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German Pages 367 [368] Year 1989
Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache
Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert Herausgegeben von Dieter Cherubim und Klaus J. Mattheier
w DE
G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989
CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache : sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert / hrsg. von Dieter Cherubim u. Klaus J. Mattheier. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011349-X NE: Cherubim, Dieter [Hrsg.]
©
1989 by Walter de Gruyter &c Co., Berlin 30. Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg Buchbinder: Lüderitz & Bauer, Berlin
Inhalt
Vorwort
1
P E T E R VON POLENZ
Das 19. Jahrhundert als sprachgeschichtliches Periodisierungsproblem . . .
11
JOACHIM SCHILDT
Sprache und Sozialgeschichte. Aspekte ihrer Wechselwirkung im 19. Jahrhundert
31
JÜRGEN REULECKE
Verstädterung und Binnenwanderung als Faktoren soziokommunikativen Wandels im 19. Jahrhundert
43
ULRICH E N G E L H A R D T
Das deutsche Bildungsbürgertum im Jahrhundert der Nationalsprachenbildung
57
B E R N D NAUMANN
Die Differenzierung gesprochener und geschriebener Sprachformen des Deutschen in sprachwissenschaftlichen Arbeiten vor und nach 1800
73
KLAUS J . M A T T H E I E R
Die soziokommunikative Situation der Arbeiter im 19. Jahrhundert
93
KARLHEINZ J A K O B
Technische Innovation und Sprachwandel im 19. Jahrhundert. Arbeitsbericht
109
B R I G I T T E SCHLIEBEN-LANGE
Wissenschaftssprache und Alltagssprache um 1800
123
D I E T E R CHERUBIM
Sprachverderber oder Sprachförderer? Zur Sprache der Institutionen im 19. Jahrhundert
139
VI
Inhalt
WALTHER DIECKMANN
Explizit-performative Formeln als Sprachfigur in preußischen Erlassen des 19. Jahrhunderts GEORG
177
OBJARTEL
Akademikersprache im 19. Jahrhundert. Auch als Beitrag zur Erforschung von Vereinssprachen 197 ISA S C H I K O R S K Y
Zum sprachlichen Alltag „kleiner Leute". Privattexte als Gegenstand der Sprachgeschichte
229
WILHELM VESPER
Die Bedeutung des Sprachunterrichts für die Entwicklung der deutschen Standardsprache im 19. Jahrhundert 245 W E R N E R NEUMANN
Gegenstandsreflexion und gesellschaftliche Wirklichkeit in der deutschen Sprachwissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts 259 KLAUS J .
MATTHEIER
Sprache und Sprachgebrauch im Industriebetrieb des 19. Jahrhunderts. Bericht über ein laufendes Forschungsprojekt
273
SIEGFRIED G R O S S E
Sprachwandel und Sprachwachstum im Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 281 HELMUT HENNE
Studentenlied im 19. Jahrhundert. Bericht über ein Forschungsprojekt . . . 297 MANFRED GÖRLACH
Zur englischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts
303
EDGAR RADTKE
Konvergenzen und Divergenzen in der Geschichte europäischer Nationalsprachen im 19. Jahrhundert: Ausgewählte Aspekte der französischen und italienischen Sprachgeschichtsschreibung 315 H E R B E R T BLUME
Zur Entwicklung der nordgermanischen Sprachen im 19. Jahrhundert. Ein Überblick
333
Register
353
Vorwort
Der Sammelband, der hier vorgelegt wird, enthält die überarbeiteten Vorträge eines Expertenkolloquiums zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts, das auf Anregung und unter Leitung von Dieter Cherubim (Göttingen), Siegfried Grosse (Bochum) und Klaus J. Mattheier (Heidelberg) vom 26. bis 29. November 1986 in Bad Homburg stattfand. An diesem Kolloquium nahmen 31 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teil, die vorwiegend aus der Bundesrepublik Deutschland, aber auch aus der Deutschen Demokratischen Republik, Österreich, der Schweiz und Frankreich kamen. Neben Historikern und Kulturwissenschaftlern waren es Germanisten, Anglisten, Romanisten und Skandinavisten, die insgesamt 22 Vorträge hielten und diskutierten. 20 von ihnen kommen hier zum Abdruck. Die Ausrichtung der Tagung lag in den Händen der WernerReimers-Stiftung, der dafür besonderer Dank gebührt. 1 Das Interesse an einem wissenschaftlichen Gespräch zwischen Sprachhistorikern und Sozialhistorikern, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen, war und ist mehrfach begründet: (1) Die sprachhistorische Aufarbeitung des Deutschen ist ebenso wie die anderer europäischer Nationalsprache bisher noch nicht systematisch in Angriff genommen worden. Für das Deutsche lassen sich dafür mehrere Gründe nennen: - das dominierende Interesse der historischen Sprachwissenschaft an den älteren und ältesten Perioden, ein Relikt aus der Frühgeschichte von Germanistik und Indogermanistik, das sich gehalten hatte, obwohl die Programmatiker der junggrammatischen Schule sich bereits für eine Orientierung am sprachlichen „Leben" der Gegenwart aussprachen; 2 1
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Vgl. auch Dieter Cherubim/Georg Objartel, Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert. Kolloquium in Bad Homburg, 26. bis 29. November 1986. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 15.1987, 3 3 3 - 3 4 3 . Einen nicht veröffentlichten Bericht zum Kolloquium legte Klaus J. Mattheier der Werner-Reimers-Stiftung vor. Er wird hier ζ. T. mitberücksichtigt. So im bekannten Vorwort von Hermann Osthoff und Karl Brugmann zu: Morphologische Untersuchungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen. 1. Theil. Leipzig 1878, III ff. und bei Hermann Paul, Principien der Sprachgeschichte. Halle/S. 1880, Kap. I. Die frühen sprachgeschichtlichen Darstellungen von J a c o b Grimm (1848) und Ernst Foerstemann (1874/1875) kommen noch über die Vorgeschichte des Deutschen nicht hinaus; erst mit Otto Behaghel (1891) wird der Anschluß an die Gegenwart der Zeit erreicht.
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Vorwort
- die Konzentration auf die innersprachigen Standardisierungsvorgänge, die aber mit dem Ausklang der Sprachnormdebatte, der Vorlage maßgeblicher Grammatiken, Wörterbücher, Orthographien und Stilistiken (z. B. J. Ch. Adelung) sowie der Entwicklung einer „klassischen" Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts abgeschlossen zu sein schienen; 3 - Tendenzen zur Bewertung der neueren Entwicklung der Sprache als „Verfall", Verlust an „Niveau" o. ä. infolge der Herausbildung von heterogenen (mündlichen und schriftlichen) „Umgangssprachen" und der „Vermassung" von Sprache durch Medien (Presse), Institutionen, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. 4 (2) Forderungen nach einer anspruchsvolleren, insbesonders kultur- und sozialgeschichtlich fundierten Sprachgeschichtsforschung, wie sie schon länger erhoben wurden, 5 konnten wegen der Orientierung an restriktiven Modellen (z.B. der historischen Grammatik, geistesgeschichtlichen oder bestimmten strukturalistischen Ansätze) und der unbefriedigenden Quellenlage für die älteren Epochen nicht verwirklicht werden. Umso mehr muß hier das 19. Jahrhundert mit seinen für die Sprachgeschichte noch weitgehend uner3
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Vgl. dazu M a x Hermann Jellinek, Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik. Von den Anfängen bis auf Adelung. 2 Halbbände. Heidelberg 1913, 1914; Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Stuttgart 1966; Gabriele Schieb, Zu Stand und Wirkungsbericht der kodifizierten grammatischen Norm Ende des 19. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 1.1981, 134-176; Dieter Nerius, Untersuchungen zur Herausbildung einer nationalen Norm der deutschen Literatursprache. Halle/S. 1967; Karl Eibl, Sprachkultur im 18. Jahrhundert. In: R. Wimmer (Hrsg.), Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf 1985, 108-124. Vgl. ζ. B. Lutz Mackensen, Die deutsche Sprache in unserer Zeit. Zur Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts. 2. Aufl. Heidelberg 1971; Peter von Polenz, Die Sprachkrise der Jahrhundertwende und das bürgerliche Bildungsdeutsch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 14/52.1983, 3 - 1 3 . Vgl. Friedrich Maurer, Geschichte der deutschen Sprache. In: A. Goetze/W. Horn/F. Maurer (Hrsg.), Germanische Philologie. Ergebnisse und Aufgaben. Festschrift für Otto Behaghel. Heidelberg 1934, 201-228 und die Sprachgeschichtsdarstellungen von Hugo Moser (1950, 6. Aufl. 1969), Hans Eggers (1963-1977) oder Peter von Polenz (9. Aufl. 1978). Zur aktuellen Diskussion vgl. ferner: Horst Sitta (Hrsg.), Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte. Zürcher Kolloquium 1978. Tübingen 1980; Rudolf Große, Zu den Prinzipien der Sprachgeschichtsschreibung heute. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 1.1981, 125-133; Joachim Gessinger, Vorschläge zu einer sozialgeschichtlichen Fundierung von Sprachgeschichtsforschung. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47/1982, 119-145; Peter von Polenz, Sozialgeschichtliche Aspekte einer neueren deutschen Sprachgeschichte. In: Thomas Cramer (Hrsg.), Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 2: Sprache. Tübingen 1983, 3 - 2 1 ; Dieter Cherubim, Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen Pragmatik. In: W. Besch/O. Reichmann/St. Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Halbband. Berlin, New York 1984, 802-815; Utz Maas, Der kulturanalytische Zugang zur Sprachgeschichte. In: Wirkendes Wort 37.1987, 87-104.
Vorwort
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schlossenen Quellenmassen in Archiven und Bibliotheken für den Sprachhistoriker von Interesse sein. (3) Auch die allgemeine Geschichtsforschung hatte sich in den letzten Jahren verstärkt dem 19. Jahrhundert zugewandt: Hier wurden und werden die Debatten um Industrialisierung und die Dichotomie zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft geführt; hier waren neue Ansätze (z.B. zur Alltagsgeschichte und Mentalitätsforschung) entwickelt und erprobt worden; hier ließen sich zentrale Begriffe (wie z.B. Bürgertum und Modernisierung) in größeren Zusammenhängen verfolgen; und hier waren schließlich eine Reihe neuer Gesamtdarstellungen vorgelegt worden, die wiederum neue, spezielle Untersuchungen anregen konnten. 6 (4) Zu Anfang der 80er Jahre waren von verschiedenen Forschergruppen der Deutschen Demokratischen Republik erste anregende Studien zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts vorgelegt worden, die auch durch intensive Bemühungen um die Wissenschaftsgeschichte der Sprachwissenschaft im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert sinnvoll ergänzt wurden. 7 (5) Insbesondere in der Dialektsoziologie, aber auch in anderen Bereichen der Soziolinguistik des Deutschen wurde die Notwendigkeit erkennbar, die Wurzeln der gegenwärtigen Varietätenverteilungen und Sprachkonflikte in den sprachhistorischen Entwicklungen des vorausgehenden 19. Jahrhunderts zu suchen. Die Sprachgeschichte und Soziolinguistik bestimmter Regionen und Institutionen im 19. Jahrhundert scheint einer der Wege zu sein, über die Sprachnormenkonflikte der heutigen Zeit analysiert werden können. 8 6
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Vgl. T h o m a s Nipperdey, Deutsche Geschichte 1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürgerwelt und starker Staat. München 1983; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1 7 0 0 - 1 8 1 5 , München 1987; Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Mitarbeitern und Schüler. Göttingen 1982; Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987. Vgl. z.B. Joachim Schildt u . a . , Auswirkungen der industriellen Revolution auf die deutsche Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert. Berlin (O) 1981; Studien zur deutschen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Existenzformen der Sprache. (Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 66/1—III). Berlin (O) 1980; Dieter Nerius (Hrsg.), Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit dem 18. Jahrhundert [ . . . ] (Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 111). Berlin (O) 1983; Helmut Langner/Elisabeth Berner/Rolf Bock: Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert. Arbeitsstandpunkte zur Forschung 1 9 8 6 - 1 9 9 0 (Potsdamer Forschungen. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe. Heft 81). Potsdam 1986; Werner Bahner/Werner Neumann (Hrsg.), Sprachwissenschaftliche Germanistik. Ihre Herausbildung und Begründung. Berlin (O) 1985. Vgl. Siegfried Grosse/Martin Grimberg/Thomas Hölscher u . a . , Sprachwandel und Sprachwachstum im Ruhrgebiet des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Industria-
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Vorwort
Auf diesem Hintergrund unternahm Klaus J . Mattheier einen Versuch, vorhandene Interessen zu bündeln und Perspektiven der Weiterarbeit zu entwickeln, indem er im Anschluß an einige Vorträge des Deutschen Germanistentages von 1982 in Aachen eine Diskussionsrunde zusammenrief. 9 Die sich an dieses Rundgespräch anschließenden Bemühungen um eine größere Tagung zu diesem Thema stießen auf reges Interesse, und die Unterstützung einer Reihe von Kollegen, unter denen besonders Harald Weinrich hervorzuheben ist, ermöglichte es, die Homburger Tagung zu organisieren. Daß mit dieser ersten Fachtagung zur Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert ein richtiger Weg eingeschlagen worden ist, zeigte sich nicht nur an der interessierten Aufnahme, die die Tagung in weiteren Fachkreisen fand, 10 sondern auch darin, daß das Institut für deutsche Sprache (Mannheim) künftig die Grundlegung der deutschen Gegenwartssprache in der äußeren und inneren Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts zu seinen genuinen Forschungsgegenständen rechnen wird. 11 Erforschung der „Grundlagen der deutschen Gegenwartssprache im 19. Jahrhundert": das konnte als Programm einer ersten Tagung nicht mehr bedeuten als das Arbeitsfeld in zeitlicher, räumlicher und sprachgesellschaftlicher Hinsicht abzustecken und erste Strukturierungen und Problemstellungen der Themenstellung herauszuarbeiten. In diesem Rahmen sind die auf dem Kolloquium gehaltenen und hier vorgelegten Beiträge einzuordnen: Abgrenzungen zu Nachbardisziplinen und Überlappungen zu deren Fragestellungen lieferten die Beiträge von Jürgen Reulecke zur Urbanisierung und Binnenwanderung, von Ulrich Engelhardt zum Bildungsbürgertum und Klaus J. Mattheier zur soziokommunikativen Situation der Arbeiterschaft. 12 Der Binnenstrukturierung des
lisierung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 5 4 . 1 9 8 7 , 2 0 2 - 2 2 1 ; Klaus J. Mattheier, Industrialisierung der Sprache. Historisch-soziolinguistische Untersuchungen zur Sprache im Industriebetrieb des 19. Jahrhunderts. In: Wirkendes W o r t 3 7 . 1 9 8 7 , 1 3 0 - 1 4 3 . In diesem Zusammenhang sei auch pauschal auf verschiedene Arbeiten von Helmut Schönfeld (DDR) zur Sprachentwicklung unter dem Einfluß der Industrialisierung hingewiesen. 9
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Vgl. Klaus J . Mattheier, Sprachgeschichte im 19. Jahrhundert. Protokoll einer Diskussionsrunde. In: T h o m a s Cramer (Hrsg.), Sprache und Literatur im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 2: Sprache. Tübingen 1983, 2 0 2 - 2 0 3 . Leider konnte dem Wunsch vieler Interessenten, an der Tagung teilzunehmen, aus organisatorischen und finanziellen Gründen nicht entsprochen werden. Vgl. auch Peter von Polenz, Historische Tiefe in der Sprachforschung. In: IdS SprachReport 1/87, 5 - 7 . Ein Vortrag zur „Mentalitätsgeschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert", den Carola Lipp (Tübingen) gehalten hatte, stand für den Druck leider nicht zur Verfügung.
Vorwort
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Arbeitsfeldes waren neben dem Beitrag zur Periodisierung von Peter von Polenz und dem Beitrag zu den Auswirkungen sozialhistorischer Prozesse auf die Sprachentwicklung von Joachim Schildt die Beiträge von Karl Jakob zu den sprachlichen Folgen technologischer Entwicklungen, von Dieter Cherubim zum Einfluß der zunehmenden Institutionalisierung des gesellschaftlichen Lebens auf die Sprach- und Textgestaltung und der Beitrag von Wilhelm Vesper zur sprachpolitischen Fundierung und Wirkung des Deutschunterrichts gewidmet. Wissenschafthistorische Perspektiven wählten die Beiträge von Werner Neumann zur Wirklichkeitsverarbeitung in der Gegenstandskonstitution der (historischen) Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts und der Beitrag von Brigitte Schlieben-Lange zur Wechselwirkung von Alltags- und Wissenschaftssprache in den Konzeptionen französischer Sprachtheoretiker. Exemplarisch veranschaulicht wurden typische Forschungsfragen und theoretisch-methodische Problemstellungen des Themas in den Beiträgen von Bernd Naumann zu den Reflexen der Standardisierungsvorgänge im Sprachbewußtsein und der Sprachwissenschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 13 von Walter Dieckmann zur historisch gebrochenen Nutzung sogenannter performativer Formeln in preußischen Erlassen, von Georg Objartel zur Entwicklung der Studentensprache als Akademikerjargon, von Isa Schikorsky zur Sprachgestaltung ,kleiner Leute' in privaten Texten des Alltags (Briefe, Tagebücher). Und auch die Berichte zu laufenden Forschungsvorhaben von Klaus J. Mattheier über die Sprache im Industriebetrieb im 19. Jahrhundert und von Siegfried Grosse über die Sprachentwicklung unter den Bedingungen der Hochindustrialisierung sowie von Helmut Henne zum historischen Studentenlied des 19. Jahrhunderts ergänzten die Skizze des Arbeitsfeldes. Weitere Dimensionen eröffneten schließlich die Beiträge zur Diskussionsrunde über die Situation einer europäischen Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts: von M. Görlach zum Englischen, von E. Radtke zum Französischen und Italienischen, von H. Blume zu den skandinavischen Sprachen. Sichtung dessen, was bisher geleistet (und was nicht geleistet) wurde, stand also vorerst an; darüber hinaus die Entwicklung von Perspektiven einer zukünftigen Arbeit sowie deren Organisation und Dokumentation als Vorbereitung weiterer Tagungen, die auch die bisher gebliebenen Lücken auszufüllen hätten. 14
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Walter Dieckmann (Berlin) bereitet z. Zt. einen Sammelband mit entsprechenden Textausschnitten vor, der demnächst (Verlag Walter de Gruyter & Co.) erscheinen wird. Bedauerlicherweise fehlten Beiträge zur Presseentwicklung sowie zur Entwicklung der politischen Verhältnisse und Sprachgeschichte. Ein Vortrag zum ersten Thema von Erich Straßner (Tübingen) w a r zwar vorgesehen, fand aber nicht statt; zum zweiten Thema sind in der letzten Zeit erschienen: Gregor Kalivoda, Parlamentarische Rhetorik und Argumentation. Untersuchungen zum Sprachgebrauch des 1. Vereinigten Landtags in Berlin 1847. Frankfurt/M., Bern, New York 1986; B. Rindermann/J.
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Vorwort
In diesem Zusammenhang seien einige Bemerkungen zu den Schwierigkeiten erlaubt, die sich einem Forschungsansatz, wie er durch das Homburger Kolloquium und den vorliegenden Sammelband projektiert wird, entgegenstellen, die aber auch zu bestimmten Forschungsperspektiven führen. Vier Bereiche müssen hier, das hat auch die sehr rege Diskussion des Kolloquiums gezeigt, insbesondere genannt werden: die Epochenabgrenzung des ,19. Jahrhunderts', die Zusammenarbeit zwischen Sprach- und Sozialhistorikern, die Beziehungen zwischen innerlinguistischer und soziolinguistischer Analyse und die über die deutsche Sprachgeschichte hinausweisende europäische Perspektive des Themas: 1. Eine Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts' greift zeitlich sowohl am Beginn der Epoche als auch an ihrem Ende zu kurz. Die formale Festigung einer deutschen Standardsprache findet im 18. Jahrhundert statt und auch die das 19. Jahrhundert prägenden sprachpolitischen Ideologien wurzeln in vorhergehenden. Insbesonders ist aber eine Abtrennung der Sprachgeschichte des 20. Jahrhundert von einer Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts ineffektiv, da dadurch gerade die Bedeutung der sprachlichen und soziolinguistischen wie der kommunikativen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts für die Gestaltung der Strukturen der heutige Sprachgemeinschaft und ihrer Ausdrucksformen verdeckt wird. Dem trägt auch die Wahl des Titels des vorliegenden Sammelbandes Rechnung. 2. Zwischen der zünftigen Sozialgeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts und den Sprachhistorikern, die sich mit der kommunikativen Entwicklung in dieser Epoche beschäftigen, gibt es erhebliche Kommunikationsprobleme. Das liegt in erster Linie in den Unterschieden der wissenschaftlichen Fragestellungen begründet. Die Sprachhistoriker konzentrierten ihr Forschungsinteresse bis vor kurzem ausschließlich auf den engen Bereich der Herausbildung, Stabilisierung und Durchsetzung der Standardsprache. Es ging also um die Beschreibung eines bestimmten historischen Prozesses, dessen Ergebnis als bekannt angesetzt wurde, nicht um die Beschreibung von Wandlungen innerhalb von Kommunikations- und Sprachstrukturen als Ergebnis sich wandelnder gesellschaftlicher Formationen. Von den Historikern sollte in Zusammenhang mit den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätzen eine besondere Sensibilität für sprach- und kommunikationsgeschichtliche Untersuchungen
Schildt u. a., Politisch-sozialer Wortschatz im 19. Jahrhundert. Studien zu seiner Herausbildung und Verwendung (Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 150/1 und II). Berlin (O) 1986. Außerdem fehlten Beiträge zur Rekonstruktion der gesprochenen Sprache im 19. Jahrhundert; vgl. jetzt Dieter Cherubim, Sprachschichten im Spiegel der Karikatur des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Untersuchung historischer Sprachvariation. In: Kongreßbeiträge zur 18. Jahrestagung der Gesellschaft für angewandte Linguistik GAL e.V. Tübingen 1988, im Druck.
Vorwort
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erwartet werden können. Doch wird in aller Regel die Sprache als Gestaltungsmittel von Sozialbeziehungen übersehen, 15 und sie tritt hinter anderen, häufig weniger bedeutsamen Faktoren wie der (schönen) Literatur zurück. Es muß jedoch eingeräumt werden, daß die Sprachgeschichtsforschung die sozialhistorischen Möglichkeiten, die sie zu bieten hat, nicht in ausreichendem Maße verdeutlicht. Man denke hier an die Bedeutung der Standardsprachenideologie für die Abgrenzung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft oder an die Spiegelung der Stadt-Land-Beziehungen in Sprachkonflikten zwischen diesen beiden Lebensbereichen, aber auch an die Traditionsbindung und Weiterentwicklung von Textsorten in Zusammenhang mit der Ausbildung neuen Institutionen. An diesen Beispielen wird schon die Schaltstelle erkennbar, über die die Vermittlung zwischen Sprachentwicklungen und gesellschaftlichen Wandlungen läuft: der Kommunikationsbedarf, der sich in einer Gesellschaft als Ergebnis der gesellschaftlichen Beziehungssysteme herausbildet und wandelt. Aufgabe der modernen Sprachgeschichte ist es unter anderem, die Sprachstile und Sprachvarietäten, die es zu einer bestimmten Zeit in einer Gemeinschaft gibt, als Antwort auf eine bestimmte Struktur des Kommunikationsbedarfs zu beschreiben. Aufgabe der Sozialgeschichte wäre es in diesem Zusammenhang, über eine Analyse der kommunikativen Strukturen und des Kommunikationsbedarfs der verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft zu den gesellschaftlichen Wertstrukturen vorzustoßen, die das Feld der sozialen Objektivationen - und unter ihnen auch die Sprachlichkeit - steuern. 3. Das Spannungsfeld, in dem das hier behandelte Thema steht, entfaltet sich auch zwischen der innerlinguistischen Analyse und den Untersuchungen zur äußeren Sprachgeschichte vor dem Hintergrund einer historischen Soziolinguistik. Hier stehen sich häufig minutiöse Beschreibungen phonologischer, morphologischer und syntaktischer Erscheinungen der Sprache des 19. Jahrhunderts und soziolinguistische Arbeiten zu Wandlungen im Kommunikationssystem unvermittelt gegenüber, obwohl beide Bereiche erst unter Berücksichtigung des jeweils anderen Aussagekraft bzw. Fundierung erhalten. Dabei bietet die systematische Analyse historischer Textsorten hinsichtlich ihrer gesellschaftlich-funktionalen Einbettung einerseits und andererseits hinsichtlich ihrer sprachlichen Form und Traditionsbindung einen bedeutsamen Ansatz zur Vermittlung. 4. Auf dem Homburger Kolloquium wurde auch die europäische Perspektive des gestellten Problems deutlich erkennbar, und dies in dreifacher Hinsicht:
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Vgl. jetzt auch: Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Arbeiter und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich (Schriftenreihe des Historischen Kollegs B d . 7 ) . München 1986.
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Vorwort
Einmal bestehen viele sprachhistorische Verflechtungen wegen der vielfältigen soziohistorischen Kontakte und Verschiebungen, die die europäische Geschichte auch noch im 19. Jahrhundert prägen. Hier sind etwa das deutschfranzösische Konfliktfeld zu nennen oder die Sprachpolitik im österreichischungarischen Raum und an der Sprachgrenze zwischen dem Deutschen und den slavischen Sprachen. Zweitens werden im 19. Jahrhundert fast alle europäischen Nationen, wenn auch phasenverschoben, von den gleichen soziohistorischen Prozessen erfaßt, die zu ganz ähnlichen Wandlungen in den kommunikativen Strukturen führen. Genannt seien hier Urbanisierung, Industrialisierung, Entstehung der Arbeiterschaft, Profilierung des Bürgertums usw. Und drittens schließlich kommt es zu einer wissenschaftlichen Verflechtung innerhalb der Sprachwissenschaft, die einen Kanon gemeinsamer linguistischer und soziolinguistischer Problemstellungen und auch theoretisch-methodischer Ansätze zu ihrer Erforschung entstehen läßt. Die Ausbreitung der Historischen Sprachwissenschaft über Europa ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Ausbildung der Dialektologie. Aus diesem kurzen Anriß der Schwierigkeiten ergeben sich nun auch die Perspektiven für eine Weiterentwicklung dieses Forschungskomplexes: - Institutionelle Zusammenführung von Sprachhistorikern des 18. und 19. Jahrhunderts mit Sprachwissenschaftlern, die sich mit der Soziolinguistik und den Veränderungstendenzen der Gegenwartssprache beschäftigen, um die grundlegende Bedeutung der neueren Sprachgeschichte für die gegenwärtigen Entwicklungen erkennbar werden zu lassen; - „Europäisierung" der Fragestellungen der neueren und neuesten Sprachgeschichte; 16 - Ausbau von Diskussionsformen zwischen Sprachhistorikern und Sozialhistorikern sowie stärkere Berücksichtigung sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Problemstellungen in den zentralen Arbeitsbereichen der neueren Sozialgeschichte, die sich mit Bürgertum, Industrialisierung, Demokratisierung, Parlamentarisierung, Nationenbildung, Proletariat-Forschung beschäftigen; - Aufbau einer Koordinationsstelle und eines Dokumentationszentrums zur Erforschung der neueren und neuesten Sprachgeschichte und der Entwicklung der deutschen Gegenwartssprache. 1 7
Abschließend bleibt uns die Hoffnung, mit unserem Kolloquium und diesem Sammelband einen Schritt in die richtige Richtung getan zu haben: zu einer Sprachgeschichtsforschung nämlich, die der Gegenwart durch die Vergangen-
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Vgl. jetzt: Klaus J. Mattheier (Hrsg.), Standardisierungsprozesse europäischer Nationalsprachen. Romania, Germania (Sociolinguistica. Jahrbuch für europäische Soziolinguistik Bd. 2). Tübingen 1988 und darin den einleitenden Beitrag von Klaus J. Mattheier, Sprachstandardisierung und Historische Soziolinguistik a . a . O . , 1 - 9 . Auf dem Kolloquium wurde beschlossen, eine derartige Koordinations- und Dokumentationsstelle in Göttingen (D. Cherubim) einzurichten.
Vorwort
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heit Tiefe verleiht und die über die engeren Fachgrenzen hinaus Interesse verdient. Dafür, daß dieser Band zustandekam, haben wir vielen zu danken: Zuerst unserem Kollegen Siegfried Grosse (Bochum), der das Kolloquium mit uns veranstaltete. Dann denen, die durch Mitarbeit und Betreuung für eine fruchtbare Arbeitsatmosphäre sorgten und denen, die uns bei der Bearbeitung der Manuskripte, der Bewältigung der Korrespondenz, der Erstellung des Registers und vielen technischen Problemen der Drucklegung hilfreich zur Seite standen, Jutta Homberg, Μ . A. und cand. phil. Gesine Reinert (beide Göttingen). Nicht zuletzt aber auch dem Verlag Walter de Gruyter & Co. und Prof. Dr. H. Wenzel, die den Band in das Programm ihres Hauses aufnahmen. Göttingen und Heidelberg im Juni 1988
Dieter Cherubim Klaus J . Mattheier
Peter von Polenz Das 19. Jahrhundert als sprachgeschichtliches Periodisierungsproblem
Die ehrenvolle Aufgabe, dieses Kolloquium mit einer Epochen-Beschreibung einzuleiten, möchte ich in drei Schritten zu erfüllen versuchen: - einem Überblick über die Prinzipien-Diskussion zur Periodisierungsfrage, - einem Vergleich der bisher praktizierten Periodisierungen, - der Vorstellung und Begründung einer eigenen neuen Periodisierung. Die ersten beiden Schritte möchte ich möglichst kurz hinter mich bringen, da ich den dritten Schritt zur Zeit sehr nötig habe: Ich sitze nämlich an der längst fälligen gründlichen Neubearbeitung meines Göschenbandes „Geschichte der deutschen Sprache", und die darin vorgenommene Gliederung des neueren Deutsch (in „Älteres Neuhochdeutsch" und „Deutsch im 19. und 20. Jahrhundert") ist so schematisch und unreflektiert, daß sie dringend durch eine bessere ersetzt werden muß, für die ich mir hier Kritik und Diskussion erhoffe. Zunächst also zur Grundsatzdiskussion über Periodisierung. Sie ist seit 1950 von Experten geführt worden: Hugo Moser (1950/51), Rudolf Bentzinger (1966), Rudolf Große (1967), Herbert Wolf (1971), Karl Mollay (1977), Stefan Sonderegger (1979), Joachim Schildt (1980), vor allem von den Referenten der von Joachim Schildt (1982) herausgegebenen Ost-Berliner Tagung, schließlich zusammenfassend Herbert Wolf im Handbuch von Besch/Reichmann/Sonderegger (1984). Die Diskutanten sind sich sehr weitgehend einig über folgende abzulehnenden Methoden: - T r a d i t i o n e l l e Termini wie Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch genügen für die Neuzeit nicht mehr und sollten auch nicht durch Um- und Neuinterpretationen und Aufspaltungen weiter benutzt werden, auch wegen der Ignorierung des Niederdeutschen. - Innersprachliche Kriterien aus Teilen des Sprachsystems allein sind nicht hinreichend, da nie das ganze Sprachsystem betroffen ist und große regionale und textsortenspezifische Phasenverschiebungen eine solche Periodisierung unmöglich machen. Für einen modernen Zeitraum wie das 19. Jahrhundert kommen systemlinguistische Veränderungen als Kriterien ohnehin nicht in Betracht.
