chinesischen Wortlaut nahe liegenden Rekurs auf das Naturrecht als unerwähnte, aber überinstanzliche theoretische Quelle der Selbstverteidigung, während der Bezug auf die SVN das Selbstverteidigungsrecht zumindest der Satzung selbst – und damit ihren Prinzipien – „innewohnen“ würde. Gemeinsam haben beide grammatisch möglichen Ansätze, dass das beschriebene Recht bereits vorher – naturrechtlich oder aus den vor In-Kraft-Treten der SVN festgelegten Prinzipien  – bestanden haben muss, sodass jedenfalls ein verbindungsloser Schnitt zwischen den Zeiten vor und nach Gründung der Vereinten Nationen – wie ihn die Vertreter der Verdrängungstheorie vollziehen – tatsächlich nicht vom Wortlaut von nunmehr vier Sprachfassungen – der englischen, französischen, spanischen und chinesischen – gedeckt ist. Verstärkend kommt in Bezug auf die chinesische Version hinzu, dass diese – wie bereits nach Analyse des unmittelbaren Ansatzes gesehen  – ein vorher gültiges Selbstverteidigungsrecht voraussetzt, da sie an ein solches anknüpft und selbst keinen Einfluss auf den Inhalt dieses Rechts nehmen kann. Damit kann für den Wortlaut der vier genannten Ver­sionen trotz der unterschiedlichen verwendeten Begriffe eine gemeinsame Aussage dahingehend getroffen werden, dass er jedenfalls ein zuvor bestehendes Recht in Bezug nimmt und die Verdrängungstheorie widerlegt. Die jeweiligen Synonymfelder von „innewohnend“ und „natürlich“ weisen somit eine diese Aussage bestätigende Kongruenz auf, sodass hier nicht von Divergenzen zu sprechen sein kann. Ein nach russischer Lesart „unabdingbares“ Recht knüpft hingegen an den Status einer Ewigkeitsgarantie an, ohne jedoch auf den vorherigen Erwerb dieses Rechts einzugehen. Damit ist eine Bezugnahme auf den Ursprung nicht darstellbar, insofern divergiert der russische Wortlaut von den übrigen Versionen. Wohl aber ist aus ihm ein herausragender Stellenwert des Selbstverteidigungsrechts abzuleiten. Ein solcher Stellenwert wird auch von keiner Ansicht angezweifelt, sondern im Gegenteil als bedeutsam anerkannt. Möchte man jedoch  – wie die Vertreter der Verdrängungstheorie  – den darauf bezogenen Wortlaut ignorieren, bedeutete dies zugleich den Stellenwert des Selbstverteidigungsrechts zu ignorieren. Dies entspricht aber gerade nicht dem Ziel (auch) dieser Ansicht, weshalb eine Missachtung des Wortlauts nicht im Sinne der SVN geschehen kann. Wollte man indes nur den (stets in Bezug genommenen) englischen Wortlaut unabhängig von den verbleibenden Sprachfassungen ignorieren, so wäre dies ein Verstoß gegen die Auslegungsregeln mehrsprachiger Verträge und folglich ebensowenig überzeugend. Damit spricht der Wortlaut sämtlicher Sprachfassungen aus den verschiedenen dargelegten Gründen gegen die Annahme der Verdrängungstheorie und damit zu-

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

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gleich für eine grundsätzliche (aber ggf. modifizierte) Fortgeltung des zuvor gültigen Gewohnheitsrechts im Sinne der übrigen Ansichten. Nur schwer begründbar scheint angesichts dessen auch die mit der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie einhergehende Meinung, Art.  51 SVN begründe im Verhältnis der Mitglieder der Vereinten Nationen eine Beschränkung auf die Gegenwärtigkeitstheorie. Die daraus folgende absolute Sperrwirkung im Hinblick auf das zuvor gültige Gewohnheitsrecht würde zu dessen faktischen Ausschluss im mitgliedstaatlichen Verhältnis führen und so eine Nähe zur Verdrängungstheorie schaffen, die ohne Überreizung des ermittelten Wortlautes kaum kompensiert werden kann.

bb) Systematik Im Rahmen der systematischen Auslegung zum mittelbaren Ansatz ist zunächst wiederum die Verbindung der Schlüsselbegriffe zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts mit dem Gesamttext von Art. 51 SVN zu untersuchen. Darüber hinaus dürfte sich ein systematischer Vergleich mit dem Recht der Staaten­verantwortlichkeit lohnen. Auch dort spielt das Selbstverteidigungsrecht als circumstance precluding wrongfulness eine zentrale Rolle, weswegen dort angelegte Gedanken zu seinen Quellen ebenso an dieser interpretatorischen Stelle fruchtbar sein können.

(1) Zusammenhang mit dem Gesamttext von Art. 51 SVN Aus systematischen Gesichtspunkten liegt zunächst ein Blick auf den übrigen für vorbeugende Selbstverteidigung relevanten Wortlaut von Art. 51 SVN nahe. Zunächst soll auf die Ergebnisse des zuvor dargestellten unmittelbaren Ansatzes eingegangen werden. Dort stellte sich heraus, dass zumindest ein Verbot vorbeugender Selbstverteidigung nicht aus den Formulierungen zum Auslöservorbehalt entnommen werden kann und zudem gewichtige Gründe für die grundsätzliche Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung sprechen. Die Einwände der Ver­ treter der Verdrängungstheorie, eine Beachtlichkeit des zuvor gültigen Gewohnheitsrechts widerspräche dem übrigen Wortlaut von Art. 51 SVN und würde die hier zu untersuchenden Formulierungen unverhältnismäßig privilegieren, können schon deshalb nicht aufrechterhalten werden – insbesondere verliefe eine solche Argumentation gegen den insofern einzig eindeutigen Wortlaut der chinesischen Version. Aus den gleichen Gründen kann auch nicht behauptet werden, Art.  51 SVN würde bei Anerkennung des Gewohnheitsrechts nur einen kleinen Teil des Selbstverteidigungsrechts regeln. Im Gegenteil wäre aus systematischen Gesichtspunkten auch eine Inbezugnahme des Gewohnheitsrechts eine stimmige Kombination mit den zuvor erlangten Auslegungsergebnissen nach Bereinigung der sprachlichen Divergenzen im unmittelbaren Ansatz.

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7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Darüber hinaus sind in allen Sprachfassungen die Formulierungen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts in einen negativen Kontext eingebettet, welcher sich durch einen jeweils verneinenden Hauptsatz äußert: „Nichts soll das Selbstverteidigungsrecht verhindern“; nicht etwa soll umgekehrt „alles dieses Recht ermöglichen“. Die Tatsache, dass die verneinende Form durchgängig in allen autoritativen Sprachfassungen verwendet wird, lässt auf eine bewusste Entscheidung gegen die hier genannte bejahende Alternative schließen. Eine solche unterscheidet sich in ihrer Bedeutung wesentlich von der bevorzugten Negativform: Etwas, das nicht verhindert werden soll, existierte bereits vorher, während etwas, das – wenn auch mit allen Mitteln – ermöglicht werden soll, neu geschaffen oder zumindest wieder für gültig erklärt wird, vorher also zumindest nicht völlig anerkannt war. Letzteres kann aber für das Selbstverteidigungsrecht nach den aufgezeigten Entwicklungen jedenfalls seit dem „englischen Zeitalter“115 nicht ernsthaft behauptet werden. Daran ändert auch nichts der in vielerlei Hinsicht zweifelhafte Einwand, die wortlautmäßige „Naturgegebenheit“ des Selbstverteidigungsrechts beziehe sich gleichermaßen auf individuelle wie kollektive Selbstverteidigung, obwohl letztere vor Gründung der Vereinten Nationen nicht zum allgemein anerkannten Normbestand gehört habe; deshalb sei die Bezeichnung der „Naturgegebenheit“ insgesamt paradox und damit zu vernachlässigen116. Bereits gegen die Grundannahme einer vor 1945 fehlenden Anerkennung kollektiver Selbstverteidigung spricht neben dem ohnehin unsicheren Nachweis dieser Behauptung117 vor allem das gegenteilige historische Faktum eines langzeitigen von Rechtsüberzeugung getragenen Bestands kollektiver Verteidigungsbündnisse118. Doch selbst wenn man etwaige Zweifel anerkennen möchte, reicht dies nicht zur Feststellung eines textlichen Widerspruchs, weil auch so noch genügend Raum für eine andere, nur auf individuelle Selbstverteidigung bezogene Lesart bleibt, der Wortlaut folglich sinnvoll erhalten werden kann und damit einem Paradoxon den Nährboden entzieht. Des Weiteren ist die Aufnahme des kollektiven Selbstverteidigungsrechts in die SVN einem Zugeständnis an die regionalen Sicherheitsbündnisse – insbesondere des interamerikanischen Systems  – geschuldet, ohne dass eine „Naturgegebenheit“ dabei von Bedeutung wäre119. Auch deshalb kann in diesem Zusammenhang die kollektive Selbstverteidigung im Zweifel ausgeblendet werden, ohne dass dies zu einem Paradoxon oder sonstigen interpretatorischen Einschränkungen führen würde. 115

s. ausführlich o. 6. Kap. C. So aber Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 225. 117 Als nur vermeintliches Fundament für die Annahme Kühns belegt Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 235 f., m. w. N., lediglich, dass der gewohnheitsrechtliche Charakter kollektiver Selbstverteidigung vor 1945 „noch umstritten“ war, schließt ihn aber gerade nicht aus. 118 s. o. 6. Kap. C. I. 119 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 236. 116

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

333

Die gewählte negative Einbettung der Formulierungen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts kennzeichnet folglich die ununterbrochene Gültigkeit eines bereits zuvor vorhandenen und anerkannten Rechts, während dies eine positive Formulierung nicht hätte darstellen können. Demnach muss aus diesen systematischen Gründen von der Fortgeltung des vorherigen gewohnheitsrecht­ lichen Selbstverteidigungsrechts ausgegangen und die Verdrängungstheorie ab­ gelehnt werden. Ferner ist die in Art. 51 SVN verbriefte Pflicht der Sicherheitsratsbenachrichtigung heranzuziehen. Hierbei handelt es sich um eine Bestimmung zur Selbstverteidigungshandlung, welche die Fragen zur Selbstverteidigungslage in keinem Falle berührt. Es kann deshalb auch – wie einige Anhänger der Verdrängungstheorie meinen – kein systematischer Bruch bei einem Rekurs auf das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht vorliegen, weil es hierbei nur um die Fragen des Schon-Vorliegens einer Selbstverteidigungslage und nicht um später anknüpfende Handlungsfragen geht. Vielmehr spricht die Annahme einer systematischen Kombination aus gewohnheitsrechtlichen Anknüpfungspunktbestimmungen und vertragsrechtlichen Folgevorschriften für die Fortgeltung eines aus kombinierten Rechtsquellen herzuleitenden Selbstverteidigungsrechts im Sinne der Iden­ titätstheorie. Zuletzt hat sich schon bei der Darstellung der theoretischen Grundlagen von Selbstverteidigung erwiesen, dass zu den unbestrittenen Rechtmäßigkeitsanforderungen von Selbstverteidigungslage und Selbstverteidigungshandlung  – obwohl oft pauschal gemeinsam genannt – Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit zählen120. Beide essentialia finden sich jedoch nicht im Wortlaut von Art. 51 SVN wieder, sondern werden wie selbstverständlich über den Text hinaus „hinzugelesen“. Es ist angesichts dieser allgemein anerkannten Ergänzung inkonsequent und nicht einzusehen, zugleich andere, textlich sogar eher abzuleitende Ergänzungen wie den Bezug auf das vorher geltende Gewohnheitsrecht auszuschließen. Eine solche Vorgehensweise wäre tatsächlich ein systematischer Bruch, welcher gerade gegen die Verdrängungstheorie spricht. (2) Insbesondere das Recht der Staatenverantwortlichkeit Seit nunmehr dreißig Jahren befasst sich die ILC mit der Kodifikation des Rechts zur Staatenverantwortlichkeit. Dabei wurden auch Überlegungen zu möglichen Quellen des Selbstverteidigungsrechts angestellt, welche sich in Form eines systematischen Vergleichs auch für die Interpretation des mittelbaren Ansatzes zu den Fragestellungen zu vorbeugender Selbstverteidigung nutzbar machen lassen.

120

s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) cc) und b) dd).

334

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

Ausdrücklich zu Gunsten der Identitätstheorie äußerte sich 1980 ILC-Sonder­ berichterstatter Ago121 im Rahmen seiner Forschungen zum Entwurf einer Kodifikation zur Staatenverantwortlichkeit: „[I]t would be hard to believe that there can be any difference whatsoever in content between the notion of self-defence in general international law and the notion of self-defence endorsed in the Charter.“122

Ergriff Ago noch die Gelegenheit, sich im Zusammenhang mit dem eigent­ lichen Thema der Staatenverantwortlichkeit auch zum Verhältnis des Selbstverteidigungsrechts aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht zu äußern, schien später im Jahr 1999 ILC-Sonderberichterstatter Crawford123 eine andere Marschrichtung der ILC vorzugeben: „The commentary124 (…) declines to be drawn into such questions as ‚any total identity of content between the rule in Article 51 of the Charter and the customary rule of international law on self-defence‘.“125

Damit stellte er aber vor allem klar, dass sich die ILC nur im Rahmen des Themas Staatenverantwortlichkeit nicht zum Verhältnis von vertrags- und gewohnheitsrechtlicher Selbstverteidigung erklären möchte; einen Widerspruch zur Ansicht Agos bedeutet dies jedoch nicht: Zum einen wird sie nämlich nicht widerrufen und zum anderen gelten die Ausführungen Crawfords nur dem Kommentar des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit; es soll also schlicht keine allgemeine Position zum Verhältnis von vertrags- und gewohnheitsrechtlicher Selbstverteidigung bezogen werden. In der Endfassung des Kommentars zu dem nun die Selbstverteidigung als circumstance precluding wrongfulness behandelnden Art. 21 des ILC-Entwurfs heißt es dann auch u. a.: „Thus article 21 reflects the generally accepted position that self-defence precludes the wrongfulness of the conduct taken within the limits laid down by international law. The reference is to action ‚taken in confirmity with the Charter of the United Nations‘. In addition, the term ‚lawful‘ implies that the action taken respects those obligations of total restraint applicable in international armed conflict, as well as compliance with the requirements of propostionality and of necessity inherent in the notion of self-defence. Article 21 simply reflects the basic principle for the purposes of chapter V126, leaving questions of the extent and application of self-defence to the applicable primary rules referred to in the Charter.“127

121

Ago, YBILC 1980 Vol. II, S. 13 ff. Ago, YBILC 1980 Vol. II, S. 13 ff. (63, Abschn. 108). 123 Crawford, Addendum Second report on State respinsibility, Abschn. II. C. 3. (f). 124 Gemeint ist der Kommentar zum ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit i. d. F. zum Zeitpunkt des Berichts von Crawford; Hervorh. v. Verf. 125 Crawford, Addendum Second report on State respinsibility, S. 33, Ziff. 293. 126 Gemeint ist nicht etwa Kap. V der SVN, sondern des ILC-Entwurfs. Dessen Kap. V behandelt sämtliche circumstances precluding wrongfulness. 127 ILC, YBILC 2001 Vol. II, S. 26 ff. (75), Art. 21, Abschn. 6; Hervorh. v. Verf. 122

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

335

Der letzte Satz des Kommentars verdeutlicht, dass die ILC im Rahmen der Staatenverantwortlichkeit bloß von einer so bezeichneten primärrechtlichen Existenz des Selbstverteidigungsrechts ausgeht, dessen primärrechtliche Quelle(n) jedoch offen lässt. Genannt wird indes die SVN als solche, allerdings gerade nicht als Primärrechtsquelle des Selbstverteidigungsrechts, sondern bloß als Bezugsvorschrift („referred to“) des bestehenden, aber im Übrigen nicht näher bestimmten Selbstverteidigungsrechts. Trotz dieser bewusst formulierten Unverbindlichkeit im Zusammenhang mit der Rechtsquellenfrage bezieht der Kommentar zum ILC-Entwurf dennoch in einer Hinsicht Stellung: Er geht von der SVN als Ausgangsvorschrift aus (erkennbar am Wortlaut: „­taken in confirmity with the Charter“ bzw. „referred to in the Charter“) und identifiziert damit Art. 51 SVN als alternativlosen Anknüpfungspunkt bei der Suche nach der bzw. den primärrechtlichen Quelle(n) des Selbstverteidigungsrechts. Doch ist dieser Anknüpfungspunkt selbst gerade kein Teil der zu untersuchen verlangten Primärrechtsquellen, vielmehr wird er als bloße Anordnung verstanden, diese ungenannten Primärrechtsquellen zunächst zu finden. Dabei kommt eine Beschränkung auf Art. 51 SVN ausdrücklich nicht in Frage, also ist auch nach dem ILC-Kommentar die Aussage von Art. 51 SVN im Hinblick auf das Verhältnis von vertragsund gewohnheitsrechtlichem Selbstverteidigungsrecht zu überprüfen. Der hier durchgeführte Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen von Art.  51 SVN führte ebenfalls zu der hier aufgeworfenen Frage eines denkbaren völkergewohnheitsrechtlichen Rechts auf (vorbeugende)  Selbstverteidigung; die Auffassung der ILC bestätigt damit zumindest diesen Ansatz unter der Maßgabe, Art. 51 SVN nicht isoliert zu betrachten. Damit ist zugleich auszuschließen, dass Art. 51 SVN für sich selbst eine Verdrängung des Völkergewohnheitsrechts in Anspruch nimmt; andernfalls hätte seine Interpretation nämlich zu einem klaren Ergebnis für sich selbst als einzig gültiger Quelle der Selbstverteidigung führen müssen. Dies führt zu dem Ergebnis, dass gerade auf Grund ihrer fehlenden Stellungnahme zur Frage der primärrechtlichen Quelle(n) der Selbstverteidigung jedenfalls die Verdrängungstheorie aus Sicht der ILC abzulehnen ist. Zu beantworten bleibt nun die Frage, ob die offene Ansicht der ILC Rückschlüsse auf einen möglichen Vorzug von Identitäts- oder Koexistenztheorien zulässt. Während sich Ago anfangs deutlich zu Gunsten der Identitätstheorie positionierte, wurde seine Ansicht im Rahmen der Staatenverantwortlichkeit zwar nicht widerrufen, jedoch zumindest implizit für unverbindlich erachtet. Seitdem fehlt es an bekennenden Stellungnahmen der ILC. Die Inkonformität der Verdrängungstheorie mit der Auffassung der ILC einerseits sowie die unlängst betonte Indifferenz der ILC hinsichtlich der möglichen Primärrechtsquelle(n) der Selbstverteidigung andererseits lassen keinen anderen Schluss zu, als dass die ILC Identitäts- wie Koexistenztheorien gleichermaßen zumindest für möglich hält. Damit lässt sich die Ansicht der ILC jedenfalls dahingehend eingrenzen, dass sie von der fortdauernden Existenz jeweils einer vertrags- und einer gewohnheitsrecht­

336

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

lichen Quelle des Selbstverteidigungsrechts ausgeht, im Übrigen aber keine Aussage zum Verhältnis dieser beiden Rechtsquellen zur Selbstverteidigung untereinander trifft. Unabhängig davon kann aber die hier im Mittelpunkt stehende Frage, ob überhaupt neben dem Völkervertragsrecht des Art. 51 SVN noch eine völker­ gewohnheitsrechtliche Regelung über Selbstverteidigung zu existieren vermag, nach Ansicht der ILC bejaht werden. (3) Zwischenergebnis Insgesamt hat sich nach der systematischen Auslegung des mittelbaren Ansatzes die Verdrängungstheorie als nicht haltbar erwiesen. Im Übrigen ist jedoch kein eindeutiges Ergebnis dahingehend zu ermitteln, ob eine Variante der Koexistenztheorie oder aber die Identitätstheorie als Konsequenz der Schlüsselbegriffe zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts anzunehmen ist. cc) Ziel und Zweck Die teleologische Auslegung der Schlüsselbegriffe zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts kann nicht anders ausfallen als jene zu den Formulierungen des Auslöservorbehalts128, weil auch hier Ziel und Zweck des Selbstverteidigungsrechts als Institut wie auch der gesamten SVN den auslegungsrelevanten Rahmen bilden. Demnach sprechen Ziel und Zweck für eine grundsätzliche Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung auch über den mittelbaren Ansatz. Diese Erkenntnis mag zwar eine Befürwortung auch des Aufgriffs vorher gültigen Gewohnheitsrechts implizieren, sie führt jedoch in Bezug auf die Fortgeltung dieses Rechts zu keinen weiteren aufschlussreichen Folgerungen. Denn auch wenn zu Gunsten der einen oder anderen Theorie zum mittelbaren Ansatz teleologisch argumentiert wird, so betrifft dies stets den Status des nach 1945 für gültig gehaltenen Umfangs des Selbstverteidigungsrechts; ob sich dieser aber aus der SVN selbst oder durch Rekurs auf das vorher geltende Recht ergibt, ist für die teleologische Auslegung nicht von Bedeutung. Sie führt daher an dieser Stelle zu keinen neuen Erkenntnissen, bestätigt aber die Ablehnung der Verdrängungstheorie. c) Schlussfolgerungen Die Auslegungsergebnisse zum mittelbaren Ansatz ergaben ein eindeutig ablehnendes Bild gegenüber der Verdrängungstheorie. Zudem ist auch Skepsis gegenüber der streng-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie angezeigt, weil sie sich faktisch zu nah an der Verdrängungstheorie orientiert und ihre Begründung zu 128

s. o. 7. Kap. B. III. 2. c).

B. Auslegung und Analyse von Art. 51 SVN

337

gleich an der systematisch unsauberen Vermengung von mittelbarem und unmittelbarem Ansatz leidet. Dagegen konnten keine eindeutigen Ergebnisse ermittelt werden, die eher zu Gunsten der eingschränkt-vertragsvorrangigen Koexistenztheorie oder der Identitätstheorie ausgefallen wären; beide Ansichten erscheinen nach hiesigem Stand als gleichermaßen gut vertretbar. Zur Ermittlung eines genaueren Ergebnisses bedarf es an dieser Stelle aus den gleichen Gründen wie beim unmittelbaren Ansatz wiederum keines Rekurses auf ergänzende Auslegungsmittel nach Art. 32 WVK129. Zunächst sind die Vorgaben von Art. 31 i. V. m. Art. 33 WVK auszuschöpfen, was im weiteren Verlauf dieser Arbeit erfolgen wird. Damit steht vorerst fest, dass das vor In-Kraft-Treten der SVN gültige Gewohnheitsrecht zu vorbeugender Selbstverteidigung weiterhin von Bedeutung ist und auch nach 1945 fortgilt. Unklar ist nur, ob es angesichts dessen seit 1945 Rechtsquellen mit einem identischen Inhalt oder mit zwei koexistierenden Regelungen zu Selbstverteidigung gibt; doch selbst wenn letzteres gelten sollte, bleibt wegen der feststehenden Fortgeltung des Gewohnheitsrechts jedenfalls eine Quelle für vorbeugende Selbstverteidigung auch nach 1945 relevant. Da sich zudem bereits bei der Auswertung des unmittelbaren Ansatzes zeigte, dass Art. 51 SVN zumindest kein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung verbietet und das zuvor gültige Gewohnheitsrecht vorbeugende Selbstverteidigung unter den genannten Voraussetzungen gestattete, war auch nach Gründung der Vereinten Nationen vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich rechtmäßig. Es kann daher von jedenfalls einer Ermächtigungsgrundlage zu vorbeugender Selbstverteidigung auch nach InKraft-Treten von Art.  51 SVN ausgegangen werden, sei sie vertragsrechtlicher oder (bzw. und) gewohnheitsrechtlicher Natur. IV. Auswertung Die Auslegung der Schlüsselbegriffe in den verschiedenen autoritativen Sprachfassungen von Art. 51 SVN führte für die Beantwortung von [F1] und [F2] zu folgendem Zwischenergebnis: Sowohl der unmittelbare als auch der mittelbare Ansatz führten zu positiven Feststellungen und schließen ein explizites Verbot vorbeugender Selbstverteidigung aus. Gute Gründe sprechen darüber hinaus für eine aus Art. 51 SVN abzuleitende Ermächtigungsgrundlage zu Gunsten vorbeugender Selbstverteidigung aus dem unmittelbaren Ansatz; den dabei relevanten Formulierungen zum Auslöservorbehalt konnte jedoch nicht eindeutig die Begründung eines Erlaubnissatzes nachgewiesen werden. Der mittelbare Ansatz begründet eine solche Ermächtigungsgrundlage dagegen unzweifelhaft, da er das vorbeugende Selbstverteidigung gestattende vorherige Gewohnheitsrecht aufgreift, welches auf Grund der Ergeb 129

Vgl. aber zum historischen Kontext z. B. ausführlich Constantinou, Right of Self-Defence, S. 26 ff.

338

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

nisse des unmittelbaren Ansatzes durch Art. 51 SVN jedenfalls nicht verbietend modifiziert werden kann. Somit kann [F1] für den Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der SVN als positiv beantwortet gelten. Zu [F2] werden durch den unmittelbaren Ansatz keine Erkenntnisse vermittelt. Der mittelbare Ansatz gelangte hingegen zu dem Ergebnis, dass das vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen gültige gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht fortbesteht, sei es als eigene Rechtsquelle oder als Inkorporation durch Art. 51 SVN. Im ersteren Fall bleibt das anhand von [F2] zu ermittelnde Ausmaß vorbeugender Selbstverteidigung zunächst unverändert, im letzteren Fall kann eine Modifizierung durch Art. 51 SVN jedenfalls nicht so weit gehen, dass vorbeugende Selbstverteidigung als rechtswidrig einzustufen wäre. Im Übrigen waren Modifikationen des Ausmaßes noch zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung durch Art. 51 SVN nicht festzustellen. Folglich gilt für [F2] im Jahr 1945, dass nach den Varianten der Koexistenztheorie ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung gewohnheitsrechtlich in dem zuvor ermittelten Ausmaß fortgilt und dieses nach der Identitätstheorie zumindest nicht auf eine faktische Versagung vorbeugender Selbstverteidigung eingeschränkt werden darf.

C. Weitere Vertragsbestimmungen Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, dass es seit 1945 neben der SVN natürlich weitere völkerrechtliche Verträge gibt, welche einen Einfluss auf die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung ausüben könnten. Auf einige wichtige Verträge, welche für Selbstverteidigung relevant sein könnten, soll nun im Rahmen der Analyse des aktuellen Vertragsrechts kurz eingegangen werden. Zu berücksichtigen ist dabei stets die Vorschrift des Art.  103 SVN i. V. m. Art.  30  (1) WVK, wonach bei vertraglichen Pflichtenkollisionen zwischen Mitgliedern der Vereinten Nationen die Normen der SVN als leges superiores vorgehen130; folglich sind die späteren Vertragsbestimmungen im Zweifel nicht als Gegenstück, sondern als Ergänzung des vorrangigen VN-Rechts zu verstehen, da den Vertragsparteien sicher nicht die Verabschiedung nichtiger Bestimmungen zu unterstellen ist. Eine besondere Rolle spielen Verteidigungsbündnisse, wie sie bereits aus der Zeit vor Gründung der Vereinten Nationen bekannt waren und sich zu einer regionalen Ergänzung zum System kollektiver Sicherheit der SVN entwickelt haben131. Doch auch Vereinbarungen über Flächen- und Raumnutzung weisen verteidigende Elemente auf. Zu nennen sind im Einzelnen u. a. folgende Verträge: 130

Hierzu ausführlich Bernhardt, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 103, Rn. 15 ff., sowie Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 70. 131 Insb. galt dies für die Zeit des Kalten Krieges, vgl. Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 67.

C. Weitere Vertragsbestimmungen

339

Der Interamerikanische Vertrag über gegenseitigen Beistand von 1947 (auch „Rio-Vertrag“ genannt)  – die Nachfolgevereinbarung der richtungsweisenden Akte von Chapultepec – legt in seinem Art. 3 (1) fest, dass „each one of the said Contracting Parties undertakes to assist in meeting the attack in the exercise of the inherent right of individual or collective self-defense recognized by Article 51 of the Charter of the United Nations“. Er bezieht sich damit ausdrücklich auf die soeben analysierte Vorschrift der SVN, versteht als Fortführung der Akte von Chapultepec das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht als fortgeltend und liefert deshalb keine neuen Erkenntnisse außer der Bestätigung des bislang gewonnenen Zwischenergebnisses132. Sein Einklang mit der SVN darf angenommen werden, sodass das bislang gewonnene Zwischenergebnis zu vorbeugender Selbst­ verteidigung bestätigt wird. Ebenso bezieht sich der 1948 geschlossene Vertrag über die Westeuropäische Union (WEU), welcher aus dem Brüsseler Vertrag von 1945 hervorging, in seinem Art. V nur auf Beistandshandlungen „in accordance with the provisions of Article 51 of the Charter of the United Nations“ und bestätigt damit bloß die bereits gewonnenen Erkenntnisse133. Gleichermaßen begründet der Nordatlantikvertrag von 1949 eine gegenseitige Beistandspflicht „in exercise of the right of individual or collective self-defence recognised by Article 51 of the Charter of the United Nations“. Auch durch die NATO wird also das Selbstverteidigungsrecht inhaltlich nicht berührt134. Mit ähnlichen Formulierungen bezieht sich der Vertrag zur gemeinsamen Verteidigung und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Arabischen Liga von 1950 auf die SVN, indem seine Präambel die Prinzipien der Vereinten Nationen beschwört und sein Art. 2 zu gegenseitigem Beistand „in accordance with the right of selfdefense“ aufruft. Damit wird das Selbstverteidigungsrecht nach der SVN inhaltlich weiter bestärkt. Im ANZUS-Vertrag von 1951, der ein Verteidigungsbündnis zwischen den USA, Australien und Neuseeland begründet, wird Selbstverteidigung nicht einmal erwähnt; die Parteien bekennen sich aber zu den Prinzipien der Vereinten Nationen und bekräftigen damit auch die Vorschrift von Art. 51 SVN135. Der Antarktis-Vertrag von 1959136 äußert sich ebensowenig unmittelbar zu ­ ragen des Selbstverteidigungsrechts, ist aber nach seiner Präambel auf friedliche F Zwecke in Einklang mit den in der SVN niedergelegten Zielbestimmungen aus-

132

Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (360 f.). Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (361 f.). 134 Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (153); Walker, CornellILJ  31 (1998), S. 321 ff. (362). 135 Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (364). 136 BGBl. 1978 II, S. 1518. 133

340

7. Kap.: Vorbeugende Selbstverteidigung im Kontext von Art. 51 SVN

gerichtet. Damit kann auch für die Antarktis zum Selbstverteidigungsrecht nichts Anderes gelten als bislang ermittelt. Auch der Weltraum-Vertrag von 1967137 erwähnt Selbstverteidigung nicht ausdrücklich, bekennt sich aber in seinem Art. III zum Völkerrecht einschließlich der SVN. In diesem Sinne ist auch die Vorgabe der friedlichen Nutzung des Weltraums nach Art. IV zu verstehen; der Besitzstand des Völkerrechts – und damit auch des Selbstverteidigungsrechts aus allen denkbaren Rechtsquellen – wird auf den Weltraum übertragen138. Damit wird das geltende Völkerrecht bestärkt, für Selbstverteidigung ergeben sich durch den Weltraumvertrag keine Veränderungen. Ebenso bekennt sich das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) von 1982139 zu den Zielen der SVN, dies indes nur durch seine Präambel. Spezielle Regelungen zur Selbstverteidigung werden nicht getroffen, vielmehr wird wiederum der bestehende Status bestätigt. Eine interessante Erkenntnis liefert dagegen das Zusatzprotokoll über gegen­ seitigen Beistand von 1981 zum ECOWAS-Vertrag, also dem Vertrag der Westafri­ kanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Zum einen ist dies bemerkenswert, weil es sich mit militärischer Unterstützung innerhalb einer Wirtschaftsgemeinschaft befasst. Zum anderen definiert es gem. seinem Art. 2 den Beistandsfall, indem „any armed threat or aggression directed against any Member State shall constitute a ­threat or aggression against the entire Community“140. Selbstverteidigung wird dabei nicht wörtlich erwähnt, ist jedoch in der Sache gemeint, weil sich das Protokoll in seiner Präambel auf Art. 2 SVN sowie in Art. 1 auf die SVN generell bezieht. Folglich – und zusätzlich wegen Art. 103 SVN – möchte und kann sich das Protokoll auch nicht von den Bestimmungen der SVN absetzen, sondern scheint diese für den eigenen Bündnisfall kodifizierend zu konkretisieren, indem auch die bewaffnete (und zugleich noch nicht schadenskausale) Bedrohung als Auslöser einer BündnisSelbstverteidigungslage genannt wird. Es spricht deshalb vieles dafür, dass zumindest auf dortiger regionaler Ebene der Inhalt des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts im Sinne des mittelbaren Ansatzes für maßgeblich erachtet wird. Die Durchsicht wichtiger völkerrechtlicher Verträge nach 1945 hat gezeigt, dass die auf die SVN gefolgten Abkommen verschiedenster Regelungsmaterie regelmäßig zwar häufig auf Selbstverteidigung eingehen, sich dabei jedoch stets auf die SVN selbst beziehen ohne eine inhaltlich konkretisierende Aussage zum Selbstverteidigungsrecht zu treffen141. An dem eben gewonnenen Zwischenergebnis 137

BGBl. 1969 II, S. 1968; hierzu weiter Schladebach, NVwZ 2008, S. 53 ff. Schladebach, NVwZ 2008, S. 53 ff. (56). 139 BGBl. 1994  II, S.  1798; instruktiv zu dessen Entstehung als mehrsprachiger Vertrag ­Rosenne, Meaning of „Authentic Text“, in: FS-Mosler, S. 759 ff. 140 Hervorh. v. Verf.; vgl. hierzu auch Roscini, NILR 54 (2007), S. 229 ff. (275). 141 Mehr Nachweise und Bezugnahmen auf weitere regional beschränkte Verteidigungs­ abkommen bei Walker, CornellILJ 31 (1998), S. 321 ff. (363 ff.), der damit das hier gewonnene Zwischenergebnis bestätigt. 138

D. Fazit: Vorbeugende Selbstverteidigung und Art. 51 SVN

341

ändern die nachfolgenden Verträge somit nichts; sie bestätigen vielmehr die herausragende Stellung der SVN und ihre vorbehaltlose Priorität zur Regelung des Selbstverteidigungsrechts. Andere Vertragsbestimmungen sind daher für den weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht mehr von Bedeutung.

D. Fazit: Vorbeugende Selbstverteidigung und Art. 51 SVN Die SVN als weiterhin wichtigster völkerrechtlicher Vertrag überlagert zumindest in Fragen zum Selbstverteidigungsrecht auch das nach ihr entstandene Vertragsrecht und bleibt damit die hierzu einzig heranzuziehende vertragsrechtliche Vorschrift. Ihre textorientierte Auslegung umschreibt das seit 1945 gültige Völkervertragsrecht nach Anwendung der allgemein anerkannten Interpretationsregeln. Dabei konnte ein Verbot vorbeugender Selbstverteidigung durch den Vertragstext der SVN ausgeschlossen werden. Eine isolierte Betrachtung des Wortlauts von Art. 51 SVN – hier als unmittelbarer Ansatz bezeichnet – konnte angesichts der Formulierungen zum Auslöservorbehalt kein eindeutiges Ergebnis für [F1] hervorbringen, die Auslegungsergebnisse hierzu lassen die Annahme von grundsätzlich zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung aber als deutlich besser vertretbar erscheinen. Bezieht man ferner das zuvor gültige gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht – gleichgültig ob als koexistent oder als in die SVN inkor­poriert – ein, wie es Art.  51 SVN durch seine Formulierungen zu den Eigenschaften des Selbstverteidigungsrechts nach entsprechender Interpretation anordnet, so ist [F1] zu bejahen. Die Beantwortung von [F2] konnte dahingehend präzisiert werden, dass sich das Ausmaß zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung  – also die Umstände eines eine spätere reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses – am Stand von vor 1945 orientiert und zumindest nicht auf eine Form der faktischen Versagung vorbeugender Selbstverteidigung eingeschränkt werden konnte. Damit haben sich auch mit Gründung der Vereinten Nationen die Indikationstheorie wie auch die absolute Imminenztheorie als gut vertretbar, wenn auch erstere nicht als eindeutig zwingend erwiesen. Die relative Imminenztheorie kann zumindest nicht als erwiesenermaßen rechtswidrig ausgeschlossen werden, das Völkerrecht bis 1945 erwies sich ihr gegenüber vielmehr als indifferent bis wohlwollend; eine nähere positive Feststellung hierzu war nicht möglich. Weiter reichende Formen vorbeugender Selbstverteidigung  – insbesondere nach der Latenztheorie  – sind zu diesem Zeitpunkt schließlich als illegal abzulehnen.

8. Kapitel

Die Praxis im modernen Völkerrecht A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss Nach Abschluss der textorientierten vertragsrechtlichen Analyse ist nun auf die für vorbeugende Selbstverteidigung relevante völkerrechtliche Praxis einzugehen. Für die Schärfung des bislang ermittelten Zwischenergebnisses zur Beantwortung von [F1] und [F2] ist die Praxis seit 1945 in dreierlei Hinsicht bedeutend: Grundsätzlich kann sie erstens Einfluss auf das nicht immer eindeutige Zwischenergebnis zum bereits interpretierten Vertragsrecht durch dessen weitere Auslegung oder Änderung ausüben, zweitens als Fortsetzung des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts auf das vor 1945 entstandene und dann fortgeltende Gewohnheitsrecht einwirken und schließlich drittens neues Völkerrecht schaffen. Die verschiedenen Einflussmöglichkeiten der Praxis seit 1945 und die daraus zu ziehenden Konsequenzen werden zunächst genauer zu erörtern sein, um im Anschluss daran die Praxis selbst nach Maßgabe jener Analyse und unter Anwendung von [F1] und [F2] eingehend zu untersuchen. Bevor die konkrete spätere Praxis empirisch aufgearbeitet werden kann, gilt es wiederum einige dogmatische Vorüberlegungen zu tätigen, um so einen die Praxisermittlung unterstützenden Leitrahmen zu ziehen. Die dafür anzustellenden Erwägungen befassen sich zunächst mit der grundsätzlichen Einflussmöglichkeit späterer Praxis auf die in Frage kommenden Rechtsquellen, namentlich auf ihr Einwirkungspotential einerseits auf Art. 51 SVN und andererseits auf das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht. Sodann soll der hier im Fokus stehende Begriff der Praxis inhaltlich genauer bestimmt werden, um die für das Ziel der schärfenden Rechtsermittlung überhaupt relevanten Vorgänge nach ihrer Art zu benennen. Schließlich lassen sich anhand der dann gewonnenen dogmatischen Erkenntnisse diejenigen Rahmenbedingungen unter Zuhilfenahme von Gewichtungsregeln abstecken, nach welchen die Praxisermittlung vorzugehen hat und nach deren Vorgaben ihr jeweiliges Ergebnis im völkerrechtlichen Kontext ein­ zuordnen ist.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

343

I. Einflussmöglichkeiten der Praxis auf das aktuelle Zwischenergebnis Es fragt sich zunächst, welchen Einfluss die im Folgenden zu analysierende Praxis auf das aktuelle Zwischenergebnis zu [F1] und [F2] überhaupt auszuüben vermag. Da eine Antwort auf [F1] und [F2] bislang gleichermaßen aus völkervertragsrechtlicher (in Bezug auf die Identitätstheorie sowie die Vertragsteile beider Varianten der Koexistenztheorie) und völkergewohnheitsrechtlicher (in Bezug auf die gewohnheitsrechtlichen Teile beider Varianten der Koexistenztheorie) Perspektive gesucht wurde, ist es auch an dieser Stelle angezeigt, die Einflussmöglichkeiten der späteren Praxis auf beide Rechtsquellen jeweils gesondert darzustellen. 1. Relevanz für Art. 51 SVN

Um die Relevanz der späteren Praxis für die Zwischenergebnisse zu [F1] und [F2] bezüglich Art. 51 SVN herausstellen zu können, fördert zunächst folgende Feststellung ein ungetrübtes Verständnis: Die SVN ist nach allgemeiner Ansicht ein dynamischer Vertrag, d. h. ihre Ordnung wurde nicht zum Zeitpunkt ihres Abschlusses 1945 starr verankert, sondern ist offen für spätere Entwicklungen1. Ganz allgemein sind multilaterale Verträge – insbesondere Satzungen internationaler Organisationen – schon wegen ihrer Beitrittsoffenheit notwendigerweise als dynamisch unter der Maßgabe objektivierter Auslegungsanforderungen einzustufen2, da ansonsten später hinzutretende Vertragspartner ausschließlich dem Willen der Gründungsparteien ohne eigene Gestaltungsmöglichkeit unterworfen wären. Mit entsprechender Selbstverständlichkeit wurden folglich bereits oben die allgemein anerkannten objektiven Auslegungsregeln der WVK auf Art. 51 SVN angewandt. Gerade dieses Einhergehen von objektiven Auslegungsanforderungen mit dynamischem Vertragswesen3 strahlt auch auf die spätere Praxis ab, indem es ihr gewisse Möglichkeiten eröffnet, auf die in Rede stehende Vertrags­bestimmung Einfluss auszuüben4. Wie dieser Einfluss genau gestaltet sein kann, wird nun zu klären sein. Zu differenzieren ist dabei zwischen der durch Art.  31  (3) lit.  b WVK eröffneten Einflussmöglichkeit in Form der Berücksichtigung von Praxis als Aus­ legungserkenntnisquelle und solchen über die einfache Auslegung hinausreichen­ den Einflüssen in Form der Vertragsgestaltung. Beide Einflussmöglichkeiten unterscheiden sich inhaltlich anhand ihres Verhältnisses zum ursprünglichen Ver

1



2

Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 27, 124 f. Karl, Vertrag und spätere Praxis, S.  166 f.; Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicher­heit, S. 65. 3 Dazu überzeugend Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 125. 4 Kurz angedeutet, aber ebenso kurz auch abgelehnt wird diese Möglichkeit bei Löw, Gewalt­verbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 80.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

tragstext5. Auslegung beschreibt nämlich gerade die inhaltliche Deutung des geschriebenen Vertragstextes6, kann also i. d. R.7 nicht weiter reichen als es der Text selbst zulässt8. Vertragsgestaltung hingegen geschieht losgelöst vom Urtext, weil sie unmittelbaren Einfluss auf den Vertrag als solchen ausübt; Vertragsgestaltung legt nicht aus, sondern hebt alte Regelungen auf, ändert sie und erschafft neue. Wenn also spätere Praxis die Grenzen des noch vertretbaren Auslegungsrahmens überschreitet, kann sie nur unter vertragsgestalterischen Aspekten relevant sein. Folglich ist Auslegung von dem ihr zu Grunde liegenden Vertragstext abhängig; im Gegensatz dazu hängt die Fortgeltung des Vertragstextes von möglicher Vertragsgestaltung ab. a) Auslegung Auf die Frage des interpretatorischen Einflusses von späterer Praxis auf be­ stehendes Vertragsrecht gibt Art. 31 (3) lit. b WVK9 (und damit auch das identische10 für die nicht der WVK beigetretenen Staaten maßgebliche Gewohnheitsrecht) die eindeutige Antwort, dass jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung („agreement“) der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, bei der Auslegung des Vertragsrechts  – und damit auch von Art. 51 SVN – zu berücksichtigen ist11. Die spätere Praxis hat dabei zum einen die Funktion, mittels ihrer Geschehens­ abläufe ein gleichlautendes Vertragsverständnis der Vertragspartner zu Sinn und Zweck des Vertrags zu verdeutlichen12, weist also ein gegenwärtig-subjektives Element zusätzlich zum generell-objektiven Auslegungsprimat der WVK auf. Die sich im zulässigen Auslegungsrahmen des Vertrags bewegende Praxis zeigt so-



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Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 195. Wichtig ist vor allem die unmittelbare Vertragsbezogenheit; so wird die Bedeutung der Auslegung von Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 22, als „Erforschung des Vertragssinns“, von Köck, Vertragsinterpretation, S. 22, als „Schlüssel zum richtigen Verständnis des Vertrags“ gekennzeichnet. 7 Eindeutige Grenzen können allerdings kaum gezogen werden, vgl. auch zutr. Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 369, m. w. N., sowie Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 298; s. i. Ü. differenzierter u. 8. Kap. A. III. 8 Boyle/Chinkin, The Making of Int’l. Law, S. 246. 9 Vgl. den Wortlaut der Vorschrift bereits o. 5. Kap. C. III. 10 Die Identität des Vertrags- und Gewohnheitsrechts hinsichtlich der Regelungen zur Aus­ legung völkerrechtlicher Verträge entspricht der allgemeinen Meinung, s. bereits o. 7.  Kap. B. I.; spezifisch zur späteren Praxis Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1400). 11 Gazzini, JCSL 13 (2008), S. 25 ff. (26); Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 123 ff.; Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S.  64 ff.; Ress, Verfassung und vör. Vertragsrecht, in: FS-Doehring, S. 803 ff. (806); White, Self-defence, Security Council, Iraq, in: GS-­ McCoubrey, S. 235 ff. (238). 12 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 143 ff.

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mit den Konsens13 der Vertragspartner im Umgang mit der jeweiligen Norm und schafft darüber hinaus Konsistenz14 für eine verlässliche Prognose zu zukünftigem Umgang mit denselben Normen. Zum anderen erfüllt die spätere Praxis als Auslegungserkenntnisquelle auch und vor allem objektive Funktionen. Sie gibt die Vertragswirklichkeit15 wieder, projiziert damit die wohl authentischste Auslegungsmöglichkeit und be­ansprucht darüber hinaus Präjudizienwirkung16 für die Zukunft, schafft also ein Stück Rechtssicherheit im Umgang mit dem Vertrag. Beides fördert eine gewisse Gleichförmigkeit17 in der Vertragsanwendung und somit auch die Verlässlichkeit der Vertragsbestimmungen. Zuletzt ist die spätere Praxis – gerade im Hinblick auf die Vorgaben der WVK – als typische Form der dynamischen Auslegung zu qualifizieren18. Dies korres­ pondiert mit der Eigenschaft der SVN als dynamischer Vertrag, welcher schon als solcher eine stets zeitgemäße Handhabe gewährleistet19. Es ist also durchaus nicht ausgeschlossen, dass eine Norm wie Art. 51 SVN entgegen ihrer ursprüng­lichen Intention, aber unter Wahrung ihres generellen telos in der Zukunft eine den zeitlichen Gegebenheiten angepasste und zugleich veränderte Anwendung findet, solange sie den allgemeinen Auslegungsvorgaben  – insbesondere Treu und Glauben20 nach Art.  31  (1) WVK  – entspricht. Deshalb ist auch aktuellerer Praxis tendenziell mehr Gewicht als historisch weiter entfernter zuzugestehen. Sämtliche Funktionen der späteren Praxis als Auslegungserkenntnisquelle reichen damit  – wenn auch aus verschiedenen Perspektiven  – wesensmäßig zuvörderst an die teleologische Interpretation heran. Spätere Praxis kann mithin in Bezug auf Vertragsauslegung als eine teleologische Konkretisierung betrachtet werden, was zudem ihre gleichwertige Position unter den erstrangigen Aus­ legungsfaktoren des gesamten Art. 31 WVK trotz ihres zunächst vertragsexternen Ansatzes zu begründen vermag. Der allgemein anerkannte Auslegungsgrundsatz des Art. 31 (3) lit. b WVK gilt gem. Art. 5 WVK und dem entsprechenden Gewohnheitsrecht ausdrücklich auch hinsichtlich der Gründungsverträge internationaler Organisationen wie der SVN: The present Convention applies to any treaty which is the constituent instrument of an international organization and to any treaty adopted within an international organization without prejudice to any relevant rules of the organization.

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Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 144 ff., m. w. N. Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 156 ff., m. w. N. 15 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 165 ff., m. w. N. 16 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 170 ff., m. w. N. 17 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 177, m. w. N. 18 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 185 ff.; Ress, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Inter­pretation, Rn. 27. 19 Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 23. 20 Ausdrücklich Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 185.

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Damit gelingt es der späteren Praxis auch konkret, das Vertragsrecht der SVN über seine mutmaßliche ursprüngliche Intention hinaus im Wege einer zwingenden Interpretationsvorgabe zu beeinflussen. Den Weg für diese Auffassung ebnete bereits zwei Jahrzehnte zuvor (nämlich am 11. April 1949) das Gutachten des IGH in der Sache Reparation for injuries suffered in the service of the United Nations21, in welchem das Gericht über die satzungsrechtlich nicht geklärte Frage der Rechtspersönlichkeit der Vereinten Nationen zu entscheiden hatte: „[The Charter] has defined the position of the Members in relation to the Organization by requiring them to give it every assistance in any action undertaken by it (Article 2, para. 5), and to accept and carry out the decisions of the Security Council; by authorizing the General Assembly to make recommendations to the Members; by giving the Organization legal capacity and privileges and immunities in the territory of each of its Members; and by providing for the conclusion of agreements between the Organization and its Members. ­Practice – in particular the conclusion of conventions to which the Organization is a party – has confirmed this character of the Organization, which occupies a position in certain respects in detachment from its Members, and which is under a duty to remind them, if need be, of certain obligations.“22

Der IGH verdeutlichte damit, dass auch die Praxis der Vereinten Nationen nach ihrer Gründung deren in der SVN nicht explizit geregelte Rechtspersönlichkeit zum Bestandteil des Primärrechts erhebt und somit der späteren Praxis eine tragende Rolle für die Auslegung der Satzung zukommt. Diese Auffassung hat sich im Anschluss schnell in der Völkerrechtswissenschaft wie auch in der Staatenwelt manifestiert23. Ausgeklammert wurde bis hierhin das Merkmal der Übereinstimmung („agreement“) als tragendes Element der Praxis. Man könnte angesichts der u. a. autoritativen englischen Formulierung geneigt sein, rechtsgeschäftliche – und damit strengere  – Maßstäbe für die Erfüllung dieses Merkmals zu fordern. Dies ist jedoch nicht von der Aussage des Art. 31 (3) lit. b WVK bezweckt, weil sie sich inhaltlich eben nur auf Auslegungsfragen bezieht und damit dem Vertragstext untergeordnet bleibt24. Rechtsgeschäftliche Übereinkünfte schaden dabei zwar nicht, jedoch genügt die einfache und formlose Überzeugung einer durch Praxis geäußerten richtigen Vertragsauslegung. Dies bedeutet zugleich, dass entsprechende Übereinstimmung nur zwischen den praktizierenden Parteien – und nicht etwa stets zwischen allen Vertragsparteien  – bestehen kann und braucht. Das indifferente Schweigen Dritter ist damit wie acquiescence bei der Bildung von Völkergewohnheitsrecht als stillschweigende Zustimmung zu werten25; die Maßstäbe von Art. 31 (3) lit. b WVK sind folglich vergleichbar mit jenen zur Bildung von Völkergewohn­ heitsrecht.

