Von Widukind zur ‚Sassine‘: Prozesse der Konstruktion und Transformation regionaler Identität im norddeutschen Raum [1 ed.] 9783412521592, 9783412521578


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German Pages [278] Year 2023

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Von Widukind zur ‚Sassine‘: Prozesse der Konstruktion und Transformation regionaler Identität im norddeutschen Raum [1 ed.]
 9783412521592, 9783412521578

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V on W iduk ind zur ›S assine ‹ PROZESSE DER KONSTRUKTION UND TRANSFORMATION REGIONALER IDENTITÄT IM NORDDEUTSCHEN RAUM M a rt i n B a i s c h | M alena R atzke | R egina T oepfer (H g .)

Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters BAND 4

Herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Andreas Bihrer und Timo Felber

Martin Baisch, Malena Ratzke, Regina Toepfer (Hg.)

Von Widukind zur ‚Sassine‘ Prozesse der Konstruktion und Transformation regionaler Identität im norddeutschen Raum

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Glasmalerei mit den Neun Helden (Ausschnitt): Lüneburg, Rathaus, Ratsdörnse, 15. Jahrhundert. Foto: Kopiersperre, 2016. Wikimedia Commons, https://commons. wikimedia.org/w/index.php?title=File:Glasmalerei_%E2%80%93_Die_neun_Helden. png&oldid=511437502 (02.11.2022), gemeinfrei. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Korrektorat: Sara Horn, Düsseldorf Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52159-2

Inhalt Martin Baisch, Malena Ratzke und Regina Toepfer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Schröder Schreibsprachenwahl als Identitätsmarker Zwischen Latein und Mittelniederdeutsch  . .

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Jörn Bockmann Zur Wahrnehmung des Niederdeutschen um 1700 Bemerkungen zu Bernhard Raupachs De linguae saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Roling Caspar Abels Sassine: Eine Apologie des Niederdeutschen im 18. Jahrhundert  Martin Baisch und Anabel Recker Ein Traum von arthurischer sælde Die Leidener Wigalois-Handschrift (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B) 

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Christina Ostermann Verse verfolgen Überlegungen zu einer Zusatzepisode in der Lübecker Handschrift von Bruder Philipps Marienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Unzeitig Text- und Bildräume im niederdeutschen Bibeldruck des 15. Jahrhunderts  Sebastian Holtzhauer Die mittelniederdeutschen Brandaniana Eine überlieferungs-, text- und kulturgeschichtliche Untersuchung zum hl. Brandan und seinen Zeugnissen im norddeutschen Raum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt | 5

Christian Scholl Zwischen Gewohnheit und Konstruktion Regionalität in der mittelalterlichen Sakralarchitektur im norddeutschen Raum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jan Christian Schaffert Die Darstellung sächsischer Identität in den Cronecken der sassen Ein netzwerkanalytischer Ansatz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiebke Ohlendorf und Regina Toepfer Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum Digitale Bildung und regionale Zugehörigkeit  . .

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Martin Baisch, Malena Ratzke und Regina Toepfer

Einleitung

1. Mittelalter-Germanistik im norddeutschen Raum: Anliegen eines Verbunds Der vorliegende Band ist Ergebnis einer Fachtagung des Verbundes Mittelaltergermanistik Nord, die im Juni 2018 im Kloster Wöltingerode nahe Goslar stattgefunden hat.1 Auf Initiative von Martin Baisch wurde dieser Verbund im Mai 2016 an der Universität Hamburg gegründet. Er will den Vertretern und Vertreterinnen der germanistischen Mediävistik an den Universitäten im norddeutschen Raum Gelegenheit zum Informationsaustausch geben, Kooperationsmöglichkeiten auf den Gebieten der Forschung, der Lehre und der Nachwuchsförderung ausloten und strategische Überlegungen zum Verhältnis von Universität, Schule und Gesellschaft aus der Fachperspektive entwickeln.2 Weitere regionale, wo immer möglich an den Grenzen der Bundesländer orientierte Zusammenschlüsse von altgermanistischen Forscherinnen und Forschern, die das Fach an einer Universität vertreten, lassen sich leicht anführen.3 Während Universitätsleitungen unter den Bedingungen von Globalisierung meist auf die Strategie der Internationalisierung der Institution setzen, erfolgen die Bemühungen um regionale Bündnisbildung im Bereich der Älteren deutschen Sprache und Literatur ohne Anweisungen von Dekanaten oder Präsidien und quer zu anderen Organisationsformen des Faches oder der Wissenschaft im Ganzen. Sie reagieren notwendig auf eine komplexe gesellschaftliche und institutionelle Situation, in der Zukunftsfähigkeit betont erscheint und Geschichtlichkeit als vernachlässigbar aufgefasst wird. Gerade die im Zuge der Bologna-Reform (mit ihrem Ziel der Europäisierung von Studium und Universität) erfolgte Umgestaltung der Studiengänge zeitigte u. a. Effekte der Enthistorisierung des in den Curricula festgelegten Wissens. Diese Entwicklung trifft die Geisteswissenschaften insgesamt, die Mediävistik jedoch disziplinübergreifend besonders stark. In der Germanistik etwa kann althochdeutsche Literatur im Rahmen grundständiger BA -Studiengänge 1 2 3

An der Konzeption und Organisation der Tagung sind auch Almut Schneider und Julia Weitbrecht beteiligt gewesen, denen wir ebenso herzlich danken wie Julian Greß und Skadi Kompa für ihre Unterstützung bei der redaktionellen Einrichtung der Beiträge. Zu den weiteren Aktivitäten des Verbundes vgl. die Website des Verbunds Mittelaltergermanistik Nord (MGN), https://mgn.uol.de (02. 11. 2022). Vergleichbare germanistisch-mediävistische Initiativen und Arbeitsgruppen gibt es in Bayern, BadenWürttemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und länderübergreifend in den östlichen Bundesländern.

Einleitung | 7

kaum mehr regelmäßiger Gegenstand akademischer Lehre werden. Zwar expandiert die Germanistik als Ganze und die Ältere deutsche Literatur und Sprache ist, solange sie integraler Bestandteil von Lehramtsstudiengängen bleibt, in ihrem Bestand mehr oder weniger gesichert. Doch als Teilbereich der Germanistik ist die Ältere deutsche Literatur und Sprache ein ‚kleines Fach‘ geworden und auch die Geisteswissenschaften insgesamt erleben gegenwärtig einen gesellschaftlichen Geltungsverlust. Dabei sichern historisch arbeitende Fächer gerade dadurch die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, dass sie Geschichtsbewusstsein ermöglichen und die Geschichtlichkeit sowohl gegenwärtiger als auch zukünftiger Entwicklungen präsent halten. Die Größe der Disziplin der Germanistik wie sicher auch ihre Geschichte, ihre methodisch-theoretischen Orientierungen, ihre Praxisformen wie ihre soziale und institutionelle Verfasstheit haben eher zentrifugale als zentripetale Kräfteverhältnisse entstehen lassen, die seit den 1960er Jahren ein Auseinanderdriften der drei Teilfächer, Mediävistik, Linguistik und Neuere deutsche Literaturwissenschaft, bewirkt und ein Erstarken der Didaktik ermöglicht haben. Aus der verlorenen Einheit, zu der nicht zurückzukehren ist und die in keiner Weise zu idealisieren wäre, und ihren notwendigen Differenzierungsprozessen erwachsen auch Phänomene, die jenseits von Anerkennung für die Verschiedenheit der Teilfächer und ihrer Verfasstheit, ihrer Erfolge wie Misserfolge liegen und die das Gebilde der Germanistik doch benötigt. Aus ­diesem Befund lässt sich daher leicht ableiten, weshalb regionale Organisationsformen attraktiv erscheinen und ihre Bedeutung entfalten können. Sie haben Teil an innovativer Forschung, die unter dem Stichwort der ‚Exzellenz‘ nicht hinreichend beschrieben ist. Sie können als Impulsgeber vielfach in das Fach zurückwirken – beispielsweise für den lange stark vernachlässigten Bereich der niederdeutschen Literatur des Mittel­alters und der Frühen Neuzeit.4 Die regionale Verortung eröffnet zudem neue Handlungsfelder und hilft, weitere Bündnispartner zu gewinnen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung zählt es beispielsweise zu den Zukunftsaufgaben der Universitäten, eigene Forschungserkenntnisse in die Öffentlichkeit zu transferieren und sich an der Wissenschaftskommunikation aktiv zu beteiligen.5 Das Interesse an historischen Zusammenhängen und die Bereitschaft, sich mit mittelalterlicher Sprache und Literatur zu beschäftigen, ist in der Gesellschaft besonders groß, wenn es um Ereignisse, Quellen, Werke und Personen der lokalen Geschichte geht, 4

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Zu dem wachsenden Forschungsinteresse an mittelniederdeutscher Literatur vgl. das Themenheft des Germanistenverbands: Mittelniederdeutsche Literatur, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 64 (2017), hg. v. Anja Becker, Albrecht Hausmann, S. 221 – 306. – Einen Überblick bietet: Doreen Brandt: Bibliographie zur Mittelniederdeutschen Literatur. Bestand, Geschichte, Forschung, Rostock 2019, Rostocker Dokumentenserver; https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002527 (11. 11. 2020). Vgl. z. B. das Grundsatzpapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Wissenschaftskommunikation, hg. v. dems., Berlin 2019; https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Grundsatz​ papier_zur_Wissenschaftskommunikation.pdf (11. 11. 2020).

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zu denen Rezipierende eine persönliche Beziehung herstellen können. Ausgehend von diesen fach- und wissenschaftspolitischen Überlegungen macht der Verbund Mittelaltergermanistik Nord die Frage nach der Konstruktion und Transformation regionaler Identität im norddeutschen Raum in ­diesem Band zu seinem Forschungsprogramm.

2. Regionale Zugehörigkeit und kulturelle Praxis: Der norddeutsche Raum als Forschungsgegenstand Regionen sind nicht aggressiv, sie sind im Kern kooperativ und pazifistisch. Kein Baske hat zum Beispiel Interesse an einem Territorium, in dem keine Basken leben. Regionen sind historisch gewachsene Kultureinheiten, die nicht durch Kriege entstanden sind. Sie konnten auch durch Nationen niemals gebrochen werden, selbst wenn nationale Grenzen quer durch sie hindurchgezogen wurden. Nehmen Sie nur Tirol! Und Regionen haben eine überschaubare Größe, die konkret identitätsstiftend ist und politische Partizipation der Menschen ermöglicht, die zugleich sehr genau wissen, dass sie nie autark sein können, also auf Kooperation mit anderen Regionen angewiesen sind. Die Lösung ist ein Netzwerk der Regionen […].6

Im Berliner Tagespiegel vom Oktober 2017 findet der österreichische Schriftsteller Robert Menasse anlässlich des Erscheinens seines Romans Die Hauptstadt, der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist und die Europäische Union zum Gegenstand hat, zu einem Begriff von ‚Region‘, der eher eine politische Wunschphantasie darstellt, als dass er in historischer Analyse des Gegenstandes entwickelt worden wäre. Unverkennbar stellen Menasses Bemerkungen eine Idealisierung von ‚Region‘ dar, die als das Andere von Nationen fungiert, jenen Erfindungen des 19. Jahrhunderts, die zweifelsohne unvorstellbare Gewalt und fast zahllose Kriege in Europa bewirkt und neue Formen von Kolonialismus hervorgebracht haben. Wissenschaft kann gegen s­olche Simplifizierungen und Idealisierungen das methodische Werkzeug der Historisierung anbieten. Der spatial turn innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften hat auch Fragen nach der Konstruktion von ‚Region‘ und ‚Regionalität‘ hervorgebracht und damit jene Fragen nach dem Verhältnis von Identität und Alterität neu konturiert, die die Mediävistik seit jeher beschäftigen.7 Denn unbestreitbar ist, dass neben sprachlichen, historischen, politischen und ökonomischen Kriterien auch regionale Zugehörigkeiten eine besondere 6 7

Alexander Görlach: Europa braucht ein Netzwerk der Regionen, in: Der Tagespiegel (13. 10. 2017); https://www.tagesspiegel.de/kultur/buchpreistraeger-robert-menasse-europa-braucht-ein-netzwerk-derregionen/20449408.html (11. 11. 2020). Vgl. Hans Robert Jauß: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 – 1976, München 1977. – Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. v. Anja Becker, Jan Mohr (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Bd. 8), Berlin 2012. – Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, hg. v. Manuel Braun (Aventiuren, Bd. 9), Göttingen 2013.

Einleitung | 9

Funktion für die Bildung von personaler und gruppenbezogener Identität besitzen können. Wie sich regionale Identitäten jedoch ausbilden und durch w ­ elche komplexen Verhältnisse von Selbst- und Fremdzuschreibungen sie bestimmt sind, bedarf der eingehenden historisierenden Untersuchung.8 Wie sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Regionalität, Partikularität und ‚großem Ganzem‘ historisch adäquat beschreiben lässt,9 ohne sich theoretisch-methodisch und institutionell-fachpolitisch zu verstricken, ist ein Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu der Tagung gewesen, deren Ergebnisse mit ­diesem Band vorliegen. Wir haben uns der Aufgabe gestellt, historisch komplexe Konstruktionsprozesse im Feld regionaler Identitätsbildung zu analysieren, ohne in Essentialismen oder problematische Behauptungen einer Leitkultur zu verfallen. Denn den Blick auf den nord- bzw. niederdeutschen Raum zu richten, bedeutet ja nicht zuletzt auch, die Historisierungs- und Kanonisierungsprozesse des eigenen Faches kritisch zu reflektieren. Dies bedeutet auch, die regionale Zugehörigkeit bei all ihrer Relevanz nicht überzubewerten, sondern weitere identitätsstiftende und die kulturelle Praxis beeinflussende Faktoren einzubeziehen. Zu Recht weist Sébastien ­Rossignol darauf hin, dass sich im Mittelalter innerhalb eines Territoriums – wie auch innerhalb einer Region – völlig verschiedene Kulturkreise ausbildeten: Mittelalterliche Kulturkreise hielten sich nicht an den Grenzen von Territorialherrschaften und waren – hiermit wird nur eine schon bekannte Tatsache bestätigt – viel mehr sozial als ethnisch bestimmt. […] Die Vorstellung einer Kultur, die sich homogen innerhalb eines Herrschaftsgefüges verbreiten sollte, war dem Mittelalter […] vollkommen fremd.10

Daher ist der Begriff des kulturellen Wissens, seines Transfers und seiner Praktiken auch in Bezug auf die daraus abzuleitenden Identitätskonzepte genau zu reflektieren. 8

Vgl. hierzu aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft die Reflexionen von Wolfram Drews, ­Christian Scholl: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne. Zur Einleitung, in: Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne, hg. v. dens., Berlin, Boston 2016, S. VII–XXIV. 9 Vgl. hierzu auch die differenzierten Überlegungen von Monika E. Müller, Jens Reiche: Einleitung. Zentrum oder Peripherie? Kulturtransfer in Hildesheim und im Raum Niedersachsen (12. – 15. Jahrhundert), in: Zentrum oder Peripherie? Kulturtransfer in Hildesheim und im Raum Niedersachsen, hg. v. dens. (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 32), Wiesbaden 2017, S. 9 – 29. 10 Sébastien Rossignol: Eliten und Kulturtransfer im Mittelalter. Ausgangslage und Ergebnisse, in: Mittelalterliche Eliten und Kulturtransfer östlich der Elbe. Interdisziplinäre Beiträge zu Archäologie und Geschichte im mittelalterlichen Ostmitteleuropa, hg. v. dems., Anne Klammt, Göttingen 2009, S. 205 – 235, hier S. 233. – Zu Recht lehnt Rossignol (ebd.) aus d­ iesem Grund eine an Vorstellungen von Nationalkulturen oder gar deren Vorläuferformen angelehnte Kulturtransferforschung ab: „Da sich Kulturen innerhalb von sozialen Gruppen verbreiteten und nicht innerhalb von irgendwie homogen geprägten Räumen, wäre zu fragen, ob das Konzept von Kulturraum nicht ganz aufzugeben sei; Begriffe wie Kulturkreis oder Kulturgruppe scheinen eher geeignet, Phänomene zu beschreiben, die nicht an den Territorien gebunden waren.“

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Die Frage nach der Konstruktion und Transformation regionaler Identitäten im norddeutschen Gebiet wird aus verschiedenen Richtungen stimuliert: In dieser Kontakt- und Grenzregion werden Formen von Identitätsbildung sichtbar, die durch Kulturtransfers aus vielen Herrschaftsgebieten und Sprachräumen entstehen – zu denken ist hier etwa an das Reich, die niederen Lande, England, Skandinavien und das Baltikum – und zugleich durch je eigenständige Adaptationsakte gekennzeichnet sind. Zentral für die zu beobachtenden Prozesse sind die unterschiedlichen Medien und Modalitäten von Kommunikation, etwa die Arten und Wege von ‚Texten‘ in ihrer spezifischen Medialität und Materialität (Bote – Brief – Codex).11 Ab dem 13. Jahrhundert sind es neben der Institution der K ­ irche mit ihren Orden und der lateinisch geschulten Gelehrsamkeit auch die Handelsbeziehungen z­ wischen den Städten, die mit ihren Transportwegen Kommunikationsnetzwerke ermöglichen. Dabei gilt es wahrzunehmen, dass sich regional unterschiedliche kulturell-soziale Manifestationen des tradierten Wissens herausbilden, die im norddeutschen wie im süddeutschen Raum in bestimmten sozialen Kontexten teils parallele, teils divergierende künstlerische Formen entwickeln: Für den Bereich der Literatur etwa stünden sich hier die oberdeutschen und die niederdeutschen Bibelübersetzungen,12 das Nürnberger und das Lübecker Fastnachtsspiel gegenüber; im Bereich der Architektur lässt sich die Neuformulierung von Kunststilen der Sakralarchitektur nennen, für die etwa der Backstein im norddeutschen Raum eine wichtige Rolle spielt; im Bereich der Sprache fällt dem Niederdeutschen als lingua franca des Ostseeraumes eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Prozesse der Herausbildung regionaler Identität entwickeln sich aus der Verknüpfung überregionaler Netzwerke, in einem vielfältigen Austauschprozess, der keineswegs linear zu denken ist und sich im beständigen Wandel befindet. Doch lassen sich darin immer wieder auch Spuren eines sich wandelnden Bewusstseins für regionale Zusammengehörigkeit, für die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses oder die Identitäten bestimmter sozialer Gruppen ausmachen.

3. Literarhistorisches Süd-Nord-Gefälle: Die Frage des Beobachtungspunkts Wie lassen sich die komplexen literarhistorischen Verhältnisse im norddeutschen Raum beschreiben, ohne dabei die eigenen kulturellen Setzungen und Prämissen zu reproduzieren? Der Blick auf König Artus, der dank Geoffrey von Monmouth aus dem Dunkel der Geschichte hervortreten konnte und eine wirkmächtige Stofftradition hervorbrachte und 11 Vgl. dazu exemplarisch das von Eva Schlotheuber und Henrike Lähnemann geleitete digitale Erschließungsprojekt: Netzwerke der Nonnen. Edition und Erschließung der Briefsammlung aus Kloster Lüne (ca. 1460 – 1555) (Wolfenbütteler Digitale Editionen, ZZ), Wolfenbüttel 2016 ff.; http://diglib.hab.de/ edoc/ed000248/start.htm (10. 10. 2020). 12 Vgl. dazu den Beitrag von Monika Unzeitig in ­diesem Band.