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Peter von Polenz
- Eine rein l i t e r a t u r g e s c h i c h t l i c h e Periodisierung (im Sinne des belletristischen bürgerlichen ,Literatur'-Begriffs) wird als nicht weitreichend genug angesehen; Sprachgeschichte darf sich nicht auf das beschränken, was in der Beletage geschieht; es müssen alle Varietäten/Existenzweisen der Sprache berücksichtigt werden. - Herausgehobene E i n z e l e r e i g n i s s e sind als Periodisierungskriterien untauglich, beispielsweise Goethes Tod oder die Kodifizierungen der Orthographie und Orthoepie um 1900. Von solchen Ereignissen sind allenfalls Teilbereiche der Sprache oder Sprachkultur betroffen. Weiterhin besteht in der Diskussion weitgehende Einigkeit über folgende positiven Prinzipien sprachgeschichtlicher Periodisierung: - Sprachgeschichte ist mit S o z i a l g e s c h i c h t e in Beziehung zu setzen, da Sprachkommunikation die wichtigste soziale Tätigkeit darstellt und Sprachgeschichte auch die Entwicklung des Sprachhandelns von Gruppen und dessen Möglichkeiten und Grenzen zu beschreiben hat. Unterschiede bestehen jedoch über die Direktheit oder Indirektheit der Beziehungen zwischen Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, politischer Geschichte und Sprachgeschichte. - Bei der Inbeziehungsetzung von Sprach- und Sozialgeschichte ist es unerläßlich, das Verhältnis zwischen den V a r i e t ä t e n / E x i s t e n z w e i s e n der Sprache zu berücksichtigen (Schildt 1980; Sonderegger 1979,173 ff.). Dazu gehört m. E. auch das soziolinguistisch folgenreiche sprachpolitische Verhältnis zwischen Deutsch, Französisch und Latein im absolutistischen Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts als wichtiger Epochenunterschied zum 19. Jahrhundert. - Die Beziehungen zwischen Sprache und Gesellschaft funktionieren als öff e n t l i c h e K o m m u n i k a t i o n s p r a x i s ; es müssen also „Vermittlungsinstanzen" (Arndt, in: Schildt 1982, 79), „vermittelnde Glieder wie Kommunikationsbeziehungen, Kommunikationsbedürfnisse" (Feudel, in: Schildt 1982, 102) und „soziokulturelle Faktoren" (Wolf 1984, 816, 821) berücksichtigt werden. So wie wir heute in der Linguistik Sprache nur über Sprachpragmatik mit Sozialsystemen in Beziehung setzen dürfen, so sollte der Einbau der Sprachentwicklung in die gesellschaftliche Entwicklung vor allem über Mediengeschichte, Rezeptionsgeschichte, Bildungsgeschichte und Textsortengeschichte vermittelt werden, vor allem auch über das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Hierhin gehört das, was Brigitte SchliebenLange „Traditionen des Sprechens" genannt hat. - Statt scharfer Zäsuren nach Jahreszahlen sollten in der sprachgeschichtlichen Periodisierung breite Ü b e r g a n g s z o n e n (Arndt, in: Schildt 1982, 78), „engere oder breitere Zeitspannen" (Mollay 1977, 102), „undeutlich abgrenzbare Perioden" (Sonderegger a . a . O . , 169), „Schwingungsphasen" (Wolf 1984, 818) angesetzt werden, vor allem zwischen den Großepochen, da die Beziehung zwischen Sprachvariation und Sprachwandel mit Gleichzeitigkeit des
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Ungleichzeitigen verbunden ist und - besonders in der von Retardierungen und Widersprüchen gekennzeichneten neueren deutschen Geschichte - mit langen V o r b e r e i t u n g s p h a s e n („Vorläufen" Arndt, a . a . O., 74) zu rechnen ist, die Jahrzehnte vor der Etablierungs- oder Durchsetzungsphase beginnen. Zunächst eine Übersicht über die bis 1985 in Gesamtdarstellungen der deutschen Sprachgeschichte praktizierten Periodisierungen für die Zeit seit dem 16. Jahrhundert: August L a n g e n , Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. v. Wolfgang Stammler. 2. Aufl. Berlin 1957, Sp. 855-1396: Das 17. Jahrhundert Aufklärung Irrationalismus Klassik Romantik Das 19. Jahrhundert Vom Naturalismus bis zur Gegenwart Adolf B a c h , Geschichte der deutschen Sprache. 8. Aufl. Heidelberg 1965: Von der Mitte des 14. zum Anfang des 17. Jahrhunderts Vom Anfang des 17. zum 2. Viertel des 19. Jahrhunderts Vom 2. Viertel des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart Hugo M o s e r , Deutsche Sprachgeschichte. 6. Aufl. Tübingen 1969: Entstehung einer einheitlichen Schriftsprache (Vom 16. bis zur 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts) Die Entfaltung der Schriftsprache ostmitteldeutschen Gepräges Allgemeine Geltung einer Schriftsprache und Entwicklung zur vollen Einheitssprache (Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) Wandlungen in der Hochsprache der Gegenwart Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte IV. Das Neuhochdeutsche. Reinbek 1977: Ein neues Hochdeutsch - Neuhochdeutsch Gelehrte und Dichter im Hochbarock (ca. 1650-1680) Zwischen Barock und Aufklärung (ca. 1680—1730) Aufklärung und Empfindsamkeit (ca. 1720-1770) Auf dem Wege zur Spracheinheit Weg zur Höhe (ca. 1750-1790) Bestimmtheit hier - Gestimmtheit dort (ca. 1790—1830) Sprache des Bürgertums (ca. 1830-1870) Sprache im Wandel der Gesellschaft (nach 1870) Karl M o l lay, Einführung in die deutsche Sprachgeschichte. Budapest 1977: Frühneuhochdeutsche Zeit: Frühneuhochdeutsch (1350—1620) Mittelniederdeutsch (bis 1600) Mittelniederländisch (bis 1600) Altjiddisch (1350-1700)
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Peter von Polenz Zeit der Sprachregelung: Gültigdeutsch (1620-1775) Neuniederdeutsch (1600 bis heute) Altjiddisch (bis 1700) Pennsilfaansch (bis heute) Zeit der Sprachentfaltung: Hochdeutsche Nationalsprache (1775-1870) Neujiddisch (bis heute) Zeit der Sprachbewährung: Werdendes Einheitsdeutsch als Nationalsprache (von 1870 bis heute) Rudolf E. Keller, The German Language. London/Boston 1978: The Sixteenth Century Achievement The Classical Literary Language and Modern German: Preparatory phase (1650-1800), the Classical literary language emerged and matured 2nd phase (1800-1950): the Classical literary language evolved into Modern Standard German, (...) a select written medium of a cultured elite (...) into a ,vulgarised' (...) medium of the majority 3rd phase (1950) Peter v. Polenz, Geschichte der deutschen Sprache. 9. Aufl. Berlin/New York 1978: Älteres Neuhochdeutsch Deutsch im 19. und 20. Jahrhundert Stefan S o n d e r e g g e r , Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Bd. I. Berlin/New York 1979 (Kap. 4: Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte, bes. S. 174 und 181): (1350)-(1650) Frühneuhochdeutsch: Schriftsprache: Entstehung, erste Etablierung und Beginn der Ausbreitung, mit Schwergewicht im mitteldeutschen Osten (1650)- 1800 Älteres Neuhochdeutsch: Schriftsprache: Ausbreitung und Festigung über das gesamte deutsche Sprachgebiet, mit entscheidender Normierung 1800 - 1945 Jüngeres Neuhochdeutsch: allgemeine Gültigkeit und weitere Normierung Gegenwartsdeutsch: 1945 Öffnung in sozialer, sprechsprachlicher und regionaler Hinsicht Joachim S c h i 1 d t, Abriß der Geschichte der deutschen Sprache. Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschichte. 2. Aufl. Berlin (DDR) 1981: Die Spracheentwicklung in der Epoche des Verfalls des Feudalismus, der Entstehung und Entwicklung des Manufakturkapitalismus: Die Entwicklung des frühneuzeitlichen Deutsch (Siebziger Jahre des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts) Die Entwicklung des neuzeitlichen Deutsch (Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) Die Sprachentwicklung unter den Bedingungen der bürgerlichen Umwälzung und der bürgerlich-imperialistischen Herrschaft (Ende des 18. Jahrhunderts bis 1945)
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Die Sprachentwicklung unter den Bedingungen der Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung (1945 bis zur Gegenwart) O . J . M o s k a l s k a j a , Deutsche Sprachgeschichte. 2. Aufl. Moskau 1985: Frühneuhochdeutsch (von etwa 1350 bis um 1650) Neuhochdeutsch Die Anfangsstufe der Entwicklung der gemeindeutschen Literatursprache (von etwa 1650 bis um 1770) Die endgültige Herausbildung der gemeindeutschen Literatursprache und ihre Verankerung in der deutschen klassischen Literatur (von etwa 1770 bis um 1830) Die Weiterentwicklung der gemeindeutschen Literatursprache in der neueren und neuesten Zeit (von etwa 1830 bis zu unserer Zeit) Christopher J. W e l l s , German. A Linguistic History to 1945. Oxford 1985: Transitional period (Early New High German) 1450-1650 The early modern period 1600-1800 The modern period 1800-1945 Peter v. Polenz/Kurt G a r t n e r , Geschichte der deutschen Sprache. 10. Aufl. Berlin/New York (voraussichtlich 1990): Deutsch in der frühen Neuzeit ( + 15./16. Jahrhundert): Frühbürgerliche Ansätze zur Öffentlichkeitssprache Deutsch in der Zeit des Absolutismus ( + 1 5 5 5 - + 1850) Entstehung der bürgerlichen Bildungssprache Deutsch in der Industriegesellschaft: 1. Phase ( + 1 7 7 0 - + 1870): Etablierung der bürgerlichen Bildungssprache 2. Phase ( + 1 8 7 0 - + 1950): Etablierung der modernen Standardsprache, monozentrische Tendenz 3. Phase (seit + 1950): Gegenwartssprache, polyzentrische Weiterentwicklung. In der Übersicht sind nicht berücksichtigt die Darstellungen von Fritz Tschirch,
Wilhelm
Schmidt
u.a.,
Astrid
Stedje
und im Handbuch
von
Besch/Reichmann/Sonderegger (1984/1985), da sie nur die traditionelle Einteilung in Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch anwenden, also für unser T h e m a „19. Jahrhundert" uninteressant sind. A m Ende habe ich meinen Periodisierungsplan für die Neubearbeitung des Göschenbandes hinzugefügt, die ich als v. Polenz/Gärtner ankündigen kann, da es mir gelungen ist, für das mir nicht mehr überschaubare Mittelalter meinen Trierer Kollegen Kurt Gärtner als MitAutor zu gewinnen. In den Periodisierungsvarianten sind für den Beginn unserer Epoche zwei Einschnitte zu erkennen: der eine um 1800 oder etwas davor, der andere zwischen Romantik und Jungem Deutschland um 1830. Der letztgenannte liegt vor bei Langen,
Bach,
Eggers und Moskalskaja:
zwischen
„Romantik"
und
„19. Jahrhundert" bei Langen, im „2. Viertel des 19. Jahrhunderts" bei Bach, „ u m 1 8 3 0 " bei Eggers und Moskalskaja. In allen vier Fällen wird dieser Einschnitt mit dem Ende von Klassik und Romantik und dem Beginn von politischer
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Literatur und Journalismus und der Wirkung von Wissenschaft und Technik begründet. Diese Periodisierungsweise halte ich für problematisch, da man dabei vor 1830 die Periodisierung an der bildungsbürgerlichen Hochliteratur orientiert und erst danach Journalismus und andere nichtbelletristische Bereiche berücksichtigt, also so tut, als habe es vor 1830 unterhalb der Ebene der Eliteliteratur keine für die deutsche Sprachgeschichte erhebliche Sprachkultur gegeben. Dies wird durch mediengeschichtliche und literatursoziologische Arbeiten in Frage gestellt. Es gab in den Jahrzehnten seit etwa 1770 durchaus vieles aus der sprachlichen Alltagskultur, was damals - in bildungsbürgerlicher und traditionell-germanistischer Perspektive teilweise bis heute - ignoriert, unterdrückt, aus dem Bewußtsein verdrängt und des Aufbewahrens meist nicht für wert gehalten wurde. In Bezug auf den Beginn der Epoche spielt in allen Varianten (außer Bach) die Zeit um 1800 oder das Ende oder letzte Viertel oder Drittel des 18. Jahrhunderts eine deutliche Rolle als sprachgeschichtliche Zäsur. Teils wird sie mit dem Beginn der literarischen Klassik, teils mit dem Höhepunkt der Sprachstandardisierung in der Adelung-Zeit begründet, dagegen bei Schildt und in meinem eigenen Plan mit sozialökonomischen Kriterien, allerdings in unterschiedlicher Weise. Alle diese sehr verschiedenen inhaltlichen Kennzeichnungen der ungefähr gleichen Zäsur haaben durchaus etwas miteinander zu tun, und zwar historisch sinnvoll auf eine neuartige, mediengeschichtlich nachweisbare Art. Nachdem ich für meine Neubearbeitung seit langem vorhatte, die jüngste Großepoche erst Mitte des 19. Jahrhunderts oder, mit Eggers (134), um 1870 beginnen zu lassen, mit der Etablierung von Massenpresse, breiter politischer Öffentlichkeit und darauf bezogener Sprachkritik, bin ich in den letzten Monaten durch Lektüre mediengeschichtlicher, literatursoziologischer und begriffsgeschichtlicher Arbeiten zu der Einsicht gekommen, daß mit einer langwierigen Vorbereitungsund Retardierungsphase seit etwa 1770 zu rechnen ist, in der vieles von dem, was uns seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in breiter Überlieferung und sprachkritischer Bewußtheit entgegentritt, grundsätzlich, wenn auch praktisch noch nicht sehr wirkungsvoll, vorprogrammiert worden ist. Zunächst aber muß ich meine Großepochenbenennungen erklären. Analog zu den mittelalterlichen geschichtsbezogenen Epochenbenennungen („Früh-/ Hoch-/Spätmittelalterliches Deutsch") möchte ich die Neuzeit, auch in Anlehnung an die Historiker, in „Deutsch in der Frühen Neuzeit", „Deutsch in der Zeit des Absolutismus", „Deutsch in der Industriegesellschaft" gliedern, wobei die Benennungsweise nach der Gegenwart hin zunehmend sozialgeschichtlicher wird. Für die erste der neuzeitlichen Epochen muß ich mich hier aus Thema- und Zeitgründen darauf beschränken, mit der schlagwörtlichen Bezeichnung „frühbürgerliche Ansätze zur Öffentlichkeitssprache" vor allem auf die umfangreichen Forschungsergebnisse der DDR-Germanistik zu verweisen. Für die breite Übergangsphase zur nächsten Epoche (zwischen + 1555 und + 1620) darf ich
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mich hier mit dem Hinweis auf meine Vorträge auf den Tagungen in Aachen, Göttingen und Leipzig begnügen (v. Polenz 1983 a, 1986, 1989). Der Epochenbegriff A b s o l u t i s m u s ist sowohl in der politischen als auch in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte üblich. Die so genannte monarchische Staatsform hhatte mit ihrer ständischer Kontrolle entzogenen, auf die Finanzierung von Hofleben und stehendem Heer konzentrierten Verwaltungs- und Wirtschaftspolitik eine retardierende Wirkung auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums. Dies gilt besonders für die zahlreichen deutschen Mittel- und Kleinfürstentümer mit ihrer willkürlichen Konfessionshoheit der Fürsten seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555. Die sozialökonomische Modernisierung wurde behindert durch die Konservierung feudaler Zustände vor allem im Agrar- und Gewerbebereich. In der historischen Aufgabe der Ausbildung einer Nationalsprache war das deutsche Bürgertum zusätzlich noch dadurch behindert, daß die Oberschichten in der Zeit des Absolutismus eine dem Deutschen abträgliche französische Sprachkultur pflegten, sodaß — zusammen mit dem kirchlichen und akademischen Bildungsmonopol des Lateins - der deutschen Sprache gesellschaftlich wichtige Kommunikationstypen und Textsorten verschlossen blieben. Um wenigstens partikulär im absolutistischen Staat Einfluß zu gewinnen, als Beamte, Lehrer, Geistliche und Gelehrte, blieb dem deutschen Bürgertum nichts anderes übrig als eine stark schreibsprachliche, akademische Art von Sprachstandardisierung zu entwickeln, die wiederum durch eine rigorose ständisch-bürgerliche Schulpolitik zur „kulturellen Verelendung" der sozialen Unterschichten führte, die Joachim Gessinger (1979) untersucht hat. Diese sozial eingeengte sprachpolitische Situation der deutschen Sprache rechtfertigt es, in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung von der frühbürgerlichen Zeit eine Epoche „Deutsch in der Zeit des Absolutismus" abzugrenzen und die Art von deutscher Sprachkultur, die in dieser Epoche gegen die französische und lateinische Oberschichtsprache vorwiegend entwickelt wurde, als „bürgerliche Bildungssprache" zu kennzeichnen. Die Beseitigung des absolutistischen Systems wurde in Deutschland Schritt für Schritt und mit vielen Rückschlägen in der Zeit zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges und der Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht, was sprachpolitisch am Rückgang von Französisch und Latein zu erkennen ist. Die an seine Stelle tretende Gesellschaftsordnung war eine bürgerliche in einer fortgeschrittenen Phase des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die folgende, bis zur Gegenwart reichende sprachgeschichtliche Epoche möchte ich aber über den marrxstischen Begriff ,Kapitalismus' hinaus umfassender „Deutsch in der Industriegesellschaft" nennen, und zwar nach folgender Lexikondefinition aus dem Großen Brockhaus von 1979 (Bd. 5, S.528): „ I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t , eine Form der hochentwickelten Gesellschaft, deren sozioökonomische Strukturen, Arbeits- und Lebensbedingungen, Normen- und Wertesystem durch die -> Industrialisierung geprägt sind. Sie ist charakterisiert u. a.
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durch verstärkten Einsatz von produzierendem Kapital, hochentwickelte Technologie, starke Arbeitsteiligkeit, hohe Mobilität der Bevölkerung, starke Konzentration der arbeitenden Menschen in Ballungsgebieten (Großstädte) bei räumlicher Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung, Leistungs- und Wachstumsorientierung, Massenproduktion, neue Herrschafts- und Organisationsstrukturen (Bürokratismus)".
Diese Definition ist noch unvollständig, aber diskutabel und vertraut. Zum Epochenbegriff „Deutsch in der Industriegesellschaft" lassen sich die meisten sprachlichen Entwicklungstendenzen sinnvoll in Beziehung setzen, die seit dem 19. Jahrhundert in der deutschen Öffentlichkeitssprache wirken: Sprachökonomische Kurzformen im Wortschatz, syntaktische Komprimierung durch starke Ausnutzung der Nominalisierung, Adjektivierung, Zusammensetzung und Attribuierung in Nominalgruppen, wissenschafts- und fachsprachliche Terminologisierung und Internationalisierung im Wortschatz, auch in der Gemeinsprache, Bildung und massenhafte Verwendung politischer Allgemeinbegriffe, rigorose regionale Vereinheitlichung, sprachliche Vorbildfunktion von Massenmedien, adressaten-neutrale öffentlich-rituelle Textsorten, Separierung in drei SemantikSystemen: Wissenschaft, Politik, Alltag (Schlieben-Lange 1983, 166). Wenn wir die sprachgeschichtliche Epochenbildung nach der massenhaften Durchsetzung solcher industriegesellschaftlichen Sprachmittel ausrichten wollen, oder nach der Sprachkultur der Unterschichtbevölkerung, käme als Beginn dieser Epoche erst die Zeit nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in Betracht (vgl. Eggers a. a. O., 134ff.), die Zeit der Industriellen Revolution, die in Deutschland, verglichen mit England, um 7 bis 8 Jahrzehnte verzögert eingesetzt hat. Damit würden wir aber die von soziokulturellen Widersprüchen gekennzeichnete lange Vorbereitungs- und Retardierungsphase dieses mühsamen Prozesses abschneiden, die sich besonders in der Mediengeschichte nachweisen läßt. Ich lasse diese Epoche also in meinem Plan mit einem sehr langen Übergang zwischen 1770 und 1850 beginnen. Die zeitliche Überschneidung bedeutet, daß die neue Epoche in bestimmten Bevölkerungsschichten und Textsorten bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzte, die breite Masse der Bevölkerung aber noch weit ins 19. Jahrhundert hinein in sprachkulturellen Verhältnissen der absolutistischen Zeit lebte. Sie soll aber auch Überschneidungen anderer Art andeuten, z.B. daß Johann Christoph Adelungs späte Verteidigung des ,Meißnischen Deutsch' noch zur vorhergehenden Epoche gehört, seine Leistung als Lexikograph der klassischen deutschen Literatursprache schon zur folgenden. Zur Begründung des Beginns der Übergangsphase bereits um 1770 möchte ich nun Teile der mediengeschichtlichen Epochen-Einleitung für den neuen Göschenband vortragen. Die frühindustrielle Vorbereitungsphase im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist besonders deutlich in der deutschen Buchhandels- und Lesegeschichte zu erkennen (Schenda 1970, Haferkorn 1974, Engelsing 1973, 1974, Wittmann 1982, Grimminger 1984). Bald nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges hat es
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auf diesem Gebiet einen Entwicklungsschub gegeben, den man damals „Lesesucht", „Lesewuth" oder „Brochurenfluth" nannte, heute in der Forschung (nach Engelsing) als „ L e s e r e v o l u t i o n " bezeichnet. Seit der spektakulären Kriegserklärung' des Leipziger Verlegers Reich auf der Frankfurter Messe 1764 sind folgende den modernen Buchmarkt konstituierenden Veränderungen eingetreten: - Monopolistisches Verhalten der mittel- und norddeutschen Buchhändler mit Zentrum auf der Leipziger Messe, wodurch der noch kaiserlich kontrollierte und zünftisch organisierte süddeutsche „Reichsbuchhandel" benachteiligt wurde. - Einführung kapitalistisch kommerzialisierter Produktions- und Vertriebsmethoden: Trennung von Verlag, Buchdruck und Sortimentsbuchhandel, Nettound Bargeldkauf statt Tauschhandel, Einschränkung des Rückgaberechts, Ansichtsrecht des Käufers (anonymer Warenverkehr), Preiserhöhungen, Überproduktion. - Reaktion der süddeutschen (später auch anderer) Verleger durch massenhafte unlizensierte Nachdrucke, vor allem von 1765 bis 1785, wodurch u.a. die mittel- und norddeutsche Aufklärungsliteratur und -dichtung in Süddeutschland und Österreich verbreitet werden konnte, also die subversive Entstehung eines modernisierten nationalen Buchmarktes. - Quantitative Expansion der deutschen Buchproduktion um das Zehnfache in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit Erhöhung des Anteils deutscher Titel von 7 2 % (1740) auf 9 6 % (1800), des Anteils belletristischer Titel von 6 % (1740) auf 2 2 % (1800). - Ergänzung des Urbanen Buchhandels durch unkonventionelle Vertriebsmethoden, besonders in Kleinstädten und auf dem Lande: durch Kolporteure, Kleinhändler, Pfarrer, Lehrer, Studenten, Hauslehrer und andere Multiplikatoren, wodurch neue Lesebedürfnisse in unteren Bevölkerungsschichten erweckt wurden, die keine Buchhandlungen in der Nähe hatten oder sie aus „Schwellenangst" mieden. - Verbilligte populäre Ausgaben in praktischem Kleinformat, z.T. in Fortsetzungsreihen. - Selbsthilfe-Organisationen des Mittelstandes, um Lektüre ohne Kauf zu ermöglichen: Lesekabinette, Lesegesellschaften, Leihbüchereien, mit satzungsmäßiger sozialer Gleichstellung der Mitglieder bzw. Benutzer, zunehmend auch von Lesern aus der unteren Mittelschicht benutzt. Die Bedeutung dieser frühindustriellen Popularisierung der Lesekultur für den kulturellen Fortschritt großer Teile der Bevölkerung ist schon von Zeitgenossen erkannt worden. 1780: „Noch vor 60 Jahren waren diejenigen, welche Bücher kauften, blos Gelehrte: heutigen Tages ist nicht leicht ein Frauenzimmer von einiger Erziehung, das nicht
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läse; der lesende Theil findet sich jetzt unter allen Ständen; in Städten und auf dem Lande, sogar die Musketiere in großen Städten lassen sich aus der Leihbibliothek Bücher auf die Hauptwache holen" (Frömmichen, in: Deutsches Museum 1780/2, S. 179; zit. nach Schenda 1970, 174) 1795: „So viel tausend Menschen in den verborgensten Winkeln Teutschlands, welche unmöglich, der theuren Preise wegen, an Bücher kaufen denken konnten, haben nun nach und nach eine kleine Bibliothek mit Nachdrücken zusammen gebracht. Hierdurch zuerst ans Lesen gewöhnt, blieben sie nicht dabey stehen, sondern ihre Begierde dazu wuchs so wie das Bedürfnis selbst immer größer wurde (...) So wurde der Geschmack im allgemeinen immer mehr veredelt ( . . . ) Mit einem Wort: so rückte die Nation im Ganzen in der Cultur weiter fort, und machte grössere und schnellere Fortschritte". (Neues Archiv für Gelehrte, Buchhändler und Antiquare, Erlangen 1795, S. 102 f.; zit. nach Wittmann 1982, 90)
Wenn damals die Ausbreitung des Lesens in „allen Ständen" und der „Nation im Ganzen" behauptet wurde, konnten allerdings Bauern und Tagelöhner noch nicht mitgemeint sein; die Lesewelle reichte nur bis zum unteren Mittelstand. Die thematische Vielfalt und Aktualität der neuen Lektüremöglichkeiten ging weit hinaus über die wenigen, wiederholt gelesenen Bücher, die Kleinbürger bis dahin im Hause hatten (Bibel, Gebetbuch, Erbauungsschriften, Kalender). Die ,Leserevolution' hat den Übergang von intensiver zu e x t e n s i v e r L e k t ü r e gefördert, eine wesentliche Vorbedingung für den späteren Massenkonsum des 19. Jahrhunderts. Die ,Leserevolution' wurde inhaltlich eingeleitet von der sog. V o l k s a u f k l ä rung (Ueding, Ruppert, in: Grimminger 1984, 34ff., 605ff.). Die Widersprüche zwischen den aufklärerischen Forderungen und der Wirklichkeit des absolutistischen Systems wurden seit den 70er Jahren so offensichtlich, daß aus dem bis dahin nur akademischen oder moralischen „Räsonnement" der „privaten" bildungsbürgerlichen „Öffentlichkeit" begrenzter Kreise eine popularwissenschaftlich-pädagogische Bewegung entstand. Man wollte mit den Grundwerten und Forderungen der Aufklärung die Fürsten und ihre Regierungen zur Besserung bewegen oder in utilitaristischer Weise praktisches Alltagswissen den Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern nahebringen, um sie vom Aberglauben zu befreien und ihre Arbeitseffektivität und -disziplin zu verbessern. Bedeutende Beispiele dieser Richtung waren Johann Georg Schlossers „Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk" (1771), Rudolf Zacharias Beckers „Versuch über die Aufklärung des Landmannes" (1785), sein „Noth- und Hülfsbüchlein", das zwischen 1788 und 1798 eine Auflage von 150000 Stück, bis 1811 eine Million erreichte, da es z.T. sogar von einigen aufgeklärten Fürsten kostenlos an ihre „Landeskinder" verteilt wurde, oder Johann Ferdinand Roths „Gemeinnütziges Lexikon für Leser aller Klassen, besonders für Unstudierte" (1788,2. Aufl. 1791). Es würde sich sprachgeschichtlich lohnen, solche volkspädagogischen Schriften im Kontrast zur gelehrten Fachliteratur auf Mittel der Verständlichmachung hin zu untersuchen, auf Erklärungstechniken, Adressatenzuwendung, Gesprächs-
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formen, Argumentationstypen, Annäherung an die Mündlichkeit und Religiosität der Unterschichtbevölkerung. In dieser Literatur ist auch schon viel erreicht worden in Bezug auf die Vereinheitlichung und Systematisierung des technischen F a c h w o r t s c h a t z e s , der - anstelle der regional und zünftisch differenzierten Berufswortschätze der alten Handwerke — die praktische Anwendung der Naturwissenschaften erforderte (Dückert, in: Schildt 1981b, 175ff.). In der gleichen Zeit gab es auch die erste Welle der J u g e n d l i t e r a t u r („Büchermacherey für Kinder") (Promies, in: Grimminger 1984, 765ff.). Seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden zu ähnlichen Zwecken auch „Ökonomische", „Landwirtschaftliche" oder „Patriotische" Vereinigungen gegründet. Diese mittelständischen Bildungsorganisationen waren, wie die Lesegesellschaften, Ansätze zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit, da man über das Gelesene oder zu Lesende auch „räsonnierte", auch über engere Standesgrenzen hinweg (Kettmann, in: Schildt 1981b, 45). Vereinzelt wurden solche Vereinigungen nach der Französischen Revolution zu politischen Debattierclubs, besonders im Westen, z.B. die „Mainzer Lesegesellschaft", aus deren Mitgliedern 1792 der revolutionäre Jakobinerclub entstand. Wenn man nur die traditionellen Gattungen berücksichtigt, erscheint die eigentlich p o l i t i s c h e Volksaufklärung schwach entwickelt. Staats- und Gesellschaftskritik hat man literarisch meist nur indirekt geäußert, ζ. B. in der R e i s e l i t e r a t u r , die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts sehr expandierte (Griep, in: Grimminger 1984,739ff.). Anstelle exotischer Länder wurden jetzt Mißstände und Elend in deutschen Territorien geschildert. Zu den traditionellen Gattungen der ,Volksaufklärung' (Enzyklopädie, Wörterbuch, Kalender, Almanach, Predigt, Volksbuch, Hausbuch) kamen aber in der zweiten Jahrhunderthälfte Z e i t s c h r i f t e n neuer Art hinzu (Wild, in: Grimminger 1984, 120). Nach der Jahrhundertmitte nahmen die politischen Zeitschriften zu, besonders in den 70er und 80er Jahren: z.B. Wielands „Teutscher Merkur" (ab 1773), Schubarts „Teutsche Chronik" (ab 1774), Boies „Deutsches Museum" (ab 1776), Schlözers „Staats Anzeigen" (ab 1782), Gedike/Biesters „Berlinische Monatsschrift" (ab 1783), in Österreich der „Wiener Musenalmanach" (ab 1777) und Blumauers „Realzeitung" (ab 1782). Die durch Josefs II. „erweiterte Preßfreiheit" (1781) ausgelöste Flut politisch-kritischer Publizistik in Wien gipfelte in den satirischen „Eipeldauer"-Briefen von Josef Richter (1785ff.). Die Zahl der deutschen Zeitschriften wuchs von 331 (um 1760) besonders in den 70er und 90er Jahren auf 1225 (um 1800) (Schenda 1970,288). Bis 1790 waren es insgesamt 3500 (Wild, in: Grimminger 1984,120). Nach der Jahrhundertwende gab es einen starken Rückgang. Infolge der Politisierung vieler Zeitschriften seit den 70er Jahren wurden viele publizistisch tätige deutsche Schriftsteller als Demagogen verdächtigt und verfolgt (Martens, in: Presse und Geschichte 1977, 100ff.). Von den Zeitschriften müssen die Z e i t u n g e n unterschieden werden, die in
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der Presseforschung in ihrer politischen Funktion und Wirkung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts aus folgenden Gründen weit unterschätzt worden sind (Welke 1977, 77ff.): - Zeitungen sind im Unterschied zu Zeitschriften aus dieser Zeit kaum aufbewahrt worden, also oft nur indirekt nachweisbar. - Die Auflagenzahlen geben ein falsches Bild von der tatsächlichen Wirkung, da sie die Multiplikation durch Vorlesen an Straßenecken, in Wirtshäusern, Wachtstuben, Werkstätten, Pfarrhäusern und durch Gemeinschaftsabonnements (oft 6 Familien) nicht berücksichtigen, also mehr als 10 Rezipienten pro Exemplar (so auch Engelsing 1973, 60); vgl. die „Semi-Oralität" in der Französischen Revolution (Schlieben-Lange 1983, 71 ff.). - Das Zeitunglesen und das sich daran anschließende dilettantische „Politisieren" ist in zeitgenössischen Zeugnissen vom Standpunkt der Obrigkeiten und der gebildeten Zeitschriftenleser meist polemisch bagatellisiert und diffamiert worden (so auch Wittmann 1982, 37). Welke (a. a. O.) rechnet mit 200 bis 250 politischen Zeitungen in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bis 1800 auf etwa 300 gesteigert infolge der durch Amerikanische und Französische Revolution ausgelösten „ZeitungsExplosion"; das zeitunglesende Publikum in Deutschland sei für das späte 18. Jahrhundert in Millionen zu schätzen. Im Unterschied zu den Zeitschriften konnten mit der Zeitung erstmals Teile der Unterschicht-Bevölkerung erreicht werden, vor allem auch in ländlichen Gegenden. Die „Braunschweigische Zeitung" hatte zwischen 1786 und 1788 unter ihren Abonnenten 8 % „Landleute", 10 % Handwerker, 2 % Soldaten, 1 % Gastwirte, konnte nach der Französischen Revolution aber die Landleute auf 3 1 % , die Handwerker auf 1 8 % im Jahre 1794 steigern (Engelsing 1973, 60). Die Bauernunruhen von 1790 (Baden, Rheinland, Sachsen, Mecklenburg, Baltikum) sind nachweislich durch Zeitungsnachrichten über die Ereignisse in Frankreich ausgelöst worden (Welke 1977, 87ff.). Die Zeitung war bereits vor der Französischen Revolution das wichtigste, wirksamste politische Aufklärungsmittel für ,Ungebildete', da man mit ihr das durch dürftige Schulbildung entstandene Informationsdefizit durch Vorlesen und anschließendes Reden im vertrauten Kreis kompensieren konnte. Diese Wirkung ist von einem konservativen Staatsdiener wie Joachim v. Schwarzkopf deutlich erkannt worden: „Eine Folge der neuesten Aufklärung ist dagegen die Allgemeinheit des Zeitungslesens unter denjenigen Ständen, welche wenig oder gar keine wissenschaftliche Kultur haben. In den Dorfschenken und Werkstätten, in der Säbeltasche des Kammerhusaren und in dem Reifrocke der Zofen findet man Zeitungen. Zu Spatens Zeiten mochte es wahr sein, daß der Avisenschreiber seine Zeitung nicht um des Köhlers im Walde, noch um des Bergmanns in den Schächten willen drucken lasse. Jetzt hat der Hufschmied, den uns Hogarth mit dem ,Daily Advertiser' in der Hand zeichnet, in Deutschland das Bürgerrecht erhalten ( . . . ) Sie [die Zeitungslektüre] setzt alles in Spannung über das beschränkte Interesse der Gegenwart und führt so den Dämon
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der Staatskritik in die vertraulichsten Kreise" (Joachim v. Schwarzkopf, Über Zeitungen. Frankfurt 1795, 75 ff.; zit. nach Welke 1977, 87).
In den 90er Jahren beklagten sich auch sonst Vertreter der Obrigkeiten über das neue politische Informationsbedürfnis der Landbevölkerung, die sich nicht mehr mit Bibel, Katechismus und Erbauungsschriften begnügen wollte (Wittmann 1982, 37). Obwohl die ,Volksaufklärung' im spätfeudalen Deutschland noch keine bleibende politische Wirkung haben konnte, hat sie doch mit der Verbreitung neuer politischer Begriffe einen Anfang machen können. Nach den Untersuchungen der neueren B e g r i f f s g e s c h i c h t e (Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.) ist das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts als die „Sattelzeit" anzusehen, in der Theoretiker und Publizisten für die politischen Semantik-Kämpfe des neuen Zeitalters die die Begriffe geprägt hätten: „Für den deutschen Sprachraum läßt sich zeigen, daß seit 1770 eine Fülle neuer Bedeutungen alter Wörter und Neuprägungen auftauchen, die mit dem Sprachhaushalt den gesamten politischen und sozialen Erfahrungsraum verändert und neue Erwartungshorizonte gesetzt haben ( . . . ) Der Kampf um die „richtigen" Begriffe gewinnt an sozialer und politischer Brisanz" (Koselleck 1978, 23).
Es gab z.B. einen Streit um „wahre und falsche Aufklärung" in den 70er Jahren; Wörter wie Aufklärung, Emanzipation, Pressefreiheit, Toleranz, Fortschritt, Öffentlichkeit, Mehrheit, Bürger, Volk, Nation usw. erhielten damals ihre modernen Bedeutungen als Leit-, Ziel-, Kampf- oder Solidarisierungsbegriffe, rund ein Jahrhundert bevor sie in praktische Politik umgesetzt werden konnten. Sogar Anfänge sozialpolitischer Berufs-Euphemismen finden sich, z.B. das 1787 von J. G. Schlosser propagierte Wort Landwirt. Jedenfalls begann die Geschichte unserer politischen Kommunikation nicht erst in der Paulskirche, sondern in den Debattierclubs und Wirtshäusern noch vor der Französischen Revolution. Typischer für die deutsche ,Leserevolution' war jedoch die „ R o m a n l e s e r e y " (Grimminger 1984, 635ff., 702). Als nicht von antiken Vorbildern bestimmte ,moderne' Gattung war beim Roman der Weg frei für seinen Massenkonsum durch ein mittelständisches Publikum, das von den Aufklärungsideen nur mäßig berührt, aber zunehmend erfahrungs- und unterhaltungssüchtig war. Zwischen 1770 und 1790 stieg die Romanproduktion um mehr als das doppelte, auch durch den „sanften Druck von Angebot und Werbung" (Grimminger a.a.O.). Der Anteil der Romane am deutschen Büchermarkt stieg von 4 , 0 2 % (1770) auf 11,68 % (1800), auf 75,35 % der literarischen Produktion (Haferkorn 1974, 201). Mit einer Eigengesetzlichkeit kapitalistischer Überproduktion traten dabei pragmatische und realistische Inhalte der Spätaufklärung immer mehr zurück, und der abenteuerliche, lügenhafte, frivole Motivbestand setzte sich als erste Welle der deutschen T r i v i a l l i t e r a t u r durch (Schulte-Sasse 1971). Diese in Bil-
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ligreihen publizierte „Modeskriblerei" oder „Pfeffertütenliteratur" trug wesentlich zur Entpolitisierung des lesehungrigen Publikums noch vor der Französischen Revolution bei. Die paradoxe Parallele zwischen Französischer Revolution und deutscher „Lesesucht" hat 1795 der Schweizerische Buchhändler und Schriftsteller Johann Georg Heinzmann erkannt: „So lange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanleserey, und in Frankreich die Revolution. Diese zwey E x treme sind ziemlich zugleich miteinander großgewachsen". (J. G. Heinzmann, Über die Pest der deutschen Literatur, 1795, S. 139; zit. nach Wittmann 1982, 85 f.)