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ICJ Rep. 1949, S. 174–220 (178 f.). Hervorh. v. Verf. 23 Vgl. nur Ress, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Interpretation, Rn. 31. 24 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 193. 25 Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 22.

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Für die Auslegung von Art. 51 SVN hat die spätere Praxis hierzu entsprechend eine den unmittelbaren Auslegungsansätzen gleichwertige und gleichermaßen wichtige Funktion. Art. 31 (3) lit. b WVK ermöglicht die zeitgemäße Anwendung dynamischer Verträge unter gleichzeitiger Wahrung ihres genuinen objektiven Vertragszwecks, wenn innerhalb des generell vertretbaren Auslegungsrahmens die jeweils vertragsanwendenden – für diese Arbeit konkret: die sich vorbeugend verteidigenden – Parteien sich über die konkret gezeigte Auslegung der Vertragsvorschrift – hier also von Art. 51 SVN – einig sind. Diese dann auf Grund von Rechtsüberzeugung praktizierte Vertragsanwendung gilt in ihrer konkreten Ausformung sodann für die Zukunft als die prima facie richtige Auslegungsform, ist aber ihrerseits wiederum dynamisch und kann so durch neuere Entwicklungen abermals beeinflusst werden. b) Gestaltung Von der vertragstextabhängigen Auslegung unterscheidet sich die auf den Vertrag selbst wirkende Gestaltung26. Diese wiederum kann vertragserweiternd, vertragsändernd oder vertragsbeendigend ausfallen. Auch wenn die Folgen von Änderung27 und Beendigung (die Erweiterung sei zunächst ausgeklammert) für einen Vertrag und seine Parteien grundverschieden sein können, sind beide Gestaltungsarten doch in gewisser Weise miteinander verwandt28, denn ihre Wirkungsweisen überkreuzen sich: Die Vertragsänderung bezieht sich nur auf einzelne Vertragsteile (i. d. R. Einzelvorschriften), diese werden aber in ihrer bisherigen Funktion gänzlich aufgehoben und durch neue Vorschriften ersetzt. Die Vertragsbeendigung bezieht sich hingegen auf den gesamten Vertrag und hebt somit auch alle seine Einzelvorschriften auf; ein weitergehendes schöpferisches Element fehlt ihr stattdessen. Anders ausgedrückt lässt sich auch sagen: Die Vertragsänderung wirkt sich zweimal auf einen Vertrag aus, nämlich zunächst destruktiv und dann kreativ, dies tut sie jedoch nur partiell und berührt den Vertrag als Ganzes nicht; sie erledigt also zwei Eingriffe in kleinem Umfang. Dagegen umfasst die Beendigung den Vertrag in seiner Gesamtheit, wirkt sich dafür aber nur ein einziges Mal – und zwar destruk­tiv – auf ihn aus; sie umfasst also nur einen Eingriff, aber in großem 26 Vgl. ausführlich Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 195 ff.; krit. zur Praktikabilität einer solchen Trennung allerdings Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd.  I/3, S.  674, dies. schlagen i. E. jedoch ebenso die hier vorgenommene Abgrenzungsweise vor, ibid., S. 675. 27 Nicht umfasst sind im Falle von Art. 51 SVN Modifikationen mehrseitiger Verträge (vgl. Art.  41 WVK), weil sich solche im Gegensatz zu Vertragsänderungen (vgl. Art.  40 WVK) nur zwischen einzelnen Vertragsparteien auswirken, was zum hier gesetzten Ziel der Ermittlung allgemein gültiger Völkerrechtsregeln nicht weiterführt; s. zur Unterscheidung zwischen Än­derung und Modifikation instruktiv Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 662, 667 f. 28 Dies stellt auch Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 11 f. fest; s. dazu ferner Delbrück/ Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 663; Ruys, ‚Armed Attack‘ and Art. 51, S. 22 ff.

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Umfang. In Abgrenzung dazu wirkt sich die Vertragserweiterung nur kreativ auf Einzelvorschriften aus, sie ergänzt also den vorhandenen Vertragstext über eine ergänzende Auslegung hinaus29. Die spätere Praxis kann sich entsprechend dieser Gestaltungsformen in drei Ausprägungen auf einen Vertrag auswirken, nämlich als negative, konträre oder erweiternde Praxis30. Anders als zur Verbindung mit Auslegungsfragen gibt es zur Vertragsgestaltung durch spätere Praxis31 jedoch keine dem Art. 31 (3) lit. b WVK entsprechende Vorschrift. Lediglich Art. 54 lit. b WVK äußert sich zum vertragsgestalterischen Teilbereich der Beendigung eines Vertrags: The termination of a treaty or the withdrawal of a party may take place: (…) at any time by consent of all the parties after consultation with the other contracting States.

Sind sich also alle Parteien über die Vertragsaufhebung einig, so gilt ein Vertrag als beendet – und zwar formlos durch desuetudo. Aus dieser (gewohnheitsrechtlich anerkannten) Bestimmung einen Erst-Recht-Schluss auf die Vertragsänderung (und natürlich auch: -ergänzung) zu ziehen, wie dies Karl postuliert32, erweist sich jedoch als vorschnell. Wie gerade gesehen, ist nämlich die Vertragsbeendigung nicht zwingend die für die Parteien gravierendste Form der Vertragsgestaltung, wie es Karl festgestellt haben möchte – häufig kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Wird nämlich ein Vertrag beendet, entfallen die vorher geltenden Wirkungen und Verpflichtungen für die Parteien, diese werden also in ihren ursprünglichen Zustand allgemeiner Handlungsfreiheit auf Grund des Prinzips souveräner Staatengleichheit zurückversetzt. Eine Vertragsänderung hingegen beendet nicht nur einzelne Vorschriften, sondern schafft zugleich neue – und damit i. d. R. auch neue Verpflichtungen. So werden die Parteien auf andere Weise gebunden, ohne zugleich in den Zustand allgemeiner Handlungsfreiheit entlassen zu werden. Zumindest aus dem Blickwinkel der Souveränität wirkt sich somit eine Vertragsänderung in Wahrheit einschneidender als eine Vertragsbeendigung aus, weil letztere zu­mindest auf der Pflichtenseite33 uneingeschränkt befreiend wirkt.

29 Bei der Vertragserweiterung dürfte eine Abgrenzung zur bloßen Auslegung am schwersten fallen, denn ein Vertragstext könnte durch schlichte extensive Auslegung manche Ergebnisse erzielen, die in ähnlicher Form auch bei echter Erweiterung enstünden. Unter diesem Aspekt wäre es auch vertretbar, das eben aufgeführte IGH-Gutachten zu Reparation for ­injuries ­suffered in the service of the United Nations als Vertragserweiterung zu verstehen. Da dem Typus der Vertragserweiterung jegliches destruktive Element fehlt, fügt es sich auch nicht reibungslos in die generellen Überlegungen zur Vertragsgestaltung ein. 30 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 215 f. 31 Zur förmlichen Vertragsänderung vgl. hingegen Artt. 39 ff. WVK sowie darauf bezogen Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 662 ff. 32 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 374. 33 Zuzugeben ist, dass umgekehrt auch Ansprüche durch Vertragsbeendigung ersatzlos wegfallen können, während diese bei Vertragsänderung lediglich in anderer Ausgestaltung fort­ wirken können. Das aufgezeigte Verhältnis aus Pflichtenperspektive genügt aber für die Entkräftung des Erst-Recht-Schlusses.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

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Die Übertragung des der desuetudo typischen lediglich subjektiven Elements der Übereinstimmung auf den gesamten Bereich der Vertragsgestaltung gelingt folglich nicht. Grundsätzlich könnte sich daher nur nachfolgendes „echtes“ Völkergewohnheitsrecht oder späteres konträres Vertragsrecht vertragsgestaltend auf den Urtext auswirken. Dass zur Vertragsgestaltung zumindest völkergewohnheitsrechtliche Maßstäbe angelegt werden müssen, bestätigte schon der IGH in seinem Namibia-Gutachten von 197134. Dort konstatiert er zu der Frage, ob eine Resolution des VN-Sicherheitsrats auch bei Stimmenthaltungen ständiger Mitglieder wirksam gefasst werden kann, obwohl dies dem Wortlaut von Art.  27  (3) SVN („affirmative vote (…) including the concurring votes of the permanent members“) widerspricht: „(…) in order to prevent the adoption of a resolution requiring unanimity of the permanent members, a permanent member has only to cast a negative vote. This procedure followed by the Security Council, which has continued unchanged after the amendment in 1965 of Article 27 of the Charter, has been generally accepted by Members of the United Nations and evidences a general practice of that Organization.“35

Demnach ist ständige von übereinstimmender Rechtsüberzeugung getragene Praxis  – mithin (hier mitgliedstaatliches) universelles Völkergewohnheitsrecht in seiner reinsten Form  – grundsätzlich dazu in der Lage, Vertragsbestimmungen auch der SVN mit nachhaltiger Wirkung abzuändern36. Dagegen besteht diese Möglichkeit jenseits der SVN durch das Schließen neuer völkerrechtlicher Verträge  – mögen sie auch mit einem vergleichbaren Maß an Rechtsüberzeugung eingegangen sein  – gerade nicht. Denn die SVN genießt zumindest im Verhältnis zu ihr widersprechenden Verträgen gem. Art. 103 SVN Anwendungsvorrang und kann daher auf vertragsrechtlicher Ebene nur durch die in ihr selbst vorgesehenen Mechanismen – nämlich die förmliche Änderung nach Art. 108 SVN (dazu sogleich) – verändert werden. Aus dem IGH-Namibia-Gutachten ergibt sich daher lediglich, dass die SVN formlos allenfalls37 durch Gewohnheitsrecht Änderungen erfahren könnte. Angesichts der universellen Gültigkeit der SVN muss an ein veränderndes Gewohnheitsrecht jedenfalls gleichermaßen die Anforderung univer­ seller Gültigkeit zu knüpfen sein. Eine Aufhebung der SVN durch desuetudo – womöglich auch nur in Bezug auf einzelne Vorschriften  – steht unabhängig von den vorangestellten Fragen in der



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ICJ Rep. 1971, S. 16–66; vgl. auch Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 234. ICJ Rep. 1971, S. 16–66 (22), Abschn. 22; Hervorh. v. Verf. 36 Gelegentlich wird jedoch angemerkt, dass es sich dabei lediglich um organisationsinterne Praxis handele, so etwa Dehaussy, in: Cot/Pellet/Forteau, Charte, Art. 108, S. 2213. Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 22, ordnet die IGH-Entscheidung sogar der Vertragsauslegung zu, was aber angesichts der klar wortlautwidrigen Praxis als kaum haltbar erscheint. 37 Zur Frage, ob eine gewohnheitsrechtliche inhaltliche Veränderung der SVN überhaupt möglich sein kann, s. sogleich; vgl. zur ablehnenden Position im Bezug auf Art. 103 SVN z. B. Bernhardt, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 103, Rn. 21.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Rechtswirklichkeit nicht zur Diskussion38 und braucht daher auch für die spätere Praxis nicht berücksichtigt werden. Im Übrigen gelten für die allgemeine Vertragsgestaltung durch spätere Praxis die gleichen Erfordernisse wie für das Entstehen von Völkergewohnheitsrecht. Erweist sich also die spätere Praxis über bloße Auslegungsaspekte hinaus als gestalterisch in Bezug auf eine Vertragsvorschrift, so kann ihr dies nur – und im Falle der SVN höchstens – in Form von neuem universellen Gewohnheitsrecht gelingen. c) Grenzen des Praxiseinflusses Nachdem soeben bereits angeklungen ist, dass insbesondere hinsichtlich der Vorschriften der SVN ein späterer Praxiseinfluss gewissen Einschränkungen unterliegt, sollen nun die für [F1] und [F2] konkret bestehenden Grenzen des Praxiseinflusses definiert werden. Deren Überschreitung würde trotz möglichen Nachweises entsprechender späterer Praxis keinesfalls zu einem rechtswirksamen Ergebnis führen. Bereits festgestellt wurde, dass Vertragsbeendigung nach desuetudo jedenfalls im Hinblick auf das Gewaltverbot betreffende Vorschriften der SVN nicht in Frage kommt. Da es sich ferner bei Vertragsgestaltung im Übrigen auch stets um zumindest teilweise schöpferische Tätigkeiten handelt, müssen auch die allgemeinen Bestimmungen zur Ungültigkeit von Verträgen bei deren Verabschiedung gelten. Diese sind in Artt. 46 bis 53 WVK kodifiziert und gelten wiederum gewohnheitsrechtlich. Insbesondere darf demnach eine rechtserhebliche spätere Praxis nicht durch Irrtum, Betrug, Bestechung oder Zwang vollzogen worden sein. Außerdem darf sie nicht gegen ius cogens verstoßen39. Darüber hinaus könnte für die Änderung (auch) von Art. 51 SVN eine besondere Beschränkung durch Art. 108 SVN aufgestellt worden sein40. Diese Vorschrift zwingt zu ausschließlich förmlicher Vertragsänderung, denn sie sieht besondere Anforderungen an Verfahren und Abstimmungsmehrheiten vor, deren Einhaltung zwingende Voraussetzung für eine Änderung der SVN ist. Art. 108 SVN lautet in seinem im Vergleich zu den übrigen autoritativen Sprachfassungen nicht divergierenden englischen Wortlaut: Amendments to the present Charter shall come into force for all Members of the United ­Nations when they have been adopted by a vote of two thirds of the members of the ­General Assembly and ratified in accordance with their respective constitutional processes by two thirds of the Members of the United Nations, including all the permanent members of the Security Council.

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s. bereits o. zur unvertretbaren „Desuetudo-Theorie“ 4. Kap. B. I. Vgl. zu diesen Nichtigkeitsgründen allgemein und genauer Villiger, VCLT, Artt. 46 ff. 40 s.  zum Themenkomplex spezieller Änderungs- und Beendigungsklauseln ausführlich, aber bestreitbar Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 340 ff.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

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Ausgehend von diesem Wortlaut wird regelmäßig in zweifacher Hinsicht angesetzt: Zum einen soll der jeweilige Begriff für das englische „amendmends“ nur auf förmliche Änderungen anwendbar sein und deshalb könne Art. 108 SVN Vertragsänderungen durch spätere Praxis schon sachlich nicht erfassen41. Zum anderen wird der einer späteren Praxis innewohnende Konsensgedanke fortgeführt und dahingehend argumentiert, dass zumindest eine einvernehmliche Vertragsänderung nicht notwendigerweise förmlich durchgeführt werden brauche42. Das förmliche Verfahren des Art. 108 SVN erfordere nämlich nur eine Zweidrittelmehrheit; dessen im Vergleich zur Einstimmigkeit geringere Anforderungen würden innerhalb der SVN durch das förmliche Verfahren kompensiert43. Dies benötige man bei einem allgemeinen Konsens hingegen nicht, sodass die Grenzen von Art. 108 SVN dann nicht auf spätere vertragsändernde Praxis anzuwenden sei. Entgegengehalten wird dieser Umgehungsmöglichkeit von Art. 108 SVN, dass die SVN als „Verfassung“ der Staatenwelt nicht einfach vernachlässigt werden könne und sich deshalb eine spätere entgegenstehende Praxis hierzu verbiete44. Es mag offen bleiben, inwieweit Art. 108 SVN einem Vertragsänderungsprozess der SVN letztendlich Grenzen zu setzen vermag. Es herrscht jedenfalls Einigkeit darüber, dass jede spätere vertragsändernde Praxis grundsätzlich einvernehmlich zu erfolgen hat. So kann durchaus auch das IGH-Namibia-Gutachten verstanden werden, wenn es eine beachtliche vertragsgestalterische Praxis als „generally accepted by Members of the United Nations“45 herausstellt. Der entscheidende Faktor der Einvernehmlichkeit steckt aber im Detail und bleibt überraschend häufig unausgesprochen46: Wenn Einvernehmlichkeit als Plus zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit von Art. 108 SVN und als Ausgleich für das unterlassene förmliche Verfahren verstanden wird, ist diese parallel zum Anforderungsniveau des Art. 108 SVN auch nur durch völkerrechtlich relevantes Verhalten – und nicht etwa durch teilnahmsloses Schweigen  – zu erzielen. Anders ausgedrückt: Die konkrete Bedeutungszuordnung von staatlichem Schweigen zu einer aufkommenden Praxis bildet die entscheidende Weiche zwischen bloßem auslegungsrelevanten Gewohnheitsrecht einerseits und qualifiziert gestaltungsrelevanter Praxis andererseits. Im ersten Fall genügt es nach den allgemeinen Regeln des Völkergewohnheitsrechts bei fehlendem Widerspruch eine acquiescence zu unterstellen47, während im zweiten Fall zur Nichtkundgabe eigener Rechtsüberzeugung völkerrechtlich relevante

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Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 19. Karl/Mützelburg/Witschel, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 108, Rn. 11 ff.; Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 346. 43 Krit. Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/3, S. 671 f. 44 Aufgeführt bei Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 346 f., m. w. N.; zu Recht weist Karl jedoch darauf hin, dass bei diesem Vorbringen gegen seine Ansicht rein begrifflich und nicht inhaltlich argumentiert wird. 45 ICJ Rep. 1971, S. 16–66 (22), Abschn. 22. 46 Kurz andeutend aber Ress, Verfassung und vör. Vertragsrecht, in: FS-Doehring, S. 803 ff. (806). 47 Klarstellend statt vieler Brownlie, Principles, S. 11 f.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Umstände hinzutreten müssen, die auf eine implizierte Zustimmung zur gestalterischen Praxis schließen lassen48. In diesem Sinne impliziert auch die Wendung „generelle Akzeptanz“, wie im IGH-Namibia-Gutachten verlangt, eine höhere Bedeutung als bloße Duldung. Diese im Vergleich zur Bildung von Völkergewohnheitsrecht verschärften An­ forderungen an relevante vertragsgestalterische Praxis folgen ferner aus dem andernfalls obsoleten Änderungsregime der SVN. Das Argument der überobligatorischen Erfüllung der von Art. 108 SVN vorgegebenen Zweidrittelmehrheit kann nämlich nur dann gelten, wenn das praktische Einvernehmen von jedem Staat auf eine Art und Weise bekundet wurde, die einer Zustimmung entspricht. Um Art. 108 SVN nicht zu konterkarieren und damit Einvernehmen tatsächlich als demgegenüber überobligatorisch qualifiziert werden kann, muss Teilnahmslosigkeit am formlosen Veränderungsprozess – anders als bei der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht – als Enthaltung und damit als fehlender Beitrag zum Einvernehmen gelten. Einvernehmen bedeutet also affirmatives völkerrechtliches Verhalten aller Staaten49. Konsequenterweise kann Art.  108 SVN faktisch grundsätzlich durchaus als Grenze der späteren vertragsändernden Praxis angesehen werden; ausgenommen ist freilich der Fall, dass die spätere Praxis einvernehmlich auf Grund geschlossener völkerrechtlicher Überzeugung eines jeden Mitgliedstaates erfolgt. Soweit folglich das Selbstverteidigungsrecht der vertragsrechtlichen Quelle von Art. 51 SVN zugeordnet wird, kann es durch spätere Praxis nur einvernehmlich im Sinne ausnahmslos affirmativen völkerrechtlichen Verhaltens aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verändert werden. 2. Relevanz für das Völkergewohnheitsrecht

Soweit das Selbstverteidigungsrecht als aus dem Gewohnheitsrecht herrührend angesehen wird, ist der Einfluss der späteren Praxis weniger komplex einzustufen. Anders als bei den Vorgaben eines verbindlichen Vertragstextes bedarf es bei der Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht keines Umweges über die Differenzierung zwischen Interpretationsregeln und Fragen nachträglicher Gestaltung. Viel 48 In diese Richtung tendieren unter der Überschrift „Spontaneous Consent“ auch Simma/ Brunner/Kaul, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Art. 27, Rn. 56 ff. 49 Zu bedenken, aber hier nicht erheblich ist daneben die Frage, ob ein solches Verhalten auch regional von Bedeutung sein kann mit der Folge, dass zwischen entsprechend praktizierenden Staaten einer bestimmten Region eine Veränderung der SVN anzunehmen, dies aber universell gerade nicht einschlägig wäre. So könnten regionale Handlungen, die grundsätzlich gegen die SVN verstoßen würden, im Verhältnis der betroffenen Staaten untereinander als Folge partieller Vertragsgestaltung als legal einzustufen sein. Auf diese Art käme z. B. die Rechtmäßigkeit einer regionalen humanitären Intervention in Betracht, für welche es an­ gesichts weltweit nicht konsensfähiger Ansichten zum Schutz bestimmter Menschenrechte keine universell rechtmäßige Handhabe gäbe.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

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mehr besteht ein fließender Übergang zwischen vor der SVN bestehendem und danach gültigem Gewohnheitsrecht, da unter der Annahme von selbständig fortgeltendem Gewohnheitsrecht im Sinne der Varianten der Koexistenztheorie50 gerade keine Zäsur wie das In-Kraft-Treten der SVN und deren Art.  51 den Entwicklungsverlauf des Gewohnheitsrechts beeinflusst hat. Ebensowenig unterliegt Gewohnheitsrecht späterer Interpretation, sondern wird durch die Praxis direkt entweder bestätigt oder verändert. Es ist deshalb als ein einziger sich fortsetzender Prozess zu verstehen, weshalb streng genommen im Falle des Völkergewohnheitsrechts die Praxis seit 1945 keine „spätere“, sondern eher eine „fortlaufende“ ist. Aus den gleichen Gründen kann die hier dennoch einheitlich als „später“ bezeichnete Praxis das bis dahin geltende Gewohnheitsrecht auch nur bestätigen oder gestalten; auch dabei gilt wiederum, dass aktuellere Praxis einen tendenziell höheren Einfluss auf den rechtlichen Besitzstand auszuüben vermag51. Infolgedessen sind in Bezug auf die Gestaltung eines selbständig gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts nur zwei Einflusskonstellationen denkbar, nämlich die einen unantastbaren Kern bewahrende inhaltliche Veränderung52 des bis 1945 geltenden status quo oder aber dessen vollständige Aufgabe zu Gunsten einer neuen Regelung. Beide Entwicklungsformen des Gewohnheitsrechts unterliegen dabei grundsätzlich zwar denselben üblichen Vorgaben53; jedoch sind für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung dabei stets zwei grundlegende Erwägungen zu beachten. Zunächst dürfte eine Neuregelung des Selbstverteidigungsrechts tatsächlich wesentlich schwieriger nachzuweisen sein. Theoretisch gilt formal für beide Varianten die fortgesetzte von Rechtsüberzeugung getragene Übung, inhaltlich braucht sie im Falle der inhaltlichen Veränderung aber eben nur darauf hin ausgerichtet zu sein – und sei es nur durch acquiescence –, während sie im Falle der Neuschaffung auch die Aufgabe der vorherigen Regelung mit umfassen muss. Darüber hinaus und in entscheidender Weise tritt neben diese praktische Er­ wägung die Unumstößlichkeit des seit 1945 absolut geltenden Gewaltverbots. Es ist Bestandteil des ius cogens54 und somit nur durch neues zwingendes Völkerrecht auf Grundlage einer wiederum ausschließlich auf völkerrechtlich relevantem Ver 50 Durch die SVN inkorporiertes, mithin nunmehr unselbständiges Gewohnheitsrecht im Sinne der Identitätstheorie dagegen hat sich an den Vorgaben für Vertragsrecht zu messen. An dieser Stelle wirkt sich also die wenig beachtete Differenzierung von Koexistenz- und Iden­ titätstheorie einmal praktisch aus. 51 So ist auch Bleckmann, Praxis des Völkergewohnheitsrechts, in: FS-Mosler, S. 89 ff. (103), zu verstehen, wenn er dem Völkergewohnheitsrecht eine „allmähliche Kumulierung des Bindungswertes“ attestiert. Wird nämlich die Bindung erst allmählich erzeugt, so ist der historisch jeweils letzte Einfluss hierauf immer der stärkste. 52 Der Begriff der gewohnheitsrechtlichen (inhaltlichen) Veränderung darf dabei nicht mit dem zuvor besprochenen Begriff der Vertragsänderung verwechselt werden. 53 s. o. 5. Kap. C. IV. 54 s. o. 3. Kap. B. I. 1. b).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

halten basierenden Einvernehmlichkeit der gesamten Staatenwelt veränderbar. Sobald folglich eine sich durch spätere Praxis abzeichnende Neuregelung des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts gebildet wird, kann diese nur so weit reichen, als sie nicht den Wesensgehalt des Gewaltverbots berührt. Wenn aber das bestehende gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht zunächst völlig aufgegeben und dann durch eine neue Form der Selbstverteidigung ersetzt wird, bedeutet dies zugleich, eine neue Ausnahme zum Gewaltverbot zu schaffen. Damit wäre jedoch das Gewaltverbot direkt und im Kern betroffen, weil im Gegensatz zu der bloßen inhaltlichen Veränderung einer bestehenden Ausnahme eine neue geschaffen und damit der Anwendungsbereich des Gewaltverbots zugleich verändert würde. Angesichts der im Vergleich zur inhaltlichen Veränderung gerade nicht mehr gegebenen Verbundenheit von alter und neuer Regelung kann dieser Umstand auch nicht durch die Aufgabe der zuvor gültigen Ausnahme kompensiert werden. Sollte die spätere Praxis demnach auf die völlige Außer-Kraft-Setzung des gewohnheitsrechtlichen status quo gerichtet sein und stattdessen eine neue Art von Selbstverteidigung einführen wollen, so kann dies rechtswirksam nur mit ausschließlich positivem Einvernehmen aller Staaten erfolgen. Folglich gelten für eine Neuregelung des gewohnheitsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts durch die spätere Praxis die gleichen hohen Anforderungen wie für die Veränderung von Art. 51 SVN. Hingegen ist die bloße inhaltliche Veränderung des bestehenden Rechts anhand der üblichen für Völkergewohnheitsrecht geltenden Mechanismen möglich. 3. Schlussfolgerungen

Das bis hierhin ermittelte Zwischenergebnis zu [F1] und [F2] kann durch die seit 1945 zu verzeichnende Praxis in mehrfacher Hinsicht rechtswirksam beeinflusst werden. Unterstellt man als Quelle des Selbstverteidigungsrechts Art.  51 SVN gemäß der Identitätstheorie und den Vertragsteilen der Koexistenztheorien, so kann die spätere Praxis inhaltlich nach Maßgabe der üblichen Regelungen für Völkergewohnheitsrecht als verbindliche Auslegung nach Art.  31  (3) lit.  b WVK heran­ gezogen werden; eine über noch vertretbare Auslegungsgesichtspunkte hinausreichende Gestaltung von Art. 51 SVN kann hingegen nur bei positiv festgestelltem und so geäußertem Konsens – d. h. Einvernehmlichkeit – aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen völkerrechtlich beachtlich sein. Betrachtet man dagegen das Gewohnheitsrecht als Quelle des Selbstverteidigungsrechts nach den übrigen Teilen der Koexistenztheorien, so gelten für mög­ liche inhaltliche Veränderungen durch spätere Praxis die allgemeinen Maßstäbe des Völkergewohnheitsrechts direkt. Neuregelungen ohne Anknüpfung an das bislang ermittelte Recht bedürfen hingegen ebenso wie die Vertragsgestaltung einer positiv festgestellten Einvernehmlichkeit der gesamten Staatenwelt.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

355

Auf unterschiedlichen Wegen und auf Grundlage unterschiedlicher Bestimmungen gelten somit im Ergebnis die gleichen Maßstäbe55 für vertrags- und gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigung. Die spätere Praxis kann innerhalb der geltenden Regelungen für Völkergewohnheitsrecht  – entweder in deren direkter Anwendung oder über das Hervorrufen ihrer Maßstäbe durch Art. 31 (3) lit. b WVK – Einfluss auf das aktuelle Zwischenergebnis ausüben, solange die bei InKraft-Treten des allgemeinen Gewaltverbots ermittelten Grundregelungen bestehen bleiben. Dabei ist angesichts der dem Wesen der SVN innewohnenden Dynamik aktuellere Praxis tendenziell beachtlicher als weiter zurückliegende. Sollen hingegen an die Stelle wirksamer Vorschriften neue Bestimmungen treten, so erfordert dies in vertrags- wie gewohnheitsrechtlicher Sphäre positiv festgestelltes Einvernehmen aller Staaten. II. Arten der heranzuziehenden Praxis Wie bereits oben festgestellt wurde56, kann und muss57 grundsätzlich jedes staatliche Handeln als Praxis bezeichnet und damit herangezogen werden. Jedes in Ansehung der Satzungsanwendung wie auch des Völkergewohnheitsrechts relevante Verhalten, das sich auf einen konkreten Sachverhalt i. V. m. vorbeugender Selbstverteidigung bezieht, ist folglich zu berücksichtigen58. Dies bestätigt auch die soeben herausgestellte Erkenntnis, dass unabhängig von der Quellenherkunft des Selbstverteidigungsrechts bei der Praxisermittlung inhaltlich jedenfalls völkergewohnheitsrechtliche Maßstäbe gelten. Praxis ist dabei als Oberbegriff für eben solches unterschiedliches Material wie auch als dessen Inhalt zu verstehen59 – mit anderen Worten: Praxis schließt nicht nur die völkergewohnheitsrechtlich relevanten Geschehnisse ein, sondern auch deren jeweilige rechtserhebliche60 inhaltliche



55 Der – in einem anderen Zusammenhang vertretenen – Auffassung Wiegandts, ­ZaöRV 71 (2011), S. 31 ff. (69), wonach Vertragspraxis gem. Art. 31 (3) lit. b WVK im Gegensatz zu das Gewohnheitsrecht beeinflussender Praxis gerade keiner Rechtsüberzeugung bedürfe und daher Einflussnahme unter geringeren Maßstäben ermögliche, ist entgegenzuhalten, dass sich bei späterer Vertragspraxis stets eine einhergehende Rechtsüberzeugung aus der Bezugnahme auf den bereits – mit rechtlicher Überzeugung – geschlossenen und wirksamen Vertrag ergibt; eine Rechtsüberzeugung gilt dann als implizit geäußert. 56 s. o. 5. Kap. C. IV. 1. 57 Es verbietet sich selbstverständlich und entgegen einer oft verbreiteten Unsitte in der Literatur ein rein selektives Vorgehen zur Stützung des gewünschten Ergebnisses, zu Recht kritisiert dies auch Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 64. 58 Vgl. auch Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S.  41 f.; Ruys, ‚Armed ­Attack‘ and Art. 51, S. 43. 59 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 112. 60 Als rechtserheblich gilt ganz im Sinne von Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 122, jede Praxis, die nicht rechtlich indifferent ist, mithin solche, die in irgendeiner Weise den Rechts­ findungsprozess zu beeinflussen in der Lage ist.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Aussage61. Anzuknüpfen ist damit zunächst an das jeweilige Geschehnis, um sodann seine korrespondierende inhaltliche Aussage zu ermitteln und in Bezug auf [F1] und [F2] völkerrechtlich auszuwerten. Ausgesprochen zahlreich sind die möglichen Arten der heranzuziehenden Praxis62. Im Rahmen der Praxisermittlung sind nämlich sowohl die klassische von Rechtsüberzeugung getragene Staatenübung63 als auch die von eigener Praxis unabhängigen Äußerungen staatlicher Rechtsüberzeugung64 zu untersuchen. Dahinter können Rechtsprechung des IGH65 und auch Handlungen der Vereinten Nationen66 als Repräsentanten der Staatengemeinschaft als Erkenntnisquellen völkerrechtlich relevante Tendenzen zum Ausdruck bringen. III. Bedeutung übereinstimmender Praxis Bislang steht fest, dass die spätere Praxis zur Vertragsauslegung nach Art. 31 (3) lit. b WVK bzw. zur inhaltlichen Veränderung des geltenden Gewohnheitsrechts für ihre Rechtswirksamkeit übereinstimmend sein muss67, während Vertragsgestaltungen bzw. die Schaffung neuen Gewohnheitsrechts anstelle des zuvor gültigen einvernehmlich zu erfolgen hat. Die Unterschiede dieser beiden weniger technisch, sondern vielmehr inhaltlich differenzierend zu verstehenden Begriffe68

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Für weitere Einzelheiten s. ausführlich Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 113 ff.; vgl. i. Ü. die eher rechtssoziologischen, aber verständigen Ausführungen hierzu von Wolfrum, Legitimacy – Introductory Considerations, in: Legitimacy in Int’l. Law, S. 1 ff. (8 ff.). 62 Vgl. für Einzelheiten auch die zahlreichen Nachweise bei Brownlie, Principles, S. 6. 63 Grundsätzlich wäre zu unterscheiden zwischen der Praxis der Vertragsanwender in Bezug auf Art.  51 SVN (vgl. Karl, Vertrag und spätere Praxis, S.  115) und der allgemeinen Staatenpraxis in Bezug auf das gewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht. Im unter­ suchungsrelevanten Fall der Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung sind die Praxis der Vertragsanwender und die allgemeine Staatenpraxis aber tatsächlich identisch, sodass sich eine Differenzierung hier erübrigt. 64 Bleckmann, Praxis des Völkergewohnheitsrechts, in: FS-Mosler, S. 89 ff. (98); Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 116; vgl. ferner Kunde, Präventivkrieg, S. 205. 65 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S.  117; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S.  523 ff. (575 f.); i. Ü. Stein/von Buttlar, Völkerrecht, Rn. 170 f. (S. 53 f.). IGH-Entscheidungen allein können allerdings nicht als ausschließlich relevante Wiedergabe eines völkerrechtlichen status quo dienen, vgl. Green, ICJ and Self-Defence, S. 24 f. 66 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S. 116. Es ist jedoch stets zwischen der VN-Handlung einerseits und dem maßgeblichen dahinterstehenden Willen bzw. der Rechtsüberzeugung der einzelnen Mitgliedstaaten andererseits zu unterscheiden, vgl. Ress, in: Simma (u. a.), Charter of the UN, Interpretation, Rn. 28. 67 Oft ist anstatt von „Übereinstimmung“ auch von „einheitlicher Praxis“ die Rede, vgl. z. B. Kunde, Präventivkrieg, S. 205; Villiger, VCLT, Art. 31, Rn. 22 („consistent“). 68 So versteht z. B. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S.  36, unter „ein­ heitlicher Praxis“ inhaltlich dasselbe wie der Verf. dieser Arbeit das als „Einvernehmen“ Bezeichnete, ohne inhaltlich voneinander abzuweichen; erneut zeigt sich also, dass es nicht auf begriffliche Spitzfindigkeiten, sondern auf inhaltliches Verständnis ankommt.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

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liegen – wie oben hergeleitet69 – im Umgang mit staatlicher Untätigkeit bzw. staatlichem Schweigen. Für eine übereinstimmende Praxis ist Schweigen unschädlich, solange kein Widerspruch erhoben wird, während Einvernehmlichkeit völkerrechtlich relevantes Verhalten aller Staaten erfordert70. Damit steht fest, dass das bislang ermittelte Zwischenergebnis zu [F1] und [F2] nur bei einvernehmlicher späterer Praxis gänzlich derogiert werden kann, was freilich ein eher unwahrscheinliches Szenario darstellen würde. Es soll daher nun auf den unter „Übereinstimmung“ zu verstehenden Inhalt und dessen Auswirkungen auf die Praxisermittlung näher eingegangen werden. 1. Übereinstimmung als relativer Begriff

Entscheidend ist der Umgang mit derjenigen späteren Praxis, welche sich als auslegungskonkretisierend i. S. v. Art.  31  (3) lit.  b WVK bzw. als gewohnheitsrechtsmodifizierend erweist. Nach dem bislang Festgestellten kann eine Praxis nur übereinstimmend sein, wenn sie zumindest keinen Widerspruch erfährt. Realistisch betrachtet ist aber selbst diese im Vergleich zur Einvernehmlichkeit niedrigere Hürde der Übereinstimmung kaum einmal zu überwinden71. Zugleich wäre es aber ignorant und eine Verkennung des Sinnes von Art. 31 (3) lit. b WVK, die spätere Praxis bloß mangels stringent durchgängiger Übereinstimmung überhaupt nicht zu berücksichtigen. Wenn auch unter teilweise recht anspruchsvollen Anforderungen, so zeigt doch die Völkerrechtslehre der vergangenen Jahrzehnte, dass der Faktor der Übereinstimmung in der späteren Praxis eher relativ als absolut zu verstehen ist72. Namentlich Beyerlin73 und Hailbronner74 setzten sich erstmals offen mit der Relativität der Übereinstimmung auseinander, ebenso deuten Karl75 und Krisch76 ein solches Verständnis an. Nicht zuletzt beweist auch die bereits dargelegte inhaltliche Differenzierung der in dieser Arbeit als Einvernehmen und Übereinstimmung bezeichneten Praxisformen, dass sich die spätere Praxis in ihrer Gesamtheit in verhältnismäßigen Abstufungen auch mit völkerrecht­ lichen Auswirkungen entwickeln kann. Wenn schon die Unterscheidung zwischen

69



70

s. o. 8. Kap. A. I. 1. b). Ebenso mit leicht abweichender Begriffsverwendung Brownlie, Use of Force, S. 8. 71 Vgl. auch Matz, Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, S. 298. 72 Vgl. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 35. 73 Beyerlin, ZaöRV 37 (1977), S. 213 ff. (239), versteht Übereinstimmung immerhin schon nicht mehr als absolut, sondern als „ganz überwiegende“ Anerkennung. 74 Hailbronner, Grenzen des Gewaltverbots, S.  49 ff. (65), versteht Übereinstimmung als Praxis durch einen „erheblichen Teil“ der Völkerrechtsgemeinschaft. 75 Karl, Vertrag und spätere Praxis, S.  118, möchte den „erforderlichen Grad der Über­ einstimmung“ offen lassen. 76 Krisch, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, S. 64, wagt zwar nur vorsichtig eine „weitgehend einheitliche Haltung der Staaten“ zu berücksichtigen, was jedoch zugleich die generell notwendige Sensibilität für eine Anerkennung der Relativität der Übereinstimmung verdeutlicht.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Einvernehmen und Übereinstimmung ein Produkt dieser Relation ist, so ist nicht einzusehen, warum Ähnliches nicht auch auf niedrigerer Stufe für mögliche Ausformungen von Übereinstimmung gelten soll. Es ist nunmehr auch allgemein anerkannt, dass Übereinstimmung zumindest nicht ausschließlich absolut aufgefasst werden kann77; welchen völkerrechtlichen Einfluss aber eine lediglich relativ übereinstimmende Praxis auszuüben in der Lage ist, bleibt zumeist unklar78. 2. Übereinstimmung nach Gewichtungsregeln

Auch aus diesem Grunde leitete Kreß in seiner friedenssicherungsrechtlichen Dissertation überzeugend79 drei Gewichtungsregeln zum Umgang mit nicht notwendigerweise absolut übereinstimmender späterer Praxis im Vergleich zur text­ orientierten Auslegung der SVN her80: „(1) Erscheint ein Gewalteinsatz nach der textorientierten Auslegung eindeutig satzungswidrig, so kommt die positive Beantwortung der Ausgangsfrage nur unter der Voraussetzung einer einheitlichen späteren Praxis im Sinne der Satzungskonformität in Betracht. (2) Lassen sich für die Satzungskonformität eines Gewalteinsatzes im Rahmen der text­ orientierten Auslegung Argumente anführen, die nicht ganz entkräftet werden können, jedoch gegenüber den Gegengründen nur sehr geringes Gewicht aufweisen, so ist eine deutlich überwiegende spätere Praxis im Sinne der Satzungskonformität ausreichend, um ein entsprechendes (Gesamt-)Auslegungsergebnis zu erzielen. (3) Lassen sich im Rahmen der textorientierten Auslegung für die Satzungskonformität eines Gewalteinsatzes Gründe anführen, denen mehr als nur sehr geringes Gewicht zukommt, so kann selbst eine deutlich überwiegende abweichende spätere Praxis nicht zur Begründung des Verdikts der Unzulässigkeit angeführt werden.“81

Diese Gewichtungsregeln bilden die harmonische Symbiose aus den beiden notwendigen Bedingungen, dass zum einen spätere Praxis relativ zu verstehen ist und zum anderen – wie an früherer Stelle bemerkt82 – es die Absolutheit des Gewaltverbots verlangt, in Art und Umfang nur positiv feststellbare Ausnahmen hiervon zuzulassen. 77 Villiger, VCLT, Art.  31, Rn.  22, verlangt jüngst: „active practice should be consistent rather than haphazard“ (Hervorh. v. Verf.); er billigt der Praxis damit eine gewisse Relativität zu. 78 Exemplarisch bringt Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (25), diese Unklarheit zum Ausdruck, indem er zur Änderungspraxis der SVN die allgemeine Aussage festhält, dass „such change (…) requires a high threshold of consensus.“ Wie hoch die Schwelle anzulegen und was genau unter Konsens zu verstehen ist, bleibt allerdings offen. 79 A. A. Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 346 f., der jedoch den Grund für seine Ablehnung (auch) der – dort in Fn. 1665 unrichtig zitierten – Kreß’schen Gewichtungsregeln nicht preisgibt. 80 Zur gesamten Herleitung m. w. N. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 34 ff. 81 Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 36 f; Hervorh. im Original. 82 s. o. 5. Kap. A.

A. Überblick zu möglichem Praxiseinfluss

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Weil die Auslegung wie auch die Ermittlung des gewohnheitsrechtlichen Besitzstandes mangels einer rein objektivierten Dokumentation des jeweiligen Aussageinhalts naturgemäß streitbar sein können, kann dies auch auf die mögliche Übereinstimmung der solchen Auslegungs- oder Ermittlungsfragen zu Grunde liegenden Praxis zutreffen. Die Kreß’schen Gewichtungsregeln tragen dieser Streitbarkeit Rechnung, indem sie den konkret-praktischen Abweichungsgrad zu absoluter Übereinstimmung im Verhältnis zur Aussagekraft der textorientierten Auslegung setzen und so ein weiterhin konsistentes und völkerrechtskonformes Ergebnis jenseits von unvertretbaren Legitimitätserwägungen erzeugen. Andernfalls könnte auch der geringste persistent objector selbst das am besten vertretbare, aber noch nicht gänzlich eindeutige und unbestreitbare Auslegungsergebnis auf Dauer zunichte machen, was ersichtlich nicht im Sinne des Völkerrechts und seinem koordinationsrechtlichen – und gerade nicht konfrontationsfördernden – Primat wäre. Damit sind die Kreß’schen Gewichtungsregeln zumindest in Bezug auf friedenssicherungsrechtliche Fragen späterer Praxis zu Ausnahmen des Gewaltverbots ein völkerrechtskonformes Instrumentarium und folglich auch hier bei der Ermittlung der späteren Praxis zur Beantwortung von [F1] und [F2] anzuwenden. 3. Anwendung der Gewichtungsregeln in der Praxisermittlung

Die Kreß’sche Gewichtungsregel (1) entspricht dem hiesigen Verständnis von einvernehmlicher späterer Praxis zur Derogation des festgestellten Rechts83 und kann deshalb auch für diese Arbeit inhaltlich so übernommen werden. Ihre praktische Anwendung wird allerdings – wenn überhaupt – die Ausnahme bleiben und für Fragen vorbeugender Selbstverteidigung keine Rolle spielen. Die Gewichtungsregeln (2) und (3) befassen sich hingegen mit Anwendungsfällen, zu welchen nicht einmal absolut übereinstimmende – als Minus zu einvernehmlicher – Praxis zu verzeichnen ist. Sie gehen von einer noch zu tätigenden textorientierten Auslegung aus, welche im Falle dieser Arbeit jedoch schon abgeschlossen ist; sie können hier also schon konkretisiert in Bezug auf das vorhandene Auslegungs(zwischen)ergebnis angewandt werden. [F1] war demnach als vorbeugende Selbstverteidigung zulassend zu beant­ worten, wobei jedoch der Wortlaut des Satzungstextes allein dieses Auslegungs­ ergebnis nicht zwingend hervorbrachte. Eine entgegenstehende Praxis würde somit zwar nicht wortlautderogierend wirken, verliefe aber gegen die eindeutige primäre Auslegung und müsste damit zumindest übereinstimmend erfolgen. Dies entspräche keiner besonderen Gewichtungsregel, sondern dem insofern unveränderten Ausgangspunkt absolut übereinstimmender, aber nicht notwendigerweise einvernehmlicher Praxis.



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So ausdrücklich Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 38.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Das Zwischenergebnis zu [F2] schließlich erfordert das Heranziehen der beiden letzten Gewichtungsregeln. Das Ausmaß zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung konnte bislang zum einen dahingehend präzisiert werden, dass sich die Indikationstheorie (und mit ihr die Evidenztheorie als das in ihr enthaltene Minus) sowie die absolute Imminenztheorie als gut vertretbar erwiesen. Beiden kommt mithin deutlich mehr als nur geringes Gewicht zu, sodass nach der Kreß’schen Gewichtungsregel (3) auch eine deutlich überwiegende abweichende spätere Praxis nicht zur Unzulässigkeit von Gewaltanwendung nach deren Vorgaben führen kann. Zum anderen konnten keine näheren Angaben zur Zulässigkeit der relativen Imminenztheorie gemacht werden, sie befand sich dabei aber noch im Rahmen des nach textorientierter Auslegung grundsätzlich Vertretbaren. Lediglich vereinzelte Ereignisse der frühen Staatenpraxis vor 1945 deuteten auf eine anerkannte Rechtmäßigkeit von Gewalthandlungen nach der relativen Imminenztheorie hin; dieser positiv kaum in Erscheinung getretene, aber nie abgelehnte gewohnheitsrechtliche Ansatz könnte sodann durch Art. 51 SVN stillschweigend bestätigt worden sein. Die Annahme der Rechtmäßigkeit der relativen Imminenztheorie konnte folglich nach bisherigem Zwischenergebnis zumindest nicht ganz entkräftet werden. Nach der Kreß’schen Gewichtungsregel (2) bedarf es somit einer deutlich überwiegenden späteren Praxis, um Gewalthandlungen nach der relativen Imminenztheorie als rechtmäßig qualifizieren zu können. Nach textorientierter Auslegung unvertretbar gilt im Übrigen bislang die Latenztheorie. Eine Legalisierung von Gewaltanwendung nach dieser zwar nicht per se evident völkerrechtswidrigen, aber nach bislang ermitteltem Besitzstand unrechtmäßigen Theorie kann daher – wie eine Abkehr von dem zu [F1] ermittelten Zwischenergebnis – nur durch absolut übereinstimmende Praxis erfolgen; Ein­ vernehmen hingegen ist dazu nicht erforderlich. IV. Zusammenfassung Damit ist der Untersuchungsrahmen für die fortlaufende Beantwortung von [F1] und [F2] anhand der seit 1945 zu vorbeugender Selbstverteidigung heranziehbaren Praxis abgesteckt. Auszugehen ist von dem bislang ermittelten Zwischenergebnis zu [F1] und [F2], welches im Lichte der späteren Praxis zu überprüfen und ggf. abzuändern ist. Dabei ist all jene völkerrechtserhebliche Praxis aufzugreifen, welche eine inhaltliche Aussage in Bezug auf die Frage erkennen lässt, ob die Umstände an den Auslöser einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage im Vergleich zu reaktiver Selbstverteidigung unterschiedlich sein können84. Innerhalb dieser Überprüfung ist der aktuelleren Praxis angesichts der Dynamik des Völkerrechts ein tendenziell stärkeres Gewicht zuzugestehen.



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Zu erinnern ist dabei an die Ergebnisse von Teil 2, s. o. 4. Kap. E.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Eine gänzliche Derogation des bislang ermittelten Besitzstandes zu Gunsten neuer Regelungen kann nur bei einvernehmlicher Praxis erfolgreich sein und wird – so viel sei bereits verraten – nicht gelingen85. Eine in Abgrenzung dazu ausnahmslos übereinstimmende Praxis ist zu verlangen, wenn die bislang ermittelte grundsätzliche Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung i. S. v. [F1] verneint werden soll. Gleiches gilt im Rahmen von [F2] für das andere noch nicht per se unvertretbare Extrem der Latenztheorie; nach eben diesen Vorgaben angewandte Gewalt kann nur bei entsprechend absolut übereinstimmender Praxis als rechtmäßig bestimmt werden. Dagegen ist keine ausnahmslos übereinstimmende, wohl aber eine deutlich überwiegende spätere Praxis nach der Kreß’schen Gewichtungsregel  (2) zu verlangen, um Gewalthandlungen nach der relativen Imminenztheorie als recht­mäßig einordnen zu können. Schließlich sind aus zeitpunktorientiertem Blickwinkel die absolute Imminenztheorie und aus wahrscheinlichkeitsorientiertem Blickwinkel die Indikations­ theorie als jeweilige Grundlage für rechtmäßige Gewaltanwendung anzunehmen, wenn nach der Kreß’schen Gewichtungsregel (3) nicht gerade eine mehr als deutlich überwiegende – also faktisch eine nahezu eindeutig übereinstimmende – spätere Praxis hiergegen spricht.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung Es wird nun die für die Fragestellungen zu vorbeugender Selbstverteidigung relevante Staatenpraxis im Zeitalter der Vereinten Nationen chronologisch dargestellt und analysiert. Darunter fallen sämtliche tatsächlichen Anwendungsfälle zwischenstaatlicher Gewalt, welche rechtserheblichen Inhalt in Bezug auf vor­beugende Selbstverteidigung hervorbrachten und damit der Überprüfung des Zwischenergebnisses zu [F1] und [F2] förderlich sind. Dabei wird der Übersichtlichkeit halber in der Darstellung zwischen relevanter Praxis vor und nach dem 11. September 2001 differenziert. I. Die Praxis vor dem 11. September 2001 Bereits vor den Terroranschlägen des 11.  September 2001 waren zahlreiche Praxisfälle von Gewaltanwendung unter (jedenfalls behaupteter) vorbeugender Selbstverteidigung zu verzeichnen:



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Ebenso im Vorgriff z. B. Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 196.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 1. Der Beginn des Konflikts um Jammu und Kaschmir 1947/48

Nach der vom Vereinigten Königreich erlangten Unabhängigkeit der Staaten Indien und Pakistan wurde dem Teilstaat Jammu und Kaschmir von der ehemaligen britischen Kolonialmacht das Recht zugebilligt, eigenständig über seine Zukunft zu entscheiden. Der Maharadscha von Jammu und Kaschmir tendierte dazu, mit seinem Gemeinwesen in den nördlichen Grenzregionen von Indien und Pakistan einem dieser beiden Staaten beizutreten86. Als im Oktober 1947 noch keine Entscheidung getroffen war, drangen – mutmaßlich mit Unterstützung der pakistanischen Regierung – große Zahlen pakistanischer Staatsangehöriger gewaltsam in Jammu und Kaschmir ein und übernahmen die Kontrolle einiger Gebietsteile, was von Indien als Bedrohung des erwarteten neuen Territoriums empfunden wurde. Als Reaktion auf die Masseninvasion bestätigte der Maharadscha von Jammu und Kaschmir das indische Anwartschaftsgefühl, indem er sich am 27. Oktober 1947 mit seinem Staat Indien anschloss, was von Seiten Indiens später durch einen Volksentscheid bestätigt werden sollte87. Zugleich wurden indische Truppen in Jammu und Kaschmir stationiert. Pakistan erkannte das gesamte Vorgehen freilich nicht als rechtmäßig an. Indien brachte die Angelegenheit im Januar 1948 vor die Vereinten Nationen mit der Begründung, eine pakistanische Okkupation Jammus und Kaschmirs – und damit nunmehr indischen Staatsgebiets – sei im Gange. Pakistan verlangte hingegen den Abzug indischer Truppen aus dem umstrittenen Gebiet und sandte später im Mai 1948 seinerseits militärische Einheiten nach Jammu und Kaschmir, um der Angriffsbedrohung durch Indien gegenüber dem eigenen Staatsgebiet und dem fortlaufenden Flüchtlingsstrom entgegenzuwirken88. Es kam zu Kampfhandlungen, welche jeweils als Selbstverteidigungshandlung für zulässig erachtet wurden89. Vor dem VN-Sicherheitsrat vertrat Pakistan die Position, dass das Entsenden eigener Truppen nach Jammu und Kaschmir zwar grundsätzlich eine Gebietsverletzung bedeutete, diese aber als Selbstverteidigung gegen die indische Bedrohung gerechtfertigt gewesen sei. Die bloße Präsenz indischer Truppen im Grenzgebiet zu Pakistan und die dadurch in Pakistan ausgelöste Belastung durch Flüchtlinge hätten eine vorbeugende Gewaltanwendung erfordert, da die dadurch erlittenen Nachteile wie auch die für eine indische Invasionen nach Pakistan günstige geografische Lage im Grenzgebiet mit den dort stationierten indischen Truppen eine zukünftige Gebietsverletzung Pakistans durch Indien vorgezeichnet hätten90.