Einleitung | 11

der die fachliche Identität der mediävistischen Literaturwissenschaften, ganz bestimmt der Altgermanistik, maßgeblich zu bestimmen scheint, kann das Problem vielleicht zu erhellen helfen; zugleich zeigt der Blick in den norddeutschen Kulturraum auch neue ­Möglichkeiten auf, die es zu bearbeiten und reflektieren gilt. Aus streng literarhistorischer Sicht scheint Artus im norddeutschen Raum nur punktuell eine Rolle zu spielen. Jürgen Wolf jedenfalls konstatiert in seinem Überblicksartikel Arthuriana im deutschen Norden von 2010 für die Artusüberlieferung im deutschsprachigen Raum ein deutliches Süd-Nord-Gefälle.13 Nach Eilharts Tristrant und eventuell dem Wolfenbütteler Erec sind im Norden nahezu keine Artusromane mehr überliefert. Als „punk­tuelle[s], vielleicht sogar zufällige[s] Einzelphänomen[]“ bezeichnet Wolf die Leidener Wigalois-Handschrift,14 als „Zeugnis des Scheiterns“ den Loccumer Artusroman, denn „die Handlung entspricht keinem bekannten Artusepos“.15 Die Kenntnis der arthurischen Stoffe war grundsätzlich vorhanden, verfügbar waren die Texte wohl auch, aber es gab – so jedenfalls die ältere Forschung – kein Interesse an der adligen Ritterkultur in den hochentwickelten Städten des Nordens und des Ostseeraumes, die doch über eine ganz eigenständige Literaturproduktion, etwa in der geistlichen und didaktischen Literatur, verfügten. Vielleicht ist ja die Frage nach den vermeintlichen Defiziten der höfischen Literatur im norddeutschen Raum von vornherein falsch gestellt. Schon gegen die Abwertung des Loccumer Artusromans lässt sich kritisch die Frage einwenden, warum die niederdeutschen Rezeptionsformen überhaupt an den literarischen Maßstäben der hochdeutschen Buchkultur gemessen werden müssen, statt ihre kulturellen Spezifika zu erfassen und zu erschließen. Denn ein veritables Interesse an den Artusrittern hatte man im norddeutschen Kulturraum offenbar sehr wohl, wobei die kulturelle Anverwandlung ganz andere Wege als im Süden ging. Von der Popularität des Artuspersonals zeugen nicht nur zahlreiche Sujets in der Bild- und Textilkunst, sondern auch Personennamen, überliefert sind für den Norden etwa Iwein, Keye, Gawan/Walwan, Tristan, Sigune, Isolde, Enite und – als beliebteste – Perceval sowie Artus.16 Auch der Blick auf Praktiken und andere Medien als die Literatur ist hier weiterführend. Bereits für das 13. Jahrhundert sind Artus-Tafelrunden-Turniere und Gralsfeste etwa in Braunschweig (1243), Lüneburg (1262/63) und Stade (1274) belegt.17 Man kann daraus 13 Jürgen Wolf: Arthuriana im deutschen Norden. Das Mysterium des (deutschen) Nordens. Breites Artusinteresse ohne literarische Zeugnisse?, in: Artushof und Artusliteratur, hg. v. Matthias Däumer, Cora Dietl, Friedrich Wolfzettel (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. Sektion Deutschland/ Österreich, Bd. 7), Berlin 2010, S. 325 – 340. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Baisch und Recker im vorliegenden Band. 15 Wolf 2010 (wie Anm. 13), S. 329. 16 Vgl. ebd., S. 334. 17 Vgl. Hartmut Kugler: Artus in den Artushöfen des Ostseeraums, in: Artushof und Artusliteratur, hg. v. Matthias Däumer, Cora Dietl, Friedrich Wolfzettel (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft.

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schließen, dass in den norddeutschen Städten offenbar an den Distinktions- bzw. Vergemeinschaftungspraxen der ritterlich-höfischen Kultur durchaus Interesse bestand, diese aber zugleich im Sinne einer exklusiven stadtbürgerlichen Oberschicht transformiert wurden. Woher dabei die kulturelle Ressource des ‚Artuswissens‘ bezogen wurde, ist unklar; es liegt natürlich nahe, von Kontakten und Austauschprozessen durch adlige Akteure oder im Rahmen von Handelsbeziehungen auszugehen, in jedem Fall aber existierte ein kulturelles Wissen von Artus im norddeutschen Raum, ohne dass sich dies an einer distinkten Text- oder Literaturpraxis festmachen ließe und ohne dass eine Vermittlung über den süddeutschen Raum hätte stattfinden müssen. Das betrifft ebenfalls die im Ostseeraum sehr verbreiten Artushöfe, die in Elbing, Danzig, Braunsberg und Königsberg bereits im 14. Jahrhundert bezeugt sind und an denen sich Jungkaufleute (sogenannte Kaufgesellen) trafen, die in der Regel von auswärts kamen, unverheiratet und noch nicht etabliert waren und sich noch bewähren mussten.18 Diese Artushöfe verweisen in vermittelter Form auf die Tafelrunde und stellen somit architektonische und institutionelle Ensembles dar, die Artuswissen in der norddeutschen Kaufmannschaft produktiv machten und sich dabei auf adlige Formen der sozialen Teilhabe und Abgrenzung beriefen. Hätte man nicht auch ein anderes Ausgangsbeispiel wählen können, das weniger exotisch erscheint und an dem sich eher das Authentische, das Originelle oder das Innovative der Literaturen und Kulturen des Nordens zeigen ließen? Schon dieser Frage und der Klassifizierung der norddeutschen Artuskultur als andersartig liegen implizite Wertungsverfahren und Zuschreibungen zugrunde, die in ihrer binären Konzeption unangemessen sind und einer historischen Differenzierung bedürfen. Kulturelle Ressourcen sind, das hat jüngst der Philosoph und Sinologe François Jullien in einem beeindruckenden Essay deutlich gemacht, nicht global und unveränderlich, sondern kleinteilig und partikular zu denken, und sie sind daher vielfältig adaptierbar und produktiv zu machen.19 Wenn man also danach fragt, ob und wie Artus und die arthurische Literatur an der Ausbildung kultureller Identität im mittelalterlichen Norden beteiligt sind, dann erscheint unversehens der süd- bzw. oberdeutsche Raum kulturell marginalisiert, da die sich dort ausbildende höfische Textpraxis hier gar nicht die maßgebliche kulturelle Ressource bildet, sondern Namen, Leitbilder, Praktiken und Vergemeinschaftungsformen, in denen sich im Norden das Artuswissen entfaltet. Beispiele dafür, dass kultureller Transfer auch von Nord nach Süd verlaufen und sich in unterschiedliche Richtungen vollziehen kann, sind die Geschichten von dem listigen Sektion Deutschland/Österreich, Bd. 7), Berlin 2010, S. 341 – 354, hier S. 345. 18 Vgl. Kugler 2010 (wie Anm. 17), S. 343 f. – Vgl. auch Stephan Selzer: Artushöfe im Ostseeraum. Ritterlich-höfische Kultur in den Städten des Preußenlandes im 14. und 15. Jahrhundert (Kieler Werkstücke, D8), Frankfurt a. M. u. a. 1996. 19 Vgl. François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität: Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 2017.

Einleitung | 13

Reineke Fuchs und dem bis heute berühmt-berüchtigten Till Eulenspiegel. Der niederdeutsche Reynke de Vos hat von Lübeck ausgehend erst spät, dann aber mit nachhaltiger Wirkung, Karriere an den süddeutschen Druckorten gemacht.20 Noch verwickelter erweist sich die Rezeptionsgeschichte im Fall des Schalks Till Eulenspiegel, der aus dem Braunschweiger Land stammt und dessen diverse Streiche vor allem im norddeutschen Raum spielen. Doch literarisch greifbar sind diese Historien erstmals in dem 1515 verlegten Druck Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel in hochdeutscher Sprache mit niederdeutschen Einsprengseln, was zu einer intensiven Forschungsdiskussion um die vermutete Verfasserschaft des Braunschweiger Stadtschreibers Hermann Bote und den massiven Einfluss der Straßburger Offizin Johann Grüningers geführt hat.21 Die Frage nach der regionalen Perspektive auf kulturelle Konstruktionsprozesse ist demnach immer eine Frage des Beobachtungspunkts.

4. Mittelalterliche Helden: Historisches Selbstverständnis des Lüneburger Rats Ein Blick nach Lüneburg vermag die Problematik zu vertiefen, die in der Diskussion um die ‚Gestaltetheit‘ von König Artus im norddeutschen Raum, seiner Funktionalisierung und den Wegen der methodischen Erschließung d ­ ieses Sachverhalts deutlich geworden ist und zugleich die Wahl unseres Umschlagbildes erklären. Auf dem Cover zu sehen sind drei der Neun Guten Helden in der Ratsdörnse des Lüneburger Rathauses.22 Zusammen mit sechs weiteren Darstellungen von Herrschern aus der biblischen, antiken und mittelalterlichen Geschichte bilden sie den einzigen monumentalen Glasmalerei-Zyklus, der an seinem ursprünglichen Ort in einem Profangebäude erhalten ist. Der Motivkomplex der Neun Guten Helden wird zuerst greifbar in Jacques Longuyons Les Voeux du paon (1312/13); 20 Vgl. Reynke de Vos – Lübeck 1498. Zur Geschichte und Rezeption eines deutsch-niederländischen Bestsellers, hg. v. Amand Berteloot, Loek Geeraedts (Niederlande-Studien, Kleinere Schriften, Bd. 5), Münster 1998. – Jan Goossens: Reynke, Reynaert und das europäische Tierepos. Gesammelte Aufsätze (Niederlande-Studien 20), Münster u. a. 1998. 21 Vgl. besonders Herbert Blume: Hermann Bote. Braunschweiger Stadtschreiber und Literat. Studien zu seinem Leben und Werk (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 15), Braunschweig 2009, S. 211 – 235. – Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung (Hermaea NF 83), Tübingen 1999. 22 Der Bildausschnitt zeigt Karl den Großen, König Artus und Julius Caesar; zu den Neun Guten ­Helden zählen außerdem Judas Makkabäus, König David, Josua, Gottfried von Bouillon, Alexander der Große und Hektor von Troja. Vgl. Rüdiger Becksmann, Ulf-Dietrich Korn, unter Mitw. v. Fritz Herz: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Lüneburg und den Heideklöstern (Corpus vitrearum medii aevi, Bd. 7,2), Berlin 1992, S. 84 – 118. – Vgl. Barbara Uppenkamp: Politische Ikonographie im Rathaus zu Lüneburg, in: Das Lüneburger Rathaus. Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011, hg. v. Joachim Ganzert (Beiträge zur Architektur- und Kulturgeschichte, Bd. 10,2), Petersberg 2014, S. 247 – 353, hier S. 247 – 252.

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schnell verbreitet sich das Motiv der Neuf Preux oder Nine Worthies in der Literatur und Kunst des west- und mitteleuropäischen Raumes. Auch im deutschsprachigen Raum werden die Neun Helden aufgegriffen; es sind zunächst Adlige, dann insbesondere Akteure in den Städten, die das Motiv für die Repräsentation des eigenen Selbstverständnisses n ­ utzen.23 In Lüneburg erscheinen die Neun Helden am zentralen Ort der lokalen Elite, dem Rathaus. Der Rat rekrutiert sich aus Kaufmannsfamilien und wird von den Sülfmeistern dominiert, die den regionalen Salzhandel kontrollieren. Die auf drei Fenster aufgeteilten Helden bilden die Südwand des Raumes und fungieren als Hintergrund für Ratssitzungen, Gerichtsverhandlungen und repräsentative Veranstaltungen. Das Fenster-Ensemble enthält außerdem Halbfiguren von Propheten und Weisen, deren Spruchbänder die Betrachtenden zu gerechten Urteilen und überlegter Herrschaft auffordern.24 An den Lüneburger Glasfenstern lässt sich anschaulich beobachten, wie überregionaler Anspruch und regionale Aneignung im Prozess der Identitätskonstruktion zusammenspielen. Mit dem Neun-Helden-Motiv bezieht der Lüneburger Rat die ‚ganz Großen‘ der alttestamentlichen, neutestamentlichen und nachbiblischen Geschichte in die eigene Selbstrepräsentation ein. Die Herrscher dienen als Vorbild für das eigene Handeln, womit ebenfalls impliziert zu sein scheint, dass man sich ­diesem Maßstab prinzipiell gewachsen sieht. Wie Becksmann und Korn betonen, demonstriert die stilistische Ausführung der Fenster den Anspruch, in einer Liga mit der prestigeträchtigen Kunst des burgundischen Fürstenhofes zu spielen.25 Oder handelt es sich auch bei ­diesem Urteil um einen fragwürdigen Vergleich, weil er kulturelle Hoheitsverhältnisse zementiert, statt transkulturelle Gemeinsamkeiten herauszustellen und regionale Besonderheiten zu würdigen? Der Glasfenster-Zyklus unterstreicht jedenfalls den besonderen Grad an Vernetzung Lüneburgs, denn er ist eindeutig auf die lokalen und regionalen Gegebenheiten ausgerichtet und inszeniert die Stadt zugleich als Wirkungsort bzw. im Austausch mit den historischen Akteuren. Alle Fenstergruppen des Saales sind mit den Wappen der Stadt und 23 Das Motiv ist u. a. für Köln, Lübeck und Hamburg belegt oder überliefert. Zur Präsenz des Motives in Rathäusern vgl. Andrey Egorov: Charismatic Rulers in Civic Guise. Images of the Nine Worthies in Northern European Town Halls of the 14th to 16th Centuries, in: Faces of Charisma. Image, Text, Object in Byzantium and the Medieval West, hg. v. Brigitte Miriam Bedos-Rezak, Martha Dana Rust (Explorations in Medieval Culture, Bd. 9), Leiden, Boston 2018, S. 205 – 240; https://doi.org/10.1163/9789004363809_008 (11. 11. 2020). 24 Sie gehören in eine Tradition der Ausstattung spätmittelalterlicher Rathäuser mit Bildprogrammen, die den Ratsherren, Richtern und Schöffen die Reichweite ihrer Entscheidungen vor Augen führen und sowohl an ihr Gewissen als auch die Sorge um ihr Seelenheil appellieren. Zu dieser Ikonographie der Rathäuser zählen auch Weltgerichtsdarstellungen. Das Lüneburger Rathaus könnte ebenfalls ein Weltgerichts-Glasfenster gehabt haben, in jedem Fall gehört das Motiv seit dem 15. Jahrhundert in Gemälden und auf dem als Schwurblock genutzten Bürgereidkristall zum ikonographischen Bestand des Rathauses. Vgl. Becksmann, Korn 1992 (wie Anm. 22), S. 92 f. – Vgl. Uppenkamp 2014 (wie Anm. 22), S. 248 – 256. 25 Vgl. Becksmann, Korn 1992 (wie Anm. 22), S. 97.

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des Herzogtums Lüneburg ausgestattet. Neben dieser bildlichen Ebene wird regionale Identität auf sprachlicher Ebene kommuniziert: Schriftbänder identifizieren Karl den Großen und Artus als „konnigh“ und wählen dafür die niederdeutsche Sprache.26 Beide Figuren dienen im niederdeutschen Sprachraum als Identifikationsfiguren für die Angehörigen der Elite. Karl der Große steht in der Anordnung der Glasfensterbahnen im Zentrum. Innerhalb der Fünfergruppe ist er außerdem derjenige, der die Betrachtenden direkt anblickt. Für den Lüneburger Rat spielt Karl der Große eine zentrale Rolle, wie sich auch in anderen Zeugnissen zeigt. Anfang des 15. Jahrhunderts gibt – vermutlich – der Rat eine Prachthandschrift des Sachsenspiegels mit einer Bildseite auf Goldgrund in Auftrag, die Karl den Großen als Rechtsgaranten inszeniert und zusammen mit Widukind, Eike von ­Repgow und den Lüneburger Ratsherren darstellt.27 Doch auch König Artus erhält seinen Auftritt: Im Lüneburger Glasfenster fällt das Detail auf, dass die lateinische Beischrift auf den Minneritter-Dienst und damit auf ein Motiv der Gattung des Artusromans referiert: „Curia · regalis · mea fulget laudib(us) · illa · | nu(n)c · decus · est femineusque · decor“.28 Die Lüneburger Adaption thematisiert somit einerseits den höfischen Frauendienst und stellt Artus andererseits in eine Reihe mit weiteren historischen Herrschern. Beide Komponenten des Artusbildes sind offenbar attraktiv gewesen, was auch die These relativiert, man sei in Norddeutschland vorwiegend an der ‚realen‘ Artusfigur und am ‚realen‘ Artushof als Vorbild interessiert gewesen.29 Es ist jedoch der römische Herrscher Julius Caesar, der in Lüneburg am stärksten für die Konstruktion regionaler Identität produktiv gemacht wird: Der lateinische Spruch zu seinen Füßen nimmt eine Gründungserzählung auf, nach der Caesar persönlich eine Lunasäule auf dem Lüneburger Kalkberg aufgestellt habe: „urbis · co(n)struxi · lune · spectabile · 26 Namens-Beischriften in der Transkription von Becksmann, Korn: „konnigh · karle“, „konnigh artus“. Ebd., S. 111 f. – Für Caesar geben die Autoren „keiser · Julius“ an, lesbar ist jedoch nur der Anfangsbuchstabe des Kaisertitels. Ebd., S. 113. – Zu Varianten aufgrund verschiedener Erhaltungszustände vgl. Sabine Wehking: DI 100, Inschriften Stadt Lüneburg, Nr. 69: Rathaus, in: Deutsche Inschriften Online (2017); urn:nbn:de:0238-di100g019k000690 (11. 11. 2020). 27 Lüneburg, Ratsbücherei, Ms. Jurid. 2, Bl. 20v. – Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand: Rechtsbücher als Ausdruck pragmatischer Schriftlichkeit. Eine Bilanz, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S. 435 – 475, hier S. 451 f. 28 Transkription und Übersetzung nach Becksmann, Korn: „Mein königlicher Hof erstrahlt in Lobreden; er ist nun eine Zierde und ein Schmuck des weiblichen Geschlechts“. Becksmann, Korn 1992 (wie Anm. 22), S. 112. 29 Vgl. Wolf 2010 (wie Anm. 13), S. 335 – 339. – In einem späteren Beitrag behandelt Wolf die NeunHelden-­Darstellungen allerdings als Tradition, die sich ohnehin gegenüber Chronistik und Literatur verselbständigte. Vgl. Jürgen Wolf: Verlorene Historizität oder Warum einer der neun größten Helden der Welt in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters nur Randfigur ist, in: Artusroman und Mythos, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl, Matthias Däumer (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. Sektion Deutschland/Österreich, Bd. 8), Berlin, Boston 2011, S. 183 – 202, hier S. 194 f.; https://doi.org/10.1515/9783110263503.183 (11. 11. 2020).

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castru(m) | Et · mea · pompeium · sincopat · ense · manus“.30 Der Kalkberg bildet einen der Entwicklungskerne der Stadt Lüneburg und die Lunasage bzw. der Mond wurde auch überregional zum Kennzeichen der Stadt, etwa in der Ebstorfer Weltkarte (um 1300), besonders einflussreich dann ab dem 15. Jahrhundert mit den Cronecken der sassen.31 Die Geschichte des Lüneburger Glasfenster-Zyklus verdeutlicht auf anschauliche Weise die Komplexität und das Prozesshafte regionaler Identitätskonstruktion. Wie die Architektur der Fensteröffnungen wahrscheinlich macht, wurde der Raum bereits im 14. Jahrhundert mit Neun-Helden-Fenstern geplant. Im frühen 15. Jahrhundert wurden die Glasfenster erneuert und sind bis heute teils original, teils restauriert erhalten.32 Dieser GlasfensterZyklus bleibt auch im 16. Jahrhundert eine Referenz, die bei der Neugestaltung der Großen Ratsstube von 1580/84 in Holzskulpturen der Türportale wieder aufgegriffen und mit Neun Guten Heldinnen sowie weiteren Figuren erweitert wird. Die Lüneburger Neun Helden bilden somit ihre eigene Tradition aus, die über einen langen Zeitraum wirksam bleibt.