Diese Art von Aufklärungs- und Revolutionsverdrängung haben vor allem die Verleger, Nachdrucker und „Lohnschriftsteller" betrieben, indem sie sich kommerziell dem breiten Publikumsgeschmack, politisch den thematischen Restriktionen der Obrigkeiten unterwarfen und die Massenliteratur entpolitisierten, auch aus bürgerlicher Furcht vor Unruhen in den damals stark anwachsenden proletarischen Unterschichten. „Was die Leser zwischen 1770 und 1870 aus ihren Lesestoffen lernen konnten, war fromm zu denken, praktisch zu handeln, von Abenteuern nur zu träumen, mit ihrem Los zufrieden zu sein und Befehle auszuführen" (Schenda 1970, 141). Die ,Leserevolution' war verbunden mit einem beruflichen Strukturwandel vom „ständischen" zum f r e i e n S c h r i f t s t e l l e r , mit folgenden neuen Merkmalen (v. Ungern-Sternberg, in: Grimminger 1984, 133ff.; Haferkorn 1974): - Unabhängigkeit von fürstlichen oder städtischen Mäzenen, von Gelegenheitsaufträgen und nichtliterarischen Hauptberufen, - neue Abhängigkeit von Honorarzahlungen der Verleger für die nun als Waren mit Eigentumsrechten behandelten literarischen Produkte, - neue Abhängigkeit von kollegialen Machtgruppierungen auf dem literarischen Markt: literarische Fehden, Rezensenten-Absprachen („Lobebünde", „Schutz-Cliquen"), - Anonymisierung der Beziehung zwischen Autor und Publikum, Einstellung auf den „gemeinen" oder den idealen Leser, - starke Zunahme der Zahl von Schriftstellern in Deutschland: um 1800 über 10000 (nach Schenda 1970, 143), nicht mehr als 2 - 3 0 0 0 (nach Haferkorn 1974, 202), - Herkunft der meisten Schriftsteller aus dem gebildeten besitzlosen Mittelstand (Beamte, Pastoren, Professoren, Lehrer), weniger aus Adel und oberer Mittelschicht (wie bisher). Zur Zeit der,Leserevolution' hat es in Deutschland so etwas wie ein literarisches Proletariat gegeben, über dessen aufdringliches Benehmen auf der Leipziger Messe man sich beschwerte (Haferkorn 1974, 202). Die meisten Schriftsteller mußten sich damals als „Brot-" oder „Lohnschriftsteller", „Geldautoren", „Polygraphen", „Wortproduzenten", „Miethsclaven", „literarische Tagelöhner",
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als unter Zeitdruck arbeitende Journalisten oder Übersetzer den Verlegern verdingen. Die Honorare waren meist niedrig und willkürlich; das literarische Eigentumsrecht ist erst 1837 gesichert worden. Viele mußten anonym publizieren wegen der Zensur und wegen der Diskriminierung durch die Vertreter der traditionell-ständischen Literatur und deren Rezensentencliquen. Die tiefe Kluft zwischen „hoher" und „niederer" Literatur wurde damals ebenso bewußt wie die zwischen Verlegergewinnen und Autorenhonoraren. In diesen Zusammenhang gehört auch der „ S t u r m und D r a n g " genannte Ausbruch junger Autoren aus der damaligen Kommerzialisierung der Literatur; ihr „Genie"-Begriff ist als Waffe in diesem Konkurrenz- und Profilierungskampf zu erklären (Sauder, in: Grimminger 1984, 337). Das literatursoziologische Bild der Zeit um 1800 wäre sehr einseitig, wenn man z.B. hinter dem gefeierten Goethe nicht auch dessen Schwager, den vielschreibenden, vielgelesenen Christian August Vulpius beachtet. Mit dem Sturm und Drang begann die literarische Realitätsverdrängung des 19. Jahrhunderts. Obwohl es auch da einzelne Ansätze zu sozialkritischer Auffassung der Schriftstellerei gegeben hat (Hamann, Herder, Schillers „Räuber", Goethes „ G ö t z " , Lenz' „Hofmeister"), bedeutet diese Bewegung doch die Einleitung der eskapistischen Ästhetisierung bürgerlicher Hochliteratur in Deutschland, die bewußte Abkehr von dem noch von Gottsched und Lessing vertretenen sozialen Auftrag der Aufklärungsliteratur (Schulte-Sasse, in: Grimminger 1984, 476, 499). Die deutschen Schriftsteller konnten die (in Frankreich und England selbstverständliche) Rolle der politischen Führerschaft nicht übernehmen, da sie im ungebrochenen Absolutismus deutscher Fürsten an der „politischen Heimatlosigkeit" des deutschen Bürgertums verzweifeln mußten und sich vom „Commerzgeist" der Verleger und Publikumsschriftsteller distanzieren wollten (Haferkorn 1974, 179 ff., 234). Die durch Verlegerhonorare erreichte Befreiung vom Mäzenatentum war auch eine Befreiung von der Vormundschaft der Wissenschaften über die schönen Künste und von der traditionellen Regelpoetik, eine elitäre Emanzipation des Schriftstellers zum „einzig wahren Menschen" (Schiller), zum „Gott auf Erden" (Herder), zum „Philister"-verachtenden Originalitätsbewußtsein (Haferkorn 1974, 134, 231 ff.). Schon hier begann die „Abspaltung einer freischwebenden Intelligenz vom kulturkonsumierenden Bildungspublikum" (Habermas 1981, 209). Die individualistische Emanzipation der Sprache des Sturm und Drang, mit irrationalem fragmentarischem Satzbau, mit feuilletonistischen Anspielungen und Mehrdeutigkeiten, mit eigenwilligen emotionalen Wortstellungen, ist aus der neuen Freiheit des „geistigen Eigentums" ebenso erklärbar wie aus dem Leistungsdruck des Originalität erfordernden Literaturmarktes (Haferkorn 1974, 131, 175, 235). Einiges von der „Sprachkrise" der Zeit um 1900 (v. Polenz 1983 b) scheint hier in ersten Ansätzen vorbereitet. Im kulturkritischen Dilettantismus-Projekt Goethes und Schillers (1799) findet sich Kritik an der
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phrasenhaften Verbrauchtheit der Sprache durch Massenbildung (Umbach 1986, 168 ff.). Sturm und Drang und Klassik gehören schon zu unserer Epoche, nicht nur weil sie noch zu den heute kulturell praktizierten Varietäten der deutschen Sprache gehören. Es wäre nur die traditionelle bildungsbürgerliche Sicht, wenn man den Beginn des Industriezeitalters in der deutschen Literatur erst mit Realismus oder Naturalismus ansetzen, also Klassik und Romantik als Vollendung einer alten ,heilen' Welt auffassen würde. Die Übergangsphase beginnt früher: Der idealistische Weg eines noch ständisch lebenden Schriftstellers wie Goethe in den politikfernen Freiraum war bereits eine Reaktion auf den damals um sich greifenden großbürgerlichen „Commerzgeist", den er von Frankfurt und Leipzig her aus erster Hand kannte. Die beiden Entfremdungsebenen industriebürgerlicher deutscher Sprachkultur scheinen bereits um 1770 mit Trivialliteratur und Genie-Literatur etabliert worden zu sein. Mit den euphorischen Wirkungen beider Ebenen konnte man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedrückende Probleme wie Restauration und Pauperismus erfolgreich verdrängen. Die Chancen für politische Schriftsteller waren dadurch für Jahrzehnte blockiert. In Österreich war die Aufspaltung in hohe und niedere Sprachkultur zunächst nicht so kraß. Die Tradition des Wiener Volkstheaters von Prehauser, Kurz und Hafner (1. Hälfte 18. Jahrhundert) bis zu Raimund und Nestroy (1. Hälfte 19. Jahrhundert) war ein Ansatz zu einer nichtelitären städtebürgerlichen literarischen Gesellschaftskultur. Politisch-kritische Sturm-und-DrangDramen wie „Götz", „Räuber" und „Fiesko" wurden in Österreich zunächst nur im Kärntnertheater in Wien aufgeführt. Der ,Anschluß' an die Weimarer Klassik kam in Österreich verspätet mit Grillparzer und Stifter. Die bildungsbürgerliche Modernisierung des T h e a t e r s begann in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts (Meyer, in: Grimminger 1984, 186ff.). Aufgrund von Reformbemühungen der Gottsched-Lessing-Zeit kam es zur Gründung von „Nationaltheatern" (1767 Hamburg, 1779 Mannheim, 1786 Berlin) oder zur entsprechenden Reform von Hoftheatern (1775 Gotha, 1776 Wien, 1791 Weimar). Damit waren entscheidende Veränderungen des deutschen Theaterlebens erreicht: ortsfeste Bühnen, fürstliche bzw. städtische Organisation, ,Zähmung' des Publikums, Kunst- statt Belustigungsfunktion, hoher Ausstattungsaufwand (Illusionstheater), vor allem ein Statuswandel der Schauspieler: sprachlich-textuelle Disziplinierung, feste Besoldung, Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Sprachgeschichtlich bedeutete dies die Voraussetzung für die neue sprecherische Vorbildrolle des seriösen Schauspielers in der bildungssprachlichen Lautnorm, die schließlich Ende des 19. Jahrhunderts als „Deutsche Bühnenaussprache" (Siebs) kodifiziert wurde. Ihre stark pathetische, von der Alltagssprache bewußt abgehobene Tendenz erklärt sich daraus, daß im 19. Jahrhundert zunächst die fürstlichen Theater tonangebend wurden, die zur Integration des Bildungsbürgertums in die Prestigekultur der Residenzstädte beitrugen. Gott-
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scheds ,νοη unten' geplante Reform war in eine Reform ,νοη oben' umgeschlagen; das deutsche Theater ist eine „Institution des aufgeklärten Absolutismus" (Meyer, a. a. O. 210). Es entsprach der Feudalisierung des Besitzbürgertums und Industrialisierung des Landadels, also der für das 19. Jahrhundert konstitutiven Konsolidierung der Oberschichten durch das Allgemeine Preußische Landrecht (1794) und das System des Gymnasiums (Koselleck, Born, Zundel, in: Wehler 1981, 70, 183f., 337). Die mediengeschichtliche R e t a r d i e r u n g s p h a s e begann zur Zeit der Französischen Revolution mit Einführung der Pressezensur, staatlichem Vorgehen gegen Lesegesellschaften und Leihbibliotheken und einer „Anti-Lese-Bewegung" (Schenda 1970, 54), in der Obrigkeiten und Großbürgertum gemeinsame Interessen verfolgten. Goethes Herzog Carl August von Sachsen-Weimar sah die aufklärerische Lese- und Schreiblust der preußischen Offiziere als Ursache für die Niederlage Preußens gegen Napoleon (Umbach 1986,169). Von Volksaufklärung und Literaturexpansion distanzierte sich Goethe in einem Brief an einen Freund 1811: „Die Wahrheit hätte nur unter uns Akademikern bleiben sollen!" (Engelsing 1973, 68). Das Ergebnis der deutschen ,Leserevolution' war eine neue tiefe Kluft zwischen elitärer Bildungsliteratur, die nicht mehr aufklärerisch war, und entpolitisierter, trivialisierter Massenlektüre. Das Scheitern der ,Leserevolution' zeigt sich quantitativ am Rückgang bzw. an der Stagnation der deutschen Buchproduktion in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts (Engelsing 1973, 90ff.; Wittmann 1982, 116). Die Absatzerwartungen der Verleger hatten sich in Bezug auf die sozialen Unterschichten nicht erfüllt. Bis in die zweite Jahrhunderthälfte gehörten Arbeiter und Bauern grundsätzlich noch nicht zu den potentiellen Lesern (Schenda 1970,446, Wittmann 1982, 200ff.). Die Zahl der Analphabeten in Deutschland wird um 1800 auf mehr als drei Viertel, um 1850 auf etwa ein Drittel geschätzt. Der eigentliche große Entwicklungsschub der deutschen Medien- und Bildungsgeschichte kam erst nach der Jahrhundertmitte, durch Rotationsdruck, Verbilligung der Papierherstellung, Massenzeitungen, Eisenbahnverkehr, Zentralisierung der Verwaltung, Einführung der Litfaßsäulen auf Straßen und Plätzen, der Schreibfeder aus Stahl in den Schulen, der Petroleumlampe in den Wohnungen der Unterschichtbevölkerung, Verbot der Kinderarbeit, Entwicklung des Vereinswesens, Bildungsarbeit der Arbeiterbewegung und Gesellenvereine usw. Auf diese Etablierungsphase der modernen deutschen Standardsprache als Öffentlichkeitssprache brauche ich hier nicht weiter einzugehen; sie ist in diesem Kreis nichts Neues. Es ging mir vor allem darum, mediengeschichtliche Hinweise zu geben auf die frühe Vorbereitungsphase, in der seit etwa 1770 auf der oberen Ebene die bürgerliche Bildungssprache in konservativer, politikferner Weise etabliert wurde und auf der mittleren Ebene auf zunächst noch schmaler Basis die standardisierte Öffentlichkeitssprache für die sprachliche Massenkultur der eigentlichen Industrialisierungsepoche entwickelt worden ist.
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Als Forschungs- und Darstellungsrahmen scheint mir die Einbeziehung der Vorbereitungsphase'hier genauso unerläßlich wie etwa die frühen Orthographiebemühungen des 16. Jahrhundert als Vorbereitung der Sprachstandardisierungen der absolutistischen Epoche zu beachten sind, oder wie etwa um 1400 die Flut der Papierhandschriften und Prosaversionen mittelalterlicher Dichtungen mediengeschichtlich die Einleitung der frühbürgerlichen Epoche des frühneuzeitlichen Deutsch darstellt, die man keinesfalls erst mit Luthers Thesenanschlag beginnen lassen darf. Die Zeit von etwa 1770 bis heute erscheint mir jedenfalls als eine Großepoche der deutschen Sprachgeschichte. Als Sprachbenutzer haben wir noch heute vom Erbe dieser Entwicklung zu zehren bzw. es auszulöffeln.
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Joachim
Schildt
Sprache und Sozialgeschichte. Aspekte ihrer Wechselwirkung im 19. Jahrhundert
1. Zu den Grundvoraussetzungen einer Sprachtheorie, die von den philosophisch-weltanschaulichen Positionen des historischen und dialektischen Materialismus ausgeht, gehört die Auffassung vom gesellschaftlichen Charakter der Sprache. Nun bestreiten Sprachwissenschaftler, deren sprachtheoretische Vorstellungen von anderen philosophischen Anschauungen geprägt sind, in der Regel kaum, daß ein Zusammenhang zwischen dem Sprachträger und seiner Geschichte einerseits sowie der Sprache und ihrer Entwicklung andererseits besteht. Die entscheidenden Unterschiede in den Auffassungen ergeben sich meist daraus, daß das zugrunde gelegte Geschichtsbild, aber auch die Vorstellungen vom Wesen der Sprache verschieden sind. Hieraus leitet sich dann meist ein unterschiedliches methodisches Herangehen an die Erforschung der betreffenden Erscheinungen ab, das zu teilweise erheblichen Unterschieden in den Untersuchungsergebnissen führen kann. Bei den folgenden Überlegungen, wie Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen und der sprachlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert aufgedeckt werden können, wird vom Begriff der sprachlichen Kommunikation ausgegangen, wie er in der sowjetischen Psycholinguistik entwickelt worden ist. Ohne hier auf die vielfältigen Aspekte eingehen zu können, die diese Auffassung von sprachlich-kommunikativer Tätigkeit impliziert - vieles ist in dieser Hinsicht außerdem noch im Stadium der Diskussion oder noch nicht in praktikable Forschungsansätze umgesetzt - sollen im folgenden nur einige der grundlegenden Faktoren genannt werden, die bei diesem Herangehen an das Phänomen Sprache eine Rolle spielen (vgl. Sprachliche Kommunikation 1976). Sprachlich-kommunikative Tätigkeit existiert in der Einheit kognitiver und kommunikativer Prozesse; sie ist Spracherwerb und Sprachverwendung zugleich. Sie ist in besonderem Maße abhängig vom Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, vom Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, von der Stellung der Menschen zu den Produktionsmitteln und damit von der Gesellschaftsstruktur; denn aus all diesen Faktoren ergeben sich die Bedingungen, unter denen Kommunikation im Prozeß der Auseinandersetzung des Menschen mit der
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Joachim Schildt
Natur, im Arbeitsprozeß, der sowohl gegenständlich-praktische als auch geistige Tätigkeit umfaßt, abläuft. Sie bestimmen wesentlich, worüber kommuniziert wird, also die Inhalte der Kommunikation, wer mit wem kommuniziert, also die Beziehungen in der Kommunikation. Beim Zusammenleben der Menschen, vor allem im Arbeitsprozeß, entwickeln sich teilweise stabile Gemeinschaften, in denen sich eine bestimmte Funktionsweise der Sprache herausbildet, die als Existenzform der Sprache beschrieben werden kann. Sprachliche Existenzformen sind in der Regel gekennzeichnet durch - einen bestimmten territorialen Geltungsbereich, - eine sie vorrangig tragende, sozial determinierte Sprecherschicht, - spezifische Funktionen, die sie in der sprachlichen Kommunikation einer Gesellschaft ausüben, - eine bestimmte Existenzweise (mündlich oder schriftlich), - ein bestimmtes Sprachsystem mit einer spezifischen Struktur. In längere Zeit existierenden, stabilen kommunikativen Gemeinschaften bilden sich in der Regel Muster aus, nach denen kommuniziert wird; sie stellen also, wenn man Sprache als eine spezifische Form geistiger Tätigkeit des Menschen versteht, Handlungsmuster dar, in denen von den Möglichkeiten, die ein Sprachsystem bietet, eine jeweils spezifische Auswahl getroffen wird. Kommunikative Bedürfnisse, „subjektiv erlebte und widergespiegelte objektive Notwendigkeiten kommunikativer Tätigkeit" (Härtung 1975, 8) sind die Triebkraft sprachlicher Entwicklung. Sie aufzuspüren und präziser als bisher zu beschreiben, ist besonders wichtig, zumal dieser Begriff häufig unscharf und mehr oder weniger unreflektiert verwendet wird. Die gesellschaftlichen Erfordernisse, die Anlaß zur Kommunikation geben, lassen sich einerseits aus Veränderungen in der objektiven Realität von Natur und Gesellschaft ableiten. Auf diese Art ist ζ. B. das Aufkommen neuer Existenzformen der Sprache, die Zübzw. Abnahme der Bedeutung schon vorhandener Existenzformen für die gesellschaftliche Kommunikation erklärbar, ferner Wandel im Bereich der Semantik, vor allem der Lexik; denn neue Wörter oder Bedeutungsveränderungen sind ein Hinweis darauf, daß eine Notwendigkeit besteht, über die neuen Erscheinungen der objektiven Realität bzw. über Wandlungen in ihnen zu kommunizieren. Kommunikative Bedürfnisse können andererseits aus der Analyse von Texten, geronnenen Sprachhandlungen, erschlossen werden; denn ihre Produktion ist Ausdruck der Befriedigung von Bedürfnissen, die sich in der sprachlichen Kommunikation entwickeln. In diesem Zusammenhang ist textgründenden Faktoren nachzugehen; vom Autor, der in einem soziologischen Umfeld zu sehen ist, sowie vom Gegenstand der Darstellung eines Textes ausgehend kann Aufschluß über die Motive des Textproduzenten, seine Mitteilungsabsicht, die Gruppen und Schichten von Menschen, die er damit erreichen will, den Adressatenkreis, gewonnen werden; damit können Einzelheiten erschlossen werden, die die Konstituierung von Texten zu einer kommunikativen Notwendigkeit machen. Die-
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ser Prozeß der Textproduktion erfolgt nach Handlungsmustern, für die bestimmte Stilmuster typisch sind, d.h. es ist aufzuspüren, welchen Einfluß die textgründenden Faktoren auf die Wahl sprachlicher Mittel und damit auf die Entstehung von Varietäten haben. Deren zeitliches Nebeneinander kann sich in der Rückschau als Repräsentanz von Varietäten erweisen, die zeitlich aufeinanderfolgende Stufen der Sprachentwicklung darstellen. Die Verbreitung neuer Varietäten, d. h. ihre Bevorzugung gegenüber älteren, zunächst noch gleichwertigen und ihre Akzeptanz durch die soziale Gruppe und später die Sprachgemeinschaft, damit ihre Aufnahme in das System der Verwendungsnormen zu untersuchen ist vorrangige Aufgabe vor allem soziolinguistischen Herangehens an Probleme des Sprachwandels. Es ist also kommunikativen Ursachen, Erfordernissen für das Aufkommen, vor allem aber für die Durchsetzung und Auf- bzw. Annahme von Varietäten nachzugehen, seien es Veränderungen im Bereich der Existenzformen der Sprache sowie in ihrem Verhältnis zueinander, seien es Wandlungen auf den einzelnen Ebenen des Sprachsystems. Veränderungen in der Funktionsweise einer Sprache, also in den Existenzformen können auch als Kriterium für die Periodisierung der Entwicklung von Sprachen, d. h. für das Setzen von Zäsuren, verwendet werden. Derartige Einschnitte korrespondieren im wesentlichen - zumindest bezogen auf die deutsche Sprachentwicklung - mit Zäsuren, die unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten von den Wirtschafts-, Sozial- und zum großen Teil auch von Kulturgeschichtlern vorgenommen werden. Hier ist es allerdings erforderlich, einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und eine überzeugende Feinklassifizierung zu versuchen, die darüber hinaus Bündelungen von Veränderungen in der Sprachverwendung auf allen Ebenen des Sprachsystems in die Entscheidungsfindung einbezieht. Damit kann der Eigengesetzlichkeit sprachlicher Entwicklung durchaus Rechnung getragen werden. Hier sollten nur einige Grundprinzipien und Möglichkeiten eines sozialgeschichtlichen Herangehens an Erscheinungen sprachlicher Entwicklung skizziert werden. Als Aufgabenstellung bleibt: Es ist notwendig, tiefer als bisher in den vielfach vermittelten Zusammenhang von Sprachwandlungsprozessen und kommunikativen Prozessen, die ihrerseits letztlich sozialökonomisch determiniert sind, einzudringen; das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Komponenten in diesem komplizierten Wirkzusammenhang muß aufgedeckt werden.
2. Im folgenden sollen bei der Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Sprach- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert diese theoretischen Vorstellungen zugrunde gelegt werden. Dabei beschränke ich mich hier auf den Nachweis, daß sozialökonomische Veränderungen in dieser Zeit Wandlungen in der Funktionsweise der deutschen Sprache zur Folge hatten, d.h. ich konzentriere mich auf die Erhellung des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung der sozialöko-
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nomischen Verhältnisse und der der sprachlichen Existenzformen, greife also nur einen Aspekt aus den voranstehenden theoretischen Überlegungen heraus (vgl. Auswirkungen 1981). 2.1. Zu den sozialökonomischen Prozessen, in denen Veränderungen in besonderem Maße Wandlungen in den Bedingungen der Kommunikation nach sich zogen, gehören die Kapitalisierung der Landwirtschaft sowie die industrielle Revolution, die in Deutschland beide zeitlich weitgehend zusammenfielen (Berthold 1981, 712). Mit den seit 1807 in Preußen durchgeführte Agrarreformen wurde der Kapitalisierungsprozeß auf dem Lande in Deutschland eingeleitet; ihnen Schloß sich im Laufe der Zeit die Masse der deutschen Staaten an. In seinem Verlauf wurde auf dem Lande eine agrarische Überschußbevölkerung freigesetzt; die Zahl der landlosen Bauern und kleinen Parzellenbesitzer sowie der landarmen Handwerker, die jetzt ihre Arbeitskraft als Lohnarbeiter verkaufen mußten, stieg sprunghaft an; damit löste sich die alte feudale Klassenschichtung auf dem Lande auf. Große Teile dieser Landarmut hatten auf dem Dorf kein Auskommen mehr und wanderten in die Städte und die sich im Zusammenhang mit der industriellen Revolution herausbildenden industriellen Zentren ab in der Hoffnung, hier Arbeit und Brot zu finden. Andere - meist mit kleinerem Landbesitz, der aber keine Familie mehr ernährte - suchten als Pendler in der Stadt Arbeit; am Tage arbeiteten sie in der Fabrik, am Abend kehrten sie aufs Land zu ihrer Familie zurück. Eine Dynamik in der Bevölkerungsentwicklung erzeugten auch die sogenannten Binnenwanderungen. Viele Menschen, die in ihrer Heimat kein Auskommen hatten, zogen - oft über weite Strecken - in jene Gebiete, in denen Saisonarbeiter gebraucht wurden, wo der technische Fortschritt, z.B. in Gestalt des Eisenbahnbaus, vorangetrieben wurde. Aus diesen wenigen Hinweisen wird bereits deutlich, daß sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den genannten sozialökonomischen Prozessen eine über Jahrhunderte recht stabile Bevölkerungs- und Sozialstruktur grundlegend änderte. „Wo das Kapital Fuß faßte, erhielt die Bevölkerungsbewegung neue Charakterzüge, wurde ihr Verlauf geändert" (Khalatba-
1849 1858 1864 1871
26,52% 20,60% 31,10% 32,33 %
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Tabelle 2 Sachsen prozentualer Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung
1855 1858 1864 1867
Dresden
Leipzig
Regierungsbez. Zwickau
Bautzen
Königreich Sachsen
37,86% 38,74% 41,09% 42,09%
40,72% 41,07% 41,43% 42,14%
38,78 % 59,51 % 41,27% 41,33%
15,77% 11,02% 17,14% 17,98%
35,66% 36,33% 37,99% 38,61 %
ri 1981, 632). Immer mehr Menschen verließen das Dorf und konzentrierten sich in den Städten und industriellen Zentren. Folgende zwei Übersichten für Preußen und Sachsen {Tab. 1 und 2) machen beispielhaft deutlich, wie sich das Verhältnis Stadt - Land allmählich immer mehr zugunsten der Stadt verschob (Bekker 1960, 218). Für die Sprachentwicklung ist nun nicht nur wichtig, daß mit der Landflucht eine Konzentration von Menschen in Städten und industriellen Zentren verbunden war, sondern genauso bedeutsam ist die Tatsache, daß hier Menschen mit unterschiedlicher territorialer Herkunft - und damit unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen - zusammenkamen, die gezwungen waren, sowohl im Arbeitsprozeß als auch im Privatleben miteinander zu kommunizieren. Folgende Zusammenstellung {Tab. 3 nach Becker 1960, 230) für Berlin des Jahres 1871 macht beispielhaft deutlich, aus welchen Gebieten Deutschlands die Zuwanderer nach Berlin gekommen waren. Tabelle 3 Prozentuale Zusammensetzung der Bevölkerung Berlins 1871 [nach Becker 1960, 230] Berlin Brandenburg Schlesien Sachsen Pommern Provinzen Preußen Posen
43,58% 20,16% 7,86% 6,72% 5,48% 3,88% 3,54%
Rheinland Hannover Westfalen Hessen/Nassau Schleswig andere Gebiete
0,98 % 0,70% 0,59% 0,33% 0,27% 5,91 %
Außerdem ist ein natürlicher Zuwachs der Bevölkerung zu verzeichnen, der die Proportionen zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung zusätzlich zugunsten der ersteren verschob. „Hinzu kam noch der außerordentliche Bevölke-
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rungszuwachs, der nach statistischen Angaben, wenn man von dem Gebietsumfang von 1871 ausgeht, sich zwischen 1816 und 1830, also in 14 Jahren, fast um 2 0 % , von 24,8 auf 29,5 Millionen gesteigert h a t " (Mottek 1960, 28). 2.2. Diese Verschiebungen in der Bevölkerungs- und Sozialstruktur, ausgelöst durch die Kapitalisierung der Landwirtschaft und die industrielle Revolution, veränderten für große Teile der Bevölkerung seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die kommunikativen Bedingungen grundlegend. Es wandelten sich die Beziehungen in der Kommunikation; in den Städten und industriellen Zentren entstanden neue kommunikative Gemeinschaften, sowohl im Produktionsprozeß als auch im Privatleben der hier ansässigen Menschen. Kommunikationsbeziehungen begannen sich auch, bedingt durch die Entwicklung des Verkehrswesens, später der Post, über größere Entfernungen herauszubilden. Neue Inhalte mußten kommunikativ bewältigt werden; die sich schnell verändernde gesellschaftliche Realität in den sozialökonomischen Verhältnissen, die bald Wandlungen in allen übrigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nach sich zog, war Ursache dafür, daß es notwendig wurde, über sie zu kommunizieren. In dem Zusammenhang sei vor allem auf die schnell zunehmende Arbeitsteilung sowie eng damit verbunden - auf die Spezialisierung im Arbeitsprozeß verwiesen, die völlig neue Sachverhalte mit sich brachte, die im Prozeß der Kommunikation verarbeitet werden mußten. 2.3. Die hier in groben Umrissen beschriebenen Veränderungen in den kommunikativen Verhältnissen, die letztlich — wie deutlich wurde — sozialökonomische Ursachen hatten, zogen nun, vielfach vermittelt, Wandlungen in den sprachlichen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts nach sich. Hier soll nur - wie schon angemerkt - auf die Auswirkungen in den sprachlichen Existenzformen eingegangen werden (vgl. Kettmann 1981). Um diese besonders deutlich werden zu lassen, sei kurz auf die sprachliche Situation gegen Ende des 18. Jahrhunderts verwiesen. 2.3.1. Die sprachliche Grundschicht stellten Territorialdialekte dar, die teils aus germanischen Stammessprachen hervorgegangen waren, teils - wie im Gebiet der Ostexpansion — Mischdialekte darstellten. In den einzelnen Territorialdialekten hatten sich - in Korrespondenz zur zunehmenden feudalen Zersplitterung im Mittelalter — Ortsmundarten herausgebildet; sie waren das Kommunikationsmittel bäuerlich-plebejischer Schichten auf dem Lande. - In den Städten wurden von der breiten Masse der Bevölkerung Stadtdialekte gesprochen. Sie bauten auf dem Territorialdialekt des Gebietes auf, in dem die jeweilige Stadt lag; aber in dem Maße, in dem die Städte zu Sammelbecken von Menschen ganz unterschiedlicher territorialer Herkunft wurden, nahmen sie in wachsendem Maße auch Elemente anderer Territorialdialekte auf.
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Auf der Grundlage der Territorialdialekte hatte sich in einem komplizierten Prozeß der Auswahl und des Ausgleichs zwischen verschiedenen territorial gebundenen Schriftsprachen im Verlaufe von rund 300 Jahren gegen Ende des 18. Jahrhunderts - in Korrespondenz mit der Herausbildung einer bürgerlichen deutschen Nation - eine relativ einheitliche Norm der Schriftsprache mit Geltung für das gesamte deutsche Sprachgebiet ausgebildet, und zwar sowohl im phonologischen als auch im grammatischen Bereich. Sie fand in den Werken der Klassik und Romantik ihre spezifische Ausprägung als Dichtersprache. Sie war ein polyfunktionales Gebilde, mit dessen Hilfe es möglich war, in allen anfallenden Situationen dem Gegenstand und dem Partner entsprechend angemessen zu kommunizieren. Ihre Trägerschicht war zahlenmäßig relativ klein und bestand weitgehend aus Angehörigen adliger und bürgerlicher Schichten, die die Voraussetzung für ihre Beherrschung, nämlich ein hohes Maß an Schulbildung, besaßen. Die sozial unterprivilegierten Schichten dagegen waren aufgrund mangelnder Bildungsvoraussetzungen von ihrer Verwendung weitgehend ausgeschlossen; ihr sozialökonomischer Status machte jedoch die Beherrschung dieser Sprachform auch nicht erforderlich. Zwischen den Territorialdialekten und der Schriftsprache stehend hatte sich im Existenzformengefüge auf der Grundlage der Dialekte eine weitere sprachliche Existenzform herausgebildet, die vorwiegend mündlich gebrauchte Umgangssprache. Sie war ein in sich vielfach geschichtetes Gebilde, so daß mit verschiedenen Typen gerechnet werden muß. In Umgangssprachen fehlen die „primären" Merkmale, die Dialekte auszeichnen; ganz spezifische Merkmale sind aufgegeben, so daß sie auch großräumiger gültig sind als Dialekte bzw. Ortsmundarten. Mit Sicherheit gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine „gehobene", auf die Schriftsprache orientierte Umgangssprache, die wohl auch großlandschaftliche Geltung besaß, ein mündliches Kommunikationsmittel gehobener bürgerlicher und adliger Schichten. Viele Indizien weisen jedoch darauf hin, daß sich auf der Grundlage der Stadtdialekte noch ein anderer Typ von Umgangssprache zu entwickeln begann, die dialektnahe „niedere" Umgangssprache; sie war das Kommunikationsmittel sozial unterprivilegierter Schichten in der Stadt. 2.3.2. In diesem Gefüge der Existenzformen kam es nun unter dem Einfluß der voranstehend beschriebenen Veränderungen in der Sozial- und Bevölkerungsstruktur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden Verschiebungen im Verhältnis der einzelnen Existenzformen zueinander. Wesentliche Veränderungen betreffen zunächst die mundartnahe „niedere" Umgangssprache in der Stadt. Die Zahl derer, die sich ihrer als Kommunikationsmittel bedienten, stieg durch die Zuwanderungen vom Lande erheblich an, d. h. ihre Trägerschicht nahm stark an Umfang zu; denn die Landflüchtigen, die in der Stadt ihr Auskommen suchten, paßten sich in der Regel den sprachlichen Verhältnissen in der
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Stadt an. Sie übernahmen die „niedere" Umgangssprache, die für sie in der Regel das einzige Kommunikationsmittel wurde, das sie beherrschten. Im Prozeß ihrer Aneignung trugen sie sicher dazu bei, daß sich auch diese sprachliche Existenzform weiterentwickelte. Pendler, die im Grunde zwei kommunikativen Gemeinschaften angehörten, einer städtisch geprägten während des Arbeitsprozesses in der Stadt, einer agrarisch bestimmten am Feierabend sowie am Wochenende auf dem Dorf, verbreiteten sie in der näheren Umgebung der Stadt, d. h. trugen dazu bei, daß sie großräumiger gültig wurde. Dasselbe gilt auch für die Binnenwanderer. Eingemeindungen im Prozeß des weiteren Ausbaus von Städten und industriellen Zentren hatten ebenfalls zur Folge, daß sich diese sprachliche Existenzform weiter auf Kosten des in der Umgebung der Stadt gesprochenen Territorialdialekts ausbreitete. Die mundartnahe „niedere" Umgangssprache wurde das Kommunikationsmittel breiter unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen in der Stadt, der Arbeiter, Händler, Kleingewerbetreibenden und ihrer Familien, aber auch der Stadtarmut. Sie sprachlich in ihrer Struktur zu beschreiben, ist äußerst schwierig, da von dieser Sprachform, die vorwiegend gesprochen wurde, kaum Zeugnisse überliefert sind. Sie wird nur dort faßbar, wo sie in Romanen und Theaterstücken zur Personencharakterisierung verwendet wird oder wo sie wie z.B. bei A. Glaßbrenner (vgl. Berlinisch 1986) in Berlin - in Volksstücken verwendet wird. Vereinzelt geben auch Fachjargonismen - vgl. Saft für Strom, Strippe für elektrische Leitung, Kurzer für Kurzschluß einen Eindruck davon, wie Fachwörter der Schriftsprache diesem Typ von sprachlicher Existenzform angepaßt werden. In dem Maße, wie die Landflüchtigen, Pendler, Binnenwanderer in den Städten und industriellen Zentren zur „niederen" Umgangssprache übergingen, d. h. sich deren soziale Basis bedeutend erweiterte, verringerte sich gleichzeitig die Zahl der Sprecher von Territorialdialekten bzw. Ortsmundarten; die soziale Trägerschicht dieser sprachlichen Existenzform wurde also kleiner. Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, daß es auch nicht mehr möglich war, mit Hilfe des Dialekts bzw. der Ortsmundart, die durch vorwiegend agrarische Bedingungen geprägt waren, allen kommunikativen Situationen, die sich mit der industriellen Revolution und ihren Folgen entwickelten, gerecht zu werden. Die Bedeutung der Dialekte bzw. Ortsmundarten für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation begann also geringer zu werden; es setzte ein Prozeß ein, in dessen Verlauf die Dialekte allmählich durch die Umgangssprache als sprachliche Grundschicht abgelöst wurden. Die Zunahme der Bedeutung von Umgangssprachen für die sprachliche Kommunikation unter den Bedingungen der industriellen Revolution hatte auch zur Folge, daß sich Umgangssprachen und Schriftsprache einander anzunähern begannen, d. h. das Normengefüge der Schriftsprache, das sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte, änderte sich derart, daß umgangssprachliche Erscheinungen Eingang darin fanden. Bedeutung kommt in diesem Zusam-
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menhang vor allem den Massenmedien zu, durch die derartige Innovationen umgangssprachlicher Herkunft in der Schriftsprache verbreitet wurden. 2.3.3. Aus den unter 1. dargelegten Vorstellungen über das Verhältnis zwischen sprachlicher Kommunikation und Gesellschaft, über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung kommunikativer Verhältnisse sowie der Sprachentwicklung lassen sich auch Kriterien dafür ableiten, wo im Kontinuum sprachlicher Entwicklung Zäsuren, Periodeneinschnitte zu setzen sind (vgl. Periodisierung 1982). Die Periodisierung ist für den Sprachhistoriker bekanntlich insofern wichtig, als sie helfen kann, tiefer in das Erkennen des objektiven sprachlichen Geschehens einzudringen, qualitative Veränderungen in der Entwicklung einer Sprache deutlich zu machen. Hier einige Hinweise dazu, die andeuten, in welche Richtung derartige Überlegungen gehen. Zäsuren müßten dort angesetzt werden, wo grundlegende Veränderungen in den kommunikativen Verhältnissen, die - wie dargelegt letztlich sozialökonomisch determiniert sind, entsprechende wesentliche Wandlungen in der Funktionsweise einer Sprache zur Folge haben. Da sich die Funktionsweisen einer Sprache in Existenzformen beschreiben lassen, bedeutet das, daß Veränderungen bei den Existenzformen ein entscheidendes Kriterium für das Setzen von Hauptzäsuren sein müßten, also im Hinblick auf die bereits genannten Größen wie territorialer Geltungsbereich, soziale Trägerschicht, Funktion in der sprachlichen Kommunikation, vorherrschende Existenzweise und die für ihr System typische Struktur. Da derartige Wandlungen immer einer längeren Anlaufphase bedürfen, bis sie sich dann durchsetzen, sollte Konsens darüber erreicht werden, daß es sich immer, wenn Jahreszahlen für Einschnitte genannt werden, um Orientierungsdaten handelt, die Übergangsphasen von einer längeren Dauer markieren. Natürlich ist es notwendig, über die Fixierung von Hauptperioden hinaus weitere Unterphasen herauszuarbeiten. Hier bietet es sich an, Bündelungen von Veränderungen in den Verwendungsnormen auf allen sprachlichen Ebenen herauszuarbeiten und als Maßstab für diese Zäsurensetzung zu nehmen. Damit würde auch die relative Eigengesetzlichkeit sprachlicher Entwicklung hinreichend Berücksichtigung finden. Von diesen Überlegungen ausgehend müßte um 1800 eine neue Hauptperiode der deutschen Sprachentwicklung angesetzt werden, die bis in die Mitte unseres Jahrhunderts reicht; denn es vollziehen sich — wie kurz skizziert - grundlegende Veränderungen in der Funktionsweise der deutschen Sprache, im Verhältnis der einzelnen Existenzformen zueinander, also im Existenzformengefüge, wie in den Existenzformen selbst. Innerhalb dieser Entwicklungsphase deuten sich z.B. aus syntaktischer Sicht (vgl. Admoni 1987) weitere Einschnitte an; Admoni sieht sie um 1830, zwischen 1870 und 1880 sowie zwischen 1930 und 1940. Hier wäre zu prüfen, ob diese Zäsuren aufgrund von Veränderungen auf den anderen sprachlichen Ebenen bestätigt werden können.