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Teils ausführlichere Darstellungen bei Alexandrov, Self-Defense, S. 127 ff.; Bowett, SelfDefense, S. 189; Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (467). Zu weiteren Hintergründen s. vor allem Potter, AJIL 44 (1950), S. 361 ff. 87 Potter, AJIL 44 (1950), S. 361 ff. (361). 88 Alexandrov, Self-Defense, S. 127 f. 89 Alexandrov, Self-Defense, S. 128. 90 Der pakistanische Gesandte begründete im Sicherheitsrat am 08.02.1950 die Gewalt­ anwendung mit „the main object: to avoid the imminent danger that threatened the security of Pakistan and the economy of Pakistan“, UN Doc. S/PV.464, S. 30. Am 09.02.1950 bestand er

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Mit anderen Worten verteidigte sich Pakistan auf Grundlage von vorbeugender Selbstverteidigung nach Maßgabe der Indikationstheorie, indem es innerhalb der gegebenen Spannungslage auf verschiedene Indikatoren für eine jederzeit mögliche, durch Indien ausgelöste reaktive Selbstverteidigungslage abstellte und auf Grund des Vorgeschehens einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang herstellte. Indien lehnte diese Begründung ab, weil sie zwar vor dem Zeitalter der Vereinten Nationen gültig gewesen sein möge, jedoch nicht in Einklang mit Art. 51 SVN zu bringen sei91. Zu diesen beiden konträren Rechtsauffassungen gab es keine Bekundung staatlicher Rechtsüberzeugung von dritter Seite, ebensowenig ging hierauf der Sicherheitsrat in einer seiner Resolutionen92 zum Kaschmir-Konflikt ein. Damit ist im Streit um Jammu und Kaschmir eine Patt-Situation zu den Fragen vorbeugender Selbstverteidigung zu verzeichnen: Pakistan vertrat die Indikationstheorie, während Indien vorbeugende Selbstverteidigung für grundsätzlich illegal hielt und damit die Gegenwärtigkeitstheorie vertrat. Nach der Kreß’schen Gewichtungsregel (2) verbleibt es damit vorerst beim Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung. 2. Der Konflikt um den Suez-Kanal 1956

Am 26.  Juli 1956 verkündete der ägyptische Präsident Nasser die Verstaat­ lichung der von Frankreich und dem Vereinigten Königreich betriebenen SuezKanalgesellschaft. Nicht nur die beiden enteigneten Staaten, sondern auch Israel lehnten die Verstaatlichung entschieden ab. Israel befürchtete zudem für sich selbst einen Versorgungsengpass, weil am nun ägyptisch kontrollierten Suez-Kanal jedem Schiff die Durchfahrt nach Israel verweigert wurde; Israel wurde regelrecht vom Seehandelsverkehr ausgeschlossen. Gleichzeitig erlitt Israel Angriffe von privaten und mutmaßlich ägyptisch unterstützten Fedajin-Untergrundkriegern aus den ägyptischen Gebieten Sinai und Gaza und wurde so durch die Geschehnisse am Suez-Kanal deutlich geschwächt93. Am 29. Oktober schließlich marschierte Israel entgegen dem israelisch-arabischen Waffenstillstandsabkommen von 1949 in die Sinai-Halbinsel, die zum ägypauf einer „purely defensive role“ der pakistanischen Streitkräfte, UN Doc. S/PV.465, S. 7. Vgl. i. Ü. die Erklärungen Pakistans zur Gesamtsicherheitslage im Sicherheitsrat am 08.02.1950, UN Doc. S/PV.464, S.  6 ff., sowie die Ausführungen hierzu von Alexandrov, Self-Defense, S. 128, und Bowett, Self-Defense, S. 189, jeweils m. w. N. 91 So der indische Gesandte im Sicherheitsrat am 10.02.1950, UN Doc. S/PV.466, S. 4. 92 Insb. schweigt hierzu Res. 80 vom 14.03.1950 als Reaktion auf die zuvor vorgetragenen Rechtsansichten Pakistans und Indiens, UN Doc. S/1469 (1950). 93 Ausführlicher zum Hergang der Geschehnisse Alexandrov, Self-Defense, S.  150 ff.; im historischen Gesamtkontext Marston, ICLQ 37 (1988), S. 773 ff. (774 ff., 801 f.); Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

tischen Staatsgebiet gehörte, ein; dort kam es zu wiederholten Kampfhandlungen zwischen israelischen und ägyptischen Streitkräften. Ein daraufhin von den USA in einer außerordentlichen Sitzung des Sicherheitsrats vorangetriebener Resolutionsentwurf mit dem Ziel, Israel zum Rückzug aufzufordern, scheiterte am Veto Frankreichs und jenem des Vereinigten Königreichs. Letztere beiden Staaten setzten ihrerseits Ägypten ein Ultimatum, innerhalb dessen sämtliche gewalt­samen Handlungen einzustellen waren; nach dessen Ablauf begannen sie ägyptische Flugplätze zu bombardieren94, um ein Ende des Kampfhandlungen zu erzwingen95. Erst die vermittelnden und zugleich unmissverständlichen Beschlüsse der VN-Generalversammlung96 sowie massiver politischer Druck durch einen einflussreichen Teil der Staatenwelt konnten die Konfliktsparteien zu einem Ende der Kampfhandlungen am 7. November 1956 bewegen. Israel zog sich aus den besetzten Gebieten zurück und das inzwischen fast vollständig durch das Vereinigte Königreich besiegte Ägypten gab den Suez-Kanal wieder frei97. Erstmalig in ihrer Geschichte entsandten im Anschluss daran die Vereinten Nationen zur Stabilisierung der Lage mit der United Nations Emergency Force (UNEF) Friedenstruppen nach Sinai. Der Konflikt um den Suez-Kanal hatte vielschichtige politische und histo­ rische Gründe, entsprechend mannigfaltig fielen auch die einzelnen Begründungen zur Gewaltanwendung seitens der beteiligten Staaten aus. Diese sollen hier ausgeklammert werden98, um lediglich auf ein mögliches Handeln in vorbeugender Selbstverteidigung einzugehen99. Auf ein solches berief sich auf internationaler Ebene zunächst nur100 Israel im Zusammenhang mit seinem Einmarsch in Sinai101. Dieser sei als Selbstverteidigungshandlung notwendig gewesen, um die Angriffe durch die ägyptischen Fedajin-Aufständischen von dort zu unterbinden, um die vertraglich zugesicherte Durchfahrt durch den Suez-Kanal zu verteidigen sowie um der Bedrohung durch Ägypten entgegenzuwirken, welches Israel zu vernichten angedroht hätte102. Israels inhaltliches Argument für vorbeugende Selbstverteidigung ist dabei eine Kombination aus den bereits zuvor massiv erlittenen, mutmaßlich von Ägypten

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Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (258). Dies geschah ausdrücklich – jedenfalls offiziell – nicht zur Unterstützung Israels, wie dies Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (274), zutr. klarstellt. 96 Insb. Res. 997, UN Doc. A/3354, S. 2. 97 Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (259). 98 Nachweise hierzu bei Marston, ICLQ 37 (1988), S. 773 ff. (776 ff.), sowie Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (271 ff.). 99 Ebenso auf vorbeugende Selbstverteidigung abstellend Minnerop, Paria-Staaten, S. 461. 100 Soweit in der Literatur auch ein Rekurs auf vorbeugende Selbstverteidigung durch das Vereinigte Königreich erwähnt wird, ist zu bedenken, dass solche Überlegungen nur regierungsintern vorgenommen wurden (s. sogleich). 101 So der israelische Gesandte im Sicherheitsrat am 30.10.1956, UN  Doc. S/PV.749, Abschn. 33–109. 102 Zusammenfassend Alexandrov, Self-Defense, S. 151; Wright, AJIL 51 (1957), S. 257 ff. (271).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

365

gesteuerten Fedajin-Attacken und der allgemeinen Annahme, Ägypten plane die Vernichtung des Staates Israel. Minutiös zählte der israelische Gesandte vor dem Sicherheitsrat die bereits durch die Fedajin erlittenen und von ägyptischer Propaganda begleiteten Angriffe auf103 und vermittelte so ein der accumulation-ofevents-Doktrin nicht unähnliches Bild der Nadelstiche durch von Ägypten kontrollierte Privatkämpfer. Damit erzeugte er den Eindruck einer durch das Vorverhalten der Fedajin entstandenen Indikation weiterer Schädigungen, welche zudem in Kombination mit den gegen Israel gerichteten ägyptischen Handlungen am SuezKanal einen jederzeit möglichen größeren Schlag durch Ägypten als wahrscheinlich erscheinen lassen sollten. Die Argumentation Israels lief, sofern sie auf Selbstverteidigung bezogen war, damit auf eine rechtmäßige Gewalthandlung nach der Indikationstheorie hinaus. Die weit überwiegende Mehrheit der Staaten lehnte jedoch Israels Rekurs auf Selbstverteidigung ab und verurteilte den Einmarsch in Sinai als völkerrechtswidrig. Selbst Frankreich und das Vereinigte Königreich, eigentlich auf der Seite ­Israels stehend, schlossen sich ausdrücklich nicht dem vorgetragenen Argument der Selbstverteidigung an; mutmaßlich schwiegen sie hierzu, um eine eigene Beteiligung an den Kampfhandlungen unter dem Gesichtspunkt kollektiver Selbstverteidigung auszuschließen104. Sehr wohl gab es hingegen im Vorfeld der britisch-französischen Intervention intensiv geführte völkerrechtliche Debatten innerhalb der britischen Regierung und unter kooperierenden Völkerrechtsgelehrten105. Dabei stand wiederholt auch die Möglichkeit eines auf vorbeugende Selbstverteidigung basierenden gewaltsamen Eingriffs zur Debatte. Insbesondere legte der Lord Chancellor am 29. Oktober 1956 dem Kabinett ein Memorandum vor, welches sich als Resultat der lebhaft und kontrovers geführten Diskussion106 darstellte. Entsprechend informierte die Regierung durch Premierminister Anthony Eden daraufhin das Parlament107, nämlich u. a. folgendermaßen: „(3) Article 51 of the Charter does not impair this customary right nor does that Article cut down the customary right by restricting self-defence to cases where the attack provoking it has actually been launched. (…) (4) The tests of whether such an intervention is necessary under customary international law are: (i) whether there is an imminent threat of injury to nationals (…)“108

103

UN Doc. S/PV.749, Abschn. 33 ff. Alexandrov, Self-Defense, S. 153. 105 Ausführlich dazu mit Original-Zitaten Marston, ICLQ 37 (1988), S. 773 ff. (779 ff.). 106 Insb. bestand große Uneinigkeit zwischen dem Völkerrechtsberater Fitzmaurice und dem eher politisch-pragmatischen Premierminister Eden, s. Marston, ICLQ 37 (1988), S.  773 ff. (783 ff., insb. 798). 107 Vgl. Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (450 f.). 108 Zit. nach Marston, ICLQ 37 (1988), S. 773 ff. (800). 104

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Eine entsprechende Kundgabe gegenüber der Staatenwelt unterließ das Vereinigte Königreich zwar, doch bekannte sich die britische Regierung so zumindest intern zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung (hier in Bezug auf die ebenfalls umstrittene Verteidigung eigener Staatsangehöriger)109. Sie verdeutlichte dabei ihre Überzeugung der Fortgeltung auch der Umstände des bis dahin bestehenden Selbstverteidigungsrechts jedenfalls nach der absoluten Imminenztheorie. Dieses interne britische Vorgehen reiht sich exemplarisch stimmig in die Re­ aktionen der Staatenwelt auf die israelischen Gewalthandlungen ein. Es wurde nämlich von keinem Staat auf die Rechtsaussage (im Gegensatz zur Faktenlage) der israelischen Begründung zu vorbeugender Selbstverteidigung eingegangen; vielmehr wurde Israels Einmarsch aus tatsächlicher Sicht schlicht als Aggression gewertet, sodass sich Fragen zur Selbstverteidigung überhaupt nicht stellten110. Aus völkerrechtlicher Sicht blieb der israelische Vortrag zur Rechtmäßigkeit der Indikationstheorie damit tatsächlich unrepliziert und stillschweigend sogar eher geduldet. Dies soll zwar nicht insofern gewichtet werden, als dass Übereinstimmung für die Indikationstheorie festzustellen wäre; jedenfalls aber bedeutet die gerade inhaltlich nicht erfolgte Ablehnung der Indikationstheorie eine Bestärkung des textorientierten Auslegungszwischenergebnisses von Art.  51 SVN wie auch des entsprechenden Gewohnheitsrechts. 3. Der Konflikt zwischen Tunesien und Frankreich 1958

Am 8. Februar 1958111 griffen französische Streitkräfte ein tunesisches Dorf im Grenzgebiet zu Algerien – damals noch Teil des französischen Staatsgebiets – an, weil es ein aktives Zentrum der algerischen Rebellion gegen Frankreich gewesen sei112. Zuvor kam es zu mehreren von tunesischem Territorium ausgehenden gewaltsamen gegen die französische Administration Algeriens gerichteten Zwischenfällen. Deshalb begründete Frankreich seine bewaffnete Intervention auf 109

Manche sehen hierin sogar bereits eine auch für die internationalen Beziehungen des Vereinigten Königreichs völkerrechtlich verwertbare Kundgabe von Rechtsüberzeugung, z. B. Fitzgerald, VirginiaJIL 49 (2009), S. 473 ff. (492), oder Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (64), wobei sich beide auf die Ausführungen von Brownlie, Use of Force, S. 265, berufen, welche sich jedoch lediglich mit den Fragen zu Selbstverteidigung zum Schutze eigener Staatsangehöriger befassen. 110 Die Vertreter Jugoslawiens und der Sowjetunion lehnten im Sicherheitsrat am 30.10.1956 das israelische Vorgehen ausdrücklich, aber pauschal als „aggression“ ab, UN Doc. S/PV.748, Abschn. 21, 29; die USA, Iran und Australien schlossen sich der Sache nach, aber noch vager formuliert, an, ibid., Abschn. 11, 26, 34. 111 Eine weitere Auseinandersetzung mit den gleichen Konfliktgegenständen ereignete sich 1961; dabei schied jedoch ein Rekurs auf vorbeugende Selbstverteidigung aus, weswegen ­hierauf nicht weiter eingegangen werden soll, vgl. i. Ü. Alexandrov, Self-Defense, S. 169. 112 s. zum Geschehensablauf auch Alexandrov, Self-Defense, S. 168 f.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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tunesischem Gebiet mit Selbstverteidigung gegen die von dort aus operierenden Rebellen113. Tunesien wiederum wandte sich an den Sicherheitsrat114 und schränkte zugleich die Bewegungsfreiheit der in Tunesien auf Grundlage eines gegenseitigen Abkommens stationierten französischen Streitkräfte ein. Sollten die französischen Truppen in Tunesien gegen die ihnen auferlegten Maßnahmen verstoßen, würde Tunesien dies als Auslöser einer Selbstverteidigungslage nach Art. 51 SVN betrachten und gegen sie vorgehen115. Frankreich lehnte diese Lesart von Art. 51 SVN als missbräuchlich ab und stellte klar, dass das Selbstverteidigungsrecht nur dann ausgeübt werden könne, wenn bereits ein bewaffneter Angriff geschehen sei116. Der angerufene Sicherheitsrat fasste in dieser Angelegenheit keinen Beschluss, jedoch gaben sich einige Staaten besorgt über das französische Vorgehen und setzten sich für eine friedliche Streitbeilegung ein. Insbesondere äußerten keine weiteren Staaten für das Selbstverteidigungsrecht erhebliche Rechtsüberzeugungen, sondern nahmen stattdessen die zwischen Tunesien und Frankreich ausgetauschten Argumente als gegeben hin, was jedenfalls nicht als Widerspruch hiergegen zu werten ist117. Da Tunesien das Überschreiten einer Auflage bereits als Auslöser einer Selbstverteidigungslage betrachtete, kann dabei schwerlich von lediglich reaktiver Selbstverteidigung ausgegangen werden. Einigkeit herrschte über die Tatsache, dass das Überschreiten der Auflage noch keinen bewaffneten Angriff und damit nach Verständnis der Parteien keinen Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage bedeutete. In Verbindung mit den gewaltsamen Vorgeschehnissen wertete Tunesien jedoch das Überschreiten der Auflage als Indikator für eine daran anknüpfende gewaltsame Handlung Frankreichs gegen eigenes Staatsgebiet; ähnliche Abläufe waren in der Vergangenheit bereits vorgekommen und deshalb wohnte ihnen auch ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang inne. Tunesiens Rechtsauffassung entspricht also jener der Indikationstheorie. Bemerkenswert ist, dass Frankreich diese Rechtsauffassung per se abzulehnen scheint, weil Selbstverteidigung nur bei einem bereits geschehenen bewaffneten Angriff anwendbar sei; dies lässt vordergründig eine Rechtsüberzeugung nur zu Gunsten der Gegenwärtigkeitstheorie vermuten. Tatsächlich war es aber die französische Intervention in Tunesien, welche als erste in diesem Konflikt mit Selbstverteidigung begründet wurde. Diese erfolgte keineswegs auf Grund eines gegenwärtigen Angriffs, sondern ausdrücklich wegen der wiederholt zuvor aufgetretenen kleineren gewaltsamen Zwischenfälle im Sinne der accumulation 113 So die Stellungnahme Frankreichs in einem Brief an den Sicherheitsrat vom 14.02.1958, UN Doc. S/3954, S. 2. 114 Durch einen Brief vom 13.02.1958, UN Doc. S/3952. 115 Alexandrov, Self-Defense, S. 168. 116 Zusammenfassend RPSC 1956–58, S. 174. 117 Alexandrov, Self-Defense, S. 169; RPSC 1956–58, S. 174.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

of-events-Doktrin, welche es für die Zukunft zu verhindert galt. Die genannten Zwischenfälle wurden von Frankreich offenbar als bewaffneter Angriff gewertet, welcher aber abgeschlossen und damit nicht mehr gegenwärtig war. Die französische Begründung lässt folglich das bloße Geschehen-sein für einen Rekurs auf Selbstverteidigung ausreichen, zielt aber durch die Kombination mit ihrem Präventionsgedanken inhaltlich doch auf die Indikationstheorie ab. Damit unterscheidet sie sich von der tunesischen Rechtsauffassung höchstens insofern, als sie die Schwelle für den Indikator einer zukünftigen reaktiven Selbstverteidigungslage vermeintlich höher anlegt; jedoch beschreibt sie damit nur einen anderen – nicht aber der tunesischen Rechtsauffassung entgegenstehenden  – indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang, sodass auch Frankreich sich als Vertreter der Indikationstheorie zeigt. Die inhaltliche rechtliche Übereinstimmung zwischen Frankreich und Tunesien sowie die Billigung dieser Thesen durch die übrige Staatenwelt bilden ein deut­ liches Zeichen für die zu diesem Zeitpunkt in der Praxis zu verzeichnende Befürwortung der Indikationstheorie. 4. Die Entsendung britischer Streitkräfte nach Jordanien 1958

Schon vor der Suez-Krise war ab Mitte der Fünfzigerjahre des letzten Jahr­ hunderts durch Ägypten, das sich seit 1958 im Zusammenschluss mit Syrien „Vereinigte Arabische Republik“ nannte, ein deutliches vom Gedanken des arabischen Nationalismus getragenes Hegemonialstreben im Nahen Osten zu verzeichnen. U. a. empfanden dies der Libanon und Jordanien als politische Bedrohung, insbesondere Jordanien warf der Vereinigten Arabischen Republik vor, 1957 noch als Ägypten einen Staatsstreich in Jordanien geplant zu haben, jedoch in dessen Ausführung gescheitert zu sein118. Seitdem habe es offene Feindseligkeiten gegen Jordanien gegeben119. Um seine staatliche Integrität und Unabhängigkeit zu sichern, entschloss sich Jordanien letztlich dazu, auf Grundlage von Art. 51 SVN die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich um Hilfe zur Abwehr gegen die unmittelbare ägyptische Bedrohung zu bitten120. Das Vereinigte Königreich121 nahm das Ersuchen Jordaniens ausschließlich zu dessen Schutz und Beistand als Selbstverteidigungshilfe122 mit Unterstützung der USA123 an. Die bloße Anwesenheit bri-

118

So der jordanische Gesandte im Sicherheitsrat am 17.07.1958, UN  Doc. S/PV.831, ­Abschn. 19. 119 UN Doc. S/PV.831, Abschn. 20 ff. 120 UN Doc. S/PV.831, Abschn.  22, 24; dabei war ausdrücklich die Rede von „imminent ­threat“ bzw. „imminent aggression“. 121 Dies bestätigte der britische Gesandte im Sicherheitsrat, UN Doc. S/PV.831, Abschn. 30. 122 Erstaunlicherweise erkennt nur Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (466 f.), hierin einen Anwendungsfall von vorbeugender Selbstverteidigung. 123 UN Doc. S/PV.831, Abschn. 35.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

369

tischer Streitkräfte in Jordanien – zusätzlich zu den schon zuvor im Libanon stationierten US-amerikanischen Truppen – führte zu heftigen Auseinandersetzungen in der Region und auch im Sicherheitsrat124. Tatsächlich kam es aber in diesem Zusammenhang niemals zu Gewalthandlungen zwischen Jordanien/dem Vereinigten Königreich und der Vereinigten Arabischen Republik; debattiert wurde lediglich über den potentiellen Fall einer jordanisch-britischen Intervention in Form von vorbeugender Selbstverteidigung. Während neben den beteiligten Staaten auch China eine vorbeugende Selbstverteidigungshandlung auf Grund von „indirekter Aggression“ für rechtmäßig erachtete125, wiesen dies die Sowjetunion, die Vereinigte Arabische Republik und auch Schweden in Ermangelung eines bewaffneten Angriffs nach Art. 51 SVN und damit auf Grundlage der Gegenwärtigkeitstheorie zurück126. Das Argumentationsmuster der beiden zu verzeichnenden Position ist bekannt: Während die Befürworter von vorbeugender Selbstverteidigung auf die einen jederzeit möglichen Angriff indizierenden Vorgeschehnisse abstellen und durch profunde Darstellung der Indizien einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang herstellen, erklären sie Gewaltanwendung nach der Indikationstheorie für rechtmäßig. Dagegen beziehen sich die Gegner auf einen vermeintlich einschränkenden Wortlaut von Art. 51 SVN und wenden damit die Gegenwärtigkeitstheorie an. Eine Auswirkung auf das durch textorientierte Auslegung erzielte Zwischen­ ergebnis kann so angesichts der konträren Rechtsmeinungen nicht erzeugt werden. 5. Die Kuba-Krise 1962

Seit der kubanischen Revolution von 1959 stehen die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem benachbarten karibischen Inselstaat unter starken Spannungen. Eine der wohl härtesten Auseinandersetzungen waren die als „Kuba-Krise“ bekannt gewordenen Geschehnisse des Jahres 1962, mitten im Kalten Krieg zwischen Ost und West127. Im Laufe des genannten Jahres begannen Kuba und die Sowjetunion ihre geheimen Pläne zu verwirklichen, auf der Karibikinsel mit Atomsprengkörpern ausgestattete Mittelstreckenraketen zu installieren. Als die USA davon Kenntnis erlangten, verhängte Präsident John F. Kennedy 124 Vgl. z. B. die teils polemische sowjetische Stellungnahme im Sicherheitsrat, UN  Doc. S/PV.831, Abschn. 53 ff. 125 UN Doc. S/PV.831, Abschn. 99 f. 126 UN Doc. S/PV.831, Abschn. 109. 127 Vgl. zu den einzelnen Geschehnissen ausführlich Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 8 ff.; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 367 ff.; McCormack, Self-Defense, S. 213 ff.; ferner Wright, AJIL 57 (1963), S. 546 ff., und die krit. Replik hierauf von McDougal, AJIL 57 (1963), S. 597 ff.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

am 23. Oktober 1962 gegen Kuba eine sog. „Quarantäne“128, d. h. es wurde sämtlichen Schiffen der Zugang zu Kuba gewaltsam verwehrt, um so die Ankunft weiteren sowjetischen Waffenmaterials zu verhindern. Zugleich informierten die USA den Sicherheitsrat, befassten ihn aber nicht weiter mit einer möglichen Lösung der Krise129. Kuba betrachtete die Blockade als „kriegerische Handlung“, die Sowjetunion immerhin als „Kriegsbedrohung“130. Im weiteren Verlauf kam es zu schweren diplomatischen Verwerfungen zwischen den beiden Supermächten, angesichts derer nicht wenige Beobachter den Ausbruch eines dritten Weltkrieges befürchteten. Es gelang jedoch beiden Seiten jeweils unter Wahrung des eigenen Gesichts die Kuba-Krise friedlich zu beenden. Nachdem bereits am 20.  November 1962 die Blockade aufgehoben wurde, informierten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in einem gemeinsamen Schreiben VN-Generalsekretär U Thant am 7.  Januar 1963 über ein Abrüstungsabkommen. Darin verpflichtete sich die Sowjetunion, ihre Raketen aus Kuba abzuziehen, nachdem die USA ihre Atomkapazitäten aus der Osttürkei abgebaut haben würden131. Obwohl die USA ihre Blockade offiziell ausschließlich als regionale Maßnahme kollektiver Sicherheit der OAS nach Artt. 6 und 8 des Rio-Vertrags132 begründeten133, hält sich in der völkerrechtlichen Literatur bis heute ausgesprochen hartnäckig das Gerücht, es habe sich bei der „Quarantäne“ um einen modernen Präzedenzfall vorbeugender Selbstverteidigung gehandelt134. Tatsächlich gab es in der Vorbereitungsphase der offiziellen US-amerikanischen Stellungnahme zum Geschehen konkrete Überlegungen135, das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 SVN heranzuziehen136; allerdings verzichtete Präsident Kennedy in der End­

128 Hinter diesem untechnischen Begriff verbirgt sich sinngemäß eine Seeblockade, wobei im Falle der „Quarantäne“ die genaue Rechtsnatur unklar bleibt; vgl. zur Blockade näher ­Heintschel von Heinegg, Blockade, passim, in: MPEPIL, Online-Ausgabe. Unbestritten ist jedenfalls, dass es sich auch bei der „Quarantäne“ um eine zu Friedenszeiten grundsätzlich illegale Gewaltanwendung handelt, ders., ibid., Rn. 25, sowie für die „Quarantäne“ klarstellend Arend/Beck, Use of force, S. 75. 129 Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 67 f. 130 Wright, AJIL 57 (1963), S. 546 ff. (548). 131 Kunde, Präventivkrieg, S. 150, m. w. N. 132 s. dazu o. 7. Kap. C. 133 Chayes, The Cuban Missile Crisis, S.  49 ff.; Wright, AJIL 57 (1963), S.  546 ff. (557 f.). 134 So z. B. Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S.  161; Hill, ASIL Proc. 98 (2004), S.  329 ff. (329); Radke, Staatsnotstand, S.  86; Stevens, Border Diplomacy, S.  168; Taft IV, ASIL Proc. 98 (2004), S.  331 ff. (331); Wedgwood, AJIL 97 (2003), S.  576 ff. (584); Wildhaber, Gewaltverbot und Selbstverteidigung, S. 147 ff. (152); Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (571 f.). 135 Nur darauf beziehen sich Stevens, Border Diplomacy, S. 168, und Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (572 und dort Fn. 51), werten dies aber ohne weitere Begründung als offizielle Stellungnahme. 136 Lesenswert zu den hitzigen innenpolitischen Debatten Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1403 f.), m. w. N.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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fassung seiner Begründung der Blockade bewusst auf jede Erwähnung von Selbstverteidigung137. Nach den gegebenen Fakten wäre die Blockade unter Selbstverteidigungsaspekten auf Grund einer abstrakten Gefahr – nämlich der bloßen Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba – erfolgt. Deren potentielle Schadenskonkretisierung hätte sich zwar theoretisch jederzeit durch einen entsprechenden Abschussbefehl verwirklichen und zumindest in ihrem Ausmaß durch die Blockade gering gehalten werden können; jedoch charakterisierte sich das Klima des Kalten Krieges bereits 1962 anhand der Prämisse „Abschreckung und Eindämmung“ und gerade nicht in Form voreiliger tatsächlicher Gewaltanwendung138. Die von der Sowjetunion offenkundig (und erfolgreich) bezweckte Abschreckung war demnach bereits das mit der Raketenstationierung erreichte Ziel, dem sodann mit dem Rückzug amerikanischer Raketen aus der Türkei die dem Zeitgeist typische Eindämmung folgte. Nach zeitgemäßer Einschätzung der Lage hätte sich ein Raketenabschuss von Kuba auf die USA als sehr unwahrscheinlich erwiesen, da ein sofortiger Vergeltungsschlag zu befürchten und indiziert gewesen wäre. Die unwahrscheinliche Möglichkeit eines durch die Sowjetunion veranlassten schadenskausalen Ereignisses schließt somit die Indikation eines solchen  – und erst recht einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang mangels einschlägigen Vorgeschehens  – aus, sodass die Blockade als Selbstverteidigungshandlung allenfalls nach der Latenztheorie, nicht mehr aber nach der Indikationstheorie für rechtmäßig hätte erklärt werden können. Einen solchen Erklärungsansatz wollten die USA offensichtlich vermeiden; es zeichnete sich auch kein weiterer staatlicher Beistand für eine solche Lösung während der parallel zur Krise verlaufenden Debatten im Sicherheitsrat ab139. Folglich ist die Kuba-Krise ein praktisch relevantes Ereignis zum Beweis einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gegen die Legalität von Gewalthandlungen nach der Latenztheorie. Die übrigen Theorien werden dabei aber nicht entkräftet. Im Gegenteil wurde vereinzelt von dritter Seite – vor allem durch den Vertreter Ghanas im Sicherheitsrat am 24.10.1962140 – sogar diskutiert, unter welchen konkreten Voraussetzungen im modernen Völkerrecht Selbstverteidigung nach der insofern als rechtmäßig erachteten Webster-Formel hätte ausgeübt werden können und damit das bisherige Zwischenergebnis bestärkt141.

137

Chayes, The Cuban Missile Crisis, S. 62 ff.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (159); Malanczuk, Akehurst’s Int’l. Law, S. 312; Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (601); Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (545 f.); Wright, AJIL 57 (1963), S. 546 ff. (554). 138 Ebenso zutr. Smith, YaleJIL 19 (1994), S. 455 ff. (489 f.). 139 Arend/Beck, Use of force, S. 75. 140 UN Doc. S/PV.1024, Abschn. 107 ff. 141 Vgl. Arend/Beck, Use of force, S. 75 f., m. w. N.; Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (447).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 6. Das britische Vorgehen im Jemen 1964

Im Jahr 1964 bombardierten britische Streitkräfte eine Befestigungseinrichtung im Jemen, von welcher aus mutmaßlich regelmäßig gewaltsame Handlungen gegen die Südarabische Föderation – seinerzeit ein britisches Protektorat – initiiert wurden142. Nach Angaben der britischen Regierung sollten auf diese Weise die bisherigen Schäden ausdrücklich nicht mittels Repressalie vergolten, sondern es sollten zukünftige Gewalthandlungen im Rahmen vorbeugender Selbstverteidigung nach Art. 51 SVN verhindert werden143. Angesichts der Tatsache, dass bereits regelmäßig zuvor Gewalthandlungen in der Art der zu verhindern beabsichtigten weiteren Gewalt stattgefunden hatten, die geschädigten Ziele ähnlich waren und auch die Einschätzung der Konfliktlage eine Fortsetzung als wahrscheinlich erscheinen ließ, handelte das Vereinigte Königreich nach Maßgabe der Indika­ tionstheorie und setzte sich damit für ihre Rechtmäßigkeit ein. Ein Großteil der Staatenwelt hingegen verurteilte das britische Vorgehen im Jemen, weil es von jemenitischer Seite keinen bewaffneten Angriff gegeben habe, sondern vielmehr das britische Bombardement als bewaffnete Repressalie einzustufen sei144. Die Kritik wandte sich also zuvörderst gegen die hinreichende Qualifikation eines Auslösers einer Selbstverteidigungslage, die Ablehnung des vorbeugenden Aspekts schwang eher implizit mit. Deutlicher wurde der Sicherheitsrat in seiner Resolution 188, in welcher er das britische Bombardement als „re­prisals as incompatible with the purposes and principles of the United Nations“ verurteilte145. Damit erklärte er das gesamte Vorgehen nicht mit Selbstverteidigung vereinbar und lehnte folglich im vorliegenden Fall einen Rekurs auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie ab. Insgesamt äußerte die überwiegende Praxis im jemenitischen Konflikt eine Ablehnung der Indikationstheorie146. 7. Das US-amerikanische Vorgehen in Nordvietnam 1964

Ebenfalls im Jahr 1964 reagierten die USA auf wiederholte Angriffe gegen ihre Flotte im Golf von Tonkin mit Gewalthandlungen auf dem Territorium Nord­ vietnams147. Ziel war es, die Flotteneinheiten vor weiteren Übergriffen aus Nordvietnam zu schützen. Unterstellt man, dass die erlittenen Schäden tatsächlich von den besagten nordvietnamesischen Adressaten der US-amerikanischen Maßnah 142

Erwähnt von Alexandrov, Self-Defense, S. 170 f. So der britische Gesandte im Sicherheitsrat am 02.04.1964 (UN Doc. S/PV.1106) und am 07.04.1964 (UN Doc. S/PV.1109). 144 Alexandrov, Self-Defense, S. 170; vgl. exemplarisch auch die Debatten im Sicherheitsrat am 08.04.1964 (UN Doc. S/PV.1110) und 09.04.1964 (UN Doc. S/PV.1111). 145 UN Doc. S/5650 (1964), Abschn. 1. 146 Alexandrov, Self-Defense, S. 171, stellt zudem auf mangelnde Verhältnismäßigkeit ab und bestätigt i. Ü. die Einschätzung der Staatenwelt. 147 Erwähnt von Alexandrov, Self-Defense, S. 171 f. 143

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men ausgingen, kann die hiergegen gerichtete Gewalt angesichts der Vorgeschehnisse wohlwollend noch mit der Indikationstheorie als Selbstverteidigungshandlung erklärt werden. Tatsächlich wurde das Vorgehen von US-amerikanischer Seite mit Selbstverteidigung nach Art. 51 SVN begründet148, das Vereinigte Königreich pflichtete dieser Argumentation unter explizitem Bezug auf den der Maßnahmen innewohnenden vorbeugenden Aspekt bei149. Dagegen argumentierten vor allem die Tschechoslowakei und die Sowjetunion, es habe sich in Ermangelung eines Rechts auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der SVN um eine illegale Repressalie gehandelt150. Der Sicherheitsrat befasste sich nicht mit der Angelegenheit; dennoch war eine eher ablehnende Haltung der Staatenwelt in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung insbesondere nach der Indikationstheorie zu verzeichnen151. 8. Die US-amerikanische Intervention in der Dominikanischen Republik 1965

Seltener in Verbindung mit vorbeugender Selbstverteidigung152, stattdessen häufiger im Zusammenhang mit Fragen hinsichtlich Selbstverteidigung zu Gunsten eigener Staatsangehöriger wird das Vorgehen der Vereinigten Staaten in der Dominikanischen Republik aus dem Jahr 1965 diskutiert. Dennoch ist eine Bezugnahme auf vorbeugende Selbstverteidigung nicht auszuschließen, weshalb hier kurz auf die Geschehnisse eingegangen werden soll. Am 28. April 1965 landeten US-amerikanischen Streitkräfte in der Dominika­ nischen Republik, nachdem es vier Tage zuvor einmal mehr seit der Ermordung des dominikanischen Diktators Trujillo im Jahr 1961 zu einer internen bewaffneten Auseinandersetzung kam. Die USA unterdrückten damit einen drohenden politischen Umsturz, womöglich auch die Entstehung eines weiteren kommunistischen Staates („another Cuba“) in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft153. Die völkerrechtlichen Erklärungsversuche der US-Regierung fielen dabei äußerst vielfältig aus154; vorwiegend sollte aber die von dominikanischer Seite nicht mehr zu gewährleistende Sicherheit dort lebender US-amerikanischer Staatsbürger aufrecht erhalten werden155. Dabei wurde auch vorbeugende Selbstverteidigung in 148 So der US-amerikanische Gesandte im Sicherheitsrat am 05.08.1964 (UN  Doc. S/PV.1140, Abschn. 33 ff., insb. 46). 149 UN Doc. S/PV.1140, Abschn. 76 ff., insb. 80 f. 150 UN Doc. S/PV.1141, Abschn. 24 ff. (ein hartnäckiges Streitgespräch zwischen dem tschechoslowakischen und US-amerikanischen Vertreter) sowie Abschn. 70 ff. (Sowjetunion). 151 Alexandrov, Self-Defense, S. 172. 152 Lediglich erwähnt bei Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff., und Zan, JSPL 7 (2003), ­Issue I. 153 Dies mag das vorrangige politische Motiv der Operation gewesen sein, vgl. Nanda, ­DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (445), m. w. N. 154 Auflistung m. w. N. bei Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (443 f.). 155 Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (442).

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ihrer kollektiven Variante zur Hilfe eigener Staatsbürger erwähnt, welche vor befürchteten bürgerkriegerischen Übergriffen geschützt werden sollten. Unabhängig von der Frage, ob einfache Bürger überhaupt vom Schutzzweck der Selbstverteidigung umfasst sein können, ist anhand der dominikanischen Intervention hier nur auf ihren vorbeugend-verteidigenden Aspekt einzugehen. Tatsächlich beriefen sich die USA auf Selbstverteidigung als Nothilfe sowie „to meet any danger to peace and security of the hemisphere“156; es gilt also zwischen beiden Aspekten zu unterscheiden. Hinsichtlich ihrer eigenen Staatsbürger ist festzustellen, dass diese von einem kommunistischen Umschwung angesichts der allgemeinen weltpolitischen Gemengenlage mit hoher Wahrscheinlichkeit nachteilig betroffen gewesen wären, wobei auch gewaltsame Einwirkungen auf Leib und Leben, welche unter den seit 1961 herrschenden Verhältnissen bereits vorgekommen waren, indiziert gewesen wären. Wenn also Selbstverteidigung zu Gunsten eigener Staatsbürger rechtmäßig sein sollte, dann wäre dies eine Form vorbeugender Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie gewesen, was die USA inhaltlich auch so zum Ausdruck brachten157. Leicht könnte man sich auch dazu verleiten lassen, den zweiten Aspekt – die Gefahrenabwehr in der Region – als vorbeugende Selbstverteidigung einzu­stufen. Derart motivierte Gewaltanwendung wäre dann allenfalls nach Maßgabe der Latenztheorie als rechtmäßig zu erachten. In Wahrheit aber war dieses Motiv mit einem Handeln als Maßnahme kollektiver Sicherheit innerhalb der OAS verbunden158, sollte also gerade nicht über Art. 51 SVN begründet werden. Damit fällt die Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie auch im Zusammenhang mit der Intervention in der Dominikanischen Republik nicht unter die bis dahin zu verzeichnende Praxis. Allein die Indikationstheorie wurde durch die USA 1965 erneut bestätigt. Weitere Staaten äußerten sich zu (auch weniger im Fokus gestandenen) Fragen der vorbeugenden Selbstverteidigung bei diesen Geschehnissen nicht. 9. Der sog. „Sechs-Tage-Krieg“ 1967

Am 29. Mai 1967 beklagte Israel gegenüber dem Sicherheitsrat massive Truppenkonzentrationen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel. Es bewertete die Situation als Vorbereitung für die Verwirklichung des dem ägyptischen Präsidenten Nasser lange zugeschriebenen Plans, Israel zu erobern. Dagegen warf Ägypten (damals noch unter der offiziellen Bezeichnung „Vereinigte Arabische Republik“) Israel vor, kontinuierlich die SVN wie auch die zwischen beiden Staaten geschlossenen Waffenstillstandsabkommen zu verletzen. Zudem unterstellte man Israel die 156

Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (443). Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (448; 462 ff.), m. w. N. 158 Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (460 ff.), m. w. N.

157

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Stationierung zahlreicher Truppen an der Grenze zu Syrien und schloss deshalb auf einen bevorstehenden israelischen Angriff gegen Syrien. Nasser ließ sodann die Straße von Tiran für israelische Schiffe sperren und erzwang den Abzug der UNEF-Friedenstruppen aus Sinai. Israel sah sich ferner von einer feindlich gesinnten Allianz aus Ägypten, Syrien und Jordanien umzingelt159. Die Situation eskalierte eine Woche später, als Israel am 5. Juni 1967 in Vorgriff auf einen befürchteten ägyptischen Angriff verschiedene Luftwaffenbasen in Ägypten bombardierte160. Es entwickelte sich daraufhin ein als „Sechs-TageKrieg“ bekannt gewordener bewaffneter Konflikt zwischen Israel und Ägypten, an dessen Seite zudem die vertraglich verbündeten Staaten Jordanien, Syrien und Irak kämpften161. Am 10. Juni 1967 endeten die Kampfhandlungen mit dem Resultat, dass der Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen sowie Ost-Jerusalem unter israelischer Kontrolle standen162. Für die Fragen zu vorbeugender163 Selbstverteidigung steht hier lediglich die erste Gewaltanwendung Israels vom 5.  Juni 1967 im Fokus, welche Israel als Selbstverteidigungshandlung ausgab164. Die Konstellationen gestalteten sich dabei ähnlich wie elf Jahre zuvor bei der Suez-Krise, denn Israel sah sich wiederum konkreten Angriffsvorbereitungshandlungen zumindest von ägyptischer Seite ausgesetzt. Nach den Erfahrungen aus den vorherigen Konflikten entwickelte es angesichts der das Land umzingelnden Truppenaufmärsche über diesen Indikator hinaus einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang. Danach ist aus israelischer Sicht hier eine rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung im Sinne der Indikationstheorie erfolgt. Einmal mehr vermochte sich Israel gegenüber der restlichen Staatenwelt mit seinem Rekurs auf Selbstverteidigung jedoch nicht durchzusetzen; es war der einzige Staat165 159

Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (135). Hierzu näher Alexandrov, Self-Defense, S.  153 f.; Arend/Beck, Use of force, S.  76 f.; Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1407 ff.); Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (134 ff.); Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 383 ff.; Kurtulus, ­MidEastJ 61 (2007), S. 220 ff. (228 ff.); Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (160); Olusanya, Identifying the Aggressor, S.  117 ff.; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (566 ff.). 161 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1408). 162 Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1408), m. w. N. 163 Vgl. zur Diskussion um reaktive Selbstverteidigung als Antwort auf die Blockade der Straße von Tiran z. B. Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1409); ablehnend hingegen z. B. Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (138). 164 So der israelische Gesandte im Sicherheitsrat am 06.06.1967 (UN  Doc. S/PV.1348, ­Abschn. 142 ff.). 165 Einige Lehrmeinungen sprachen sich hingegen für die Einschlägigkeit der von Israel vorgetragenen vorbeugenden Selbstverteidigung nach den Caroline-Kriterien aus, vgl. näher Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S.  113 ff. (136, 139); Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, S. 140; Olusanya, Identifying the Aggressor, S. 119, m. w. N.; Vallarta Marrón, AMexDI VIII (2008), S. 955 ff. (981). 160

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

mit dieser Ansicht166. Auch die politisch auf Seiten Israels stehenden Staaten vermieden eine Bezugnahme auf das Selbstverteidigungsrecht167. Die Gegner Israels verurteilten den Erstschlag erwartungsgemäß als Aggression168; dies geschah aber wiederum aus einer divergierenden Sicht der Faktenlage heraus169, nicht etwa aus Ablehnung des von Israel dargelegten Konzepts170 vorbeugender Selbstverteidigung171. Gleichfalls verliert die hierzu vom Sicherheitsrat erlassene Resolution 242 kein Wort zu Selbstverteidigung, sondern befasst sich nur mit den Konsequenzen des Sechs-Tage-Krieges und fordert dabei nur recht allgemein eine Wiederherstellung des status quo ante172. Damit ist auch der Sechs-Tage-Krieg entgegen zahlreicher Lehrmeinungen recht unergiebig zur Erkenntnisgewinnung späterer Praxis zu vorbeugender Selbst­ verteidigung. Die hierzu geäußerten Rechtsüberzeugungen üben somit keinen Einfluss auf das Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung aus. 10. Das Vorgehen Portugals gegen Guinea, Sambia und den Senegal 1969

Als Antwort auf zahlreiche terroristische Anschläge auf dem Gebiet der damaligen sich im Unabhängigkeitskampf befindenden Kolonie Portugiesisch Guinea – dem heutigen Guinea-Bissau – führte Portugal im Jahr 1969 verschiedene gewaltsame militärische Maßnahmen in Guinea, Sambia und dem Senegal  –

166

Alexandrov, Self-Defense, S. 154. Alexandrov, Self-Defense, S. 179. 168 Explizit von Aggression sprachen Marokko (UN  Doc. S/PV.1348, Abschn.  247 ff.), ­Syrien (UN  Doc. S/PV.1348, Abschn.  196 ff.) und die Sowjetunion (UN  Doc. S/PV.1348, ­Abschn.  40 ff.; UN  Doc. S/PV.1351, Abschn.  116 ff.); vgl. auch Arend/Beck, Use of force, S. 76 f. 169 Z. B. wurde auch argumentiert, Israel habe in Wirklichkeit gewusst, dass Ägypten keine Angriffsgedanken gehegt hätte, und habe sich deshalb nicht auf Selbstverteidigung berufen können, vgl. z. B. Doyle, Int’l. Law, in: Striking First, S. 7 ff. (17), oder O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (242). 170 Damit korrespondiert auch die gelegentlich zitierte Position Indiens, welche „a pre-emptive strike or a preventive war“ als satzungswidrig ablehnt, weil Indien damit gerade nur ver­ teidigungsfremde, nicht aber auch vorbeugend-verteidigende Gewalt verurteilte. Der angesichts dessen zuletzt von Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 392, 395, bemühte Versuch, die Stellungnahme Indiens als Beleg für eine Ablehnung gegenüber vorbeugender Selbstverteidigung generell zu verstehen, geht damit fehl. 171 Ähnlich Arend/Beck, Use of force, S.  77, und Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la ­croisée, S. 137 ff. (160), die angesichts des hochpolitischen Charakters eine rechtliche Bewertung für verkürzt halten. Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (568), erkennt hier sogar eine überwiegende Zustimmung zum Konzept so bezeichneter „antizipatorischer“ Selbstverteidigung. 172 UN Doc. S/RES/242 (1967); vgl. auch Bradford, NDLR 79 (2004), S.  1365 ff. (1409); Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (136); Minnerop, PariaStaaten, S. 462. 167

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dort zusätzlich in Jahr 1971 – durch173. Dabei berief sich Portugal jeweils auf ein Selbstverteidigungsrecht gegen terroristische Gewalt als vorbeugende Handlung zur Verhinderung weiterer Angriffe174. Die Bemühung, einen seine Vorgehensweisen näher erklärenden Zusammenhang zu bilden, machte sich Portugal indes nicht, sodass innerhalb des Selbstverteidigungsrechts nur von einer Vorgehensweise nach der Latenztheorie ausgegangen werden kann. Das Vorgehen in diesen jeweils ähnlich gelagerten Fällen wurde von zahlreichen Staaten als illegal zurückgewiesen175, auch der Sicherheitsrat verurteilte die portugiesischen Gewalthandlungen in seinen Resolutionen 268176, 273177 und 275178. Damit war in diesem gebündelten Anwendungsfall eine allgemeine Ablehnung von Gewaltanwendung nach der Latenztheorie festzustellen. 11. Die US-amerikanische Intervention in Kambodscha 1970 während des Vietnamkrieges

Während des Vietnamkrieges intervenierten die Vereinigten Staaten gemeinsam mit südvietnamesischen Einheiten 1970 gewaltsam in Kambodscha179, das nicht zu den Konfliktsparteien gehörte180. Dabei sollte die von dort herrührende militä­ rische Bedrohung durch infiltrierte nordvietnamesische Truppen sowie der Waffentransport nach Nordvietnam verhindert werden. Aus diesem Grunde beriefen sich die USA bei ihrem Einsatz in Kambodscha auch – wenn auch nicht als im Vordergrund stehende Begründung181 – auf vorbeugende Selbstverteidigung. Angesichts der bereits zuvor zu Schädigungshandlungen verdichteten Bedrohung und der im Vietnamkrieg erfahrenen Feindseligkeiten durch Nordvietnam waren von kambodschanischem Boden ausgehende Gewalthandlungen gegen US-amerikanische Streitkräfte mit indikationsspezifischem Verknüpfungszusammenhang indiziert, wenn nicht sogar evident. Jedenfalls ist die Intervention da 173

Arend/Beck, Use of force, S. 77. So jeweils der Vortrag des portugiesischen Gesandten im Sicherheitsrat in Bezug auf Sambia am 18.07.1969 (UN Doc. S/PV.1486, Abschn.  61 ff., insb. 72), auf Guinea am 18.12.1969 (UN Doc. S/PV.1524, Abschn. 62 ff., insb. 73) sowie auf den Senegal am 04.12.1969 (UN Doc. S/PV.1516, Abschn. 100 ff., insb. 102) und durch Brief vom 29.09.1971 (UN Doc. S/10343). 175 Namentlich waren dies im Sicherheitsrat am 08.12.1969 (UN Doc. S/PV.1518, UN Doc. S/PV.1519) Finnland, Jemen, Madagaskar, Mauretanien, Mali, Nepal, Tunesien, die Sowjetunion, die Vereinigte Arabische Republik, Pakistan und Syrien. 176 UN Doc. S/RES/268 (1969). 177 UN Doc. S/RES/273 (1969). 178 UN Doc. S/RES/275 (1969). 179 Ausführlich zum Gesamtgeschehen Guiden, AZJICL 11 (1994), S. 215 ff. 180 Erwähnt bei Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 36; Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (541, dort Fn. 85). 181 Guiden, AZJICL 11 (1994), S. 215 ff. (242). 174

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

mit faktisch der Indikationstheorie zuzuordnen, welche die USA somit erneut für rechtmäßig erachteten182. Bezüglich dieses Selbstverteidigungsarguments waren jedoch keine weiteren staatlichen Bekundungen zu vernehmen, sodass der Rekurs auf die Rechtmäßigkeit der Indikationstheorie unwidersprochen blieb und somit das bislang ermittelte Zwischenergebnis stärkt. 12. Das Vorgehen Israels gegen palästinensische Flüchtlingslager auf dem Gebiet des Libanon 1975

Am 2. Dezember 1975 gingen israelische Streitkräfte gewaltsam gegen ein palästinensisches Flüchtlingslager auf dem Gebiet des Libanon vor183. Dies begründete der israelische Verteidigungsminister als vorbeugende Maßnahme, um mutmaßlichen aus diesem Lager herrührenden terroristischen Sabotageakten gegen Israel zuvor zu kommen184. Zwar sah sich Israel in Ansehung des ständig schwelenden Palästinenserkonflikts häufig feindlichen Gewalthandlungen ausgesetzt, jedoch ist gerade im Zusammenhang mit dem Flüchtlingslager kein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang zu erkennen und auch nicht dargelegt worden. Israels Vorgehen könnte daher allenfalls angesichts einer abstrakten Gefahr nach der Latenztheorie als Selbstverteidigungshandlung eingestuft werden. Zustimmung in der Staatenwelt fand Israel jedoch nicht. Sämtliche Mitglieder des Sicherheitsrats verurteilten die Maßnahme185; zu einer entsprechenden Re­ solution kam es nur deshalb nicht, weil die USA eine solche blockierten, um eine gleichzeitige Verurteilung des palästinensischen Terrorismus zu erwirken186. Unabhängig davon war hier eine allgemeine Ablehnung der Latenztheorie zu er­ kennen.