5. Widukind und Sassine: Projektionsfiguren regionaler Identität des 18. und 20. Jahrhunderts In der jüngeren Vergangenheit dient nicht mehr Artus, sondern ein anderer historischer Herrscher als Identifikations- und Projektionsfigur norddeutscher Regionalität: Im Nieder­ sachsenlied wird die Kampfkraft des sächsischen Herzogs Widukind gefeiert und der e­ instige Gegner Karls des Großen als Ahnherr der als ‚sturmfest‘ und ‚erdverwachsen‘ charakterisierten Bewohnerinnen und Bewohner des Landes präsentiert.33 An der Entstehungsund Rezeptionsgeschichte d ­ ieses Liedes lässt sich gut nachvollziehen, wie mittelalterliche 30 Transkription und Übersetzung nach Becksmann, Korn: „Der Stadt des Mondes ansehnliche Burg habe ich errichtet, und meine Hand spaltet Pompeius mit dem Schwert“. Becksmann, Korn 1992 (wie Anm. 22), S. 113. 31 Zur Lunasage als ‚imaginierter Tradition‘ im Kontext Lüneburger Ursprungssagen vgl. Michael Hecht: Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städte­ geschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen, Bd. 79), Köln u. a. 2010, S. 97 f.; https://doi.org/10.7788/ boehlau.9783412212582 (11. 11. 2020). – Zu den Cronecken der sassen und deren Projekt einer ‚gesamtsächsischen Legitimation‘ vgl. den Beitrag von Jan Christian Schaffert in ­diesem Band. 32 Vgl. Becksmann, Korn 1992 (wie Anm. 22), S. 85, 92, 98 f. – Vgl. Uppenkamp 2014 (wie Anm. 22), S. 248 f. 33 Vgl. Ole Zimmermann: Wer sind die Niedersachsen? Anmerkungen zur Erfindung einer Identität, in: Saxones, Ausst. Kat. Braunschweigisches Landesmuseum, Landesmuseum Hannover, hg. v. Babette Ludowici (Neue Studien zur Sachsenforschung, Bd. 7), Darmstadt 2019, S. 14 – 23. – Heinrich Schmidt: „Wir sind die Niedersachsen – sturmfest und erdverwachsen“. Landesname, Landesidentität und Geschichtsbewußtsein in Niedersachen, in: Geschichte Niedersachsens – neu entdeckt, hg. v. Horst Kuss u. a., Braunschweig 2000, S. 83 – 97.

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Motive in der Moderne funktionalisiert wurden, um Identitätsangebote zu unterbreiten und Gruppenzugehörigkeiten zu konstruieren. Der von Herrmann Grote 1926 verfasste Text erfreute sich bereits in der NS -Zeit einiger Beliebtheit, wurde dann aber vor allem nach 1945 dazu genutzt, die Menschen eines neu gegründeten Bundeslandes zu einen. Ole Zimmermann spricht in seinem Katalogbeitrag zu der 2019 in den Landesmuseen Hannover und Braunschweig gezeigten großen Landesausstellung Saxones. Das erste Jahrtausend in Niedersachsen treffend von der „Erfindung einer Identität“,34 die dem politischen Willen entsprach. Der Entschluss Großbritanniens, die historisch gewachsenen, starken und selbstbewussten Länder Hannover, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Oldenburg zu einer administrativen Einheit zusammenzufassen, stieß teils auf erbitterten Widerstand.35 Zur Rechtfertigung der umstrittenen Entscheidung kam der besungene frühmittelalterliche Herzog dem ersten niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf gerade recht. Das aus heutiger Sicht höchst martialisch anmutende Niedersachsenlied suggeriert, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes von jeher zusammengehörten und schon vor mehr als einem Jahrtausend ihre Heimat gemeinsam verteidigt hätten.36 Dass es sich bei dem Aggressor, gegen den ‚Herzog Widukinds Stamm‘ einst kämpfte, ausgerechnet um jenen ­Kaiser handelt, der in den Glasfenstern des Lüneburger Ratshauses als guter Herrscher und idealer Held präsentiert wird, fällt im Kontext unserer historisierenden und kontextualisierenden Analyse sofort auf. Der historische Herzog Widukind (777 – 785) führt Mediävistinnen und Mediävisten aber auch zurück in jene Zeit, aus der die ersten volkssprachigen Literaturdenkmäler überhaupt – sowohl in althochdeutscher als auch altniederdeutscher Sprache – überliefert sind. Die mögliche identitätsstiftende Bedeutung des Niederdeutschen spielt in dem Niedersachsenlied noch keine Rolle, wird aber heute politisch durchaus reflektiert. In dem Bewusstsein, dass die niederdeutsche Sprache vom Aussterben bedroht ist, gehören ihr Schutz und ihre Förderung zu den kultur- wie wissenschaftspolitischen Zielen der Landesregierung.37 Die Klage über den Verlust und die fehlende Wertschätzung des Niederdeutschen ist jedoch 34 Vgl. Zimmermann 2019 (wie Anm. 33), S. 14. 35 Zu der daraus resultierenden und bis in die Gegenwart andauernden Lokalrivalität ­zwischen Braunschweig und Hannover, die sich insbesondere in Bezug auf die Fußballbundesliga beobachten lässt, vgl. Thomas Hahn: Stolz und Vorurteil, in: Süddeutsche Zeitung, 23. 10. 2020; https://www.sueddeutsche. de/leben/braunschweig-hannover-historie-duell-1.5091232?reduced=true (11. 11. 2020). 36 Ähnlich argumentierte Kopf auf der konstituierenden Sitzung des ersten niedersächsischen Landtages, wenn er am 9. Dezember 1946 behauptete, Niedersachsen sei „ein organisch gewachsenes zusammenhängendes Ganzes“, und dabei auf „die Stammesart seiner Bewohner“ wie auf Struktur, Tradition und Wirtschaftskraft verwies. Vgl. Zimmermann 2019 (wie Anm. 33), S. 14. 37 Vgl. Die Region und die Sprachen Niederdeutsch und Saterfriesisch im Unterricht, hg. v. Nieder­ sächischen Kultusministerium. RdErl. d. MK v. 1. 6. 2019 – 32 – 82101/3 – 2 (SVBl. 6/2019 S. 288) – voris 22410; http://www.schure.de/22410/32-82101-3-2.htm (31. 10. 2019). – Zu einer Möglichkeit, dies für ein Lehrprojekt zu ­nutzen, vgl. den Beitrag von Wiebke Ohlendorf und Regina Toepfer in d ­ iesem Band.

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viel älter und lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Diskussion über den Nieder­gang des Niederdeutschen setzte somit im selben Jahrhundert ein, in dem die Wieder­entdeckung und wissenschaftliche Erschließung der alt- und mittelhochdeutschen Texte begann.38 Eindrucksvolle Zeugnisse dafür sind die Exercitatio academica Bernhard Raupachs und das allegorische Lehrgedicht Sassine des Caspar Abel,39 in dem die weibliche Hauptfigur und Verkörperung des Niederdeutschen aus ihrer Heimat vertrieben wird und auf eine spätere Rückkehr hofft. Mit dem sächsischen Herzog Widukind aus dem 8. Jahrhundert und der allegorischen Heldin Sassine aus dem 18. Jahrhundert ist die historische Spanne der hier berücksichtigten Untersuchungsgegenstände abgedeckt, weshalb sie auch eine titelgebende Funktion erhalten haben.

6. Zusammenfassung der Beiträge Das Ziel des vorliegenden Bandes ist es, Prozesse der Konstruktion und Transformation regionaler Identität in der Perspektive auf den norddeutschen Raum aufzuzeigen. Unterschiedliche kulturell-soziale Erzeugnisse wie den Sprachgebrauch reflektierende Texte, die Literatur unter Berücksichtigung ihrer materiellen Verfasstheit (Handschrift und Buchdruck), Architektur, Kunst und Bildwerke in ihrer Funktionalität sind Gegenstände der Analysen. In der ersten Sektion (Niederdeutsch als Identitätssignal) sind drei Beiträge zusammengefasst, die sich mit der Bedeutung des Niederdeutschen beschäftigen. Ingrid Schröder interpretiert Schreibsprachenwahl als Identitätsmarker. Ihr Beitrag zeichnet den Übergang der lateinischen zur niederdeutschen Überlieferung sukzessive nach und schließt daraus auf das gruppenbezogene Selbstbewusstsein und die Ausbildung sozialer Identität der beteiligten Akteure. Der Beitrag beginnt mit Textsorten, in denen die ersten Denkmäler in niederdeutscher Sprache überliefert sind: in der Rechtsliteratur, allen voran dem Sachsenspiegel Eikes von Repgow, und der Chronistik. Anschließend wird die Schriftlichkeit in den norddeutschen Städten am Beispiel Hamburgs, aber auch Braunschweigs und Lübecks untersucht. Schröder schließt mit den schriftlichen Dokumenten, in denen die Kommunikationsformen der Hanse bekundet sind. Sie kann zeigen, dass die Sprachwahl sowohl von den Adressatengruppen als auch von dem Zweck des Schreibens abhängt. In der Zunahme der niederdeutschen Überlieferung schlagen sich der wachsende Einfluss und das neue Selbstbewusstsein von Patriziern und Handwerkern im städtischen Machtgefüge nieder. 38 Zur Wissenschaftsgeschichte vgl. z. B. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989. – Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp, Stuttgart, Weimar 1994. 39 Vgl. dazu die Beiträge von Jörn Bockmann und Bernd Roling in d ­ iesem Band.

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Jörn Bockmann untersucht die Wahrnehmung der niederdeutschen Sprache um 1700, indem er sich mit Bernhard Raupachs Schrift zur Verteidigung des Niederdeutschen beschäftigt, aber vorab die Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit den Sprachreflexionen der Vormoderne beschreibt: Häufig ist der historische Gebrauch von sprachbezogenen Termini nicht leicht bestimmbar, Diglossien verschiedener Art konkurrieren miteinander und sprachliche Varietäten sind kaum voneinander zu unterscheiden. Als Raupach 1704 an der Universität Rostock seine Exercitatio academica verfasste, hatte das Hochdeutsche das Lateinische bereits als Sprache des Rechts, der Verwaltung und der ­Kirche abgelöst, wohingegen das Niederdeutsche in die Mündlichkeit abgedrängt worden war und als Sprache niederer Schichten galt. Bockmann zeigt, mit w ­ elchen Argumenten Raupach die beklagte „Verachtung der Plat-Teutschen Sprache“ umzukehren sucht, etwa indem er diese als ältere, reine, ehrliche und männliche Sprache wertet und den Hochdeutschsprechenden eine Tendenz zum Modischen unterstellt. Obwohl Raupach auch thematisiert, dass Sprachen einen Wandel durchlaufen, und lautliche Veränderungen ­zwischen niederdeutschen und hochdeutschen Begriffen beobachtet, warnt Bockmann davor, seine Schrift als protolinguis­tischen Text zu betrachten. Stattdessen plädiert er dafür, sie künftig als wissenspoetologisches Dokument zu lesen. Bernd Roling beschäftigt sich mit Caspar Abels Werk Sassine (1738), das ­zwischen Lehrgedicht und Versepos oszilliert und der Verteidigung des Niederdeutschen dient. Der Beitrag beginnt mit einer Einordnung des Gedichts in den größeren geistesgeschichtlichen Kontext, als an der Universität Helmstedt niedersächsische Altertumskunde betrieben wurde und ein neues Interesse an der niederdeutschen Sprache entstand. Caspar Abel bemühte sich mit seinen historischen Studien von Anfang an um eine Aufwertung seiner Heimatregion, etwa indem er die Sachsen als das erwählte Volk darstellte, den Verfall des Niederdeutschen beklagte und seine poetische Ausdruckskraft durch sprachliche Reformen zurückgewinnen wollte. In der niederdeutschen Aschenbrödel-Geschichte von Sassine werden diese Anliegen zum literarischen Programm. Abel erzählt metaphorisch von dem ungleichen Schicksal der verschiedenen deutschen Dialekte. Erst spät kann die liebreizende Protagonistin aus ihrem Exil in die Heimat zurückkehren, wo sie auf gelehrte Unterstützung oder zumindest auf einen arkadischen Rückzugsraum hofft. Kaum ein anderer Text, so Roling, setze sich intensiver mit der Stellung des Niederdeutschen im 18. Jahrhundert auseinander und spiegele die Träume und Ängste seiner Verteidiger stärker als Abels Gedicht. Die zweite Sektion widmet sich in vier Beiträgen ausgewählten Handschriften und Druckwerken im norddeutschen Raum und untersucht verschiedene Aspekte der materiellen Überlieferung. Martin Baisch und Anabel Recker widmen sich der materialen Anlage der Leidener Wigalois-Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die im Zisterzienserkloster Amelungsborn angefertigt worden ist und über ein reiches Bildprogramm verfügt. Im Zusammenhang mit dem (poetologischen) Prolog, in dem das aufgeschlagene Buch das Publikum anspricht, deuten sie das hohe Ausstattungsniveau des Codex als Mittel zur Betonung seiner

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Materialität und Medialität, weshalb er aus materialphilologischer Perspektive betrachtet und – anders als in der Forschung bisher geschehen – als singuläres Artefakt mit eigenem künstlerischen und repräsentativen Anspruch ernstgenommen werden müsse. Besonders die Präsenz regionaler, niederdeutscher Kultur in der Handschrift verdient dabei Beachtung: Diese zeigt sich einerseits darin, dass die Miniaturen stilistische Ähnlichkeiten zu den Wandteppichen norddeutscher Heideklöster aufweisen. Zum anderen ist teils im Haupttext, besonders aber im Kolophon und in den Spruchbändern der Miniaturen die Sprache der Region in die Gestaltung des Codex eingeflossen. Mit Blick darauf, dass der Leidener Wigalois für Herzog Albrecht  II. von Braunschweig-Grubenhagen produziert wurde, plädieren Baisch/Recker dafür, tradierte Dichotomien von ‚geistlich‘ und ‚weltlich‘, Kloster und Hof, aber auch das Urteil über die angeblich minderwertige Qualität der Ausführung aufzugeben. Der Codex ist stattdessen als außergewöhnliches und genuines Produkt des norddeutschen Kulturraums neu zu würdigen. Christina Ostermann untersucht eine Episode in Bruder Philipps Marienleben, in der die Heilung eines leprakranken Räuberkindes durch Jesu Badewasser geschildert wird. Diese Episode existiert in der deutschsprachigen Marienleben-Überlieferung nur in einer niederdeutschen Handschrift aus dem Jahr 1489, die sich möglicherweise einem Wismarer Schreiber zuordnen lässt und spätestens um 1500 in Lübeck verortet werden kann. ­Ostermann zeigt, dass sich charakteristische Elemente der Episode auch in apokryphen Evangelien sowie in anderen volkssprachigen Texten des europäischen Spätmittelalters nachweisen lassen. Während diese üblicherweise die Heilung des Räuberkindes mit dem guten Schächer der Passionsgeschichte verbinden, erzählt die Lübecker Handschrift die Episode vor allem als Teil einer Kette von Wundern Jesu, die im Rahmen des Marienlebens mit den Wundertaten Marias parallelisiert werden. Die genauen Vermittlungswege lassen sich nicht rekonstruieren; deutliche inhaltliche wie sprachliche Übereinstimmungen legen jedoch eine Verwandtschaft mit einer Wolfenbütteler Abschrift der Weltchronik Heinrichs von München und mit der auf dieser Handschrift basierenden Historienbibel Die Neue Ee nahe – die Ende des 15. Jahrhunderts mehrfach in Lübeck gedruckt wurde. Monika Unzeitig zeichnet in ihrem Beitrag die Entwicklung der visuellen Gestaltung deutschsprachiger vorreformatorischer Bibeldrucke nach und belegt, ­welche Innovationskraft von den niederdeutschen Bibeldrucken ausgeht. Die Produzenten der niederdeutschen Kölner Bibeldrucke von 1478 fügen erstmals ein umfangreiches Bildprogramm von mehr als 100 großformatigen Holzschnitten ein. Anders als bei den früheren Bibeldrucken markieren die Holzschnitte nicht ausschließlich die Textanfänge, sondern bebildern einzelne Textstellen; zusätzlich leiten Überschriften mit Inhaltsangaben die Rezeption. Dieses Modell hat Erfolg: Es wird von späteren Druckern auch hochdeutscher Bibeln bis in die 1510er Jahre genutzt. Eine Besonderheit der niederdeutschen Lübecker Bibel von Steffen Arndes (1494) ist es, dass sie die Rolle des Vulgata-Übersetzers Hieronymus in Text und Bild profiliert. Sein Bild wird über 40 Mal als Eingangsbild für Vorreden zu den biblischen Büchern verwendet

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und reflektiert den Produktionsprozess des Bibeltextes und seiner Übersetzungen. Bibeltext, Bilder und Kapitelüberschriften wirken in den niederdeutschen Bibeln zusammen und ergänzen sich gegenseitig zu einer intermedialen Lektüre. Der Beitrag von Sebastian Holtzhauer widmet sich den mittelniederdeutschen Brandaniana (Navigatio und Reise), um das religiöse und kulturelle Umfeld zu beleuchten, in welchem die Geschichten des hl. Brandan tradiert wurden. Im Fokus steht die von ihm entdeckte Brandanmesse im Missale Lubicense (1486) des Druckers Matthäus Brandis sowie der Nachweis Brandans in einigen bisher nicht beachteten Heiligenkalendern der Lübecker Handschriftenbestände. Anhand der spezifischen literarischen Überlieferungsprofile – unter besonderer Beachtung der Druckgeschichte – und des jeweils nachweisbaren Heiligenkults lassen sich, so zeigt der Beitrag, für den nord- und süddeutschen Raum tendenziell unterschiedliche Interessen an Brandan nachzeichnen. Die dritte Sektion beschäftigt sich mit Transformationsprozessen in Architektur, Kunst und Literatur, wofür verstärkt digitale Methoden genutzt werden. In seinem kunsthistorischen Beitrag zur mittelalterlichen Sakralarchitektur im norddeutschen Raum setzt sich Christian Scholl zunächst mit der Funktion des Modells ‚Kunstlandschaft‘ für die Kunst und Kunsthistoriographie auseinander. Scholl plädiert dafür, dass ­dieses Modell – jenseits des ideologisch vorbelasteten Begriffs – einen genaueren Blick lohnt, weist sich in ihm doch ein utopisches Konzept aus, das um 1900 in die Vorstellung einer Identität von Landschaft, Menschen und Kunst mündet. Dagegen geht die neuere Kunstwissenschaft, etwa in der Nachfolge des Schweizer Kunstwissenschaftlers Donat Grueninger, nicht der Frage nach einem Begriff von ‚Regionalität‘ nach, sondern untersucht Konzepte der ‚Regionalisierung‘ als eines bewusst hergestellten Verfahrens mit programmatischem Charakter. Scholl führt ­solche Frageansätze zurück auf eine weit ältere Spur der Architekturikonologie. Jan Christian Schafferts Beitrag widmet sich den Cronecken der sassen, die im Jahr 1492 in der Mainzer Offizin Peter Schöffers erschienen und daher als die erste gedruckte niederdeutsche Historiographie gelten. Die Cronecken präsentieren 300 Jahre nach der Auflösung des Stammherzogtums und dem Verlust der sächsischen Herzogswürde eine Vorstellung sächsischer Identität, wie sie im 10. Jahrhundert entworfen wurde und noch im Sachsenspiegel greifbar ist. Dieser Anachronismus fällt vor allem im Vergleich mit der zeitgenössischen volkssprachigen Chronistik auf, die primär institutionell gebundene regionale Historiographien hervorbringt und so darauf hinweist, dass Ethnonym und Raum um 1500 nicht mehr deckungsgleich sind. Die Cronecken inszenieren die Sachsen primär als formende Macht, die sich hauptsächlich durch die Etablierung von Infrastruktur auszeichnet. Die Grenzen ­zwischen Lokal-, Welt- und Stadtchronik werden verwischt, indem vor allem der räumliche und gentile Berichtshorizont verknüpft werden. Mit Hilfe der Netzwerkanalyse wird eine sächsische Historie sichtbar, die sich durch eine kontinuierliche Vernetzung und eine Homogenisierung disparater Informationen auszeichnet. Die Nachkommen ­Widukinds werden als Dreh- und Angelpunkt der mitteleuropäischen Herrschergeschlechter entworfen,

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die sich jedoch auf kein einzelnes Geschlecht fokussieren, sondern eine Art gesamtsächsische Legitimation anzustreben scheinen. Der letzte Beitrag des Bandes setzt in der Gegenwart an und beschäftigt sich mit erhaltenen Zeugnissen mittelalterlicher Kultur im öffentlichen Raum. Wiebke Ohlendorf und Regina Toepfer stellen ein digitales Lehr-/Lernprojekt der germanistischen Mediävistik an der TU  Braunschweig vor, das auf dem Prinzip des game based learning basiert. Grundidee des Projekts ist es, die mittelalterliche Stadt wie ein Lehrwerk zu lesen, so dass Studienanfänger ihre Kenntnisse in der mittelalterlichen Sprache, Literatur und Kultur anwenden und vertiefen können. Die Verfasserinnen argumentieren, dass digitale Bildung auf diese Weise auch dazu beitragen kann, die regionale Zugehörigkeit zur Universitätsstadt zu stärken. Durch die Mittelalter-App für Braunschweig (MA ppBS ) nehmen Studierende das Mittelalter nicht länger als eine historisch ferne Epoche wahr, sondern lernen, seine vielfältigen Spuren in der Gegenwart zu entdecken. Veranschaulicht wird dies exemplarisch an drei Stationen von MA ppBS , bei denen die historische und die heutige Bedeutung von Löwen in Braunschweig kontrastiert, sprachliche Differenzen ­zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen reflektiert und Rückmeldungen von Studierenden evaluiert werden.