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3. Dieses Beispiel, an dem versucht wurde, tiefer als bisher in die Wechselwirkungen zwischen Sprach- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert einzudringen, macht deutlich: Hier liegt ein sehr kompliziertes Bedingungsgefüge vor. Soziale Faktoren wirken nur in vielfach vermittelter Weise auf die Sprache; dabei ist vor allem vor mechanischen Vorstellungen zu warnen. Weitere Fortschritte bei der Erforschung sozial bedingten Sprachwandels lassen sich im Grunde nur machen, wenn es gelingt, in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Literaturhistorikern, Wirtschafts- und Polithistorikern, Soziologen und Pädagogen weiter voranzukommen. Es genügt nicht mehr, sich nur entsprechendes Wissen einschlägiger Disziplinen anzueignen. Der Sprachhistoriker muß deutlich machen, wo er mit Mitteln der Sprachwissenschaft allein keinen wesentlichen Erkenntnisfortschritt mehr erreicht, wo er das Spezialwissen des Vertreters der anderen Disziplin benötigt, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Darüber hinaus ist natürlich auch das sprachwissenschaftliche Instrumentarium zu verfeinern. Gerade in letzter Zeit ist immer wieder deutlich geworden, daß dem Text mit all den ihn bedingenden und konstituierenden Faktoren verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß; Texttypologien — auch für das 19. Jahrhundert - müssen erarbeitet werden. Dabei ist intensiver als bisher der Frage nachzugehen, worin die Besonderheiten mündlicher Kommunikation einerseits, schriftlicher andererseits bestehen. Da viele Prozesse des Sprachwandels in der gesprochenen Sprache ihren Ausgang nehmen, ist es außerdem erforderlich, stärker als bisher das Augenmerk auf jene Texte zu richten, in denen sich Reflexe bzw. Einflüsse gesprochener Sprache finden. Für das 19. Jahrhundert sind weitere, bisher noch unbeachtet gebliebene Texte zu erschließen, bereits zugängliche sind unter modernen Gesichtspunkten erneut zu analysieren. Wenn es gelingt, auf diesem Wege Fortschritte zu erzielen, dann wird es auch eine Antwort auf eine der Grundfragen der deutschen Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert geben, nämlich, wie sich das Verhältnis zwischen gesprochener Umgangssprache und der Schriftsprache, dem nationalen Standard, im einzelnen entwickelte.
Literatur Admoni, Wladimir G. (1987): Die Entwicklung des Satzbaus der deutschen Schriftsprache im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin ( = Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 62). Auswirkungen (1981): Die Auswirkungen der industriellen Revolution auf die deutsche Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Joachim Schildt, Berlin ( = Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 60). Becker, Walter (1960): Die Bedeutung der nichtagrarischen Wanderungen für die Herausbildung des industriellen Proletariats in Deutschland, unter besonderer Berücksich-
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tigung Preußens von 1850 bis 1870. In: Hans Mottek/Horst Blumberg/Heinz Wutzmer/Walter Becker (Hg.): Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Berlin, 2 0 9 - 2 3 8 . Berlinisch (1986): Berlinisch. Geschichtliche Einführung in die Sprache einer Stadt. Hg. von Joachim Schildt und Hartmut Schmidt, Berlin. Berthold, Rudolf (1981): Landwirtschaft. In: Handbuch Wirtschaftsgeschichte. Hg. vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin, 7 0 9 - 7 1 8 . Härtung, Wolfdietrich (1975): Die Entwicklung der kommunikativen Bedürfnisse in der sozialistischen Gesellschaft. In: Zur Entwicklung der Sprache unter der Bedingung der Kommunikationsbedürfnisse und -inhalte in der sozialistischen Gesellschaft (Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte, Heft 28), Berlin, 1 - 3 4 . Khalatbari, Parviz (1981): Bevölkerungsbewegung. In: Handbuch Wirtschaftsgeschichte. Hg. vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin, 6 3 2 - 6 3 8 . Kettmann, Gerhard (1981): Die Existenzformen der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert - ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zueinander unter den Bedingungen der industriellen Revolution. In: Auswirkungen 1981, 35—97. Mottek, Hans (1960): Einleitende Bemerkungen - Zum Verlauf und zu einigen Hauptproblemen der industriellen Revolution in Deutschland. In: Hans Mottek/Horst Blumberg/Heinz Wutzmer/Walter Becker (Hg.): Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland. Berlin, 1 1 - 6 3 . Periodisierung (1982): Zur Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte. Prinzipien Probleme - Aufgaben. Hg. von Joachim Schildt (Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte, Heft 88), Berlin. Sprachliche Kommunikation (1976): Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfdietrich Härtung. 2. unveränd. Aufl. Berlin.
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Verstädterung und Binnenwanderung als Faktoren soziokommunikativen Wandels im 19. Jahrhundert*
„In dieser erweckten Zeit entstehen täglich neue Dinge und mit denselben neue Wörter, und wo man nicht flugs das neue Wort findet, da prägt man ein altes zu neuem Werte um" (Jantke/Hilger 1965, 394). Diese, wie mir scheint, typische Beobachtung steht am Anfang einer „Volksrede", die der konservative Zeitkritiker Wilhelm Heinrich Riehl im Jahre 1848 verfaßt hat. Riehl brachte hier einen Sachverhalt auf den Punkt, der viele seiner bürgerlichen Zeitgenossen nicht erst im Zusammenhang mit der Revolution höchst beunruhigte: Die seit einer Reihe von Jahren ablaufenden vielen Teilprozesse jenes globalen sozioökonomischen Wandels, den wir inzwischen mit dem farblosen Oberbegriff „Modernisierung" bezeichnen, waren äußerst schwer in den Griff zu bekommen, weil die klaren Begriffe fehlten, was wiederum etwas mit dem Begreifen zu tun hatte. Um es salopp auszudrücken: Auch rein sprachlich begann man zu schwimmen! Der zunächst von vielen aufgeklärten Zeitgenossen begrüßte Fortschritt zeigte ein Janusgesicht; er entwickelte eine nicht mehr steuerbare Rasanz und vor allem Züge, die immer stärker als Bedrohung und immer weniger als „Emanzipation", d.h. als Befreiung aus den Zwängen der ständischen Welt, empfunden wurden. Aus der Fortschrittseuphorie wurde die „Emanzipationskrise", die nicht nur Existenzbedrohungen für immer mehr Menschen mit sich brachte, sondern zugleich eine sich schnell ausbreitende Unsicherheit des etablierten Bürgertums, wie die mehr dumpf geahnten als klar erkannten Prozesse zu deuten waren. Die allgemeine Mobilisierung der „Kräfte und Kapitale", d. h. sowohl die räumliche als auch die soziale Mobilität, führte zunächst einmal zur Dekorporierung, d. h. zur Auflösung der traditionellen ständischen Bindungen, zur Disproportionierung, d.h. zum ungebremsten Wuchern der Unterschichten, und zur Entsittlichung, d. h. zum Verlust an sinn- und haltgebenden Sitten und Normen (Conze 1976, 1 1 1 - 1 3 6 ) . * Teile des folgenden Beitrags werden in geringfügig veränderter Form auch in einem von Joachim Jens Hesse hg. Sammelband zur kommunalen Wissenschaft und Praxis abgedruckt, der im Herbst 1988 erscheinen soll.
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Der eingangs zitierte Wilhelm Heinrich Riehl wurde in dieser Zeit zu einem der wohl wirksamsten Deuter und Interpreten für ein erschrecktes Bürgertum. Er sah in erster Linie in den bis zur „Monstrosität" wachsenden Städten den Nährboden „allen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Übels" seiner Zeit; sie - die Städte - stellten für ihn die „Sammelbecken" jenes Standes der Standeslosen dar, auf dem vornehmlich ein „sittlicher Fluch" ruhe: nämlich des „geschichts- und traditionslosen Proletariats" (Bergmann 1970, 38ff.). Riehls Deutungen lieferten die wichtigsten Argumente für eine Verstädterungskritik, die dann in den 1880er/1890er Jahren in eine breite Zivilisationsskepsis großer Teile des traditionellen Bürgertums einmündete (Bergmann 1970, 30ff.; Lees 1985). Neben einer Fülle von Schriften war der öffentliche Vortrag das Mittel, mit dem der wortgewaltige Riehl unermüdlich seine Analyse der Verstädterungsfolgen und seine Lösungsstrategien zu verbreiten suchte. Über 1000 solcher Vorträge soll er seit den 1850er Jahren gehalten haben. Indem einleitend mit solchen Hinweisen ein mentalitätsgeschichtliches Szenario angedeutet wird, das sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer weiter ausfächerte und differenzierte, wird im Grunde schon ein zweiter Schritt vor dem ersten getan. Denn hier werden ja bereits Reaktionen auf die Wahrnehmung von Wandlungsprozessen angesprochen, die zunächst noch etwas genauer charakterisiert werden müssen. Aber es sollte von vornherein darauf hingewiesen werden, daß Verstädterung und Binnenwanderung nicht nur in vielfältiger Weise soziokommunikativen Wandel angestoßen haben, sondern immer auch Gegenstände von Kommunikation waren, ja geradezu eine spezifische Art von Kommunikation und eigene Kommunikationsnetze ins Leben riefen. Insofern ist m.E. von einer engen Verknüpfung der ablaufenden Prozesse mit deren zeitgenössischer Wahrnehmung auszugehen, da es im Gefolge der Kommunikation über die (nur selektiv) wahrgenommenen Entwicklungen immer wieder zu Steuerungsstrategien und Weichenstellungsversuchen durch gesellschaftliche Gruppen gekommen ist und sich auch die Individuen aufgrund ihrer Wahrnehmung zu entsprechendem Handeln, ζ. B. zur Wanderung, entschlossen haben. Was die angesprochenen Prozesse als solche angeht, so ist zunächst einmal von folgenden relativ trivialen Ergebnissen der Urbanisierungsforschung auszugehen: Die Verstädterung war ein Teilprozeß des gesamten Modernisierungsprozesses; sie ist in engem Zusammenhang mit der Industrialisierung zu sehen, hat sich aber zunehmend durch eine selbstverstärkte eigenständige Dynamik ausgezeichnet (Matzerath 1985). Als Erscheinung von massenwirksamer Bedeutung trat sie erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf, also rund zwei Jahrzehnte später, als Riehl mit der Verbreitung seiner großstadtkritischen Thesen an die Öffentlichkeit trat. Die Wirkung seiner Schreckbilder, die er im wesentlichen aus englischen Verhältnissen ableitete, beruhte wohl nicht zuletzt darauf, daß er seinem Publikum wie ein Prophet erschien.
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Der Verstädterungsprozeß im engeren Sinn, d.h. noch nicht verstanden als Urbanisierung, womit die Ausbreitung von Urbanen Lebensformen gemeint ist (Reulecke 1985,11 f.), speiste sich aus drei Quellen: aus dem natürlichen Bevölkerungswachstum durch Geborenenüberschüsse, aus dem Zuzug in die Städte von außen und - seit dem Ende der 1880er Jahre - aus den Eingemeindungen. In folgenden, viel zitierten Zahlenangaben spiegeln sich die gewaltigen Umbrüche wider: Lebte um 1820 weniger als ein Drittel der Bevölkerung Preußens in Orten mit über 2000 Einwohnern, so waren es kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits rund zwei Drittel. Das Verhältnis von Stadt zu Land hatte sich also umgekehrt! Die größten Gewinner waren die Großstädte. War 1871 erst jeder fünfte ein Großstädter, d. h. ein Bewohner einer Stadt mit mehr als 100000 Einwohnern, so war es 1910 bereits jeder zweite im Deutschen Reich. Die Zahl der deutschen Großstädte stieg in diesem Zeitraum von 8 auf 48. Die Einzelelemente, die diesen tiefgreifenden Strukturwandel bewirkt haben, sind allerdings schwer voneinander zu isolieren und ebenso schwer exakt zu gewichten: „Verstädterung ist Ursache und Folge zugleich" (Pfeil 1972, 115). Immerhin kam der gesamte Bevölkerungszuwachs (nach Abzug der rund 2,7 Millionen Überseeauswanderer), der im Deutschen Reich von 1871 bis 1910 588 % betrug, fast ausschließlich den Städten zugute, während die Landbevölkerung stagnierte. Die sprunghafte Ausdehnung des Nahrungsspielraums im gewerblich-industriellen Sektor konzentrierte die Menschen vornehmlich in den Industriezentren. Diese wirkten wie Magnete. Insofern läßt sich behaupten, daß die Verstädterung in erster Linie ein Produkt der Binnenwanderung war (Köllmann 1974, 130 und 141). Diese Entwicklung setzte punktuell schon vor dem eigentlichen industriellen ,,take-off" ein: Die sog. Umland- und Nahwanderung führte bereits im Vormärz arbeitsuchende Menschen aus einem Umkreis von bis zu 150 km in jene noch wenigen Textilgewerbezentren, die sich in dieser Zeit industriell zu überformen begannen. Mit dem Ausbau der Industrieagglomerationen, besonders des schwerindustriell geprägten Ruhrgebiets seit den 1850er Jahren, und ihrem großen Arbeitskräftebedarf weitete sich der Radius der Gebiete, aus denen vor allem ländliche Unterschichten abwanderten, ständig aus, so daß schließlich die Fernwanderung, im wesentlichen die Ost-West-Wanderung aus den preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen und ζ. T. auch Schlesien, zu einer Massenerscheinung wurde: Etwa 1,5 Millionen Menschen wanderten zwischen 1880 und 1907 allein in die beiden Provinzen Rheinland und Westfalen. Wanderungen werden durch Pull- und/oder Push-Impulse ausgelöst (Köllmann 1986, 260-269). In den Verhältnissen im deutschen Kaiserreich spiegelt sich die Wirksamkeit beider Impulse zugleich wider: Der Anlaß für einen Menschen, seinen bisherigen Wohnort, der für die agrarische Bevölkerung zumeist auch der Geburtsort war, zu verlassen, konnte sowohl die Aussichtslosigkeit
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sein, in seinem an die Grenzen des Nahrungsspielraums stoßenden Lebensumfeld auf Dauer ein Auskommen zu finden, als auch die Hoffnung, er könne in den expandierenden Industriestädten seinen Lebensstandard verbessern und vielleicht sogar sozial aufsteigen. Ζ. T. wurden solche Hoffnungen durch eine gezielte Arbeitskräftewerbung genährt. Während die übervölkerten agrarischen Gebiete durch die Abwanderung sozial entlastet wurden, verlagerten sich die sozialen Brennpunkte jetzt ausnahmslos in die Städte. Hier blieb es nicht bei einer Einwanderung mit anschließender Seßhaftwerdung, sondern viele der Zuwanderer, überwiegend junge ledige Männer zwischen 16 und 30 Jahren, mußten feststellen, daß sie angesichts der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zunächst kaum die Möglichkeit zu einer dauerhaften Integration hatten und deshalb meist nach kurzer Zeit weiterzuwandern gezwungen waren (Langewiesche 1977). Zeitgenössische Beobachter sprachen von „modernen Nomaden" und von „Flugsand"; hierin wurde eine zusätzliche Bedrohung für die ohnehin schon stark eingeschränkte Stabilität der traditionellen Strukturen und Ordnungen befürchtet. Ein sozialer Aufstieg der in der Regel unqualifizierten Neuzuwanderer war also die Ausnahme; sie füllten die untersten und am wenigsten geachteten Positionen und benötigten durchweg einen langen Zeitraum, um sich an die Bedingungen und Zwänge des Großstadtlebens und der Industriearbeit zu gewöhnen (Lipset 1974, 2 9 0 - 3 0 0 ) . Nach ihrer Familiengründung schrumpfte zwar der Radius ihrer Mobilität, nicht aber die Frequenz ihrer Umzüge. Erst ihre Kinder und Enkel, die schon in der Stadt geboren waren, besaßen gegenüber den Neuankömmlingen etwas verbesserte Chancen, in die untere Mittelschicht aufzusteigen. Zwar wissen wir inzwischen aufgrund neuerer Forschungen relativ viel über die räumliche und soziale Mobilität sowie deren Wirkungen im Gefolge von Industrialisierung und Verstädterung - so ζ. B. über die Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnisse, über die demographischen Strukturen und konjunkturellen Abläufe, über die Formen der Interessenartikulation und die gesellschaftlichen Konflikte, über die Klassenorganisationen und die privaten wie staatlichen Konfliktlösungsstrategien. Aber die schichten- bzw. gruppen- oder klassenspezifische Wahrnehmung all dieser Elemente - d.h. das durch Erfahrung und Kommunikation, durch das alltägliche Umgehen mit vielerlei Anpassungszwängen sowie durch Hoffnungen und Ängste zustandegekommene Weltbild, das dann das individuelle wie auch kollektive Begreifen, Verhalten und Handeln bestimmte ist dagegen noch weitgehend eine terra incognita. Nicht nur die Quellen setzen der Erforschung dieses Problemfeldes enge Grenzen, sondern die ablaufenden Prozesse selbst waren so heterogen und so widersprüchlich, daß bei jedem Versuch einer Gewichtung der Einflüsse und Faktoren ein hohes Maß an Unsicherheit besteht. Im folgenden sollen an drei Gegensatzpaaren, die für den bei oberflächlichem Blick so glatt erscheinenden Modernisierungsprozeß typisch sind und unser Thema hier stärker berühren,
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einige Ausgangsbedingungen soziokommunikativen Wandels exemplarisch herausgestellt werden. Gemeint sind die Gegensatzpaare Nivellierung versus Differenzierung, Konzentration versus Diffusion und Integration versus Segregation. Einschränkend ist vorauszuschicken, daß einerseits sich eine Reihe weiterer ähnlicher Dichotomien nennen ließe und es äußerst schwer ist, zwischen ihnen eine Hierarchie der größeren oder geringeren Wichtigkeit aufzustellen, daß andererseits jede Einzelbetrachtung zwangsläufig künstlich isoliert, deshalb im Grunde die Interdependenz der Einzelfaktoren ständig zu betonen wäre und es letztlich bei Thesen bleiben wird. Bei einer noch zu leistenden Erforschung der genannten Wahrnehmungsdimension sind die Urbanisierungshistoriker sehr stark auf interdisziplinäre Hilfe aus Nachbarwissenschaften angewiesen, wobei das Spektrum von der Historischen Geographie, der Volkskunde und Anthropologie über die Medizin-, Technik- und Stadtplanungsgeschichte bis hin zur Kunst- und Literaturgeschichte sowie - last not least - historischen Sprachforschung reicht. Um es noch einmal zu betonen: Jede optimistische Deutung der Modernisierung als eines gradlinigen Fortschritts ist höchst fragwürdig (Wehler 1975). Vielleicht werden zukünftige Historiker sie eines Tages als eine äußerst widersprüchliche, etwa 100 bis 150 Jahre dauernde Epoche der Menschheitsgeschichte mit allerdings explosivem Charakter deuten, eine Epoche, die in unseren Tagen möglicherweise zu Ende geht: Begriffe wie „Postmoderne" und „Desurbanisierung" sowie so verräterische politische Sprachschöpfungen wie „Nullwachstum" und „rückwachsen", vor allem ein zunehmendes allgemeines Unbehagen gegenüber vielen Elementen der Modernisierung, das nicht mehr bloß einzelne antizivilisatorische Kreise bewegt, sondern zunehmend Eingang in politische Entscheidungen findet, mögen ein Indiz dafür sein!
1. Nivellierung versus Differenzierung Da zunächst einmal die Industrie bzw. der industrielle Unternehmer der Städtegründer des 19. Jahrhunderts war, folgten das Wuchern der Großstädte und deren Binnenstrukturierung in erster Linie den Bedürfnissen der industriellen Großbetriebe und blieben darüber hinaus für Jahrzehnte planlos und sich selbst überlassen. Die Dominanz der Industrie, die durch Wettbewerb und Auslese, Konkurrenz und Fusionen noch gesteigert wurde, förderte die Vereinheitlichung der Produktionsbedingungen und in ihrem Gefolge die Nachfrage nach weitgehend identischen Leistungen, die zudem in großer Zahl verfügbar sein mußten. Industrielle Standorte „beanspruchten daher massenhaft Arbeitskräfte der gewünschten Qualifikation", wobei das angestrebte Arbeitskräftepotential gezielt angeworben, diszipliniert und gesiebt wurde (Ipsen 1956). Zum Funktionieren des Systems gehörte aber auch, daß die neu entstandene, die Gewerbe- und Industriestädte überflutende Schicht, die moderne Industriearbeiterklasse, einen
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Grundbestand an Zivilisationstechniken allgemeinerer Art, wie z.B. Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen mußte. Mit der Verstädterung korrelierte deshalb eine rasche Alphabetisierung, zu der als drittes Element die wachsende Ausbreitung und Benutzung von Massenmedien hinzukam (Lerner 1970). Als kritische Schwelle der Entwicklung, von der an ein intensives reziprokes Verhältnis zwischen Verstädterung, Elementarbildung und Benutzung von Massenmedien beginnt, gilt der Moment, in dem in einer Gesellschaft mehr als 10 % der Bevölkerung in Städten mit über 50.000 Einwohnern leben. Diese Schwelle wurde in Deutschland in den frühen 1870er Jahren überschritten. Das Ausmaß der Elementarbildung wird im Kontext einer sich urbanisierenden Gesellschaft geradezu als „eine Art Drehscheibe im Übergang zu einer entwickelten Beteiligungsgesellschaft" angesehen (Lerner 1970, 372). Die sich daran anschließende wachsende Verbreitung von Massenmedien auch in den unteren Volksschichten, dies zunächst in Form von belehrenden Traktaten, Volksbildungsbroschüren und Trivialliteratur, dann durch Zeitungen und Journale und schließlich im 20. Jahrhundert durch Kino und Rundfunk, weckte Neugier; und diese Neugier war letztlich „der Grabgesang der traditionalen Gesellschaft samt ihrer routinierten Lebensweisen, bei der jedermann im voraus wußte, was geschehen wird, weil dies seit jeher festgelegt (war)" (a.a.O.). Unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit und sonstiger Differenzierung begann den sich herausbildenden modernen Großstädter ein Charakteristikum auszuzeichnen, das mit dem Begriff Empathie benannt worden ist. Damit ist ein Bündel von Fähigkeiten mobiler Persönlichkeiten gemeint, die es ihnen erlauben, ,,in einer sich dauernd verändernden Welt wirksam vorzugehen" (Lerner 1970, 364). Lernfähigkeit und Umstellungsbereitschaft, die Kunst des Rollenwechsels, Identifikationsbereitschaft und die Fähigkeit zur Internalisierung von neuen Werten gehören ebenso dazu wie eine Variationsbreite in den Formen der Kommunikation und Selbstdarstellung. Wie eine Person ohne Empathie vom Städter erlebt wird, im Extremfall ζ. B. als Bauerntölpel oder als sog. einfaches Mädchen vom Lande, hat die hohe wie die Trivialliteratur zu vielerlei Darstellungen angeregt; aber auch die Gegensicht ist literarisch verarbeitet worden, so etwa in Hans Paasches Buch „Lukanga Mukara", das die imaginären Briefe eines afrikanischen Naturmenschen über seine Erlebnisse im wilhelminischen Deutschland enthält (Paasche 1984). Die wachsende Selbstsicherheit der Menschen im Umgang mit den großstädtischen Lebensbedingungen bewirkte auf Dauer, daß dem Nivellierungsdruck zunehmend Gegenkräfte entgegenwirkten. Parallel zur Uniformierungstendenz infolge der industriellen Arbeitsbedingungen, der oft eintönig grauen Lebensumwelt, vor allem auch der niederdrückenden Konsequenzen des Auf und Ab von Konjunkturen und Krisen als Folge der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsweise, differenzierten sich sowohl die städtische Gesellschaft als auch die innerbetriebliche Hierarchie, die örtliche und regionale Wirtschaftsstruktur und auch das Städtesystem als ganzes aus. Aus der von außen als so
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einheitlich empfundenen breiten Masse des Industrieproletariats wuchs eine Arbeiterelite mit sich nach unten abgrenzenden Lebensformen und einer ausgeprägten Aufstiegsmentalität einschließlich einem starken Bildungswillen heraus. Dem handwerklichen und handeltreibenden traditionellen Kleinbürgertum und bürgerlichen Mittelstand sowie der mittleren Beamtenschaft trat in Form der technischen wie bürokratisch-verwaltenden Angestelltenschaft ein neues Element mit besonderer Dynamik zur Seite. Alte Gewerbestädte, die sich industriell überformten (z.B. das Wuppertal), aus dem Boden gestampfte Industrieagglomerationen, die zumeist von nur wenigen großen Industriebetrieben beherrscht wurden (ζ. B. die Städte des Ruhrgebiets), traditionelle Handelsmetropolen (ζ. B. Leipzig) und Residenzstädte (ζ. B. Berlin), die sich sowohl durch einen Kranz von industriellen Vororten erweiterten als auch das schnell an Bedeutung gewinnende Banken- und Versicherungswesen anzogen, und gleichzeitig eine große Zahl von Städten, die sich im Windschatten von Industrialisierung und Kommerzialisierung befanden, deshalb stagnierten und erst sehr viel später oder gar nicht nachziehen konnten, weil sie keinerlei Standortvorteile besaßen und auch nicht von den großen Eisenbahnlinien oder Wasserwegen berührt wurden — alle diese Städtetypen machen das Bild von Verstädterung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert bunt und widersprüchlich. Sie wurden in je unterschiedlicher Weise vom Strom der Binnenwanderer tangiert; sie boten dem einzelnen je unterschiedliche Chancen zum sozialen Aufstieg und wiesen dementsprechend auch eine je größere oder geringere Homogenität der Bevölkerung auf. Deshalb waren auch die städtischen Eliten in voneinander stark abweichender Art und Intensität zum Eingreifen in die ablaufenden Prozesse herausgefordert. Konkreter: Die drei großen Gefahren, die das traditionelle Bürgertum im Zuge fortschreitender Verstädterung auf sich zukommen sah — die Gefahr des sozialen Aufruhrs des Proletariats, die Gefahr der Verschlechterung des Arbeitskräftepotentials, die Produktion und Wohlstand bedrohte, und die Gefährdung durch Seuchen, die, ausgehend von Arbeitervierteln, die gesamte städtische Bevölkerung ergreifen konnten — diese Gefahren provozierten in einem von Stadt zu Stadt höchst unterschiedlichen Ausmaß Strategien zur Problemlösung und Konfliktbewältigung. Zwar kamen in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts — nicht zuletzt aufgrund der Finanzverhältnisse — intensivere Diskussionen über einen interstädtischen Lastenausgleich und ein vielfältiger Informationsaustausch über Lösungsmöglichkeiten in Gang - dies ζ. B. im Rahmen von Städtevereinigungen und regionalen Städtetagen, vor allem auch in den vielen kommunalpolitischen Zeitschriften - , doch war am Vorabend des Ersten Weltkriegs bei aller Beschwörung der Einheit und gemeinsamen Leistung des deutschen Städtewesens (Lees 1985) eher eine breite innere wie äußere Differenzierung als eine Nivellierung und Homogenität das Ergebnis der Verstädterungsprozesses seit der Jahrhundertmitte.
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2. Konzentration versus Diffusion Mindestens für das 19. und frühe 20. Jahrhundert gilt, daß sich im historischen Schicksal der großen Städte in unverwechselbarer Weise der jeweilige Zeitgeist, d. h. „die entscheidende Wirklichkeit der ganzen Gesellschaft" niedergeschlagen habe (Mackensen 1959, 2). Indem die Großstädte die wichtigsten Hauptquartiere der Planungs- und Handlungsstäbe beherbergten, wurden sie zu den entscheidenden politischen, ökonomischen und kulturellen Steuerungs- und Schaltzentralen der Gesamtgesellschaft. In demselben Ausmaß, wie die Fürstenhöfe und Residenzen ihre Leitbildfunktion verloren und das Bürgertum zu einer „Kraft der Bewegung" (Riehl) wurde, gewannen darüber hinaus zunächst die offenen Bürgerstädte seit Ende des 18. Jahrhunderts und schließlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die modernen Großstädte die Funktion, ausstrahlende Lebenszentren und primäre Schauplätze gesellschaftlicher Aktivität bis hin zu den sozialen Konflikten zu sein. Insofern repräsentierten sie nicht nur die Spitze einer Hierarchie unterschiedlicher administrativer Zentralitäten bzw. eines abgestuften Systems zentraler Orte, sondern besaßen zugleich im positiven wie negativen Sinn Orientierungsfunktion. D.h. ihnen wurde Definitionsmacht über das zugeschrieben, was einerseits als modern, fortschrittlich und zukunftweisend, andererseits als sittenverderbend, bedrohlich, größenwahnsinnig und traditionsvernichtend galt. Im Extremfall wurde die Großstadt zum menschenfressenden Moloch, zur Parasitopolis hochstilisiert, d.h. zur Schmarotzerstadt, die das sie umgebende Land in immer weiter ausgreifendem Radius aussauge und letztlich die gesamte Gesellschaft in ihren Untergang mit hineinreiße. Solcher Negativwertung setzten um die Jahrhundertwende Stadtplaner, Architekten und Sozialreformer ein optimistischeres Bild entgegen (Lees 1985). Ihnen galten die „Schäden und Gefahren" des Großstadtlebens für kurierbare Übergangserscheinungen. Sie verfolgten das Ziel, den Großstadtmenschen eine menschenwürdigere, zeitgemäßere und vor allem auch schönere Lebensumwelt zu schaffen und die Großstädte als zentrale Basis des „herrlichen Zusammenlebens" eines neuen weltoffenen Menschentyps auszubauen (Pfeil 1972,281). Die einzelne Stadt sollte „Körperlichkeit", „Silhouette" und unverwechselbare Individualität besitzen. Das preußisch-deutsche Selbstverwaltungsrecht ermöglichte es in dieser Phase vielen oft wie kleine Könige regierenden Oberbürgermeistern im Verein mit einer schnell wachsenden und immer selbstbewußter auftretenden Kommunalbürokratie, solche Ideen zu verfolgen und z.T. auch in die Tat umzusetzen (Hofmann 1974). Durch Eingemeindungen erweiterten sie ihren Einflußbereich ins Umland, erwarben Freiflächen für städtische Werke und Depots, für Rieselfelder, Friedhöfe, gezielte Industrieansiedlung, neue Wohnviertel und schlossen die z.T. noch sehr rückständigen Vororte an die städtischen Ver- und Entsorgungsnetze an. Gerade im Bereich der Stadthygiene, der kommunalen Daseinsvorsorge und öffentlichen Leistungsverwaltung erwiesen sich die Großstädte -
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freilich in im einzelnen sehr unterschiedlichem Ausmaß - als Experimentierfelder heutiger sozialstaatlicher Prinzipien (Krabbe 1985). In wuchtigen Monumentalbauten, angefangen bei neuen Rathäusern und Verwaltungssitzen über große Bahnhofshallen, Handelskammergebäude, Großkaufhäuser, Banken, Versicherungsverwaltungen, Opernhäuser, Postämter, Justizpaläste bis hin zu künstlerisch gestalteten Wasserreservoiren, Fabrikfassaden und in großer Zahl errichteten Denkmälern auf öffentlichen Plätzen, spiegelte sich die Konzentration von öffentlicher wie privater Macht in den Großstädten wider. Die zentripetale Magnetkraft der Großstädte blieb jedoch je länger desto deutlicher nicht ungebrochen; zentrifugale Tendenzen begannen zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. D.h. die Orientierung der Stadt- und Stadtumlandbewohner auf den Städtkern verringerte sich mit dem Ausbau der Nahverkehrssysteme, der sprunghaften Entwicklung des Individualverkehrs, dem wachsenden Budget an arbeitsfreier Zeit und dem immer breitere Kreise ergreifenden Wunsch, wenigstens gelegentlich einmal „aus grauer Städte Mauern" hinauszukommen. Zudem verdrängte die City-Bildung mit ihrer Konzentration von reinen Geschäfts- und Verwaltungsgebäuden die Wohnbevölkerung in die Ringe um die Innenstadt, so daß ein „Bevölkerungskrater" von ständig wachsendem Radius entstand (Lichtenberger 1984). Gleichzeitig fanden die in der Hochindustrialisierungsphase stark expandierenden Industriebetriebe im Stadtinneren keinen Platz mehr für die Erweiterung ihrer Fabrikhallen und verlegten ihren Standort an die Stadtränder. Neue Großindustrien wie die Elektroindustrie, der Kraftfahrzeugbau und die Chemie gründeten zudem neue Standorte im weiteren Umkreis um die traditionellen Städte - ζ. B. Siemensstadt, Ludwigshafen, Rüsselsheim, Leverkusen, Höchst - und zogen Arbeitskräfte an. Der schnelle Ausbau des Nahverkehrs half dem nun entstehenden Typ des Pendlers immer weitere Distanzen zwischen Arbeitsplatz und Wohnung zu überwinden - ein Grund mit dafür, weshalb nach dem Ersten Weltkrieg die inner- wie interstädtische Fluktuation drastisch zurückging (Langewiesche/Lenger 1987, 87—100). All dies führte zu einer wachsenden Durchbrechung der räumlichen Enge und Nähe des herkömmlichen Lebensumfeldes. Doch ist hiermit im wesentlichen nur die geographisch faßbare Seite einer Diffusion angesprochen, die schließlich zur Verstädterung ganzer Regionen, zur Entstehung von Städtebändern und ausufernden Ballungsräumen geführt hat. Darüber hinaus verwischte sich die herausragende Inselposition der einzelnen Großstadt auch in anderer Hinsicht: Ein „abgestuftes Kontinuum urbaner Lebensformen" (Teuteberg 1983, 603) weichte die Abgrenzungskriterien zwischen städtischem und ländlichem Leben ständig weiter auf, zumal sich auch die Bewertung von Stadt und Land verschob. D . h . die Nachahmung von bisher nur in den Großstädten vorhandenen Einrichtungen und die Adaption großstädtischer Innovationen in den suburbanen Räumen ließen in immer mehr Lebensbereichen die Sonderrolle der Großstädte zurücktreten. Da sich in diesem Zusammenhang vor allem die dyna-
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mischeren Bevölkerungskreise, ζ. B. die mittelständischen Angestellten- und Beamtenfamilien mit Kindern im schulpflichtigen Alter, in den Vororten und im Umland ansiedelten, wuchs gleichzeitig die Instabilität der in den Kernstädten verbliebenen städtischen Gesellschaft mit gravierenden Konsequenzen etwa für den kommunalen Haushalt, die Schulplanung, die Wohlfahrtspflege usw. Ideologisch untermauert und gedeutet wurde der zentrifugale Trend durch eine sich seit dem Ersten Weltkrieg stark ausbreitende Antigroßstadtpropaganda von nationalistisch-völkischer Seite einerseits, von sozialdarwinistisch-sozialmedizinischen Kreisen andererseits. „Entstädterung des Geistes" war hier die Devise (Petsch 1976,187). Da darüber hinaus im 20. Jahrhundert die staatlichen Zentralisierungsbestrebungen die Spielräume der kommunalen Selbstverwaltung erheblich beschnitten, führte die Spannung zwischen Konzentration und Diffusion auf Dauer zu periodisch wiederkehrenden Debatten über eine angebliche „Krise der Stadt", über Stadtfluchtfolgen und Stadtverdrossenheit, über die Konsequenzen innerstädtischer Verslumung, über ,,Rurbanisierung" und „Dekonzentration" (Heineberg 1983, 3 5 - 6 3 ) . An die Stelle der gigantomanischen Großstadtutopien wie z.B. „Motopia" traten zunehmend Visionen von einer „entstädterten" Gesellschaft, die dennoch eine urbane Gesellschaft sein würde — eine „quartäre Gesellschaft", die vor dem Hintergrund überall verfügbarer Kommunikationsnetze weitgehend davon lebt, Informationen aller Art zu verarbeiten und weiterzugeben.