182 Guiden, AZJICL 11 (1994), S.  215 ff. (255), deutet sogar ein Vorgehen nach reaktiver Selbstverteidigung an, indem er die Intervention als Antwort auf die indikatorischen Vorschädigungen betrachtet. Inhaltlich entspricht diese Herleitung aber der in dieser Arbeit als Indikationstheorie überschriebenen theoretischen Grundlage. 183 Vgl. dazu Alexandrov, Self-Defense, S.  176 f.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la ­croisée, S. 137 ff. (160 f.); Tomuschat, VN 2/2003, S. 41 ff. (42). 184 Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (161). 185 So die Stellungnahmen im Sicherheitsrat am 05. und 08.12.1975 der Vertreter Ägyptens, Chinas, Costa Ricas, Frankreichs, Guyanas, des Irak, Italiens, Japans, des Libanon, Maure­ taniens, Schwedens, der Sowjetunion, Syriens, Tansanias, der USA und des Vereinigten Königreichs (UN Doc. S/PV.1860; UN Doc. S/PV.1861; UN Doc. S/PV.1862); vgl. auch Cassese, Int’l. Law, S. 360. 186 Alexandrov, Self-Defense, S. 176; Tomuschat, VN 2/2003, S. 41 ff. (42).

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13. Das Vorgehen Israels zur Rettung eigener Staatsbürger am Flughafen von Entebbe 1976

In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1976 befreiten israelische Spezialeinheiten ihre als Geiseln genommenen eigenen Staatsbürger gewaltsam aus einem ins ugandische Entebbe entführten Passagierflugzeug187. Die Aktion erfolgte gegen den Willen der ugandischen Regierung und stellte daher eine Verletzung der Integrität Ugandas dar, die von israelischer Seite aus mit Selbstverteidigung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Caroline-Vorfall für rechtmäßig gehalten wurde188. Auch wenn es hier sachlich eindeutig nicht um einen Fall vorbeugender Selbstverteidigung ging, so ist der Rekurs auf die Webster-Formel dennoch beachtlich. Er dokumentiert nämlich Israels grundsätzliche Überzeugung, dass die Regeln zum Selbstverteidigungsrecht allgemein weiterhin an der Korrespondenz zum Caroline-Vorfall zu messen sind. Zumindest stillschweigend bestätigt Israel damit auch Websters Ausführungen zu vorbeugender Selbstverteidigung. Einwände gegen die grundsätzliche Geltung der Webster-Formel wurden – anders als zum konkreten tatsächlichen Vorgehen in Entebbe – nicht erhoben, was zumindest keinen Widerspruch zum Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung erzeugt. 14. Der Beginn des ersten Golfkrieges 1980

Der erste Golfkrieg von 1980 bis 1988 zwischen dem Iran und dem Irak begann am 22. September 1980 mit Bombardements iranischer Flughäfen durch die irakische Luftwaffe189. Der Sicherheitsrat verurteilte in seiner Resolution 479 ohne völkerrechtliche Bewertung jede Form der Gewalt in diesem Konflikt und rief – erfolglos  – zu friedlicher Streitbeilegung auf190. Der Irak begründete seine ersten Gewalthandlungen bereits zuvor mit vorbeugender Selbstverteidigung gegen einen befürchteten iranischen Angriff191, später sogar ausdrücklich nach der Webster-Formel192. Die grundsätzliche Geltung letzterer wurde einmal mehr von keinem Staat bezweifelt. Während stattdessen die konkrete Gewaltanwendung als solche stark kritisiert wurde, findet sich erneut kein Widerspruch zur Rechtmäßigkeit vor 187 Erwähnt bei Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (446); Stevens, Border Diplomacy, S. 168. 188 So die israelische Stellungnahme im Sicherheitsrat am 09.07.1976, UN Doc. S/PV.1939, Abschn. 115. 189 Erwähnt bei Cassese, Int’l. Law, S.  358; Green, CardozoJICL 14 (2006), S.  429 ff. (446). 190 UN Doc. S/RES/479 (1980). 191 In verschiedenen Briefen an den Sicherheitsrat, datiert auf den 22.09.1980 (UN Doc. S/14191, S.  3), den 24.09.1980 (UN Doc. S/14192, S.  2) sowie den 26.09.1980 (UN Doc. S/14199, S. 2). 192 So die Stellungnahme des irakischen Gesandten im Sicherheitsrat am 15.10.1980, UN Doc. S/PV.2250, Abschn. 7 ff., insb. 40.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

beugender Selbstverteidigung nach den Erkenntnissen aus dem Caroline-Vorfall. Unabhängig von der Faktenlage zum ersten Golfkrieg geht damit die Webster-Formel erneut erstarkt aus einem Konflikt hervor. 15. Das israelische Bombardement des irakischen Atom-Reaktors Osiraq (Tamuz-I) 1981

Am 7.  Juni 1981 bombardierte die israelische Luftwaffe einen sich im Bau be­findenden und überwiegend als Osiraq (Tamuz-I)193 bezeichneten irakischen Atomreaktor, um die dort vermutete Produktion von Nuklearwaffen zu ver­ hindern194, deren späterer Einsatz gegen israelisches Staatsgebiet von Israel erwartet wurde195. Israel begründete diesen Einsatz ausdrücklich mit seinem Recht zur Ausübung vorbeugender Selbstverteidigung aus Art.  51 SVN196, weil es unter keinen Umständen einem Feind erlauben würde, Massenvernichtungswaffen herzustellen197. Diese Begründung entsprach genau der Vorgabe einer zwei Jahre zuvor von Premierminister Peres getätigten Äußerung, wonach sich Israel dazu berechtigt ge­ sehen hat, zur Not auch vorbeugende Gewalt anzuwenden198. Hier hat sie nun eine praktisch-konkrete Anwendung gefunden: Die Inbetriebnahme des irakischen Reaktors habe nach israelischer Kenntnis wenige Wochen bevorgestanden, sodass ein späterer Einsatz hiergegen schwere Folgen für die irakische Zivilbevölkerung gehabt hätte. Aus diesem Grund sei das Bombardement zum durchgeführten Zeitpunkt das mildeste zur Schadensverhinderung zur Verfügung stehende Mittel gewesen199. Israel gesteht damit zu, dass zum Zeitpunkt des Einsatzes eine vom Irak ausgehende schädigende Handlung sich nicht hätte jederzeit realisieren können, 193 Die Bezeichnung des Reaktors verläuft in der Literatur nicht einheitlich. Gelegentlich ist auch von „Osirak“, „Ossirac“, „Osarik“, „Osiriak“ oder „Osirik“ die Rede. 194 Vgl. auch ferner Alexandrov, Self-Defense, S. 159 ff.; Arend/Beck, Use of force, S. 77 ff.; Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1411 ff.); D’Amato, AJIL 77 (1983), S. 584 ff.; Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S.  113 ff. (139 ff.); Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 395 ff.; Kunde, Präventivkrieg, S. 152 ff.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (161 f.); Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 66 f.; McCormack, Self-Defense, insb. S. 101 ff., 285 ff.; Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (568 ff.); Smith, Deterring America, S. 129 ff.; i. Ü. tendenziös, aber lesenswert Shoham, MilitaryLR 109 (1985), S. 191 ff. (204 ff.). 195 Vgl. zu einigen wenig überzeugenden literarischen und inhaltlich völkerrechtsfremden Ansichten über eine angebliche Sonderstellung Israels in Bezug auf Selbstverteidigung angesichts gemutmaßter arabischer Dauerbedrohungen durch Atomwaffen z. B. Beres, AZJICL 8 (1991), S. 89 ff. 196 So  – auch ausdrücklich mit der Bezeichnung „Feinde“  – der israelische Gesandte im Sicherheitsrat am 12.06.1981, UN Doc. S/PV.2280, Abschn. 55 ff., insb. 58 f. 197 M.w.N. aus der Tagespresse Alexandrov, Self-Defense, S. 160. 198 Wiedergegeben m. w. N. bei Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1457). 199 UN Doc. S/PV.2280, Abschn. 62 ff.; UN Doc. S/PV.2288, Abschn. 38 ff.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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weil dem Irak dazu noch keine ballistischen Möglichkeiten gegeben gewesen wären200. Auch wenn der israelische Rechtfertigungsversuch sich auf vorbeugende Selbstverteidigung bezieht, bewegt er sich außerhalb der Sphäre der noch grundsätzlich vertretbaren Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung201, da selbst die Latenztheorie als insofern weiteste von der theoretischen Möglichkeit jederzeitiger Schadensverwirklichung ausgeht. Israels Vorbringen dagegen beschreibt ein unter jedem Gesichtspunkt unrechtmäßiges Szenario nach der obigen Abbildung 1202. Allenfalls wenn man mit wenig völkerrechtlichem Fundament die bloße irakische Zugriffsmöglichkeit auf Kernwaffen bereits als Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage betrachten möchte203, ließe sich ein israelisches Vorgehen nach der Latenztheorie konstruieren. Hierauf stellte Israel aber nicht ab. Entsprechend – und untypisch – einheitlich, wenn nicht sogar einvernehmlich, wurde das israelische Bombardement von Osiraq durch die Staatenwelt vehement verurteilt204. Ebenso wählte der Sicherheitsrat – sogar mit Billigung der USA als israelische Schutzmacht – zur Verurteilung der Intervention in seiner Resolution 487 ungewöhnlich scharfe Formulierungen205; die Generalversammlung tat es ihm später in ihrer Resolution 36/27 gleich206. Diese seltene Einheit staat­licher Rechtsüberzeugung zeigt deutlich, dass die geltenden Regeln zum Selbstverteidigungsrecht nicht weiter verstanden werden sollten als dies bis dahin der Fall war. Zugleich bestätigen aber zahlreiche207 Äußerungen das Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung, indem sie die grundsätzliche Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung – teilweise ausdrücklich208 nach dem Wortlaut der Webster-Formel – bekräftigen209. Damit ist aus völkerrechtlicher Perspektive – angesichts der

200 Diese Tatsache soll u. a. erklären, warum sich sogar die USA und das Vereinigte Königreich gegen die Rechtmäßigkeit der israelischen Intervention aussprachen, vgl. Taylor, WQ 27 (2004), S. 57 ff. (62). 201 Ebenso statt vieler D’Amato, AJIL 77 (1983), S.  584 ff. (587 f.); a. A. nur Shoham, ­MilitaryLR 109 (1985), S. 191 ff. (223). 202 s. o. 4. Kap. C. I. 203 Dazu scheint Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1412), zu tendieren. 204 Vgl. die Stellungnahmen jedes einzelnen Sicherheitsratsmitglieds zwischen dem 12. und 19.06.1981, UN Doc. S/PV.2280 bis UN Doc. S/PV.2288. 205 UN Doc. S/RES/487 (1981), Abschn.  1: „Strongly condemns the military attack by Israel in clear violation of the Charter of the United Nations and the norms of international ­conduct“. 206 UN Doc. A/RES/36/27 (1981). 207 Indes gilt dies nicht für alle Äußerungen, da sich namentlich Ägypten und Mexiko generell gegen vorbeugende Selbstverteidigung aussprachen, vgl. Cassese, Int’l. Law, S. 360. 208 Dies waren namentlich Uganda (UN Doc. S/PV.2282, Abschn.  14 f.), das Vereinigte Königreich (ibid., Abschn. 106) und Sierra Leone (UN Doc. S/PV.2283, Abschn. 148). Sogar Israel erwähnte die Webster-Formel, plädierte aber für eine weit über den im Sicherheitsrat allgemein anerkannten Kern hinausgehende Auslegung, UN Doc. S/PV.2288, Abschn. 80. 209 Vgl. Arend, WQ 26 (2003), S. 89 ff. (96); ders./Beck, Use of force, S. 79; Gill, Temporal Dimension of Self-Defense, in: FS-Dinstein, S. 113 ff. (140); Kunde, Präventivkrieg, S. 154; Smith, Deterring America, S. 130 f.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

blutigen Fakten mit fast schon sarkastischem Unterton – der überwiegende Nachhall der illegalen israelischen Intervention als erfreulich klare Stütze des bis dato geltenden Völkerrechts zu verstehen. 16. Das israelische Vorgehen im Libanon 1981

Nachdem Israel im Juli 1981 zivile Ziele in der libanesischen Hauptstadt Beirut bombardiert hatte, begründete es sein Vorgehen einmal mehr mit vorbeugender Selbstverteidigung210. Konkret bezog sich Israel wiederum auf Art. 51 SVN, wonach ihm das Recht zustünde, zur Verhinderung weiterer Anschläge gegen terroristische Aktivitäten vorzugehen211. Einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang konstruierte man in diesem Fall nicht, weil keine konkrete Verbindung zwischen den Zielen in Beirut und den zuvor erlittenen und als Indikator grundsätzlich tauglichen Anschlägen geknüpft wurde. Nach dem Vorbringen Israels wäre daher diese Intervention nur nach der Latenztheorie als rechtmäßige Gewaltanwendung auf Grund einer Selbstverteidigungslage einzustufen. In seiner Ansicht wurde Israel jedoch wiederum nicht bestätigt212. Insbesondere Jordanien lehnte in diesem Fall Selbstverteidigung bereits aus tatsächlichen Gründen ab213, während sich Ägypten auch völkerrechtlich bemerkenswert äußerte. Es erinnerte nämlich – wie dies in früheren Situationen regelmäßig auch andere Staaten taten – an den Caroline-Vorfall214. Nach dessen ägyptischer Lesart gelte seitdem, dass sich die Rechtmäßigkeit von Selbstverteidigung auch an der Ernst­ haftigkeit der konkreten Gefahr zu messen habe215. Dies habe Israel in diesem Falle verkannt und deshalb illegal gehandelt. Diese Rechtsansicht ist nicht zu unterschätzen, weil sie zum einen die Fortgeltung der Webster-Formel unterstreicht und diese zum anderen – womöglich unbewusst – nach Maßgabe der relativen Imminenztheorie versteht. Ein die relative Imminenztheorie bejahender Rechtsgedanke wurde mithin erstmalig im Zusammenhang mit dem israelischen Vorgehen gegen Beirut 1981 geäußert.

210 Alexandrov, Self-Defense, S. 177; Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1401 und dort Fn. 115). 211 So der israelische Gesandte im Sicherheitsrat am 17.07.1981, UN Doc. S/PV.2292, Abschn. 38 ff., insb. 54 f. 212 Vgl. die Stellungnahmen im Sicherheitsrat von Frankreich (UN Doc. S/PV.2293, ­Abschn.  43), Syrien (UN Doc. S/PV.2293, Abschn.  146 ff.) und der Sowjetunion (UN Doc. S/PV.2292, Abschn.  103 ff., sowie bereits zuvor am 09.03.1981, UN Doc. S/PV.2265, ­Abschn. 27 ff.). 213 UN Doc. S/PV.2292, Abschn. 65 ff. 214 UN Doc. S/PV.2293, Abschn. 69. 215 Dies stellt Alexandrov, Self-Defense, S.  177, heraus, wohl bezogen auf UN  Doc. S/PV.2293, Abschn. 71.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

383

Im Übrigen verurteilten die Staatenwelt wie auch der Sicherheitsrat in seiner Resolution 490216 die Gewaltanwendung und damit auch die Latenztheorie, ohne zugleich auf andere Ansichten zu vorbeugender Selbstverteidigung einzugehen. 17. Das israelische Vorgehen im Libanon 1982

Am 6. Juni 1982 marschierten israelische Truppen in den Libanon ein und rückten bis nach Beirut vor217. Ziel war es, die Fortsetzung der von libanesischem ­Territorium aus koordinierten terroristischen Anschläge der Palestine Liberation Organization (PLO) gegen Israel zu verhindern. Israel hielt seine Gewalthandlungen, welche ausdrücklich nur gegen Ziele der PLO und nicht gegen den Libanon gerichtet waren, für dreieinhalb Jahre aufrecht218. Israel erklärte sein Vorgehen im Libanon als von seinem Selbstverteidigungsrecht abgedeckt, weil der Libanon die Terroristen der PLO auf seinem Territorium habe gewähren lassen und daher Israel zum Schutz seiner Zivilbevölkerung hätte tätig werden müssen219. Die bereits zahlreich aus dem Libanon erlittenen Anschläge hätten schließlich die Anwendung des Selbstverteidigungsrechts ausgelöst220. Dabei argumentierte Israel sowohl mit reaktiver als auch mit vorbeugender Selbstverteidigung, jeweils ausgehend von der accumulation-of-eventsDoktrin. Einerseits hätte die Vielzahl der bereits erfolgten Anschläge einen gegenwärtigen bewaffneten Angriff gebildet; andererseits hätten diese Vorgeschehnisse weitere Anschläge indiziert, welche sich angesichts der feindseligen Einstellung der PLO und der Untätigkeit des Libanon ständig hätten realisieren können221. Unabhängig von der Heranziehung möglicher reaktiver Selbstverteidigung zielt der Inhalt der israelischen Äußerungen klar auf zukünftige Schadensabwehr ab und ist damit vorbeugender Natur. Demnach und angesichts des hier wiederum dargelegten indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs hätte eine Selbstverteidigungslage nach der Indikationstheorie vorgelegen. Wie bereits zuvor sah sich Israel schwerwiegenden Vorwürfen seitens der Staatenwelt ausgesetzt222. Im Laufe der israelischen Kampfhandlungen im Libanon erließ der Sicherheitsrat zahlreiche Resolutionen zu diesem Konflikt, in welchen 216

UN Doc. S/RES/490 (1981). Ausführlich hierzu Feinstein, IsraelLR 20 (1985), S. 362 ff.; vgl. auch Alexandrov, SelfDefense, S. 177 ff.; O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (243). 218 O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (243). 219 UN Doc. S/15271. 220 So der israelische Gesandte im Sicherheitsrat am 06.06.1982, UN Doc. S/PV.2375, ­Abschn. 22 ff., insb. 65. 221 Zur genauen Argumentation eingehend Feinstein, IsraelLR 20 (1985), S. 362 ff. (382 ff.), m. w. N. 222 s. nur exemplarisch UN Doc. S/PV.2375. 217

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

er mit teils deutlichen Formulierungen die geschehenen Gewalthandlungen ver­ urteilte223. Mit dem von Israel vorgetragenen Argument der vorbeugenden Selbstverteidigung befasste sich indes keine der Resolutionen, sondern es wurden allgemein nur die tatsächlich erfolgten Feindseligkeiten als solche sowie in ihrer Art und ihrem Ausmaß verurteilt; der Sicherheitsrat ging also gerade nicht auf vorgelagerte friedenssicherungsrechtliche Fragestellungen wie die der Selbstverteidigungslage ein. Zudem wurden gesondert die Konfliktsparteien allgemein zur Einstellung der Gewalthandlungen aufgerufen224, Israel zum Rückzug aus dem Libanon aufgefordert225 und schließlich das immer härtere Vorgehen Israels ver­ urteilt226. Gleiches konstatierte auch die VN-Generalversammlung227. Eine Einschätzung zum ursprünglichen Vorliegen einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage wurde zu keiner Zeit getroffen, vielmehr wurde das eroberungsgleiche Handeln Israels unter dem Aspekt des ius in bello als verurteilungswürdig, weil mutmaßlich unverhältnismäßig angesehen. Wenn aber kaum228 das Ob, sondern vordringlich die anschließende Frage des Wie der zulässigen Gewaltanwendung diskutiert wird, impliziert dies zumindest eine hier stillschweigend anerkannte Ausgangslage vorbeugender Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie. Jedenfalls wurde gegen die Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung unter diesem Aspekt kein Widerspruch erhoben, was das aus der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN ermittelte Zwischenergebnis weiter bestärkt. 18. Die US-amerikanische Intervention in Grenada 1983

Am 25.  Oktober 1983 landeten US-amerikanische Streitkräfte in dem kleinen ostkaribischen Inselstaat Grenada, nachdem es dort zu blutigen Unruhen und der Tötung von Premierminister Bishop gekommen war229. Unter der marxistischleninistischen Putschregierung herrschte Anarchie, weshalb auch US-amerikanische Staatsbürger ihrer Integrität auf Grenada, das bereits zuvor, aber weniger radikal mit den Staaten des Ostblocks zusammenarbeitete, nicht mehr sicher sein konnten230. Die Verhältnisse ließen sich in kleinerem Maßstab mit jenen 1965 in 223 UN Doc. S/RES/508 (1982); UN Doc. S/RES/509 (1982); UN Doc. S/RES/517 (1982); UN Doc. S/RES/518 (1982); UN Doc. S/RES/520 (1982). 224 UN Doc. S/RES/508 (1982); UN Doc. S/RES/518 (1982). 225 UN Doc. S/RES/509 (1982); UN Doc. S/RES/517 (1982). 226 UN Doc. S/RES/520 (1982). 227 UN Doc. A/RES/ES-7/9 (1982). 228 Wenn das Ob diskutiert wurde – hier z. B. durch die USA –, dann in Anerkennung der fallbezogenen Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts, vgl. O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (243). 229 Vgl. zum Geschehen insg. und ausführlich Maizel, NavalLR 35 (1986), S. 47 ff. 230 Arend/Beck, Use of force, S. 101.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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der Dominikanischen Republik vergleichen; wiederum griffen die USA  – diesmal auch auf Ersuchen der Organisation Ostkaribischer Staaten sowie ­Barbados’ und Jamaikas  – gewaltsam ein. Ihre Mission endete nach wenigen Wochen mit der Absetzung der Putschregierung; es folgten Stabilisierung und friedliche Neuwahlen. Die Vereinigten Staaten vermieden es dieses Mal, ihre Intervention ausdrücklich mit vorbeugender Selbstverteidigung zu begründen. Stattdessen habe man zum Schutze eigener Staatsbürger vor ihnen drohenden Anschlägen gehandelt231, was freilich unter natürlicher Betrachtungsweise einer Selbstverteidigungshandlung nach der Latenztheorie gleich kommt232, wenn man denn eigene Staatsbürger als Schutzobjekt anerkennt. Dessen ungeachtet versuchte ein Teil der völkerrechtlichen Literatur, die Intervention in Grenada direkt als Anwendungsfall rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung zu erklären233; darauf kommt es bei der hier zu vollziehenden Praxisermittlung indes nicht an. Entscheidend ist, dass die USA für ihre Intervention empfindliche Kritik von einem weit überwiegenden Teil der Staatenwelt zu erdulden hatten234. Die Generalversammlung schließlich verurteilte das Vorgehen als „flagrant violation of international law“235. Ist man also bereit, die US-amerikanische Begründung ihrer Intervention in Grenada zumindest mittelbar als Form von vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie zu betrachten, so scheitert diese Ansicht jedenfalls am großen Widerstand der Weltgemeinschaft. Zu den weniger einschneidenden Formen vorbeugender Selbstverteidigung äußerte sich diese hier indes nicht, sodass die völkerrechtliche Quintessenz aus der Intervention in Grenada als Bestätigung des Zwischenergebnisses der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN zu deuten ist. 19. Die militärischen Handlungen Israels gegen das Hauptquartier der PLO in Tunesien 1985

Am 1.  Oktober 1985 bombardierten israelische Kampfflugzeuge das Hauptquartier der PLO in Tunesien nahe der Hauptstadt Tunis; dabei kamen über hundert Menschen ums Leben236. Israel berief sich bei dieser Intervention erneut auf sein Selbstverteidigungsrecht gegen den palästinensischen Terrorismus.

231

Arend/Beck, Use of force, S.  101; Maizel, NavalLR 35 (1986), S.  47 ff. (55), jeweils m. w. N. 232 Ebenso andeutend Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 312. 233 Maizel, NavalLR 35 (1986), S. 47 ff. (70 ff.); Hill, ASIL Proc. 98 (2004), S. 329 ff. (329); Zan, JSPL 7 (2003), Issue I (dort in Fn. 17). 234 Arend/Beck, Use of force, S. 101, m. w. N. 235 UN Doc. A/RES/38/7 (1983), Abschn. 1. 236 Hierzu genauer Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (183 f.).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Eine Woche zuvor wurden im zyprischen Larnaca israelische Staatsbürger durch einen mutmaßlich aus dem nun bombardierten Hauptquartier gesteuerten PLO-Anschlag getötet, weshalb nun gezielt hiergegen vorgegangen worden sei237. Weitere aus Tunesien herrührende Anschläge, die jederzeit hätten auftreten können, sollten so verhindert werden238. Der vorangegangene Anschlag kann hier als Indikator im Rahmen des durch die allgemeine vom PLO-Hauptquartier ausgehende Gefahr begründeten indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs herangezogen werden. Israel bekannte sich damit erneut zur Gültigkeit zumindest der Indikationstheorie, wenn nicht sogar – was angesichts der emotionsgeladenen und deutlichen Worte des israelischen Gesandten Netanyahu wahrscheinlich erscheint239 – der Latenztheorie. Der weit überwiegende Teil der Staatenwelt widersprach der israelischen Ansicht erneut240. Der Sicherheitsrat erließ einmal mehr eine Resolution, mit welcher die israelische Intervention scharf verurteilt wurde. Dies geschah diesmal aber bereits in Anknüpfung an das ius ad bellum, da nämlich der „act of armed aggression“ als „flagrant violation“ der SVN verurteilt wird241, also nicht wie so häufig zuvor Art und Umfang der Gewaltanwendung angeprangert werden. Lediglich die USA verfolgten einen weniger geradlinigen Kurs, indem sie zunächst die israe­ lische Lesart des Selbstverteidigungsrechts billigten, dann aber nur noch rechtsunerheblich von einer „verständlichen Handlung“ sprachen242. Im Ergebnis bleibt aber – und das geschah hier in dieser Form erstmalig! – eine fast einhellige Ablehnung der Indikationstheorie festzuhalten, wenn man an ihrer Anwendung auf den hiesigen Vorfall festhalten möchte. 20. Die US-amerikanischen Militärmaßnahmen gegen Ziele in Libyen 1986

Am 14. April 1986 – neun Tage nach dem Bombenanschlag auf die vorwiegend von US-Amerikanern frequentierte West-Berliner Diskothek „La Belle“ – führte die US-amerikanische Luftwaffe zeitgleich fünf gewaltsame Einsätze gegen Ziele auf dem Staatsgebiet Libyens durch243. Die verschiedenen Ziele nahe den Städten Tripolis und Benghazi galten als terroristisch genutzte Einheiten, von welchen aus bereits mehrere Anschläge vorbereitet worden seien. 237

Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (183), m. w. N. UN Doc. S/PV.2615, Abschn. 192 ff. 239 s. insb. UN Doc. S/PV.2615, Abschn. 195 ff. 240 UN Doc. S/PV.2615, passim. 241 UN Doc. S/RES/573 (1985), Abschn. 1. 242 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (184), m. w. N. 243 Vgl. näher Alexandrov, Self-Defense, S.  184 ff.; Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (185 ff.); Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1415 ff.); Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 408 ff.; Löw, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 67 f.; McCormack, Self-Defense, S. 226 ff. 238

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Die USA begründeten ihre Militärmaßnahmen als rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung gegen den libyschen Terrorismus, dessen Führungskräfte weitere Anschläge geplant hätten244. Dabei wurde jedoch nicht deutlich, ob von den bombardierten Zielen konkrete Indikatoren für zukünftige Anschläge ausgingen; sie waren eher als allgemeine Ausbildungs- und Trainingsstätten für Terroristen zu qualifizieren. Man mag zwar die Ausführungen der USA als Rekurs auf die Indikationstheorie in Form der accumulation-of-events-Doktrin verstehen können245, doch wurden die von Präsident Reagan in Bezug genommenen zukünftigen Angriffe nur abstrakt und schleierhaft dargelegt246; gemeinhin wurde daher die Faktenlage nicht als Handlung gegen indizierte Anschläge aufgefasst. Damit fehlt es an einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang, sodass Selbst­ verteidigung hier nur nach der Latenztheorie in Frage kommt. Die Reaktion der Staatenwelt auf die Militärmaßnahmen war geteilt. Eine Minderheit schloss sich der US-amerikanischen Auffassung an und setzte sich damit  – trotz ihrer mutmaßlichen Ablehnung sogar der Indikationstheorie nur ein Jahr zuvor! – für die Latenztheorie ein247. Die Mehrheit hingegen verurteilte die Gewalthandlungen eher undifferenziert als Verletzung der SVN und des Völkerrechts, indem sie als ungerechtfertigter Angriff qualifiziert wurden248. Eine erfreulich dezidierte Ausnahme hiervon bildete aber der Vertreter Katars im Sicherheitsrat bereits am 16.04.1986, welcher sich gegen „preemptive self-defence“ im Sinne der Latenztheorie mit der auf den Caroline-Vorfall abstellenden Begründung aussprach, dass „[t]he true meaning of self-defence was given more then 140 years ago by the United States Secretary of State, Mr. Webster“249 und damit auf der Linie des bisherigen Zwischenergebnisses liegt.

244

s.  nur UN Doc. S/PV.2682, S.  31 ff.; i. Ü. jeweils m. w. N. Alexandrov, Self-Defense, S.  184; Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S.  153 ff. (187); Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1416); Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (573). 245 Eine andere Frage ist, wie es sich mit reaktiver Selbstverteidigung verhält, wenn man nach der accumulation-of-events-Doktrin von einem abgeschlossenen Angriff durch die zuvor erlittenen terroristischen Anschläge mit dem „La Belle“-Attentat als dem „letzten Glied einer Angriffskette“ ausginge, gegen welchen sich die USA ohne vorbeugenden Bezug verteidigt hätten. Dass ein solches Verständnis möglich ist, zeigt z. B. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 78; dies soll hier aber mangels Relevanz für das Thema dieser Arbeit nicht weiter erörtert werden. 246 Vgl. Bradford, NDLR 79 (2004), S.  1365 ff. (1416 sowie dort Fn.  177); Rothwell, UQueenslandLJ 24 (2005), Art. Nr. 23, Abschn. III. B. und dort Fn. 38. 247 Dies war neben den USA vor allem das Vereinigte Königreich, vgl. UN Doc. S/PV.2679, S. 18 ff. 248 Vgl. insb. die Debatten im Sicherheitsrat vom 17.04.1986 (UN Doc. S/PV.2679) bis zum gescheiterten Resolutionsentwurf am 21.04.1986 (UN Doc. S/PV.2682). Die einzelnen Stellungnahmen befassten sich, soweit sie Selbstverteidigung erwogen, vorwiegend isoliert mit der reaktiven Variante und lassen daher keine brauchbaren Rückschlüsse auf Rechtsüberzeugungen zu vorbeugender Selbstverteidigung zu. 249 UN Doc. S/PV.2677, S. 4 ff., insb. 7 (Hervorh. v. Verf.).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Eine Resolution im Sicherheitsrat scheitete zwar erwartungsgemäß, doch kommt die mehrheitliche Rechtsüberzeugung der Staatenwelt in einer die Gewalthandlungen als militärischen Angriff verurteilenden Resolution der Generalversammlung zum Ausdruck250. Damit wirkt sich auch dieses Geschehen völkerrechtlich nicht auf das Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN aus, zumal eine zumindest partielle Bekräftigung der Webster-Formel festzustellen war. 21. Die gewaltsamen Interventionen Südafrikas in seine Nachbarstaaten zwischen 1976 und 1987

Zwischen 1976 und 1987 ereigneten sich zahlreiche von Südafrika ausgehende bewaffnete Auseinandersetzungen mit den südafrikanischen Nachbarstaaten Angola, Botswana, Mosambik, Lesotho, Sambia, Simbabwe und Swasiland251. Vorwiegend wurden Gebäude zerstört und Menschen getötet, die als Ausgangspunkte zukünftiger Angriffe gegen Südafrika eingestuft wurden. Dabei vertrat das süd­ afrikanische Apartheid-Regime stets den Standpunkt, auf Grund von vorbeugender Selbstverteidigung rechtmäßig handeln zu dürfen. Inhaltlich ähnelten diese in Bezug genommenen Situationen der zeitgleich in Israel vorherrschenden Lage. Südafrika betrachtete nämlich die zwischen 1960 und 1990 verbotene Partei Afri­ can National Congress (ANC)252 als terroristische Vereinigung, der vorgeworfen wurde, regelmäßige Anschläge auf südafrikanischem Gebiet durchzuführen253. Diese würden in den Nachbarstaaten vorbereitet und von dort aus in Gang gesetzt, sodass die Unterbindung jederzeit möglicher weiterer Anschläge ein gewaltsames Eingreifen dort notwendig gemacht hätte. Regelmäßig bezog sich Südafrika auf sein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung ausdrücklich nach Art. 51 SVN254. Wenn man das Argument der Selbstverteidigung des Apartheid-Regimes aufzugreifen bereit ist und die wohl wahre Motivation eines gezielten Vorgehens gegen die als minderwertig betrachtete schwarze Bevölkerung der Nachbarstaaten ausblendet, ließe sich lediglich die Latenztheorie als mögliche Begründung heranziehen. Zwar hat es Anschläge des ANC in Südafrika gegeben, die sich als In­ dikatoren hätten heranziehen lassen können, jedoch fehlt es mangels konkreter Verbindung der ausländischen Zielobjekte der südafrikanischen Handlungen hierzu an einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang; einen solchen versuchte die südafrikanische Regierung auch gar nicht zu ziehen. 250

UN Doc. A/RES/41–38. Alexandrov, Self-Defense, S. 180; Higginbotham, ColumbiaJTL 25 (1986/87), S. 529 ff. (566 ff.); Kwakwa, YaleJIL 12 (1987), S. 421 ff. 252 Zur Geschichte des südafrikanischen Konflikts s. nur Higginbotham, ColumbiaJTL 25 (1986/87), S. 529 ff. (561 ff.). 253 Alexandrov, Self-Defense, S. 180; Kwakwa, YaleJIL 12 (1987), S. 421 ff. (428 f.). 254 Vgl. die ausführlichen Darstellungen jeweils m. w. N. bei Higginbotham, ColumbiaJTL 25 (1986/87), S. 529 ff. (566 ff.); Kwakwa, YaleJIL 12 (1987), S. 421 ff. (426 ff.). 251

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Lediglich in einem einzigen registrierten Anwendungsfall – einer Intervention in Sambia am 25. April 1987  – töteten südafrikanische Einheiten nach eigenen Angaben mutmaßliche Terroristen, die sich bereits auf dem Weg nach Südafrika zur Ausübung von Schädigungshandlungen befunden hätten255. Wenn diese Fakten zutrafen, handelte es sich hierbei angesichts des bei ungehindertem Geschehensablauf zeitlich gewissen späteren Eintritts eines schadenskausalen Ereignisses um eine Gewalthandlung nach Maßgabe zumindest im Umkreis der absoluten Imminenztheorie. Dieser Sonderfall wurde jedoch im Umgang mit den zahlreichen südafrikanischen Handlungen gegen den ANC in der Praxis nicht als solcher erwähnt. Insgesamt unmissverständlich fielen die Reaktionen der Staatenwelt aus, die in seltener Einigkeit die Illegalität256 der südafrikanischen Gewaltanwendungen hervorhob und sich dabei auch auf die Unrechtmäßigkeit von Selbstverteidigung nach der Latenztheorie bezog257. Allein im Jahr 1985  – teilweise mit Verweis auf die Resolutionen der Vorjahre – erließ der Sicherheitsrat nur zu diesen Auseinandersetzungen nicht weniger als sieben Resolutionen mit fast gleichem, vehement verurteilendem Wortlaut258 und nahm so der Latenztheorie zu diesem Zeitpunkt jede Entfaltungsmöglichkeit. 22. Die US-amerikanische Intervention in Panama 1989

Am 20.  Dezember 1989 marschierten US-amerikanische Truppen in einer Stärke, die es seit dem Vietnamkrieg nicht mehr gegeben hatte, in Panama ein259 und besetzten strategisch wichtige Teile des Landes260. Der Intervention ging ein gescheiterter Putschversuch gegen die Regierung des de facto-Staatsoberhauptes und Diktators Noriega voraus, der große innere Unruhen in Panama folgten. Innerhalb dieser Operation Just Cause genannten US-amerikanischen Gewalthandlung wurde Noriega festgenommen und später in den USA vor Gericht gestellt; die innere Ordnung in Panama konnte ebenfalls schnell wiederhergestellt und die bereits im Mai 1989 rechtmäßig gewählte, aber von Noriega unterdrückte Regierung vormaliger Oppositioneller auch tatsächlich eingesetzt werden. 255

Higginbotham, ColumbiaJTL 25 (1986/87), S. 529 ff. (570 f.). Freilich existierten daneben auch politische Beweggründe, die aber getrennt von den völkerrechtlichen geäußert wurden, vgl. Green, NILR 55 (2008), S. 181 ff. (200). 257 Alexandrov, Self-Defense, S. 180; Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (449, dort Fn. 82); Kwakwa, YaleJIL 12 (1987), S. 421 ff. (429 ff.), jeweils m. w. N. 258 UN Doc. S/RES/567 (1985); UN Doc. S/RES/568 (1985); UN Doc. S/RES/571 (1985); UN Doc. S/RES/573 (1985); UN Doc. S/RES/574 (1985); UN Doc. S/RES/577 (1985); UN Doc. S/RES/580 (1985). 259 Nicht berücksichtigt sind dabei die zur Kontrolle des Panamakanals auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags ohnehin dort stationiert gewesenen US-Truppen. 260 Vgl. näher Arend/Beck, Use of force, S. 101 f.; D’Amato, AJIL 84 (1990), S. 516 ff.; ­Farer, AJIL 84 (1990), S. 503 ff.; Nanda, AJIL 84 (1990), S. 494 ff. 256

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Die Motivationslage für die Durchführung der Intervention war angesichts der jahrzehntelangen Machtspiele rund um den Panamakanal, der Rolle Panamas als Drehscheibe im internationalen Drogenhandel und der allgemeinen instabilen politischen Lage nahezu aller mittelamerikanischen Staaten besonders vielschichtig261. Die Vereinigten Staaten beriefen sich von völkerrechtlicher Warte aus aber auch262 auf vorbeugende Selbstverteidigung263, weil – ähnlich wie 1965 in der Dominikanischen Republik und 1983 in Grenada – die in Panama lebenden eigenen Staatsbürger zahlreichen Übergriffen ausgesetzt gewesen seien und vor weiteren jederzeit möglichen Angriffen hätten geschützt werden müssen. Anders als im Fall der Dominikanischen Republik, sondern eher wie im Fall von Grenada waren bis dato keine einschneidenden oder zukunftsweisenden Übergriffe auf US-amerikanische Staatsbürger zu verzeichnen; der einzige Zwischenfall unter den 35.000 in Panama registrierten US-Bürgern ereignete sich am 15. Dezember 1989, als panamaische Milizen einen US-Offizier töteten und einen weiteren verwundeten264. Ein Indikator für weitere Übergriffe lässt sich hieraus freilich nicht konstruieren; allenfalls kann die allgemeine Spannungslage als abstrakte Gefahr in US-feindlichem Umfeld eingestuft werden, sodass die US-amerikanische Intervention aus Selbstverteidigungsaspekten höchstens nach der Latenztheorie hätte für rechtmäßig gehalten werden können. Die Rechtsüberzeugung der weit überwiegenden Mehrheit der Staaten war jedoch eine andere. Die Intervention in Panama wurde weitgehend als Verletzung panamaischer Souveränität verurteilt, das Selbstverteidigungsrecht sollte hier nach vorherrschender Auffassung keine Anwendung finden265 oder zumindest unverhältnismäßig und damit falsch ausgeübt worden sein266. Zwar scheiterte eine entsprechende Resolution im Sicherheitsrat an den ablehnenden Stimmen der USA, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs, doch galten gerade die beiden letzteren nachweislich lediglich als Antwort auf die behauptete Unrechtmäßigkeit der Herrschaft Noriegas und beruhten damit auf rein politischen Gründen267.

261

Vgl. dazu vor allem Farer, AJIL 84 (1990), S. 503 ff. (508 ff.). Bemerkenswerterweise soll das Beispiel Panama nach D’Amato, AJIL 84 (1990), S. 516 ff. (521), die Unfähigkeit des Konzepts vorbeugender Selbstverteidigung aufzeigen, weshalb dieser Autor es als solches ablehnt, aber zugleich auf politische Rechtfertigungsgründe zur Gewaltanwendung zurückgreift. Derartige Überlegungen mögen im Sicherheitsrat angestellt worden sein, sind aber aus völkerrechtlicher Sicht irrelevant. 263 So der Gesandte der USA im Sicherheitsrat am 23.12.1989, UN Doc. S/PV.2902, S. 8; eine identische Begründung aus weiteren Quellen wird i. Ü. jeweils m. w. N. erwähnt bei Arend/ Beck, Use of force, S.  102; Nanda, AJIL 84 (1990), S.  494 ff. (494); Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (573). 264 Nanda, AJIL 84 (1990), S. 494 ff. (497). 265 Vgl. UN Doc. S/PV.2900, passim. 266 Lediglich auf Unverhältnismäßigkeit berief sich z. B. der Gesandte Finnlands im Sicherheitsrat am 21.12.1989, UN Doc. S/PV.2900, S. 14 f.; ebenso Nanda, AJIL 84 (1990), S. 494 ff. (497). 267 UN Doc. S/PV.2902, S. 18 ff. 262

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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In Ansehung des Friedenssicherungsrechts blieb die überwiegend ablehnende Haltung gegenüber der Latenztheorie indes unverändert. Jedoch soll auch die Minderheit, welche hier eine Illegalität nur aus Verhältnismäßigkeitsgründen annimmt, nicht ignoriert werden; auf das bisherige Zwischenergebnis wirkt sich diese jedoch nicht aus. 23. Das US-amerikanische Bombardement eines Gebäudes des irakischen Geheimdienstes 1993

In der Nacht vom 26. auf den 27. Juni 1993 bombardierten die USA ein Gebäude des irakischen Geheimdienstes in Bagdad. Bei diesem gewaltsamen Einsatz wurde nicht nur das als Hauptquartier bezeichnete Gebäude zerstört, sondern es wurden auch acht Zivilisten getötet268. Durchgeführt wurde die Aktion nachdem bekannt wurde, dass der irakische Geheimdienst einen gescheiterten Anschlag auf den ehemaligen US-Präsidenten Bush  sen. im April 1993 geplant hatte; weitere drohende Attentate sollten nun verhindert werden269. Die Regierung unter Präsident Clinton berief sich dabei in ihrer völkerrecht­ lichen Stellungnahme auf Selbstverteidigung270. Zwar vermied sie in diesem Rahmen die Nennung einer vorbeugenden Variante; allerdings war die inhaltliche Aussage („to deter further violence“271) nicht anders zu verstehen, als dass auch vorbeugende Selbstverteidigung hier Anwendung finden sollte. Deutlich wurde dies im Anschluss an die Maßnahme auch anhand der US-amerikanischen Stellungnahme vor dem Sicherheitsrat272. Das Hauptmotiv der Abschreckung war hier auf den sich ausbreitenden Terrorismus bezogen, mit dessen Verwicklung auch der irakische Geheimdienst verbunden wurde. Inzwischen war auch angesichts der vorherigen Geschehnisse – u. a. dem ersten Anschlag auf das World Trade Center im Februar desselben Jahres – der internationale Terrorismus in der Lage, poten­ tiell jederzeit Anschläge zu verüben. Damit war unter Gesichtspunkten vorbeugender Selbstverteidigung das Bombardement des irakischen Geheimdienstgebäudes eine Handlung nach der Latenztheorie, um von dort gesteuerte und sich jederzeit zu realisieren drohende Angriffe zu verhindern. Im Gegensatz zu früheren vergleichbaren Situationen war dieses Mal keine überwiegende Kritik an dem US-amerikanischen Einsatz zu vernehmen. Spe­ziell im Sicherheitsrat waren vorwiegend befürwortende Stimmen zu verzeichnen, insbesondere auch für die Anwendbarkeit des Selbstverteidigungsrechts in diesem

268 Vgl. näher Alexandrov, Self-Defense, S.  186 ff.; Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (153 ff., 188 ff.). 269 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (189). 270 Yoo, AJIL 97 (2003), S. 571 ff. (573 f.). 271 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (154). 272 UN Doc. S/PV.3245, S. 6.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Falle273. Im Übrigen war die Stimmungslage geteilt; es verurteilten die Intervention vor allem Malaysia und die Arabische Liga274, während das Vereinigte Königreich, die Russische Föderation und auch Deutschland das Vorgehen ausdrücklich als rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung qualifizierten275. Damit ist zwar weiterhin kein gesteigerter Zuspruch für die Latenztheorie zu konstatieren, jedoch hatte mit diesem praktischen Anwendungsfall die einheitlich gegen die Latenz­ theorie gerichtete Phalanx deutliche Risse zu verkraften. 24. Die US-amerikanischen Zerstörungshandlungen gegen Terroristenausbildungslager in Afghanistan und eine Fabrik im Sudan 1998

Am 20.  August 1998, keine zwei Wochen nach den verheerenden Bomben­ anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, bombardierte die US-amerikanische Luftwaffe mehrere Terroristenausbildungslager in Afghanistan, außerdem wurde eine mutmaßlich Nervengas produzierende Fabrik im Sudan mit Raketen zerstört276. Neben einem beträchtlichen Sachschaden waren auch zahlreiche zivile Todesopfer zu verzeichnen. Die Vereinigten Staaten verteidigten ihren Gewalteinsatz mit ihrem Recht auf Selbstverteidigung. Indem er als „response to these terrorist attacks, and to prevent and deter their continuation“ für rechtmäßig gehalten wurde277, zog man sowohl reaktive als auch vorbeugende Selbstverteidigung heran278. Was den einzig hier interessierenden Aspekt der Vorbeugung angeht, so sollten im Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus solche Anschläge, wie sie kürzlich zuvor erlitten worden waren, verhindert werden. Die Attentate in Kenia und Tansania dienten als Beweis dafür, zu welcher Zerstörungskraft der internationale Terrorismus nun in der Lage war, jedoch konnten sie mangels konkreter Hinweise auf weitere bestimmbare Schädigungshandlungen nicht als Indikator einer zukünftigen reaktiven Selbstverteidigungslage herangezogen werden. Gleichwohl bestand die abstrakte Gefahr eines sich jederzeit zu realisieren drohenden neuen Angriffs, wel 273 Vgl. UN Doc. S/PV.3245. Befürworter im Sicherheitsrat waren Frankreich (ibid., S. 13 ff.), Japan (ibid., S. 16), die Russische Föderation (ibid., S. 22), Ungarn (ibid., S. 18 ff.) und das Vereinigte Königreich (ibid., S. 21 f.). 274 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (155), m. w. N. 275 Beck/Arend, WisconsinILJ 12 (1994), S. 153 ff. (154 f.), m. w. N. 276 Näher dazu Bradford, NDLR 79 (2004), S. 1365 ff. (1417 ff.); Kühn, Präventive Gewalt­ anwendung, S. 420 ff.; Lobel, YaleJIL 24 (1999), S. 537 ff.; Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 ff.; Schmalenbach, NZWehrr 2000, S. 177 ff. 277 UN Doc. S/1998/780; vgl. i. Ü. die ausführlichen Quellenrecherchen von Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 ff. 278 Bemerkenswerterweise bestreitet Lobel, YaleJIL 24 (1999), S.  537 ff. (544), hier einen vorbeugenden Aspekt mit der Begründung, ein solcher entspreche nicht der US-amerika­ nischen politischen Linie; die Fakten zeigen freilich das Gegenteil.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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cher – die Richtigkeit der Fakten unterstellt – auch aus den bombardierten Zielen in Afghanistan und dem Sudan hätte herrühren können. Wenn also vorbeugende Selbstverteidigung hier für rechtmäßig gehalten wurde, dann nur nach Maßgabe der Latenztheorie. Der sich bereits fünf Jahre zuvor andeutende Zwiespalt staatlicher Rechtsüberzeugung in Hinblick auf die Latenztheorie machte sich nun noch deutlicher bemerkbar. Ein beträchtlicher Teil  der Staatenwelt nahm das US-amerikanische Handeln nebst seiner Begründung stillschweigend hin, wenn es nicht sogar ausdrücklich unterstützt wurde279. Lediglich der Irak, der Iran, Libyen, Pakistan, die Russische Föderation und die Arabische Liga kritisierten den Einsatz als illegal280 – und letztere tat dies auch nur in Bezug auf die sudanesische Fabrik, weil diese keine Verbindung zum Terrorismus aufgewiesen habe281. Im Umkehrschluss billigte damit sogar eine als amerikakritisch bekannte Organisation wie die Arabische Liga vorbeugend-verteidigende Gewalthandlungen gegen terroristische Ziele nach der Latenztheorie. Erstmalig war damit eine zwiespältige Praxis282 mit Tendenzen zu Gunsten der Latenztheorie wahrzunehmen. 25. Die Rolle Belgiens im Kosovo-Einsatz der NATO 1999