Postscriptum Das Erscheinen des Bandes hat sich durch verschiedene Umstände, nicht zuletzt die CoronaPandemie, stark verzögert. Die Beiträge spiegeln den Forschungsstand von 2019, während der Redaktionsarbeiten erschienene Forschungsbeiträge konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren wie auch den Lektorinnen und dem Verlag herzlich für ihre Geduld.

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Ingrid Schröder

Schreibsprachenwahl als Identitätsmarker Zwischen Latein und Mittelniederdeutsch

1. Überblick Bis in das hohe Mittelalter war die Schriftlichkeit nahezu vollständig an das Lateinische als Bildungssprache insbesondere des geistlichen Standes gebunden.1 Erst nach und nach lässt sich eine Diversifizierung der schreibsprachlichen Zeugnisse beobachten, indem neue gesellschaftliche Gruppen zunehmend an der öffentlichen schriftlichen Kommunikation auch in der Volkssprache teilnehmen. Somit kann der Prozess des Schreibsprachenwechsels vom Lateinischen zum Mittelniederdeutschen als Index für Veränderungen im sozialen Gefüge und die Sprachwahl als Ausweis identitätsstiftender Prozesse betrachtet werden. Insbesondere zeigt der Sprachwechsel, ­welche sozialen Gruppen sich zu welcher Zeit gesellschaftlich konsolidiert haben und politisch bzw. öffentlich in der städtischen institutionellen Kommunikation wahrgenommen werden. In neueren soziolinguistischen Studien ist der Begriff der ‚Sprachidentität‘ geprägt worden, der auf zweierlei Weise bestimmt werden kann. Einerseits lässt sich Sprachidentität als Teil der personalen Identität, als „Identität von Personen, soweit diese durch Sprache und Sprachverwendung konstituiert oder mitkonstituiert wird“, beschreiben oder kann andererseits als Teil der sozialen Identität, als „Identität einer Person in Bezug auf ihre – oder auf eine – Sprache“,2 gefasst werden, wenn Sprache – wie bereits angedeutet – als Gruppenindex fungiert. Identität lässt sich als das „je spezifische Selbst- und Weltverhältnis sozialer Subjekte“, als „ihr Selbstbild und Selbstverständnis“ bestimmen.3 Als konstituierende Merkmale der 1

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Die Dominanz der Geistlichkeit unter den Schreibkundigen wird auch in den Bezeichnungen für die Kanzleischreiber deutlich, vgl. Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, begr. v. A. Lasch, C. Borchling, fortgef. v. Gerhard Cordes, Dieter Möhn, hg. v. Ingrid Schröder, Bd. 2, Sp. 1381, s. v. pāpe: „1. G ­ eistlicher, Priester […] 2. Kanzleibediensteter, Notar, Schreiber“. Christiane Thim-Mabrey: Sprachidentität – Identität durch Sprache. Ein Problemaufriss aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Sprachidentität. Identität durch Sprache, hg. v. Nina Janich, Christiane Thim-Mabrey, Tübingen 2003, S. 1 – 18, hier S. 2. Hartmut Rosa: Identität, in: Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, hg. v. Jürgen Straub, Arne Weidemann, Doris Weidemann,

Schreibsprachenwahl als Identitätsmarker | 25

Identität können Kontinuität (Einheitlichkeit in der Zeit), Kohärenz (Vorhandensein eines sinnstiftenden Zusammenhangs) und Konsistenz (Widerspruchsfreiheit der Einheit) angesehen werden.4 Identität stellt immer eine Kategorie dar, die an das Individuum gebunden ist, nicht an das Kollektiv, dessen gemeinsame Werte und Normen aber zur individuellen Identitätsstiftung beitragen können. Da Menschen in ihren jeweiligen Rollen verschiedenen Gruppen angehören, werden auch die Werte der jeweiligen Gruppen in das eigene Identitätskonzept einbezogen. Aus Einstellungen gegenüber diesen Gruppen wird soziale Identität gespeist.5 Im Folgenden soll untersucht werden, ob und auf ­welche Weise der mittelalterliche Sprachwechsel darüber Auskunft geben kann, dass sich gesellschaftliche Relevanzsysteme verändern und die Wahl der Volkssprache ein Hinweis dafür ist, dass gesellschaftliche Gruppen an der öffentlichen Kommunikation teilhaben, die vorher davon ausgeschlossen waren. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich ein neues gruppenbezogenes Selbstbewusstsein ausgebildet hat und sich gruppenspezifische Prozesse sozialer Identitätsbildung zeigen. Es ist zu fragen, ­welche gesellschaftlichen Gruppen an der öffentlichen Kommunikation teilhaben und ob mit der Sprachwahl auch ihre soziale Position indiziert wird (Adel vs. Stadt, Kanzlei vs. Bürger). Als Auftakt sollen die frühe Rechtsetzung und Chronistik betrachtet werden, bevor die Schriftlichkeit in den Städten in den Blickpunkt rückt, wobei der Sprachwechsel vom Lateinischen zum Mittelniederdeutschen vorrangig am Beispiel Hamburgs und im Vergleich mit Braunschweig und Lübeck nachgezeichnet werden soll. In den Städten sind als wesentliche Domänen wiederum die Rechtsetzung, dann der Kanzleibetrieb mit den Urkunden, Stadtbüchern und Testamenten, schließlich die Kommunikation des Rates mit der Bürgergemeinde und mit den Zünften mittels Burspraken und Zunftrollen zu nennen. Für einen Blick auf eine späte Phase des Prozesses werden einige metasprachliche Äußerungen zum Sprachwechsel aus dem 15. Jahrhundert diskutiert. Schließlich wird die hansische Schriftlichkeit thematisiert, die sich u. a. in Rezessen und Verträgen manifestiert. In der Analyse sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: (1) Identifizierung der Texte, mit denen der Wechsel zum Mittelniederdeutschen in den einzelnen kommunikativen Bereichen einhergeht; (2) Bestimmung der Kommunikationssituation, insbesondere durch die Referenz auf Emittenten und Adressaten;

4 5

Stuttgart, Weimar 2007, S. 47 – 56, hier S. 47. Vgl. Jürgen Straub: Identität, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. I. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hg. v. Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch, Stuttgart 2011, S. 277 – 303, hier S. 284. Vgl. Henri Tajfel: Human Groups and Social Categories: Studies in Social Psychology, Cambridge 1981, S. 255.

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(3) Ermittlung metasprachlicher Äußerungen zur Sprachwahl, insbesondere in Paratexten wie z. B. Vorreden; (4) Überprüfung des identitätsstiftenden Gehalts durch Analyse der Textfunktion und der textuellen Mittel zur Schaffung von Kontinuität, Kohärenz und Konsistenz.

2. Auftakt: Rechtsetzung und Chronistik Die mittelniederdeutsche Überlieferung setzt mit einem der wirkmächtigsten mittelalterlichen Textdenkmäler ein, mit dem Sachsenspiegel, dessen Rechtsnorm während des gesamten Mittelalters Gültigkeit besaß und die in einen Großteil der späteren Stadtrechte einging. Der Sachsenspiegel ist ­zwischen 1220 und 1224 in Ostfalen im östlichen Harzvorland entstanden. In ihm ist das sächsische Landrecht zusammen mit dem Lehnrecht systematisch dargestellt. Maßgeblich ist seine deontische Funktion, indem juristische und insgesamt gesellschaftliche Normen fixiert werden. Seine große Verbreitung wird dadurch deutlich, dass insgesamt über 400 Handschriften überliefert sind, davon vier kostbare Bilderhandschriften. In der Vorrede in Reimpaaren äußert sich der Autor des Rechtsbuchs, Eike von Repgow, zu seiner Intention und auch zur Sprachwahl. Er berichtet, dass er das von den Vorfahren zusammengetragene – und damit in mündlicher Form überlieferte – Rechtswissen („Dit recht hebbe ek selve nicht irdacht, / it hebbet van aldere an unsik gebracht / Unse guden vorevaren“ 6) durch seine Aufzeichnungen bewahren will und es allen Menschen („den luden algemene“ 7), das heißt auch den nicht lateinkundigen Laien, bekannt machen will. Eike betont, dass er das Werk erst auf den dringlichen Wunsch seines Lehnsherrn, des Grafen Hoyer von Falkenstein, aus dem Lateinischen in die niederdeutsche Sprache übersetzt habe, ohne dass er sprachlich darauf vorbereitet gewesen sei, und ihm die Aufgabe daher als allzu schwierig erschien („Ane helpe unde ane lere / do duchte en dat so swere, / Dat he’t an dudisch gewande“ 8). Hier spiegelt sich deutlich die Selbstverständlichkeit, geschriebene Texte in lateinischer Sprache abzufassen, und auch die dadurch verursachten Probleme, sich überhaupt in der Volkssprache schriftlich aus­drücken zu können. Für das Niederdeutsche mit seinem traditionell mündlich überlieferten Wissen wird durch d­ ieses Werk die Schriftlichkeit als neuer medialer Geltungsbereich erschlossen. 6 7 8

Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel, hg. v. Clausdieter Schott, Übertr. des Landrechts von Ruth Schmidt-Wiegand, Übertr. des Lehenrechts und Nachw. v. Clausdieter Schott, Zürich 1984, S. 16: Vorrede, V. 151 – 153. Ebd., V. 99. Ebd., V. 275 – 277.

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Geschriebenes ist künftig nicht mehr nur an die lateinische Sprache gebunden. Zugleich rückt ein neuer Adressatenkreis schriftlicher Äußerungen in den Blick, die nicht lateinkundigen Laien. Die Wahl der Sprache ist mithin adressatenbezogen. Der Text wird nicht als interne juristische Dokumentation verfertigt, sondern richtet sich nach außen, an eine Bevölkerungsschicht, die – im Gegensatz zum Autor selbst – keinen Anteil an der lateinischen Bildung hat. Zudem fußt der Sachsenspiegel auf einer mündlichen und damit volkssprachlichen Tradition der Rechtsprechung. Den Anfang der niederdeutschen Chronistik bzw. der deutschen Chronistik allgemein macht die Gandersheimer Reimchronik, die im Jahr 1216 entstanden ist, aber nur in einer modernisierten Handschrift des 15. Jahrhunderts erhalten ist. Der Autor Eberhard von Gandersheim beschreibt darin die Geschichte der Frauenabtei Gandersheim von ihrer Gründung im Jahr 852 bis zum Beginn des 11. Jahrhunderts.9 Eberhard gedenkt der Stiftung des Klosters und markiert seine Darstellung als ein Text, der sich an die ungelehrten Menschen wenden soll und daher in das Deutsche übersetzt wurde („so wil ek dorch ungelarder lüde / von Latine keren to Düde / dat von dem selven hertogen steit gescreven“ 10). Seine Quelle war die lateinische Fundatio ecclesiae Gandersheimensis aus dem Beginn des 12. Jahrhunderts. Neben der Gründung des Stifts beschreibt Eberhard die Geschichte der Liudolfinger (Ottonen), deren Wohltaten gegenüber dem Stift und die Überlassung der Reliquien. Ziel der Darstellung ist es, die Ansprüche des Stifts zu verdeutlichen und die Zeitgenossen zu mahnen, dem früheren Beispiel zu folgen und den Besitz des Klosters zu mehren und zu ­schützen.11 Auf diese Weise wird der regionale Adel in der Umgebung des Klosters angesprochen. Die Sächsische Weltchronik, nach Jürgen Wolf im Spätmittelalter zum „historiographische[n] Standardwerk[]“ 12 avanciert, ist wahrscheinlich nach 1225 entstanden und handschriftlich seit 1260/80 überliefert. Sie wurde lange Zeit Eike von Repgow zugeschrieben, ist aber wohl von einem Geistlichen aus dem Umkreis des Welfenhofes verfasst worden. In der Prosa-Chronik wird die Geschichte der Welt vom ersten Schöpfungstag an dargestellt. Schwerpunkte bilden die Geschichte Roms, des Fränkischen wie des Heiligen Römischen Reichs und schließlich die norddeutschen Verhältnisse des 12. und 13. Jahrhunderts unter 9

Vgl. Ludwig Weiland: Eberhard von Gandersheim, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akad. der Wiss., Bd. 6: Elben – Fickler, Leipzig 1877, S. 793 f. 10 Die Gandersheimer Reimchronik des Priesters Eberhard, hg. v. Ludwig Wolff, 2., rev. Aufl., Tübingen 1969, S. 6, V. 83 – 85. 11 Vgl. Volker Honemann: Eberhard von Gandersheim, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, begr. v. Wolfgang Stammler, fortgef. v. Karl Langosch, hg. v. Kurt Ruh, 2. Teilbd., 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin u. a. 1980, Sp. 277 – 282. 12 Jürgen Wolf: Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption, München 1997, S. 2.

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Friedrich  II. Nach Wolf kann der Text „in erster Linie [als] eine Weltchronik für ein im Umkreis der Städte beheimatetes laikales Publikum“ 13 angesehen werden. Die Sprachwahl erfolgt auch hier wie beim Sachsenspiegel und bei der Gandersheimer Reimchronik rezipientenbezogen.14 Am Anfang der niederdeutschen Überlieferung steht die Übersetzung aus dem Lateinischen. Für den Sachsenspiegel wird auf die Mühe des Übersetzens aufgrund fehlender schriftlicher Muster verwiesen. Die Sprachwahl ist einerseits abhängig vom Zielpublikum, den lateinunkundigen Laien, in diesen Fällen dem ländlichen Adel, aber auch von der Rezeptionssituation, nämlich der mündlichen Realisierung und der ihr zugrunde liegenden Tradition oraler Überlieferung im Falle des Rechts. Sowohl die Rechtsaufzeichnung des Sachsenspiegels als auch die Chronistik können als Kristallisationspunkte für Identitätsstiftung fungieren, indem das Recht die gesellschaftliche Ordnung festlegt und somit Konsistenz schafft und indem die Chronistik historische Kontinuität belegt und Kohärenz herstellt und im Falle Gandersheims zusätzlich den Anspruch auf Unterstützung des Klosters durch den Adel untermauert.

3. Etablierung: Die städtische Schriftlichkeit Innerhalb der städtischen Schriftlichkeit zieht sich der Prozess der Sprachwechsels über mehr als zwei Jahrhunderte hin. Der Zeitpunkt variiert nach Domänen und nach Text­sorten, wobei sich die Rechtsetzung und die Rechtsprechung mit den Stadtrechten sowie die Kanzleiverwaltung mit den Urkunden, Testamenten und Stadtbüchern als relevante Bereiche herauskristallisiert haben.15 Von Interesse sind weiterhin die Burspraken und die Zunftrollen. 13 Ebd., S. 4. 14 Neben der hier im Zentrum stehenden institutionellen Kommunikation ist im religiösen Bereich die volkssprachliche geistliche Dichtung von Bedeutung. Beispielsweise ist eine mittelniederdeutsche Apokalypse aus der Mitte des 13. Jahrhunderts überliefert: Die niederdeutsche Apokalypse, hg. v. Hjalmar Psilander, Uppsala 1901. – Vgl. die Zusammenstellung der ältesten mittelniederdeutschen Texte von Gustav Korlén: Die mittelniederdeutschen Texte des 13. Jahrhunderts. Beiträge zur Quellenkunde und Grammatik des Frühmittelniederdeutschen, Lund 1945. 15 Vgl. Robert Peters: Die Diagliederung des Mittelniederdeutschen, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, hg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger, 2. Teilbd., Berlin 1985, S. 1251 – 1262. – Vgl. Klaus Wriedt: Latein und Deutsch in den Hansestädten vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, in: Schule und Universität. Bildungsverhältnisse in norddeutschen Städten des Spätmittelalters. Gesammelte Aufsätze von Klaus Wriedt, Leiden, Boston 2005, S. 45 – 72. – Eine Übersicht über die mittelniederdeutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts bietet Norbert Nagel: Die mittelniederdeutschen Wunstorfer Urkunden von 1290 und 1303 – zwei Fälschungen aus dem 14. Jahrhundert? Ein Beitrag zur Erforschung der mittelniederdeutschen Urkunden der Zeit um 1300, in: Niederdeutsches Jahrbuch 125 (2002), S. 27 – 81, hier S. 39 – 44.

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Textsorten

Hamburg

Lübeck

Braunschweig

Stadtrecht

1270 Ordeelbook 1301 Rode Bok 1497 Bilderhandschrift des Stadtrechts

ab 1263 Lübecker Stadtrecht

1227 Ottonianum 1265 Bestätigung der Herzöge Albrecht und Johann 1300 Neustadt und Sack

Urkunde und Stadtbuch

1333 Urkunde: Hamburg und Lübeck 1344 Liber pignorum et pactorum et al.

1333 Urkunde: Hamburg und Lübeck 1418 Niederstadtbuch 1455 Oberstadtbuch

1307 Urkunde: Herzog Heinrich und der Braunschweiger Rat 1268 Ältestes Degedingebuch der Altstadt

Bursprake

1358 und 1359

vor 1421

1402 Echteding

Testamente

1368 (lat. 1258)

1339 (lat. 1278)

1342 (lat. 1302)

Zunftrollen

1375

1353

um 1320

Tab. 1: Früheste mittelniederdeutsche städtische Schriftlichkeit in Hamburg, Lübeck und Braunschweig.

Die städtische mittelniederdeutsche Überlieferung beginnt mit dem Braunschweiger Stadtrecht von 1227, ihm folgen die Stadtrechte von Lübeck und Hamburg ebenfalls im 13. Jahrhundert. Auch das erste Stadtbuch in mittelniederdeutscher Sprache wird in Braunschweig im 13. Jahrhundert angelegt, 1307 entsteht dort die erste niederdeutsche Urkunde. Die erste volkssprachliche Urkunde der Städte Hamburg und Lübeck wird 1333 erstellt. In Hamburg werden wenig s­ päter, im Jahr 1344, niederdeutsche Einträge in den Stadtbüchern vorgenommen, in Lübeck jedoch erst im 15. Jahrhundert, nämlich 1418 im Niederstadtbuch bzw. 1455 im Oberstadtbuch. Niederdeutsche Testamente entstehen nach einer bereits längeren lateinischsprachigen Praxis ab der Mitte des 14. Jahrhunderts in allen drei Städten, Burspraken sind ab 1358 in Hamburg, seit Anfang des 15. Jahrhunderts in Braunschweig und Lübeck überliefert, Zunftrollen existieren in Braunschweig ab 1320, in Lübeck ab 1353 und in Hamburg ab 1375.

3.1 Stadtrechte Es ist auffällig, dass auch in den Städten die vernakulare Schriftlichkeit mit den Rechtstexten einsetzt. Für Hamburg spielen drei Stadtrechte eine Rolle, das Ordeelbook von 1270, das Rode Bok von 1301 und schließlich das Stadtrecht von 1497, das in einer prachtvollen Bilderhandschrift überliefert ist. Das Hamburger Ordeelbook wird 1270 in niederdeutscher Sprache verfasst,16 ist jedoch nur in späteren Handschriften überliefert. Doch bereits seit Beginn des 13. Jahrhunderts muss es in Hamburg Rechtsaufzeichnungen gegeben haben, die in lateinischer Sprache geschrieben wurden,17 jedoch nicht erhalten sind. 16 Vgl. Korlén 1945 (wie Anm. 14), S. 121 – 124. – Vgl. Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 58. 17 Vgl. Johann Martin Lappenberg: Hamburgische Rechtsalterthümer, Bd. 1: Die ältesten Stadt-, Schiffund Landrechte Hamburgs, Hamburg 1845, S. XXXII. – Vgl. Korlén 1945 (wie Anm. 14), S. 121. – Vgl.