3. Integration versus Segregation Für den formenden Charakter des Großstadtlebens ist oft die Metapher vom Schmelztiegel benutzt worden. Das Bild hat auf den ersten Blick manches für sich, vor allem wenn man auch generationenübergreifende Prozesse des Einschmelzens im Auge hat. Auch wenn z.B. der polnisch sprechende katholische Zuwanderer aus einem kleinen Bauerndorf der Provinz Posen in einer Industriestadt des Ruhrgebiets noch längere Zeit isoliert blieb und im Ghetto einer Arbeiterkolonie lebte, entstand im sog. „Kohlenpott" dennoch dadurch, daß seine Kinder und Enkel aus dieser Isolation hinauswuchsen, so etwas wie ein eigenständiges „Ruhrvolk" (Reulecke 1981). Der bereits erwähnte Nivellierungsdruck der industriellen Lebens- und Arbeitsplatzbedingungen verwischte auf längere Sicht die landsmannschaftlichen und religiösen Unterschiede und führte hier wie auch in anderen Ballungsräumen - z.B. im Großberliner Raum - zu einer wachsenden Durchmischung und Integration vieler der zunächst eher sperrigen Elemente. Dies zeigt sich etwa in der Ausprägung unverwechselbarer Sprachformen, eines besonderen Wir-Gefühls, eigener Witzfiguren und vieler sonstiger Identifikationsangelpunkte wie ζ. B. des Mythos von Schalke 04 (Gehrmann 1978).
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Solche Integration, die viele politische Aspekte enthält und die Frage nach ihrem Anteil an der Entstehung von Reformismus und Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung provoziert, verlief nicht völlig ungeregelt. Auf die nivellierende Bedeutung der Massenmedien und der Schulausbildung ist schon hingewiesen worden. Ein weiterer Bereich, in dem Integrationsstrategien entwickelt wurden, war die Volksbildung. Schon früh hatten philanthropische und sozialreformerische Kreise gemerkt, daß die wachsende Desintegration der Arbeiterklasse in den industriell überformten Gewerbestädten eine schwere Belastung der bürgerlichen Gesellschaft darstellte und eine Verständigung zwischen den Klassen schon rein sprachlich immer aussichtsloser zu werden drohte: Bürger und Arbeiter sprachen geradezu andere Sprachen. Um ein Beispiel aus einem Volksepos zu zitieren, das der Wuppertaler Schriftsteller Otto Hausmann in den 1870er Jahren aufgeschrieben hat: Im Konfirmandenunterricht stellte der Pastor den Kindern die Frage: Was bist du? Und die Kinder sollten antworten: ein Mensch! Das Proletariermädchen Minna weigerte sich jedoch, diese Antwort zu geben, weil in der Unterschichtensprache „das Mensch" soviel wie Hure bedeutete (Köllmann 1978, 35). Die vielfältigen Volksbildungsbemühungen seit der Jahrhundertmitte, verstärkt seit dem Ende der 1880er Jahre, zielten in erster Linie darauf ab, die Klüfte zwischen den Klassen durch eine gemeinsame „edle Geselligkeit" von Bürgern und Arbeitern, durch eine „Veredelung der Volkserholung", durch Volksunterhaltungsabende u.a. zu überbrücken (Reulecke 1980). Volkswohlvereine in praktisch allen größeren Städten schufen Volksbibliotheken, Volkstheater, Volksparks, Volksheime und Volkskaffeehäuser, um auf diesem Wege dem Ziel einer zwar berufsständisch differenzierten, letztlich aber harmonischen „klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen" (Gall) näherzukommen. Auch in den Debatten über die Prinzipien der Stadtplanung spielten seit den 1870er Jahren ähnliche Zielsetzungen eine zentrale Rolle. So nahm ζ. B. der Berliner Stadtbaumeister James Hobrecht optimistisch an, das Nebeneinanderwohnen von Familien aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in den einzelnen Mietskasernen wie in den verschiedenen Stadtvierteln werde zu entsprechenden Kontakten führen und das Konfliktpotential zwischen den Klassen abbauen helfen (Schwippe 1983, 245). Eine konträre Auffassung vertrat zu derselben Zeit Ernst Bruch, der Hobrecht und weiteren Befürwortern des Integrationsmodells entgegenhielt: „Das Zusammenpacken der ganzen menschlichen Gesellschaft unter einem Dach wie in einer Arche Noah wirkt u.E. schädlich auf die soziale Entwicklung einer Stadt. Es befördert eine Überhebung aller Stände, ein Hinausgehen über die gegebenen Verhältnisse, Neid, Frechheit und Feindschaft der unteren Volksklassen" (Schwippe 1983, 245).
Dementsprechend trat Bruch nachdrücklich für eine Differenzierung und funktionale Aufteilung der Stadtanlage ein. Als sozialkonservativer Bürger glaubte er in einheitlich geprägten, „entmischten" Stadtvierteln die Grundlage für ein stän-
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disch organisiertes Gemeinwesen gefunden zu haben; homogene „Kleingemeinschaften" sollten die Vielzahl der unterschiedlichen Tendenzen unter dem Dach der gesamtstädtischen Einheit zum Ausdruck bringen können (Rodriguez-Lores 1983, 101-134). Trotz aller Durchmischungsstrategien und Integrationsbemühungen schritt jedoch die innere Ausdifferenzierung der Klassengesellschaft weiter fort, die sich deutlich sichtbar in einer räumlichen Trennung der Gesellschaftsschichten je nach Sozialstatus und Klassenlage, d.h. in Segregation, niederschlug. Bei der Herausbildung von Klassenbewußtsein und Gruppenidentität, städtischen Subkulturen und besonderen Milieus, Lebensformen und Kommunikationsstrukturen, die wiederum die Basis für spezifische Sozialisationsprozesse waren, kam der räumlichen wie sozialen Segregation eine zentrale Bedeutung zu. Sie war nicht nur die Folge gesellschaftlicher Arbeitsteilung in der Klassengesellschaft, sondern unterlag auch durch das Wirken außerökonomischer Faktoren einer ständigen Selbstverstärkung: Ökonomische Mechanismen bzw. Zwänge einerseits, mentalitätsgeschichtliche Zusammenhänge wie z.B. Wandlungen in den schichtspezifischen Normen, Werten und Bedürfnislagen andererseits trieben sich gegenseitig an oder ergänzten sich (Fritzsche 1981, 92-113). In welche Richtung dann im 20. Jahrhundert Segregation und geplante innerstädtische Separation weitertrieben, ist bekannt: Die Öde vieler Stadtkerne nach Feierabend und an Sonn- und Feiertagen sowie die Uniformität ihrer Fußgängerzonen führten in den letzten Jahren zwar zu diversen Strategien, durch Stadtfeste, Wochenendmärkte u. ä. die Innenstädte außerhalb der Geschäftszeiten wieder als Kommunikationsmittelpunkte attraktiv zu machen. Doch ist damit die Konkurrenz der im Umland vielfältig geschaffenen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und der vor den Toren der Städte an Ausfallstraßen und Autobahnausfahrten angelegten Supermärkte noch keineswegs beseitigt. Während die in den Vororten wohnenden dynamischen und mobilen Bevölkerungsteile immer mehr Lebensbedürfnisse außerhalb der zeitweise abstoßend überfüllten, zeitweise verödeten Innenstädte befriedigten, verschlechterte sich die Lebensqualität in den im wesentlichen von einer überalterten Bevölkerung bewohnten Vierteln rings um die City (Lichtenberger o.J.). Die Konkurrenz der großen Warenhäuser verdrängte viele kleine Läden mit alltäglichen Gebrauchswaren (Tante Emma-Läden), die Handwerksbetriebe und auch manche der traditionellen Eckkneipen und Gaststätten. Leidtragende waren all jene Personen, die darauf angewiesen waren, ihre Einkäufe zu Fuß zu erledigen, in erster Linie alte Menschen. Ζ. T. unterlagen diese Viertel dann einer schnell voranschreitenden Abwertung und einem Imageverlust. Beispiele finden sich schon Ende des 19. Jahrhunderts in allen Großstädten. Der Ring um die City wurde somit zur „zone in transition", d. h. sie wurde von sozial und kulturell niedriger stehenden Bevölkerungsgruppen okkupiert. Die Bausubstanz wurde nicht mehr gepflegt, und der Prozeß der „Verslumung" deutete sich an. Oft bemächtigten sich dann
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Spekulanten der heruntergekommenden Straßenzüge, um die Häuser abzureißen und Platz für neue Versicherungsgebäude, Banken, Verwaltungssitze usw. zu schaffen. Nach einem Vorspann, der den äußeren Ablauf von Verstädterung und Binnenwanderung knapp charakterisiert hat, sollte dieser Beitrag an drei Gegensatzpaaren die Zwiespältigkeit und Heterogenität des Urbanisierungsprozesses zu zeigen versuchen. Die Schwerpunkte bei der Betrachtung der Gegensatzpaare Nivellierung
versus Differenzierung,
gration versus Segregation
Konzentration
versus Diffusion
und Inte-
waren so ausgewählt, daß immer auch - ohne daß
dies jedesmal betont worden wäre - die eingangs genannten zwei Hauptebenen soziokommunikativen Wandels deutlich werden sollten: die Veränderung der konkreten Kommunikationsbedingungen im Zuge der Herausbildung des modernen Städtewesens einerseits und die zunehmende kommunikative Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit den von ihnen wahrgenommenen Veränderungen der städtischen Lebensumwelt andererseits. Das Ziel insgesamt bestand darin, auch aus der Sicht des Stadt- und Urbanisierungshistorikers einige Bausteine zu jener Basis zu liefern, auf der eine Analyse der sprachlichen Veränderungen seit dem frühen 19. Jahrhundert in Deutschland aufbauen kann.
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Ulrich
Engelhardt
Das deutsche Bildungsbürgertum im Jahrhundert der Nationalsprachenbildung*
Wie immer diese weitläufige Thematik anzugehen sein mag, was wäre sie ohne ein Zitat von Goethe, diesem - wie es 1848 einmal hieß - „Dichter der vornehmen und feingebildeten Welt"... So drängt sich denn auch gleich die bekannte Xenien-Frage auf: ,,Wo kam die schönste Bildung her / Und wenn sie nicht vom Bürger war'?" 1 Lassen wir beiseite, wie dies gemeint war. Jedenfalls wurden damit zwei Stichworte aufeinander bezogen, die nach und nach eine enge, schließlich symbiotische Verbindung eingegangen sind: Bildungsbürger(tum). Obwohl dieses Etikett mittlerweile in fast inflationärem Ausmaß verwendet wird, sind seine Konturen häufig noch immer reichlich verschwommen. Daß vor einigen Jahren sogar vom „bildungsbürgerlichen Grundbaß" des ,Papa' Heuss die Rede war, stellt gewiß ein Extrem dar. Doch tritt darin exemplarisch zutage, wie sehr das Kopulativ aus Bildung und Bürger(tum) zur beinahe ubiquitären Leerformel geronnen - man könnte auch sagen: verkommen ist. Hofft man, mit lexikographischer Hilfe Substanzielleres zu ermitteln, so kommt man meist nicht sonderlich weit. Noch im MEYER von 1980 etwa findet sich die umwerfend informative Mitteilung, Bildungsbürger sei „jmd., der sich an Dingen, die im Bereich der Bildung liegen, interessiert zeigt"; in einem Klammerzusatz heißt es lapidar, das Wort werde „ironisch" verwendet — voilä tout.
* Leicht veränderte u. geringfügig erweiterte Vortragsfassung, entstanden im Nachgang zu meiner Untersuchung von 1986 (nach ihr der Kürze halber die meisten Zitatnachweise). - A u c h hierbei erhielt ich manche Anregung durch mehrjährige Tagungsfolge ,,'Bildungsbürgertum' im internationalen Vergleich", durchgeführt vom Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte. Seinem 1986 verstorbenen Gründer und Spiritus rector Werner Conce sei dieser Aufriß in dankbarer Erinnerung zugedacht. 1 Zahme Xenien IX, 927/28, zit. n. Goethes Werke (1893), hg. i.A. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 5.1., 151; Charakterisierung Goethes: so C. Römer, Kirchliche Geschichte Württembergs (1848), zit. n. Engelhardt 1986, 151; nachfolgende Zitate Engelhardt 1986, 224, 308.
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Nun soll natürlich nicht behauptet werden, daß sich die Redeweise vom Bildungsbürgertum stets in dergleichen erschöpfe. Wohl aber reichen die Unklarheiten und Ungenauigkeiten bis weit in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Auch darum ist es selbst bei so knappem Raum zwingend, den Gegenstand erst einmal kategorial festzumachen und historisch zu verorten. Zweckmäßigerweise geschieht beides in einem Gang, daher nolens volens etwas komprimiert und streckenweise ein wenig abstrakt. Nach Maßgabe der historisch-empirisch rückgebundenen Kategorienlehre M a x Webers läßt sich Bildungsbürgertum als genaugenommen einmalige Erscheinungsform ständischer Vergesellschaftung bestimmen. 2 Ausgeformt zwischen zuendegehender Adelsherrschaft und aufkommender „egalitärer Demokratie der ,Massen'" 3 , war es unverkennbar eine Übergangserscheinung. Deren essentiell ständische Beschaffenheit beruhte - mit Weber zu sprechen - auf einer „typisch wirksam in Anspruch genommenen . . . Privilegierung in der sozialen Schätzung". Das gab es zwar auch vorher (und nachher); wesentlich neu jedoch war die Legitimationsbasis. Material rechtfertigte sich der Privilegierungsanspruch in diesem Fall nämlich aus einem spezifischen „Bildungswissen" (wie Max Scheler es genannt hat), verstanden als eschatologiebefreite Einsicht in die Gesamtheit der Welt- und Lebenszusammenhänge. Für dieses philosophischhistorisch akzentuierte und vielfach literarisch-musisch eingekleidete Bildungswissen ist vor allem eins charakteristisch: Es wurde nicht allein jedem Heils-, sondern auch allem Herrschafts- und Leistungswissen im engeren Sinne normativ vorgeordnet. Und mit diesem Glauben an seine kulturelle Höchstwertigkeit verband sich konsequenterweise das Postulat grundsätzlich unbegrenzter Sinngebungsmächtigkeit für den Menschen schlechthin bzw. für die gesamte Gesellschaft. Darauf wird zurückzukommen sein. Von Anfang an stellte sich das Bildungsbürgertum somit als eigentümlich janusgesichtige Größe dar. Einerseits war es seiner Intention nach Aufhebung der herkömmlichen Trennung zwischen „Gebildeten" und „Ungebildeten"/„Volk", denn es konstituierte und definierte sich durch eine Qualität, die prinzipiell jedermann erreichbar, mithin sozial völlig offen sein sollte; 4 insoweit war es also ein Hauptmovens jener „stufenweisen Entwicklung der Gleichheit der Stände", die Tocqueville im Vormärz als Signatur des Zeitalters beschrieb. 5 Andererseits war es de facto schon im Ansatz „neue Oberschicht" 6 , denn es konzentrierte die tatsächlich doch nicht allenthalben zugängliche „höhere Bildung" in einem Ausmaß bei sich, daß es schnell als abgehobenes Gesellschafts2 3 4 5 6
Näheres dazu bei Engelhardt 1986, 24ff. Conze 1981, 349. Dazu u. a schon Kleinberg 1927, 144ff.; im übrigen eingehend Engelhardt 1986. Über die Demokratie in Amerika (1835), zit. n. Salomon 1935, 34. So Vierhaus, zit. n. Engelhardt 1986, 70.
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segment hervortrat. Sein systematisch primäres Unterscheidungsmerkmal besteht darin, daß sozial durchaus heterogene und materiell bisweilen verschieden gestellte Bevölkerungskreise ins Bildungswissen hineinsozialisiert wurden und so zu einer stark ideell vermittelten Einheit zusammenwuchsen, bei der interne Klassenlagen weitgehend überbrückt waren. Nicht zuletzt trug dazu bei, daß das Konstituens Bildung/gebildet inhaltlich so osmotisch blieb, daß es auch bei individuell unterschiedlicher Auslegung sozialständisch verbinden konnte. Was nun den Vorgang der Vergesellschaftung zum Bildungsbürgertum betrifft, so verlief er sozusagen über zwei Hauptgleise: (1) über den Nachweis von Bildungswissen, d.h. in Norm wie Praxis alsbald und nahezu ausschließlich: durch Erwerb akademischer oder wenigstens präakademischer Bildungspatente; zudem (2) über einen statuseigenen Kommunikationsund Lebensführungsstil, der die ästhetischen und sozialmoralischen Konsequenzen von Bildungsbesitz nach innen wie außen sichtbar werden ließ. Aus beidem leitete sich ein doppeltes, weitgehend auch durchgesetztes Verlangen her: (a) nach gesellschaftlicher Sondergeltung und (b) nach relativer Handlungsautonomie, möglichst gewährleistet durch staatliche Absicherung dessen, was in den heutigen Sozialwissenschaften meist Professionalisierung heißt (also der Ausprägung berechtigungsbegründender und laufbahngeregelter Gebildetenberufe). Von daher kam übrigens teilweise noch ein weiteres Verlangen hinzu: das nach Sonderalimentierung qua Subsistenzgarantie durch die Öffentliche Hand (bis hin zu besoldungsrechtlicher Fixierung). Mit alldem beantwortet sich im Umriß auch schon die Frage nach den Schwerpunkten des Rekrutierungspotentials. "Wie sich in statu nascendi bereits abzeichnete, wurde das weitaus größte Kontingent zu dieser gleichsam ständisch überformten Konfiguration von Funktionseliten 7 von Inhabern der erwähnten Bildungszeugnisse gestellt. Vorneweg waren dies Theologen, Juristen, Mediziner sowie Hochschul- und Gymnasiallehrer, also Repräsentanten der mehr oder minder traditionsreichen „gelehrten" Professionen; hohes Gewicht gleichsam als Zentrum der „verstaatlichten akademischen Intelligenz" (Wehler) hatte dabei die gehobene Beamtenschaft, der Hegel 1821 „die hervorstechendste Bildung" zuerkannte. 8 Über diese Kerngruppen hinaus gehörten zum ,inner circle' auch „höher gebildete" Schriftsteller, Redakteure, Journalisten u. ä . m . Dazu traten nach und nach Mitglieder vergleichsweise junger Gebildetensparten wie Ingenieure, Architekten usw.; außerdem noch eine dritte Gruppe, wenn auch nur cum grano salis und mit merklichem Abstand auf der binnenständischen Reputationsleiter: nämlich Vertreter der gewerblich-industriellen und der Handels- wie Finanzwirtschaft, soweit sie eine leidlich zureichende Vertrautheit mit
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Dazu in Kürze Wehler in Kocka (1988). Dazu Engelhardt 1986, 104; Wehler-Zitat in Kocka (1988).
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Bildungswissen vorweisen konnten und über halbwegs patenteersetzende Qualitäten wie eine gewisse Weitläufigkeit verfügten. Es war der schweizerdeutsche Staats- und Gesellschaftswissenschaftler Johann Caspar Bluntschli, der dieses Berufs- und Funktionsgruppenspektrum 1857/58 in Rotteck/Welckers Staatslexikon schließlich besonders prägnant und fast ex cathedra absteckte. 9 Doch nicht erst das lenkt zugleich zum historischen Entstehungszusammenhang des Bildungsbürgertums. Bereits 1769 setzte Johann Gottfried Herder dazu einen Markstein mit der Aufschrift „Bildungsgeist". 10 Diese Chiffre verweist auf eine der nachhaltigsten Veränderungen in der neueren Geschichte Mitteleuropas: die Einhegung, ja ,Kodifizierung' bestimmter Teile der universal verfügbaren Wissensbestände als Bildung. Dieser Prozeß läßt sich in eine langfristige Entwicklung einordnen. Seinen Ursprung hat er in weitgehender Säkularisierung des christlichen Heilswissens. Darauf spielte ζ. B. der ehemalige Burschenschafter und seinerzeit einflußreiche Literaturkritiker Dr. Wolfgang Menzel an, als er 1847 notierte: Im „vorigen Jahrhundert" sei die „Bedeutung des Heiligen ziemlich tief in den Hintergrund" getreten, wogegen „die Bildung in stürmischer Bewegung den Vordergrund einnahm, den sie noch jetzt behauptet". 11 Was Menzel da konstatierte, umschloß den mit der Säkularisierung unvermeidlich verbundenen Terrainverlust sakraler Autoritäten und Verfügungsgewalten insbesondere in der Spätaufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts, das Joseph Görres damals das „philosophische" nannte (wenn auch nicht ohne leichte Ironie). 12 Hier wurden denn auch die kulturellen und politisch-sozialen Fundamente des Bildungsbürgertums gelegt. Um nur ein besonders tragfähiges anzudeuten: So etablierte sich vor allem eine Öffentlichkeit, die weder kirchlich noch staatlich strukturiert war, sondern durch permanenten Diskurs der Gebildeten auf eigenen Foren aller Art (etwa dem „Morgenblatt für gebildete Stände/Leser" des Goethe- und Schiller-Verlegers Cotta [1807ff. bzw. 1847-1865], einem der Sprachrohre „unserer kultivierten Zeit" 1 3 ). Dergleichen erlaubte und förderte eine folgenreiche Entwicklungstrias: (1) den Siegeszug des idealistisch-neuhurpanistischen Bildungsgedankens, des betont hellenisierenden Konzepts menschlicher Selbstvollkommnung durch eigenverantwortliche Aneignung von Bildungswissen; dazu, wie erwähnt, (2) die ideologische Erhebung
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S. Engelhardt 1986, 116ff„ 119ff. S. Engelhardt 1986, 64. Literaturblatt (Beilage zum „Morgenblatt für gebildete Leser"), Nr. 2, 5 . 1 . 1 8 4 7 , Artikel „Sternkunde" (F. 2). So in „Resultate meiner Sendung nach Paris" (1800), zit. n. Schellberg 1927, 26. So 1809 im „Intelligenz-Blatt" zum „Morgenblatt für gebildete Stände" (mit dem Zusatz „Wir leben . . . nicht mehr in den Zeiten der einfältigen Kultur"), zit. n. Engelhardt 1986, Anm. 333, auch 92.
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dieses Bildungswissens zum obersten Kulturgut und dessen Ausstattung mit einer Validität, die im Prinzip weder von geistlich-theologischen Werten kontrolliert noch von Herrschaftsprärogativen der traditionalen Führungsgewalten eingeschränkt werden konnnte; (3) die normative Überordnung von Bildungswissen über ,bloßes' staats- und verwaltungspolitisches Herrschafts- wie ökonomisch-technisches Leistungswissen. Auch, ja besonders diese dritte Komponente ist alles andere als nebensächlich-ornamental, wie schon die späte Aufklärungspädagogik im Übergang zum Idealismus erkennen läßt. In ihr hatte eine Erwartung gekeimt, die der vorhin zitierte Wolfgang Menzel folgendermaßen umriß: daß „einmal die glückliche Zeit kommen" werde, in der „auch die . . . Landbewohner und die . . . arbeitenden Klassen . . . allmählig in den Kreis höherer Civilisation gezogen werden könnten"; es habe, so der illustrierende Zusatz, sogar „Enthusiasten" gegeben, die „den Bauern hinter dem Pflug Goethe's Wilhelm Meister in die Tasche zu spielen hofften.. ," 1 4 So unverhohlen diese Reminiszenz bei Menzel dem Vollgefühl überlegener Einsicht in die sozial engen Rezeptionsgrenzen entsprang und so ironisch sie daher gemeint war, sie bezeichnete doch eine Zuversicht, die Gebildeten auch in der Folgezeit nie ganz abhanden kam. Im Gegenteil erreichte sie mit der idealistisch-neuhumanistischen Vision ,zweckfreier' und nicht ständisch spezifizierter Bildung erst einmal einen Höhepunkt. Gewiß geriet sie alsbald in unausweichliche Spannung zu den strukturnotwendigen Bedürfnissen derjenigen, die ihre gesellschaftsständische Homogenität gerade aus dem Faktor Bildung bezogen. Angesichts des „steigenden Bildungsfiebers" in der anhebenden „Zeit der Massen" (Eichendorff, 1847) mußte definitiv durchschlagen, was ja von vornherein angelegt war: der statusinhärente Zwang zu Außenprofilierung und Selbstabgrenzung der beati possidentes gegenüber dem unaufhörlich wachsenden Reservoir an „Bildungs-Candidaten" (Goltz, 1864), d. h. gegenüber allen, die noch vor den Toren zum „Heiligthum der Bildung" standen, wie der Sozialstatistiker Hoffmann im Vormärz formulierte.15 So konnte gar nicht ausbleiben, daß die Zugangsschwelle im Widerspruch zur ursprünglichen Konzeption spürbar erhöht wurde. Dies geschah in einer Weise, wie sie sich schon früh etwa in Karl Philipp Moritz „Anton Reiser" (1790) abzeichnete16: durch fortschreitende Akademisierung von gebildet bis hin zur Synonymität mit lege artis studiert bei nahezu exklusivem Anschluß des statusdistinktiven und sozialselektiven Beiworts an Bürger(tum).17 Nicht zuletzt dies sprach aus August Reichenspergers Tadel von 1872, höhere Bildung im Sinne der Regelgleichsetzung mit „wissenschaftlicher Bildung" sei nachgerade der „maß14 15 16 17
Wie Anm. 11; dazu Engelhardt 1986, 94. Zit. n. Engelhardt 1986, 109 (Goltz), 94 (Eichendorff) und 144 (Hoffmann). Zit. n. Engelhardt 1986, 85. Dazu eingehend Engelhardt 1986, Kap.II.4, bes. 116ff. und 119ff.
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gebende Werthmesser für die Brauchbarkeit eines Menschen im öffentlichen Leben, weshalb denn auch im ,modernen Culturstaate' die Examina eine so große Rolle spielen". 18 Solche Formalisierung (die dann auch Fontane zu seinem bitteren Urteil von 1895 bewog, Bildung sei „ein Weltunglück" 19 ) samt einhergehender Monopolisierung durch das Bürgertum spiegeln sich eindringlich bei Friedrich Nietzsche. In harter, auf den ersten Blick vielleicht paradoxer binnenständischer Kritik machte er das Verdikt „Bildungsphilister" bekanntlich zu einer gängigen Münze, wobei er seinen Bannstrahl gegen „allgemeine Bildung" schleuderte: Letzten Endes, so dramatisierte er 1872 mit extremer Folgerichtigkeit, sei sie pure „Barbarei", ja „nur ein Vorstadium des Kommunismus", weil sie durch ,Veräußerlichung' und,Demokratisierung' dermaßen „abgeschwächt" werde, daß sie „gar kein Privilegium mehr verleihen kann". 2 0 Nur: Mochte sich das hier bereits defensiv und rigide-elitär verfochtene Bildungsideal faktisch noch so sehr im „Netzwerk" eines professionspolitisch ausgeklügelten Berechtigungswesens verfangen und trivialisiert werden 21 - an grundsätzlich denkbestimmender und verhaltensleitender Suggestionskraft büßte es dadurch im großen und ganzen nur wenig ein. Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Das Bildungsbürgertum erwuchs aus konfliktträchtiger Emanzipation von hierokratisch-theologischen wie aristokratisch-politischen Sinngebungs- und Wertinterpretationsmonopolen. Kaum einer hat das griffiger umschrieben als der Gesellschaftswissenschaftler Eberhard Schäffle, der den „Besitz persönlicher höherer Bildung" 1856 zum „Ritterschlag der Neuzeit" erklärte. 22 Und wohl niemand erkannte die sozialkulturellen Auswirkungen schärfer als der Soziograph Wilhelm Heinrich Riehl: In seinen berühmt gewordenen Betrachtungen über „Die bürgerliche Gesellschaft" bescheinigte er dem „modernen Bürgerthum" 1851 (und öfter), es habe eine „gleichmäßige äußere Physiognomie der gebildeten Gesellschaft' bereits über ganz Europa ausgebreitet"; die „oberste Voraussetzung" für diesen Sachverhalt liege darin, daß die „Scheidung der [überkommenen Gesellschafts-]Stände gekreuzt werden durch die große Querlinie, welche lediglich eine gebildete und ungebildete Gesellschaft abtheilt". 23 Mit bestechender Genauigkeit beschrieb Riehl den Haupteffekt dessen, was Rolf Engelsing ohne Übertreibung als „Bildungsrevolution des Bürgertums" bezeichnet hat 24 : Durch die frühneuzeitliche Staatswerdung mit ihrem unaufhörlich steigenden Bedarf an umfassend qualifiziertem Füh-
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Zit. n. Engelhardt 1986, 168. S. Engelhardt 1986, 184 f. Zit. n. Engelhardt 1986, 131, Anm.462. Dazu u.a. noch die beredte Klage von Schiele 1909, Sp. 1243ff. Zit. n. Engelhardt 1986, 11. Nach Engelhardt 1986, 137; weitere Riehl-Zitate nach 28 f. Engelsing 1973, 198.
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rungspersonal vorbereitet und beschleunigt, wurde „höhere Bildung" zum ausschlaggebenden Element der Statuszuweisung; mithin wurde sie nicht nur zur Schleuse individuellen sozialen Aufstiegs, sondern für längere Zeit auch zur obersten Richtschnur der Gesellschaftsgliederung. Insofern - um dies noch einmal zu vergegenwärtigen - sprengte sie zwar die alte Ständeordnung mit ihrer Adelsprävalenz, schuf sogleich aber auch eine neue Sozialhierarchie, die grosso modo bis in den Beginn unseres Jahrhunderts sogar die industriewirtschaftliche Klassenschichtung zu überlagern vermochte. Ganz richtig verstand Riehl, was vor sich gegangen war: Noch ehe - so er selber - „die Industrie ihr Gewicht zu Gunsten des Bürgerthums in die Waagschale zu werfen" begann, 25 hatte sich innerhalb dieses Bürgertums eine eigenständische,Fraktion' ausdifferenziert, die als gebildetes, gelegentlich expressis verbis auch als studiertes Bürgertum firmierte. Ihr Durchbruch lag also noch vor der Kristallisation jener „NeunzehnteJahrhunderts-Bildung", die Julius Hart 1899 zum - mittlerweile negativ besetzten - Topos erhob; 26 und ihre Aufstiegsphase begann erheblich vor der Industriellen Revolution. Zieht man diese ,Vorgeschichte' unverkürzt in Betracht, so zeigt sich, daß die oben angeführten Grundlagenelemente im Lauf des 19. Jahrhunderts - nach Jacob Burckhardts Auskunft von 1847 „das Gebildete, auch Zersplitterte genannt" 2 7 - strenggenommen nur weiter ausbuchstabiert wurden. Dabei entfaltete sich die sog. höhere Bildung voll zur „Ersatzreligion des bürgerlichen Jahrhunderts", wie im nachhinein wohl abschätzig, aber nicht unzutreffend gesagt worden ist. 28 Der nun auch sozialbegrifflich ausgezeichnete Teil des Bürgertums errang jetzt einen einzigartigen Rang. Mit dem Anspruch auf allseitige Vorbildlichkeit seiner Werte und Gestaltungsvorstellungen, mehr noch: auf daraus ableitbare gesamtgesellschaftliche Direktivbefugnis rückte er zur maßstabsetzenden Orientierungsinstanz selbst für nichtbürgerliche Schichten auf. 29 Soweit international vergleichende Forschungen bisher ermitteln konnten, gab es das trotz einiger funktionaler Äquivalente nur im deutschsprachigen Raum, also weder in andern Gebieten Europas noch in Nordamerika. 30 Diese Ausnahme25
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Also bevor der „Industrialismus" die bürgerliche Gesellschaft definitiv durchdringen konnte, wobei er nach Auffassung von Karl Gutzkow (1839) auch „Kunst, Literatur, Politik" zu „Nebenzweigen dieses Stammes" werden ließ; zit. n. Hölscher 1982, 291. vgl. 283 (Marx) und 295 (Mario bzw. Engels). So in seiner bilanzierenden Standortbestimmung gegen Ende einer „untergehenden Bildungsepoche", zit. n. Engelhardt 1986, 180. Zit. n. Engelhardt 1986, 115. So 1911 in: Der Kunstwart (Halbmonatsschrift für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten), zit. n. Engelhardt 1986, 179. Wenige haben dies so genau beobachtet und festgehalten wie der Bildungshistoriker Friedrich Paulsen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; dazu Engelhardt 1986, 166ff., außerdem u.a. 175, Anm. 657. Conze/Kocka 1985, Einleitung; demnächst bes. Wehler in Kocka 1988.