Der NATO-Einsatz aus dem Jahr 1999 im Kosovo, das damals noch Teil  der Bundesrepublik Jugoslawien war, wird vor allem im Zusammenhang mit Fragen zu einer möglichen Rechtmäßigkeit humanitärer Interventionen diskutiert283. Lediglich Belgien, das am gegen den jugoslawischen Reststaat gerichteten Luftwaffeneinsatz beteiligt war, berief sich inhaltlich auch auf vorbeugende Selbstverteidigung. In einem von mehreren durch die Bundesrepublik Jugoslawien vor den IGH gebrachten Verfahren gegen am NATO-Einsatz involvierte Staaten begründete Belgien seine Beteiligung ausdrücklich als rechtmäßige „Notstandshandlung“ zur Verhinderung eines unmittelbar bevorstehenden Schadens („imminent peril“) zum Nachteil der kosovarischen Bevölkerung284. Die Rechtsauffassung Belgiens bekennt sich trotz anderer Bezeichnung inhaltlich zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach der absoluten Imminenztheorie. Zwar wurde das Verfahren später eingestellt, sodass der IGH über das Vorbringen Belgiens nicht zu

279

Ausdrückliche Zustimmung gaben Australien, Deutschland, Frankreich, Japan, Spanien und das Vereinigte Königreich, vgl. Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 ff. (165). 280 Lobel, YaleJIL 24 (1999), S. 537 ff. (538); Murphy, AJIL 93 (1999), S. 161 ff. (164), jeweils m. w. N. 281 UN Doc. S/1998/789. 282 Ebenso Schmalenbach, NZWehrr 2000, S. 177 ff. (177); Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 223. 283 s. nur Fletcher/Ohlin, Defending Humanity, S. 132 ff. 284 Belgien, IGH, Verbatim Record CR 99/15, S. 13 f.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

entscheiden hatte; allerdings war hiergegen auch von drittstaatlicher Seite kein Widerspruch zu vernehmen. Damit wird das bisherige Zwischenergebnis zumindest in Ansehung der absoluten Imminenztheorie weiter gestärkt. II. Handlungen und Reaktionen rund um die Terroranschläge des 11. September 2001 Nach den auf al-Qaida zurückzuführenden Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 mit über 3.000 Todes­opfern stand die Welt unter Schock. Terroristische Gewalt und Zerstörungskraft war in eine bis dato ungekannte Dimension vorgedrungen, welcher besonders die westliche Welt zunächst einmal gewahr werden musste. Unter dem Trauma des 11. September 2001 war nicht auszuschließen, dass bislang bekannte und anerkannte Prinzipien des Friedenssicherungsrechts überdacht und womöglich verändert würden285. Bald schon riefen die Vereinigten Staaten den „Krieg gegen den Terror“286 aus und handelten fortan nach der Maxime, den Terrorismus buchstäblich um jeden Preis besiegen zu wollen. Zahlreiche Gewalthandlungen waren die Konsequenz. Einige davon sind unter der hiesigen Betrachtungsweise von vorbeugender Selbstverteidigung zu erfassen und sollen daher im Folgenden als Anwendungsfälle späterer Praxis  – soweit sie überhaupt dokumentiert wurden  – nicht un­ erwähnt bleiben. Darüber hinaus dienten die Anschläge des 11.  September und die in ihrem Sinne folgenden Attentate von al-Qaida als Anknüpfungspunkt für die Kundgabe zahlreicher neuer staatlicher Rechtsüberzeugungen, die ebenfalls in diesem Zusammenhang zu nennen und diskutieren sind. 1. Die US-geführte Invasion in Afghanistan 2001

Als erste umfassende Maßnahme nach den Anschlägen des 11. September startete eine von den USA angeführte Truppenkoalition287 am 7. Oktober 2001 ihre Offensive in Afghanistan, um gewaltsam gegen al-Qaida vorzugehen und dabei das kooperierende de facto-Regime der Taliban zu entmachten288. Nachdem die 285 Vgl. nur die zeitnah darauf bezogenen völkerrechtlichen Überlegungen von Condorelli, RGDIP 105 (2001), S. 829 ff. 286 s. zum Begriff bereits o. Fn. 68 im 3. Kap. 287 In erster Linie waren die USA und dahinter das Vereinigte Königreich beteiligt, während andere Verbündete wie Australien, Deutschland, Frankreich und Kanada eher symbolische Hilfe leisteten, s. Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 95. 288 Hierzu näher Acosta Estévez, AMexDI VI (2006), S. 13 ff. (31 ff.); Conte, Security in the 21st Century, S. 41 ff.; Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 90 ff.; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 428 ff.; Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff.; Williamson, Terrorism, War, Int’l. Law, S. 161 ff.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 170.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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­ aliban ein Ultimatum zur Auslieferung des al-Qaida-Führers Osama bin Laden T nebst seiner Gefolgsleute, zur Zerstörung aller Terroristenausbildungslager und zur Freilassung US-amerikanischer Staatsbürger hatten verstreichen lassen289, initiierten die Vereinigten Staaten die Operation Enduring Freedom. Nach sechs von Kampfhandlungen geprägten Wochen – am Boden vor allem durch die von den USA unterstützte afghanisch-oppositionelle „Nordallianz“ – konnte das Taliban-Regime besiegt und eine Übergangsregierung unter Präsident Karzai errichtet werden290. Im Vorfeld der Invasion, nämlich bereits am 14. September 2001, stufte die USRegierung unter Präsident Bush jun. die bis heute verheerendsten Terroranschläge der Weltgeschichte als Auslöser einer Selbstverteidigungslage ein und sah sich zugleich berufen, zukünftige Anschläge vergleichbarer Art vorbeugend verteidigend zu verhindern. Der Kongress verfasste eine entsprechend lautende und ermächtigende Resolution: „(…) the President is authorized to use all necessary and appropriate force against those nations, organizations, or persons he determines planned, authorized, committed, or aided the terrorist attacks that occurred on September 11, 2001, or harbored such organizations or persons, in order to prevent any future acts of international terrorism against the United States by such nations, organizations or persons.“291

Damit war nach innerstaatlichem Recht bereits ein Vorgehen gegen das dann offiziell noch nicht ins Visier gefasste Afghanistan nach vorbeugender Selbstverteidigung abgesichert. Zugleich wurde mit dieser erstmals abstrakt-generellen politischen Leitlinie zu Gunsten vorbeugender Selbstverteidigung gegen den Terrorismus als Vorgriff der ein Jahr später erlassenen NSS 2002 auch auf Ebene des Völkerrechts292 jeder zukünftige Einsatz im Rahmen der Terrorismusbekämpfung als pima facie rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung eingestuft. Nach diesen Vorgaben wäre angesichts der nur abstrakt formulierten Gefahr des Terrorismus, die gleichwohl jederzeit eine Schadensrealisierung hervorbringen kann, vorbeugende Selbstverteidigung auch nach der Latenztheorie als legal einzustufen. Als die Vereinigten Staaten von ihrer sich selbst erteilten Generalvollmacht zur vorbeugenden Verteidigung gegen latente Gefahren in Operation Enduring Freedom erstmals Gebrauch machten, war folglich auch dies ein Anwendungsfall vorbeugender Selbstverteidigung. Darüber hinaus denkbare Aspekte reaktiver Selbstverteidigung sollen hier mangels sachdienlicher Relevanz ausgeblendet werden. 289 Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S.  93 ff.; Williamson, Terrorism, War, Int’l. Law, S. 182, jeweils m. w. N. 290 Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 98. 291 107th Congress, 1st Session, S. J. Res. 23, S. 2 (Hervorh. v. Verf.); vgl. dazu i. Ü. Williamson, Terrorism, War, Int’l. Law, S. 164 ff. 292 Völkerrechtsfremde Erwägungen, zu deren opportunistischer Äußerung sich der seinerzeitige Präsident Bush jun. des Öfteren hinreißen ließ [vgl. z. B. nur Acosta Estévez, AMexDI VI (2006), S. 13 ff. (33)], sollen keine weitere Beachtung finden.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Besonders deutlich zeigt sich der vorbeugende Aspekt der Gewalthandlungen in den Benachrichtigungen der USA und des Vereinten Königreichs gegenüber dem Sicherheitsrat. Demnach haben jeweils unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Art. 51 SVN „United States armed forces (..) initiated actions designed to prevent and deter further attacks“ (USA)293 „to avert the continuing threat of attacks from the same source“ (Vereinigtes Königreich)294. Es wird damit in Ansehung der bereits erlittenen Schädigungen und des eindrucksvoll unter Beweis gestellten massiven Zerstörungspotentials von al-Qaida eine Anschlagserie mit unbestimmtem Ende konstruiert, innerhalb derer sich die Opferstaaten des Terrorismus wähnten und sich jederzeit eines neuen Anschlags potentiell ausgesetzt sahen295. Die der mutmaßlichen Selbstverteidigungshandlung zu Grunde liegende Faktenlage genügte damit völkerrechtlich engeren Anforderungen als die zuvor abstrakt für rechtmäßig erachtete Latenztheorie. Es gelang nämlich im Laufe der Untersuchungen nach dem 11.  September, einen Zusammenhang zwischen den durch al-Qaida verwirklichten Anschlägen und deren Vorbereitungen in Afghanistan herzustellen. Ebenso war bekannt und unstreitig, dass al-Qaida jederzeit weitere Attentate hätte ungehindert von afghanischem Territorium aus planen und ausführen können, wofür die Anschläge des 11. September im Übrigen ein überzeugendes Indiz lieferten und sich somit als tauglicher Indikator in einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang erwiesen. Die gegen al-Qaida und die sie unterstützenden Taliban gerichteten Gewalthandlungen in Afghanistan wären damit schon nach Maßgabe der Indikationstheorie als rechtmäßig zu betrachten. Daneben lässt sich auch eine weitere Bewertung der Faktenlage gleichermaßen gut vertreten: Nach eigenem Bekunden und aus ihrem Selbstverständnis heraus wird al-Qaida weitere Anschläge zumindest gegen die USA und jedenfalls dann ausführen, wenn man sie gewähren lässt; der Eintritt weiterer reaktiver Selbstverteidigungslagen verdichtete sich damit hier bei ungehindertem Geschehensablauf zu einer Gewissheit, war jedoch nicht in näher zu bestimmender Zukunft zeitlich exakt vorhersehbar. Ein weiterer Terroranschlag wäre aber in aller Regel erst dann als unmittelbar bevorstehend erkennbar gewesen, wenn er sich nicht mehr hätte gänzlich verhindern lassen – z. B. in Form eines weiteren entführten Flugzeuges mit erkennbarem Kurs auf ein Angriffsziel. Angesichts der bereits unter Beweis gestellten beispiellosen Zerstörungskraft der von al-Qaida geplanten Anschläge und der Tatsache, dass ein späteres Vorgehen gegen erkennbar gewordene Anschläge nicht mehr effektiv ist, wäre bei der Invasion in Afghanistan auch die flexiblere Verhältnismäßigkeitsprüfung der relativen Imminenztheorie gewahrt. 293

UN Doc. S/2001/946. UN Doc. S/2001/947. 295 Deshalb stellt Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (332), in diesem Zusammenhang klar, dass es sich richtigerweise um einen „,ongoing armed attack‘ rather than ‚ongoing threat‘“ gehandelt habe. 294

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Erkennt man folglich einen zeitlich gewissen Eintritt weiterer Anschläge bei ungehindertem Geschehensablauf an, so hätte das Vorgehen gegen Afghanistan auch der relativen Imminenztheorie Genüge getan; klammert man es aus, wäre immer noch die Indikationstheorie erfüllt. Die Faktenlage im in dieser Form neuartigen Afghanistan-Konflikt von 2001 ermöglicht damit sowohl ein zeitpunktorientiertes als auch ein wahrscheinlichkeitsorientiertes Verständnis rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung. Erstmals ist dabei auch ein echter Anwendungsfall der relativen Imminenztheorie anzu­ erkennen. Freilich befassten sich die Äußerungen staatlicher Rechtsüberzeugung zur Afghanistan-Invasion der USA und ihrer Verbündeten nicht mit solch völkerrechtstheoretischen Fragen, sondern lediglich mit der vorgefundenen, aber eben auch in der beschriebenen Form verinnerlichten Faktenlage. Dabei erfuhren die Vereinigten Staaten weitgehende Zustimmung für ihr Vorgehen und wurden sogar auf beachtliche Weise und auch von nicht unbedingt als Verbündete zu bezeichnenden Staaten unterstützt. So gewährten über 40 Nationen aus Afrika, Asien (einschließlich dem Nahen Osten) und Europa den USA Überflug- und Landerechte und stellten ihnen nachrichtendienstliche Informationen zur Verfügung296. Insbesondere erklärten China, Indien, Pakistan und die Russische Föderation ihre Unterstützung in der Intervention, sogar der Iran zeigte eine wohlwollend neutrale Einstellung297 mit Kritik lediglich an der Durchführung des Einsatzes298. Internationale Organisationen wie die NATO und die OAS billigten das Vorgehen vorbehaltlos299, wobei die NATO sogar erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausrief300. Offene Ablehnung gegen die Invasion war nur aus dem Irak, Nord­korea und dem Sudan zu vernehmen301, differenzierte Kritik gab es zudem von Kuba und Malaysia302. Es herrschte damit in der Staatenwelt eine weit überwiegende Zustimmung dahingehend, dass die Intervention in Afghanistan angesichts der gegebenen Fakten rechtmäßig war. Dies lässt zugleich den Schluss zu, dass der dieser Faktenlage zugehörige Völkerrechtshintergrund ebenso akzeptiert wurde. In der Folge gewann sowohl die Indikations- als auch die relative Imminenztheorie an völkerrechtlicher Bedeutung. Das bisherige Zwischenergebnis zum völkerrechtlichen Status von vorbeugender Selbstverteidigung konnte damit bekräftigt werden. Zudem ist nunmehr zusätzlich ein deutliches Signal zu Gunsten der relativen Imminenztheorie gesetzt worden, wobei allerdings bezweifelt werden kann, ob dies jedem unterstützenden Staat auch tatsächlich bewusst war. 296

Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 96. Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 97. 298 Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff. (910). 299 Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff. (909). 300 Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 224. 301 Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff. (910), m. w. N. 302 Ratner, AJIL 96 (2002), S. 905 ff. (910), m. w. N.

297

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 2. Die Veröffentlichungen der USA rund um die NSS 2002 und die entsprechenden Reaktionen

Einen entscheidenden Schritt weiter als die zur Afghanistan-Invasion genannten Erklärungsansätze führte ein Jahr später die am 17. September 2002 veröffentlichte NSS der Vereinigten Staaten. Wie bereits an früherer Stelle im dogmatischen Teil dieser Arbeit ausführlich dargelegt303, bekennt sie sich klar zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie und gibt somit die entsprechende Rechtsüberzeugung der USA wieder. Wenige Monate später  – am 11.  Dezember 2002  – brachten die Vereinigten Staaten eine weitere Strategieerklärung heraus. Diese National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction versprühte den Geist der NSS 2002 und sollte darüber hinaus die US-Geheimdienste ermächtigen, vorbeugend-selbstverteidigend im Sinne der Latenztheorie gegen Massenvernichtungswaffen vorzugehen304; sie war damit als Erweiterung der NSS 2002 zu verstehen305. Die National Strategy for Combating Terrorism vom 14. Februar 2003 stellte schließlich klar, dass sich die USA mit ihrer Rechtsauffassung weiterhin im ge­ gebenen völkerrechtlichen Rahmen bewegen, insbesondere stellte man sich mit der Bezugnahme auf die Sicherheitsrats-Resolution 1373 (2001) nicht außerhalb des Systems kollektiver Terrorbekämpfung306. Daneben soll aber als ultima ratio vorbeugende Selbstverteidigung gegen den Terrorismus nach der Latenztheorie rechtmäßig sein307. Die Reaktionen auf die Inhalte der NSS 2002 und ihrer zeitnahen Folgedokumente fielen indes außerhalb der USA weitgehend negativ aus. Die sog. „Blockfreien Staaten“ erklärten ihre Ablehnung gegen vorbeugende Selbstverteidigung nach der Latenztheorie308, ähnlich wurde die Latenztheorie u. a. von China, Deutschland und Spanien kritisiert309. Eine bemerkenswerte Sonderstellung im Lager der Kritiker bezogen die als „Schurken“ eingestuften Staaten Iran und Nordkorea. Sie lehnten nämlich grundsätzlich die NSS 2002 aus nahe liegenden Gründen zwar ab, zugleich beanspruchten sie aber – gleichsam in als fundamental zu verstehender Rezipro­ zität  – ein Selbstverteidigungsrecht nach der Latenztheorie ebenso für sich

303

s. o. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb) (1). National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction 2002, S. 3. 305 Breitwieser, NZWehrr 2005, S.  45 ff. (49); Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (86). 306 National Strategy for Combating Terrorism 2003, S. 18; vgl. auch Breitwieser, NZWehrr 2005, S. 45 ff. (50), sowie Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 289 ff. 307 National Strategy for Combating Terrorism 2003, S. 2. 308 Anghie, ASIL Proc. 98 (2004), S. 326 ff. (326 f.); Kunde, Präventivkrieg, S. 192. 309 Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (544 ff.), m. w. N. 304

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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selbst310. Dies bekräftigte der nordkoreanische Außenminister im Jahr 2004 – also mit einigem Abstand zur Veröffentlichung der NSS 2002 – erneut311. Lediglich Australien, Indien, Israel und die Russische Föderation äußerten sich ausdrücklich zustimmend312. Speziell Australien erließ im Jahr 2003 unter Premier­minister John Howard313 eine im Wortlaut deutlich an der NSS 2002 orientierte Verteidigungsstrategie, die sich zu Gewalthandlungen zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen unter Terroristen und „Schurken­ staaten“ bekennt314. Zwar wird dabei nicht direkt Bezug auf das Recht zur Selbstverteidigung genommen, der inhaltliche Kontext lässt jedoch keinen anderen Schluss zu; nicht umsonst wurde Australien in dieser Zeit auch als „Hilfssheriff der USA“ bezeichnet315. Inzwischen positioniert sich Australien allerdings deutlich zurückhaltender, wie die nachfolgende Fassung seiner Verteidigungsstrategie beweist316. Dieses Dokument versteht sich als Fortentwicklung der Strategien von 2003 und 2005317 und verzichtet dabei auf den zuvor verwendeten Wortlaut; stattdessen steht militärische Kooperation im Vordergrund, die allerdings weiterhin auch mit unilateralen vorbeugenden Mitteln verwirklicht werden kann318. Ein solch weitgehendes Bekenntnis wie jenes zur Latenztheorie ist daraus nicht mehr zu entnehmen; Australien hat seine Haltung nun zu Gunsten eines zurückhaltenderen Tones gemäßigt, ohne indes vorbeugende Selbstverteidigung als solche in Frage zu stellen. Von Anfang an verhaltener fiel die Reaktion des Vereinigten Königreiches auf die NSS 2002 aus, dessen durch das Unterhaus veranlasste und im März 2003 veröffentlichte Verteidigungsstudie zwar die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung im Falle eines „imminent attack“ bejaht319, jedoch Skepsis hinsichtlich 310

Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S.  525 ff. (545 f.); ähnlich „fundamentalistischreziprok“ reagierten die genannten Staaten bereits auf ihre Einstufung als „Schurkenstaaten“, s. o. den Nachweis in Fn. 237 im 4. Kap. 311 Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (107). 312 Byers, JPolPhil 11 (2003), S.  171 ff. (182 f.); Kunde, Präventivkrieg, S.  203; Reisman/ Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (545), jeweils m. w. N. In Bezug auf die Rechtsüberzeugung der Russischen Föderation gilt es zu unterscheiden zwischen der NSS 2002 und der IrakInvasion ein Jahr später (s. sogleich): Zur NSS 2002 gab es entgegen der auf einer Ver­mischung beider Ereignisse zurückzuführenden Annahme einiger Autoren durchaus Zustimmung von russischer Seite, s. nur Byers, JPolPhil 11 (2003), S. 171 ff. (182). 313 Vgl. Howards Auffassung zu vorbeugender Selbstverteidigung im Sinne der Bush-Dok­ trin bei Zan, JSPL 7 (2003), Issue I. 314 Fassung von 2003 im Internet nicht mehr verfügbar, vgl. aber den Nachweis bei Reisman/ Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (101 f.). 315 Shearer, Just War Theory, in: FS-Dinstein, S. 1 ff. (15). 316 Australia’s National Security – A Defence Update 2007. 317 Bereits hier ist mehr Zurückhaltung zu erkennen, s. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 216. 318 Australia’s National Security – A Defence Update 2007, insb. S. 16, 31, 41. 319 A New Chapter to the Strategic Defence Review –  Sixth Report of Session 2002-02, ­Abschn. 22 (S. 10).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

der NSS 2002 äußert320. Gleiches bestätigte ein Jahr später noch einmal der britische Attorney-General in einer Stellungnahme vor dem House of Lords321. Ähnlich sind die Bekundungen Japans zu verstehen, das in seinem jährlich überarbeiteten Weißbuch zur nationalen Verteidigungsstrategie seit 2002 zwar ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung auch für sich beansprucht, jedoch wiederum nur im Falle einer „imminent and illegal invasion of Japanese territory“322. Diese nicht bis an die Latenztheorie reichende Rechtsauffassung erhält Japan auch gegenwärtig noch aufrecht323. Auch Frankreich verabschiedete wenige Monate nach der NSS 2002 ein eigenes Gesetz zur Militärplanung, in dessen travaux préparatoires umfangreiche Äußerungen zur nationalen Verteidigungsstrategie vor dem Hintergrund der Geschehnisse des 11. September folgen324. Darin nimmt Frankreich ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung bei „eindeutiger und erwiesener Bedrohung“ als Option für sich in Anspruch325, führt dies allerdings nicht weiter aus. Der auf eine möglichst konkrete Bedrohungslage deutende Wortlaut gibt aber zu verstehen, dass jedenfalls eine bloß latente Gefahr, gleichwohl sie sich jederzeit realisieren könnte, nicht für die Inanspruchnahme vorbeugender Selbstverteidigung ausreicht. Die französische Militärplanung stimmt folglich nicht mit der NSS 2002 überein. Damit erzeugte die erste von staatlicher Seite offiziell herausgegebene Formulierung der Latenztheorie im modernen Sinne mehr Ablehnung als Zustimmung in der Staatenwelt und konnte so zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung zu keiner Erweiterung des geltenden Selbstverteidigungsrechts führen. Zugleich wurde aber anhand der durch die NSS 2002 vielseitig provozierten Reaktionen deutlich, dass vorbeugende Selbstverteidigung unter strengeren Kriterien global durchaus als rechtmäßig betrachtet wird. 320 A New Chapter to the Strategic Defence Review –  Sixth Report of Session 2002–02, Abschn.  139 f. (S.  51 f.); vgl. auch jeweils m. w. N. Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (541 ff.); Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (60). 321 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 215, m. w. N. 322 Englische Fassung nicht mehr im Internet verfügbar, vgl. aber den Nachweis bei Reisman/ Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (104). 323 Defense of Japan 2010, S. 137: Selbstverteidigung sei rechtmäßig „when there is an imminent and illegitimate act of aggression against Japan.“ Ebenso mit anderer Wortwahl auch die Strategie der Vorgängerregierung 2009, Chapter 3, S. 1: Selbstverteidigung gelte „(…) both to armed attack situations and to situations where armed attacks are anticipated.“ Gelegent­liche Kundgaben einzelner Politiker, die über die Aussagen des Weißbuchs hinaus doch die Latenztheorie favorisieren, kommen zwar vor, bilden aber die Ausnahme, vgl. z. B. die bei Kunde, Präventivkrieg, S. 203, registrierte japanische Androhung eines „Präventivschlags“ gegenüber Nordkorea vom 11.07.2006. 324 Loi no. 2003-73. 325 Loi no. 2003-73, Abschn.  2.3.1 (S.  1748): „(…) la possibilité d’une action préemptive pourrait être considérée, dès lors qu’une situation de menace explicite et avérée serait re­ connue.“ Vgl. auch Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (107), sowie Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (61).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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3. Der Disput zwischen Australien und einigen südostasiatischen Staaten nach den Anschlägen von Bali 2002

Am 12.  Oktober 2002 verübten Terroristen auf der indonesischen Insel Bali einen Anschlag auf einen Nachtclub im Touristenort Kuta, bei welchem mehr als 200 Menschen  – überwiegend australische Staatsbürger  – getötet wurden. Das Attentat war bewusst gegen Australien als Unterstützer der Vereinigten Staaten im „Krieg gegen den Terror“ gerichtet. Australiens damaliger Premierminister ­Howard kündigte daraufhin in einem Fernsehinterview an: „It stands to reason that if you believe that somebody was going to launch an attack on your country (…) and you had a capacity to stop it and there was no alternative other than to use that capacity, then of course you would have to use it.“326 Die soeben im Vorabschnitt angesprochene australische Verteidigungsstrategie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Gunsten der Latenztheorie umgeschrieben worden. Öffentlichkeitswirksamer konnte ein staatliches Bekenntnis zur Latenztheorie indes kaum sein. Howard provozierte dadurch weitere staatliche Reaktionen, insbesondere aus dem sich betroffen wähnenden südostasiatischen Raum. Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Thailand verurteilten diese Rechtsauffassung auf das Äußerste. Besonders der damalige thailändische Premierminister ­Thaksin antwortete ebenso scharf, indem er jede Gewalthandlung Australiens – und damit war vor allem eine vorbeugend-verteidigende Handlung nach der Latenztheorie gemeint – gegen sein Land als Kriegshandlung betrachten und sämtliche ihm möglichen Maßnahmen hiergegen ergreifen würde327. Ausdrückliche Unterstützer fand Australien in dieser Angelegenheit hingegen keine. Der australisch-südostasiatische Regionaldisput verdeutlicht das von der Latenztheorie ausgehende Spannungspotential; vor allem aber provozierte er eine beachtliche zum Ausdruck gebrachte Ablehnung gegen die Latenztheorie, welche in dieser scharfen Form lediglich durch ein Fernsehinterview ausgelöst wurde. 4. Der Drohnenbeschuss im Jemen durch die USA 2002

Anfang November 2002 töteten die Vereinigten Staaten im Jemen sechs als Terroristen von al-Qaida verdächtigte, in einem Automobil fahrende Personen mit einer auf das jemenitische Staatsgebiet abgefeuerten Drohne328. Die USA beriefen sich bei dieser Handlung auf ihr Selbstverteidigungsrecht gegen den Terrorismus, also im Sinne der kurz zuvor erlassenen NSS 2002329. Es mag möglich sein, 326

Zit. nach Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (164). Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (164 f.). 328 Ausführlich Downes, JCSL 9 (2004), S. 277 ff.; i. Ü. erwähnt bei Melzer, Targeted Killing in Int’l. Law, S. 207 f.; Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate, S. 170. 329 Ein anderer Erklärungsversuch lag in einer Berufung auf das Recht des bewaffneten Konflikts, vgl. Melzer, Targeted Killing in Int’l. Law, S. 208, m. w. N., welcher hier jedoch man 327

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

dass die getöteten Personen bei unterstellter Wahrheit der dargelegten Fakten jederzeit hätten Anschläge gegen die USA oder ihre Verbündeten ausführen können. Allerdings kann ein solch selektives Vorgehen nur schwerlich in einen Zusammenhang mit Anschlägen der Größenordnung des 11. September 2001 in Verbindung gebracht werden, weshalb es hier an einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang und somit an einer Voraussetzung der Indikationstheorie fehlt330. Erst recht kann nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass jeder Anhänger von al-Qaida in fernerer Zukunft mit absoluter Sicherheit einen Anschlag ausüben wird, sodass auch die relative Imminenztheorie hier nicht passt, zumal in diesem besonders individualisierten Fall sicher kein Anschlag während einer Autofahrt im Jemen abzusehen war. Der Drohnenbeschuss kann somit nur unter dem Aspekt der Latenztheorie als rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung betrachtet werden, was die USA wohl auch taten. Zu diesem Einzelfall innerhalb des „Krieges gegen den Terror“ war keine nennenswerte Reaktion von anderen Staaten – auch nicht von jemenitischer Seite – zu verzeichnen. Zumindest gab es somit in diesem – allerdings weitgehend unbeachteten – Vorfall auch keine ablehnende Haltung gegenüber der Latenztheorie. 5. Das Vorgehen der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak 2003

In der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 begannen die Vereinigten Staaten gemeinsam mit ihrer „Koalition der Willigen“331 die Operation Iraqi Freedom, indem sie zunächst die irakische Hauptstadt Bagdad bombardierten und sodann mit Bodentruppen nach und nach weite Teile des Iraks unter Kontrolle brachten332. Zuvor ließ Diktator Saddam Hussein ein Ultimatum verstreichen, innerhalb von 48 Stunden das Land zu verlassen. Nach einigen Wochen massiver Kampfhandlungen kapitulierte die irakische Regierung im April 2003; das Land wurde unter US-amerikanischer Kontrolle von einer Übergangsregierung verwaltet.

gels Relevanz nicht weiter verfolgt werden soll. Vgl. zur Abgrenzung der hier denkbaren Erklärungsmodelle Downes, JCSL 9 (2004), S. 277 ff. (insb. S. 287 ff.). 330 In anderer Wortwahl ebenso Downes, JCSL 9 (2004), S. 277 ff. (294). 331 Diese Koalition umfasste am Tag des Operationsbeginns nach Angaben der USA 49 Staaten, die militärische oder politische Unterstützung leisteten, so die entsprechende Mitteilung des Weißen Hauses vom 27.03.2003 („Coalition Members  – For Immediate Release“). Der Begriff der „Koalition der Willigen“ ist unmittelbar auf die NSS 2002 zurückzuführen, s. ibid., S.  3, und ausdrücklich hierzu Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S.  61. Zugleich scheint die Verwendung dieses Begriffs einen außerrechtlichen Legitimierungsansatz einführen zu wollen, vgl. Ipsen, Legitime Gewaltanwendung, in: LA-Delbrück, S. 371 ff. (379), welcher in der völkerrechtlichen Analyse aber unberücksichtigt bleiben soll (s. dazu bereits o. 1. Kap. B. II.). 332 Auf den Verlauf näher eingehend Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff.; Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 113 ff.; Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 445 ff.; McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 16 ff.

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Die Vereinigten Staaten und auch das Vereinigte Königreich gingen im Vorfeld ihrer Offensive davon aus, dass der Irak mit al-Qaida kooperieren, Massenvernichtungswaffen besitzen und ggf. jederzeit gegen die USA selbst oder ihre Verbündeten einsetzen würde. Nach damaligem Kenntnisstand sollten Massenvernichtungswaffen an mehreren Orten stationiert und einsatzbereit sein, wie dies US-Außenminister Colin Powell am 5.  Februar 2003 vor dem Sicherheitsrat in einer multimedialen Präsentation darlegte333. Die britische Regierung verfügte zudem über ein Dossier, wonach der Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch den Irak gegen die westliche Welt innerhalb von 45 Minuten hätte durchgeführt werden können334. Angesichts dieser Faktenannahme (für welche es im später eroberten Irak aller­ dings keine Beweise gab)  sollte die mutmaßliche latente, vom Regime Saddam Husseins ausgehende Gefahr beseitigt werden. Die völkerrechtliche Begründung für die Irak-Invasion wurde jedoch offiziell nicht anhand vorbeugender Selbstverteidigung335, sondern in Annahme einer implizierten Autorisierung durch den Sicherheitsrat mittels Kombination verschiedener Resolutionen zu geben versucht336. Dennoch wird Operation Iraqi Freedom von einigen Autoren als Diskussionsansatz für vorbeugende Selbstverteidigung angeführt337 – nicht zuletzt weil sie angesichts der ihr zu Grunde liegenden unterstellten Fakten einen klaren Anwendungsfall der NSS 2002 und damit der Latenztheorie bildete338. Zudem wurde im Vorfeld über die Rechtmäßigkeit eines Gewalteinsatzes gegen den Irak auf Grund von vorbeugender Selbstverteidigung in Regierungskreisen durchaus diskutiert339. Mittel 333 UN Doc. S/PV.4701, S. 2 ff.; vgl. i. Ü. McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 18 f., 97 ff., m. w. N. 334 Iraq’s Weapons of Mass Destruction – The Assessment of the British Government; vgl. i. Ü. McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 73 f., 97 ff., m. w. N. 335 Klarstellend statt vieler Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (314), m. w. N. 336 Es handelte sich um die Resolutionen 678, 687 und 1441, so die offiziellen Begründungen der USA (UN Doc. S/2003/351), des Vereinigten Königreichs (UN Doc. S/2003/350) und Australiens (UN Doc. S/2003/352) jeweils per Brief an den Sicherheitsrat am 20.03.2003; vgl. hierzu i. Ü. nur Conte, Security in the 21st Century, S. 140 ff.; McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 52 ff.; Wedgwood, AJIL 97 (2003), S. 576 ff. Dieser Ansatz soll hier nicht weiter verfolgt werden. 337 Brunnée/Toope, ICLQ 53 (2004), S. 785 ff. (793 ff.); Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 216 ff.; Hossain, MiskolcJIL 2 (2005), S. 18 ff. (19, 27); Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S.  119 f.; Kunde, Präventivkrieg, S.  208 ff.; Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S.  22 ff. (32); Sapiro, AJIL 97 (2003), S. 599 ff. (603); Wedgwood, AJIL 97 (2003), S. 576 ff. (582 ff.). Fassbender, Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse, in: Legalität, Legitimität und Moral, S.  99 ff. (127), versteht die US-amerikanische Stellungnahme zur Begründung des Gewalteinsatzes sogar irrtümlich als ausdrückliche Bezugnahme auf vorbeugende Selbst­ verteidigung. 338 Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S.  157 ff. (166); Kreutzer, Preemptive Self-Defense, S. 101; Streinz, JöR 52 (2004), S. 219 ff. (220). 339 Zur NSS 2002 i. V. m. dem Irak als „Schurkenstaat“ ferner Gray, ICLQ 56 (2007), S. 157 ff. (161); Green, CardozoJICL 14 (2006), S. 429 ff. (468); McGoldrick, From ‚9–11‘ to Iraq, S. 73, jeweils m. w. N.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

bar ist die Invasion in den Irak damit – ähnlich wie die Kuba-Krise 1962 – doch ein tauglicher Anknüpfungspunkt zur Ermittlung staatlicher Rechtsüberzeugung zu vorbeugender Selbstverteidigung insbesondere im Kontext mit der NSS 2002. Die Reaktion der Staatenwelt war geteilt. Während die „Koalition der ­Willigen“ naturgemäß von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns ausging, nutzten bei dieser Gelegenheit ca. 60 Staaten das Forum des Sicherheitsrats, um ihre Verurteilung der Gewalthandlungen gegen den Irak zum Ausdruck zu bringen340. Zuvörderst war die jeweils geäußerte Rechtsüberzeugung naturgemäß gegen die gelieferte Begründung der „implizierten Autorisierung“ durch den Sicherheitsrat ausgerichtet. Doch ist anzunehmen, dass die ablehnenden Staaten erst recht eine Gewalthandlung auf Grund von vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie verurteilen würden, wenn sie dies schon in Bezug auf eine unterstellte Maßnahme kollektiver Sicherheit taten. Diese Annahme gewinnt besonders dadurch an Konsistenz, dass einige Staaten im Rahmen dieser Debatte im Sicherheitsrat die Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung im Sinne der Latenztheorie sogar „vorbeugend“341 zurückgewiesen hatten342. Daneben darf bezweifelt werden, dass die „Koalition der Willigen“ auf fast 50 Mitglieder gewachsen wäre, wenn die einzelnen Staaten nicht auf die Autorisierung des Sicherheitsrats vertraut, sondern sich lediglich als Teil  einer kollektiven vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung betrachtet hätten. Schließlich lässt sich auch die Distanz der Führungsstaaten der Koalition zum Begründungsansatz vorbeugender Selbstverteidigung dahingehend verstehen, dass sie selbst nicht von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns nach Selbstverteidigungsgesichtspunkten überzeugt waren343 oder zumindest die internationale Salonfähigkeit dieses Arguments bezweifelten. Damit brachte auch Operation Iraqi Freedom – wenn überhaupt – nicht mehr als nur einige wenige Befürworter der Latenztheorie zu Tage, während die deut­liche Mehrheit der Staatenwelt sie weiterhin als illegal ablehnte.

340 Vgl. die einzelnen Stellungnahmen am 26. und 27.03.2003 in UN Doc. S/PV.4726 und UN Doc. S/PV.4726 (Resumption 1). Trotz ihrer Zustimmung zur NSS 2002 sprach sich auch die Russische Föderation gegen die Rechtmäßigkeit der Irak-Invasion aus, was offenbar mit der von der Koalition ausgegebenen Begründung der „implizierten Autorisierung“ zusammenhing, vgl. Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (546), sowie dies., Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (105), jeweils m. w. N. 341 Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (316). 342 So geschehen durch Malaysia (UN Doc. S/PV.4726, S. 8), den Jemen (ibid., S. 13), den Iran (ibid., S. 33) und den Libanon (ibid., S. 35). 343 Kreß, ZStW 115 (2003), S. 294 ff. (316).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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6. Das militärische Konzept der NATO zur Verteidigung gegen den Terrorismus von 2003

Im Oktober 2003 sah sich die NATO angesichts der jüngsten Entwicklungen und der auch von ihr erkannten steigenden Bedrohung durch den internationalen Terrorismus dazu veranlasst, ein militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus zu verabschieden344. Zwar beruft sich die NATO darin nicht ausdrücklich auf das Selbstverteidigungsrecht als Rechtsgrundlage, jedoch steht sie als kollektives Verteidigungsbündnis schon aus der Natur ihrer eigenen Sache heraus stets im Zusammenhang mit Selbstverteidigung. Zudem gelten auch für die NATO als internationale Organisation keine Sonderrechte zur Gewaltanwendung, vielmehr darf auch sie nur im Rahmen von Maßnahmen kollektiver Sicherheit oder eben Selbst­ verteidigung gewaltsam handeln, wobei auch für sie nur im letzteren Fall ein unmittelbar eigeninitiatives Tätigwerden möglich ist. Das militärische Konzept bezieht sich folglich im Regelfall vor allem auf den Umgang mit Selbstvertei­ digungslagen. Vor diesem Hintergrund ist dann auch der hier maßgebliche Passus zu ver­ stehen, wonach es vorzugswürdig sei „to deter terrorist attacks or to prevent their occurrence rather than deal with their consequences“345. Konkret gelte: „Once it is known where the terrorists are or what they are about to do, military forces need the capability to deploy there.“346 Die NATO bekennt sich damit zur Recht­ mäßigkeit auch vorbeugender Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, ohne dabei jedoch ihr Ausmaß exakt zu bestimmen. Ob dieser recht allgemein gehaltenen Aussage eine Hinwendung bis zur Latenztheorie zu entnehmen ist, erscheint zumindest fraglich. Jedenfalls aber besteht innerhalb der NATO die Rechtsüberzeugung, dass vorbeugende Selbstverteidigung als solche legal ist. Sie soll insbesondere in der Verteidigung gegen den Terrorismus Anwendung finden, wenn der Aufenthaltsort von Terroristen und ihr zukünftiges Handeln bekannt sind. Ein Anschlag muss demnach nicht notwendigerweise unmittelbar bevorstehen, wohl aber zukünftig in einer hinreichend konkreten Ausformung („known (…) what they are about to do“) gewiss sein. Aus dem Gesamtzusammenhang des NATOKonzepts ergibt sich ferner, dass angesichts der hohen Gefährlichkeit des Terrorismus ein derart frühes Eingreifen zur Bekämpfung desselben geradezu geboten ist. Aus diesen Über­legungen lässt sich auf zeitlicher Ebene eine Bejahung der relativen Imminenz­theorie ableiten, die damit langsam an Gewicht gewinnt.

344

NATO-Konzept 2003, passim; s. auch Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (61 f.). NATO-Konzept 2003, Introduction, Abschn. 2. 346 NATO-Konzept 2003, Requirements for Implementing the Concept Effectively, ­Abschn. 1.

345

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Zumindest bekräftigt das militärische Konzept der NATO damit das Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN und schafft Raum für die relative Imminenztheorie; für eine weitreichendere Interpretation auf Wahrscheinlichkeitsebene fehlt es indes an hinreichend bestimmter Aussagekraft. 7. Die EU-Sicherheitsstrategie von 2003 und der Bericht zu ihrer Umsetzung 2008

Am 12. Dezember 2003 erließ auch die EU eine gemeinsame Sicherheitsstra­ tegie unter dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“347. Unabhängig von teilweise erlassenen Strategien einzelner Mitgliedstaaten gelang es der Union mit diesem Dokument, mit einheitlicher Stimme als Reaktion auf die Geschehnisse des 11. September 2001 eine Rechtsüberzeugung zu aktuellen Fragen von Sicherheit und Verteidigung zu formulieren, die auch über den europäischen Kontinent hinaus ein gehöriges Gewicht hat. Wie die NSS 2002 sieht auch die EU-Sicherheitsstrategie u. a. den Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als die gegenwärtig größte sicherheitsrelevante Herausforderung an348. Neben politischen Absichtserklärungen, die vor allem auf multilaterale Zusammenarbeit abzielen, wird auch auf die Anwendung militärischer Gewalt zur eigenen Verteidigung gegen die genannten Bedrohungen eingegangen. Die EU bekräftigt dabei die Unabdingbarkeit des Völkerrechts wie auch der SVN und sieht sich zu Wahrung und Weiterentwicklung von beidem verpflichtet349. Letzterer Punkt bestätigt die in dieser Arbeit bereits dargelegte Fortentwicklungsfähigkeit auch des in der SVN festgehaltenen Völkerrechts, an welchem sich die EU folglich – auch mit ihrer Sicherheits­strategie – beteiligen möchte. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass das Verständnis von Selbstverteidigung aus Zeiten des Kalten Krieges angesichts neuer Bedrohungslagen überholt sei und deshalb als an die gegenwärtigen Herausforderungen angepasst verstanden werden soll350. Allgemein setzt sich die EU zum Ziel, vor dem Ausbruch einer Krise zu handeln: „Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vor­ gebeugt werden.“351 Genauere Angeben zum Selbstverteidigungsrecht oder zu vorbeugender Gewaltanwendung finden sich indes nicht. Im Vergleich insbesondere zur NSS 2002 ist die EU-Sicherheitsstrategie aber deutlich weniger scharf, dafür deutlich mehr 347 Europäische Sicherheitsstrategie; s. dazu auch Bailes, IntAff 84 (2008), S. 115 ff.; Schmidl, Changing Nature of Self-Defence, S. 71 f.; Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (62 f.). 348 Europäische Sicherheitsstrategie, S. 3 f.; zur Entwicklung der Strategie „im Schatten der NSS“ s. auch Bailes, IntAff 84 (2008), S. 115 ff. (117 ff.). 349 Europäische Sicherheitsstrategie, S. 9. 350 Europäische Sicherheitsstrategie, S. 6 f. 351 Europäische Sicherheitsstrategie, S. 7; in der Folge wird auch „präventives Engagement“ nicht ausgeschlossen (ibid., S. 11).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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auf Kooperation abzielend formuliert352. Als Argument für die Rechtmäßigkeit von Gewalthandlungen nach der Latenztheorie kann sie nicht verwendet werden353, doch zeigt ihre offene Formulierung zugleich, dass auch vorbeugende Selbstverteidigung per se eine Option sein kann. Exakt dargestellte Ausformungen dieses Rechts sucht man vergebens, allerdings deutet sie mit ihrem Bekenntnis zu einer dynamischen Völkerrechtsordnung auch eine Wandelbarkeit der genauen Voraussetzungen von vorbeugender Selbstverteidigung an. Somit nimmt sie zumindest keine Einschränkung an dem für vorbeugende Selbstverteidigung geltenden status quo zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung vor und versperrt sich zugleich nicht für zukünftige Erweiterungen. Diese Entwicklungen versuchte die EU fünf Jahre später mit ihrem Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie vom 11.  Dezember 2008 unter dem Titel „Sicherheit schaffen in einer Welt im Wandel“ zu berücksichtigen354. Er soll die Europäische Sicherheitsstrategie nicht ersetzen, sondern ergänzen355, auch wenn die ursprüngliche Intention der federführenden Französischen Rats­präsidentschaft 2008 der Erlass einer neuen EU-Sicherheitsstrategie war356. Doch allein schon aus der Tatsache, dass nur eine Beibehaltung der Sicherheitsstrategie von 2003 unter einigen Ergänzungen konsensfähig war357, kann eine unveränderte Rechtsüberzeugung der EU auch zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung geschlossen werden. Auch ihr Bericht von 2008 erwähnt diese mögliche Form der Gewaltanwendung nicht, sondern versteht sich eher als Aufzählung aktueller politischer und wirtschaftlicher Gefahrenentwicklungen (u. a. nun auch des wachsenden Problems von Angriffen über das Internet358) und der darauf zu ver­anlassenden Reaktionen. In diesem extensiven politischen Verständnis basierend auf internationaler Kooperation ähnelt der Bericht der eineinhalb Jahre später erlassenen NSS 2010359. Gleichwohl fordert auch der EUBericht nötigenfalls „frühzeitige Prävention“ gegen Bedrohungen360, ohne sich dabei auf einen abschließenden Maßnahmenkatalog oder die Rahmenbedingungen möglicher Gewaltanwendung festzulegen. Dies bekräftigt den Eindruck unver­ 352

Dies gilt insb. im Vergleich mit einer ihrer vorherigen Entwurfsversionen, welche noch die an der NSS 2002 orientierte Terminologie der „Präemption“ sowie eine stärkere Bezugnahme zu al-Qaida enthielt, vgl. Yost, IntAff 83 (2007), S. 39 ff. (62). 353 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 214 f. 354 EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie; vgl. dazu Toje, EuForeignAffR 15 (2010), S. 171 ff. 355 EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie, S. 3. 356 Toje, EuForeignAffR 15 (2010), S. 171 ff. (174). 357 Vor allem auf Bestreben Deutschlands und des Vereinigten Königreichs, vgl. Toje, ­EuForeignAffR 15 (2010), S. 171 ff. (174 f.). 358 EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie, S. 5. 359 Vgl. o. 4. Kap. C. IV. 3. a) cc); Toje, EuForeignAffR 15 (2010), S. 171 ff. (184), meint i. Ü. im EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie die Absicht indirekter Einflussnahme auf die zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelte NSS 2010 der Obama-Administration zu erkennen. 360 EU-Umsetzungsbericht zur Sicherheitsstrategie, S. 9.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

änderter Rechtsüberzeugung der EU speziell im Hinblick auf vorbeugende Selbst­ verteidigung. 8. Die Reaktion der Russischen Föderation auf das Attentat auf eine Schule in Beslan 2004

Am 1. September 2004 wurde auch die Russische Föderation Ziel einer folgenschweren terroristischen Aktivität361. Eine Schule in Beslan, einer Stadt in der russischen Teilrepublik Nordossetien, wurde von tschetschenischen Rebellen gewaltsam unter Kontrolle gebracht. Bei der Befreiung der über 1.100 Geiseln durch das russische Militär drei Tage später kamen mehr als 330 Menschen ums Leben. Nachdem man nun auch selbst und unmittelbar vom Terrorismus betroffen war, herrschte in der Russischen Föderation eine eindeutige Überzeugung zu Gunsten der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie. Eine zuvor mitunter als schwankend eingestufte Haltung362 wurde am 17. September 2004 durch die damaligen Präsidenten Putin und Verteidigungsminister Ivanov gefestigt. Russland würde nunmehr „präemptiv gegen Terroristen auf Grundlage des Völkerrechts vorgehen“ und sich deshalb „Präemptivschläge gegen Terroristen auf der ganzen Welt“ vorbehalten363. Die russische Orientierung an der NSS 2002 ist angesichts der Wortwahl und des engen Austauschs mit der US-Regierung unverkennbar. Weitere Reaktionen mit Relevanz für das Selbstverteidigungsrecht gab es in der Staatenwelt nicht zu verzeichnen. Damit hat sich aber immerhin die russische Position auf die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie hin gewandelt. 9. Die Veröffentlichungen der USA rund um die NSS 2006

Am 17. März 2006 veröffentlichten die Vereinigten Staaten mit der NSS 2006 eine Neuauflage ihrer Sicherheitsstrategie364, die bis Mai 2010 gültig war. Die US-amerikanische Rechtsauffassung zur Legalität vorbeugender Selbstverteidigung im Sinne der Latenztheorie wurde mit diesem Dokument einmal mehr be 361

Dass es sich hierbei um einen Fall von Terrorismus handelt, wurde ausdrücklich durch den Sicherheitsrat in einer von der Russischen Föderation erwirkten Sondersitzung am 01.09.2004 festgestellt, UN Doc. S/PV.5026 (zugl. S/PRST/2004/31). 362 Einerseits in Bezug auf die Zustimmung zur NSS 2002 (s. o. Fn.  312 in diesem Kap.) und andererseits in Bezug auf die Ablehnung der Irak-Invasion 2003 (s. o. Fn. 340 in diesem Kap.). 363 Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (546); dies., Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (105). 364 s. Genaueres dazu bereits o. 4. Kap. C. IV. 3. a) bb) (1).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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stärkt. Abgesehen von einzelnen sogar verschärften Formulierungen365 vermittelte es genau die in der NSS 2002 wiederzufindende Aussagekraft366. In diesen die Latenztheorie untermauernden Gesamtkontext fügten sich auch die wenige Monate später veröffentlichten Dokumente über die Strategien zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen vom 13.  Juni 2006367 wie auch zur Terrorismusbekämpfung (September 2006)368 ein. Nicht nur manifestierten die Vereinigten Staaten mit ihren neuerlichen Strategieveröffentlichungen im Jahr 2006 ihre die Latenztheorie bejahende Auffassung, ebenso starr verharrte auch die drittstaatliche Rechtsüberzeugung für oder gegen die Latenztheorie. Einzig die sog. „Blockfreien Staaten“ reagierten – freilich negativ  – am 19.  September 2006 in ihrer jüngsten Deklaration von Havanna369 auf die wiederholt bekräftigte Bush-Doktrin, indem ihre Mitglieder ausdrücklich „[o]ppose and condemn the categorisation of countries as good or evil based on unilateral and unjustified criteria, and the adoption of the doctrine of pre-emptive attack“370. Weitere Diskussionen vermochten die Veröffentlichungen rund um die NSS 2006 nicht zu entfachen; offenbar sah man die Argumente als ausgetauscht an. 10. Der US-amerikanische Kampfhubschrauber-Einsatz in dem syrischen Ort Abu Kamal 2008