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Belege für die Existenz eines städtischen Rechts in Hamburg im frühen 13. Jahrhundert (ca. 1235/36) finden sich in zwei Urkunden, in denen Graf Adolf von Holstein der Stadt Oldenburg und der Stadt Plön das Stadtrecht verleiht. Im Falle eines Krieges mit Lübeck genehmigt er den Städten das Zugrecht nach Hamburg: Weret et aver, dat wy kriegene worden mit der stadt to Lubeke, so vorlehne wy unsen borgheren to Oldenborg vorscreven, dat zee mogen bruken des rechtes unser stadt to Hamborch. Were ock, dat zee sick avetlicken ordelen nicht vorwesten, so mogen zee an dessen vorscrevenen twen steden recht söken.18

Wohl ein Entwurf des Ordeelbooks ist als Fragment überliefert.19 Der Herausgeber vermutet, dass hierfür das alte lateinische Stadtrecht ins Mittelniederdeutsche übersetzt und mit weiteren Rechtsquellen wie dem Lübecker Recht, dem römischen Recht, den zehn Geboten und dem Sachsenspiegel kombiniert wurde.20 Im Gegensatz zu den älteren Rechtsaufzeichnungen des Fragments ist das Ordeelbook stärker systematisiert und in zwölf Abschnitte gegliedert, denen als dreizehnter Teil das Schiffsrecht angeschlossen wurde. Das Ordeelbook umfasst als Rechtsgebiete das Personenrecht, das Sachenrecht, das Familienund Erbrecht, das Schuldrecht, das Prozessverfahren, das Strafrecht und das Seerecht.21 Das Fragment des Ordeelbook-Entwurfs belegt, dass die mittelniederdeutschen Rechtsaufzeichnungen keineswegs als reine Übersetzung eines lateinischen Textes zu verstehen

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19 20 21

Frank Eichler: Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht. Nach der Handschrift von ­Fredericus Varendorp von 1493 (Kopenhagener Codex). Textausgabe und Übersetzung ins Hochdeutsche mit rechtsgeschichtlichem Kommentar, Hamburg 2005, S. 10 f. Hamburgisches Urkundenbuch, Bd. 1: 786 – 1300, hg. v. Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1907 = 1842, Nr. 500, S. 431, für Oldenburg; vgl. wortgleich Nr. 502, S. 432, für Plön. Beide Urkunden sind im Hamburgischen Urkundenbuch in mittelniederdeutscher Sprache nach Westphalen Monumenta Inedita Rerum Germanicarum Praecipue Cimbricarum, et Megapolensium […], hg. v. Ernst Joachim von Westphalen, Bd. 2, Leipzig 1740, S. 2070, und Bd. 4, Leipzig 1745, S. 3205, abgedruckt, wobei darauf verwiesen wird, dass es sich bei den Texten um Übersetzungen handelt. Auch Lappenberg hält die Texte für spätere Übersetzungen. – Vgl. auch Lappenberg 1845 (wie Anm. 17), S. XXXI . Heinrich Reincke: Ein unbekanntes Bruchstück althamburgischen Rechts, in: Niederdeutsches Jahrbuch 71/73 (1948/50), S. 134 – 146. Reincke 1948/50 (wie Anm. 19), S. 145. Die Bezeichnung Ordeelbook ist wohl aus dem Lateinischen Liber iudiciorum übernommen, was sowohl „Urteilsbuch“ als auch „Rechtsbuch“ bedeuten kann. Die einzelnen Artikel werden zudem in der Einleitung als „ordele“ bezeichnet. Als Verfasser des Ordeelbooks wird der damalige Ratsnotar Jordan von Boizenburg vermutet; vgl. Reincke 1948/50 (wie Anm. 19), S. 145. – Vgl. Heinrich Reincke: Die ältesten hamburgischen Stadtrechte und ihre Quellen, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 25 (1922), S. 1 – 40. – Vgl. Heinrich Reincke: Die Herkunft des hamburgischen Stadtrechts, zugleich ein Beitrag zur Geschichte des lübischen Rechts, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 29 (1928), S. 219 – 246. – Vgl. Sven Lide: Das Lautsystem der niederdeutschen Kanzleisprache Hamburgs im 14. Jahrhundert. Mit einer Einleitung über das hamburgische Kanzleiwesen, Oldenburg i. O. 1922, S. 21 f.

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sind, sondern als Erweiterung und Systematisierung. Dieselbe Feststellung gilt auch für die Entwicklung der Stadtrechte in anderen Städten.22 Im Proömium und im ersten Paragraphen des Ordeelbooks nennen sich als Urheber des Rechtsbuches Rat und Bürgermeister der Stadt („van der menen stad willen vnde van den wittegesten rade van Hamborch“ / „wart de mene rad vnde stad vnde darto de wittegesten van der stad to rade“ 23). Auch das Schiffsrecht wird von Rat und Bürgerschaft verantwortet („De meine raet unde de borghere uan der stat uan Hamborch hebbet dit schiprecht ghewilkoret unde uth ­ghegheuen“  24). Adressiert werden im Ordeelbook die Bürger der Stadt („So welc use ­borgher“; Art. I / „Ein iewelc man user b ǒrghere“; Art.  II ; ähnlich auch Art.  III , IV , XXVI ). Im Stadtrecht von 1497 werden ebenfalls vom Rat alle Bürger der Stadt angesprochen, sowohl die gegenwärtigen wie auch die künftigen, wodurch die Geltung des Rechts in die Zukunft verlängert wird: „allen den ghenen, dhe nu hyr sin unde noch scolen werden gheborn“. Neu ist, dass – auch mit Blick auf die Zukunft – auf die Einheit der Stadt verwiesen wird: „dat Hamborch ein is, unde ein bliuen scal iummermeir“.25 Die Betonung der Einheit lässt sich als Beleg für Konsistenzsicherung werten. Dem Stadtrecht von 1497 ist eine ausführliche Vorrede mit einer Chronik der Stadt vorangestellt, in der auch auf die Privilegien der Stadt im Jahr 1225 eingegangen wird („In welken tyden ock Hamborch isz van greuen Alue alze erem heren mid bestedingh der erbenomeden friheide, alse men screff dusent tweehundert vyff vnde twintigh, mildlichliken begnadet, so dat de hersscup dachlikes sick hefft ghemeret vnde starket.“ 26). Mehrfach wird auf die Bestätigung der Privilegien („priuilegia vnde friheide“ 27) durch die jeweiligen Herrscher aufmerksam gemacht, u. a. auch durch K ­ aiser Friedrich III. im Jahr 1475. Im wiederholten Verweis auf die städtischen Privilegien wird ein Rekurs auf die eigene Identität durch die Sicherung von Kontinuität und Kohärenz deutlich. Auch in anderen Städten beginnt die mittelniederdeutsche Überlieferung mit Rechtstexten. Bereits 1227 ist das Braunschweiger Stadtrecht, das Jus Ottonianum, entstanden.28 Inhalt des Stadtrechts sind Kapitel zum Schuld- und Strafrecht, zu Erbrecht, zu Zoll und Handel. Am Ende betont die Stadt das Alter und die Tradition des Rechts und somit auch 22 Vgl. Ingrid Schröder: Städtische Kommunikation ­zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Greifswald im 15. Jahrhundert, in: Niederdeutsches Jahrbuch 124 (2001), S. 101 – 133, wo dies für Greifswald gezeigt wurde. 23 Lappenberg 1845 (wie Anm. 17), S. 1. 24 Ebd., S. 75. 25 Ebd., S. 99. – Derselbe Wortlaut begegnet auch in der Bilderhandschrift; vgl. ebd., S. 181. 26 Ebd., S. 168. 27 Vgl. ebd., S. 167. 28 Vgl. Korlén 1945 (wie Anm. 14), S. 35 – 37. – Vgl. Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 58.

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ihren Anspruch auf ein eigenes Recht, auch hier die Bezugnahme auf Kontinuität und Kohärenz der Entwicklung der Stadt und ihrer Verfassung („Boven dhit bescreuene recht so heuet vns ghegeuen vnse herre an allen saken so gedan recht. alse von vnses alden herren [d. i. Heinrich der Löwe] tiden vnse alderen gehat hebbet.“ 29). Die Entstehung des Lübecker Rechts wird auf die Zeit von 1263 bis 1267 datiert;30 die ältesten Handschriften sind seit 1275 in niederdeutscher Sprache überliefert.31 Im lateinischen Proömium nennen sich als Urheber des Rechts gemeinsam der Vogt („advocatus“), der Rat und die Gemeinde der Stadt Lübeck („Consules et commune Ciuitatis Lubicensis“), die sich an die Bürger der Stadt („concives“) und an die nicht lateinkundigen Laien („omnes personae laicales“) wenden.32 Gustav Korlén vermutet, dass die ostfälischen Rechtsquellen, also Sachsenspiegel und Ottonianum, „sprachlich als Vorbilder gewirkt haben“,33 auch wenn keine inhaltliche rechtliche Beziehung bestanden haben dürfte, da das Recht Lübecks ursprünglich aus Soest übernommmen worden ist. Im 13. Jahrhundert erscheint das Niederdeutsche in den Stadtrechten neben einer starken lateinischen Tradition im Kanzleibetrieb, der erst wesentlich ­später nach und nach zum Deutschen wechselt. Sven Lide führt den frühen Gebrauch des Niederdeutschen im Hamburger Stadtrecht darauf zurück, dass es von allen Leuten verstanden werden sollte, und setzt damit ggf. auch eine auditive Rezeption voraus.34 Auch Ludwig Hänselmann, der Herausgeber des Urkundenbuchs der Stadt Braunschweig, begründet die Wahl des Mittelniederdeutschen im Ottonianum mit der „Bestimmung des Schriftstückes zu öffentlichen Verlesungen“ 35 und nennt als Beleg das Degedingebuch der Braunschweiger Altstadt, in dem ein Eintrag aus dem Jahr 1279 festlegt, dass die Privilegien sowohl in der lateinischen Version wie auch in der Muttersprache öffentlich bekanntzumachen sind („Privilegia domini ducis ac universitatis Brunswic [a sede apostolica erogata] latina maternaque lingua in publico fuerunt recitata.“ 36). Für die Sprachwahl Niederdeutsch sieht auch Thomas Behrmann die Zielgruppe der Texte, die lateinunkundigen Bürger oder Seefahrer, als maßgeblich an.37 29 Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 1: Statute und Rechtebriefe 1227 – 1671, im Auftrage der Stadtbehörden hg. v. Ludwig Hänselmann, Braunschweig 1873, S. 7. 30 Vgl. Korlén 1945 (wie Anm. 14), S. 131, 156 f. 31 Vgl. Robert Peters: Die Kanzleisprache Lübecks, in: Kanzleisprachenforschung. Ein internationales Handbuch, hg. v. Albrecht Greule, Jörg Meier, Arne Ziegler, Berlin, Boston 2012, S. 347 – 366. – Vgl. Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 58. 32 Gustav Korlén: Norddeutsche Stadtrechte. II. Das mittelniederdeutsche Stadtrecht von Lübeck nach seinen ältesten Formen, Lund 1951, S. 83. 33 Korlén 1951 (wie Anm. 32), S. 77. 34 Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 2. 35 Urkundenbuch der Stadt Braunschweig (wie Anm. 29), Bd. 1, S. 3. 36 Ebd. 37 Vgl. Thomas Behrmann: Latein, Mittelniederdeutsch und die frühen hansischen Rezesse. Anmerkungen eines Historikers, in: Edition deutschsprachiger Quellen aus dem Ostseeraum (14. – 16. Jahrhundert),

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3.2 Urkunden, Testamente und Stadtbücher Die Schriftstücke der Hamburger Kanzlei werden bis in die 1370er Jahre fast ausschließlich in lateinischer Sprache abgefasst.38 Im Jahr 1335 wird die erste niederdeutsche Urkunde vom Ratsnotar Olricus de Mirica ausgestellt.39 In ihr bestätigt der Knappe Lambert Struz eine Einigung mit dem Hamburger Rat hinsichtlich des Bauzustands seines Mühlenhauses. Die Sprachwahl Niederdeutsch von Seiten der Hamburger Kanzlei bildet hier eine Ausnahme. Allerdings ist bereits 1333 eine Urkunde entstanden, in der die Ratsherren von Hamburg und Lübeck („Vi ratmanne unde borghere to Lubeke unde to Hamborch bethughet unde bekennet in dessen openen brevenen“) den Abschluss eines Landfriedens mit den Herzögen Erich I. und Albrecht IV. von Sachsen-Lauenburg und den Grafen Gerhard III., Johann III. und Adolf VII. von Holstein bezeugen.40 Denselben Sachverhalt beurkunden die Herzöge und Grafen mit eigenem Siegel in einer nahezu wortgleichen Urkunde, die am selben Tag und ebenfalls in Hamburg ausgestellt ist.41 Andere Urkunden der genannten Herzöge von Lauenburg und Grafen von Holstein, ­welche die Verhältnisse in Hamburg betreffen, sind seit Beginn des 14. Jahrhunderts niederdeutsch verfasst. Auch das Kloster Harvestehude beurkundet bereits 1329 einen Landverkauf niederdeutsch,42 im Liber privilegiorum Hervadeshudensium ist für das Jahr 1325 eine niederdeutsche Eintragung vorhanden.43 Der Adel und auch das Kloster Harvestehude wählen für die Beurkundungen also deutlich früher das Niederdeutsche als die städtische Kanzlei. Außerdem ist seit 1304 eine mittelniederländische Korrespondenz mit der Stadt Brügge und dem Grafen von Hennegau erhalten. In Lübeck werden niederdeutsche Urkunden ab 1328 ausgestellt.44 Dabei handelt es sich um eine Urkunde von Gerhard III., dem Herzog zu Jütland, Grafen zu Holstein und Stormarn etc., und Johann  III., dem Grafen zu Holstein und Stormarn, die gemeinsam

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hg. v. Matthias Thumser, Janusz Tandecki, Dieter Heckmann, Toruń 2001, S. 153 – 167, hier S. 160. Nach Behrmann liegt die Zielgruppe dieser Texte außerhalb des Rates bei lateinunkundigen Bürgern oder Seefahrern. Auf der anderen Seite s­ eien Urkunden, Korrespondenzen, Stadtbücher ausschließlich im Umfeld des Rates geschrieben und rezipiert worden und „für eine einmalige (oder jedenfalls seltene) Verlesung bestimmt, während Rechtsbestimmungen bekannt gemacht werden sollen und daher wiederholt werden müssen“ (vgl. ebd., S. 160). Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 3. Vgl. Hamburgisches Urkundenbuch, Bd. 2: 1301 – 1336, hg. v. Hans Nirrnheim, Hamburg 1939 = 1911, Nr. 1002, S. 778. – Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 3. Hamburgisches Urkundenbuch (wie Anm. 39), Bd. 2, Nr. 911, S. 702 – 704, hier S. 702. Ebd., Bd. 2, Nr. 912, S. 704 f. Ebd., Nr. 791, S. 621. Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 32. Urkundenbuch der Stadt Lübeck, Bd. 2, Teil 1, hg. v. dem Vereine für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1858, Nr. 492, S. 438 f.

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einen Vertrag mit den Städten Lübeck und Hamburg beurkunden. 1333 entsteht die bereits genannte Urkunde der Städte Hamburg und Lübeck über den Landfrieden.45 Somit ist eine gänzlich parallele Entwicklung für Lübeck und Hamburg zu konstatieren. In den Urkundenbüchern sind es zunächst Aussteller aus dem Kreis des ländlichen Adels, die das Deutsche verwenden, auch wenn die Angelegenheiten die Städte betreffen. Häufiger werden die deutschen Urkunden in Lübeck ab 1340, erst ab 1370 setzt sich das Niederdeutsche in Lübeck wie auch in Hamburg durch.46 Das kanzleiinterne Schrifttum bleibt wesentlich länger als die Rechtstexte lateinisch dominiert. Für die Situation in Hamburg führt Sven Lide als mögliche Ursache an, dass die dortige Kanzlei aufgrund der Streitigkeiten ­zwischen Rat und Domkapitel, die 1337 in Avignon zur Entscheidung gestellt wurden und bis 1355 andauerten, verstärkt eine lateinische Korrespondenz zu führen hatte.47 Das Hamburgische Urkundenbuch belegt das hohe Schriftaufkommen in dieser Angelegenheit. Für die internationale Korrespondenz, die von gelehrten Syndici geführt wird, ist das Lateinische unabdingbar. Auch den späten Wechsel zum Mittelniederdeutschen bei den Testamenten ab 1368 erklärt Lide mit d ­ iesem Umstand.48 Eine Ausnahme von dieser kommunikativen Praxis bilden die Beziehungen zum ländlichen Adel der Umgebung, mit dem niederdeutsch kommuniziert wird.

3.3 Burspraken und Zunftrollen Die ersten Hamburger Burspraken sind undatiert, aber wohl 1358 und 1359 entstanden.49 Sie sind in niederdeutscher Sprache geschrieben, frühere lateinische Ausfertigungen sind nicht überliefert. Die Burspraken werden bereits im Ordeelbook von 1270 erwähnt (u. a. „So wor de rad bursprake deyt, spreke dar jemand wedder van den radmannen, de ne schal nicht mer in deme rade wesen.“ 50). Damit ist eine mündliche Praxis belegt, die erst ­später, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, schriftlich fixiert wird. Die Texte dokumentieren also – ähnlich wie der Sachsenspiegel – eine ältere mündliche Verordnungspraxis. Die Burspraken dienen insgesamt der Organisation und Koordination des städtischen 45 Urkundenbuch der Stadt Lübeck (wie Anm. 44), Bd. 2, Teil 1, Nr. 563, S. 504 – 506; Nr. 564, S. 506 – 508. 46 Vgl. Peters 2012 (wie Anm. 31), S. 353; nach A. C. Højberg Christensen: Studier over Lybaeks Kancellisprog fra c. 1300 – 1470. Kopenhagen 1918. 47 Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 3 f. 48 Ebd., S. 35. 49 Vgl. Jürgen Bolland: Hamburgische Burspraken. 1346 – 1594. Mit Nachträgen bis 1699, Bd. 2: Burspraken­ texte, Hamburg 1960, S. 1 – 10. – Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 27. 50 Lappenberg 1845 (wie Anm. 17), S. 73. – Vgl. Jürgen Bolland: Hamburgische Burspraken. 1346 – 1594. Mit Nachträgen bis 1699, Bd. 1: Einleitung und Register, Hamburg 1960, S. 14.

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Lebens. Geregelt werden die Rechte und Pflichten der Bürger, das Verhältnis des Rates zu den Bürgern und das Verhältnis der Bürger zu den auswärtigen Kaufleuten. In Braunschweig übernimmt diese Funktion das sogenannte Echteding, das aus dem Jahr 1402 überliefert ist. Niederdeutsche Zunftrollen entstehen in Hamburg seit dem Jahr 1375,51 als der Schreiber Johann von Göttingen den Liber officiorum mechanicorum als Teil des Stadtweddebuchs anlegt. Von den dort enthaltenen Rollen sind die der Glaser, Maler und anderer Ämter, der Drechsler und der Kannengießer in zeitgenössischen Ausfertigungen erhalten.52 Bereits um 1320 wird in Braunschweig das Recht der Goldschmiede niederdeutsch aufgeschrieben.53 In Lübeck wird die erste niederdeutsche Zunftrolle 1353 verfasst, es handelt sich um die Zunftrolle der Krämer. Nur eine ältere Zunftrolle ist in Lübeck erhalten, und zwar die der Pergamentmacher von 1330 in lateinischer Sprache, Ergänzungen von 1376 werden in niederdeutscher Sprache hinzugefügt.54 Durch die Zunftordnungen werden die Rechte der Handwerker durch die Stadt bestätigt. Sie regeln die wesentlichen Belange der Zunft, u. a. die Ausbildung bis zum Meister, die Qualität der Waren und die Regeln des Verkaufs sowie die Abgrenzung von anderen Zünften. In ihnen wird die Verfasstheit der gesellschaftlichen Gruppe der Handwerker festgelegt. Die Sprachwahl korrespondiert bei Burspraken und Zunftrollen mit dem Rezipientenkreis. Mit den Burspraken ist die Stadtgemeinde insgesamt angesprochen, mit den Zunftrollen sind es die Handwerker. Zudem sind die Burspraken für den mündlichen Vortrag bestimmt und werden zweimal im Jahr in der Öffentlichkeit verlesen. Burspraken und Zunfturkunden sind wesentliche Dokumente für die Konstituierung der Bürgerschaft und der einzelnen Handwerksämter. Sie sichern Konsistenz, indem sie Aufgaben und Pflichten festlegen und die eigene Gruppe von anderen abgrenzen. Die Zunftrollen sichern auch Kontinuität, indem sie die rechtliche Verfasstheit konsti­ tuieren und gleichzeitig Berufungsinstanzen sowohl für die Handwerker als auch für die Stadtobrigkeit bilden.