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Stellung verlor sich erst mit dem schleichenden Verfall der sozialständischen Homogenität seit dem späten 19. Jahrhundert. Beschleunigt - um das schon an dieser Stelle zu sagen - wurde die Erosion nicht zum geringsten dadurch, daß die leistungsstarke Industriebourgeoisie auch gesellschaftlich an Boden gewann. 1932 konnte der Soziologe Theodor Geiger das Bildungsbürgertum längst nachrufartig als „ein Element der Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts" historisieren und hinzufügen: „ . . .vorüber [ist] die Zeit, in der dieser Stand repräsentativ für die Kultur seines Volkes w a r . . . " 3 1 Soviel zu Begriff, Struktur und historischer Bedeutung. Daraus folgt fast von selbst, was jetzt eingehender unter die Lupe zu nehmen wäre: die tendenziell restlose ,Mediatisierung' von Kulturbegriff und -betrieb samt soziopolitischen Konsequenzen. Da dieser breite Komplex hier aber nicht einmal skizzenhaft abgehandelt werden kann, bleibt das Folgende auf zwei zentrale Aspekte beschränkt: (1) das bildungsbürgerliche Selbst- und Kulturgemeinschaftsverständnis; (2) das korrespondierende Engagement für einen von daher gedachten Nationalstaat.
Zunächst zur Selbststilisierung des Bildungsbürgertums als Kulturproduzent und -träger katexochen. Repräsentativ und in geradezu klassischer Verdichtung findet sich auch dies bei dem Kronzeugen Bluntschli. 32 Nach dem Residualkriterium „strenge wissenschaftliche Erziehung" umgrenzte er 1857/58 mit schon angegebenem Resultat nicht nur sehr genau, was er „gebildetes und freies Bürgerthum" nannte. Mit seltener Prägnanz sprach er vielmehr auch aus, worin die kultur- wie die gesellschafts- und staatspolitische Pointe bestand: Seine sozialständische Geschlossenheit beziehe es generell aus „gemeinsamen Charakterzügen" und „Grundanschauungen", speziell aus „starken gemeinsamen Interessen der Kultur und der Politik"; es begreife sich „nicht bloß als den Träger der nationalen Kultur, sondern ebenso als das natürliche Organ der politischen Einsicht der Nation". Mit aller Deutlichkeit reklamierte Bluntschli mithin eine bildungsbegründet höchste Zuständigkeit auch in politicis, zuvörderst aber eine kulturelle Definitionsmacht von überständischer Akzeptanz. Berufene Leitgröße der gesamten Nation war füglich kein anderer als der „frei Bürgerstand, aus dem nun einmal Goethe oder Schiller entsprangen", wie Jacob Grimm 1859 hervorhob. 3 3 Solche Äußerungen sind nicht zum wenigsten deshalb bemerkenswert, weil sie indirekt auf den hohen Stellenwert aufmerksam machen, den zumal litera31 32 33
Zit. n. Engelhardt 1986, 201. Das Folgende nach 116 ff. und 146. So in seiner Schiller-Rede am 1 0 . 1 1 . 1 8 5 9 in der Berliner Akademie der Wissenschaften, zit. n. Pfütze 1962, 264ff., U l i . , dort und 266 weitere Aussagen dieser Art.
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risch übermitteltes Bildungswissen im Lebenshaushalt des Bildungsbürgertums hatte (auch dazu später nochmal kurz). Die derart gleichsam sprachästhetisch sensibilisierte Formation hielt sich — nun wieder Bluntschli - für „den natürlichen Vertreter der Interessen der Kultur und der Civilisation", für den Teil der Nation, in dem insbesondere „jede Kunst und jede Wissenschaft... ihre Meister und Schüler, Kenner und Liebhaber" finde, den „die Barbarei erschreckt, die Roheit ärgert". Ganz ähnlich erläuterte wenig später (1867) Gustav Freytag, was er als „Eigenheit der modernen Bildung" eruierte: Die „treibende geistige Kraft" breite sich „in der Mitte der Nation, zwischen der Masse und den erblich Privilegierten" aus, und zwar „nach beiden Seiten belebend und umformend..."; in dieser Mobilisierungs- und Integrationsfähigkeit liege „das Geheimnis der unsichtbaren Herrschaft", die das „gebildete Bürgertum" seit der „fleißigen Abiturientenzeit [!] des deutschen Volkes" im ausgehenden 18. Jahrhundert „über das nationale Leben ausgeübt hat, Fürsten und Volk umbildend, sich nachziehend". Gleich Bluntschli sah Freytag also die nationalkulturelle Führung beim Bildungsbürgertum, dessen „Familiengeschichte" behandele, „wer in Deutschland eine Geschichte der Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft schreibt". 3 4 In diesen und vergleichbaren Darlegungen haben wir im Klartext, worauf es hier ankommt: das geradezu missionarische Sendungsbewußtsein des Bildungsbürgertums als einer Art Prokurist des Hegel'schen Weltgeistes. Damit tritt ein Kardinalpunkt des Themas vollends hervor. Es ist das Projekt einer Nationalkultur, die durch und durch bildungsbürgerlich unterlegt sein, dabei aber eine Faszinationskraft und Verbindlichkeit haben sollte, die über den Radius ihrer Urheber und Gralshüter eben weit hinausreichten. In diesem transständischen Sinne redete Bluntschli denn auch von „Kulturgemeinschaft", wobei er Heinrich v. Sybel 1862 versicherte, daß sie „im Wesen" mittlerweile vorhanden sei. 35 An sich war diese Vorstellung kein Novum. In ihr tritt hervor, was Werner Conze die „alte Doppelsinnigkeit deutscher [Nations-]Geschichte" genannt hat: Seit dem Mittelalter war sie „die Geschichte einer sprachlich-kulturellen Vereinigung einerseits, einer politischen Herrschaftsbildung andererseits". 3 6 Das zeigt sich beiläufig z.B. darin, daß die später bei Brockhaus neu verlegte „deutsche Nationalliteratur" des 18. Jahrhunderts 37 nicht auf'die Reichsnation beschränkt gewesen war; sie hatte noch jener größeren Gemeinschaft angehört, die Friedrich Meinecke nachmals ja als „Kulturnation" bezeichnete. 38 Und diese hatte schon um 1800, in der Frühzeit des Bildungsbürger34 35 36 37
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Zit n. Engelhardt 1986, 156 f. Zit. n. 146. Conze/Hentschel, 10. Aufschlußreich dazu etwa die nicht gezeichnete Besprechung der „Bibliothek der deutschen Nationalliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts" (hg. u.a. von Julian Schmidt und Rudolf Gottschall), in: Die Grenzboten 1867, Jg. 26, II. Sem., II. Bd., 523 f. Meinecke 1908.
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turns mit seinen Salonzirkeln, einen Kulminationspunkt erreicht, der sogar einen Skeptiker wie Hermann Baumgarten 1866 von „unsrer idealen Bildungsperiode" und von der „Glorie von Jena bis Weimar" sprechen ließ. 39 Inzwischen jedoch hatten sich auch die verfassungspolitischen Rahmenbedingungen grundlegend gewandelt. Kulturgemeinschaft meinte jetzt kaum mehr weltbürgerlich-metapolitische Zusammengehörigkeit über die deutschen Staatengrenzen hinweg.40 Mit Überwindung der imperialen Hegemonie, die Napoleon Bonaparte nach dem Ende des altehrwürdigen und symbolträchtigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation installiert hatte, war die politische Dimension des Kulturnationsdenkens eine wesentlich andere geworden: Frühere Züge der Kompensation für einheitsstaatliche Desiderata und machtpolitische Defizite41 waren so gut wie völlig geschwunden. In dem Maße, wie sich die notorische Rivalität zwischen Preußen und Habsburg zuspitzte, verschmolz die Idee „nationaler Bildungseinheit"42 mit dem Drang nach Aufhebung der deutschen Staatenpluralität. Dabei erfuhr sie eine zunehmend kleindeutsche Politisierung. Damit sind wir beim zweiten Aspekt, denn dies hing zwar nicht allein, aber auch nicht bloß am Rande mit bildungsbürgerlichem Selbst- und Politikverständnis zusammen, genauer: mit einer besonders markanten Auswirkung. Im Ergebnis läßt sie sich sogar mit einem Satz eines so strengen Kommentators wie Arnold Zweig umreißen: Retrospektiv zeichnete er das gebildete immerhin auch als „ein Bürgertum, das von den deutschen Klassikern erzogen, auf liberale und großzügige Art die neue Einheit der Nation mit Büchern, Gedanken, Kunstwerken und Weltanschauungen zu verwirklichen suchte". 43 Doch nicht minder bemerkenswert als dieses Folgeverhalten nach der Reichsgründung ist der normgebende Einfluß des Bildungsbürgertums bei Anbahnung und Legitimierung der Lösung von 1871. Wie sehr auch das zu unserer Fragestellung gehört, ist nun wenigstens durch einige Anhaltspunkte zu verdeutlichen. Ziemlich unmittelbar berühren sie den Fokus Nationalsprache — womit allerdings nicht der Versuch gemacht werden soll, in dieses schon terminologisch komplizierte Spezialproblem44 dilettierend einzutreten und unsere Befunde direkt darauf zu beziehen. Daß national(staatlich)e Identität und Sprache in einem - wie im einzelnen auch immer gearteten - Konstitutivverhältnis stünden, gehörte spätestens seit Herder zum Grundkonsens der Gebildeten. Sprache, so beispielsweise hatte Joseph Görres an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert notiert, sei „das große
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S. Engelhardt 1986, 149 ff. Zu diesem „Weltbürgertum der Bildung" vgl. z.B. die bemerkenswerte Interpretation von Guhrauer 1854, 356. Dazu Engelhardt 1986, 82 f. So schließlich Friedrich Paulsen, zit. n. Engelhardt 1986, 177, Anm. 665. Zit. n. Engelhardt 1986, 203. Dazu Reichmann 1978, 3 8 9 - 4 2 3 .
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Band, das Individuen aneinanderbindet" und dann „dem Ganzen jenen durchgehenden Ton von zustimmender Konkordanz [gibt], der das bildet, was man gewöhnlich Nationalität zu nennen pflegt". 45 Von daher wurde neben Musik und bildender Kunst vor allem der Literatur ein erheblicher Instrumentalwert für den „zusammenfassenden Abschluß der nationalen Bildung, den Gesamtstaat" 4 6 zugesprochen. Dies kann hier nicht näher vorgeführt werden; genügen müssen Stichworte wie Germanistentage (1846 u. 1847) und Namen wie Gervinus oder Jacob Grimm. Letzterer etwa berief sich für das „Nationalwerk" Deutsches Wörterbuch (1854ff.) auf „erstarkte Liebe zum Vaterland und untilgbare Begierde nach seiner festeren Einigung", wobei er die rhetorische Frage stellte: „Was haben wir denn Gemeinsames als unsere Sprache und Literatur?" 4 7 Der darin unüberhörbar mitschwingende Appell zur Verbesserung der nationalpolitischen Zuständlichkeit verweist auf einen wichtigen Sachverhalt: Ober- bis mittelschichtbezogene Literatursprache - die Nationalsprache im engeren Verständnis - und durch sie transportierte Werte und Prägungen erhielten bis auf weiteres eine Doppelfunktion. Zum einen und zuerst galten sie dem Bildungsbürgertum als primäres Medium der intra- wie intergenerationellen Weitergabe von Bildungswissen und der statusadäquaten Lebensführung. Insoweit dienten sie vornehmlich der binnenständischen Selbstvergewisserung und Identitätswahrung; sie wurden entsprechend sorgfältig gepflegt in standesspezifischen Kommunikations- und Geselligkeitsformen samt kohärentem Diskursmilieu. Auch das kann hier nicht ad oculos demonstriert, sondern nur telegrammartig mit einigen Substantivismen angerissen werden: (a) Ausprägung eines informellen Kanons literarischer Bildungsgüter, in dem geistesgeschichtliche Prominenz wie u.a. „unsere Göthe, Kant, Schiller, Wolf, Humboldt" 4 8 zuoberst piaziert war — allen voran das Dioskurenpaar Goethe & Schiller, das Gervinus 1842 in seiner „Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen" definitiv zur symbiotischen Einheit zusammendachte (gewissermaßen der Beginn der Konstituierung eines Klassikerbegriffs mit Zentrierung um diese beiden ,Heroen' 49 ); auf der Grundlage des solchermaßen hierarchisierten Bildungskanons (b) Pflege eines gleichsam kodierten und stark zitathaltigen „Bildungsdialekts"
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So in „Resultate meiner Sendung nach Paris" (1800), zit. n. Schellberg 1927, 28. So Gervinus 1866, Bd. 8, 6, überhaupt 3ff., bes. 5 f . ; dazu Lutz 1985, 156ff., bes. 160, s.a. 152, 163ff., bes. 334ff. Deutsches Wörterbuch Bd. 1, Leipzig 1854, Vorwort Sp. III; dazu Pfütze 1962, 2 7 2 f . ; (dort und 266 weitere Äußerungen dieser Art); zur Kennzeichnung ,Nationalwerk' 277, Anm. 7 0 („in diesem Zusammenhang m. E. zum ersten Mal in dem Berufungsschreiben des . . . Kultusministers J. A.F. Eichhorn vom 2 . 1 1 . 1 8 4 0 an J. Grimm" vgl. auch 34ff.: Gotthard Erler, Gervinus als Literarhistoriker (bes. 47f., 68, 76). So etwa Hermann Baumgarten, zit. n. Engelhardt 1986, 150; vgl. das behandelte Beispiel für die ,Kanonisierung von Bildungsstoffen' in Klüpfel 1870. Dazu in Kürze Mandelkow in Koselleck 1988.
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(Frühwald), d.h. eines Unterhaltungsstils, der vielfach durchsetzt war mit nur für Insider verständlichen „emanzipirten Wortklängen, Witzworten, Redensarten und Metaphern", wie ein Statuszugehöriger 1864 monierte;50 mit Hilfe dieser und vergleichbarer Verfahren zugleich (c) Entwicklung mehr oder minder ritualisierter Umgangsformen und Bildungssicherungsweisen (salonähnliche Verkehrskreise, häusliche Theateraufführungen, private oder öffentliche Zeremonien wie Goethe- und Schillerfeiern u.ä. m.). 51 Über diese statusinterne Funktion hinaus diente die bildungsbürgerliche Sprach- und „Literatur-Cultur" 52 zum zweiten eben auch als Promotor der nationalstaatlichen Zielsetzung mit dem ihr zugedachten Effekt eines kulturellen und sozialen Integrativs. Daß dies bis in den bereits gestreiften Klassikerkult des Bildungsbürgertums aufweisbar ist, ließe sich breit belegen. Herausgegriffen sei lediglich der harmonisierend-kryptopolitische Aufsatz „Schiller und Goethe nebeneinander", in dem der jungdeutsche Renegat Heinrich Laube diese „Zwillinge" 1844 pathetisch zu „Deutschlands Genius und Wappen" überhöhte: „Zusammen sind sie die vollständige Offenbarung deutscher Fähigkeit, und darum nennt man sie zusammen und drückt mit dem verschlungenen Namen Schiller und Goethe das Höchste und Beste aus, dessen sich Deutschland rühmen kann." 53 In der Tat brachte solche Deutung - worauf Karl Robert Mandelkow aufmerksam macht - eine Überzeugung zum Ausdruck, die bis zur Reichsgründung in zahlreichen Variationen wiederholt wurde: „daß die Deutschen ihre ideelle Einheit in den Erlöserfiguren der die Totalität menschlicher Möglichkeiten repräsentierenden Klassiker bereits besäßen, und daß es jetzt darauf ankäme, dieser ideellen Einheit die real-politische ergänzend hinzuzufügen".54 Zu diesem Zweck so zügig wie möglich die „Wüste der Staatslosigkeit" hinter sich zu lassen, wurde nicht erst in der Ära Bismarck zum nationalpatriotischen Kompaß der - so Baumgarten - „Kinder des Buchs, der [geistig-intellektuellen] Specula-
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So Bogumil Goltz, zit. n. Engelhardt 1986, 144, bes. 133 ff. (s. 135 auch zum BÜCHMANN von 1864, der nicht zuletzt in diesem Zusammenhang zu sehen ist). Sehr eindrücklich sind z.B. die Ermittlungen von Hasselbach 1986, 47ff., bes. 51 f.; erwähnenswert auch die Aufzeichnungen von Elisabeth Lepsius (Gattin des Berliner Ägyptologen Richard Lepsius) über die häusliche „Feier von Goethes Geburtstag" am 28.8.1854 und über „unsere Schillerfeier" am 10.11.1859, in: Lepsius 1933,156 f. bzw. 226ff. — Gerade bei den Schiller-Feiern seit 1859 war „der Name Schiller . . . das Symbol . . . für die [angestrebte national-]deutsche Einheit", wie es in der Leipziger Illustrierten Zeitung 1859 hieß; zit. n. Conze/Groh 1966, 44. So - wenn auch polemisch - 1864 Bogumil Goltz, zit. n. Engelhardt 1986, 144, Anm. 535. Zeitung für die elegante Welt (Dez. 1844), zit. n. Oellers 1970, 374 bzw. 381, dort (passim) weitere aufschlußreiche Texte; vgl. auch unten, Anm. 60. Mandelkow in Koselleck 1988, übrigens mit der nicht minder zutreffenden Bemerkung, daß sich Laubes ,Apotheose' mit ihrem ,pseudoreligiösen Gestus' wie ein vorgreifender Kommentar zu Ernst Rietschels Weimarer Doppelstandbild von 1857 lese.
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tion, der musikalisch-religiösen Stimmung". 55 Die einhellige, überwiegend kleindeutsch ausgerichtete Option für „nationale Fortbewegung" 56 war weit mehr als bloßer Kotau vor rüde machtstaatlichen Gelüsten im Zuge der vielberufenen ,realpolitischen Wende' im bürgerlichen Liberalismus. Zutiefst war sie ein Derivat jener selbstgegebenen Weltdeutungskompetenz und Sinnstiftungspflicht, die im Bildungswissen mit seinen apriori unbeschränkten Erkenntnisgehalten gründeten. So betrachtete das Bildungsbürgertum die nationalstaatliche Zusammenfassung der Kulturgemeinschaft als quasi logisches Gebot bildungsbedingt vollendeter Einsicht in Entwicklungsgang und Bestimmung der „civilisatorischen Menschheit". 57 Solche „Erhebung des deutschen Volkes aus dem politischen Elend der letzten Jahrhunderte" mußte sich förmlich als historische Notwendigkeit ausnehmen, sobald sie als eine conditio sine qua non für „IdeenFortschritt und Geistes-Entwicklung"58 aufgefaßt wurde. Folglich konnte ein Großteil gerade des geschichtsbewußten Bildungsbürgertums die Bismarck'sche Schöpfung ungeachtet ihrer Konstruktionsmängel ebenso sehen wie ein italienischer Zeitgenosse: durchaus nicht als „Kind der Gewalt", sondern als „langsam gereifte Frucht des Gedankens", als „die politische Ausprägung der geistigen Bildung, . . . Triumph einer langen Culturarbeit". 59 In derartiger Optik erschien das neue, zudem rechtsstaatlich verfaßte Hohenzollernreich als ein au fonds bildungsgetriebener Aufschwung im großen Prozeß anhaltender Vervollkommnung. Auch von daher kam außerordentliche Bedeutung einem Sprachgestus und -standard zu, den alle Angehörigen der Nation zum Vorbild nehmen und dem sie sich assimilatorisch so gut wie möglich annähern sollten. Als dessen Sachwalter fühlte sich das Bildungsbürgertum umso eher, als seine eigene Existenz ja mehr als oberflächlich auch eine sprachliche Genese hatte. Nicht allein für Riehl war es ausgemacht, daß die „,gebildete [bürgerliche] Gesellschaft'f." mit ihrer pansozialen Konzeption „im Gegensatz zur [gewollt abgekapselten] gelehrten Welt nur durch Luthers Centralisierung der deutschen Schriftsprache" habe Zustandekommen können, weshalb denn auch der „deutsche Bürgerstand seinen überwiegenden Einfluß in der modernen Gesellschaft den zwei großen Thatsachen der geistigen Erhebung durch die Re-
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Zit. n. Engelhardt 1986, 151 f. Gervinus 1866, Bd. 8, 8. So 1869 Bluntschli, zit. n. Hasselbach 1986, 77; danach auch die anschließende Bluntschli-Formulierung 1884. So 1863 die charakteristische Duplizierungsformel im Titel einer Flugschrift des Pforzheimer Bijouteriefabrikanten Moritz Müller (eines ungemein eifrigen ,Selfmade-Gebildeten'), zit. n. Engelhardt 1986, 135, A n m . 4 7 4 . Zit. n. Engelhardt 1986, 146; dazu u. a. die äußerst illustrativen Beispiele für die Ausprägung eines „pädagogischen Kulturnationalismus" in Bayern: Blessing 1982, 169 ff. (Bayer. Schulfreund, 2 0 . 4 . 1 8 7 1 : „die Bildung ist Germaniens stärkster A r m . " ) .
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formation und die classische Periode der neueren Nationalliteratur verdankt..." 6 0 In solcher, vielfach habituell gewordener Zuschreibung kommt überdies zum Vorschein, was hier nur noch als Merkposten eingegeben werden kann. Es ist die spätestens seit der Jahrhundertmitte offen und bisweilen forsch verbalisierte Neigung, das Epitheton gebildet in erster Linie, wenn nicht ausschließlich für eine bestimmte Inkarnation von Bildungsbürgertum zu reservieren: für die „Träger und Verbreiter des [im weitesten Sinne] protestantisch-bürgerlichen 61 Geistes". Diese ,Konfessionalisierung' geht wesentlich auf einen Umstand zurück, der die neuere deutsche Bildungsgeschichte nachhaltig beeinflußt hat. Im Unterschied vor allem zu Frankreich war die Aufklärung in Deutschland keineswegs in unversöhnlicher Konfrontation, sondern in abgefedert-immanenter Auseinandersetzung mit der Theologie vonstattengegangen. 62 Daher wurde das Bildungsbürgertum mit seinem Aufklärungserbe zwar zur „sinnvermittelnden Intelligenz jenseits der Kirche". 63 Aber so deutlich sich die bürgerliche ,Bildungsreligion' gegen institutionalisierte Theologie und Kirche etablierte, so unkaschierbar wurzelte sie — Paradebeispiel Schleiermacher — in einem entdogmatisierten, säkular transformierten Protestantismus (eine Herkunft, auf die der spätere Terminus „Kulturprotestantismus" anspielt). Mithin enthielt sie — um eine konzise Bemerkung von Reinhart Koselleck64 aufzunehmen - ein „theologisches Überschußpotential", das in der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des Idealismus greifbar und bis in die Reihen der Linkshegelianer aufzuspüren ist; „abgeschöpft" wurde es über die Gebildetensprache als einer Art „theologischem Mehrwert". Da im Bildungsbürgertum wesentlich aus der so aufgefüllten Sprache heraus gedacht und interpretiert wurde, stellte sich gerade die Reformation als essentiell nationalsprachiger Vorlauf dar. 65 Nicht zufällig also war sie zentral für die bildungsreligiöse Geschichtsauslegung, in der Luther und Luthertum völlig außerhalb christlicher Anliegen für zweierlei zugleich verfügbar wurden: für die angedeutete Tendenz zum begrifflichen Ausschluß der katholischen Welt aus 60 61
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Zit. n. Engelhardt 1986, 28 f. So Riehl 1861, 272 (Hervorhebung von mir), hier mit Bezug auf die ,Dichterfürsten' Schiller und Goethe, deren „alle gesellschaftliche Unterschiede überbrückender dichterischer und philosophischer Universalismus ... der gebildeten Schicht des Bürgertums erst recht das Bewußtseyn geweckt hat, daß der Bürger die Macht der socialen Bewegung sey." - Zur ,Konfessionalisierung' des Gebildetenbegriffs Engelhardt 1986, 159ff.; zum Komplementäraspekt,Bildungsbürgertum und Katholizismus' demnächst Klöcker bzw. Weber in Koselleck 1988. Dazu schon Scholder 1966. So äußerst zutreffend Nipperdey 1983, 60. Diskussionsbeitrag bei einer Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte am 2. - 2.5.1985, vgl. oben Anm.* Dazu demnächst eingehender die Beiträge zu Koselleck 1988.
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dem gebildeten Bürgertum und für dessen kleindeutsch-nationalpolitische confessiones. Fast aggressiv manifestierte sich diese Kombination ζ. B. 1879 bei Karl Hillebrand (einst Sekretär Heinrich Heines). Er verband das Kriterium des Patentbesitzes mit dem einer betont nationaldeutschen Einstellung und definierte von daher „selbstverständlich die Ultramontanen" aus dem Bildungsbürgertum hinaus: Nicht einmal die „wenigen" Katholiken unter den „Höhergebildeten" seien subsumierbar, weil sie - so sein Urteil - „eigentlich keine Deutschen sind, mit uns nur die [Hoch-]Sprache, nicht aber den Staat, die Religion, die Philosophie, die Literatur gemein haben, als welche, insofern sie unsere Nationalität ausmachen, sich erst seit Luther herausgebildet haben". 6 6 Zumal mit derweise achristlich-konfessionalisiertem Credo verstand sich und galt das Bildungsbürgertum gemeinhin als ausgewiesene Vorhut und Verkörperung der „Einheit und der geistigen Führerschaft des Volkes", wie Friedrich Paulsen 1902 noch festhielt. 67 Wohl schwächte sich diese mehr als innerbürgerliche Spitzenstellung sukzessive ab, als die Studiert-Gebildeten gegen Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch etwas anderes darstellten als eine weitgehend verkrustete Prestigeformation, die bis auf Restbestände mit der sozial grundsätzlich offenen und kulturtreibenden Erscheinung von einst nicht mehr viel gemein hatte. Ganz aber ging die exzeptionelle Sondergeltung erst - davon war schon die Rede - mit der endgültigen Auflösung der gesellschaftsständischen Geschlossenheit im frühen 20. Jahrhundert verloren. Seinen literarischen Reflex fand dies etwa darin, daß Ernst Robert Curtius den Tod Hugo v. Hofmannsthals (1928) als Signal für den „bis auf weiteres definitiven Abschluß der deutschen Bildungskultur" überhaupt auffaßte, 68 während der „Dichterakademiker" Thomas Mann die Fahne „gebildeter Bürgerlichkeit" in trutzigen Rückzugsgefechten hochzuhalten versuchte. 69 Doch das geht über unser Thema hinaus.
Literatur Blessing, Werner K. (1982): Staat und Kirche in der Gesellschaft. Göttingen. Conze, Werner (1981): [Artikel] ,Bürgertum II' (Neuzeit). In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. VII, Berlin, New York, 3 4 6 - 3 5 4 . Conze, Werner/Groh, Dieter (1966): Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Stuttgart. Conze, Werner/Kocka, Jürgen (Hg.) (1985): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Τ. I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. Stuttgart. 66
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Zit. n. Engelhardt 1 9 8 6 , 1 7 9 , Anm. 672; zur ,Vereinnahmung' Luthers u. a. auch Gervinus 1866, Bd. 5, 734f. Zit. n. Engelhardt 1986, 174. Engelhardt 1986, 186. Dazu besonders Engelhardt 1986, 187 bzw. 203 (Kennzeichnung „Dichterakademik e r " durch Arnold Bauer, 1946).
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Conze, Werner/Hentschel, Volker (1979): Ploetz: Deutsche Geschichte. Epochen und Daten. Das Illustrierte Nachschlagewerk. Freiburg, Würzburg. Engelhardt, Ulrich (1986): Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts. Stuttgart. Engelsing, Rolf (1973): Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen. Gervinus, Georg Gottfried (1866): Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, Bd. 5 und 8, Leipzig. Goethe, Johann Wolfgang v. (1893): Werke, hg. i.A. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 5.1., Weimar. Guhrauer, Gottschalk Eduard (1854): Gotthold Ephraim Lessing's Leben und Werke in der Periode vollendeter Briefe. Leipzig. Hasselbach, Andrea (1986): Die politisch-sozialen Auffassungen und handlungsorientierenden Wertvorstellungen des liberalen Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli. Magisterarbeit (masch.). Heidelberg. Hölscher, Lucian (1982): [Artikel] .Industrie'. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart, 286-304. Kleinberg, Alfred (1927): Die deutsche Dichtung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen. Berlin. Klüpfel, Karl (1870): Wegweiser durch die Literatur der Deutschen. Ein Handbuch für Gebildete. 4. Aufl., Leipzig. Kocka, Jürgen (Hg.) (1988): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. T.IV. Stuttgart. Koselleck, Reinhart (Hg.) (1988): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Τ. II. Stuttgart. Lepsius, Bernhard (1933): Das Haus Lepsius. Berlin. Lutz, Heinrich (1985): Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866. Berlin. Mandelkow, Karl Robert (1988): Die bürgerliche Bildung in der Rezeptionsgeschichte der deutschen Klassik. In: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Τ. II. Stuttgart. Meinecke, Friedrich (1908): Weltbürgertum und Nationalstaat. München. Nipperdey, Thomas (1983): Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München. Oellers, Norbert (Hg.) (1970): Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Τ. 1, 1782-1859. Frankfurt/Main. Pfütze, M a x (1962): Jacob Grimm, das »Deutsche Wörterbuch' und die Nation - Bemerkungen zu einer politischen Entwicklung. In: Weimarer Beiträge 8, 264-290. Reichmann, Oskar (1978): Deutsche Nationalsprache. Eine kritische Darstellung. In: Germanistische Linguistik 9, 389-423. Riehl, Wilhelm Heinrich (1861): Die bürgerliche Gesellschaft. 6. Aufl. Salomon, Ludwig (Hg.) (1935): Autorität und Freiheit. Zürich. Schellberg, Wilhelm (Hg.) (1927): Joseph Görres. Eine Auswahl aus seinen Werken und Briefen. Köln. Schiele, Friedrich Michael (1909): [Artikel] ,Bildung'. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd. 1. Tübingen, Sp. 1243. Scholder, Klaus (1966): Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland. Wieder abgedruckt in: Franklin Kopitzsch (Hg.) (1976): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. München, 294-318. Wehler, Hans-Ulrich (1988): Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive: Element eines Sonderwegs? In: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Τ. IV. Stuttgart.
Bernd Naumann Die Differenzierung gesprochener und geschriebener Sprachformen des Deutschen in sprachwissenschaftlichen Arbeiten vor und nach 1800
1. Die 1986 erschienene Dokumentation „Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache" von K.-P. Wegera beginnt mit einem erstmals 1863 veröffentlichten Beitrag Rudolf von Raumers, weil dieser sich „als erster umfassend mit den grundlegenden Problemen und Fragestellungen zur Entstehung des Neuhochdeutschen" (1986, X) auseinandergesetzt habe. In den hier zusammengestellten sprachwissenschaftlichen Arbeiten geht es um Druckorte, um Kanzleien, um Sprachräume, zeitlich um das 16. Jahrhundert. Die Diskussion darum ist noch im Gange. 1 Man kann aber auch fragen, wann und auf welche Weise dieses Neuhochdeutsch als allgemein akzeptierte überregionale Sprachform ins Bewußtsein einer größeren Anzahl von Sprachteilnehmern gerückt ist, wann und mit welchen Abstufungen die in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern lebenden Sprecher sich der gesprochenen und geschriebenen Existenzformen des Deutschen ihrer Zeit bewußt waren, und wie dieses Bewußtsein in sprachwissenschaftlichen Arbeiten reflektiert wird. Bei dieser Fragestellung geht es um den Gebrauch der Termini „Oberdeutsch", „Niederdeutsch", „Hochdeutsch" und um das Verständnis von „Mundart", zeitlich um das 18. und um den Beginn des 19. Jahrhunderts. „Zwar sind die Deutschen überhaupt, und selbst die Höfe in
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So plädiert etwa (u.a.) Werner Besch für eine (fast) ausschließlich schriftsprachliche Fundierung des Neuhochdeutschen und damit gegen die von Theodor Frings vertretene Auffassung von der Herausbildung einer ostmitteldeutschen Ausgleichssprache auf der Grundlage der in diesem Raum gesprochenen Varietäten: „Mundart und Schreibsprache treten im Spätmittelalter immer mehr auseinander, der Prozeß überlandschaftlicher Ausgleichung vollzieht sich mehr und mehr eigengesetzlich und nahezu ausschließlich in der Schriftlichkeit" (1968, 425 = Wegera 1986, 243). Auch im einzelnen sind noch viele Fragen offen, siehe dazu etwa Klaus J. Mattheier 1981 oder Peter von Polenz 1986.
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Wien und München darinnen eins, daß sie dem Dialecte der Obersachsen, so wie diese ihn schreiben, den Vorzug vor ihren eigenen Mundarten einräumen: Allein den sächsischen Provincialworten gestehen sie denselben nicht zu, und der Vorzug zwischen der ächten allgemeinen Sprache und den Provincialworten ist noch nicht in aller Betrachtung hinlänglich bestimmt", schrieb 1764 der in Kopenhagen lehrende J . H . Schlegel (1764, 43f.). Er bezeichnete also den „Dialect der Obersachsen" in seiner schriftsprachlichen Form als „ächte allgemeine Sprache" und grenzte diese mit lexikalischer Argumentation („Provincialworte") gegen regional gebundene Sprachformen ab. Die Diskussion über die Differenzierung der verschiedenen sprachlichen Existenzformen war zu seiner Zeit „noch nicht in aller Betrachtung hinlänglich bestimmt". In der Tat zeigen die sprachwissenschaftlichen Arbeiten der Zeit, daß man sich der Unterschiede zwischen „Schriftsprache", „Hochsprache", „Umgangssprache" und „Mundart", wie wir heute sagen würden, erst jetzt in ihrer ganzen Breite bewußt wurde und über welche Irr- und Umwege man sie terminologisch zu bewältigen versuchte. Diese Differenzierungen sollen im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen. Als Anhang folgt ein Kapitel, in dem jeweils an einem Beispiel auf einige Konsequenzen dieser Differenzierungen für die Sprachbenutzer hingewiesen werden soll: Auf Mundartdichtung am Beispiel J.P. Hebels, auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Mundart am Beispiel J . A. Schmellers und auf die Erfahrung unterschiedlicher Sprachvarianten am Beispiel K . M . Felders. Hier werden viele Gesichtspunkte wichtig, die weit über meine Fragestellung hinausgehen, literarische, kulturelle, soziale, bildungspolitische etc. Damit das Hauptanliegen dieser Arbeit deutlich bleibt, kann dieses letzte Kapitel nur sehr skizzenhafte, punktuelle Illustration und Ergänzung der vorhergehenden Ausführungen sein.
2. Im 6. Buch von „Dichtung und Wahrheit" (geschrieben 1812) erinnert sich der inzwischen 63jährige Goethe an die ersten Wochen seiner Studentenzeit in Leipzig. Es war im Herbst 1765, er war 16 Jahre alt und hatte zunächst Schwierigkeiten mit seiner Kleidung: sie entsprach nicht der Leipziger Mode. Neue Kleider waren bald beschafft, über Geld verfügte er reichlich. Ein anderes Problem, Goethe spricht von einer „Prüfung", war nicht so leicht zu lösen, „weil sie eine Sache betraf, die man nicht so leicht ablegt und umtauscht": Ich war nämlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegenden Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivität wegen gefielen, mit Behagen hervorhob und mir dadurch von meinen neuen Mitbürgern jedesmal einen strengen Verweis zuzog. Der Oberdeutsche nämlich, und vielleicht vorzüglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt, [...] drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer inneren, menschenverständi-
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gen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher Redensarten. In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man auf den Zweck des Ausdruckes sieht, immer gehörig; nur mag freilich manchmal etwas unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr sich anstößig erweist. Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger lebhafter Mensch unter diesem beständigen Hofmeister ausgestanden habe, wird derjenige leicht ermessen, der bedenkt, daß nun mit der Aussprache, in deren Veränderung man sich endlich wohl ergäbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl, vaterländischer Charakter sollten aufgeopfert werden. [...] Alles dies, das ich mir mit jugendlicher Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen; ich fühlte mich in meinem Innersten paralysiert und wußte kaum mehr, wie ich mich über die gemeinsten Dinge zu äußern hatte. Daneben hörte ich, man solle reden, wie man schreibt, und schreiben, wie man spricht; da mir Reden und Schreiben ein für allemal zweierlei Dinge schienen, von denen jedes wohl seine eignen Rechte behaupten möchte. Und hatte ich doch auch im Meißner Dialekt manches zu hören, was sich auf dem Papier nicht sonderlich würde ausgenommen haben. (1812, 227f.)