Am 26. Oktober 2008 überquerten vier im Irak stationierte US-amerikanische Kampfhubschrauber die Grenze zu Syrien und beschossen etwa zehn Minuten lang ein Gebäude in dem Ort Abu Kamal, das als Unterschlupf für Terroristen gedient haben soll371. Dabei wurden acht Menschen getötet. Die USA äußerten sich zurückhaltend zu dem Kampfhubschrauber-Einsatz; jedenfalls aber sollen von dem beschossenen Gebäude aus Aufständische in den Irak gelangt sein und dort 13 irakische Polizei-Rekruten getötet haben372. Aus diesen Informationen lässt sich anhand der Bezugnahme auf das schädigende und von diesem Gebäude aus initiierte Vorgeschehen – ähnlich wie im Fall des PLO-Hauptquartiers 1985373 – ebenso ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang bilden, wenn man das Gebäude als strategischen Knotenpunkt der Terroristen betrachten mag, von welchem aus systematisch weitere Anschläge ausgehen sollten. 365

s. o. Fn. 185 im 4. Kap. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 213. 367 National Military Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction 2006, passim. 368 National Strategy for Combating Terrorism 2006, passim. 369 Nicht zu verwechseln mit der Akte von Havanna 1940, s. o. 6. Kap. C. VIII. 370 UN Doc. A/61/472, Abschn. 22.5 (Hervorh. im Original); wortgleich wiederholt ibid. in Anhang II; s. auch Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 213. 371 Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (162); „Terroristische Aggression“, SZ vom 28.10.2008, S. 9. 372 SZ vom 28.10.2008, S. 9. 373 s. o. 8. Kap. B. I. 19. 366

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Tatsächlich handelte es sich hierbei vom strategischen Verständnis der USA her aber schlicht um eine Maßnahme im Kampf gegen den Terrorismus im Sinne der Bush-Doktrin. Nach Angaben von US-Vertretern habe man sich lediglich an den Vorgaben des noch amtierenden Präsidenten Bush  jun. gehalten374, die er einen Monat zuvor vor der VN-Generalversammlung im Sinne seiner politischen Prämisse zu Protokoll gab; man sei entschlossen, die „obligation to prevent our territory from being used as a sanctuary for terrorism, proliferation, human trafficking and organized crime“375 zu erfüllen. Die Konstruktion eines indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs wurde nicht einmal in Erwägung gezogen; vielmehr handelte es sich um eine von zahlreichen verdeckt durchgeführten Maßnahmen gegen al-Qaida. Zu solchen autorisierte bereits 2004 der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld besondere US-Einheiten im Kampf gegen den Terror376, was in den 2005 erlassenen Einsatzregeln für die US-Truppen im Irak auch verbrieft wurde377. Der Einsatz in Abu Kamal war dabei nur einer der wenigen, die publik geworden sind. Es darf angesichts dessen bezweifelt werden, ob derartige Maßnahmen von den USA überhaupt als Anwendungsfälle des Friedenssicherungsrechts oder vielmehr als strategische Einsätze innerhalb eines bewaffneten Konflikts betrachtet werden. Dennoch handelte es sich angesichts des grenzüberschreitenden Charakters der Maßnahme gegen einen Drittstaat jedenfalls inhaltlich um einen Anwendungsfall vorbeugender Selbstverteidigung, der angesichts der von den USA vorgetragenen Fakten in Verbindung mit der dahinter stehenden Strategie nur nach der Latenz­ theorie als rechtmäßig angesehen werden kann. Jedoch ernteten die Vereinigten Staaten weitgehend Protest gegen ihre Maßnahme. Syrien378, später sogar auch der Irak selbst379, zu dessen Schutz der Einsatz eigentlich gedacht war, verurteilten das Vorgehen scharf. Ebenfalls ausdrücklich als rechtswidrig beanstandet wurde der Einsatz u. a. durch China380, den Iran381, Katar382, Nordkorea383, die Russische

374

Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (162). UN Doc. A/63/PV.5, S. 9. 376 Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (161). 377 Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (41). 378 Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (162). 379 Laut der Zeitung Chinaveiw am 28.10.2008, http://news.xinhuanet.com/english/200810/28/content_10269075.htm; zunächst blieb der Irak zurückhaltend, vgl. SZ vom 28.10.2008, S. 9. 380 So die pakistanische Tageszeitung The International News am 28.10.2008, http://www. thenews.com.pk/updates.asp?id=58715 (im Internet nicht mehr verfügbar, liegt dem Verf. archiviert vor). 381 SZ vom 28.10.2008, S. 9. 382 So die Tageszeitung Gulf Times am 28.10.2008, http://www.gulf-times.com/site/topics/ article.asp?cu_no=2&item_no=250860&version=1&template_id=57&parent_id=56 (im Internet nicht mehr verfügbar, liegt dem Verf. archiviert vor). 383 Laut der Zeitung Chinaview am 30.10.2008, http://news.xinhuanet.com/english/200810/30/content_10281857.htm. 375

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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Föderation384, Venezuela385 und Vietnam386; immerhin noch Bedenken äußerten ferner Ägypten387 und Frankreich388. Zustimmende Äußerungen waren dagegen nicht zu vernehmen. Die Reaktionen auf den Kampfhubschrauber-Einsatz in Syrien zeichneten also ein deutlich die Latenztheorie ablehnendes Bild und hielten damit den sich der Latenztheorie leicht öffnenden Trend zumindest vorerst wieder auf. 11. Exemplarisch: Die Drohnenbeschüsse im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan durch die USA 2008

In der zweiten Jahreshälfte 2008  – etwa ab August  – setzten die Vereinigten Staaten regelmäßig Drohnen auf pakistanischem Territorium nahe der afghanischen Grenze gegen mutmaßliche Terroristen ein389, nachdem sie auf gleiche Weise sporadisch und mit geringerem völkerrechtlichen Nachhall bereits zu Beginn desselben Jahres vorgegangen waren390. Dabei kam es immer wieder zu auch zivilen Todesopfern sowie erheblichen Sachschäden. Entgegen mancher Behauptungen stimmte Pakistan diesen Einsätzen keineswegs zu, sondern drängte vielmehr auf seine Souveränität und kritisierte daher das US-amerikanische Vorgehen391. Mehrmals protestierte die pakistanische Regierung ausdrücklich und deutlich gegen die zahlreichen Gewalteinsätze der eigentlich verbündeten Vereinigten Staaten392. Ähnlich wie der zwischenzeitliche Kampfhubschrauber-Einsatz im syrischen Abu Kamal waren die Drohnenbeschüsse auf pakistanischem Gebiet Teil des USamerikanischen „Krieges gegen den Terror“ im Sinne der Bush-Doktrin und damit eine nach der Latenztheorie für rechtmäßig gehaltene vorbeugende Selbstverteidigungshandlung. Auch hier erscheint freilich bei entsprechender geheimdienstlicher Recherche zu jedem Einzelfall der Nachweis eines indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs nicht aussichtslos, jedoch war dazu – wie auch ge 384 Laut der syrischen Nachrichtenagentur SANA am 27.10.2008, http://sana.sy/eng/22/2008/ 10/27/198756.htm. 385 Laut der Zeitung Chinaveiw am 31.10.2008, http://news.xinhuanet.com/english/2008-10/ 31/content_10284498.htm. 386 Laut der Zeitung Chinaview am 29.10.2008, http://news.xinhuanet.com/english/2008-10/ 29/content_10276661.htm. 387 Laut der Zeitung Chinaveiw am 28.10.2008, http://news.xinhuanet.com/english/200810/28/content_10267818.htm. 388 Laut der Nachrichtenagentur Reuters am 27.10.2008, http://www.alertnet.org/thenews/ newsdesk/LR220520.htm (im Internet nicht mehr verfügbar, liegt dem Verf. archiviert vor). 389 Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (162). 390 Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (40). 391 „Die USA verletzen unsere Souveränität“ –  Interview mit dem pakistanischen Außen­ minister Qureshi, SZ vom 24.11.2008, S. 8. 392 Crook, AJIL 103 (2009), S. 161 ff. (162), m. w. N.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

nerell zur Indikationstheorie – keine Verlautbarung von US-amerikanischer Seite zu vernehmen. Abgesehen von den deutlichen Protesten Pakistans gab es auf die Drohnen­ beschüsse keine nennenswerten drittstaatlichen Reaktionen. Dass aber schon ein Verbündeter der USA in der Terrorismusbekämpfung solche der gemeinsamen Sache dienenden Gewalthandlungen nicht gänzlich unterstützt, sondern vielmals sogar ablehnt, zeigt exemplarisch, wie schwach der tatsächliche Rückhalt der USA in Bezug auf die Latenztheorie nunmehr geworden ist. Andererseits kann das Schweigen der großen Staatenmehrheit in Anbetracht der Faktenlage auch dahingehend interpretiert werden, dass einer Gewaltanwendung unter den gegebenen Voraussetzungen nicht widersprochen wird, weil auch eine andere völkerrecht­liche Bewertung neben der Latenztheorie – nämlich nach Maßgabe der Indikations­theorie – möglich erscheint. 12. Die NSS 2010

Wie bereits oben393 gezeigt, unterscheidet sich die NSS 2010 von den NSS 2002/2006 in Tonfall und Kooperationsbereitschaft deutlich. Jedoch schweigt sie zu einer durchaus möglichen US-amerikanischen Abkehr von der Latenztheorie und ordnet im Gegenteil eine „Fortsetzung“ als „notwendig“ bezeichneter Gewaltanwendung auch zur vorbeugenden Selbstverteidigung an. Sie ist damit nicht als Gegenstück zu den NSS 2002/2006 zu verstehen, sondern behält sich in stilistisch zurückhaltender Weise sämtliche völkerrechtlich vertretbaren Möglichkeiten zu vorbeugender Selbstverteidigung vor. 13. Zusammenfassung

Die Reaktionen auf den durch die Anschläge des 11. September 2001 zu einer neuen Schlagkraft erstarkten internationalen Terrorismus haben seit Bestehen der NSS 2002 gemeinsam, dass sie an der Latenztheorie als Ausgangsmaßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ansetzten. Dabei war aber in keinem Anwendungsfall eine einheitliche staatliche Rechtsüberzeugung zu verzeichnen, sondern es bildeten sich regelmäßig zwei Lager: ent­ weder für oder gegen die Anwendbarkeit der Latenztheorie – jeweils begleitet von einer großen schweigenden Mehrheit, in deren Stille schließlich sogar die NSS 2010 einstimmte. War anfangs noch eine gewisse Teilsympathie für die Latenz­ theorie zu erkennen  – wohl noch in frischer Erinnerung der in sich zusammenstürzenden Zwillingstürme des World Trade Centers –, so hat sich dieser zaghafte Trend inzwischen wieder verlangsamt, wenn nicht eingestellt. Eine Ausweitung 393

s. o. 4. Kap. C. IV. 3. a) cc).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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des bisher zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung erzielten Zwischenergebnisses ist damit ausgeschlossen. Zugleich hatte die Praxis im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung aber auch keine einschränkende Betrachtungsweise zur Folge, sodass es beim bisherigen Zwischenergebnis weiterhin verbleibt. Darüber hinaus wurde das Zwischenergebnis durch die deutlich überwiegend zustimmenden Reaktionen auf die Afghanistan-Invasion 2001 gestärkt; insbesondere die relative Imminenztheorie gewann dadurch sukzessive an Bedeutung. III. Die weitere Praxis nach dem 11. September 2001 Darüber hinaus konnte auch ohne direkten Bezug auf die Terroranschläge des 11. September 2001 mit vorbeugender Selbstverteidigung verbundene Praxis festgestellt werden: 1. Der militärische Einsatz Israels in Syrien 2003

Am 5. Oktober 2003 drang die israelische Luftwaffe in den libanesischen und syrischen Luftraum ein, um ein mutmaßliches Terroristenlager in Syrien zu bombardieren394. Dabei kamen mehrere Menschen ums Leben. Syrien und der Libanon beklagten sich über diese Gebietsverletzungen beim Sicherheitsrat395, darüber hinaus initiierte Syrien die Einberufung einer Sondersitzung des Sicherheitsrats. Israel verteidigte sein Vorgehen unter ausdrücklicher Bezugnahme auf sein Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 SVN396. Tags zuvor habe es einen verlustreichen Terroranschlag in der Stadt Haifa gegeben, im Übrigen sei man regel­mäßig Opfer von Serien terroristischer Attentate gewesen. Um diese Bedrohung für die Zukunft einzudämmen, sei man gezielt gegen terroristische Ziele vor­gegangen, nicht aber gegen den Staat Syrien selbst. Auch wenn Israel sich nicht ausdrücklich auf die vorbeugende Variante von Selbstverteidigung berief und von einer „defensiven Antwort“ sprach, ist die inhaltliche Aussage seiner Ausführungen deutlich auch dahingehend zu verstehen, dass zukünftige Anschläge abgewehrt werden sollten. Damit war Israels Vorgehen zumindest auch vorbeugender Natur. Stellt man dabei auf vorbeugende Selbstverteidigung ab, so fehlt es allerdings an der Darlegung eines indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs; zwar betont Israel die Regelmäßigkeit der zu erleidenden Terroranschläge, bringt diese 394 Erwähnt bei Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 236 f.; Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (660); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 196 f.; vgl. insg. UN Doc. S/PV.4836. 395 Jeweils noch am 05.10.2003 per Brief (Libanon, UN Doc. S/2003/943) bzw. durch Dar­ legung der Geschehnisse im Sicherheitsrat (Syrien, UN Doc. S/PV.4836, S. 2 ff.). 396 UN Doc. S/PV.4836, S. 5 ff., insb. 7.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

aber nicht in Verbindung mit dem spezifisch attackierten Ziel. Damit wäre der militärische Einsatz Israels nur im Wege der Latenztheorie als rechtmäßig einzustufen. Gegen die Darlegungen Israels war in der Sondersitzung des Sicherheitsrats fast einhelliger Protest zu vernehmen; lediglich die USA äußerten sich nicht negativ in Bezug auf Israels Vorgehen397. Die große Mehrheit im Sicherheitsrat398 verurteilte dagegen den Militärschlag teils unverbindlich-moderat als bloß politisch falsch, teils völkerrechtslastig als aggressiv oder willkürlich; jedenfalls sah sie damit in der Sache keinen Anwendungsfall von Selbstverteidigung – unabhängig von welcher möglichen Ausprägung –, sondern bezog sich allein auf die Faktenlage. Ebenso tat dies – allerdings in einem deutlich schärferen Ton als viele andere nicht-arabische Staaten  – die Arabische Liga399. Nur Bahrain400, Katar401, Kuba402, der Libanon403 und der Sudan404 bezogen sich explizit auf das Völkerrecht, wiesen auf Grund dessen die Einlassungen Israels zurück und widersprachen damit der Latenztheorie. Daneben meinte nur Jordanien, dass Selbstverteidigung ausschließlich in Antwort auf einen geschehenen bewaffneten Angriff zulässig sei und sprach sich damit gegen vorbeugende Selbstverteidigung als solche aus405. Das israelische Bombardement löste damit eine fast übereinstimmend kund­ getane Rechtsüberzeugung gegen die Latenztheorie aus. Abgesehen von einem nur noch selten anzutreffenden Vorstoß wie jener Jordaniens besteht aber weiterhin an der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung kein Zweifel. 2. Israels Disengagement Plan von 2004

Unbeeindruckt von der unlängst erfahrenen Ablehnung seiner Auffassung zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung wich Israel auch in der Folgezeit hiervon nicht ab. Besonders deutlich wird dies im sog. Disengagement Plan 397

UN Doc. S/PV.4836, S. 13 f. Namentlich Ägypten, Angola, Bulgarien, Chile, China, Deutschland, Frankreich, Guinea, Iran, Jemen, Kamerun, Kuwait, Marokko, Mexiko, Pakistan, Saudi Arabien, Spanien, Tunesien und das Vereinigte Königreich, UN Doc. S/PV.4836, S. 8 ff.; besonders zynisch, aber ebenso politisch Libyen, ibid., S. 23. 399 UN Doc. S/PV.4836, S. 14 f. 400 UN Doc. S/PV.4836, S. 22: „My country deplores this blatant aggression and the gross ­violation of international legality and the laws on the sovereignty of States.“ 401 UN Doc. S/PV.4836, S. 24: „Israel’s aggression against Syria is in clear defiance of all ­international rules and laws.“ 402 UN Doc. S/PV.4836, S.  21: „(…) flagrant violation of the Charter of the United Nations (…).“ 403 UN Doc. S/PV.4836, S. 15 f.: „(…) Israel has no right to exploit the international campaign against terrorism (…).“ 404 UN Doc. S/PV.4836, S. 24: „(…) Israel’s repeated violations of international law.“ 405 UN Doc. S/PV.4836, S. 17 f. 398

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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von 2004406, der einen geordneten Rückzug Israels aus den besetzten Palästinenser­ gebieten vorsieht. In diesem Rahmen behält sich Premierminister Sharon als Urheber des Plans ausdrücklich auch ein Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung vor, das zwar im Plan spezifisch nur auf den Gazastreifen und die Westbank für anwendbar erklärt, zugleich aber als Israels „fundamental right“407 und damit für global rechtmäßig und anwendbar betrachtet wird408. Im Kontext der bis dato zu verzeichnenden israelischen Praxis kann darunter nur eine Bekräftigung der Latenztheorie zu verstehen sein. Internationale Reaktionen hierauf gab es indes nicht. 3. Der israelische Militärschlag gegen Syrien 2007

In der Nacht zum 6. September 2007 zerstörte die israelische Luftwaffe ein Gebäude in Syrien, mutmaßlich einen sich im Bau befindenden Atomreaktor409. Zwar wurde dieser Militärschlag – Operation Orchard genannt410 – nicht offi­ziell von Israel bestätigt und stattdessen gegenüber der einheimischen Presse ein Berichtverbot hierüber verhängt; entgegen dieser Unterdrückungstaktik rühmte sich jedoch Oppositionsführer Netanyahu seiner Beteiligung an der Planung des Schlags, später bestätigte auch ein israelischer Militärsprecher die Maßnahme411. Ziel sei es gewesen, die Fertigstellung des Reaktors Al-Kibar, der gemeinsam mit nordkorea­ nischer Hilfe aufgebaut worden sei, zu verhindern, um dadurch die Produktion von später gegen Israel – womöglich durch den Iran412 – eingesetzten Atomwaffen zu unterbinden413. Aus israelischer Sicht handelte es sich damit – wenn auch un­ ausgesprochen – um eine Maßnahme vorbeugender Selbstverteidigung. Unter der Latenztheorie als einzige der noch hierzu vertretbaren Theorien ließe sich das Vorgehen jedoch wie im Falle des irakischen Reaktors Osiraq aus dem Jahr 1981414 allenfalls dann subsumieren, wenn man die Möglichkeit syrischen (bzw. iranischen) Zugriffs auf Kernwaffen für sich genommen bereits als Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage genügen lassen möchte415. Eine mögliche völkerrechtliche 406

Israel’s Disengagement Plan 2004, passim. Israel’s Disengagement Plan 2004, Abschn. 3. 408 Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S. 525 ff. (545); dies., Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (104). 409 Garwood-Gowers, JCSL 16 (2011); S. 263 ff. (266 ff.); Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 237; Guiora, CornellILJ 41 (2008), S. 631 ff. (660), O’Connell, Defending the Law, in: FSBothe, S. 237 ff. (237 f.), jeweils m. w. N. 410 Garwood-Gowers, JCSL 16 (2011), S. 263 ff. (279). 411 Vgl. z. B. die Berichterstattung der Tagesschau am 02.10.2007, http://www.tagesschau.de/ ausland/israel6.html. 412 Es wird spekuliert, dass es sich in Wahrheit um einen iranischen Reaktor lediglich auf syrischem Boden gehandelt habe, SZ vom 23.06.2008, S. 7. 413 So die Recherchen z. B. von Spiegel Online, veröffentlicht am 25.04.2008, http://www. spiegel.de/politik/ausland/0,1518,549731,00.html; aktuelle Entwicklungen recherchiert durch SZ vom 24.02.2011, S. 8; weitere Hintergründe bei Joyner, ASIL Insights, Vol. 12, Issue 8. 414 s. o. 8. Kap. B. I. 15. 415 Krit. Joyner, ASIL Insights, Vol. 12, Issue 8 a. E. 407

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Billigung des Militärschlags kann sich also nur auf die Latenztheorie, nicht aber auf noch weiter reichende gewaltbejahende Ansichten auswirken. Obwohl sich bei dem Militärschlag eine Parallele zur einhellig verurteilten Bombardierung des irakischen Reaktors Osiraq geradezu aufdrängt, fielen die internationalen Reaktionen äußerst verhalten aus416. Syrien bestritt zwar sämtliche Vorwürfe und setzte den Sicherheitsrat unter Protest gegen die Verletzung syrischer Integrität von der erlittenen Gewalt in Kenntnis417, jedoch beschäftige man sich dort nicht mit dem Vorfall418. Immerhin war eine Verurteilung von Seiten der IAEA durch ihren Vorsitzenden el-Baradei deutlich zu vernehmen, weil er die Arbeit seiner Organisation durch den Militärschlag spürbar beeinträchtigt sah419. Staat­liche Reaktionen neben dem Protest Syriens waren nicht zu verzeichnen, was wohl vor allem auf Grund der nach wie vor den Militärschlag nicht offiziell bestätigenden Haltung Israels und der einhergehenden Zurückhaltung von Informationen zu erklären ist420. Damit ist dieses Vorkommnis innerhalb der späteren Praxis von vorbeugender Selbstverteidigung trotz seiner Brisanz als indifferent421 einzustufen. 4. Der Militäreinsatz Kolumbiens auf dem Territorium von Ecuador 2008

In der Nacht zum 1. März 2008 drang die kolumbianische Luftwaffe in das Hoheitsgebiet Ecuadors ein und tötete dort in der grenznahen Provinz Sucumbíos mindestens 16 mutmaßliche Rebellen der Guerillabewegung Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC)422. Danach überquerten kolumbianische Soldaten und Polizisten auf dem Landweg die Grenze zu Ecuador und bargen die Leichen der zuvor getöteten Personen. Kolumbiens Präsident Uribe berief sich ausdrücklich auf das seinem Staat zustehende Selbstverteidigungsrecht gegen die FARC. Kolumbien betrachtet sich in diesem Zusammenhang in einem fortwährenden Kampf gegen die als terroristisch eingestufte Gruppierung, welche große Teile Kolumbiens unrechtmäßig kon 416 Garwood-Gowers, JCSL 16 (2011), S. 263 ff. (282 ff.); Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (575). 417 UN Doc. S/2007/537. 418 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 237. 419 Spiegel Online vom 25.04.2008, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,549731,00. html; vgl. auch SZ vom 23.06.2008, S. 7. 420 O’Connell, Defending the Law, in: FS-Bothe, S. 237 ff. (248). Differenzierter betrachtet Garwood-Gowers, JCSL 16 (2011), S. 263 ff. (284 f.), die internationale Zurückhaltung, indem er auf die politischen Interessen der westlichen und arabischen Welt abstellt und deshalb den Zweck des israelischen Vorgehens als politisch weitgehend gebilligt betrachtet; dies ändert freilich nichts an der völkerrechtlichen Indifferenz für vorbeugende Selbstverteidigung. 421 s. dazu ausführlich Garwood-Gowers, JCSL 16 (2011), S. 263 ff. (285 ff.). 422 Einzelheiten in SZ vom 03.03.2008 und 04.03.2008, jeweils S.  9; umfangreiche (nicht nur) völkerrechtliche Aufarbeitung bei Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff.; i. Ü. erwähnt bei Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (41).

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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trolliert, fortwährend Anschläge auf kolumbianischem Staatsgebiet verübt und regelmäßig Geiseln zur Erpressung von Lösegeld nimmt423. Das Muster der Vorgehensweise der FARC ist dabei stets ähnlich; Ausbildung der Guerilleros und Vorbereitung von Schädigungshandlungen finden im schwer zu durchdringenden Dschungel Kolumbiens nahe der Grenzen zu den Nachbarstaaten statt, häufig auch auf fremdem Staatsgebiet424. Lässt sich die Bekämpfung der FARC innerhalb Kolumbiens noch als normaler Polizeieinsatz beschreiben, so ändert sich dies mangels drittstaatlicher Zustimmung durch bloßes Überschreiten einer im Dschungel tatsächlich unsichtbaren Grenze durch die Sicherheitskräfte. Nach der reinen Faktenlage ist aber jede einzelne Operation gegen die FARC auch als vorbeugende Verteidigungsmaßnahme zur Verhinderung weiterer Anschläge zu interpretieren. Angesichts der hinreichend konkreten Gefahr und der jahrzehntelangen gleichförmigen und wiederkehrenden Vorgehensweise sind weitere jederzeit mögliche Anschläge im Sinne eines indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs vorgezeichnet. Möchte man folglich einen Einsatz wie denjenigen gegen die FARC in Ecuador mit Selbstverteidigung begründen, dann gelingt dies nur durch vorbeugende Selbstverteidigung nach Maßgabe der Indikationstheorie. Deshalb ist der kolumbianische Rekurs auf Selbstverteidigung im konkreten Vorfall auch nur als Bekenntnis eben hierzu zu verstehen. Beigepflichtet haben dieser Rechtsauffassung die Vereinigten Staaten425. Da­ gegen gab es neben genereller Kritik der OAS426 und insbesondere Brasiliens427 wütende Proteste Ecuadors und Venezuelas, dessen Präsident Chávez sich sogleich auf die Seite seines ecuadorianischen Kollegen und sozialistischen Genossen ­Correa schlug428. Der Konflikt verschärfte sich, als Venezuela eigene Truppen an der Grenze zu Ecuador stationierte, um bei Anbahnung weiterer Grenzverletzungen durch Kolumbien selbst eingreifen zu können. Erst ein Einlenken aller Parteien auf dem Gipfel der lateinamerikanischen Staatsoberhäupter in der Dominikanischen Republik eine Woche später konnte die Streitigkeiten politisch beilegen429. Angesichts der gefundenen politischen Lösung und der Tatsache, dass die OAS in ihrer Resolution 930 das Selbstverteidigungsrecht unerwähnt lässt, kann die überwiegende Ablehnung gegen des Vorgehen Kolumbiens nicht gleichzeitig auch zweifelsfrei als Ablehnung von vorbeugender Selbstverteidigung nach der Indika 423 Allein innerhalb des vergangenen Jahrzehnts wurden den FARC 16.500 Anschläge, 7.500 Tote, 9.500 Verletzte und 12.000 Entführungen zugerechnet, Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff. (159). 424 Vgl. Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff. (142). 425 SZ vom 04.03.2008, S. 9. 426 In ihrer Res. vom 05.03.2008, OAS/CP/RES/930 (1632/08); s. dazu auch Walsh, PaceILR 21 (2009), S. 137 ff. (143 f.). 427 Spiegel Online vom 04.03.2008, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,539189,00. html. 428 SZ vom 07.03.2008, S. 10. 429 SZ vom 10.03.2008, S. 8.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

tionstheorie verstanden werden. Auf die völkerrechtlichen Argumente Kolumbiens – durch die USA bekräftigt – wurde schlicht nicht repliziert. Stattdessen deutet insbesondere das Verhalten Venezuelas eher darauf hin, dass man vom rechtlichen Standpunkt aus durchaus vorbeugende Selbstverteidigung als legales Mittel in Erwägung gezogen hat. Indem Venezuela seine militärische Präsenz im Grenzgebiet zu Kolumbien merklich verstärkt hatte, um bei weiteren drohenden Grenz­ verletzungen zum eigenen Schutz und jenen Ecuadors eingreifen zu können, bewies es, dass es selbst zumindest auch vorbeugende Maßnahmen gewillt ist zu ergreifen. Darüber hinaus befassten sich die Vereinten Nationen nicht mit der Angelegenheit430, auch äußerten sich außerhalb des amerikanischen Kontinents keine Staaten zu dem Zwischenfall. Damit ist aus diesem Vorfall jedenfalls keine Einschränkung des bislang er­ mittelten Zwischenergebnisses abzuleiten. 5. Grenzüberschreitende Gewalt gegen kurdische Rebellen im Nord-Irak seit Entstehung der PKK

Ferner ist auf eine weiterhin andauernde Serie militärischer Eingriffe ein­ zugehen, die von Seiten der Türkei und teilweise auch des Iran auf dem Gebiet des Irak seit der Entstehung der militanten kurdischen Arbeiterpartei Partiya Karkerên Kurdistan (PKK) durchgeführt werden431. Seit den ersten Offensiven in den Siebzigerjahren432 des vergangenen Jahrhunderts gab es weitere nennenswerte gewaltsame Operationen vor allem der Türkei im Irak insbesondere in den Jahren 1992/93433, 1995/96434 und jüngst seit 2007435. Die Türkei sieht sich dabei in einem fortwährenden Kampf gegen eine terroristische Vereinigung, die regelmäßig Anschläge auf türkischem Staatsgebiet verübt und sich aus Sicht der Türkei die Unabhängigkeit Kurdistans – zu Lasten auch des türkischen Staatsgebiets – zum Ziel gesetzt habe. Sie setzt die Bekämpfung kurdischer Rebellen auch über das eigene Territorium hinausgehend auf den kurdischen Teil im Norden des Irak fort und verletzt damit die Integrität des Nachbarstaates. Ähnlich wie in vergleichbaren antiterroristischen Maßnahmen in anderen Krisenregionen der Welt ist auch hier eine der ins Feld geführten Begründungen die vorbeugende Verteidigung gegen zukünftige terroristische Angriffe. Dabei verwendet die Türkei den Begriff der Selbstverteidigung allerdings nur zögerlich. Zunächst 430

Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (41). Näher eingehend jeweils m. w. N. Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 140 ff.; Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (515 ff.). 432 Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (40). 433 Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (515). 434 Alexandrov, Self-Defense, S. 180 f.; Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (335 f.); Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (515). 435 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 143; Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (39 f.). 431

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

419

berief sie sich zumindest offiziell auf überhaupt keine Rechtfertigung im begriff­ lichen Umfeld der natürlichen Betrachtung von Selbstverteidigung; dies taten stattdessen die USA zur Unterstützung der Türkei436. Erst danach sprach die Türkei selbst von „Notstand“ und „Selbsterhaltung“437, was zumindest inhaltlich auch der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung unterfällt438. Die Maßnahmen des Iran gerieten weniger häufig in den Blickpunkt, dafür wurden sie aber unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Selbstverteidigungsrecht ausgeführt439. Die tatsächlichen Handlungsweisen des Iran und der Türkei wichen kaum voneinander ab, auch waren beide Parteien von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns gleichermaßen überzeugt. Inhaltlich ist daher das Vorgehen der Türkei nicht anders als das des Iran zu bewerten. Gemessen am Selbstverteidigungsrecht bezweckten die Einsätze stets die Vermeidung zukünftiger Schädigungen durch PKK-Rebellen, die nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre immer nach dem gleichen Muster und örtlich eingrenzbar stattfanden. Damit waren weitere derartige Anschläge in ihrer Art und Zielgerichtetheit hinreichend konkret bestimmbar, auch wenn keine Gewissheit über ein tatsächlich jederzeit mögliches Eintreten herrschte. Über eine latente Gefahr hinaus waren konkrete weitere Angriffe angesichts dieses indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs angezeigt. Die Maßnahmen gegen die PKK auf irakischem Staatsgebiet lassen sich also als Selbstverteidigungshandlungen nach der Indikationstheorie qualifizieren. Die Reaktionen der Staatenwelt waren wiederum gemischt. In Bezug auf die Rechtmäßigkeit vor allem des türkischen Vorgehens nach Maßgabe des Selbst­ verteidigungsrechts äußerten sich neben der Türkei und dem Iran  – wie gezeigt – auch die USA zustimmend. Diesen rechtlichen Aspekt lehnte andererseits nur Libyen ausdrücklich ab440. Selbst der Irak als geschädigter Staat protestierte zwar gegen die Gewalthandlungen der Türkei, jedoch gerade nicht hinsichtlich Anwendbarkeit und Umfang des Selbstverteidigungsrechts, sondern lediglich hinsichtlich der unverhältnismäßig hohen Intensität und Menge der erlittenen Gewalthandlungen441. Im Übrigen wurden die Einsätze der Türkei weitgehend kritisch gesehen – eine Betrachtungsweise, die inhaltlich allerdings nicht gegen die Rechtsanwendung, sondern die Ausübung der einzelnen Maßnahmen gerichtet war. Insbesondere die EU und der Europarat kritisierten die Türkei für ihren unverhältnismäßigen Einsatz442, schwiegen sich aber über eine grundsätzliche Recht 436

Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 142. Z. B. in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Sicherheitsrat vom 02.07.1996, UN Doc. S/1996/479, S. 2. 438 Eine ähnliche inhaltliche Schlussfolgerung zieht auch Alexandrov, Self-Defense, S. 181. 439 So bezog der Iran gegenüber dem Sicherheitsrat per Brief vom 26.05.1993 Stellung, UN Doc. S/25843. 440 UN Doc. S/1995/566. 441 Gazzini, JCSL 11 (2006), S. 319 ff. (336), m. w. N. 442 Alexandrov, Self-Defense, S. 181, m. w. N. 437

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

mäßigkeit (wie dies auch gänzlich die Vereinten Nationen taten) aus443. Damit war die Kritik, die zwar quantitativ vorherrschte, qualitativ im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung in der Minderheit. Es ist daher aus der Rechtsüberzeugung zu den Einsätzen gegen die PKK eher eine Stärkung der Indikationstheorie herauszulesen, was sich jedenfalls nicht einschränkend auf das bisherige Zwischenergebnis auswirkt. 6. Die Sicherheitsstrategie des Vereinigten Königreichs 2010

Im Oktober 2010 brachte die neu gewählte britische Regierung unter Premierminister Cameron eine eigene aktualisierte Sicherheitsstrategie heraus444. Auf­ geteilt in vier Kapitel beschreibt das Vereinigte Königreich darin sein Verständnis über die Beschaffenheit eines strategischen Konzepts (Part One), die eigene Rolle in der Welt (Part Two), bestehende Sicherheitsrisiken (Part Three) sowie angemessene Reaktionen darauf (Part Four). Für Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung sind die beiden letzten Kapitel der Strategie von Interesse. Als besondere Sicherheitsrisiken werden darin Staaten und nichtstaatliche Akteure gleichermaßen genannt445. Angesichts der wachsenden Verbreitung neuer Technologie- und Waffensysteme bestünde stets die Möglichkeit aufkommender Feindseligkeiten. Das Vereinigte Königreich benennt nach diesen Feststellungen einzelne Risikoszenarien und ordnet diese in drei Prioritätsstufen gemessen an der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts sowie ihres zu erwartenden Ausmaßes ein446. Oberste Priorität unter den Aspekten internationaler Gewaltanwendung hat demnach der Kampf gegen den grenzüberschreitenden Terrorismus, dessen besondere Gefährlichkeit sich aus der Verbreitung nuklearer, chemischer und biologischer Waffen ergebe. Gleiches gelte angesichts der wachsenden Komplexität techno­logischer Systeme und der zunehmenden staatlichen Abhängigkeit hiervon für sog. „Cyber Attacks“. Als weniger, aber noch hinreichend wahrscheinlich wird sodann ein staatlicher Angriff mit eben solchen Waffensystemen erachtet. Erst an dritter Stelle sieht das Vereinigte Königreich sich oder seine Partnerstaaten mit einem konventionellen staatlichen Angriff bedroht. Im vierten Kapitel werden schließlich die in Frage kommenden Maßnahmen zur Risikobekämpfung genannt. Darunter fällt auch vorbeugende Gewaltanwendung: „National Security Tasks (…) Help resolve conflicts and contribute to stability. Where necessary, intervene overseas, including the legal use of coercive force in support of the UK’s vital interests, and to protect our overseas territories and people. (…) 443

Murphy, BerkeleyJIL 27 (2009), S. 22 ff. (40). Britische NSS 2010, passim. 445 Britische NSS 2010, Punkt 3.4., S. 25. 446 Britische NSS 2010, S. 27.

444

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

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4.08 Building on the risk assessment in Part Three, our main priorities for resources and capabilities will be to: (…) • focus and integrate diplomatic, intelligence, defence and other capabilities on preventing the threat of international military crises, while retaining the ability to respond should they nevertheless materialise.“447

Zwar nennt das Vereinigte Königreich das Selbstverteidigungsrecht nicht namentlich, doch behält es sich auch in seiner neuen Sicherheitsstrategie im Notfall – also als ultima ratio – vorbeugende gewaltsame Handlungen vor, um eine Verwirklichung der zuvor aufgezählten Risiken zu verhindern. Dabei soll ausdrücklich rechtmäßig vorgegangen werden, sodass jedenfalls bei unilateralen Gewalthandlungen regelmäßig das Regime der Selbstverteidigung Anwendung finden dürfte. Damit bestätigt das Vereinigte Königreich seine befürwortende Rechtsauffassung zur grundsätzlichen Legalität vorbeugender Selbstverteidigung. Eine präzisere Haltung zu den genauen Voraussetzungen ist jedoch in dieser Sicherheitsstrategie nicht zu erkennen. Allerdings möchte man offenkundig den Rechtsrahmen des völkerrechtlich Vertretbaren gänzlich ausfüllen, folglich wird zumindest keine Einschränkung des bislang ermittelten status quo vorgenommen. 7. Das strategische Konzept der NATO 2010

Am 19.  November 2010 verabschiedeten die Mitgliedstaaten der NATO in ­ issabon das neue strategische Konzept ihres Verteidigungsbündnisses448. Die L NATO versteht sich darin als kooperativer und vielschichtig aktiver Staaten­ zusammenschluss, dessen oberste Priorität die Sicherheit seiner Mitglieder ist. Dieses Ziel soll durch Eigenermächtigung ihrer Mitglieder zu einer Vielzahl verschiedenartiger politischer und militärischer Maßnahmen vor, während und nach einem Konflikt verwirklicht werden. Entsprechende Handlungen sollen aber nicht auf die Bündnisstaaten beschränkt sein, sondern die Zielvorgaben sind ausdrücklich durch eine möglichst großflächige netzwerkartige Kooperation mit Drittstaaten und internationalen Organisationen zu verfolgen. Exemplarisch werden – ähnlich wie bereits in der britischen Sicherheitsstrategie 2010  – die für die NATO gegenwärtig größten Sicherheitsherausforderungen genannt, namentlich Terrorismus, nukleare Proliferation, grenzüberschreitende Makrokriminalität sowie der Missbrauch neuartiger Technologien für sog. „Cyber Attacks“449. Die Vorgehensweise gegen all dies wie auch gegen konventionelle militärische Angriffe schließt auch Gewaltanwendung im Rahmen der Selbstverteidigung nicht aus; dies ist jedoch nur eines von mehreren denkbaren Mitteln. In seiner Offenheit für nicht ge-

447

Britische NSS 2010, S. 33 f. (Hervorh. v. Verf.). NATO-Konzept 2010, passim. 449 NATO-Konzept 2010, S. 7 f.

448

422

8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

waltsame Konfliktlösungen ähnelt das NATO-Konzept der neuen US-amerikanischen NSS 2010450. Durchaus wird aber auch verteidigende Gewaltanwendung von der NATO thematisiert. So bot sich im Rahmen der Konzeptentwicklung auch die Gelegenheit, eine gemeinsame Rechtsüberzeugung als Basis für zukünftige NATO-Selbstverteidigungseinsätze zu formulieren. Im Hinblick auf vorbeugende Selbstverteidigung besagt das Konzept Folgendes: „Core Tasks and Principles (…) 4. The modern security environment contains  a broad and evolving set of challenges to the security of NATO’s territory and populations. In order to assure their security, the Alliance must and will continue fulfilling effectively three essential core tasks, all of which contribute to safeguarding Alliance members, and always in accordance with international law: a. Collective defence. NATO members will always assist each other against attack, in accordance with Article 5 of the Washington Treaty. That commitment remains firm and binding. NATO will deter and defend against any threat of aggression, and against emerging security challenges where they threaten the fundamental security of individual Allies or the Alliance as a whole. (…) Defence and Deterrence 16. The greatest responsibility of the Alliance is to protect and defend our territory and our populations against attack, as set out in Article 5 of the Washington Treaty. The Alliance does not consider any country to be its adversary. However, no one should doubt NATO’s resolve if the security of any of its members were to be threatened. (…) Security through Crisis Management 20. Crises and conflicts beyond NATO’s borders can pose a direct threat to the security of Alliance territory and populations. NATO will therefore engage, where possible and when necessary, to prevent crises, manage crises, stabilize post-conflict situations and support reconstruction. (…)“451

Auffallend ist zunächst, dass als Auslöser möglicher Gewaltanwendung auch lediglich die Bedrohung durch einen Angriff genügen soll. Schon damit zeigt sich das NATO-Konzept als grundsätzlich offen für vorbeugende Selbstverteidigung und bestätigt so die bereits bis hierhin ermittelte staatliche Rechtsüberzeugung von der grundsätzlichen Legalität dieser Verteidigungsform. Konkretisierend tritt hinzu, dass zwar keinem Staat ein Feindescharakter zugeschrieben wird und damit zumindest einem Bestandteil der Latenztheorie – der Vermutung feindseliger Staaten – ausdrücklich abgeschworen wird. Jedoch ist aus dem systematischen Zusammenhang des Konzepts, welches mögliche Formen drohender Schädigungshand-

450

s. o. 8. Kap. B. II. 12. NATO-Konzept 2010, S. 2, 4, 6 (Hervorh. v. Verf.).

451

B. Die Staatenpraxis der vorbeugenden Gewaltanwendung

423

lungen benennt452, erkennbar, dass damit der zunächst unbestimmte Begriff der Bedrohung mit typischem Inhalt gefüllt wird. Insbesondere dürfte damit der internationale Terrorismus ins Visier gefasst sein453, gegen welchen bei entsprechenden Anhaltspunkten  – insbesondere unter Einbeziehung von Effektivitätsaspekten  – auch vor Realisierung eines Anschlags gewaltsam vorgegangen werden darf. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich zudem aus den im Konzept eingangs genannten Bedrohungsszenarien. Darüber hinaus klassifiziert das Konzept auch sich entwickelnde Krisen jenseits der NATO-Grenzen als taugliche Bedrohungslage, die in einen Schaden für einen Mitgliedstaat münden kann454. Gibt es also mit anderen Worten hinreichend sichere Indikatoren für eine solche Entwicklung, darf notfalls – also als ultima ratio – auch gewaltsam vorbeugend-verteidigend eingegriffen werden. Dies gilt freilich nur, wenn sich aus dem natürlichen Verlauf der Dinge ein schädigendes Ereignis gegen einen NATO-Mitgliedstaat entwickeln würde, mithin ein indikationsspezifischer Verknüpfungszusammenhang hinreichend deutlich erkennbar wäre. Zudem deutet die ausdrückliche Erwägung möglichst effektiver auch vorbeugender Gewaltanwendung einen zusätzlichen Bezug zur relativen Imminenztheorie an. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neue NATO-Strategie als Ausdruck mitgliedstaatlicher Rechtsüberzeugung zwar die Prämisse friedlicher Konfliktlösungen verfolgt, notfalls jedoch auch einen Rekurs auf vorbeugende Selbstverteidigung jedenfalls innerhalb der Grenzen der (wohl beiden) Imminenztheorien sowie der Indikationstheorie für legal erachtet. IV. Zusammenfassung und Überprüfung des Zwischenergebnisses zu [F1] und [F2] Die durchaus mannigfaltige Staatenpraxis in Verbindung mit vorbeugender Selbstverteidigung ergibt ein komplexes Bild zu den hier aufgeworfenen Fragen. Erwähnenswert ist dabei zunächst, dass immer dann, wenn der klassische ­Caroline-Vorfall im Diskurs auftaucht, die Vorgaben der ihm zu Grunde liegenden Webster-Formel nicht in Zweifel gezogen werden. Entsprechend ist auch eine offenbar tief verwurzelte, wenn auch teils stillschweigende staatliche Zustimmung zur grundsätzlichen Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung zu erkennen; lediglich in vernachlässigungswürdig wenigen Diskussionsbeiträgen der letzten sieben Jahrzehnte wird vorbeugende Selbstverteidigung explizit als per se illegal eingestuft, sodass die Aufarbeitung der Staatenpraxis in Bezug auf [F1] eine eindeutige und nahezu übereinstimmend bejahende Antwort hervorbringt. 452 Gemeint sind sowohl konventionelle als auch neuartige Schädigungsszenarien, s. bereits o. sowie NATO-Konzept 2010, S. 7 f. 453 Unter der qualifizierenden Bezeichnung „direct threat“, NATO-Konzept 2010, S. 3. 454 Hier sind Parallelen zu den klassischen (Verteidigungs-)Bündnissen der letzten beiden Jahrhunderte zu erkennen, vgl. z. B. o. 6. Kap. C.

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

In Ansehung dessen sind entgegenstehende Ergebnisse zur Staatenpraxis, die eine grundsätzliche Ablehnung vorbeugender Selbstverteidigung festgestellt haben möchten und dies nur auf vordergründige Verurteilungen eines Sachverhalts, nicht aber auf die jeweiligen rechtlichen Erwägungen gründen, bereits unter einem wohlwollenden Bewertungsmaßstab als unpräzise zu verwerfen455. Differenzierter streuen sich die Erkenntnisse zur Beantwortung von [F2]: Anknüpfend an die positive Antwort auf [F1] wird jedenfalls die absolute Imminenztheorie, wenn sie denn eine Erwähnung findet, für rechtmäßig gehalten; Widerspruch erfährt sie nicht. Sie kann damit für die Beschreibung eines auch nach aktueller Staatenpraxis gesicherten Ausmaßes rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung herangezogen werden. Der nach der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN ebenfalls gut vertretbaren Indikationstheorie wurde hingegen historisch wechselhaft begegnet. Während kurz nach Gründung der Vereinten Nationen zunächst eine Zustimmung zur Indikationstheorie – ansatzweise auch nach der accumulation-of-events-Doktrin – erkennbar war, schlug dieser Trend in den Sechzigerjahren ins Gegenteil um. Ein Jahrzehnt später gab es zumindest keinen Widerspruch mehr gegen die Indikationstheorie, bis die Afghanistan-Intervention von 2001 nach vertretbarer Lesart eine Trendwende endgültig zu ihren Gunsten (und mit ihr auch: der nie gesondert erwähnten Evidenztheorie) einleitete. Generell ist dabei jedoch zu beachten, dass an das Erfordernis des indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs eher strenge Maßstäbe geknüpft werden, um dem Risiko einer Gewaltausuferung entgegen zu wirken. Eben dieses der Staatenwelt durchaus bewusste Risiko scheint auch der Grund dafür zu sein, dass im Gegensatz zu den bisher genannten Theorien die Latenztheorie überwiegend abgelehnt wird. Bis Mitte der Neunzigerjahre galt diese Ab­ lehnung einhellig, während die Befürworter der Latenztheorie dann mit Erstarkung des internationalen Terrorismus zahlreicher wurden, aber stets in der – wenn auch beachtlichen – Minderheit blieben. Inzwischen dürfte die gelegentlich zu verzeichnende Zustimmung zur Latenztheorie ihren Zenit überschritten haben. Damit gilt vorbeugende Selbstverteidigung nach der Latenztheorie weiterhin und ein­ deutig als illegal. Weniger klar ist das Praxisergebnis schließlich hinsichtlich der relativen Imminenztheorie. Auf sie wurde wenig abgestellt, allerdings wurde ihr auch nie widersprochen. Nachdem sie ihre erste Erwähnung überhaupt 1981 erfuhr, konnte sie erst nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 an Konturen gewinnen. Zumindest durch die nun häufiger anzutreffenden Forderungen nach einem flexibleren Verhältnismäßigkeitsmaßstab unter Effektivitätsgesichtspunkten, wie er jüngst auch im militärischen Konzept der NATO zum Ausdruck kommt, scheint die relative Imminenztheorie zunehmend an Akzeptanz zu gewinnen. Dennoch 455

Z. B. zuletzt bei Sadoff, GeorgetownJIL 40 (2009), S. 523 ff. (580 ff.).

C. Weitere Erkenntnisse

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konnte bislang keine deutlich überwiegende Praxis nach der Kreß’schen Gewichtungsregel  (2) zu Gunsten der relativen Imminenztheorie nachgewiesen werden. Insofern befindet sich das Völkerrecht bislang noch in einem Entwicklungs­ prozess. Damit konnte das aus der textorientierten Auslegung von Art. 51 SVN gewonnene Zwischenergebnis bestätigt werden. Nichts Anderes ergibt sich in Bezug auf das gegenwärtig gültige Völkergewohnheitsrecht, wenn man von einer Koexistenz desselben unabhängig von der SVN ausgehen möchte. In diesem Fall wäre das Ergebnis der Staatenpraxis direkt auf das gewohnheitsrechtliche Pendant zum Satzungsrecht anzuwenden.