51 Vgl. Otto Rüdiger: Die ältesten Hamburgischen Zunftrollen und Brüderschaftsstatuten. Gesammelt und mit Glossar versehen, hg. v. der Bürgermeister-Kellinghusen-Stiftung, Hamburg 1874, S. XXII. Rüdiger nimmt an, dass vor 1375 keine schriftlichen Zunftordnungen existiert haben. 52 Vgl. ebd., S. XVIII f. – Vgl. Lide 1922 (wie Anm. 21), S. 28 f. – Die entsprechenden Texte sind zu finden bei Rüdiger 1874 (wie Anm. 51), S. 54 – 56, 90 – 93, 123 – 125. 53 Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 2: 1031 – 1320, im Auftr. der Stadtbehörden hg. v. Ludwig Hänselmann, Braunschweig 1900, Nr. 877, S. 517 – 519. 54 Vgl. Carl Friedrich Wehrmann (Hg): Die älteren Lübeckischen Zunftrollen, Lübeck 1864, S. 270 – 275, 363 – 365.

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3.4 Konsolidierung Seit Beginn des 15. Jahrhunderts lässt sich eine forcierte Umstellung des städtischen Kanzleischrifttums auf die Volkssprache konstatieren. Metasprachliche Zeugnisse zeigen, dass die Sprachwahl bewusst vorgenommen und vom Rat auf Drängen der Bürgerschaft angeordnet wurde. In den Jahren 1403 bis 1408 hatte die städtische Opposition in Lübeck ihre Forderungen an den Rat grundsätzlich in deutscher Sprache formuliert und auch den Gebrauch des Niederdeutschen im Oberstadtbuch gefordert, um Einsicht in die Amtsbücher nehmen und die Tätigkeit des Rates kontrollieren zu können.55 1406 sagt der Rat der Stadt Lübeck den Bürgern zu, dass die Bücher der Kanzlei ins Deutsche übersetzt werden, damit sie zu Nutz und Frommen der Stadt besser rezipierbar ­seien: Ok will de rat alle de boke, de tho den officien horen, laten vorklaren unde ummeschriven in Dudesch, up dat en islik, de dar hir negest tho gevoget wert, de bet sik dar uth entrichten moge tho vromen unde nutticheid dusser stat.56

Trotz der Zusage des Rates ändert sich die Praxis jedoch nicht, und bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts bleibt es bei den lateinischen Einträgen. Erst ab 1455 wird das Oberstadtbuch in Lübeck (Rentebuch) auf Beschluss des Rates nicht mehr in lateinischer Sprache geführt: Witlik sy, dat de rat to Lubeke uppe den mitweken vor Vincula Petri anno etc. geslaten vnde deme werdigen magistro Arnoldo van Bremen, doctori in beiden rechten, ereme sindico, beualen hebben, dat he der stat rentheboke nv vort in tokamenden tiden vppe Dudesch vnde nicht vppe Latin scriuen scolde, deme de genante doctor also gerne gedan hefft na beuelinge des rades vorscreuen in mathen formen vnde wise, so hirna volghet, vnde hefft ok desset bock gedelet in veer klene boke na veer kerspelen desser stad, des domes kerspel vnde sunte Yllien kerspel vor een kerspel to rekende.57

Auch im 1455 angelegten Kopialbuch werden die Einträge auf Deutsch vorgenommen, und etliche lateinische Schriftstücke werden übersetzt, um die Verständlichkeit nun auch für die Ratsherren zu erhöhen: 55 Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 57. 56 Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Lübeck, Bd. 2 (Chroniken der deutschen Städte; Bd. 26), hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1899, S. 406. – Vgl. Ernst Pitz: Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln – Nürnberg – Lübeck. Beitrag zur vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde, Köln 1959, S. 296. – Vgl. Peters 2012 (wie Anm. 31), S. 356. 57 Urkundenbuch der Stadt Lübeck, Bd. 9: 1451 – 1460, hg. v. dem Vereine für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde, Lübeck 1893, Nr. 254, S. 265. – Vgl. Pitz 1959 (wie Anm. 56), S. 407. – Peters 2012 (wie Anm. 31), S. 356. – Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 67.

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Unde vppe dat denne de vorsreuen heren de raed vnde andere de der vorscreuenen preuilegie villichte hebben to donde in tokomenen tiden, destebet de konen vorstan vnde de vinden wanner des ys van noden: hyr vmme hebben de vorscreuen heren de Rad to Lubeke in dessem jeghenwardighen jare MCCCCLV alle preuilegie der vorscreuen stad […] laten hyr na in dessem boke registreren vnde etlike setten van worden to worden in dat dudesch […].58

Diese metasprachlichen Zeugnisse belegen eine Übersetzungstätigkeit, die auf Initiative des Rates und zum Teil auf Drängen der Bürgerschaft ausgeführt wird. Zudem wird festgelegt, dass künftige Eintragungen in die Stadtbücher niederdeutsch erfolgen sollen. Der bereits angesprochene Gegensatz von interner Kanzleischriftlichkeit und externer Schriftlichkeit bekommt eine neue Nuance. In den politischen Organen, die sich aus Vertretern der Bürgerschaft zusammensetzen, sind im 15. Jahrhundert lateinische Schriften nicht mehr allen Mitgliedern zugänglich. Daher ist es nun auch hier notwendig, die Volkssprache zu verwenden.

4. Hanseschriftlichkeit: Rezesse und Verträge Das Mittelniederdeutsche in der Schriftpraxis der Hanse markiert zentrale historische Ereignisse in der Entwicklung des Städtebundes, nämlich den Beschluss über den Boykott Flanderns im Rezess von 1358 und den Stralsunder Frieden von 1370. Mit dem Boykott Flanderns wird zum ersten Mal die internationale Schlagkräftigkeit des Bündnisses erprobt, der Stralsunder Frieden nach dem Sieg über Dänemark sichert die Vormachtstellung der Hanse im Ostseeraum. Als Hanserezesse werden die Beschlüsse der Vertreter der Hansestädte und ebenso die Protokolle, die diese Beschlüsse dokumentieren, bezeichnet.59 Die Überlieferung der Hanse­rezesse setzt mit den Beschlüssen einer Versammlung zu Wismar im Jahr 1256 ein. Im ersten Jahrhundert der Überlieferung wird fast ausschließlich Latein als Sprache für die Dokumentationen genutzt. Ausnahmen bilden die Verhandlungen in Brügge aus dem Jahr 134760 und 1356,61 die mittelniederländisch 62 niedergelegt werden. Auch weitere Schreiben, die sich auf Flandern beziehen, sind niederländisch verfasst. Dadurch zeigt sich in den Hanserezessen eine gewisse sprachliche Sonderrolle Flanderns. Dort wird bereits früh das Mittelniederländische in den Verhandlungen mit den Hansestädten verwendet, sowohl durch die flandrischen Städte und durch den Herzog von Flandern wie auch durch die 58 Urkundenbuch der Stadt Lübeck (wie Anm. 44), Bd. 2, 1, S. iv. – Vgl. Pitz 1959 (wie Anm. 56), S. 419. – Peters 2012 (wie Anm. 31), S. 356 f. – Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 67. 59 Vgl. Hanserecesse, Abth. 1, Bd. 1: Die Recesse und andere Akten der Hansetage von 1256 – 1430, hg. v. Verein für Hansische Geschichte, Leipzig 1870, S. IX. 60 Hanserecesse (wie Anm. 59), Abth. 1, Bd. 1, Nr. 143, S. 74 – 77. 61 Ebd., Abth. 1, Bd. 1, Nr. 200, S. 127 f. 62 Behrmann 2001 (wie Anm. 37), S. 162, hält die Sprache irrtümlich für Mittelniederdeutsch.

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Kaufleute („die coopmanne“, Nr. 22; „die coopmanne van Almaengen van den Roomschen rike“, Nr. 159), wenn flandrische Rezipienten, insbesondere der Rat zu Brügge, adressiert werden, während Lübeck und Hamburg von den Kaufleuten („omnes mercatores de Almania“, Nr. 160; „omnes mercatores regis Romanorum de Almania“, Nr. 161) lateinisch angeschrieben werden. Beim ersten Rezess in mittelniederdeutscher Sprache handelt es sich um die Dokumentation der Vorbereitungen des Boykotts Flanderns durch die Hansestädte unter der Leitung Lübecks 63 aus dem Jahr 1358. Der Text selbst wird als „settinghe“ bezeichnet, ein Lexem, das als „Gesetz, Verordnung, Anordnung, Verfügung“ paraphrasiert werden kann 64 und damit ein rechtsverbindliches Schreiben darstellt. Es geht von den Räten der einzelnen Hansestädte aus („Wie raadmanne der stede alse […]“), ­welche die Verordnung als einvernehmlichen Beschluss („hebben over eyn ghedragen“) bezeichnen. Am Ende des Dokuments wird der gemeinsame Beschluss bekräftigt („Vortmer wy raadmanne van den steden, de hyr benomed synt, mit vulbord der anderen steden, de ere breeve darto ghesant hebben, willen, dat men alle desse stucke, de hyr vorschreven synt, schal stede unde vaste holden by lyve unde by gude, sunder jenighe argheliste.“), und es wird die – erhebliche – Strafe bei Nichteinhalten der Verordnung formuliert, nämlich der Ausschluss aus der Hanse („Wer ok jenich stad van der Dudeschen hense, de sik mit vrevele ute desseme ghesette wolde werpen unde des nicht wolde holden, de stad schal ewichliken ute der Dudeschen hense blyven unde des Dudeschen rechtes ewichliken entberen.“ 65). Bezugspunkt der Bestimmungen ist der „mene[] kopmann[] van Alemanien van der Dudeschen Hense“.66 Thomas Behrmann hat sowohl auf die Sprachwahl Niederdeutsch aufmerksam gemacht als auch festgestellt, dass immer wieder Bezug auf die „Dudesche hense“ genommen wird.67 Fast in jedem Artikel wird dieser Bezug hergestellt: „neman van der dudeschen hense“ (Art. 1), „eyn kopman eder schephere van der Dudeschen hense“ (Art. 2), „eyn scheph eder schephere eder kopman, de in der Dudeschen hense nicht en were, queme in ene havene eder stad, de in der Dudeschen hense were“ (Art. 4), „neyn kopman van der Dudeschen hense“ (Art. 5), „eyn, de in der Dudeschen hense nicht en were, queme to lande eder to watere in de havene eder stad, de in der Dudeschen hense were“ (Art. 7), „alle koplude van Alemanien, de in der Dudeschen hense synt“ (Art. 8), „jenich man van der Dudeschen hense“ (Art. 9), „jenich stad van der Dudeschen hense“ (Art. 10). Behrmann verweist zusätzlich auf die Verwendung der 1. Person Plural („Wie radmanne der stede“), der man sonst nicht in Rezessen, sondern vielmehr in Briefen begegne, und auf 63 64 65 66 67

Hanserecesse (wie Anm. 59), Abth. 1, Bd. 1, Nr. 212, S. 135 – 137. Mittelniederdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 1), Bd. 3, Sp. 219 f. Hanserecesse (wie Anm. 59), Abth. 1, Bd. 1, Nr. 212, S. 137. Ebd., Abth. 1, Bd. 1, Nr. 212, S. 135. Vgl. Thomas Behrmann: Der lange Weg zum Rezeß. Das erste Jahrhundert hansischer Versammlungsschriftlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 433 – 467, hier S. 457.

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die namentliche Nennung aller Bevollmächtigten und schließt daraus, dass der Text „fern von der Lübecker Versammlung, in Flandern nämlich, den deutschen Kaufleuten verkündet sowie natürlich den übrigen Städten übermittelt werden“ sollte.68 Für diese Kaufleute werde „dudesche hense“ als „zugkräftige[r], identitätsstiftende[r] Begriff“ 69 zwar nicht neu geprägt, aber wirkungsvoll durch die stete Wiederholung eingesetzt. Damit hebe sich der Rezess auch von späteren Dokumentationen der Hansebeschlüsse auf entscheidende Weise ab. Er besitze Urkundencharakter und sei für externe Rezipienten bestimmt und nicht als Bestandteil einer internen Versammlungsschriftlichkeit anzusehen.70 Den zweiten Meilenstein markiert der Frieden von Stralsund im Jahr 1370.71 Emittenten der Urkunde sind die Städte („de stede“, Nr. 1, 2, 4, 12, 13, 16, 18), deren Gemeinschaft und Einigkeit hervorgehoben wird. Sie werden als Verbund bezeichnet („vorbunt“, Nr. 3), handeln gemeinschaftlich („meenliken“, Nr. 1, 2, 8, 12, 16; „dat menlike“, Nr. 10) und haben einen gemeinsamen Beschluss gefasst („hebben up een gedreghen“, Nr. 1, 2, 3, 4, 8, 11, 15; „over een ghedreghen“, Nr. 7, 10, 16; „hebben gedeghedinget“, Nr. 13). Auch wenn der Vertrag mittelniederdeutsch wiedergegeben wird, so ist die Metasprache doch lateinisch. Das zeigt sich sowohl am Datum und an der Auflistung der Anwesenden, aber auch an der lateinischen Ankündigung von inserierten Schriftstücken („Sequitur copia littere“, § 20). Für den Inhalt, der sich an die beteiligten Städte und an den König von Dänemark richtet, wird die Volkssprache gewählt, für die textorganisierenden Teile das Lateinische. Die Konsolidierung des Hansebündnisses, die ihren sichtbaren Ausdruck durch den Abschluss des Stralsunder Friedens findet, wird somit auch sprachlich ins Werk gesetzt. Der Rezess von 1358 bildet dabei den Auftakt, indem er nachdrücklich die Einigkeit der Städte und ihr Bündnis betont. Nach dem Frieden von Stralsund spiegelt der Rekurs auf die eigene Sprache das Selbstbewusstsein der Hansestädte, wobei der Lübecker Kanzlei mit ihrem Prestige eine vorbildhafte Rolle zukommt. Denn die Dokumentation der Hansetage erfolgt nach 1370 unter Federführung der Lübecker Kanzlei nahezu ausschließlich auf Niederdeutsch.72 Nicht zuletzt diese Entwicklung hat dem Mittelniederdeutschen in der Forschung die Bezeichnung „Hansesprache“ eingebracht. Im internationalen Verkehr mit England, Frankreich, Spanien und Polen wird allerdings weiterhin das Lateinische als lingua franca verwendet.73 68 69 70 71 72

Behrmann 2001 (wie Anm. 37), S. 163. Behrmann 2002 (wie Anm. 67), S. 458. Ebd., S. 445. Hanserecesse, Abth. 1, Bd. 1 (wie Anm. 59), Nr. 522, S. 482 – 484. Vgl. Robert Peters: Zur Sprachgeschichte des niederdeutschen Raumes, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 108 – 127. – Vgl. Robert Peters: Das Mittelniederdeutsche als Sprache der Hanse, in: Sprachkontakt in der Hanse. Aspekte des Sprachausgleichs im Ostsee- und Nordseeraum. Akten des 7. Internationalen Symposions über Sprachkontakt in Europa, Lübeck 1986, hg. v. Per Sture Ureland (Linguistische Arbeiten, Bd. 19), Tübingen 1987, S. 65 – 88. 73 Vgl. Wriedt 2005 (wie Anm. 15), S. 69 f.

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5. Fazit Die Verwendung des Mittelniederdeutschen indiziert vor allem die verschiedenen sozialen Gruppen, auf die in den Texten Bezug genommen wird, und damit auch die Sprachkompetenz der Kommunikationsteilnehmer. Zunächst ist Niederdeutsch die Schriftsprache des ländlichen Adels. Der ländliche Adel ist primärer Adressat des Sachsenspiegels und der Gandersheimer Reimchronik, in den ersten niederdeutschen städtischen Urkunden tritt er ebenfalls als beteiligte Partei auf. In den Städten richten sich die niederdeutschen Texte an die Bürgergemeinde oder auch an die Handwerker und sind somit für nicht lateinkundige Rezipienten bestimmt. Darin spiegeln sich zugleich die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung und Teilhabe dieser Gruppen an der offiziellen städtischen Kommunikation. Insbesondere die Forderungen der Bürger nach vernakularer Schriftlichkeit im 15. Jahrhundert belegen ihren gewandelten sozialen Status und ihren zunehmenden Einfluss im städtischen Machtgefüge. Bürgergemeinde und Handwerkerzünfte nehmen vielfach erstmals in der niederdeutschen schriftlichen Überlieferung korporative Konturen an. Daher lassen sich diese Schriften auch als Merkmale sozialer Identitätsbildung betrachten. Die rechtsverbindlich normierenden Texte sichern die Identität der Adressatengruppen durch Herstellung von Kontinuität, Kohärenz und Konsistenz. Zugleich stützt die mündliche Rechtstradition die Wahl des Niederdeutschen auch als Schriftsprache. Innerhalb der hansischen Gemeinschaft markiert die Sprachwahl Mittelniederdeutsch die Etablierung des Städtebundes als Gemeinschaft. Die neue Selbstbezeichnung als „Dudesche Hense“ verdeutlicht diesen Status und wirkt zusätzlich identitätsbildend. Die internationale Sprache der Städte bleibt aber das Lateinische, sei es in der Kommunikation mit der Kurie in Avignon oder in internationalen Wirtschaftsverhandlungen insbesondere mit Südeuropa. Doch innerhalb der Städte und auch im hansischen Städtebund ist die Kommunikation seit dem 15. Jahrhundert fast vollständig niederdeutsch geprägt.

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Jörn Bockmann

Zur Wahrnehmung des Niederdeutschen um 1700 Bemerkungen zu Bernhard Raupachs De linguae saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto

1. Sprachwahrnehmung und Spracharbeit Begibt man sich auf das Feld der historischen Wahrnehmung von Sprachen, ihrer impliziten und expliziten Reflexion in Zeiten vor der Aufklärung, so wird man feststellen, dass nicht nur unsere wissenschaftlichen Kategorien und Terminologien quer stehen zu jenen der Selbstwahrnehmungen der historischen Sprecher, sondern dass ferner deren Wahrnehmungskategorien selbst nur schwer rekonstruierbar sind. Einschätzungen des Sprachbewusstseins des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stehen aus verschiedenen Gründen vor größeren Herausforderungen. Dies hat mehrfache Gründe, die ich aufführen und anhand der Schrift Bernhard Raupachs zur Verteidigung des Niederdeutschen verdeutlichen werde. Diese Schrift werde ich auf ihre argumentative und rhetorische Faktur hin einer dichten Lektüre unterziehen, wobei ich ihren Kumulationspunkt in einem gewissermaßen habituellen Appell erblicke, der sich (obwohl sehr naheliegend) als solcher leicht überlesen lässt. Die Schwierigkeiten, eine (Selbst-)Wahrnehmung einer vormodernen Sprachlandschaft zu beschreiben, sind diese:

1.1 Terminologische und sachliche Unterbestimmtheit bzw. Unsicherheit Oft ist nicht klar, was mit den benutzten sprachbezogenen Termini gemeint ist. Dies gilt bereits für die Bezeichnungen für die historischen Einzelsprachen bzw. deren Varietäten; man denke an ‚lingua theodisca‘, ‚lingua saxonica‘, ‚Düdesch‘ oder ‚diutse taal‘.1 1

So ist es unklar, auf ­welche Sprache Karl V. in dem ihm zugeschriebenen Ausspruch zielt, er spreche Spanisch zu Gott, Italienisch mit den Frauen, Französisch mit den Männern und Deutsch mit seinem Pferd. Wahrscheinlicher als die Annahme, Karl spreche mit dem Reittier auf Frühneuhochdeutsch, ist die Vermutung, der in Gent Aufgewachsene zielt auf das Flämische. Vgl. Eugenio Coseriu: Text­linguistik. Eine Einführung. 3., überarb. u. erweiterte Aufl. Tübingen, Basel 1994, S. 100. – Peter Burke: Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit, Berlin 2006, S. 36 f.; zu den unscharfen Grenzen ­zwischen Sprachen ebd., S. 13 f.

Zur Wahrnehmung des Niederdeutschen um 1700 | 43

Der gesamte kontinentalwestgermanische Sprachraum war bekanntlich in ein Gebiet der ober- und mittel­deutschen Dialekte (Raum der Oberländer) und ein Gebiet der niederländischen und niederdeutschen Dialekte aufgeteilt (als Gebiet der ‚Niederländer‘ oder ‚Niederen Lande‘ zusammengefasst).2 Die vormoderne Begrifflichkeit scheint eher von der Wahrnehmung von Kontinua als von einem Interesse an klassifikatorischer Gruppierung abgegrenzter Varietäten zu zeugen. Raupach zeigt einen terminologischen Gebrauch, der relativ leicht bestimmbar und spezifisch auf die sprachliche Situation seiner Zeit bezogen ist.3 Er vermischt aus heutiger Sicht allgemein-synchrone mit historisch-konkreten (diachronen) Kriterien. Einer der Gründe dafür ist, dass im Hintergrund der vormodernen Sprachwahrnehmung Diglossien verschiedener Art stehen, die gerade für den niederdeutschen Raum der Frühen Neuzeit relevant sind.