Für den Sprachwissenschaftler sind diese Erinnerungen einigermaßen verwirrend: Goethe nennt seine eigene hessische (Frankfurter) Mundart einen „oberdeutschen Dialekt" und setzt diesen gegen den „Meißner Dialekt" bzw. gegen die „meißnische Mundart", unter deren gesprochener Form er, wie er sagt, besonders gelitten hat, und die damals, in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts, alle übrigen dominiert habe, im Jahr der Niederschrift von „Dichtung und Wahrheit" allerdings offensichtlich nicht mehr. Dies bedarf der Erklärung. Goethe kam nach Leipzig, als Gottsched (gestorben 1766) dort auf dem Höhepunkt seines Ansehens stand und damit auch dessen apodiktische Auffassung von der Literatursprache seiner Zeit. Schon damals hatte es Proteste gegen Gottscheds Alleinvertretungsanspruch in Sachen Literatur und Sprache gegeben (etwa von dem Oberpfälzer C.F. Aichinger oder von den Schwaben F.K. Fulda und J . J . H . Nast). Vielleicht hat tatsächlich schon der junge Student Goethe damals in Leipzig unter dem „pedantischem Regiment der meißnischen Mundart" gelitten, gewiß fließen in seine Erinnerungen die Vorstellungen zum Thema Mundart und Hochsprache ein, die er gegen Ende der Napoleonischen Ära hat. Seit seiner Studentenzeit hatte er Herders Ansichten über den Zusammenhang zwischen Sprache und Volkscharakter rezipiert, hatte Vossens plattdeutsche Idyllen, Grübeis Nürnberger und Hebels Alemannische Gedichte rezensiert. Wenn er jetzt (1812) sagt, „durch vielfachen Widerstreit haben sich sämtliche Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt", so meint er damit nicht, daß die überregionale Schrift- und Literatursprache, für die zu seiner Zeit Adelungs Grammatik, Wörterbuch und Orthographie normgebende Geltung hatten, in ihrer allgemeinen Verbindlichkeit wieder relativiert worden war, sondern, daß
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die verschiedenen Regionen Deutschlands für die Sprache des täglichen Umgangs miteinander ihre Mundarten bewahrt hatten und daß in diesen Mundarten inzwischen auch von ihm hochgeschätzte Dichtungen geschrieben worden waren. In seinem Elternhaus in Frankfurt hatte Goethe die Frankfurter Stadtmundart des gehobenen Bürgertums gesprochen, die sich in der Aussprache und in den suprasegmentalen Faktoren des Sprechens an der hessischen Mundart, in Morphologie, Wortwahl und Syntax weitgehend an der überregionalen Schriftsprache ausrichtete, die zu dieser Zeit als Idealnorm allgemein anerkannt war (siehe das zeitgleiche Zitat Schlegels). Inwieweit die neue sprachliche Umgebung sich auf das Sprechen Goethes auswirkte, wissen wir natürlich nicht genau. In seinen Schriften paßte er sich jedenfalls in den nächsten 20 Jahren ganz der allgemeinen, überregionalen Literatursprache an: Als er zwischen 1787 und 1790 die erste Gesamtausgabe seiner bis dahin erschienenen Werke besorgte, ersetzte er die Regionalismen, die verschiedentlich in seine Jugendwerke eingegangen waren, sie jedoch in keinem Falle entscheidend stilistisch geprägt hatten, mit der Hilfe von Adelungs großem Wörterbuch durch Ausdrücke der überregionalen Literatursprache (siehe Jaeger 1964, 4). Obwohl er sich über Adelungs normsetzendes Werk zuweilen in nachsichtigem Spott erging, benützte er für seine späteren Arbeiten regelmäßig Adelungs „Orakel", wie er es in einem Brief an Schiller (26.1.1804) scherzhaft nannte, und er war längst nicht der einzige: Sogar ein so erbitterter Gegner Adelungs wie Johann Gottlieb Radlof mußte bekennen, daß Adelungs Wörterbuch „vielleicht mehr Einfluß auf die Sprache, als gleichen Zeitraums irgend ein anderes Werk auf seine Wissenschaft" (1804, 246) gehabt habe. 2 Goethe weist in der zitierten Passage daraufhin, daß er im Meißner Dialekt manches habe hören müssen, „was sich auf dem Papier nicht sonderlich würde ausgenommen haben", also auf den natürlich auch damals bestehenden Unterschied zwischen den verschiedenen Varietäten der in Obersachsen gesprochenen Sprache auf der einen Seite und der Schrift- und Literatursprache auf der anderen. Auch J . H . Schlegel hatte diesen Unterschied angesprochen, als er von „den sächsischen Provincialworten" sprach, die nicht überall akzeptiert würden. Den von den Grammatikern seit der Lutherzeit, auch von Gottsched und Adelung immer wieder vertretenen Anspruch: rede wie du schreibst und schreibe wie du sprichst, hielt er für unrealistisch. Interpretationsbedürftig sind schließlich auch die von Goethe verwendeten Bezeichnungen „Oberdeutsch" und „Dialekt/Mundart". Zusammen mit dem 1
Radlof bekämpfte Adelung, solange er Mitarbeiter von J. H. Campes Wörterbuch war, dem großangelegten Konkurrenzunternehmen von Adelungs Wörterbuch. Danach (d. h. ab 1826) wechselte er die Fronten und wurde zu einem ebenso leidenschaftlichen Propagator Adelungs.
Die Differenzierung gesprochener und geschriebener Sprachformen des Deutschen
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Wort „Hochdeutsch" erfuhren diese Termini vor und nach 1800 eine allmähliche Bedeutungsklärung. Gehen wir zunächst von Adelung aus.
3. „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen" hatte Adelung sein fünfbändiges Wörterbuch (1774-1786) betitelt. Er nannte also das Hochdeutsche eine „Mundart" und er unterschied zwischen Hochdeutsch und Oberdeutsch. Zwar war der Terminus „Oberdeutsch" seit Bödiker (1698) zur Bezeichnung der im Süden gesprochenen Mundarten verwendet worden, im allgemeinen verstand man jedoch unter „Hochdeutsch" alle deutschen Mundarten im Gegensatz zum Niederdeutschen, auch Gottsched: In Deutschland hat „fast jede größere Landschaft ihre eigene Mundart: doch könnte man die hochdeutsche Sprache hauptsächlich in die österreichische, schwäbische, fränkische und meißnische abtheilen. Die plattdeutsche . . . theilet sich abermal in viele Mundarten [ . . . ] " (1762, 38). Adelung machte aus dieser Zweiheit eine Dreiheit und reservierte den Terminus „Hochdeutsch" für die in Obersachsen geschriebene Sprache. Das Oberdeutsche nannte er (Magazin 1782 1/1, 23) „das ehemalige Hochdeutsch", weil in ahd. und mhd. Zeit in dieser Sprache bedeutende literarische Werke mit überregionaler Verbreitung verfaßt worden seien. „Hochsprache" war also für Adelung immer erstens überregionale Sprache und zweitens an Schriftlichkeit gebunden, wie auch bei Schlegel (s. o.) und anderen, etwa bei C. F. Aichinger: „Legt man mir nun die Frage vor, woher wir hier zu Lande das reine Teutsche bekommen, da es uns nicht angebohren wird: so bekenne ich gern, daß es vornehmlich durch die gut teutsch geschriebnen Bücher zu uns komme" (1754, Vorrede, unpaginiert). Die Grammatikschreiber der Zeit waren sich in ihrer Mehrzahl darin einig, daß überregionale Sprache seit ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert zunächst und vor allem Schriftsprache, „Büchersprache" war. Daß auch Adelung dieser Ansicht war, war für seine Zeitgenossen und Nachfolger evident, noch für Otto Lyon, dem Bearbeiter der 25. Auflage der Heyse'schen Grammatik von 1893: „Auch er (d.h. Adelung) grenzt die Schriftsprache aufs schärfste gegen alles Mundartliche (unter „hochdeutscher Mundart" meint er die Schriftsprache) a b " (1893, 37). Freilich waren sich auch alle darin einig, daß diese überregionale Schriftsprache dann sekundär auch Idealnorm für die überregionale gesprochene Sprache wurde: „Die hochteutsche Sprache, welche von der feinen und gelehrten Welt öffentlich geschrieben und gedruckt, und nach diesen Schriften in Gesellschaften gesprochen, und auf diese Weise von dem Hörer und Leser verstanden und gelernet und geübet wird, [ . . . ] " begann 1788 F.C. Fulda die Vorrede seiner „Idiotikensammlung". Der Terminus „Hochdeutsch" hatte bei Adelung weniger diatopische als diastratische Bedeutung (Sprache der „oberen Classen"). Das mußte bei der
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Wortverbindung „Hochdeutsche Mundart" zu Schwierigkeiten führen. In seinem Wörterbuch gab er zwei Bedeutungserklärungen für „Mundart". Im engeren Sinne war „Mundart" synonym zu „Sprechart" und bezeichnete soziolektale Varianten (Adelung nannte „anständige", „niedrige" und „gemeine" im Sinne von „allgemeine" Sprechart); im weiteren Sinn wurde es wie das griechische Dialektos gebraucht und bezeichnete alle Sprachvarietäten überhaupt. In diesem umfassenden Sinne gebrauchte auch Goethe den Terminus in „Dichtung und Wahrheit". Adelungs grammatikschreibende Zeitgenossen verwendeten das Wort ähnlich großzügig, etwa Hemmer (1775, 7f.), Stutz (1790, 9), Roth (1799, 3), Hünerkoch (1805, 3), Wismayr (1805, 20), Pölitz (1810, 44f.), v. Steinheil (1812, 2) und Heinsius (1817, 23f.). Daneben gab es aber auch schon einige, die den Geltungsbereich dieses Wortes viel enger auslegten, nämlich als Bezeichnung nur für die regional gebundene, vor allem als gesprochene Sprache auftretende Sprachform gegenüber der überregionalen Hoch- und Schriftsprache, also etwa so, wie auch wir heute „Mundart" beschreiben würden und so, wie auch Jacob Grimm den Terminus in seiner Grammatik benutzte (1822, 23; Grimm sprach von den „unter dem volke lebendigen gemeinen mundarten"; im Grimmschen Wörterbuch, Band VI, 1885, Sp.2683f. definierte der Bearbeiter Moriz Heyne den Terminus allerdings wieder so allgemein und weit wie hundert Jahre zuvor Adelung). Diese Bedeutung hatte der Terminus mindestens seit Schottelius schon auch immer gehabt, aber sie war eben nur eine der möglichen Gebrauchsweisen. Daß Adelung „Hochdeutsch" mit „Mundart" verband, empfand man als Herabsetzung der überregionalen Hoch- und Schriftsprache, explizit z.B. der Hallenser Schulrektor Johann Christian Chr. Rüdiger (1783) oder Johann Friedrich L. Chr. Jahn in seinem Nachtrag zu Adelungs Wörterbuch von 1806. „Diesem Manne", schrieb Jahn über Adelung, „war es aufbehalten mit ungemeiner Hochdeutscher Bescheidenheit und unerträglichem Landsmannschaftstolz die Hochdeutsche Sprache zur Mundart zu verkleinern (1806, XLIII), und: „Weder Plattdeutsch noch Hochdeutsch kann man Mundarten nennen. Eine Mundart muß auf irgend einem Boden einheimisch, erb und ansessen sein, nicht aus Unwissenheit und Vernachlässigung der Gesammtsprache erst entstehen. Nur Stammsprachen haben Mundarten, lebende Gesammtsprachen hingegen Zungen" (1806, XLII). Dies ist eine zwar terminologisch eigenartige, sachlich aber interessante und richtige Differenzierung. „Stammsprachen" sind für Jahn die historisch gewachsenen, regional gebundenen Idiome der Bayern, Schwaben, Alemanen, Sachsen etc. „Lebende Gesammtsprachen" dagegen sind überregionale Nationalsprachen, die ebenfalls gesprochene regionale Varianten haben können; diese Varianten sollte man aber nicht „Mundarten" nennen. In Ermanglung eines besseren Terminus wählte Jahn dafür das Wort „Zungen". Den Unterschied zwischen „Mundarten" und „Zungen" beschrieb er so: „Die erstem haben schon Abweichungen im inneren Bau, und verschiedene Gebilde, auch Verwandlung einzel-
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ner Laute, die letztern erstrecken sich nur auf den Gebrauch besonderer Wörter und Redensarten, sind in Aussprache und Betonung der Wörter verschieden, und verwechseln einzelne Laute, wo ζ. B. Berlin als Berrrlin mit hörbarem dreifachen r ausgesprochen wird" (1806, XLII). (Bei seiner ausschließlich diastratischen Fundierung des Hochdeutschen stellte Jahn abwegige Überlegungen an. Er verstieg sich zu der Behauptung: „Geographische Bezeichnungen sind die Wörter Hochdeutsch und Plattdeutsch auch nie gewesen" (1806, X X X I V ) , mit der etwas fadenscheinigen Begründung: „Man hat sie freilich dazu machen wollen, doch solche Versuche könnte allein schon das Fehlen der Nahmen Hochdeutschland und Plattdeutschland zurecht weisen" (1806, XXXIV). Jahn meinte: „Jede Sprache hat ihr Plattes, wie ihr Hohes" (1806, XLI)). Mit Adelungs weiter Auffassung von „Mundart" hätte man sich wohl abgefunden, denn sie war zu seiner Zeit durchaus noch üblich. Nicht abfinden konnte man sich damit, wie er die Entstehung der überregionalen Hoch- und Schriftsprache erklärte. Anstatt ihr Zustandekommen zentripetal zu beschreiben, also, um Goethes Wort zu wiederholen, „die alten Rechte sämtlicher Provinzen" zu berücksichtigen, beschrieb er es zentrifugal: „Da das Hochdeutsche keine aus den übrigen Mundarten ausgehobene Sprache, sondern die Mundart der südlichen Chursächsischen Lande ist, so kann auch das, was gut Hochdeutsch ist, d. i. was ihr, als einem ausgebildeten Ganzen, angemessen ist, nicht aus und nach den übrigen Mundarten, sondern muß allein aus und nach ihr selbst, d. i. nach ihrem eigenen Sprachgebrauch beurtheilet werden" (Magazin 1782 1/1, 30). Das empörte nicht nur, aber vor allem die Schriftsteller: Gerade die renommiertesten unter ihnen kamen zu dieser Zeit nicht aus Obersachsen: Goethe, Schiller, Wieland, Herder, Klopstock, Jean Paul, Bürger, Voß etc. Im Gegensatz zu Adelung vertraten sie alle die Ansicht, die schon Schottelius (1663, 174) und nach ihm vor allem Gottsched vertreten hatten: daß sich das Hochdeutsche als Ausgleichssprache aus allen ober- und mitteldeutschen Sprachlandschaften herausgebildet habe: Die „reine Hochdeutsche Mundart" ist bei Gottsched „eine gewisse eklektische, oder ausgesuchte und auserlesene Art zu reden, die in keiner Provinz völlig im Schwange geht, die Mundart der Gelehrten oder wohl auch der Höfe" (1762, 38). Hierin folgten ihm die meisten Grammatikschreiber. Ihre Ausführungen zu diesem Punkt sind allerdings zumeist sehr global und oft etwas mechanistisch, z.B. Hemmer: „So verschieden und streitend alle diese Mundarten sind: So gehet doch eine gewisse Art zu reden in Deutschland im Schwange, die überall verständlich, überall in Hochachtung ist. Diese bindet sich an keine besondere Mundart, sondern nimmt das Gewöhnlichste und Bäßte aus allen Mundarten heraus. Das ist also eine ausgesuchte Sprache, eine auserlesene Mundart, welche billig den erhabenen Namen der hochdeutschen führet" (1775, 7). Als opinio communis der Sprachwissenschaft setzt sich diese Auffassung erst im 19. Jahrhundert durch; so schreibt etwa noch K.H.L. Pölitz 1810: „Der Streit über die verschiedenen teutschen Dialecte ist, nach Fuldas, Adelungs,
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Kinderlings u.a. Untersuchungen darüber noch immer nicht völlig beendet" (1810,44f.). Er fährt dann aber fort: „Nach dem Streite, der über das Hochteutsche geführt worden ist, scheint endlich das Resultat das sicherste zu seyn, nach welchem unter dem Hochteutschen kein besonderer, irgend einer teutschen Provinz ausschließend eingenthümlicher Dialect, sondern die von den besten Schriftstellern der Nation allmählig ausgebildete und von den Provinzialismen gereinigte B ü c h e r s p r a c h e verstanden wird, an welcher aber, ob sich gleich die Spuren beider Hauptmundarten nicht ganz in derselben verkennen lassen, dennoch, seit Luthers Bibelübersetzung, die o b e r s ä c h s i s c h a u s g e b i l d e t e M u n d a r t den bedeutendsten Anteil hat" (1810, ebenda). Georg Friedrich Grotefend formulierte diese Auffassung im ersten Band der „Abhandlungen des frankfurtischen Gelehrtenvereins für deutsche Sprache" von 1818 in gleichsam endgültiger Form: „Dieses Hochdeutsch ist keine landschaftliche Mittelgattung von beiden" (d.h. Oberdeutsch und Niederdeutsch) „keine durch Luthers Schriften allgemein gewordene Mundart einer besonderen Landschaft, wie uns Adelung die meißnische Mundart dafür geben wollte; sondern [...] ein aus den vereinigten Sprachschätzen des gesammten Volkes allmählig ausgehobenes und nach innerm Gehalte gewürdigtes und geregeltes Deutsch, das, im täglichen Umgange, wie in Musterschriften, überall gangbar und verständlich, nicht als bloße Abart des Oberdeutschen und Niederdeutschen, sondern als die feinere Schriftsprache dem G e m e i n d e u t s c h e n im Munde des Volkes nach beiderlei Mundarten gegenüber steht" (1818, 28). Auch hier also die Auffassung, daß die in „Musterschriften" verwendete Schriftsprache mit ihren gesprochenen regionalen Varianten als „Gemeindeutsch" auch zur Kommunikation im „täglichen Umgang" tauglich sei. Mit dem Terminus „Gemeindeutsch" bezeichnete Grotefend jetzt das, was Jahn ein Dutzend Jahre zuvor „Zungen" genannt hatte. Leonhard Meister hatte von der „Sprache des Umgangs" (1780, II, 95) gesprochen, F. C. Fulda von „gemeinhochdeutscher Sprache" bzw. „öffentlicher Sprache", die „in Gesellschaften gesprochen" (1788, Vorrede, unpaginiert) worden sei. Adelung hatte diese Sprachvariante „Gesellschaftssprache" genannt, hatte aber damit fast immer das Adjektiv „obersächsisch" verbunden. Erst in neuerer Zeit hat man Adelung vorgeworfen, er hätte nicht ordentlich zwischen den verschiedenen Existenzformen der Sprache unterschieden, besonders deutlich etwa H. Henne: „Hätte Herr Adelung unterschieden" (1968, 120), nämlich zwischen „Hochsprache", „Literatursprache", „Schriftsprache" und „Gehobener Umgangssprache" (siehe 1968, 114). Dieser Vorwurf postuliert für Adelung einen Wissensstand, den die Sprachwissenschaft dieser Zeit sich erst erarbeiten mußte. „Ein gutes Kunstwort muß den richtigen Begriff der Sache erschöpfen" hatte Adelung im „Umständlichen Lehrgebäude" (1782,1, XII) gefordert, d.h. bevor man einen Terminus prägen oder wählen kann, muß man wissen, was das ist, was man benennen will (vgl. dazu Naumann 1986, 30f.). Vom „richtigen Begriff
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der Sache", also vom Wissen um die Differenziertheit der Existenzformen der Sprache, war Adelung nicht weit entfernt, terminologisiert haben er und seine Zeitgenossen dieses Wissen noch unvollkommen, weil es sich erst zu dieser Zeit klärte. Dazu kommt, daß Grammatikschreiber immer nur an der Beschreibung von Schrift-/Literatursprache (zwischen beiden differenzieren sie für gewöhnlich nicht) und Hochsprache (im Sinne Hennes) interessiert waren, nie an „Gehobener Umgangssprache" oder „Verkehrssprache", „Alltagssprache" wie diese Sprachform heute auch genannt wird. Die Termini „Oberdeutsch" und „Niederdeutsch" benützte man zunehmend ausschließlich diatopisch, um sie von dem diastratisch interpretierten Begriff „Hochdeutsch" abzuheben, etwa (als Beispiel für viele) G . M . Roth: „Die deutsche Sprache theilt sich in zwey Hauptmundarten, in die südliche oder oberdeutsche und in die nördliche oder niederdeutsche. Aus ihnen, jedoch hauptsächlich aus der ersten, hat ich durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft nach und nach eine ganz neue Art von Sprache gebildet, die unter dem Namen der Hochdeutschen bekannt und allmählich die Sprache der Schriftsteller und der feineren Klassen der Nation geworden ist" (1799,3). K. H. L. Pölitz ging in seiner großen, vierbändigen Gesamtdarstellung der deutschen Sprache und Literatur noch einen Schritt weiter, er behauptete, der Terminus „Hochdeutsch" sei schon seit jeher diastratisch gefüllt gewesen: „Von beiden teutschen Hauptmundarten muß das eigentliche Hochteutsche unterschieden werden" (1825, I, 33), und: „das Hochteutsche war zunächst in denjenigen Provinzen Teutschlands einheimisch, wo jedesmal das freieste Leben in der Sprachbildung des Volkes sich entfaltete; so im germanischen Franken bis ungefähr zum Jahr 1137, in Schwaben bis zum Erlöschen des hohenstaufischen Kaiserhauses, und in Obersachsen seit der Kirchenverbesserung und seit Luthers Bibelübersetzung" (1825, I, 34). Zwischen den 60er Jahren des 18. und dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts haben sich also die Bezeichnungen „Ober-/Niederdeutsch", „Hochdeutsch" und „Mundart" für die verschiedenen Sprachvarietäten in der Richtung entwickelt, wie wir sie auch heute üblicherweise gebrauchen. Für Adelungs von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern so vehement angefochtene und auch für uns nur schwer verständliche Auffassung vom Primat des Obersächsischen bei der Entstehung der überregionalen Schriftsprache gibt es natürlich Gründe: Auf seinen höchst konservativen literarischen Geschmack haben schon seine Zeitgenossen hingewiesen. Auch ein anderer Aspekt ist grundsätzlich bekannt, verdient aber m.E. nochmalige Unterstreichung: Für Adelung und die vielen anderen Bürgersöhne, die im 18. oder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine höhere Schule besuchten, war das Denken in griechischen und lateinischen Parallelen eine Selbstverständlichkeit. Seit Schottelius haben Grammatiker immer wieder gerne die verschiedenen sprachlichen Regionen Deutschlands mit denen im alten Griechenland verglichen, auch Gottsched (siehe 1762, 38). Oberdeutsch verglich man gewöhnlich mit dem Dorischen,
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Niederdeutsch mit dem Ionischen und das Hochdeutsche mit dem Attischen. Adelung verbalisierte ebenfalls entsprechende Parallelisierungen, am ausführlichsten und für seine Zeitgenossen völlig akzeptabel in der Einleitung zum „Umständlichen Lehrgebäude" von 1782: „Die Dorische glich der Oberdeutschen, war die Sprache der gebirgigen Gegenden Griechenlands, und liebte, wie der deutsche Oberländer, den vollen und breiten Mund, die Zisch- und Hauchlaute, und die rauhen aus der Gurgel gesprochenen Doppellaute. Ihr Gegensatz war die Ionische, welche die flachen Gegenden am Meere beherrschte; so sanft und weich, wie der Niederdeutsche, vermied sie, so viel möglich, alle rauhen Gurgeltöne, alle breiten Doppellaute und zischenden und rasselnden Buchstaben. In der Mitte zwischen beyden lag der Attische Dialect, er war jünger als sie, bereicherte sich aus beyden, und ward durch Wohlstand, Geschmack und Gelehrsamkeit am meisten ausgebildet, daher er als der blühendste, wohllautendste und zierlichste nach und nach seine altern Brüder verdrängte, und endlich in Schriften nur allein gebraucht wurde. Gerade so die Hochdeutsche, welche im Grunde nichts anderes ist, als die durch das Obersächsische gemilderte, und durch Geschmack und Wissenschaften ausgebildete Oberdeutsche Mundart" (1782, I, 81). In seinem etwa gleichzeitig erschienenen Aufsatz „Was ist Hochdeutsch?" verengte er allerdings diese Parallelisierung und machte sie dadurch auch für die Zeitgenossen unakzeptabel, die seiner Parallelisierung bis hierher hatten folgen können, „Das neuere Hochdeutsch dürfte sich des ihm zuweilen auch beygelegten Nahmens Obersächsisch eben so wenig schämen, als sich die ehemalige verfeinerte Griechische Mundart des Nahmens des Attischen schämen durfte" (1782, 1/1, 24). Danach ist das Hochdeutsche nicht mehr „die durch das Obersächsische gemilderte Oberdeutsche Mundart", sondern die Sprache Obersachsens wird direkt mit dem Attischen parallelisiert. Adelungs Nachfolger haben vernünftigerweise nur die gemäßigtere Fassung dieser Parallelisierung, also die im „Umständlichen Lehrgebäude" tradiert, z.B. Karl Wilhelm Ludwig Heyse: „Man kann auch dem oberdeutschen Dialekt mehr lyrischen, dem niederdeutschen episch-didaktischen Charakter zuschreiben, und in jeder Beziehung den ersteren mit dem dorischen, den letzteren mit dem ionischen Dialekt der Griechen vergleichen, während das vermittelnde Hochdeutsch dem attischen Dialekt entspricht" (1838, 115). Zur Zeit Adelungs hatte sich zwar die überregionale Schrift- und Literatursprache allgemein durchgesetzt, noch nicht so eindeutig auch eine überregionale „Gesellschaftssprache" (Adelung) bzw. „Gemeindeutsch" (Grotefend). In den Grammatiken finden wir dafür, wie gesagt, kaum Hinweise, weil Grammatiker an der Beschreibung gesprochener Sprache nicht vorrangig interessiert waren. Adelung: „Daß die alte Oberdeutsche Mundart bisher in dem südlichen Deutschlande noch immer die gewöhnliche Sprache der Schriftsteller und des gesellschaftlichen Umganges der obern Classen ist, ist ein Beweis, daß diese
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Hälfte des Reichs in der Cultur hinter der nördlichen zurück geblieben ist" (1782, I, 86). In bezug auf die Schriftsteller ist dies eine Unterstellung, was die gesprochene Sprache anbetrifft, ist dies wohl als Faktum nicht falsch, wenn auch für seine süddeutschen Zeitgenossen ärgerlich durch seine Abwertung. Noch eine Generation später registrieren Grammatikschreiber regionale Abweichungen in der gesprochenen Sprache. J . Ch. A. Heyse zitiert 1814 eine längere Passage aus einem zeitgebundenen (1813!), aber dennoch wegen seines dümmlichen Chauvinismus für uns heute ärgerlichen Aufsatzes von Ernst Moritz Arndt mit dem Titel „Über Volkshaß und über der Gebrauch einer fremden Sprache": Wenn ein gebildeter Schwede in Stockholm, ein gebildeter Franzose in Paris, und ein gebildeter Italiäner in Florenz so schwedisch, französisch, und italiänisch sprächen als Männer unserer gebildetsten Klassen in Zürich, Stuttgart, München, ja in Dresden, Berlin, und Hannover, wo sie sich auf ihre Aussprache und Kunst schon etwas einbilden, teutsch sprechen, wohin sollte er fliehen vor dem Spott und Gelächter der Zuhörer? Der teutsche Gelehrte, Künstler, Graf, und Freiherr schämt sich nicht, seine Muttersprache zu sprechen wie sein Bedienter und Kutscher sie sprechen; er würde untröstlich seyn und bis an die Ohren erröthen, wenn man ihm sagte, er spreche französisch wie die Bauern von dem Franche Comte. (1813, 72f.)
Stünde diese Passage nur in Arndts Schrift, könnte man sie als eine der vielen maßlosen Übertreibungen dieses Pamphlets ignorieren. Daß Heyse, ein Mann mit gutem Urteilsvermögen, diese Stelle übernommen hat, zeigt wohl, daß Arndts Schilderung im Kern schon richtig gewesen sein muß. Zu Beginn des Jahrhunderts war der Abstand zwischen Mundart und überregionaler gesprochener Sprache, „Gesellschaftssprache", offenbar auch bei gebildeten Sprechern noch gering. In der fünften, von Heyses Sohn besorgten und gründlich überarbeiteten Auflage fügt dieser hinzu: „Wenn auch seitdem Manches anders und besser geworden ist, so verdient doch diese kräftige Schilderung in vieler Hinsicht auch in unserer Zeit noch als ein warnender Spiegel vorgehalten zu werden" (1838, 88f.). Die von Adelung und E . M . Arndt beklagte Mundartgebundenheit im öffentlichen Sprachgebrauch war offenbar in allen deutschsprachigen Gebieten reduziert worden - sicher nicht zuletzt als Folge der Intensivierung des deutschen Sprachunterrichts auf allen Schulebenen. Franz Xaver Kerschbaum machte in diesem Zusammenhang in seiner Deutschen Grammatik von 1835 eine interessante Feststellung: „Die deütschen Mundarten wurden bereits in den früheren, von der Mitte des sechzehnten bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geschriebenen Lehrbüchern der deütschen Schriftsprache einiger Maßen berücksichtiget, und durch Zusammenstellung einzelner "Wörter dieser oder jener Mundart mit hochdeutschen Wörtern berichtiget. Allein seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde diese gute Art, die deutsche Schriftsprache zu lehren, wieder aus den Lehrbüchern derselben verbannet, und die hochdeutsche Sprache bloß in ihrer schriftmäßigen Form vorgetragen, als wenn sie in dieser Form schon allen Deütschen bekannt wäre, und durch die Sprachlehre nur mehr
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begründet und vervollständiget zu werden brauchte; ja man stellte sogar Regeln auf, daß man schreiben müsse, wie man spricht, da man doch in keiner Gegend von Deutschland spricht, wie man schreibt" (1835, III). Nach der überregionalen Schrift- und Literatursprache hatte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts deren gesprochene Form im Schulunterricht durchgesetzt, also „Gesellschaftsprache" (Adelung), „Gemeindeutsch" (Grotefend), „Sprache des Umgangs" (Meister), aber nur ganz wenige Grammatikschreiber haben, wie Kerschbaum, darauf hingewiesen, daß diese Sprache nur eine Idealnorm ist, daß in den verschiedenen Gegenden Deutschland unterschiedliche Alltagssprachen gesprochen werden, daß man eben nirgendwo „spricht, wie man schreibt". Die Grammatiker des 19. Jahrhunderts haben sich kaum noch mit der Abgrenzung der Hochsprache gegen die Mundarten befaßt, weil für sie Hochsprache als ideale Sprechnorm identisch mit der Schriftsprache war. Der Grundsatz „rede wie du schreibst und schreibe wie du sprichst" hatte sich bis auf wenige Ausnahmen durchgesetzt. Sprachkultur war für alle eng an Schriftlichkeit gebunden. In der ersten Hälfte ging es den Grammatikschreibern vor allem um die Beschreibung der gegenwartssprachlichen Verhältnisse, in der zweiten eher um die historische Entstehung dieser Verhältnisse. So definierte und limitierte etwa K. W. L. Heyse den Geltungsbereich der Mundart: In althochdeutsche Zeit, so sagte er, hätte es im deutschen Sprachraum „mehrere edle oberdeutsche Dialekte" (1838,107) gegeben, weil sie schriftsprachlich geworden seien. In mittelhochdeutscher Zeit wäre die „allgemeine Dichtersprache" die „zur Schriftsprache veredelte schwäbische Mundart" (1838, 110) gewesen. Jetzt dagegen seien „sämmtliche deutsche Mundarten ohne belebende Litteratur zu bloßen Volksdialekten" (1838, 108) herabgesunken, deren wissenschaftliche Beschreibung den „Idiotiken" und „Provincial-Grammatiken" obliege, nicht jedoch dem Verfasser einer Grammatik der deutschen Schriftsprache. Es gebe zwar einige gute Mundartdichtungen — Heyse beschränkte sich auf die Nennung genau der Arbeiten, die Goethe eine Generation vorher wohlwollend rezensiert hatte: Grübel, Voß und Hebel aber „es wird doch immer die hochdeutsche Gesammtsprache das Organ unserer eigentlichen National-Litteratur, das allen Gebildeten gemeinsame Mittel des Gedanken-Austausches bleiben müssen, wenn wir nicht die Einheit und damit die Größe unserer geistigen Bildung verlieren wollen" (1838, 117). Eine mögliche Gefahr, daß es eines Tages soweit kommen könnte, sah Heyse natürlich nicht mehr. Er verwahrte sich auch gegen den seit Herder immer wieder geäußerten Topos, daß die überregionale Hoch- und Schriftsprache kalt und seelenlos sei, die Mundarten dagegen Wärme und Leben besäßen. Für ihn, wie schon für Jacob Grimm, den er in diesem Zusammenhang zitiert, gab es zwei Arten von Wärme: Die Mundart hat „Lebenswärme, Bildungswärme geht ihr a b " (1838,117). „Bildungswärme" vermag nur die deutsche Schrift- und Literatursprache zu vermitteln. Die von Otto Lyon besorgte 25. Auflage der Heyse'schen Grammatik aus
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dem Jahr 1893 befaßte sich dagegen „umfassend mit den grundlegenden Problemen und Fragestellungen zur Entstehung des Neuhochdeutschen", um noch einmal Wegera zu zitieren. Lyon hat den gesamten sprachgeschichtlichen Teil der Grammatik neu geschrieben und den Komplex der sprachlichen Existenzformen unter sprachhistorischen Fragestellungen anders behandelt als alle seine Vorgänger, er war weit mehr am Zustandekommen des Neuhochdeutschen interessiert als an der Beschreibung der sprachlichen Existenzformen des Deutschen seiner Zeit. Aus diesem Grund griff er auch den u. a. von Jacob Grimm vertretenen Gedanken auf, daß die Mundarten der Nährboden der Schriftsprache seien: „Die Mundarten bilden daher die natürliche Grundlage für die Schriftsprache, den Mutterboden unseres Sprachlebens, aus dem sich auch unsere Schriftsprache fortwährend verjüngen und erneuern muß, und nicht nur unwissenschaftlich, sondern geradezu unnatürlich wäre es, wenn die Grammatik eine unverrückbare Schranke zwischen Schriftsprache und Mundarten ziehen wollte" (1893, 42f.). Nach der festen Etablierung der Schriftsprache konnte man die Grenzen gegenüber anderen Existenzformen der Sprache lockerer ziehen, ohne befürchten zu müssen, einmal erreichte Differenzierungen wieder zu verlieren. Fast genau hundert Jahre vorher hatte F. C. Fulda als Süddeutscher vergeblich Ähnliches postuliert: „Provinzial zu seyn, hört als ein Vorwurf endlich auf, und erhält sein Recht wieder, nicht mit dem Pöbelhaften für einerlei zu gelten [...] Damit öffnen sich der hochteutschen Sprache reiche Quellen, woraus sie täglich und ins Unendliche hinein schöpfen kann, wie es dem öffentlichen Sprachgebrauche nach und nach belieben wird" (1788, Vorrede, unpaginiert).