C. Weitere Erkenntnisse Weitere Erkenntnisse zur späteren Praxis in Anwendung der SVN wie auch des Gewohnheitsrechts können ferner die Rechtsprechung des IGH sowie aktuelle Entwicklungen innerhalb der Vereinten Nationen als Weltgemeinschaft hervorbringen. Beides soll nun ergänzend dargestellt werden. I. Die Rechtsprechung des IGH Auch wenn sich der IGH bislang noch nicht direkt und explizit mit Fragen zu vorbeugender456 Selbstverteidigung befasst hat, sind aus manchen Entscheidungen gewisse Tendenzen abzuleiten (oder behauptete zu widerlegen457), die das jeweilige zeitgeistliche Bild staatlicher Rechtsüberzeugung klarer erscheinen lassen können. Entsprechende Erkenntnisse sollen nun ausgewertet werden. 1. Der Korfu-Kanal-Fall: IGH-Urteil von 1949

Der Korfu-Kanal-Fall458 zum Streit zwischen Albanien und dem Vereinigten Königreich wird von manchen Stimmen der Literatur als erster Fall im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung nach Gründung der Vereinten Nationen eingestuft459. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges beanspruchte das Vereinigte 456 Zu allgemeinen Fragen von Selbstverteidigung in der IGH-Rechtsprechung instruktiv Green, ICJ and Self-Defence, passim. 457 Der Vollständigkeit halber sollen auch solche Fälle aufgeführt werden, die in der Literatur irrtümlich in Verbindung mit vorbeugender Selbstverteidigung besprochen werden, s. sogleich. 458 ICJ Rep. 1949, S. 4–169. 459 Alexandrov, Self-Defense, S.  122 ff.; Bowett, Self-Defense, S.  189 f.; Kittrich, SelfDefense, S.  177 f.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (155); Nanda, ­DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (453 ff.); Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (499 ff.).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

Königreich ein aus dem Gewohnheitsrecht abgeleitetes (und heute in Art.  17 SRÜ kodifiziertes) Recht auf friedliche Durchfahrt seiner Kriegsschiffe durch die Meerenge zwischen der Küste Albaniens und der griechischen Insel Korfu, kurz „Korfu-Kanal“ genannt460. Albanien verweigerte indes britischen Schiffen die Durchfahrt durch sein Hoheitsgebiet. Nachdem dessen ungeachtet britische Kriegsschiffe beim Versuch der Durchfahrt im Herbst 1946 durch albanische Minen zerstört und dabei zahlreiche Matrosen getötet wurden, begann das Vereinigte Königreich, die Minen ohne albanische Zustimmung gewaltsam zu entfernen. Albanien sah sich in seinen Hoheitsrechten verletzt, während das Vereinigte Königreich die Minen­räumung als notwendig zur Durchsetzung seines beanspruchten Rechts auf friedliche Durchfahrt betrachtete. Auf Empfehlung des Sicherheitsrats wurde die Angelegenheit durch das Vereinigte Königreich dem IGH vorgelegt. Neben richtungsweisenden Erkenntnissen zu Fragen der Staatenverantwortlichkeit, auf Grund derer Albanien letztlich zur Zahlung von Schadensersatz ver­urteilt wurde461, soll der IGH am Rande auch Antworten zu einem möglichen Recht auf vorbeugende Selbstverteidigung hervorgebracht haben. Die Minen­räumung durch das Vereinigte Königreich wurde nämlich im Ergebnis – trotz Anerkennung eines Rechts auf friedliche Durchfahrt462 – als illegal qualifiziert, weil es hierfür keine völkerrechtliche Rechtfertigung – auch nicht sog. „Selbsthilfe“463 – ge­geben habe464. Möchte man demnach das Entfernen von Minen, die bei Nichträumung und gleichzeitiger Weiterfahrt mit Sicherheit schadenskausal für weitere Zerstörungen an allen den Korfu-Kanal durchfahrenden Schiffen geworden wären, als vorbeugende Selbstverteidigungshandlung einordnen, so wäre nach dieser Lesart vorbeugende Selbstverteidigung nach Ansicht des IGH illegal. Daraus wird zuweilen die Schlussfolgerung gezogen, der IGH habe sich bereits in diesem frühen Stadium nach Gründung der Vereinten Nationen gegen die generelle Zulässigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung  – zumindest in Form von nicht näher bestimmter „Selbsthilfe“ – ausgesprochen465. Diese Sichtweise übersieht jedoch, dass es für eine erst grundsätzlich mög­ liche Annahme einer vorbeugenden Selbstverteidigungslage eines Auslösers bedarf, der bei ungehindertem Geschehensablauf466 – und das bedeutet ohne ­eigenes 460 Einzelheiten zu Sachverhalt und Ablauf bis zur Vorlage beim IGH bei Rau, in: Menzel/ Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 756 ff. 461 Nähere zusammenfassende Ausführungen hierzu bei Rau, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 757 f. 462 ICJ Rep. 1949, S. 4–169 (30). 463 Der Begriff steht im Umfeld von Selbstverteidigung und umfasst unter natürlicher Betrachtungsweise auch vorbeugende Selbstverteidigung, s. o. 2. Kap. B. XI. 464 ICJ Rep. 1949, S. 4–169 (35). 465 Alexandrov, Self-Defense, S.  124 f.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (155). 466 s. o. 2. Kap. D.

C. Weitere Erkenntnisse

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Zutun!  – in der Zukunft sicher oder jederzeit wahrscheinlich schadenskausal wird467. In den Fakten des Korfu-Kanal-Falls wurden zukünftige Schädigungen an durchfahrenden Schiffen erst dadurch ermöglicht, dass letztere ihre Fahrt fortsetzten; der Geschehensablauf bis zur Minenexplosion war folglich nicht ungehindert und unterfällt demnach keinem möglichen Anwendungsfall vorbeugender Selbst­ verteidigung468. Im Übrigen wäre das Mit-Auslösen schon einer reaktiven Selbstverteidigungslage als treuwidrig einzustufen469, weshalb sich auch deshalb ein Rekurs auf das Selbstverteidigungsrecht hier verwehrt. Eine Gegenposition erkennt im Urteil zum Korfu-Kanal-Fall gerade die Be­ stätigung, dass der IGH von einem weiten, auch vorbeugende Selbstverteidigung als legal umfassenden Verständnis ausgehe470. Die Vertreter dieser Ansicht schließen aus der Tatsache, dass der IGH dem Vereinigten Königreich zugestand, sein friedliches Durchfahrtsrecht auch bewaffnet und gefechtsbereit auszuüben471, auf das Vorliegen einer damit anerkannten vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung. Diese Auffassung ergibt jedoch nur dann einen Sinn, wenn man in der dargelegten bewaffneten Art und Weise der Durchfahrt bereits eine Gewalthandlung zu erkennen vermag, die sodann als vorbeugende Selbstverteidigungshandlung für rechtmäßig gehalten wird. Allerdings konstatierte der IGH ausdrücklich und entgegen der Einlassung Albaniens, dass die lediglich bewaffnete Durchfahrt auch als friedlich gilt und mit Erfüllung dieses Merkmals der Anspruch des Vereinigten Königreichs erst bestand472. War die Durchfahrt aber friedlich, kann sie nicht zugleich gewaltsam als prima-facie-Verletzung von Art. 2 (4) SVN eingestuft werden; folglich kann sie auch keine Selbstverteidigungshandlung begründen. Im Korfu-Kanal-Fall ging es somit bei verständiger Betrachtung um keinen diskussionswürdigen Anwendungsfall von Selbstverteidigung, erst recht nicht von vorbeugender473. Der IGH stellte lediglich klar, dass auch bestehende und durchaus weit verstandene Rechte wie jenes auf friedliche Durchfahrt nicht mit jedem Mittel durchgesetzt werden dürfen. Erkenntnisse zu Fragen vorbeugender Selbstverteidigung lieferte er in Wahrheit nicht.

467 Dies entspricht der eingangs vorgestellten und im Hinblick auf vorbeugende Selbst­ verteidigung für nicht einschlägig erklärten automatisiert-reaktiven Konstellation, s. o. 1. Kap. C. IV. 468 Genau deshalb tut sich Kittrich, Self-Defense, S. 178, mit einer genauen Einordnung des Urteils schwer. 469 s. o. 3. Kap. B. II. 2. a) dd). 470 Bowett, Self-Defense, S. 189 f.; Waldock, RCADI Vol. 081 (1952), S. 451 ff. (500 f.). 471 ICJ Rep. 1949, S. 4–169 (31). 472 ICJ Rep. 1949, S. 4–169 (30). 473 I. E. ähnlich Nanda, DenverLJ 43 (1966), S. 439 ff. (455).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 2. Der Nicaragua-Fall: IGH-Urteil von 1986

Nach dem Korfu-Kanal-Fall wird erst wieder das IGH-Urteil zum Nicaragua-Fall von 1986474 um eine mögliche Aussage zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung bemüht. Das aus insgesamt acht Entscheidungen zwischen 1984 und 1991 bestehende Verfahren war das wohl bislang komplexeste seiner Art475 und bezog zu einer Vielzahl von Rechtsfragen Stellung476. Kurz zusammengefasst galt es dabei zu klären, ob und inwieweit die Vereinigten Staaten sich durch die Unterstützung der gegen die sozialistisch orientierte nicaraguanische Regierung kämpfenden Rebellen der sog. Contras völkerrechtswidrig verhalten hatten. Dabei war auch das Recht zur Selbstverteidigung Gegenstand der Untersuchung, insbesondere seine Anforderungen an das fragliche Tatbestandsmerkmal des „bewaffneten Angriffs“477 und die mögliche staatliche Zurechenbarkeit solcher durch Privatleute durchgeführten Angriffe478. Die Anforderungen an einen bewaffneten Angriff wurden dabei besonders hoch angesetzt; zugleich öffnete der IGH aber die Tür für eine nach seiner Auffassung rechtmäßige geringere Gewaltanwendung in Form von „Gegenmaßnahmen“ gegen kleinere Verletzungen, die noch keinen bewaffneten Angriff ausmachen sollen479. Zu Fragen vorbeugender Selbstverteidigung hingegen wollte sich der IGH in dieser Sache ausdrücklich nicht äußern480. Dennoch lesen einige Autoren aus eben diesem Urteil eine mittelbare Stellungnahme zum generellen Verbot vorbeugender Selbstverteidigung heraus481. Ein solches wird aus der Formulierung des IGH geschlossen, wonach „[i]n the case of individual self-defence, the exercise of this right is subject to the State concerned having been the victim of an armed attack.“482 Ferner hat der IGH zu kollek 474

ICJ Rep. 1986, S. 14–150. Vgl. die kompakte Zusammenfassung von Dederer, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völker­rechtsprechung, S. 835 ff. 476 So auch zur Frage des Verhältnisses von vertrags- und gewohnheitsrechtlichem Selbstverteidigungsrecht, s. bereits o. 7. Kap. B. III. 3. 477 Zum IGH-Verständnis von den Anforderungen an einen „bewaffneten Angriff“ ausführlich und instruktiv Green, ICJ and Self-Defence, S. 31 ff. 478 s. dazu nur die Urteilsauswertung bei Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht, S. 122 ff. 479 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (101, 106); Abschn. 191, 201; s. dazu auch Green, ICJ and SelfDefence, S. 54 ff. 480 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (17 f.), Abschn. 35: „The possible lawfulness of a response to the imminent threat of an armed attack which has not yet taken place has not been raised.“ Ebenso ibid., S. 103, Abschn. 194: „(…) the issue of the lawfulness of a response to the imminent threat of armed attack has not been raised. Accordingly the Court expresses no view on that issue.“ 481 Alexandrov, Self-Defense, S.  143 f.; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (155); Zoller, ASIL Proc. 98 (2004), S. 333 ff. (334 f.). 482 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (103), Abschn. 195 (Hervorh. v. Verf.); hierauf beziehen sich Alexandrov, Self-Defense, S.  144; Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S.  137 ff. (155); Zoller, ASIL Proc. 98 (2004), S. 333 ff. (335). 475

C. Weitere Erkenntnisse

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tiver Selbstverteidigung parallel konstatiert, „[t]he exercise of the right of collective self-defence presupposes that an armed attack has occurred“483, womit er sich erneut gegen vorbeugende Selbstverteidigung ausgesprochen haben soll484. Beide Textstellen schließen allerdings an die voran stehende ausdrückliche Klarstellung an, dass sich der IGH in seinen darauf folgenden Ausführungen nur mit Fragen reaktiver Selbstverteidigung befassen wird; diese Klarstellung hat er im Verhältnis zu den darauf folgenden Feststellungen gleichsam „vor die Klammer“ gezogen. Dass der IGH fortan nur auf solche Fälle eingeht, die Gewaltanwendung auf einen bereits stattgefundenen Angriff betreffen, ist also nur konsequent und entspricht der zuvor ausgesprochenen Selbstlimitierung auf ausschließlich derartige Situationen. Darüber hinaus gehende Aussagen lassen sich hieraus aus zwingenden logischen Gründen nicht herauslesen. Ungeachtet dessen möchte Laghmani seine Lesart des Urteils untermauern, indem er zusätzlich behauptet, der IGH habe ferner festgestellt: „La légitime défense ne [justifie] que des meseures proportionnées à l’agression subie, et necessaires pour y riposter.“485 Die in Bezug genommene Passage lautet jedoch in ihrer Gesamtheit: „Par exemple, [la Charte] ne comporte pas la règle spécifique – pourtant bien établie en droit international coutumier – selon laquelle la légitime défense ne justifierait que des mesures proportionnées à l’agression armée subie, et nécessaires pour y riposter.“486

Der nicht auf seinen relativen Teil verkürzte Gesamtsatz sagt somit genau das Gegenteil aus, nämlich dass eine Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts auf lediglich schon geschehene Angriffe nicht ausgeschlossen wird; Laghmani übersah damit schlicht eine zweite im Hauptsatz auftretende Verneinung, die aber entscheidend für die Gesamtaussage des Satzes ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich aus der zitierten Passage erst recht das Gegenteil schließen, nämlich dass der IGH vorbeugende Selbstverteidigung nicht per se für rechtswidrig hält487. Insgesamt bleibt es also trotz widersprechender Literaturansichten dabei, dass der IGH in seinem Urteil zum Nicaragua-Fall keine Rückschlüsse auf die Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung zulässt.

483

ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (11), Abschn. 232; Hervorh. v. Verf. Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (155). 485 Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (155). 486 ICJ Rep. 1986, S. 14–150 (94), Abschn. 176. 487 Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S.  513 ff. (530), erkennt in dieser Passage sogar die Bestätigung der Webster-Formel, was allerdings nur einer sehr wohlwollenden Auslegung standhält. 484

430

8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 3. Das IGH-Atomwaffengutachten von 1996

Das Atomwaffengutachten des IGH von 1996488 befasste sich auf Anträge der Generalversammlung und der WHO mit der Frage, ob die Drohung mit oder der Einsatz von Nuklearwaffen unter irgendwelchen Umständen durch das Völkerrecht erlaubt sind489. Im Ergebnis gelangte der IGH zu der Ansicht, dass der bloße Besitz von Atomwaffen noch keinen Völkerrechtsverstoß begründet und vermochte eine auf sie gestützte Bedrohung oder gar einen Einsatz nach Betrachtung des Einzelfalls als rechtmäßige Selbstverteidigungshandlung nicht als illegal zu qualifizieren490. Zwar schneidet auch diese Entscheidung des IGH Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung nicht ausdrücklich an, wohl aber wird sie mitunter mit solchen in Verbindung gebracht491. Anlass dazu bereiten zum einen diejenigen Teile des Gutachtens, welche das Selbstverteidigungsrecht unter die unbedingte Prämisse von Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit stellen492. Im Vergleich dazu erscheint die sonst im Vordergrund stehende Verknüpfung mit dem Tatbestandsmerkmal des „Bestehens“ eines bewaffneten Angriffs aus Art. 51 SVN unter­geordnet, weshalb nicht notwendigerweise ein gegenwärtiger Auslöser einer reaktiven Selbstverteidigungslage als zwingend erforderlich anzusehen sein könnte493. Zum anderen wird aus der Feststellung, dass unter „extremen Umständen“ – vor allem wenn das Überleben eines Staates gefährdet ist – auch eine Selbstverteidigungshandlung mittels Atomwaffen nicht als rechtswidrig auszuschließen ist494, auf eine auf demselben Gedanken beruhende Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung geschlossen495. Mit anderen Worten: Wenn schon die verheerende Zerstörungskraft von Atomwaffen in ihrer konkreten Realisierung nicht notwendigerweise mit dem ultima-ratio-Erfordernis bricht, dann tut dies erst recht nicht eine vorbeugende Gewaltanwendung mit ggf. milderen Kampfmitteln. Beiden an einzelnen Merkmalen orientierten Erklärungsversuchen für eine implizierte Rechtmäßigkeitserklärung vorbeugender Selbstverteidigung durch den IGH fehlt es aber für ihre konkrete Anwendung auf vorbeugende Selbstverteidigung an einem Bindeglied hierzu. Zwar schließt der IGH – anders als noch im 488

ICJ Rep. 1996, S. 226–267. Vgl. näher Becker, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 847 ff. 490 ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (265 ff.), Abschn. 105 ff. 491 Etwa bei Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (517); Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (156); Minnerop, Paria-Staaten, S. 468; Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (530). 492 ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (245 f.), Abschn. 41, 46. 493 Wiederum Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S.  513 ff. (530), möchte darin eine weitere Bestätigung der Webster-Formel erkennen; a. A. hingegen Laghmani, Doctrine, in: Droit int. à la croisée, S. 137 ff. (156). 494 ICJ Rep. 1996, S. 226–267 (245, 263), Abschn. 42, 96 f. 495 Schmitt, MichiganJIL 24 (2003), S. 513 ff. (530). 489

C. Weitere Erkenntnisse

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­ icaragua-Fall  – eine Stellungnahme zu vorbeugender Selbstverteidigung nicht N aus, jedoch spricht er diesen Teil des Friedenssicherungsrechts auch nicht explizit an. Jedenfalls ein Verbot496 vorbeugender Selbstverteidigung lässt sich aus dem Atomwaffengutachten nicht entnehmen, weitere Erkenntnisse dazu liefert es allerdings auch nicht497. Losgelöst von diesen für vorbeugende Selbstverteidigung unmittelbar relevanten Fragestellungen spiegelt das Atomwaffengutachten aber jedenfalls den völkerrechtlichen status quo einer ausgeprägten und flexiblen Handhabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wider: Je gravierender ein Schaden ausfällt, desto härter darf die Selbstverteidigungshandlung ausfallen – zur Not auch in nuklearer Form. Der dieser Überlegung zu Grunde liegende flexiblere Abwägungsgedanke entspricht seinem Wesen nach dem der relativen Imminenztheorie. Erkennt man im Atomwaffengutachten also zumindest die verbriefte Fortentwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesichts neuartiger Schadensdimensionen auf eine flexiblere Handhabe gerichtet an, so ist dieser als allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts auch auf das Selbstverteidigungsrecht übertragbar. Folglich stützt das Atomwaffengutachten die relative Imminenztheorie, soweit von der bisherigen Rechtmäßigkeit jedenfalls der absoluten Imminenztheorie ausgegangen werden darf (was angesichts der bisherigen Ergebnisse nicht in Abrede steht). 4. Der Gabčíkovo-Nagymaros-Fall: IGH-Urteil von 1997

In der Streitigkeit zwischen Ungarn und der Slowakei um das Donau-Staudammprojekt Gabčíkovo-Nagymaros an der gemeinsamen Staatsgrenze sollte sich der IGH in seinem Urteil von 1997 vordergründig mit Fragen des Umweltvölkerrechts befassen498. Im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung ist hingegen der Teil des Urteils von Interesse, welcher sich mit Notstandsaspekten als Teil der natürlichen Betrachtungsweise vorbeugender Selbstverteidigung auseinandersetzt499. Zwar steht der Gabčíkovo-Nagymaros-Fall nicht in Verdacht, Gewalthandlungen beurteilen zu müssen, jedoch sind die dabei relevanten Gedanken zur notstandsbedingten Vertragskündigung allgemein auf das Völkerrecht zu übertragen. Konkret berief sich Ungarn, das den 1977 mit der damaligen Tschechoslowakei geschlossenen Vertrag über das Projekt 1989 aufkündigte, mangels vertrag 496

Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (517), erkennt ein solches nur durch Hinzudenken einer generell als strikt unterstellten Grundeinstellung des IGH und weiß deshalb in ihrer Auswertung des Gutachtens nicht zu überzeugen. 497 Becker, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 852; anders, aber unklar zu dieser Frage Diener, Terrorismusdefinition, S. 251, der im Atomwaffengutachten wohl eine implizierte Erweiterung der Webster-Formel erkennen möchte. 498 Näher eingehend Faßbender, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S. 95 ff. 499 Ausdrücklich im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung diskutiert bei Bellier, MaineLR 58 (2006), S. 508 ff. (525 f.); Laursen, VanderbiltJTL 37 (2004), S. 485 ff. (524).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

lichen Kündigungsrechts auf einen sog. „ökologischen Notstand“500. Begründet wurde dies im Einzelnen damit, dass im Falle fortgesetzter Bauarbeiten am Projekt das Ökosystem in der Region unwiederbringlich zerstört würde, was zu Zeiten des Vertragsschlusses noch nicht absehbar gewesen sei. Es bestünde damit ein unmittelbar bevorstehender und im Falle der Vertragserfüllung sich realisierender Umweltschaden. Im übertragenen Sinne diente demnach das Verhalten Ungarns dazu, das ökologische Gleichgewicht in der betroffenen Region auf eigenem Territorium vorbeugend zu „verteidigen“. Aus diesem Grunde sei es auch nicht für die durch das Scheitern des Projekts entstandenen Schäden zu Lasten der Slowakei ver­antwortlich, obwohl dessen Realisierung besonders auf slowakischer Seite unter hohem Kostenaufwand bereits stark vorangeschritten war. Der durch Ungarn hier zu rechtfertigen versuchte Schaden war also ein monetärer, die vorausgegangene Notstandshandlung ein Bruch vertraglicher Verpflichtungen. Auf das Friedenssicherungsrecht übertragen entspricht dieser Vorgang seinem Wesen und dem Verhältnis der widerstreitenden Interessen nach genau der Konstellation einer möglicherweise legalen vorbeugenden Gewalthandlung zu Lasten staatlicher Integrität. Mithin ist der durch den IGH zu solchen Konstellationen als Wiedergabe des geltenden Völkerrechts festgehaltene Grundgedanke zumindest mittelbar auf die Ermittlung zur späteren Praxis vorbeugender Selbstverteidigung anwendbar. Dem IGH zufolge ist ein Notstandsrecht gewohnheitsrechtlich anerkannt501, wie es auch aus dem ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit hervorgeht502. Dem Grunde nach setzt er auch das von Ungarn angeführte Notstandsrecht zu Gunsten eines wesentlichen Interesses („essential interest“) gegen eine schwerwiegende und bevorstehende Gefahr („grave and imminent peril“) als bestehend voraus. In der Sache hält er ferner ein wesentliches Interesse Ungarns für berührt, weil dafür nicht notwendigerweise die staatliche Existenz bedroht sein müsse. Der IGH erkennt also verschiedene, in unterschiedlicher Intensität schutzbedürftige Rechtsgüter an, die als solche gleichermaßen, nicht zwingend aber in gleichem Umfang durch Ausübung des Notstandsrechts verteidigt werden dürfen503. Hier wird demnach die Abwendung ökologischer Schäden als schutzwürdiges Interesse bestätigt, gleichwohl die Existenz noch weiter ausgeprägter Schutzinteressen ebenso bejaht wird. In einem nächsten Schritt sieht der IGH im vorliegenden Fall allerdings keine schwere und bevorstehende Gefahr gegeben504. Dies schließt er vor allem aus der Tatsache, dass eine bevorstehende Gefahr selbst von Ungarn nicht sicher bestimmt 500

ICJ Rep. 1997, S. 7–84 (35), Abschn. 40. s. bereits o. 2. Kap. A. XII. 502 ICJ Rep. 1997, S. 7–84 (39 ff.), Abschn. 50 ff. 503 ICJ Rep. 1997, S. 7–84 (41), Abschn. 53. 504 ICJ Rep. 1997, S. 7–84 (41 f.), Abschn. 54.

501

C. Weitere Erkenntnisse

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werden konnte, weil die ökologischen Auswirkungen der Projektfortsetzung nicht eindeutig vorhersehbar waren; es hätte aber „ein zukünftiger Schaden auf Grund der bevorstehenden Gefahr“ – gemeint ist ein bevorstehender Schaden505 – nachgewiesen werden müssen. Das sichere Eintreten eines solchen Schadens konnte Ungarn jedoch nicht beweisen. Im Übrigen – insbesondere im Hinblick auf die abstufende Betrachtungsweise eines wesentlichen Interesses – ist der IGH dahingehend zu verstehen, dass in Fällen wie dem vorliegenden die Verlagerung des Schadensbegriffs auf eine bloße Umweltgefährdung als eigene Schadensart nicht ausreicht, weil die Abwendung eines sich durch Gefährdung äußernden (aber gleichwohl sicher eintretenden) und somit weniger schweren Schadens im Verhältnis zum Prinzip pacta sunt servanda weniger schutzbedürftig ist und folglich dahinter zurücktreten muss. Damit wendet der IGH das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in seiner bereits aus dem Atomwaffengutachten bekannten Flexibilität zwingend auf die Frage des Vorhandenseins einer Notstandslage an: Je stärker die befürchtete bzw. zukünftige eigene Beeinträchtigung und der sicher zu erwartende Schaden sind, desto weiter hat das Interesse der Gegenseite zurückzustehen. Auf vorbeugende Selbstverteidigung umgemünzt ist dies ein Bekenntnis zur relativen Imminenztheorie. 5. Der Ölplattform-Fall: IGH-Urteil von 2003

Das nächste, sich wieder mit dem Friedenssicherungsrecht beschäftigende Verfahren im Zusammenhang mit vorbeugender Selbstverteidigung506 war der Ölplattform-Fall, zu welchem der IGH 2003 sein Urteil sprach507. Der Streitgegenstand reicht dabei in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, als die Vereinigten Staaten im sog. „Tanker-Krieg“ als Teil  des ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak den Verlust einiger Handelsschiffe zu erleiden hatten508. Im „Tanker-Krieg“ zerstörten der Iran und der Irak gegenseitig dem Feind zugerechnete Frachtschiffe im Persischen Golf, um so jeweils die Wirtschaft 505 Der IGH weist zwar ausdrücklich auf den Unterschied zwischen „Schaden“ und „Gefahr“ hin, unterscheidet aber nicht zwischen „Gefahr“ und „bevorstehender Gefahr“, sondern überträgt wohl das Attribut des Bevorstehens auf den wegen der Gefahr drohenden Schaden: „The word ‚peril‘ certainly evokes the idea of ‚risk‘: that is precisely what distinguishes ‚peril‘ from material damage. But a state of necessity could not exist without a ‚peril‘ duly established at the relevant point in time: the mere apprehension of a possible ‚peril‘ could not suffice in that respect.“, ICJ Rep. 1997, S. 7–84 (42). So sind Notstand und vorbeugende Selbstverteidigung erst recht als kongruent zu verstehen. 506 So auch erwähnt bei Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 143 ff.; Green, JCSL 9 (2004), S. 357 ff.; Kunde, Präventivkrieg, S. 155; Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (508 ff.); Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (90). 507 ICJ Rep. 2003, S. 159–219. 508 Darauf näher eingehend García Rico, REDI 55 (2003), S. 819 ff.; Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 144; Taft IV, YaleJIL 29 (2004), S. 295 ff. (296 ff.).

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

des Gegners zu schwächen. Mehr oder minder willkürlich waren aber auch Drittstaaten – insbesondere Kuwait – betroffen509, die ihre Schiffe daraufhin unter fremder Flagge fahren ließen. Nach mehreren Zwischenfällen, innerhalb derer US-amerikanische Schiffe, von welchen einige ehemals in Kuwait registriert waren, unter iranischen Gewalthandlungen zu leiden hatten, bombardierten die USA am 16. Oktober 1987 und am 14. April 1988 iranische Ölplattformen als so bezeichnete Selbstverteidigungshandlung, weil die Angriffe auf die Handelsschiffe zuvor von diesen Plattformen ausgegangen wären. Dies geschah auch, um zukünftige von dort eingeleitete Schäden zu verhindern510, mithin vorbeugend. Angesichts der systematischen Vorgehensweise des Iran und der bereits erlittenen Schäden waren weitere Schiffs­ verluste mit einem indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang angezeigt, sodass die Bombardierungen der Ölplattformen nach der Indikationstheorie für rechtmäßig gehalten werden können. Die vom IGH in diesem Fall eher als Randaspekt511 behandelten Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung konzentrieren sich in den Ausführungen des Gerichts zur accumulation-of-events-Doktrin512. Dabei zieht der IGH rechtlich durchaus in Betracht, dass mehrere kleinere Gewalthandlungen wie jene des Iran („series of attacks“) gegen US-amerikanische Schiffe in ihrer Summe einen vom IGH zur Selbstverteidigung vorausgesetzten bewaffneten Angriff bilden könnten513, verneint dies aber tatsächlich mangels hinreichender Schwere im konkreten Fall. Inwieweit stattdessen die Ölplattform-Bombardierungen als rechtmäßige vorbeugende „Gegenmaßnahmen“ als abgestuftes und auch im Ölplattform-Urteil weiterhin anerkanntes514 Pendant zum vom IGH eng verstandenen Selbstverteidigungsrecht betrachtet werden können, verschweigt das Gericht. Der IGH prüft also das gesamte Ausmaß des Selbstverteidigungsrechts in diesem Fall nicht umfassend und lässt dabei die von ihm selbst mit dem Nicaragua-Urteil ins Leben gerufene „kleine Selbstverteidigung“ außer Acht515. 509

Vgl. die Auflistung bei ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (215 ff.), Abschn. 120. ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (186), Abschn. 49; s. auch Taft IV, YaleJIL 29 (2004), S. 295 ff. (297). 511 Primär ging es um einen hier nicht interessierenden Verstoß gegen den amerikanischiranischen Freundschaftsvertrag von 1955, s. nur Taft IV, YaleJIL 29 (2004), S. 295 ff. (295). I. Ü. konnte der Vertrag auch nicht als mögliche Rechtsgrundlage für Gewalthandlungen, wie es die abzulehnende vertragsbedingte Ausschlusstheorie vorsieht (s. o. 4. Kap. B. IV.), dienen, ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (189 ff.), Abschn. 39 ff.; vgl. dazu ausführlicher García Rico, REDI 55 (2003), S. 819 ff. (821 ff.). 512 ICJ Rep. 2003, S. 159–219 (190), Abschn. 64. 513 Gray, Int’l. Law and Use of Force, S.  145; Green, JCSL 9 (2004), S.  357 ff. (381 f.); ausführlicher ders., ICJ and Self-Defence, S. 42 f.; Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-­ Delbrück, S. 503 ff. (510); krit. hingegen Kunde, Präventivkrieg, S. 156; ablehnend Kühn, Präventive Gewaltanwendung, S. 190, dort Fn. 925. 514 García Rico, REDI 55 (2003), S. 819 ff. (829); Green, JCSL 9 (2004), S. 357 ff. (378 f.). 515 Dies wird zu Recht noch ausführlicher kritisiert von Green, JCSL 9 (2004), S. 357 ff. (385 f.). 510

C. Weitere Erkenntnisse

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Die insofern auf eine unvollständige Prüfung zurückzuführende Verurteilung der USA ist jedoch für das Ziel dieser Arbeit zweitrangig. Wichtig ist lediglich festzuhalten, dass der IGH im Rahmen des von ihm Geprüften die accumulationof-events-Doktrin zumindest für nicht rechtswidrig hält516. Er zieht sie allerdings nicht als Nachweis für eine Indikation zukünftiger Schäden, sondern ausschließlich hinsichtlich reaktiver Selbstverteidigung gegen einen von ihm eng verstandenen bewaffneten Angriff heran. Damit führt auch das Urteil im Ölplattform-Fall zu keiner Erhellung der Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung; durch Aufgreifen der accumulation-of-events-Doktrin schafft der IGH aber immerhin mittelbar ein Indiz dafür, dass auch die ihr übergeordnete Indikationstheorie zumindest nicht für rechtswidrig gehalten wird. 6. Der israelische Mauerbau: IGH-Gutachten von 2004

Auf Antrag der VN-Generalversammlung erstellte der IGH 2004 ein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der Errichtung eines oft schlicht als „Mauer“ bezeichneten Bauwerks durch Israel an der Grenze zu den palästinensischen Gebieten517. Der vor allem zum Schutz gegen terroristische Angriffe bestimmte und durchaus komplexe Sicherheitsbau hat bei seiner Fertigstellung eine Länge von insgesamt etwa 720 Kilometern und trennt sowohl den Gazastreifen als auch Ost-Jerusalem vom israelischen Staatsgebiet518. Das Bauwerk wurde größtenteils auf palästinensischem Gebiet errichtet, sodass die Verletzung des palästinensischen Territoriums einer besonderen Rechtmäßigkeitsüberprüfung unterlag. Israel betrachtet die Mauer als einen Teil von i. V. m. den Sicherheitsrats-Resolutionen 1368 und 1373519 für rechtmäßig gehaltenen Selbstverteidigungshandlungen gegen den palästinensischen Terrorismus. Insbesondere sollen durch den Schutzwall zukünftige Anschläge auf israelischem Territorium verhindert werden, weshalb sich Israel auch ausdrücklich auf sein Recht zur Selbstverteidigung hiergegen berief520. Da es dabei um die Abwehr zukünftiger Schäden auf Grund der einschlägigen und langjährigen Erfahrungen mit vergangenen Anschlägen, die 516

Green, ICJ and Self-Defence, S. 42, geht sogar von einer ausdrücklichen Anerkennung durch den IGH aus. 517 ICJ Rep. 2004, S. 136–203; ausführlicher dazu Hoffmann/Pierlings, in: Menzel/Pierlings/ Hoffmann, Völkerrechtsprechung, S.  868 ff., sowie Bruha/Tams, Considerations of „Israeli Wall“, in: LA-Delbrück, S. 85 ff. 518 Näher beschrieben in ICJ Rep. 2004, S. 136–203 (168 ff.), Abschn. 80 ff. 519 s. o. Fn. 22 im 4. Kap. 520 Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S.  157 ff. (171 f.); Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (511); Scobbie, AJIL 99 (2005), S. 76 ff. (76 f.); Wandscher, Terrorismus u. Selbstverteidigungsrecht, S. 210 f.; mittelbar auch noch einmal an den IGH adressiert durch Israel: Written Statement of the Government of Israel on Jurisdiction and Propriety (Israeli Wall), Abschn. 2.25 und 3.37, und aufgegriffen in ICJ Rep. 2004, S. 136–203 (194), Abschn. 138.

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stets mit der Übertretung der nun abgesicherten Grenzen begannen, ging, ist der israelische Rekurs auf Selbstverteidigung bei präziser Betrachtung ein solcher auf vorbeugende Selbstverteidigung nach der Indikationstheorie. Als mögliche vorbeugende Selbstverteidigungshandlung wurde der Mauerbau auch in den an den IGH gerichteten Stellungnahmen der Vertreter Südafrikas sowie der palästinensischen Autonomiegebiete diskutiert. Südafrika lehnt dabei eine als „antizipatorisch“ bezeichnete Selbstverteidigung wegen angenommener Völkerrechtswidrigkeit ab, versteht darunter jedoch ausdrücklich solche Vorgehensweisen wie jene Israels gegen den irakischen Atomreaktor Osiraq 1981521, mithin nur sich allenfalls noch am Rande des nicht per se Unvertretbaren bewegende Gewalthandlungen. Im Übrigen wird die accumulation-of-events-Doktrin angesprochen und dem Grunde nach nicht abgelehnt; lediglich ihre Einschlägigkeit im konkreten Fall wird auf Handlungsebene als unverhältnismäßig zurückgewiesen522. Die palästinensische Stellungnahme hält zumindest vorbeugende Selbstverteidigung nach den Imminenztheorien nicht für rechtswidrig, wehrt sich aber gegen Gewalthandlungen, die nur auf Grund eines unsicheren Wahrscheinlichkeitsurteils durchführt werden, was durch die Mauer geschehen sei523. Die im Vorfeld des IGH abgegebenen Stellungnahmen zeigen somit, dass vorbeugende Selbstverteidigung von den sich hierzu äußernden Subjekten zumindest nicht grundsätzlich abgelehnt wird, auch wenn man sich angesichts der Faktenlage darin einig ist, dass Israel rechtswidrig gehandelt habe. Zu diesem Ergebnis gelangte auch der IGH, allerdings ohne jede ausdrück­liche Bezugnahme auf vorbeugende Selbstverteidigung. In seinem Mauerbau-Gutachten diskutiert er neben weiteren Rechtsfragen die Einschlägigkeit des Selbstverteidigungsrechts ausschließlich unter anderen Aspekten524. So erklärt der IGH Art. 51 SVN nur zur Verteidigung gegen Angriffe eines fremden Staates für anwendbar, während eine Staatsqualität Palästinas von Seiten Israels gerade (und man möchte hinzufügen: selbstverständlich) nicht anerkannt wurde525. Zudem hält er an seinem engen Verständnis eines „bewaffneten Angriffs“ fest. Bei Gesamtbetrachtung des Entscheidungswortlauts zeigt sich, dass der IGH im konkreten Fall einen israelischen Rekurs auf Selbstverteidigung augenscheinlich nicht zulassen wollte; dies verleitete ihn offenbar dazu, möglichst hohe Anforderungen zumindest an das

521 Written Statement submitted by the Government of the Republic of South Africa (Israeli Wall), S. 14, Abschn. 34. 522 Written Statement submitted by the Government of the Republic of South Africa (Israeli Wall), S. 15, Abschn. 38. 523 Written Statement submitted by Palestine (Israeli Wall), S. 232, Abschn. 532. 524 ICJ Rep. 2004, S. 136–203 (194), Abschn. 139; krit. zu diesen einschränkenden Anforderungen z. B. Bruha, Kampf gegen den Terrorismus, in: Legalität, Legitimität und Moral, S. 157 ff. (172); Stein, Proportionality, in: LA-Delbrück, S. 727 ff. (736). 525 Ausführlich zu diesem Punkt Bruha/Tams, Considerations of „Israeli Wall“, in: LADelbrück, S. 85 ff. (92 ff.); Scobbie, AJIL 99 (2005), S. 76 ff. (80 ff.).

C. Weitere Erkenntnisse

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Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 SVN zu stellen526. Seine seit dem NicaraguaUrteil ständige und auch im Gutachten generell angedeutete527 Rechtsprechung zu koexistierendem Völkergewohnheitsrecht ignoriert er in Bezug auf Selbstverteidigung, indem er in diesem Zusammenhang nur auf Art. 51 SVN eingeht. Es wäre ihm aber bei seinen Ausführungen zu Art. 51 SVN wie auch zu möglichem Gewohnheitsrecht ein Leichtes gewesen, auch den Aspekt der Vorbeugung anzusprechen und ihn wie die anderen streitbaren Tatbestandsmerkmale einschränkend bis ablehnend zu bewerten. Gerade dies tat der IGH jedoch an dieser Stelle nicht. Erst danach, als er sich einer möglichen Rechtfertigung für den Mauerbau nach so bezeichneten Notstandsgesichtspunkten widmet, kommt der IGH auf die generelle Zulässigkeit vorbeugender Notstandsmaßnahmen zu sprechen. Unter Bekräftigung seiner Rechtsprechung aus dem Gabčíkovo-Nagymaros-Fall stellt der IGH für das vorliegende Verfahren fest: „The Court has, however, considered whether Israel could rely on a state of necessity which would preclude the wrongfulness of the construction of the wall. (…) One of those conditions was stated by the Court in terms used by the International Law Commission, in a text which in its present form requires that the act being challenged be ‚the only way for the State to safeguard an essential interest against a grave and imminent peril‘ (…) In the light of the material before it, the Court is not convinced that the construction of the wall along the route chosen was the only means to safeguard the interests of Israel against the peril which it has invoked as justification for that construction.“528

Über den Umweg des Notstandsrechts, welches sich nach der in dieser Arbeit zu Grunde gelegten Betrachtungsweise als kongruent mit dem Inhalt vorbeugender Selbstverteidigung erwies, gelangt der IGH folglich zu einer grundsätzlichen Anerkennung vorbeugend-verteidigender Gewalthandlungen; lediglich im konkreten Fall griff dieses Recht mangels Verhältnismäßigkeit nicht durch. Nach diesen Feststellungen ist jedenfalls keine Ablehnung gegen vorbeugende Selbstverteidigung aus dem Mauerbau-Gutachten herauszulesen. In Verbindung mit den im Übrigen definierten, fast einhellig als übertrieben eng bewerteten Anforderungen an das Selbstverteidigungsrecht kann das Schweigen zu vorbeugender Selbstverteidigung hier sogar als dessen implizierte Unterstützung verstanden werden; eine Sichtweise, die durch die Ausführungen zum so bezeichneten Notstandsrecht ausdrücklich bestärkt wird.

526

Dies deutet z. B. auch Oellers-Frahm, ICJ and Art. 51, in: LA-Delbrück, S. 503 ff. (512),

an.

527

ICJ Rep. 2004, S. 136–203 (171 ff.), Abschn. 86 ff. ICJ Rep. 2004, S. 136–203 (194 f.), Abschn. 140.

528

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8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 7. Der Kongo/Uganda-Fall: IGH-Urteil von 2005

Der Kongo/Uganda-Fall529, zu welchem der IGH 2005 sein Urteil gesprochen hat, befasst sich mit der völkerrechtlichen Beurteilung von zwischen der Demokratischen Republik Kongo (im Folgenden: Kongo) und Uganda im gemeinsamen Grenzgebiet wechselseitig begangener Gewalthandlungen. Die unübersichtlichen Details des dem Fall zu Grunde liegenden Sachverhalts, innerhalb dessen zunächst Kongo Klage u. a.530 gegen Uganda und danach letzterer Staat Widerklage erhob, sollen hier nicht im Einzelnen aufgearbeitet werden531. Wichtig ist für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung zunächst nur die Erkenntnis, dass sich sowohl Kongo als auch Uganda auf Selbstverteidigung beriefen, dabei jedoch keine vorbeugenden Aspekte ausdrücklich erwähnten. Im Vorfeld der zu bewertenden Gewalthandlungen veröffentlichte die militä­ rische Führung Ugandas jedoch am 11.  September 1998 ein Dokument namens Safe Haven, wonach die ugandischen Streitkräfte u. a. dazu ermächtigt wurden, „[to] neutralize Uganda dissident groups which have been receiving assistance from the Government of the DRC and the Sudan.“532 Uganda stütze sich zur Erklärung danach erfolgter Gewalthandlungen auf eben diese Ermächtigung. Hieraus lässt sich ableiten, dass Uganda grenzüberschreitende Gewalt gegen Rebellengruppierungen auch ohne direkten vorherigen Angriff als rechtmäßig betrachtet, es sich dabei also um angeordnete Maßnahmen vorbeugender Selbstverteidigung nach der Latenztheorie analog zur Terrorismusbekämpfung in anderen Krisen­ regionen gehandelt hat533. Nicht einmal auf solche mittelbaren Erwägungen zu vorbeugender Selbstverteidigung ließ sich der IGH jedoch ein. Er hielt stattdessen an seinem strengen Kriterium des staatlichen bewaffneten Angriffs als Auslöser einer Selbstverteidigungslage entsprechend seiner vorherigen Rechtsprechung fest, erklärte daran anknüpfend aber: „The Court is of the view that, on the evidence before it, even if this series of deplorable ­attacks could be regarded as cumulative in character, they still remained non-attributable to the DRC.“534

529

IGH, Online-Slg. 2005, S. 1–104. Weitere Klagen gegen Ruanda und Burundi wurden später zurückgenommen, vgl. ­Oellers-Frahm, VN 3/2006, S. 117 ff. (117). 531 Dies gelingt übersichtlich und instruktiv Oellers-Frahm, VN 3/2006, S. 117 ff.; vgl. i. Ü. auch Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 133 ff. 532 IGH, Online-Slg. 2005, S. 1–104 (46); Abschn. 109; vgl. hierzu auch Oellers-Frahm, VN 3/2006, S. 117 ff. (118). 533 Reisman/Armstrong, AJIL 100 (2006), S.  525 ff. (534 f.); dies bekräftigen später dies., Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (91 f.), indem sie hierin sogar einen Anwendungsfall der Webster-Formel erkennen. 534 IGH, Online-Slg. 2005, S. 1–104 (53), Abschn. 146; Hervorh. v. Verf. 530

C. Weitere Erkenntnisse

439

Beiläufig prüft also der IGH die Einlassung Ugandas auch anhand der accumu­ lation-of-events-Doktrin und erklärt diese dabei gerade nicht für völkerrechtswidrig535. Lediglich die vom IGH festgestellte Unzurechenbarkeit der Rebellen­ gewalt zu Kongo ist für den IGH ausschlaggebend, keine Selbstverteidigungslage zu Gunsten Ugandas anzunehmen. Damit geht der IGH auf den dargestellten Einwand Ugandas ein, interpretiert ihn vom hiesigen Verständnis abweichend als Anwendungsfall der accumulation-of-events-Doktrin  – mithin als Teil  der Indika­ tionstheorie  – und weist ihn deswegen gerade nicht zurück. Folglich muss der IGH dahingehend verstanden werden, dass er die Indikationstheorie zumindest nach Maßgabe der accumulation-of-events-Doktrin – und dies trotz seiner engen Betrachtung des von ihm als Selbstverteidigung Bezeichneten  – nicht für völkerrechtswidrig hält und sich damit implizit für diesen Teilbereich vorbeugender Selbstverteidigung ausspricht536. 8. Zusammenfassung

Der Auswertung der IGH-Rechtsprechung gelang es, einen Überblick über die tatsächliche Relevanz der einzelnen Entscheidungen im Hinblick auf die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung zu verschaffen. Trotz wiederkehrender und fast schon renitent anmutender Behauptungen in der Literatur sprach sich der IGH bislang in keinem einzigen Fall gegen die Zulässigkeit vorbeugender Selbstverteidigung aus. Insbesondere das häufig auftretende Missverständnis, die Beschränkung des Selbstverteidigungsrechts durch den IGH auf das besonders eng ausgelegte Tatbestandsmerkmal des bewaffneten Angriffs verbiete zugleich vorbeugende Selbstverteidigung537, erwies sich als zu kurz gedacht. Für den IGH ist nämlich einerseits – und das mag man zu Recht kritisieren – neben dem Selbstverteidigungsrecht auch eine Gewaltanwendung unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs rechtmäßig, solange sie sich als notwendig und verhältnismäßig kennzeichnet. Insbesondere in Bezug auf solche „Gegenmaßnahmen“ ließ der IGH bislang offen, ob diese nach seiner Auffassung auch vorbeugend erfolgen dürfen. Andererseits ist das Festhalten am Tatbestandsmerkmal des bewaffneten Angriffs in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung ohne spekulatives Hinzudenken nur insofern von Bedeutung, als, wenn vorbeugende Selbstverteidigung als rechtmä-

535

Ebenso Green, ICJ and Self-Defence, S. 43. Wenn Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 216, gegenteilig ein impliziertes Verbot vorbeugender Selbstverteidigung aus dem Urteil herauslesen möchte, gründet sich dies nur auf dem Ergebnis der Illegalität der ugandischen Gewalthandlungen, beachtet aber nicht die genauen Gründe für diese Entscheidung. Dieses Ergebnis erweist sich bei eingehender Begutachtung als unvollständig, weil es sich nur an der engen Betrachtung des vom IGH als Selbstverteidigung Bezeichneten orientiert, ohne jedoch die seit dem Nicaragua-Urteil ebenso verteidigend mögliche „kleinere Gewalt“ zu berücksichtigen. 537 So ausdrücklich Hamid, NILR 54 (2007), S. 441 ff. (455). 536

440

8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht

ßig betrachtet wird, Gewaltanwendung nur gegen einen zukünftigen bewaffneten Angriff (als qualitativ qualifiziertes auslösendes Ereignis) zulässig ist538. Neben dieser allgemein das bisherige Zwischenergebnis nicht beeinflussenden Erkenntnis ist die IGH-Rechtsprechung insbesondere in Anbetracht weiterer Ausprägungen von vorbeugender Selbstverteidigung beachtlich: Zum einen gilt dies für die accumulation-of-events-Doktrin als Teilaspekt der Indikationstheorie. Der IGH nutzte zweimal  – nämlich im Ölplattform-Fall wie auch im Kongo/Uganda-Fall  – die sich jeweils nicht unbedingt aufdrängende Gelegenheit, auf Akkumulierungsaspekte einzugehen. Erkannte er im ersteren Verfahren diese These noch lediglich implizit an, bekannte er sich im letzteren deutlicher zu ihr. Jedenfalls verwarf der IGH bei beiden sich selbst eröffneten Gelegenheiten die accumulation-of-events-Doktrin nicht  – was von ihm bei Nicht­ gefallen angesichts anderer Beispiele539 fast schon hätte erwartet werden dürfen – und maß im letzteren Falle sogar den Sachverhalt proproio motu an ihr. Angesichts dessen scheint es vorzugswürdig, hieraus auf eine entsprechende Anerkennung als rechtmäßig zu schließen. Dies stärkt das bisherige Zwischenergebnis zu Gunsten der Indikationstheorie. Zum anderen kann das seit dem Atomwaffengutachten aufgestellte und im Gabčíkovo-Nagymaros-Fall bekräftigte flexiblere Verständnis des Verhältnismäßig­ keitsgrundsatzes auch auf das nach dem nun Festgestellten zumindest implizit anerkannte Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung übertragen werden. Die jeweils vom IGH vorgenommene Abwägung zwischen Schwere des zu erwartenden Schadens und dem zeitlichen Aspekt des zu dessen Verhinderung eingesetzten Mittels entspricht dem Gedanken der relativen Imminenztheorie. Gilt dieser flexible Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Auffassung des IGH also allgemein und ist vorbeugende Selbstverteidigung per se zulässig, so konkretisiert die IGHRechtsprechung zur Verhältnismäßigkeit diese Zulässigkeit auf die relative Imminenztheorie. Die Tendenz einer völkerrechtlichen Entwicklung hin zur Rechtmäßigkeit von Gewalthandlungen nach der relativen Imminenztheorie wird damit deutlicher, jedoch reichen die Feststellungen des IGH noch nicht aus, um eine entsprechende deutlich überwiegende Praxis im Sinne der Gewichtungsregel nachweisen zu können. Insgesamt macht die Rechtsprechung des IGH über die grundsätzliche Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung hinaus eine zunehmend starke Tendenz sowohl zu Gunsten der relativen Imminenztheorie als auch – zumindest in Form der accumulation-of-events-Doktrin – der Indikationstheorie sichtbar.

538

Zutr. Green, ICJ and Self-Defence, S. 29 f., welcher diesen logisch zwingenden Schluss als bislang ersichtlich Einziger auch so formuliert. 539 Vgl. vor allem die unnötige und umstrittene Einengung des „bewaffneten Angriffs“ auf staatliche Gewalt im Mauerbau-Gutachten.

C. Weitere Erkenntnisse

441

II. Der VN-Weltgipfel 2005 als aktueller Einfluss der Vereinten Nationen Zuletzt gilt es noch einen kurzen Blick auf die Einflüsse der Vereinten ­Nationen auf das Friedenssicherungsrecht zu werfen. Ergänzend zu dem bislang Ermittelten kann das gefundene Zwischenergebnis – ähnlich wie durch die Rechtsprechung des IGH – bekräftigt oder in Zweifel gezogen werden. Im Gegensatz zur Staatenpraxis und auch der IGH-Rechtsprechung, jedenfalls soweit diese als Reflex staatlicher Rechtsüberzeugung zu bewerten ist, sind die Einflüsse der Vereinten Nationen mangels unmittelbarer Staatentätigkeit jedoch nicht konstitutiv, sondern als bloße Akzentuierung des Rechtsbildes zu verstehen, wenn sie nicht zugleich auch durch Staatenpraxis getragen von entsprechender Rechtsüberzeugung gestützt werden. Nach den bereits angesprochenen für das Selbstverteidigungsrecht allgemein aufschlussreichen Deklarationen der VN-Generalversammlung540 sowie den ILCEntwurf zur Staatenverantwortlichkeit541 sprechen erst die Materialien zum VNWeltgipfel von September 2005 vorbeugende Selbstverteidigung erstmals explizit an542. Der VN-Weltgipfel 2005 war der bislang jüngste seiner Art und befasste sich mit einem von dem damaligen Generalsekretär Annan in die Wege geleiteten Plan für einen umfangreichen Reformprozess der Vereinten Nationen543. Den rechtlichen Abschluss zum Weltgipfel bildete Resolution 60/1 der General­ versammlung544, welche die Ergebnisse des Gipfels festhielt. Im Vorfeld des Weltgipfels setzte Annan am 23.  September 2003 u. a. ein Experten­gremium – das sog. High-Level Panel on Threats, Challenges and Changes – ein, das die gegenwärtigen Bedrohungslagen von Frieden und Sicherheit untersuchen sowie Lösungsvorschläge für den zukünftigen Umgang hiermit erstellen sollte545. Nachdem das High-Level Panel am 2. Dezember 2004 seinen Bericht abschloss546, wertete Annan diesen aus und verfasste im Anschluss daran seinen eigenen Bericht zu demselben Themenkomplex547, der am 21. März 2005 der Generalversammlung übermittelt wurde. Beide Berichte befassten sich auch mit Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung.