1.2 Diglossien verschiedener Art Die sprachliche Situation ist im deutschsprachigen Raum der Frühen Neuzeit durch Diglossien geprägt, hier in einem weiten Sinn gefasst als Kopräsenz zweier Realisationsformen des Sprachlichen. Es handelt sich dabei um den Gegensatz Hochdeutsch – Niederdeutsch (als dominante resp. marginale Varietät des Deutschen), Latein – Volkssprache (als ­Klerikerund Gelehrten- vs. Laiensprache) und schließlich um die Opposition Schriftsprache – mündliche Sprache. Das Hochdeutsche hat sich langsam als Ausgleichssprache auf dialektaler Grundlage vor allem des ostmitteldeutschen Gebiets herausgebildet; es wird aus d ­ iesem Grund bei Raupach Meißnisch (‚Misnice‘) genannt. Gemeint ist damit jene überregional sich 2

3

Vgl. Willy Sanders: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen (Sammlung Vandenhoek), Göttingen 1982, S. 20 f. Vgl. zur Bewusstheit des Gegensatzes Hochdeutsch-Niederdeutsch seit dem 13. Jh. Peter v. Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1. Einführung, Grundbegriffe, 14. bis 16. Jahrhundert. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl., bearb. von Claudine Moulin, Berlin, New York 2000, S. 160. Ich beziehe mich auf die Ausgabe der Schrift Bernhard Raupachs im Nachdruck: De lingua Saxoniæ inferioris neglectu atque contemtu injusto. Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache. 1704. Übersetzt von Sievert Graf Wedel. Bearbeitet von Wolfgang Lindow (Schriften des Instituts für Nieder­deutsche Sprache. Dokumentation 10, Niederdeutsch gestern 3), Leer 1984. Dabei gebe ich S­ eiten und Paragraphen nach dem lateinischen Text wieder und zitiere ungekennzeichnet die Übersetzung Wedels. Zur Terminologie vgl. dessen Einführung, ebd., S. 53 f. Im Gegensatz zu Wedel übersetze ich ‚Misnici‘ aber stets mit ‚Hochdeutschsprecher‘, nicht wie er mit ‚Oberdeutsche‘. Raupach erwähnt als Nicht-Niederdeutsche gelegentlich schließlich mitteldeutsche Dialekte, die auch zum Hochdeutschen gehören. Ein Digitalisat der Schrift ist in der digitalen Sammlung der SUB Göttingen abrufbar: https:// gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN666493480 (29.10.20).

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durchsetzende Sprachform des Deutschen, deren Geltung im 17. Jahrhundert weitgehend anerkannt war.4 Aufgrund der Dominanz des Hochdeutschen in wichtigen Domänen der Sprache ab dem 16. Jahrhundert (wie jener der Verwaltung und des Handels) kam es im ursprünglichen niederdeutschen Sprachraum zunehmend zu einer funktionalen Diglossie ­zwischen Nieder­deutsch und Hochdeutsch. Dabei steht im nördlichen Raum das Niederdeutsche als Sprache des Nahbereichs und der Nicht-Gebildeten dem Hochdeutschen als der Sprache von offiziellen Anwendungskontexten und als Sprache der Gebildeten gegenüber. Eine weitere alte Diglossie bestimmt auch in der Frühen Neuzeit noch die Diskussion: der Gegensatz z­ wischen der ‚lingua Latina‘ (als Sprache der Kleriker und Gelehrten) und der ‚lingua vernacula‘ (der Sprache der Laien). Auch den letztgenannten Terminus benutzt Raupach, wenn auch nicht mehr im mittelalterlichen Sinn als (unbestimmte) Volkssprache, sondern im Sinn des Gegensatzes von mündlichem Niederdeutsch und konzep­tuell schriftlicher Sprache, sei diese das Hochdeutsche oder das Lateinische. Der Gegensatz von schriftlicher und mündlicher Sprache hat sich damit eindeutig vom Gegensatz Latein – Vernakularsprachen wegbewegt und findet sich verschoben auf zwei Varietäten größerer Reichweite innerhalb des Deutschen. Der Gebrauch des Begriffs ­‚lingua saxonica‘ ist in ­diesem Kontext sehr weit. Auch Raupach sieht dabei die sächsische Sprache (vulgo die ‚Plat-Teutsche Sprache‘, wie es im Titel heißt) in ähnlicher Weise wie die moderne Dialektologie: als Gesamt von Sprachformen eines relativ großen Gebiets, die starke Ähnlichkeiten zueinander aufweisen.5

1.3 Sprachliche Differenzen als gentile Unterschiede Eine Beschreibung dessen, was wir heute Varietäten nennen, ist im Mittelalter und auch in der Frühen Neuzeit noch schwer zu trennen von der (sprachlichen) Handlung ‚stammesgebundener‘ Unterschiede in den Sprechweisen.6 Das gilt auch für Raupach. Die ‚lingua saxonica‘ bzw. ‚lingua saxoniae‘ ist die Sprache der ‚Saxones‘, d. h. eines Stamms, dem eine 4

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Die ‚Misnici‘ sind zwar vor allem Hochdeutschsprecher, gelegentlich aber auch die Obersachsen. Zur Rolle des Meißnischen vgl. Peter v. Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. 2. Aufl., bearb. von Claudine Moulin, Berlin u. a. 2013, S. 146 – 153. Raupach geht gelegentlich explizit von der Situation in ‚Cimbira‘ aus (was der Übersetzer mit ‚Schleswig‘ wiedergibt), er zielt aber stets auf den gesamten niederdeutschen Sprachraum. Kaiser Otto I. soll 960 in Regensburg bei einem Mahl anlässlich des Weihnachtsfestes eine Rede ‚iucundo saxonizans‘ gehalten haben. Willy Sanders: Imperator ore iucundo saxonizans, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 98 (1969), S.13 – 28, hier S. 25, gibt die Erklärung, der ­Kaiser habe, da er kein Hochdeutsch beherrscht und Latein erst mühsam in hohem Alter erlernt habe, in seinem Mutteridiom Altsächsisch gesprochen. Eventuell hat der Chronist nicht so sehr auf den Gebrauch einer Varietät gezielt, sondern eher auf das gewissermaßen stammesgebundene Verhalten abgehoben,

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bestimmte geografische Lage, eine bestimmte Wesensart und eben auch eine gewissermaßen dazu passende Sprache zukommen. Bei Raupach erscheint die Stammeszugehörigkeit allerdings nicht mehr primär, auch wenn diese mit der sächsischen Sprache eng verbunden bleibt. Raupach schreibt über die Sprache von Holsteinern, Westfalen usw. („Cimbria mea, … Westphalia, Meclenburgum, … Pomerania“, Vorrede, S. 62). Er nennt ­dieses Gebiet stets ‚patria‘, spricht aber nicht explizit von einem sächsischen Stamm.

2. Raupachs Ausgangssituation Bernhard Raupach 7 wurde 1682 als Sohn eines Organisten in Tondern im Herzogtum Schleswig (heute Tønder in Südjütland), geboren und wuchs dort dreisprachig mit Niederdeutsch, Hochdeutsch und Dänisch auf. Nach dem Besuch der Stadtschule studiert er ab 1701 in Rostock und hört dort vor allem bei dem angesehenen Theologieprofessor Johann Fecht, der als orthodoxer Lutheraner gilt. Unter dem Vorsitz des Magisters der Artistenfakultät, Franz Albrecht Aepinus, legt er im Oktober 1704 seine Exercitatio academica vor, eben jene Schrift, um die es mir im Folgenden gehen soll: De linguae saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto. Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache.8 Auf den weiteren Lebensweg und die Rezeption der kleinen Schrift gehe ich im Folgenden nicht ein. Es sei nur erwähnt, dass im Gegensatz zu den unzähligen akademischen Pflichtschriften der Frühen Neuzeit Raupachs Werk zur Verteidigung des Niederdeutschen keine weite, aber eine dennoch durchaus beachtliche Rezeption erfahren hat. 1732 wurde sie sogar einer Rezension in Gottscheds Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit für würdig befunden.9 Vergegenwärtigen wir uns die historischen Voraussetzungen der Zeit um 1700. Die Lage im deutschsprachigen Raum des 17. Jahrhundert war historisch durch den Flickenteppich zahlreicher, mehr oder weniger selbstständiger kirchlicher, Reichs- und fürstlicher Territorien,

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auf die Tatsache also, dass der Salier in der Art der Sachsen (nicht etwa der Schwaben oder Franken) gesprochen hat. Zu Raupachs Leben und Werk vgl. Arno Herzig: Das Werk des Hamburger Geistlichen und Historikers Bernhard Raupach, in: Hamburg. Eine Metropolregion z­ wischen Früher Neuzeit und Aufklärung, hg. von Johann Anselm Steiger und Sandra Richter, Berlin 2012, S. 119 – 134. – Heinrich Kröger: Art. ­Raupach, Bernhard, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz, Bd. 7. Herzberg 1994, S. 1408 – 1411. – Vgl auch den in der Ausgabe Lindows nachgedruckten Nachruf von Georg Ehrenfried Paul Raupach (wie Anm. 3), S. 7 – 50. Der Originaldruck (VD 18 Nr. 12869724) ist auch unter dem Namen Aepinius verzeichnet (VD 18 Nr. 10876979). Vgl. Ingrid Schröder: Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache. Zur Geschichte der norddeutschen Zweisprachigkeit, in: Favete Linguae. Das Bernhard-Raupach-Symposion, Rostock 2004, hg. von Anita Christians-Albrecht im Auftr. der Plattform „Plattdüütsch in de Kark“ (De Kennung, Beiheft 15), Burgdorf u. a. 2007, S. 18 – 33, S. 20.

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religiös durch die konfessionelle Aufteilung in evangelisch-lutherische, evangelisch-reformierte und katholische Gebiete und sprachlich durch die Dominanz des Hochdeutschen geprägt, – letztere jedenfalls in den Domänen, die keine angestammten Bereiche der Latinität mehr waren. Zu den verbliebenen Domänen des Lateinischen gehörte um 1700 das gelehrte Schrifttum nach wie vor.10 Wenn der mit drei Volkssprachen aufgewachsene R ­ aupach seine akademische Schrift über eine Vernakularsprache nach wie vor in der Gelehrtensprache Latein verfasst, so wird er darin genauso wenig einen Widerspruch gesehen haben wie etwa fast 400 Jahre zuvor Dante Alighieri mit dem ersten großen Versuch, die Potenz der Vernakularsprachen zu reflektieren, der ebenfalls lateinischsprachigen Schrift De vulgari eloquentia.11 Um 1700 waren im Gegensatz zum späten Mittelalter in ganz Westeuropa die Volkssprachen bereits akzeptiert. Zumindest gilt dies für große Teile des Verwaltungsschrifttums und in durchaus programmatischer Weise auch für die Dichtung, die in der Regel auf Ausgleichsvarietäten zurückgreift, w ­ elche aus regionalen Varietäten hervorgegangen sind.12 Die bewusst (Hoch-) Deutsch schreibenden Schriftsteller hatten sich um 1700 bereits seit gut einem Jahrhundert, neben den nach wie vor sehr wirksamen altsprachlich-antiken Bezugspunkten, auch mit den Texten und Traditionen aus dem romanischen Raum gemessen und eine eigene Tradition des Schreibens in deutscher Sprache begründet: Das 17. Jahrhundert wird daher zu Recht als eine Zeit intensiver ‚Spracharbeit‘ beschrieben, die letztlich nicht nur die Literatur und Kunst, sondern auch die gesamte Sprachkultur betrifft.13 Dies ist bekannt und kann nicht weiter ausgeführt werden. Für die Einschätzung von Raupachs Schrift ist vor allem wichtig festzuhalten: Die hochdeutsche Sprache ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von ­Raupachs Schrift mehr als eine bloße Ausgleichssprache (wie noch in der Reformationszeit), sondern selbst eine Prestigesprache gegenüber den kleinräumigeren Dialekten geworden.14 10 Zur Stellung des Lateinischen und seines Rückzugs aus angestammten Domänen vgl. v. Polenz 2000 (wie Anm. 2), S. 55 – 64. Einen k­ urzen Abriss zum Wandel des Lateinischen in der frühen Neuzeit gibt Peter Burke: Küchenlatein. Sprache und Umgangssprache in der frühen Neuzeit (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek), Berlin 1990, S. 31 – 59. 11 De vulgari eloquentia wird auf die Jahre 1303/04 datiert. Dante Alighieri: De vulgari eloquentia. Über die Beredsamkeit in der Volkssprache. Lat.-dt. Übersetzt von Francis Cheneval. Mit einer Einleitung und einem Kommentar von Ruedi Imbach (Dante Alighieri, Philosophische Werke 3, Philosophische Bibliothek 465), Hamburg 2007. 12 Zu nennen wären neben dem Hochdeutschen etwa das Toskanische in Italien oder die Sprache der Île de France in Frankreich. 13 Vgl. Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz, Berlin, New York 2000 (Studia Linguistica Germanica 57), vor allem S. 32 – 55. Anmerkungen, Namenregister und Literaturverzeichnis der Ausgabe Raupachs (wie Anm. 3), S. 207 – 217, legen Zeugnis davon ab, auf ­welche Schriftsteller des vergangenen 17. Jahrhunderts Raupach sich bezieht und insofern Anteil an deren Spracharbeit hatte, z. B. auf die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, auf Harsdörffer, Morhof u. a. 14 Dies ist als Ergebnis jener ‚Frühformen von Sprach(en)politik‘ (v. Polenz 2000 (wie Anm. 2), S. 252 – 256) sowie der erwähnten barocken Spracharbeit zu sehen. Vgl. auch den nachfolgenden Beitrag Bernd Rolings.

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Das Niederdeutsche war im Gegensatz dazu seit einiger Zeit im Rückzug begriffen: Bereits im 16. Jahrhundert beginnt der Rückgang des Niederdeutschen in den meisten Domänen; auch die Sprechergruppen wechseln (in der sozialen Schichtung von den Oberschichten ausgehend) immer mehr zum Hochdeutschen. Ab der Mitte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts sinkt die Produktion von Drucken niederdeutscher Sprache fast auf den Nullstand.15 Beim Erscheinen von Raupachs Verteidigungsschrift zur plattdeutschen Sprache ist das Hochdeutsche in Verwaltung, Recht und ­Kirche bereits dominierend eingezogen.16 Der sprachhistorische Ausgangspunkt Raupachs ist somit prekär, insofern die Sprache, um die es ihm geht, gewissermaßen von zwei Sprachen in die Zange genommen wurde: als Volkssprache vom Lateinischen und als schlechter beleumundete vernakuläre Sprachform vom Hochdeutschen. Das Niederdeutsche ist als Varietät nicht nur in den kommunikativen Nahbereich zurückgedrängt, sondern gilt zudem als Sprache niederer (vor allem bäuerlicher) Schichten. Zudem hat das Niederdeutsche um 1700, im Gegensatz zur spätmittelalterlichen Situation, keinen Bezug zu einer nennenswerten aktuellen Schriftproduktion aufzuweisen, die es als Ausdrucksmittel legitimieren könnte.17

3. Die Fundamente von Raupachs Argumentation Raupachs Schrift ist einige Male bereits in ihrem historischen, philologischen und theologischen Wert gewürdigt worden, was auch eine Rekonstruktion seiner Argumentation einschließt.18 Grob gesagt existieren in historischer Betrachtung zwei Hauptpfeiler in der Argumentation Raupachs: Einmal ist dies der Diskurs um die Aufwertung der deutschen Sprache im Zusammenhang der Herausbildung einer nationalen Sprachkultur und Literatur, 15 Zum niederdeutsch-hochdeutschen Sprachwechsel und dem Auslaufen der Druckproduktion in nieder­ deutscher Sprache vgl. v. Polenz 2000 (wie Anm.2), S. 258 – 269. 16 Zusammenfassend zur Lage des Niederdeutschen um 1700 vgl. Schröder 2007 (wie Anm. 9), S. 22 – 30. Zur vorangehenden Entwicklung vgl. Artur Gabrielsson: Die Verdrängung der mittelniederdeutschen durch die neuhochdeutsche Schriftsprache, in: Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Cordes und Dieter Möhn, Berlin, S. 119 – 153. – Utz Maas: Der Wechsel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen in den norddeutschen Städten in der frühen Neuzeit, in: Literatur und Sprache im historischen Prozess. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 2: Sprache, hg. von Thomas Cramer, Tübingen 1983, S. 153 – 170, hier S. 114 – 129. 17 Die wenigen originär niederdeutschen Texte wie die Bauernkomödien und niederdeutschen Zwischenspiele (kurze Übersicht bei Sanders 1982 (wie Anm. 2), S. 171 – 174) bestärken das negative Bild des Nieder­deutschen. Eine Ausnahme bilden Laurembergs Schertzgedichte. 18 So von Birte Arendt: Niederdeutschdiskurse. Spracheinstellungen im Kontext von Laien, Printmedien und Politik (Philologische Studien und Quellen 224), Berlin 2010, S. 66 – 75. – Heinrich Kröger: Sprachdiakonische Ansätze in Raupachs Exercitatio, in: Christians-Albrecht 2007 (wie Anm. 9), S. 60 – 65. – Wolfgang Lindow: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Exercitatio Academica des Bernhard Raupach, in: Christians-Albrecht 2007 (wie Anm. 9), S. 79 – 90. – Schröder 2007 (wie Anm. 9).

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wie sie bekanntermaßen im 17. Jahrhundert prägend stattfand und in Martin Opitz Buch von der deutschen Poeterey (1624), den zahlreichen Sprachgesellschaften und Dichterorden sowie weiteren Werken und Institutionen der barocken Spracharbeit ihren prägenden Ausdruck erhalten hat. Neben ­diesem konnte sich Raupach auf einen weiteren Strang der Argumentation in Bezug auf die Volkssprachen berufen: die Stellungnahme der Reformatoren für die Sprache des ‚gemeinen Mannes‘19. Auf Werke des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts beruft sich Raupach, sie im originalen Sprachgewand, also Nieder- oder Hochdeutsch zitierend, das ganze Werk hindurch. Auch die Kriterien, die er zur Bewertung des Hoch- und des Niederdeutschen benutzt (wie Alter, Deutlichkeit, Allgemeinheit, Wohlklang etc.) sind zu großen Teilen den metasprachlichen Parametern der Wertung von Sprachen im 17. Jahrhundert entnommen.20 Wenn das Niederdeutsche als Schriftsprache genau in jener Zeit, da das Hochdeutsche faktisch dominant geworden war, dennoch als Alternative zu hochdeutscher Schriftlichkeit gegenwärtig war, so lag dies nicht nur an der realen Präsenz von Niederdeutschsprechern auf den Straßen, sondern an der historischen Bedeutsamkeit der Niederdeutsch schreibenden Reformatoren vergangener Zeiten wie Johannes Bugenhagen und Joachim Slüter, die R ­ aupach als vorbildhaft erwähnt (so Bugenhagen als Übersetzer der Bibel in § 20). Verbunden mit dem reformatorischen Anliegen, das Wort Gottes dem gemeinen Mann in dessen Sprache zu verkünden, ergibt sich die Forderung, nicht mehr undifferenziert die Volkssprache, sondern genau die Sprachform, ­welche für die Laiendidaxe in einer Region erforderlich ist, zu wählen. Nur im richtigen sprachlichen Medium kann der gemeine Mann als Glied der Gemeinde und Laienpriester den biblischen Weisungen nachfolgen.21 Ein deutliches Anzeichen, dass eine in dieser Weise protestantisch bestimmte Sprachhaltung das Überzeugungsziel von Raupachs Schrift darstellt, ist die Tatsache, dass die dringendsten Argumente für ein Wieder-ins-Recht-Setzen des Niederdeutschen hervorgebracht werden, wenn es um die innere Mission, die Predigt und den Gottesdienst geht.22

19 Vgl. hierzu v. Polenz 2000 (wie Anm. 2), S. 230 – 238. Zum Konzept des ‚gemeinen Mannes‘ vgl. kurz Peter Blickle: Art. Gemeiner Mann, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4. München u. a. 1989, Sp. 1213. 20 Arendts 2010 (wie Anm. 18), S. 66 – 75, Würdigung von Raupachs Schrift wird in einem Kriterienkatalog (ebd., S. 75) zusammengefasst, der sich mit ihrer Übersicht zum Kriterieninventar des 17. Jahrhunderts gut vergleichen lässt (ebd., 66). Arendt nennt als Bewertungskriterien Alter, Reinheit, Schlichtheit, Tugendhaftigkeit; diese ­seien „konstitutive Elemente sprachkritischer zeitgenössischer Diskurse, in die Raupach sich einschreibt“, als deren Teil der Text sich präsentierte (ebd., S. 74). 21 Kröger 2007 (wie Anm. 18) wählte denn auch in seinem Beitrag zum Raupach-Symposion 2004 den passenden Titel Sprachdiakonische Ansätze. 22 In § 20, S. 146 wird behauptet, das Eindringen des Hochdeutschen gefährde das Seelenheil (‚animarum salutem‘), weil der Laie den in einer anderen Sprache sprechenden Kleriker nicht verstehe. Raupachs Argumente finden sich teils in der Bewegung ‚Plattdüütsch in de Kark‘ wieder; vgl. Heinrich Kröger: Plattdüütsch in de Kark in drei Jahrhunderten, Bd.1 – 4, Hermannsburg 1998 – 2006.