4. Der Terminus „Mundart" bzw. „Dialekt" konnte, wie wir gesehen haben, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Bezeichnung a l l e r Existenzformen der Sprache gebraucht werden, für regionale und für überregionale, für gesprochene und geschriebene Sprache. Regionale Begrenztheit wurde vor allem auf der lexikalischen Ebene gesehen, in „Provincialworten". So gut wie alle, die im 18. Jahrhundert gegen die Dominanz des Obersächsischen opponierten, argumentierten mit der Armut im Wortschatz, die diese Beschränkung nach sich ziehen würde, C.F. Aichinger (1760) und F. K. Fulda (1773) verfaßten darüber eigene Schriften. In seine „Idiotikensammlung" von 1788 schrieb Fulda: „Es giebt Leute, welche alle Wörter, die der Gebrauch in Sachsen nicht gestempelt hat, von hochteutschen Schriften gänzlich ausgemerzet haben wollen. Da ist es denn kein Wunder, wenn man die hochteutsche gelehrte und Schriftsprache für sehr arm und unvollständig hält, so daß sie immerzu entweder ins Ausland oder bei ihren Mundarten, besonders der Oberteutschen, wie ihr ihre besten Freunde selbt anraten, betteln gehen muß" (1788, Vorrede, unpaginiert). Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit regional begrenzter Sprache, mit „Mundart" in unserem heutigen Sinne, begann deshalb in Deutschland mit Zusammenstellungen des Wort-
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schatzes, mit „Idiotika", wie man diese Sammlungen gewöhnlich nannte, und sie so terminologisch gegen „Wörterbücher" abgrenzte. Das älteste (1689) mir bekannte Idiotikon ist das (allerdings sehr unvollkommene) „Glossarium Bavaricum" des Regensburger Rechtsgelehrten Johann Ludwig Prasch. Ihm folgte Christian Meisners schlesisches Idiotikon (1705), das „Idioticon Hamburgense" (1743), ein „Idioticon Osnabrugense" (1756), ein „Idioticon Prussicum" (1759), ein Bremisch-Niedersächsisches Wörterbuch (1767) etc. Das mit Abstand beste und bekannteste Mundartlexikon wurde das „Bayerische Wörterbuch" (1827-1837) von Johann Andreas Schmeller. Für Schmeller war die Beschäftigung mit der Mundart ein emanzipatorischer Akt, stolze Identifikation mit der vor allem an seine Sprache gebundene Herkunft und Vergangenheit. Er hat den Abstand zwischen seiner Mundart und der „allgemeinen Büchersprache", wie er die überregionale Schriftsprache nannte, als demütigende Erfahrung sozialen Unterschiedes erlebt. Von dieser Erfahrung hat er sich sein ganzes Leben lang nicht befreien können, auch nicht nach seinem sozialen Aufstieg. In einem frühen, vorbereitenden Aufsatz zum Wörterbuch formulierte Schmeller das Verhältnis Mundart/Schriftsprache so: Man ist gewöhnt, auf jede Mundart, die nicht mit der einmal angenommenen Schriftsprache übereinstimmt, mit Verachtung herabzusehen. Darinn geht das Streben nach Einheit wahrlich zu weit. Was in Vergleichung mit einem angenommenen Muster abweichend und fehlerhaft ist, kann auch für sich selbst bestehend und als einzig rechtmäßiges Muster gedacht werden. Es braucht weiter nichts, als daß der Wörter-Vorrath einer Mundart gesammelt, ihre Regeln wissenschaftlich aufgestellt, und in ihr geschrieben werde, um sie selbständig in die Reihe der Sprachen zu setzen, wie wir ζ. B. an der portugiesischen hinsichtlich der spanischen, und an der holländischen sehen, die sich stolz neben die hochdeutsche Stammhalterin hinstellt. (1816/1886, 70)
Die Überlegung, daß bei anderem Verlauf der kulturgeschichtlichen Entwicklung das Bairische oder irgendeine andere Mundart die allgemeine Schrift- und Literatursprache hätten werden können, ist zu Schmellers Zeit rein theoretisch. Schmeller wußte dies natürlich und wollte keineswegs vorschlagen, der Geschichte der deutschen Sprache eine andere Wendung zu geben. Den „Wörter-Vorrath" des Bairischen hat er selbst gesammelt, auch die „Regeln wissenschaftlich aufgestellt" hat er in seiner bairischen Mundartgrammatik von 1821, „geschrieben" aber (nämlich antikisierende Dramen und „Vaterländische Gedichte") hat Schmeller mit Grund nicht auf Bairisch, sondern in der überregionalen Schriftsprache seiner Zeit. Wer nach der festen Etablierung der allgemeinen Schrift- und Literatursprache überregional gelesen, wer überhaupt gelesen werden wollte, mußte sich in ihr ausdrücken. Außerdem konnte Schmeller nicht die Tradition der literarischen Stilhöhen ignorieren: Wenn er sich „existenziell" äußern wollte, also im „genus grande", dann mußte er dies in der Hochsprache tun. Der Dialekt war seit jeher die Sprache für das „genus
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humile". Schmeller war aufgrund seiner Herkunft und Erziehung für die Erkenntnis und Beachtung dieser Zusammenhänge besonders empfänglich. Nach der Rezeption von Herders Ideen zur Volkspoesie wurden Mundartdichtungen - es hat sie seit dem 18. Jahrhundert in allen süddeutschen Dialekten vereinzelt gegeben - zahlreicher, weil sie eben durch diese Ideen eine neue Legitimation erhielten. Aber nur sehr wenige dieser Dichtungen wurden überregional bekannt, etwa Johann Konrad Grübeis Nürnberger, Heinrich Voßens plattdeutsche Gedichte noch im 18. Jahrhundert, Johann Peter Hebels „Alemannische Gedichte" am Anfang des 19. Jahrhunderts, Fritz Reuters niederdeutsche Geschichten in der Mitte und Gerhard Hauptmanns Drama „De Waaber" am Ende dieses Jahrhunderts. „Ich kann in gewissen Momenten innwendig in mir unbändig stolz werden, und mich bis zur Trunkenheit glücklich fühlen, daß es mir gelungen ist unsere sonst so verachtete und lächerlich gemachte Sprache classisch zu machen, und ihr eine solche Celebrität zu ersingen" (Kühn 1978, 127), schrieb Hebel an seinen Freund Hitzig, nachdem seine „Alemannischen Gedichte" durch Jacobis, Jean Pauls und vor allem durch Goethes wohlwollende Rezensionen bekannt geworden waren. Wie bei Schmeller war es auch bei ihm Stolz auf die Sprache seiner harten und entbehrungsreichen Kindheit; ihr wollte er mit seinen Gedichten allgemeines Ansehen verschaffen, so wie Schmeller dem Bairischen durch Wörterbuch und Grammatik. Auch Hebel bekundet starke emotionale Gebundenheit an den Dialekt und das Bestreben, mit seinen Gedichten den alemannischen Landsleuten sprach- und stammesgebundenes Selbstwertgefühl zu vermitteln, sein Wunsch „auf meine Landsleute zu wirken, ihre moralischen Gefühle anzuregen, und ihren Sinn für die schöne Natur um sie her theils zu nähren und zu veredeln, theils auch zu wecken" (Kully 1969, 33). Freilich kamen seine Gedichte bei denen, an die sie sich richteten am schlechtesten an. Sie argwöhnten persönliche Anspielungen, gar Spott. Das was Goethe als Vorzug pries - berühmt wurde sein Satz: „Der Verfasser [...] verbauert, auf die naivste, anmuthigste Weise, durchaus das Universum" gerade das schien den Betroffenen durchaus nicht schmeichelhaft. Seine viel bekannter gewordenen „Kalendergeschichten" und all seine anderen Werke hat Hebel dann auch in der allgemeinen Literatursprache geschrieben. Der Bregenzer Franz Michael Felder sprach sein ganzes Leben lang so gut wie ausschließlich die Mundart seiner Heimat, in seinen Schriften verwendete er sie nicht. Er wurde (1839) als armer Bauernsohn in Schopperau im Bregenzerwald geboren, etwa 50 km südöstlich vom Bodensee. In Schopperau ging er zur Schule, er lebte dort als Kleinbauer, und er starb auch dort. Zeit seines Lebens sprach er (Bregenzer) Mundart, nur, im seltenen Verkehr mit Pfarrer, Tierarzt und Postboten das Deutsch, das er in der Schule gelernt hatte und das er als gesprochenes Pendant der Schriftsprache empfand, „Pfarrerdeutsch" (1904/1985,132, 254) nannte er es: „Wenn der Bauer ihm" (d. h. dem Postboten) „einen Brief übergab — was selten geschah - , so erzählte er dabei die Veranlas-
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sung desselben und seinen vollen Inhalt im besten Pfarrerdeutsch, welches er bei sich hatte, um sich gleichsam zu entschuldigen, daß er auch noch einmal zu schreiben versucht habe. Und kommt dann die Antwort, so muß der Bote sie gehörig auftun und lesen, damit der Bauer nicht mehr lang die verlegte Brille suchen darf und Unverständliches gleich gehörig erklärt bekömmt" (a.a.O., 132f.). Anders als seine Dorfgenossen las Felder ausgiebig außerhalb des Schulunterrichts, zunächst nur den jährlichen Kalender, für viele einziger Lesestoff während ihres ganzen Lebens. Als 14jähriger hatte er den Mut, eine eigene Zeitung zu abonnieren, noch dazu eine deutsche, wogegen der Pfarrer öffentlich von der Kanzel wetterte, „daß man in der Schweiz und im Deutschland draußen nicht für gute Katholiken schreibe und daß das trotzige Behalten solcher Blätter eine Absicht verriete, die man ohne erst Früchte zu erwarten mit aller Gewalt bekämpfen müßte" (a. a. O., 134). Felder behielt seine Zeitung dennoch. Als der Briefträger das erste Exemplar nach Schopperau brachte, erregte dies große Aufregung unter den Dorfbewohnern. Nach der Schule ging Felder heim, um in Ruhe zu lesen, aber: „Ich fand die Stube voll Tabakqualm und sah, als ich mich ein wenig daran gewöhnt hatte, die an den Wänden sich hinziehenden Bänke ringsum von jüngeren und älteren Dorfbewohnern besetzt. Sie alle waren gekommen, meine Zeitung mit ihren Bildern anzusehen und mich ein klein wenig daraus vorlesen zu hören" (a. a. O., 139). Die Lektüre zuerst dieser, dann anderer Zeitungen brachte ihm und seinen Dorfgenossen die große Welt in ihr kleines, abgelegenes Bergdorf. Probleme mit dem Lesen und Vorlesen hatte er nicht, 3 Schwierigkeiten entstanden nur, wenn er sein Dorf einmal verließ und dann anders sprechen mußte als daheim. Über die Sprache wurde ihm dann seine dörfliche Abgeschlossenheit schmerzhaft bewußt, was für ihn so unerträglich werden konnte, daß er buchstäblich davonlaufen mußte. In seiner Autobiographie, deren ersten Teil er wenige Monate vor seinem Tode (1869) abschloß und die erst 35 Jahre nach seinem Tode erstmals gedruckt wurde, berichtet er von seinem einzigen größeren Ausflug, zu Fuß nach Lindau am Bodensee, zwölf Wegstunden von daheim entfernt: Die Mundart meiner Heimat vermied ich so gut als es einer kann, der in ihr zu denken und zu reden gewohnt ist. Jeder Bregenzerwälder lernt als Schüler jedes Wort ins Hochdeutsche übersetzen; aber seine Briefe und alles Hochdeutsch, das er verbraucht, kann man nur mehr oder minder gut übersetzte Mundart nennen, deren
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Lesen in der Schriftsprache bereitete im 19. Jahrhundert nur noch wenigen Schwierigkeiten, und die, die sich mit dem Lesen schwer taten, ließen sich vorlesen. Nach Engelsing waren 1856/57, also genau zu der Zeit, die Felder beschrieb, in Österreich 75,3 bis 87,7 Prozent der Bevölkerung (Rekrutenstatistik!) alphabetisiert, d.h. fähig, zu lesen und zumindest den eigenen Namen zu schreiben (siehe Engelsing 1973, 97, dort auch viele weitere statistische Angaben zur Schreib- und Lesefähigkeit in verschiedenen Ländern Europas).
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Wortfolge jeder beibehält, der sich nicht später in ein unnatürliches Bücherdeutsch mit endlosen Sätzen verliert. Geschrieben fällt das weniger auf und nimmt sich zuweilen recht gut aus; schlimmer ist's wenn man einem Fremden zu Ehre seiner Rede das Festkleid anziehen will. Ich hatte das schmerzlich empfunden, so oft ich mit jemand reden wollte, dem ich kein Verständnis meiner Mundart zutrauen durfte. Wie war ich jetzt beschämt, sogar die kleinen Kinder des Buchhändlers ein Deutsch reden zu hören, wie ich's nur von Gelehrten erwartet hätte. Ich sollte ihnen von meiner Heimat, ihren Schönheiten und den Sitten ihrer Bewohner erzählen, aber ich brach die Unterhaltung schnell ab und ging. Auch im Gasthofe, wo ich übernachtete, erschrak ich, so oft ein Wort an mich gerichtet wurde. Im Bette machte ich mir darum Vorwürfe. Solang schon habe ich mich da heraus gesehnt, und nun verdarb ich mir alles aus Furcht, mich bei weiß Gott wem lächerlich zu machen. Jetzt sah ich, daß wir Bregenzerwälder nicht nur durch unsere Berge, sondern vielmehr noch durch Erziehung und Gewohnheit von der Welt abgeschlossen waren. Nicht einmal das hatten wir, daß wir zwölf Stunden von der Heimat noch ordentlich mit den Leuten reden konnten. Auch ich war noch nicht so weit, nicht aus der Enge heraus, nur zwischen Tür und Angel vermochte ich mit aller Mühe mich zu bringen. (1904/1985, 197)
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Klaus J.
Mattheier
Die soziokommunikative Situation der Arbeiter im 19. Jahrhundert Werner Besch Z u m 4 . 5 . 1 9 8 8 gewidmet
Das Grundproblem dieses Beitrages ist das Grundproblem aller soziolinguistischen Theoriebildung überhaupt: Wie gestaltet sich das gegenseitige Bedingungs- und Wirkungsverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Lebenswelt der Arbeiter im 19. Jahrhundert und den schriftlichen und mündlichen Sprachformen, deren sie sich bedient haben, und die wir - sicherlich immer nur teilweise aus den verschiedenen Quellen mit Hilfe sozialwissenschaftlicher und philologischer Methoden rekonstruieren können? Diese Frage könnte man deduktiv angehen, indem man aus einer Sozialhandlungs- bzw. Sprachhandlungstheorie die Wechselwirkungen ableitet. Das habe ich an verschiedenen Stellen und zuletzt im Handbuch „Sprachgeschichte" (Mattheier 1984, 720—731) versucht. Hier aber will ich induktiv vorgehen, indem ich das zusammentrage, was Sozialhistoriker über die Lebensbedingungen und Kommunikationsformen der Arbeiter im 19. Jahrhundert herausgefunden haben, 1 und daraus Hypothesen ableite, die an den Quellentexten zu überprüfen sein werden. Mit der Sprache der Arbeiter hat sich bisher in der germanistischen Forschung nur Gerhard Kettmann systematisch beschäftigt. In seiner Studie über
1
Genannt seien hier einige neuere Arbeiten: W. Conze, U. Engelhardt (Hg.) (1983): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker. Stuttgart; W. Conze, U. Engelhardt (Hg.) (1979): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Stuttgart; D. Langewiesche (1979): Zur Freizeit des Arbeiters. Stuttgart; D. Langewiesche/K. Schönhoven (1976): Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland. AfS XVI (1976) 1 3 5 - 2 0 4 ; H. Treiber/H. Steinert (1980): Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen (..) München; K. Tenfelde/H. Trischler (Hg.) (1986): Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergarbeitern. München; K. Tenfelde (1977): Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr im 19. Jahrhundert. Bonn, 2. Aufl. 1981; J. Mooser (1984): Arbeiterleben in Deutschland 1 9 0 0 - 1 9 7 0 . Klassenlagen, Kultur, Politik. Frankfurt. Und weiterführend K. Tenfelde, G . A . Ritter (Hg.) (1981): Bibliographie zur Geschichte der deutschen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung 1 8 6 3 - 1 9 1 4 . ( = AfS Beiheft 8) Bonn.
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Klaus J . Mattheier
das Verhältnis der sprachlichen Varietäten des Deutschen im 19. Jahrhundert (Kettmann 1980, 1 - 1 2 0 ) arbeitet er die zentrale Bedeutung der an die sich industrialisierende Stadt gebundenen regionalen Umgangssprache für die Sprachentwicklung dieser Zeit heraus. Diese regionale Umgangssprache entfaltet sich innerhalb der teilweise antagonistisch gegeneinandertretenden Gesellschaftsgruppen, der Gruppe des Bürgertums und der als Gruppe im 19. Jahrhundert erst entstehenden Arbeiter. Der soziale Gegensatz dieser beiden Gruppen manifestiert sich auch in zwei unterschiedlichen Sprachvarietätenspektren, die den beiden Gruppen zur Verfügung stehen. Die Arbeiter verwenden eine stark vom jeweiligen Dialekt geprägte Umgangssprache, das Bürgertum eine mehr schriftund literatursprachlich beeinflußte Umgangssprache. Der sprachliche Gegensatz zwischen beiden Gruppen wird durch das staatliche Schulwesen zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch stabilisiert. Die Arbeiterschaft sucht diesen Gegensatz im Rahmen der gesellschaftlichen Selbstfindungsprozesse gegen Ende des Jahrhunderts durch gezielte Bildungsmaßnahmen zu überwinden. Ich selbst habe in einem Vortrag auf der 43. Arbeitstagung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn diese Überlegungen aufgegriffen (Mattheier 1986,222—252). Das im 19. Jahrhundert in den sich industrialisierenden Städten auftretende Auseinanderfallen einer bürgerlichen und einer proletarischen Lebenswelt scheint mir ein Ergebnis der Industrialisierungs- und Verstädterungsprozesse zu sein, die die beiden Gruppen in unterschiedlicher Weise und Intensität erfassen, so daß man es mit einem Fall von Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu tun hat. Dadurch treten die in Hinsicht auf die Standardsprache fortschrittliche Sprache des Bürgertums und die traditionell geprägte Sprache der Arbeiterschaft zeitweise auseinander und sogar gegeneinander. Als Arbeitersprache bezeichne ich dabei den Sprachstil bzw. das Varietätenspektrum, in dem die speziellen Lebensbedingungen der Arbeiter und die Bedingungen, unter denen sie Sprachlichkeit erwerben und verwenden, sich im Kontrast zu den andersartigen Bedingungen etwa des Bürgertums des 19. Jahrhunderts ausdrücken. Die wichtigsten dieser Bedingungen sind die Herkunft der Arbeiter aus weitgehend schriftfernen und dialektgeprägten Gruppen, die Unterschiede im Schulsystem der Arbeiter und des Bürgertums und auch unterschiedliche gesellschaftliche und kommunikative Leitbilder. Die sich unter diesen Bedingungen ausbildende Arbeitersprache ist keine linguistische, sondern eine soziolinguistische Einheit, die nur jeweils an einem bestimmten Ort und in Relation zu der dort vom Bürgertum verwendeten Sprachlichkeit bestimmt werden kann, von der sie sich innerhalb des gesamten Varietätensystems des Ortes durch ausgeprägtere Dialektalität unterscheidet. Ob sich darüber hinaus die spezielle Sozialerfahrung der Arbeiter in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und ihre fachlich-beruflichen Kommunikationsbedingungen auch in raumübergreifenden Zügen eines Arbeitersprachstils allgemeiner Art manifestieren, müßte erforscht werden. Zumindest für die Arbeiterschriftsprache läßt sich derarti-
Die soziokommunikative Situation der Arbeiter im 19. Jahrhundert
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ges im Anschluß an die kleine Analyse von Arbeiterbriefen, die ich vorgelegt habe (Mattheier 1986, 2 4 2 - 2 4 8 ) , vermuten. Die weitere Entwicklung nach 1900 ist durch die Verbürgerlichung des Arbeiterstandes und durch eine Annäherung der Sprachstile geprägt. Arbeitersprache ist daher eine Erscheinung, die mit der Ausbildung des vierten Standes im 19. Jahrhundert entsteht und mit der Verbürgerlichung der Arbeiter - bzw. mit der Proletarisierung des Bürgertums - im 20. Jahrhundert schwindet. Sie ist also ein genuiner Forschungsgegenstand einer Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts. Diese noch sehr pauschal vorgetragenen Überlegungen möchte ich im folgenden etwas konkretisieren, aber auch differenzieren. Dabei werde ich drei Leitfragen folgen: (1) Was ist - unter soziolinguistischen Aspekten - im 19. Jahrhundert ein Arbeiter? (2) Welche soziokommunikativen Anforderungen werden an einen Arbeiter in dieser Zeit gestellt? (3) Welche Sprachlichkeit entwickelt sich bei Arbeitern auf der Grundlage der soziokulturellen Bedingungen und der kommunikativen Anforderungen? Diese drei Leitfragen sind nicht nur für die Erforschung der Arbeitersprache, sondern für alle Fragen, die die historische Soziolinguistik an das 19. Jahrhundert stellt, von zentraler Bedeutung.
1. In den oben skizzierten Überlegungen von Kettmann und mir selbst erscheint die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert - besonders im Kontrast zum Bürgertum als eine homogene Gruppe, die in der sozialen Wirklichkeit natürlich so nie existiert hat. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie im Bewußtsein des Bürgertums selbst nicht schon als soziale Einheit und quasi als Feindbild erschien, von dem es sich gesellschaftlich abzugrenzen galt, was sehr effektiv durch Sprache geschehen konnte. Die Arbeiterschaft war in Wirklichkeit im 19. Jahrhundert ein sozial äußerst komplexes Gebilde, durch viele gesellschaftliche Faktoren in sich gegliedert. Die wichtigsten dieser Faktoren waren der Arbeiterlebenslauf, die Branchendifferenzierung, die regionale Differenzierung, Differenzen in der Arbeitsorganisation, die zeitliche Entwicklung von 1800 bis 1900, die Geschlechtsdifferenz und - teilweise durch solche Faktoren bedingt — Unterschiede in den Traditionen, aus denen die Arbeiter stammen, sowie in den Zielsetzungen, auf die hin sich die Arbeiter orientierten (vgl. Schaubild 1). Zumindest drei gesellschaftliche Traditionen wird man unterscheiden müssen, aus denen die Arbeiter des 19. Jahrhunderts stammen und deren soziale Verhaltensweisen und Wertsysteme sie in den Arbiterstand einbrachten: die ländlich-bäuerliche Tradition, die städtisch-handwerkliche Tradition und — bei sozialen Absteigern — auch bürgerliche Traditionen. Ist die bäuerliche Tradition
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Dieter Cherubim
190. ®eöd>riföfr £)ed)ingcr jun. am Surijau & ö t 6 a ü m , Breiteetraese Ar. 887, im TVUmerding'echen Hause, halten rtki&renb bet fKeffe ju bcn befannten billigen greifen.in: ©ar&ttreit, gefiitft, brod^irt, carrirt ©iatfc« WouffeitH«, xlacownctö. £>rflatibie rmolf, 5 afrfjeeiüefterπ. * unb geffreift. SSeCficibeni, ^tque, $*ett&«£eit. fimon, Utitcrrptfett, leinenen SBatift-· tüc&ern. ®ppttete, Sdper, ©voife, Setnwanö. 5r«njöfifci»eH u. fd>»ei*cr »Sticfercien,af§: ba§ 9teuefie inffragen,®§tmv fette, Pelerinen, Stermeln, Rauben, 3»obeftie$, SÄantfKtten tr. f. ro. ^luöüerirtuf $uriicfr|efe£tet ©arbtncii unfc ®attffeiger. ,
£>a§ ϊ11ί>οgr α^ίfφe Snjiitut ton C. H e i d s i e c k A. Wehrt, (S^arrnftrape Μ 749, bait au£ fietS ein bebeutenbruc?iad>en oerrättn^, als: Sied): itttiu;«t, ^rad>tbriere, SSecjbfel, empfte^ii fein Sager eigener gabri? t>on fdjmerem naturgebleidjten Seinen, weißen unb gebrueften £afdjenfud)ent, .fjanbtu* tbefer^i^naturen, ©^ocotabc- d>ern, &afeltüdj>era, ©ebetfen, ßaffees 3$u\nettcti, all? Birten mi©eroietten, prangen «©eroietten, fiaren ies\ epctfffiirten, SOtd&ejettel unb biegten ©aiifttucbern, riefle?Seiic ic, unö empfiehlt öiefelben hiermit be- lten, fo wie oon ^erreit; unb jten§. — 2Bieber»erfctufer erhalten einen mcnbcm&cn, SSorfcemben, Wlancpettett angemeffenen SJabatt. — (Eben fo werbenunb fragen ju feflen aber feijr billigen (Strculare, iy^eturrn mit $trma, greifen. Slferefb, S&ttteit: unb nit&erc hat- ©tanb: fiobimarft, befmäSadfeti ten , fo wie überhaupt alle in biefeä gaef)meifier ^erm Strüöer, bem »φοίίί fdjlagenbe Xrtifel auf? ©leg a ntefte, jum Äieeblatt« gegenüber. Silltg ftt unb ©djnellfle angefertigt. 3ut ä3etfd)öitetimg bed Zeitttö, Bremer Cigarren - Offerte, Erhaltung unb SöadjStbum ber φααre, fo reife beregnet.
Text VI
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Sßüdjbein ί φ ι η ί φ i n h . b e i Slbrefiaten begeben, »In«·! " Ι
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fjabe idj bie ( b a 8 ) - o b e n bezeichnete V e r f ü g u n g ( f f i r f c m i t n i f e ) b g f e t b f t ,
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perföntiA angetroffen,
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be&fiitbigt, aeten//ten
18
(Siegel bei Sßoftamte«)
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S η m er f u η g cη
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·) eften «n bte I t i ü r " , 8) nenn ber Stbreffat ηίφΐ perfönlidj, rooty aber-einer feiner Slnge^ürigen, leine* ©eflnbe* ober fein $auSroirt§, ober — infofern bie 3nfinuation an einen §au«. ob« ©ronbeigenHümer erfolgen ioll — beffen CerwaUer ober Bbminiftrator ober ^ä^ter feine* Sanbgute* angetreten ift, mit ben SSJorten »bem (bet)
, , neiget (meldte) .bte 3ufleQunfl an ben Äbreflaten
wrfpro$en Jat". ®abei ift ba* Mnoänbtfqaftli^e ober contracture JBetliältmfe, in meinem bie ^erfon, an πκΐφ« bie ^nfinuation erfolgt ift, pi bem Sbreffaten fle^t, auibrüdlic^ mitanpigeben. 4} nenn webet ber Stbreffat ρίηδηΐίφ, ηοφ eine ber- bet 3 b e ^ n e t e n {ßerfonen angetroffen, obet bt» Qnna^me oon ben Setjtewn oerroeigert if), mit ben SBorten: ,αιιφ bie ^nfmuation meber an etnen oon feinen SngeQ3rigen, ober feinem Sefinbt, ηοφ a* [etnen 4au*u)irt{| mSgli$ genefen ift, burr Bn&eften an bie i & ü r * .
Text
Villa
Postzustellungsurkunde über die Zustellung eines mit dem Dienstsiegel eines Gerichtsvollziehers verschlossenen, Bit folgender Aufschrift versehenen Briefes
Absender:
DR I
Hierbei ein Vordruck zur Zustellungsurkunde Vereinfachte Zustellung D i e v o r s t e h e n d bezeichnete S e n d u n g h a b e ich in meiner E i g e n s c h a f t als Postbediensteter IU heute hier — zwischen Uhr und Uhr (Zeitangabe nur auf Verlangen) — (Vordruck f. d. Zustellung a. Einzelpersonen, Einzel[Vordruck f. d.Zustellung a. Behörden, Gemeinden, Korpora firmen, Rechtsanwälte, Notare u. Gerichtsvollzieher) tionen und Vereine (einschl. d. Hindelsgesellsdiaften erw.)] 1. An den Empfänger oder Vorsteher usw. in Person
dem — E m p f i n g e r — Flrmenlnhabar — (Vor- und Zuname):
dem — Vorsteher—gesetzlichen Vertreter—Vertretung*· berechtigten Mitinhaber -
selbst in — der Wohnung — dem Geschäftsräume — übergeben.
2. An Gehilfen, Schreiber, Beamte usw.
da ich in dem Geschäftsräume den — Empfänger — Firmeninhaber (Vor- und Zuname):
in Person In — der Wohnung — dem G w H Ü h n « · e — übergeben. da In dem Geschäftsräume während der gewöhnlichen Geschäftsstunden a ) der angetroffene — Vorsteher — gesetzliche Vertreter — vertretungsbereditigte Mitinhaber — an der A n n a h m · verhindert war, b) der — Vorsteher — gesetzliche Vertreter — -vertietungsberechtigte Mitinhaber — nicht anwesend war.
selbst nicht angetroffen habe, dort de
— Gakllf
— Schreiber übergeben. 3. An a) ein Familienmitglied b) eine dienende Person.
da ich den — Empfänger — Firmeninhaber (Vorund Zuname):
selbst in der Wohnung sieht angetroffen habe, dort a ) dem zu seiner Familie gehörenden a r w a d u a u HansgenoMen· — nämlich — der Eheiran — dem E h e m a n n · — dem Sohne — der Tochter —
fibergeben. da ein besonderer Geschäftsraum nicht vorfanden ist und ich auch den — Vorsteher — gesetzlichen Vertreter — vertretungsberechtigten Mitinhaber — In der hiesigen Wohnung nicht selbst angetroffen habe, dort a ) dem zu seiner Familie gehörenden erwachsene* H a a » genoeeen» nämlich — der F h e f i a n — dem I h a u M M — dem Sohne — der Tochter —
übergeben. b) de 4. An den Hauswirt oder Vermieter.
in der Familie dienenden erwachsenen übergeben.
b) de
übergeben. In der Familie dienenden erwachsenen m ι
da ich den — Empfänger — Firmeninhaber (Vorund Zuname):
da ein besonderer Geschäftsraum wirbt vorhanden ist und Ich den — Vorsteher — gesetzlichen Vertrete — Vertretung» He rechtigten Mitinhaber —
selbst in der Wohnung nicht angetroffen habe, auch die Zustellung an einen zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen oder an eine in der Familie dienende erwachsene Person nicht ausführbar war, de in demselben Hause wohnenden Hanawirt — Vermieter —, nämlich de
in der Wohnung . . nicht angetroffen habe, auch die Zustellung an einen t u Familie gehörenden erwachsenen Hamgcnoesm oder an eine In der Familie dienende erwachsene Pcnee eicht ausführbar war, de In demselben Haas wohnenden — B · » wM — Vermieter — nämlich de
d
d
zur Annahme bereit war, übergeben.
5. Verweigerte Annahme (Komml nur to deo Füllen 1, : uxi 3 in &*tr«cht.)
zur Annahme bereit war, übergeben.
D« die Annahme des Briefes verweigert wurde, habe ich den brief ami Orte der Ztuttüong zarfefc, gelassen.
Den Tag der Zustellung habe ich auf der Sendung vermerkt den günther Ton·, ov TM
19 (Fartsetzang eepdtig)
170
Dieter Cherubim
Text VIII b
Den vorseitig bezeichneten Brief habe ich in meiner Eigenschaft als Postbediensteter zu heute hier — zwischen
Uhr und
Uhr .(Zeitangab* nur auf Verlangen)
[Vordruck für die Zustellung an Einzelpersdben, Einzelfirmen, Rechtsanwälte usw. (Nur gültüe bei Durchttreichung der Zustellungsvermerke auf der vorstehenden Seite)] da Ich den — Empfänger — Flrmeninhabcr (Vor- und Zuname): selbst in der Wohnung nicht angetroffen habe, und die Zustellung weder an einen zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen, noch an eine in der Familie dienende erwachsene Person, noch an den Hauswirt oder Vermieter ausführbar war, auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zu niedergelegt, bei der Postanstalt zu niedergelegt,
[Vordrude für die Zustellung an Behörden, Gemeinden, Korporation, Vereine (einschließlich der Handelsgesellschaften usw.). (Nur gültig bei Durchstreichung der Zustellungsvermerke auf der vorstehenden Seite.)] da ein besonderer Geschäftsraum nicht vorhanden ist und ich auch den — Vorsteher — gesetzlichen Vertreter — vertretungsberechtigten Mitinhaber — in der Wohnung nicht angetroffen habe, u. die Zustellung weder an einen z. Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen, noch an eine in der Familie dienende erwachsene Person, noch an den Hauswirt oder Vermieter ausführbar war, auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zu niedergelegt, bei der Postanstalt zu bei dem Bürgermeister zu
bei dem Bürgermeister zu niedergelegt,
niedergelegt, niedergelegt,
bei dem Polizeivorsteher zu
bei dem Polizeivorsteher zu
niedergelegt. Eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung unter der Anschrift des Empfängers ist — ist der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben — an der Tür der Wohnung des Empfängers befestigt — einer in der Nachbarschaft wohnenden Person zur Weitergab« an den Empfänger ausgehändigt — worden. Die Abgabe in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise war nicht tunlich
niedergelegt, Eine schriftliche Mitteilung über die N'iederlegung unter der Anschrift des Empfängers ist — in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben — an der Tür der Wohnung des Empfängers befestigt — einer in der Nachbarschaft wohnenden Person zur Weitergabe an den Empfänger ausgehändigt — worden. Die Abgabe in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise war nicht tunlich.
D*n Tag der Zustellung hab* ich auf dem zugestellten Brief* vermerkt. , d*n
19
Text IX a Beglaubigte Abschrift anliegenden S c h r i f t s t u c k e s habe ich heule im A u l l r a g e
Oes (der) Rechtsanwalts — Firma als verschlossene, m,t m e i n e m N a m e n memer Amtsbezeichnung, der u n t e n s t e h e n d e n Geschäfts-. D R - N u m m e r und d e r A n s c h r i l t v e r s e h e n e Sendung zur Post gegeben
Ober-Gerichtsvollzieher m_
Postzustellungsurkunde j— 1.1 G e e c h ü f t s n u m m e r
W e i t a r f t e n d e n innerhalb d e s |
| Amtagerichtabezirk»
I S
1.2 G g f . weitere K e n n t 1.6
p ^ · Bereiche der Deutschen Bundespost
1.3 I Empfänger
•
Landgerichtsbezirke
Bereicht der Deutschen 1.7 r — ι Bundespost, jedoch nicht | | nach Berlin (West)
• Bel der Zustellung zu beachtende Vermerke > 1.8
• α
1.9
Α
Ersatzzustellung a u s g e s c h l o s s e n Keine Ersatzzustellung an:
MO
| — j Nicht d u r c h N i e d e r l e g u n g zustellen
1.11
j — | Mit A n g a b e d e r Uhrzeit zustellen
Zustellung durch Übergabe oder Zurücklassen nach Annahmeverweigerung D i e mit obiger Anschrift (1.3) und G e s c h t t f t s n u m m e r (1.1) v e r s e h e n e S e n d u n g (verschlossenes Schriftstück) h a b e ich in meiner Eigenschaft als Postbediensteter z u g e s t e l l t
2 Art der Zustellung
Persönliche Zustellung
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Ersatzzustellung 2.2 im Geschäftslokal Ersatzzustellung in der Wohnung
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c a .0» c bei juristischer Person. Behörde, Gesellschaft, Gemeinschalt (V
e reu£if($cti f ^ w a r i m S i f c i c r . - D r ö c n i ÖHrter j c .
ftino unb
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[...] E f t »erorbncn unb
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GBic f i e r b u t t f c
gndbifli! unb
crnßli$iif
(tnfu&ro
δβοΓΠΑφ ( ϊ φ efn jrbrr {U-ddjten, t e n » i f i e n tuirö»
CL.S.)
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u n b o c r TfI[cnff.