540 Namentlich die Friendly Relations Declaration und die Definition of Aggression, s.o 3. Kap. B. I. 1. b) aa) und 3. Kap. B. II. 2. a) aa) (2). 541 s. o. 2. Kap. A. XII. und 7. Kap. B. III. 3. b) bb) (2). 542 Krit. dazu Gray, ICLQ 56 (2007), S. 157 ff. 543 Vgl. im Überblick hierzu Pallek, Anmerkungen zum VN-Weltgipfel, in: GS-Blumenwitz, S. 577 ff. 544 UN Doc. A/RES/60/1. 545 Vgl. dazu auch Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 3 f. 546 High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565. 547 Annan, UN Doc. A/59/2005.

442

8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 1. Bericht des High-Level Panels on Threats, Challenges and Changes

Die für die Fragen zu vorbeugender Selbstverteidigung entscheidenden Passagen des High-Level-Panel-Berichts sind die folgenden: „188. (…) [A] threatened State, according to long established international law, can take military action as long as the threatened attack is imminent, no other means would deflect it and the action is proportionate. The problem arises where the threat in question is not imminent but still claimed to be real: for example the acquisition, with allegedly hostile intent, of nuclear weapons-making capability. 189. Can a State, without going to the Security Council, claim in these circumstances the right to act, in anticipatory self-defence, not just pre-emptively (against an imminent or proximate threat) but preventively (against a non-imminent or non-proximate one)? (…) 190. The short answer is that if there are good arguments for preventive military action, with good evidence to support them, they should be put to the Security Council, which can authorize such action if it chooses to. If it does not so choose, there will be, by definition, time to pursue other strategies, including persuasion, negotiation, deterrence and containment – and to visit again the military option. 191. For those impatient with such a response, the answer must be that, in a world full of perceived potential threats, the risk to the global order and the norm of non-intervention on which it continues to be based is simply too great for the legality of unilateral preventive action, as distinct from collectively endorsed action, to be accepted. Allowing one to so act is to allow all. 192. We do not favour the rewriting or reinterpretation of Article 51.“548

Damit spricht sich das High-Level Panel grundsätzlich für eine Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung aus, die sich bereits unmittelbar aus Art. 51 SVN ergebe. Nicht ganz deutlich wird dabei, ob unter einem „imminent attack“ i. S. v. Abschn. 188 nur zeitlich unmittelbar bevorstehende oder auch hinreichend wahrscheinliche Schädigungshandlungen zu verstehen sein sollen. Jedenfalls aber schließt das High-Level Panel staatliche vorbeugend-verteidigende Handlungen nach der Latenztheorie aus; für solche soll allein der Sicherheitsrat zuständig sein. Damit bejaht das High-Level Panel jedenfalls die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung nach der absoluten Imminenztheorie und lehnt zudem jedenfalls nicht die relative Imminenztheorie wie auch die wahrscheinlichkeits­ orientierten Theorien bis zur Indikationstheorie ab. Lediglich die Latenztheorie wird zurückgewiesen549.

548

High-Level Panel on Threats, UN Doc. A/59/565, S.  54 f., Abschn.  188 ff.; Hervorh. v. Verf. 549 In anderen Worten ebenso Reisman/Armstrong, Claims to Pre-emptive Uses of Force, in: FS-Dinstein, S. 79 ff. (88 f.).

C. Weitere Erkenntnisse

443

2. „In larger freedom“: Der Bericht von VN-Generalsekretär Annan

Die Reaktion in Form des Annan-Berichts in Bezug auf vorbeugende Selbstverteidigung fiel wie folgt aus: „122. (…) [Member States] have disagreed about whether States have the right to use military force pre-emptively, to defend themselves against imminent threats; whether they have the right to use it preventively to defend themselves against latent or non-imminent threats; (…) 123. Agreement must be reached on these questions if the United Nations is to be — as it was intended to be — a forum for resolving differences rather than a mere stage for acting them out. And yet I believe the Charter of our Organization, as it stands, offers a good basis for the understanding that we need. 124. Imminent threats are fully covered by Article 51, which safeguards the inherent right of sovereign States to defend themselves against armed attack. Lawyers have long recognized that this covers an imminent attack as well as one that has already happened. 125. Where threats are not imminent but latent, the Charter gives full authority to the ­Security Council to use military force, including preventively, to preserve international peace and security. (…)“550

Auffällig ist zunächst, dass Annan den Begriff der Selbstverteidigung meidet; vielmehr spricht er die damit verbundenen Fragen ausschließlich inhaltlich an. Angesichts der aufgezeigten begrifflichen Unklarheiten ist dies begrüßenswert und umfasst damit zugleich solche Situationen, die unter engerer begrifflicher Betrachtung als von Selbstverteidigung verschiedener Notstand – zu Unrecht – ausgeklammert würden. Sodann steht auch bei Annan das Kriterium der Imminenz im Vordergrund; hier wird das Attribut des unmittelbaren Bevorstehens jedoch auf Bedrohungen („threats“) und nicht etwa nur auf einen Angriff („attack“) bezogen, was eine deutlichere Abgrenzung zum engen Angriffsverständnis etwa des IGH bewirkt und grundsätzlich jedes schadenskausale Ereignis berücksichtigt. Wiederum undeutlich begegnet aber gleichermaßen Annan der Frage, inwieweit die auch von ihm als rechtmäßig erachtete vorbeugende Selbstverteidigung in ihrem Ausmaß über die absolute Imminenztheorie hinaus zulässig sein kann. Jedenfalls völkerrechtswidrig soll Gewalt nur nach der Latenztheorie sein (wobei sogar der Begriff „latent“ bei Annan ausdrücklich fällt). Ebenso wie das High-Level Panel sieht auch Annan Art. 51 SVN als hinreichende Rechtsgrundlage für vorbeugende Selbstverteidigung an, mag man auch darüber philosophieren, ob er dies eher aus einer weiten Interpretation der Vorschrift ableitet als aus einem her­ gebrachten Rechtsinstitut551.

550

Annan, UN Doc. A/59/2005, S. 33, Abschn. 122 ff.; Hervorh. v. Verf. Darauf stellt Gray, ICLQ 56 (2007), S. 157 ff. (160), etwas überdeutlich ab, obwohl diese Frage hier von keiner praktischen Bedeutung ist.

551

444

8. Kap.: Die Praxis im modernen Völkerrecht 3. Zusammenfassung

Beide für den Weltgipfel 2005 wesentlichen Materialien bestätigen eindeutig die Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung und sehen ihr Ausmaß jedenfalls von der absoluten Imminenztheorie als gedeckt an. Nicht auszuschließen ist daneben, dass relative Imminenztheorie, Evidenztheorie und Indikationstheorie als rechtmäßig betrachtet werden. Dagegen wird die Latenztheorie für staatliches Handeln einhellig als illegal qualifiziert, weil die Anordnung ihr zu Grunde liegender Gewalthandlungen ausschließlich dem Sicherheitsrat vorbehalten sei. Diese Ergebnisse zu vorbeugender Selbstverteidigung fanden allerdings keinen Eingang in die Abschlussresolution zum Weltgipfel, nämlich Resolution 60/1 der Generalversammlung552. Darin wird lediglich allgemein festgestellt, dass „the relevant provisions of the Charter are sufficient to address the full range of threats to international peace and security“553. Es ist daher zweifelhaft, ob die einhellig bekundete Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung in diesem Zusammenhang sich auch als von Staatenpraxis getragene Rechtsüberzeugung in Resolution 60/1 manifestiert hat, obwohl die getroffenen Einschätzungen sicher repräsentativ für die Mehrheit der Staatenwelt waren554. Zumindest aber zeigen die durch den Weltgipfel 2005 jüngst hervorgehobenen Einflüsse der Vereinten Nationen, dass auch innerhalb der Organisation ein weites Verständnis zum in der eigenen Satzung verbrieften Friedenssicherungsrecht herrscht. Damit wird die textorientierte Auslegung von Art. 51 SVN wie auch die dazu analysierte Staatenpraxis einmal mehr bestätigt; die Einflüsse der Vereinten Nationen tragen zumindest zu einem stimmigen Gesamtbild zu Gunsten der Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung bei.

D. Fazit: Auswertung der Rechtsermittlung Insgesamt lässt die Analyse der gesamten relevanten Praxis seit Gründung der Vereinten Nationen keinen anderen Schluss als die grundsätzliche Rechtmäßigkeit von vorbeugender Selbstverteidigung i. S. v. [F1] zu. Konkret sind dabei gem. [F2] Gewalthandlungen nach der absoluten Imminenztheorie, der Evidenztheorie und  – vorbehaltlich eines streng verstandenen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhangs – auch der Indikationstheorie als rechtmäßig einzustufen. Als illegal betrachtet die Praxis hingegen staatliche Gewaltanwendung nach der Latenztheorie. Die im Rahmen von Teil 3 dieser Arbeit vollzogene Rechtsermittlung konnte folglich zu einem überwiegend klaren Ergebnis führen. Die Entwicklung des ge 552

Gray, Int’l. Law and Use of Force, S. 165. UN Doc. A/RES/60/1, S. 22, Abschn. 79. 554 Dies konzediert Wiefelspütz, ZfP 53 (2006), S. 143 ff. (164).

553

D. Fazit: Auswertung der Rechtsermittlung

445

samten Friedenssicherungsrechts, die Erkenntnisse aus dem völkervertraglichen Recht des Art. 51 SVN wie auch des – sei es koexistierenden, sei es konsumierten  – Völkergewohnheitsrechts bestätigten gemeinsam auch unter Berücksichtigung der relevanten späteren Praxis, dass vorbeugende Selbstverteidigung grundsätzlich rechtmäßig ist. Ihr zulässiges Ausmaß bestimmt sich dabei auf zeitlicher Ebene jedenfalls nach der absoluten Imminenztheorie sowie auf Wahrscheinlichkeitsebene bis zur Indikationstheorie. Rechtswidrig ist vorbeugend-verteidigende Gewaltanwendung dagegen nach der Latenztheorie. Lediglich in Bezug auf die relative Imminenztheorie fällt das Ergebnis der Rechtsermittlung weniger deutlich aus. Zwar erfuhr dieser flexiblere zeitpunktorientierte Ansatz keinen Widerspruch in der Staatenwelt, allerdings wurde auf ihn für eine völkerrechtswirksame Anerkennung seines das vorbeugende Selbstverteidigungsrecht erweiternden Inhalts noch zu selten rekurriert. Die jüngeren Völkerrechtsentwicklungen, welchen auch tendenziell höheres Gewicht bei der Rechtmäßigkeitsbewertung zukommt, deuten aber ebenso wie das flexible Verhältnismäßigkeitsverständnis des IGH auf eine die relative Imminenztheorie favorisierende entstehende Rechtsauffassung hin. Zukünftig könnte sich durchaus eine deutlich überwiegende Praxis hierzu einstellen und damit die Kreß’sche Gewichtungsregel (2) in Ansehung der relativen Imminenztheorie erfüllt werden.

„Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“1 „There can be no peace without law.“2

Teil 4

Abschluss der Untersuchung 9. Kapitel

Zusammenfassung und Ausblick A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit Diese Arbeit leitete folgende Thesen her: Die Ermittlung des völkerrechtlichen Besitzstandes kann nur aus dem Völkerrecht selbst und mit Hilfe seiner Methodik, nicht aber aus anderen Feldern wie z. B. der Politik gelingen. Deshalb gibt es aus der Perspektive des Völkerrechts nur legale oder illegale, niemals aber legitime Gewaltanwendung. In der Völkerrechtswissenschaft existiert weder eine eindeutige noch eine einheitliche Terminologie zur Darstellung verschiedener Ausprägungen von vorbeugender Selbstverteidigung. Daher ist eine natürliche Betrachtungsweise orientiert am Wortlaut des Begriffs vorzunehmen, wonach unter vorbeugender Selbstverteidigung ganz allgemein die Gewaltanwendung gegen einen nicht manifestierten Schadensauslöser zur Verhinderung eines bei ungehindertem Geschehensablauf durch dessen Gewalt verursachten Schadens zu verstehen ist. Vorbeugende Selbstverteidigung umfasst daher gleichermaßen Aspekte von Selbstverteidigung i. e. S. und von völkerrechtlichem Notstand. Als Sonderfall von unbestritten zulässiger reaktiver Selbstverteidigung unterscheidet sich vorbeugende Selbstverteidigung von ihr ausschließlich anhand des Merkmals der Vorbeugung. Zugleich ist Anknüpfungspunkt jeder denkbaren Selbstverteidigungslage ein schadenskausales Ereignis. Entscheidend für die Beantwortung der Fragen zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung ist daher, ob die Umstände eines eine Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses im Vergleich von reaktiver und vorbeugender Selbstverteidigung unterschiedlich sein können.

1



2

Albert Einstein. Dwight D. Eisenhower, zit. nach Deiseroth, Rolle des Völkerrechts, in: Stärke des Rechts gegen Recht des Stärkeren, S. 251 ff. (273).

A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit

447

Zur Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung existiert eine Vielzahl von teilweise sich widersprechenden und teilweise sich ergänzenden Theorien. Diese lassen sich grob in anwendungsbereichsspezifische und ereignisspezi­fische Theorien unterteilen. Die anwendungsbereichsspezifischen Theorien bejahen stets die Legalität auch vorbeugender Gewaltanwendung, indem sie den Anwendungsbereich des Gewaltverbots für bestimmte Fälle als nicht eröffnet ansehen. Dagegen bejahen die ereignisspezifischen Theorien den Anwendungsbereich des Gewaltverbots ohne Ausnahme und knüpfen dann in einem weiteren Schritt zur Ermittlung der Legalität vorbeugender Selbstverteidigung an das eine Selbstverteidigungslage auslösende Ereignis an. Nur die ereignisspezifischen Theorien sind überhaupt völkerrechtlich vertretbar und können daher bei der Rechtsermittlung allein Beachtung finden. Innerhalb der ereignisspezifischen Theorien werden zeitpunktorientierte und wahrscheinlichkeitsorientierte Ansätze vertreten. Dabei stellen die zeitpunktorientierten Theorien auf das sichere zukünftige Eintreten eines dann eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösenden Ereignisses ab, während die wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien als Maßstab die Wahrscheinlichkeit des gegenwärtig möglichen Eintritts eines entsprechenden Ereignisses anlegen. Beide Varianten widersprechen sich nicht notwendigerweise; sie können für jeden Einzelfall alternativ, nicht aber kumulativ zur Überprüfung einer Selbstverteidigungslage herangezogen werden. Ausgehend von dem gemeinsamen Ursprung der ausschließlich reaktive Selbstverteidigung zulassenden Ansicht – hier Gegenwärtigkeitstheorie genannt – sind Abweichungen in zwei Ebenen möglich, nämlich zum einen hinsichtlich Zeitpunkt und zum anderen hinsichtlich Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schadenskausalen Ereignisses. Auf Zeitebene sind die absolute und relative Imminenztheorie sowie auf Wahrscheinlichkeitsebene die Evidenz-, Indikations- und Latenztheorie nicht grundsätzlich unvertretbar. Ausgehend davon wird vorbeugende Selbstverteidigung als ultima ratio nach Ansicht der jeweiligen Theorien­ befürworter für rechtmäßig erachtet: •• nach der absoluten Imminenztheorie, wenn bei ungehindertem Geschehens­ ablauf in naher Zukunft ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde; •• nach der relativen Imminenztheorie, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in absehbarer Zeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis sicher eintreten würde, wobei der frühestmögliche Zeitpunkt einer darauf beruhenden vorbeugenden Selbstverteidigungshandlung in abgestuftem Verhältnis zu dem Schädigungsausmaß des auslösenden Ereignisses zu bestimmen ist; •• nach der Evidenztheorie, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine reaktive Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis mit sich auf­drängend hoher Wahrscheinlichkeit eintreten könnte;

448

9. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick

•• nach der Indikationstheorie, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintreten könnte, wobei die Wahrscheinlichkeit auf Grund vorheriger Geschehnisse, die einen indikationsspezifischen Verknüpfungszusammenhang begründen, indiziert sein muss; •• nach der Latenztheorie, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf jederzeit ein eine Selbstverteidigungslage auslösendes Ereignis auf Grund einer latenten Gefahr eintreten könnte. Die nicht grundsätzlich unvertretbaren Theorien zu vorbeugender Selbstverteidigung bilden den Prüfungsrahmen am Maßstab des geltenden Völkerrechts. Diesem liegen gemeinsam die beiden Fragen zu Grunde, ob [F1] und ggf. zu welchem Ausmaß [F2] vorbeugende Selbstverteidigung tatsächlich rechtmäßig sein kann. Folglich hatte sich die Rechtsermittlung nur auf diese beiden Fragestellungen zu beschränken. Die für eine Rechtsermittlung relevanten Rechtsquellen sind vorrangig das Völkervertrags- und das Völkergewohnheitsrecht, subsidiär hingegen nur allgemeine Rechtsgrundsätze. Die relevanten Fragestellungen mussten sich daher an dem aus den beiden ersteren Quellen entsprungenen Recht messen lassen. Im Falle von Selbstverteidigung ist sämtliches seit dem 19. Jahrhundert entwickeltes Recht beachtlich. Gegenwärtig ist bei einer Rechtsermittlung aber stets an Art. 51 SVN als vorrangige vertragsrechtliche Regelung zur Selbstverteidigung anzuknüpfen. Die wichtigste Zäsur in der Rechtsentwicklung beschrieb das durch die Gründung der Vereinten Nationen eingeleitete moderne Völkerrecht mit universellem Gewaltverbot. Unabhängig vom VN-Völkerrecht war das Recht der Selbstverteidigung aber auch zuvor beachtlich und als gleichwertiges Recht einzustufen; dem steht insbesondere nicht das vorherige Fehlen eines allgemeinen Gewaltverbots entgegen. Prägend für das völkerrechtliche Verständnis auch vor Gründung der Vereinten Nationen war der Rechtsinhalt der diplomatischen Korrespondenz zum Caroline-Vorfall von 1837. Die Auslegung von Art. 51 SVN richtet sich nach den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln zur Vertragsauslegung ausgehend von einem textorientierten Ansatz. Dazu gehört auch, dass bei einem Vertrag mit mehreren autorita­tiven Sprachfassungen – wie es die SVN ist – sämtliche Versionen gleichermaßen zu beachten sind. Hinsichtlich der Fragestellungen zu vorbeugender Selbstverteidigung führte die Wortlautanalyse der fünf autoritativen Sprachfassungen von Art. 51 SVN zu divergierenden Ergebnissen; diese Divergenzen mussten im Wege der Auslegung bereinigt werden. Die entscheidenden Formulierungen der fünf Sprachfassungen von Art. 51 SVN lassen die Beantwortung von [F1] und [F2] über einen unmittelbaren und einen mittelbaren Ansatz zu. Als unmittelbar wird der Ansatz verstanden, welcher den Schlüsselbegriff zum Auslöservorbehalt einer Selbstverteidigungslage aus Art. 51

A. Thesen und Ergebnis dieser Arbeit

449

SVN aufgreift (z. B. englisch: „occurs“). Dieser kann grundsätzlich ein neues Recht zu vorbeugender Selbstverteidigung begründen oder aber ein solches explizit ausschließen. Als mittelbar wird der Ansatz verstanden, welcher sich auf den aus Art. 51 SVN ermittelten Schlüsselbegriff zu den Eigenschaften des vertrag­ lichen Selbstverteidigungsrechts bezieht (z. B. englisch: „inherent right“) und damit das vor In-Kraft-Treten der SVN gültige Selbstverteidigungsrecht fortgelten lassen kann. Nach dem unmittelbaren Ansatz ist vorbeugende Selbstverteidigung jedenfalls nicht illegal, sodass eine positive Beantwortung von [F1] als gut vertretbar erscheint. Der mittelbare Ansatz bejaht zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinten Nationen die grundsätzliche Rechtmäßigkeit vorbeugender Selbstverteidigung unter Einbeziehung des zuvor gültigen Rechts (unabhängig von der Frage, ob es nunmehr mit Art.  51 SVN koexistiert oder mit ihm identisch ist) und definiert ihr Ausmaß alternativ anhand der absoluten Imminenz-, Evidenz- und Indika­ tionstheorie. Die seit Gründung der Vereinten Nationen zu verzeichnende Staatenpraxis im Hinblick auf vorbeugende Selbstverteidigung ist gleichermaßen als Fortentwicklung des Völkergewohnheitsrechts wie auch als spätere Praxis in Ansehung von Art. 51 SVN zu verstehen und gleichermaßen relevant. Bei der Analyse späterer Praxis eines Vertrags ist zwischen auslegungskon­ kretisierender und vertragsgestaltender Praxis zu unterscheiden. Auslegungskonkretisierende Praxis i. S. v. verbindlicher Auslegung nach Art. 31 (3) lit. b WVK liegt bereits bei übereinstimmender Praxis vor, während Vertragsgestaltung nur bei Einvernehmlichkeit, d. h. ausnahmslos auf völkerrechtlich relevantem Verhalten beruhender Rechtsüberzeugung, angenommen werden kann. Übereinstimmende Praxis ist relativ zu verstehen und setzt an die Einheitlichkeit ihres Auftretens geringere Anforderungen als die strenge Einvernehmlichkeit. Übereinstimmung lässt sich daher ausgehend von dem zuvor ermittelten Auslegungszwischenergebnis mit Hilfe von drei etablierten Gewichtungsregeln feststellen, anhand derer das Ergebnis der späteren Praxis gemessen wird. Die Staatenpraxis zu vorbeugender Selbstverteidigung nach 1945 bestätigte unter Berücksichtigung der Gewichtungsregeln das Zwischenergebnis der textorientierten Auslegung, dass vorbeugende Selbstverteidigung nach der absoluten Imminenz-, Evidenz- und Indikationstheorie rechtmäßig ist. Dagegen ist Gewaltanwendung nach der Latenztheorie illegal, wohingegen zumindest ein Verbot von vorbeugender Selbstverteidigung nach der relativen Imminenztheorie nicht fest­ gestellt werden konnte. Dieses Ergebnis wird auch von der Rechtsprechung des IGH und den jüngeren Entwicklungen innerhalb der Vereinten Nationen gestützt. Insbesondere die IGHRechtsprechung zeichnet wie auch die Staatenpraxis seit 2001 eine Entwicklung des Völkerrechts auf eine Ausweitung legaler vorbeugender Selbstverteidigung

450

9. Kap.: Zusammenfassung und Ausblick

auch nach der relativen Imminenztheorie vor; gegenwärtig gehört diese jedoch noch nicht zum völkerrechtlichen Besitzstand. Damit ist vorbeugende Selbstverteidigung im Völkerrecht grundsätzlich legal; eine rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigungslage ist alternativ unter den Voraussetzungen der absoluten Imminenztheorie, der Evidenztheorie oder der Indikationstheorie anzunehmen.

B. Schlussbetrachtungen Die in dieser Arbeit zu Grunde gelegte Prämisse, eine völkerrechtliche Antwort auf die Frage zu finden, ob und ggf. wie vorbeugende Selbstverteidigung recht­ mäßig sein kann, führte zu einem überwiegend klaren Ergebnis. Nach den eingangs durchaus realistisch-pessimistischen Einschätzungen auf Grundlage des völkerrechtlich-politisch durchmischten Diskurses zu diesem sensiblen Thema durfte ein solches Ergebnis nicht unbedingt erwartet werden. Es beweist aber, dass es sich weiterhin – oder sogar: mehr denn je! – lohnt, unbeeindruckt und unbeeinflusst von superlegalen Versuchungen schlicht auf die vorhandenen völkerrechtlichen Instrumentarien zurückzugreifen, um so zu rechtlich verwertbaren Ergebnissen zu gelangen. Das konkrete Ergebnis dieser Arbeit soll zu einem besser handhabbaren, weil auf rein völkerrechtlichem Wege hergeleiteten Verständnis von zulässiger vorbeugender Selbstverteidigung beitragen. Weitaus wertvoller und qualitativ höher einzustufen ist aber die darin implizierte Erkenntnis, dass Völkerrecht funktioniert, dass es eine Rechtsordnung mit einer ihr innewohnenden Dogmatik ist und es daher für rechtserhebliche Erkenntnisse keine labilen außerrecht­ lichen, weil bloß auf Legitimitätsaspekten beruhenden Krücken benötigt, auf denen es einzubrechen droht. Ob man das konkrete Ergebnis, dass rechtmäßige vorbeugende Selbstverteidigung überhaupt auf wahrscheinlichkeitsorientierten Erwägungen beruhend angewendet werden darf, für „gerecht“ oder „sinnvoll“ halten will, mag dahin­stehen. Allein gibt das geltende Völkerrecht de lege lata dies vor und ist daher von den Völkerrechtssubjekten hinzunehmen. Ihnen steht es freilich frei, nach den vorgegebenen völkerrechtlichen Instrumentarien dieses Ergebnis de lege ferenda abzuändern. Deshalb darf sich das hier offengelegte Ausmaß der rechtmäßigen Anwendung vorbeugender Selbstverteidigung auch nur als Momentaufnahme des gegenwärtigen völkerrechtlichen Besitzstandes begreifen. Dieser Besitzstand wurde nun im Rahmen des friedenssicherungsrechtlichen Selbstverteidigungsrechts beim Namen genannt. Von zu diesem Besitzstand zweifelhafter Zugehörigkeit ist lediglich die vorbeugend-verteidigende Gewaltanwendung nach der relativen Imminenztheorie. Der Umgang mit ihr wird für die zukünftige Gestaltung des stets progressiven Selbstverteidigungsrechts die nächste wichtige Weichenstellung in der Völkerrechtsent-

B. Schlussbetrachtungen

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wicklung ausmachen. Die Verwendung der hier dargestellten Instrumentarien des Völkerrechts  – zuvörderst die weitere spätere Praxis  – wird darüber richten, ob sich das bislang als sicher rechtmäßig ermittelte Ausmaß vorbeugender Selbstverteidigung im Sinne eines flexibleren Verhältnismäßigkeitsverständnisses weiterentwickelt oder im Gegenteil ein womöglich strengerer Umgang mit den wahrscheinlichkeitsorientierten Theorien einsetzen wird. Der aktuelle Trend scheint ersteres als naheliegend, letzteres als eher fernliegend zu prognostizieren. Unabhängig vom weiteren Fluss des völkerrechtspraktischen Stroms ist zudem nicht auszuschließen – obwohl noch am wenigsten wahrscheinlich –, dass in Art. 51 SVN selbst gestalterisch eingegriffen wird. Ein stimmigerer Wortlaut, der keinen Raum für interlinguale Divergenzen innerhalb der autoritativen Sprachfassungen gibt, könnte dazu beitragen, auch denjenigen, die den nicht immer einfachen Weg einer völkerrechtsdogmatischen Annäherung an den Inhalt des Selbstverteidigungsrechts scheuen, eine komfortablere, weil schon textlich eindeutige Antwort auf die tatsächlich unverändert umstrittenen Fragen zur Selbstverteidigung zu liefern. So könnten politisch aufgeladene und nur zum Schein völkerrechtlich geführte Streitigkeiten von vorneherein – vorbeugend – in ihrem Keim erstickt werden. Solchen vertragsgestalterischen Fortschritten sollte dann auch nicht verschlossen bleiben, ein womöglich differenzierteres Bild von rechtmäßiger und womöglich nur entschuldigter, weil (z. B.) auf Prognosefehlern beruhender, vorbeugender Selbstverteidigung zu zeichnen; eine Darstellung, die das gültige Recht nicht zulässt. Casseses Schuld-Ansatz wäre hier eine taugliche Grundlage für ein feinsinniger aufgezogenes Selbstverteidigungsrecht. Von weiteren Mutmaßungen, vielleicht auch Wünschen,  soll nun aber auch im Rahmen dieses Ausblicks de lege ferenda abgesehen werden. Der Blick für das Friedenssicherungsrecht als Institut zur Verhinderung internationaler Gewalt­ anwendung – und darum geht es immer und vorrangig trotz ständiger Diskussion um zulässige vorbeugende Gewaltanwendung – hat als Grundlage jedes ernsthaften Diskurses stets ungetrübt zu bleiben. Der Nachweis des völkerrechtlich validen Ausmaßes rechtmäßiger vorbeugender Selbstverteidigung darf keinesfalls dazu missbraucht werden, die ebenfalls dargelegten strengen Tatbestandsvoraussetzungen einer jeden vorbeugenden Selbstverteidigungslage zu übergehen. Dies käme wiederum einer Marginalisierung des Völkerrechts gleich, welche ihrerseits – im Sinne Eisenhowers – rechtswidrig, aber auch – im Sinne Einsteins – zweckwidrig wäre. Vorbeugende Selbstverteidigung ist rechtmäßig, aber lediglich und ausschließlich nach den Vorgaben des Völkerrechts.

Summary: Preventive Self-Defence in International Law I. This thesis aims at ascertaining the legality and scope of preventive self-defence under international law. Before turning to the decisive legal aspects of the issue, it is crucial to delineate the general framework of the analysis. At the outset, it should be noted first that the addressed subject is the legality of preventive self-defence, not its legitimacy. Thus, the analysis at hand deals with the existing international law – lex lata – and its underlying methodology only. Political arguments – mostly those of lex ferenda – are beyond its purview. Second, in order to encompass all conceivable aspects of the academic debate, a rather broad, natural understanding of the words “preventive” and “self-defence” lends itself as the safe and obvious starting point to the course of the study. Such an approach readily finds legal support in the ordinary meaning rule as established in customary international law and further laid down in Art. 31 (1) Vienna Convention on the Law of Treaties (VCLT hereinafter). Before this backdrop, “preventive self-defence” is to be understood as the use of force directed against an inchoate trigger of harm in order to stop it from unfolding into an event causing actual harm if unchecked. II. Before delving into the academic debate, it needs to be stressed that no common terminology on the meaning and the content of preventive self-defence exists. This makes it impossible to build on a settled terminology for limiting the natural understanding of preventive self-defence. Within the current academic debate, many different terms are used to describe aspects of the defensive use of force before a harmful event has actually occurred, inter alia “preventive self-defence”, “preemptive self-defence”, “anticipatory self-defence”, “interceptive self-defence” or even “necessity”. The meaning of all these terms invariably depends on the respective definition, assumed or given by each scholar as to the scope of self-defence or its alleged legality or illegality under the prevailing circumstances. The definitions behind these terms are sometimes inconsistent, or even contradictory. Grounding the academic debate on purportedly agreed terms would be illusionary. In order to overcome this shortcoming, as well as to encompass all conceivable and pertinent aspects of preventive self-defence  – including “(state of)  necessity”, sometimes treated as a distinct concept –, the natural understanding of preventive self-defence as set out above equally constitutes the appropriate legal standard. It is reiterated

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that this is based on the ordinary meaning rule. Thus, what needs to be put on thorough academic scrutiny is content, not terminology. “Preventive self-defence” has been chosen as the neutral descriptor in this respect, although it is conceded that it may already be associated with specific usages in English-language scholarship. In the given context, it stands for the verbatim translation of the German expression “vorbeugende Selbstverteidigung”, in itself a fully neutral term. The legality of reactive self-defence (i. e. use of force after a harmful event has actually occurred) is generally accepted. Moreover, the aspect of prevention is the only distinctive criterion to tell reactive and preventive self-defence from another. Therefore, it is this point that must be studied foremost, building on the common requirements of both kinds of self-defence. Among these key requirements are its subsidiarity vis-à-vis collective measures of the UN Security Council and its character as a measure of ultima ratio. Both are undisputed cornerstones for any conceivable instance of self-defence. On a closer view, an event causing harm emerges as the common denominator to all states of self-defence – be it reactive or preventive. Thus, the linchpin in judging the legality of preventive self-defence is whether the circumstances of such a triggering event can be different from those underlying scenarios of reactive self-defence. In the current legal debate, however, there are several theories covering not only this key question. The existing approaches can be grouped into applicability-specific and event-specific theories. The former simply hold the prohibition on the use of force inapplicable in certain cases and thus conclude preventive self-defence to be legal as well. In contrast, the latter rightly maintain the unconditional prohibition on the use of force and rather focus on the event triggering a state of self-defence. The applicability-specific theories can be dismissed quickly. They fail to acknowledge the core element of contemporary international law. Little persuasive as they are, they are not pursued further in the course of the study. The event-specific theories are, however, consonant with the system of modern international law and must be taken into account. Among all the event-specific theories, certain ones rule out preventive self-defence by limiting it to cases in which a harmful event in fact has occurred. These approaches are jointly referred to as the theory of presence in this study. Proceeding from this most restrictive point of view, modifications are possible in two dimensions, i. e. in respect of the point in time or the probability of the event triggering a state of self-defence. In order to systematize the spectrum of conceivable scholarly opinions, their specific content is assigned to one of the theories used in this thesis. It is remarked, though, that the time-based approach and the probability-based approach underlying theories listed in the following are not mutually exclusive. Both approaches are conceivable bases for preventive self-defence but cannot be combined. In other words, a concrete case must be assessed separately under either temporal or probabilistic aspects. Blending temporal and probabilistic approaches would lead to a twofold uncertainty, since the use of force can never be

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ultima ratio in a situation where there is a slight probability that a harmful event might occur at some point in the future. As to the aspect of time the theories of absolute and relative imminence are not obviously untenable, while in terms of probability the theories of obviousness, indication and latency are not obviously untenable. Pursuant to the scholars advocating the mentioned theories, preventive self-defence would be legal: •• according to the theory of absolute imminence, if an event triggering  a state of reactive self-defence will definitively occur in the near future if unchecked; •• according to the theory of relative imminence, if an event triggering a state of reactive self-defence will definitively occur in the foreseeable future if unchecked, with the further qualification that the earliest permissible moment of acting in preventive self-defence must be put in relation to the harm otherwise resulting – i. e. the more potentially harmful the event, the earlier the use of force becomes permissible; •• according to the theory of obviousness, if the probability of an event triggering a state of reactive self-defence to occur instantly is obviously high if unchecked; •• according to the theory of indication, if the probability of an event triggering a state of reactive self-defence to occur instantly is sufficient, as indicated by a prior record of events sufficiently reliable to establish an “indicative nexus”, if unchecked; •• according to the theory of latency, if an event triggering a state of reactive selfdefence just might occur instantly because of a latent danger if unchecked. III. All of these theories do not obviously violate current international law. They therefore serve to sketch out the promising lines for the further course of the study. These tenets will yield the answers to the two guiding questions of the present thesis: if preventive self-defence can be permissible in the first place, and in the affirmative, to what extent. To that end, international treaty law as well as customary international law are taken into account primarily; general principles of law constitute a subsidiary source only. For self-defence, any emanation of international law from the beginning of the 19th century to the present time has potential relevance, notwithstanding pre-eminent Art. 51 of the UN Charter. In generally, the prohibition on the use of force as reflected by the UN Charter is considered the central turning point in the development of modern international law. Nevertheless, a legally binding rule on self-defence had come into existence before, and had not been weakened or compromised by the absence of a prohibition to use force. Turn-

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ing a blind eye upon these rules, most prominently those deduced from the Caroline incident 1837 and the following diplomatic correspondence, would hence unduly abridge the analysis. Art. 51 UN Charter has to be interpreted according to the general international rules of treaty interpretation as set out in customary international law and confirmed by the VCLT. In accordance with these, guidance should primarily been drawn from the text of the treaty, i. e. the text of Art. 51 UN Charter. Art. 111 of the UN Charter provides that the Charter is authoritative in five different languages – English, French, Spanish, Russian and Chinese. Consequently, all these languages must be accorded equal weight in the process of interpretation. The applicable customary rules are identical to those laid down in Art. 33 (3), (4) VCLT. They presume all texts to be equal in meaning to ensure uniform interpretation; this presumption however can be disproved by evidence of divergences among the texts in the authoritative languages. Divergences need to be dissolved by prior interpretation of themselves, with preponderance awarded to the teleological approach in case of uncertain interpretation results. The “presumption of equal meaning” concededly raises doubts as a matter of principle at least concerning the UN Charter because all five authoritative languages represent highly disparate and, arguably, at times adverse cultural backgrounds. Nonetheless, certain divergences as to the legality of preventive self-defence can indeed be proved. These divergences surface within two key terms for preventive self-defence in each language version, namely firstly a key term entrenching a reservation to trigger a state of self-defence (cf. “occurs” in the English version), and secondly another key term that may constitute a specific legal feature of self-defence (English: “inherent right”). The interpretation of the language versions of the first key term is here understood as a “direct approach”. If the inter-linguistic interpretation of these versions results into a prohibition of preventive self-defence, further approaches are barred by the priority of the express wording of Art. 51 UN Charter. If such a prohibition cannot be proved, the interpretation of the language versions of the latter key term (“inherent right”) allows inferences on the issue of legality of preventive self-defence from the pre-Charter law on self-defence. This necessitates going beyond the Charter wording and before its drafting time and is therefore considered to be an “indirect approach”. The analysis under the direct approach intimates that the divergences among the distinctive key terms tend to support a permissive rather than a prohibitive understanding. Accordingly, preventive self-defence falls within the scope of Art. 51 UN Charter. Furthermore, the indirect approach yields evidence that preventive selfdefence was legal under the theories of absolute imminence, obviousness and indication at the time of founding the United Nations. This can be inferred from the pre-existing law on self-defence. This state of the law was recognised and referred to by the key terms for “inherent right” as employed by the five UN Charter language versions. This is notwithstanding of whether that right may coexist or be identical with the one under Art. 51 UN Charter.

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Based on the foregoing, a further analysis of the state practice after the adoption of Art. 51 UN Charter allows to draw safe conclusions. Such a step must distinguish practice simply affirming or clarifying previous interpretations on the one hand from practice essentially redrafting the content of the treaty provision itself on the other hand. Whereas consensus (i. e. silence means consent) easily satisfies the first meaning, the latter requires nothing short of unanimity (i. e. at least some kind of affirmative behaviour with legal relevance by every state). Evidence to that effect is not on the record. However, corresponding subsequent practice has weight for assessing the findings from the founding time of the United Nations. There­ after,  a practice changing slightly before varying historical and political backgrounds could be witnessed. It did not stray decisively from what had emerged before, though. It thus is fair to conclude that preventive self-defence is legal if covered by either of the theories of absolute imminence, of obviousness or of indication. Moreover, the use of force under the theory of latency has been proved to be definitely illegal. It could also be established that the theory of relative imminence has gained acceptance but has not yet fully met with legal recognition. IV. In sum, it has been argued that preventive self-defence is legal if an event triggering a state of reactive self-defence (1.) will definitively occur in the near future if unchecked, or (2.) could occur instantly with obviously high probability if unchecked, or (3.) could occur instantly with sufficient probability, as indicated by a prior record of events sufficiently reliable to establish an “indicative nexus”, if unchecked.

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Personen- und Sachregister 11. September 2001  86, 184, 394–413

Erforderlichkeit siehe ultima-ratio-Prinzip

Abkommen siehe Verträge accumulation of events  110, 146, 176, 201– 202, 365, 368, 383, 387, 434, 439, 440 Aggressionsdefinition siehe  Definition of Aggression Annan, Kofi  35, 59, 157, 441, 443 Antizipation siehe Selbstverteidigung, antizipatorische Aquin, Thomas von  203 Aristoteles  203 Ashburton, Lord  259, 264, 265 Atomwaffengutachten (IGH)  170, 431–433, 440 Augustinus  203

failed states  151 Feindstaaten  157, 189–191, 194 Forsyth, John  259–260 Fox, Henry S.  259–260 Friedenssicherungsrecht siehe ius ad bellum Friendly Relations Declaration  97, 152, 441

Baring, Alexander siehe Ashburton, Lord bellum iustum  50, 203–208, 229 Benachrichtigung (des Sicherheitsrats) siehe Sicherheitsratsbenachrichtigung bewaffneter Angriff siehe Selbstverteidigung, Auslöser Breschnew-Doktrin  154 Briand, Aristide  244 Bush, George H.W.  391 Bush, George W.  31, 51, 56, 181, 183–184, 192–193, 195, 197, 230, 395, 410 Bush-Doktrin  55, 181, 184–198, 194, 196, 394, 398, 408–411 Caroline-Vorfall siehe Webster-Formel Clinton, Bill  192, 391 Definition of Aggression 97, 107, 125, 441 Divergenzen siehe Sprachfassung Drohung siehe Gewalt, Androhung Eden, Anthony  365 Einvernehmlichkeit siehe spätere Praxis Ereignis siehe Selbstverteidigung, Auslöser

Gabčíkovo-Nagymaros-Fall (IGH)  431–432, 437, 440 gerechter Krieg siehe bellum iustum Geschichte  236–286, 361–412 Gewalt –– Androhung  126–132 –– Gewaltverbot  91–101 Grotius, Hugo  50, 204–208 Howard, John  399, 401 Israeli Wall siehe Mauerbau-Gutachten (IGH) ius ad bellum  50, 99–100, 105, 116, 133, 140, 146, 189, 202, 204, 231, 358–359, 384, 386 ius cogens  93, 95, 150, 156, 328, 350, 353 ius contra bellum siehe ius ad bellum ius in bello  99–100, 105, 116, 121–122, 133, 139–140, 204, 280, 384 Kant, Immanuel  190 Kausalität siehe Schadenskausalität Kellogg, Frank B.  244 Kennedy, John F.  370 kollektive Sicherheit  34, 50, 92, 104, 152, 163, 182, 207, 316, 318, 325, 338, 370, 374, 404–405 Konfliktsvölkerrecht siehe ius in bello Kongo-Uganda-Fall (IGH)  439–440 Korfu-Kanal-Fall (IGH)  427–428 Krieg gegen den Terror  100, 152, 196, 394, 401–402, 411

488

Personen- und Sachregister

Legalität und Legitimität  38–41, 92, 141, 150–151, 174, 197, 210–211, 230–231, 233, 297, 359 Libyen/Malta-Festlandsockel-Fall (IGH)  224 Linguistik  96, 289–314, 329–333 Maßnahmen kollektiver Sicherheit siehe kollektive Sicherheit Mauerbau-Gutachten (IGH)  435–437 Mavrommatis-Konzessionen-Fall (StIGH)  309 Monroe, James  254–255 Monroe-Doktrin  254–255, 264, 268 Namibia-Gutachten (IGH)  349–351 Napoleon  252 Nicaragua-Fall (IGH) 97, 107–108, 167, 325–326, 429, 431 Nordsee-Festlandsockel-Fall (IGH)  226–227 Notstand siehe  Selbstverteidigung, Abgrenzung zu Notstand –– Defensivnotstand  86–88 Notwendigkeit siehe ultima-ratio-Prinzip Nürnberger Prozesse  282–284 Obama, Barack  100, 195, 197 Obama-Doktrin siehe  Sicherheitsstrategie, NSS 2010 Ölplattform-Fall (IGH)  109, 153, 325, 433– 435, 440 Operation Catapult  277–280 Operation Enduring Freedom  395–397 Operation Iraqui Freedom  402–404 Operation Just Cause  389–391 Operation Orchard  415–416 Operation Wilfred  277 Ostverträge-Entscheidung (BVerfG)  291 Paria-Staaten siehe Schurkenstaaten Politik und Völkerrecht siehe  Legalität und Legitimität Powell, Colin  403 Präemption siehe  Selbstverteidigung, prä­ emptive Prävention siehe  Selbstverteidigung, prä­ ventive Präventivkrieg  50–52, 60 Praxis siehe spätere Praxis

Pufendorf, Samuel  205 Rawls, John  191–194 Reagan, Ronald  182 Reparation for injuries-Fall (IGH)  346, 348 Resolution –– 23/107 (US-Kongress)  395 –– 36/27 (Generalversammlung)  381 –– 38/7 (Generalversammlung)  385 –– 41/38 (Generalversammlung)  388 –– 60/1 (Generalversammlung)  441, 444 –– 80 (Sicherheitsrat)  363 –– 188 (Sicherheitsrat)  372 –– 242 (Sicherheitsrat)  376 –– 268 (Sicherheitsrat)  377 –– 273 (Sicherheitsrat)  377 –– 275 (Sicherheitsrat)  377 –– 479 (Sicherheitsrat)  379 –– 487 (Sicherheitsrat)  381 –– 490 (Sicherheitsrat)  383 –– 508, 509 (Sicherheitsrat)  383 –– 517–520 (Sicherheitsrat)  383 –– 567–580 (Sicherheitsrat)  389 –– 573 (Sicherheitsrat)  386 –– 678 (Sicherheitsrat)  403 –– 687 (Sicherheitsrat)  403 –– 930 (OAS)  417 –– 1368 (Sicherheitsrat)  86, 435 –– 1373 (Sicherheitsrat)  398, 435 –– 1441 (Sicherheitsrat)  403 –– 2625 (Generalversammlung) siehe Friendly Relations Declaration –– 3314 (Generalversammlung) siehe Definition of Aggression –– ES-7/9 (Generalversammlung)  384 rogue states siehe Schurkenstaaten Saavedra Lamas, Carlos  245 Schadenskausalität  109–110, 129, 199, 279, 304, 443 Schuld  94, 208–210 Schurkenstaaten  71, 151, 185–194, 196, 198, 398 Selbstverteidigung –– Abgrenzung zu Notstand  82–87 –– antizipatorische  51, 61–63, 66, 436 –– Auslöser  106–111, 137, 162–166, 215 –– direktional  32, 86, 116

Personen- und Sachregister –– Handlung  116–122, 130, 142 –– Lage  42, 105–111, 129, 138–139, 146, 175, 199, 215 –– präemptive  55–62, 64–65, 68, 70–71, 184, 408 –– präventive  53–56, 61, 63, 70 –– reaktive  33, 90–146, 162, 175, 199, 215 –– vorbeugende (Begriff)  33–34, 88 Shultz-Doktrin  182 Sicherheitsrat 30, 34, 36, 40, 50, 86, 104, 115, 119, 124, 151, 168, 218, 314, 318, 321, 325, 333, 349, 362, 364, 367, 369, 370–374, 377–379, 381, 383, 386–387, 389–391, 396, 398, 403–404, 413, 416, 426, 442, 444 Sicherheitsratsbenachrichtigung  321, 333 Sicherheitsstrategie –– australische 2007  399 –– britische 2010  421 –– europäische 2003/2008  406–408 –– französische 2003  400 –– japanische 2010  400 –– NATO 2003  406 –– NATO 2010  421–423 –– NSS 2002  192–194, 398 –– NSS 2006  185, 408 –– NSS 2010  195–198, 412 spätere Praxis –– Einvernehmlichkeit  351–358, 449 –– Übereinstimmung (nach Gewichtungsregeln)  359 –– Vertragsauslegung  347 –– Vertragsgestaltung  350 –– Völkergewohnheitsrecht  354 Spiegelbildvermutung  122 Sprachfassung (SVN) –– chinesisch  299 –– Divergenzen  291, 293, 300, 302, 304– 305, 451 –– englisch  295 –– französisch  296 –– russisch  298 –– spanisch  297 Stresemann, Gustav  242 System kollektiver Sicherheit siehe  kollektive Sicherheit Terrorismus  60, 66, 71, 73, 79, 151–152, 174–176, 178, 180, 184, 188–189, 192–

489

194, 196, 198–199, 324, 376, 378, 382– 383, 385–386, 388, 391–392, 394, 413, 416, 418, 420, 424, 435 Theorien –– absolute Imminenztheorie  165–168, 263, 267, 275, 277, 283, 286, 341, 366, 389, 393, 423–424, 442–444 –– Desuetudo-Theorie  149 –– eingeschränkt-vertragsvorrangige Koexistenztheorie  324–326, 337 –– Evidenztheorie  171–173, 360, 424, 444 –– Gegenwärtigkeitstheorie  162–164, 216, 316, 323, 363, 367, 369 –– geringfügigkeitsbedingte Ausschlusstheorie  153 –– Identitätstheorie  326–329, 337 –– Indikationstheorie  173–179, 238–239, 241, 244, 255, 267, 271–272, 275, 280–281, 283, 286, 341, 363, 366, 368–369, 372– 374, 384, 386, 397, 412, 417, 420, 423– 424, 424 –– Latenztheorie  179–181, 237, 239, 244, 264, 276, 280, 287, 341, 371, 374, 377– 378, 389, 391–393, 398, 400–402, 404, 408, 411–412, 414–415, 442–444 –– relative Imminenztheorie  168–170, 253, 287, 341, 382, 396–397, 405, 423–424, 431, 433, 440, 445 –– streng-vertragsvorrangige Koexistenztheorie  322–324, 336 –– Verdrängungstheorie  321, 336 –– vertragsbedingte Ausschlusstheorie  154 –– zweckbedingte Ausschlusstheorie  150 Tokioter Prozesse  286 ultima-ratio-Prinzip  113–114, 117, 138, 160, 168, 188, 205, 244, 263, 314 Unternehmen Weserübung  282 Verträge –– Abkommen von Nyon  247 –– Akte von Chapultepec  249, 339 –– Akte von Havanna  248 –– Antarktisvertrag  303 –– Antarktis-Vertrag  339 –– ANZUS-Vertrag  339 –– Arabische Liga (Zusammenarbeit)  339 –– Beistandsverträge  237–239

490 –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Personen- und Sachregister

Briand-Kellogg-Pakt  244–246, 273, 284 Brüsseler Vertrag  339 Deklaration von Panama  248 ECOWAS-Vertrag  340 EU-Vertrag  155 Gabčíkovo-Nagymaros-Vertrag  431 Genfer Protokoll  241 IGH-Statut  218–219, 224, 227 IStGH-Statut  31, 303 Konventionen über Aggressionsdefinition  246 Locarno-Vertragswerk  242–244 Nordatlantikvertrag  339, 422 Rio-Vertrag  339 Saavedra-Lamas-Pakt  245 Satzung des Völkerbundes  240–241, 271, 273, 276 Seerechtsübereinkommen  260, 340, 426

–– –– –– –– –– –– –– ––

StIGH-Statut  218 Vertrag von Tilsit  252 Vertrag von Versailles  240, 243 Warschauer Pakt  155 Webster-Ashburton-Treaty  259 Weltraum-Vertrag  340 WEU-Vertrag  339 Wiener Vertragsrechtskonvention  31, 150, 156, 224, 225, 294, 301, 319, 337, 338, 350, 354, 356, 357

Walzer, Michael  208 war on terror siehe Krieg gegen den Terror Webster, Daniel  186, 259, 261–266 Webster-Formel  76, 166, 169, 179, 186, 259–268, 274–275, 279, 282–283, 285, 287, 371, 379, 379–382, 387–388, 423 Weserübung siehe Unternehmen Weserübung