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Sachlich und rhetorisch betrachtet ist Raupachs Abhandlung eine Apologie des Niederdeutschen: die Verteidigung einer Sprache, die als zu Unrecht verachtete Ausdrucksform aufzuzeigen dem Autor das zentrale Anliegen ist.23 Für ­dieses Persuasionsziel zieht er Argumente verschiedener Provenienz und Struktur heran. Der konkrete rhetorische Ausgangspunkt der Abhandlung ist dabei ein fiktives Du, das als zweisprachiger Sprecher figuriert ist. Es ist ­dieses Du, als gewissermaßen kompetentes und souveränes sprachliches Subjekt gedacht, das Niederdeutsch zu ­nutzen in der Lage wäre, sich aber dagegen entschieden hat, weil es, anders als der Autor selbst, diese Sprache verachtet. Diese dialogische ProponentOpponent-Struktur ist bezeichnend, insofern der Zielpunkt die Potenz einer Vernakularsprache ist, w ­ elche in der historischen Sprachrealität von den Gebildeten in ihrer ‚Haltung‘ und ‚Praxis‘ als ungeeignetes Verständigungs- und Gedankenmedium abgeurteilt worden ist. Dass der Opponent ein multilingualer Sprecher ist, der zu einem Code-Switching ins Niederdeutsche in der Lage wäre, stellt die thematisierte Bevorzugung des Hochdeutschen nicht nur als sachlich unbegründet, sondern auch als moralisch bedenklichen Akt heraus.24 Wenn Raupach nachzuweisen sucht, dass die Bevorzugung des Hochdeutschen aus verschiedenen sachlichen Gründen nicht gerechtfertigt ist, so basiert die Verteidigungsstrategie auf dem Angriff, dem Opponenten eine ignorante und hochmütige Haltung zu unterstellen. Diese macht er im Gegenbild der Niederdeutsch-Verächter am modischen, mit allerlei sprachlichem Zierrat sprechenden Hochdeutschsprecher fest. Das Niederdeutsche wird durch diese Strategie zum sprachkritischen Gegenbild des Hochdeutschen, das d ­ iesem als einfache, ehrliche und transparente Sprache gegenübersteht. Es bleibt dabei festhaltenswert, dass in erster Linie das Persuasionsziel eine rhetorisch bedingte Struktur der Schrift hervorbringt, keine ‚aus der Sache‘ begründete. Von den einzelnen sprachkritischen Aspekten scheint mir der Rückgriff auf den Topos der ‚laus temporis acti‘ der wichtigste. Hier geht Raupach über das Ziel, die Verachtung des Niederdeutschen als unbillig zu erweisen, hinaus. Er strebt in einer Art Vorwärtsverteidigung eine Umwertung an, indem er sich auf die vergangenen großen Zeiten des Niederdeutschen beruft.25 Auf ihnen basieren in gewisser Weise andere Kriterien. In einer Mischung aus rhetorisch durchgeformten Argumenten, Anführung von historischem und sprachlichem Material, Zitaten aus Dichtungen (vor allem aus Laurembergs Schertzgedichten) und einigen Apostrophen an das angesprochene Du sucht Raupach über sein explizites Beweisziel hinaus das Niederdeutsche als die dem Hochdeutschen überlegene Sprachform

23 Vgl. zur Apologie und zur Tradition der Apologie von Vernakularsprachen Gerda Haßler: Art Apologie, in: Lexikon der sprachtheoretischen Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts, hg. von Gerda Haßler und Cordula Neis. 2 Bde. Berlin, New York 2009, S. 719 – 749. 24 Genau dies legen die Adjektive lat. ‚iniustus‘ (ungerecht bzw. nicht gerechtfertigt) und frnhd. ‚unbillig‘ im Titel der Schrift nahe. 25 Dies ist vor allem Inhalt der §§ 14 – 16, zieht sich aber auch durch andere Stellen.

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zu erweisen. Auch hierfür ist die Berufung auf die glorreiche Vergangenheit des Niederdeutschen das wirksamste Stützargument. Im Kontext einer rhetorisch-argumentativen Disputationskultur darf Raupachs Apologie des Niederdeutschen nicht als ‚ernster‘ Angriff auf das Hochdeutsche verstanden werden, dessen Dominanz ja durch die puren Invektiven gegen diese Sprachform schon anerkannt wird. Das ursprüngliche Publikum im universitären Kontext einer norddeutschen Universitätsstadt, deren Lehrer aus verschiedenen Gegenden des deutschsprachigen Raums stammen und in der alten Gelehrtensprache kommunizierten, während überall auf den Straßen Niederdeutsch zu hören war, ist nicht zu unterschätzen. Die mehrfache Diglossie der historischen Situation ist das Framing von Raupachs Schrift – und zugleich Grundlage für die im disputativen Kontext spielerische Polemik, was sich daran zeigt, dass der spätere Geistliche Raupach keine Anstalten machte, als Prediger selbst auf das Niederdeutsche umzustellen.26 Gegen Ende der Schrift fallen die sachbezogene und die rhetorische Argumentation zusammen in der Forderung, Niederdeutsch als Sprache der Verwaltung, des Rechts und der Verkündigung erneut zu wählen und in das alte Recht einzusetzen (§ 28). Die Abhandlung endet rhetorisch mit einer Apostrophe in der 2. Person Plural an die Leser – dem Appell, die Verachtung in Gunst umzuwandeln: „Favete linguis!“ 27

4. Raupachs Argumentation: Exemplarische Untersuchungen Wolfgang Lindow diagnostiziert einen klaren Aufbau der Schrift, wenn er behauptet, ­Raupach folge dem Vorbild von Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Literatur (zuerst 1682).28 Lässt sich dieser Befund halten? Morhof gliedert sein Werk in folgende Teile: „I. Von der Teutschen Sprache, II. Von der Teutschen Poeterey Uhrsprung und Fortgang, III. Von der Teutschen Poeterey an ihr selbsten.“ Lindow zufolge orientiert sich Raupach direkt an Morhof, indem er in einem ersten Abschnitt die Entwicklung der Sprachen darstelle, vor allem des Niederdeutschen, dann eine Gegenüberstellung Niederdeutsch – Hochdeutsch unternehme, während er im dritten seine Thesen verteidige. Nun soll keineswegs geleugnet werden, dass Raupach Morhof einiges verdanken könnte. Es fehlen allerdings explizite Signale, ­welche die Wirksamkeit der angeblichen Quelle in Hinblick auf den angeblich klaren Aufbau bezeugen. Plausibler scheint mir Ingrid Schröders 26 Vgl. Schröder 2007 (wie Anm. 9), S. 18. 27 § 28, S. 204, – eine Anspielung auf den Kultus der Römer, bei dem vor Beginn der Handlung zur Andacht und Stille aufgefordert wird. 28 Lindow 2007 (wie Anm. 18), Grundlagen, S. 80 f. – Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, deren Uhrsprung, Fortgang und Lehrsätzen, Kiel 1682 (VD 17, Nr. 1:717270N).

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Rekonstruktion von Raupachs gedanklicher Ordnung zu sein. Sie stellt zwei Argumentationsstränge heraus, von denen einer auf die Sprachstruktur, der andere auf den Sprachgebrauch abhebt.29 In dieser Weise lassen sich viele Argumente Raupachs aufteilen – wenn man auch gegen diese Rekonstruktion einwenden muss, dass sich diese Momente nicht in der expliziten Gliederung zeigen, sondern vom modernen Sprachdenken (mit seinen Oppositionen wie ‚langue‘ – ‚parole‘, ‚Kompetenz‘ – ‚Performanz‘) an die alte Schrift angelegt werden. Deren Gestus ist aber, wie gesagt, insgesamt weniger von philologischer Strenge als von von Rhetorizität geprägt. Statt systematischer Erörterungen stehen einmal zeitkritische, dann geschichtliche, dann wieder sprachliche Erwägungen im Mittelpunkt. Was sich als Redundanz auf der argumentativ-inhaltlichen Ebene lesen lässt, ist eher eine Funktion ihres Überzeugungszwecks. Wenden wir uns exemplarisch ausgewählten Argumenten zu. Zunächst mustere ich die Klammer von Vorrede und Schlussabschnitt, in dem das primäre rhetorische Überzeugungsziel aufscheint, der Niederdeutschkompetente möge wieder Liebe zu seiner (eigenen) Sprache entwickeln und diese benutzen. In der Vorrede geht ­Raupach darauf ein, dass Menschen aller Länder (er nennt Frankreich, Italien oder Spanien) ihre eigenen Sprachen wertschätzten und zu deren Pflege etwas unternähmen (wie etwa die Gründung von Sprachakademien). Auch für das Oberdeutsche, die Meißner Sprache, gelte dies (er nennt die ‚Fruchtbringende Gesellschaft‘, S. 62). Nur jene Niederdeutsch sprechenden Teile in Deutschland schämten sich ihrer Sprache. Raupach sei es nun seinem geliebten Vaterland („patria…dulcissima“, S. 64) schuldig, dies zu ändern. Der Schlussabschnitt (§ 28) schließt sich mit d ­ iesem Vorwort zu einer Klammer zusammen. Sich an die ‚Clarissimi Saxones‘ (S. 202) wendend, also genau jene gebildeten Niederdeutschkompetenten, die lieber Hochdeutsch benutzen, wird behauptet, dass deren Einwände der Wind der Wahrheit zerzaust habe („veritatis dissipetur ventis“, ebd.). Raupach stellt sich und seiner Schrift somit ein Selbsttestat der rhetorischen und sachlichen Billigkeit der Argumente aus, indem er den mindestens dreisprachig figurierten Opponenten (dem neben Latein eben Niederdeutsch und Hochdeutsch Verstehenden), dessen Einwänden und ihrer Widerlegung die vorangehenden drei Abschnitte schon galten (§§ 25 – 27), nun endgültig auffordert, die unbillige Verachtung seiner sächsischen Sprache fahren zu lassen. Diese letztgenannten Abschnitte gelten den Einstellungen und Selbstwahrnehmungen des angezielten Publikums als möglichen Sprechern des Niederdeutschen in jenen Domänen, aus denen es vertrieben worden ist, und können als Zeugnisse eines metasprachlichen Urteils der (Selbst-)Wahrnehmung einer Sprache gelten: Man traut sich nicht, Niederdeutsch zu sprechen, weil es einem bäuerlich vorkomme (§ 25), weil der Sprache (im Ohr der Sprecher!) der Wohlklang fehle (§ 26) und weil man fürchte, verspottet zu werden (§ 27). Für alles findet Raupach Gegenargumente (als Erwiderung auf den letzten Einwand z. B. die Empfehlung, man möge nicht nach Machiavellis Maximen mit seiner eigenen Sprache 29 Schröder 2007 (wie Anm. 9), S. 20.

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umgehen, S. 198). Entscheidend ist, dass es hier nicht mehr um die sachliche Einschätzung geht, sondern um die ‚attitudes‘, die Spracheinstellungen.30 Ein Beleg dafür sehe ich auch in der Tatsache, dass alles, was als Einwand eines (hier nur noch als zaghaft figurierten) Du behandelt wird, in vorangegangenen sachbezogenen Abschnitten schon behandelt wurde. So finden wir neben den Klagen über die Geringschätzung des Niederdeutschen als ‚idioma patriae‘ und den daraus folgenden Einwänden eines gebildeten Sprechers, sich dieser Sprache zu bedienen, auch den linguistischen Befund, dass das Niederdeutsche nur noch in wenigen Domänen gesprochen wird (so in §§ 2, 5, 6, 9 – 12, 20 – 22). Hinter der Rhetorik der akademischen Schrift, wie sie durch die akademische Redeform Disputation jahrhundertelang gefördert wurde, stehen somit in Bezug auf den Rückgang der Sprache wegen bestimmter geschichtlicher Entwicklungen und des damit einhergehenden Prestigeverlustes durchaus richtige Urteile in Bezug auf die Sprachsituation der eigenen Zeit.31 Wenn die Diagnose dafür letztlich in der ‚persönlichen‘ Haltung der einzelnen Sprecher gesucht wird, dann zeigt dies nur, dass wir um 1700 noch keinen gewissermaßen soziolinguistischen Befund ‚ante litteram‘ erwarten dürfen. Dennoch wird der Sprachwandel keineswegs einseitig in das Moralische oder Persönliche hineinverlegt, sondern durchaus im Rahmen des Sprachdenkens der Zeit mehrfache Ursachen erwogen. So setzt Raupach auch bei der Veränderbarkeit der Sprachen, der ‚mutabilitas linguarum‘, an. Dieser Begriff wird ambivalent gedacht, insofern Veränderung zum Positiven oder Negativen führen kann. Es unterbleibt keineswegs eine Querverbindung zu dem allgegenwärtigen Topos der ‚laus temporis acti‘, die das im Vergleich zum Niederdeutschen wesentlich stärker der Veränderung unterworfene Hochdeutsche wegen seiner Modeabhängigkeit (§ 10), der Vermischung mit anderen Sprachen (§§ 2, 13) und des unnötigen Zierrats wie etwa der Titulaturen tadelt (§ 15), sodass Veränderbarkeit einmal geschichtlich betrachtet wird, dann wieder mit der tendenziell negativierten „inconstantia rerum“ (§ 10, S. 100) in enger Verbindung steht. Dem Aufschwung des Hochdeutschen steht der Abschwung des Niederdeutschen gegenüber, dessen positive Attribute alt und einfach, klar, rein und männlich sind. Die Maßstäbe, denen das Niederdeutsche in positiver Weise gerecht wird, sind ‚antiquitas‘, ‚simplicitas‘ und ‚puritas‘; sie werden immer wieder genannt. Darüber hinaus spricht Raupach auch von der Stärke und Männlichkeit der niederdeutschen Sprache (‚fortitudo‘ und ‚virilitas‘), deren Agonie unter diesen Vorzeichen geradezu eine tragische und entwürdigende Dimension erhält.32 30 Hierzu in Bezug auf das Niederdeutsche Arendt 2010 (wie Anm. 18), S. 7 – 18. 31 So auch die Argumentation von Schröder 2007 (wie Anm. 9). 32 Die Kriterien haben Arendt 2010 (wie Anm. 18), zusammenfassend S. 75, und Schröder 2007 (wie Anm. 9) ausführlich behandelt. Als Agonie erscheint der Sprachrückgang in § 6; die entwürdigende Dimension wird in der Metapher ausgedrückt, das Niederdeutsche sei vom Pferd auf einen Esel (ebd., S. 90: „ab equo ad asinum“) umgestiegen.

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Aus den genannten Gründen dürfte klar sein, dass die ‚mutabilitas linguarum‘ noch nicht jene essentiell geschichtliche Dimension des Sprachlichen ist, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts fokussiert wird, sondern als empirische Möglichkeit der Veränderung gedacht wird, die sich stets den je äußeren Umständen verdankt.33 Dabei hat Raupach für die Veränderungen, ­welche durch die Reformation bewirkt wurden, einen durchaus historischen Blick, sieht man einmal von der konfessionell-polemischen Sicht auf das papistische Mittelalter ab. Die Bemühungen der Reformatoren um die lateinische Schulbildung (§ 5, S. 80) wird erwähnt (verbunden mit einer Invektive gegen das Latein der Scholastik). Durch Luther sei nicht nur das Licht des Evangeliums (‚Evangelii lux‘), sondern auch die Sprache der Prediger, die in Wittenberg ausgebildet wurden, in das niederdeutsche Sprachgebiet gekommen (§ 9, S. 98). Das Eindringen des Hochdeutschen als neuer (Volks-)Sprache wird damit erklärt; zugleich werden dessen verständnishindernde Effekte das erste Mal getadelt. Auch die Rückkehrer von einem Studium einer Universität des hochdeutschen Sprachraums werden erwähnt (§ 10, S. 100) und dann ebenso für ihren sprachlich lächerlich scheinenden Habitus getadelt (ein solcher Niederdeutschsprecher soll eine Katze einen „Maus-Hund“ genannt haben, ebd.). Schließlich wird noch als weiterer Grund für das Anwachsen des Hochdeutschen in allen Domänen – auch dies ganz zutreffend – die Dominanz des Hochdeutschen auf dem Buchmarkt (§ 11) genannt. Bemerkenswert ist das Anführen der eigenen Sprachbiografie im dreisprachigen Tondern, in dem neben dem Dänischen und Niederdeutschen das Hochdeutsche für die Gemeinde als nahezu unverständliche Fremdsprache erscheint und die misslungene Sprachpolitik der evangelischen Prediger mit den die Indianer in lateinischer Sprache missionierenden Jesuiten verglichen wird (§20, S. 148 – 150).34 Was Raupachs gewissermaßen proto-linguistische Aufstellungen und Urteile anbelangt, so sind sie dem Geist seiner Zeit verhaftet. Zu den Kriterien ‚antiquitas‘, ‚simplicitas‘ und ‚puritas‘, die er dem Niederdeutschen im Gegensatz zum Hochdeutschen zuspricht, lässt sich bemerken, dass Raupach sich am Vorbild Morhofs und anderer orientiert haben wird. Der Grundsatz, je einfacher eine Sprache, umso reiner und älter sei sie, wird von 33 Raupach führt dabei, Brian Waltons und Jean Bodin folgend, drei Gründe für die Veränderung der Sprachen an: das Fortschreiten der Zeit, die Vermischung der Völker und die Natur der jeweiligen Landschaft, in der eine Sprache beheimatet ist (§7, S. 90). Zur Bewusstheit der Veränderbarkeit von Sprache vgl. Gerda Haßler, Art. Sprachveränderung, in: Haßler, Neis 2009 (wie Anm. 23), S. 549 – 566, hier S. 556: „Das Konzept der Sprachveränderung gehört zu den zentralen Gegenständen der Sprachreflexion des 17. und 18. Jhs, bei der ein Bewusstsein für die Veränderlichkeit von Sprachen deutlich hervortritt.“ 34 Karl N. Bock: Mittelniederdeutsch und heutiges Plattdeutsch im ehemaligen dänischen Herzogtum Schleswig. Studien zur Beleuchtung des Sprachwechsels in Angeln und Mittelschleswig, Kopenhagen 1948, S. 31 – 73, zeichnet ein differenziertes Bild für das Herzogtum Schleswig, welches den Wechsel zum Hochdeutschen nicht so radikal wie Raupach darstellt.

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Raupach konkretisiert.35 So könne man an der Anzahl der Zusammensetzungen das Alter der Sprache ablesen. Die Einfachheit zeigt sich dabei auf verschiedenen Ebenen, im lautlichen genauso wie im morphologischen und syntaktischen Bereich. So sei eine Sprache mit Monophthongen einfacher als eine mit Diphthongen. Und die Laute, die nach der (später, nämlich erst seit Jacob Grimm so bezeichneten) hochdeutschen Lautverschiebung entstanden sind, dienen auch Raupach als Beispiel dafür, dass das Hochdeutsche jünger sein muss als das Niederdeutsche. Ein Beweis für das Alter findet sich in § 14. Hier soll gezeigt werden, dass das Niederdeutsche die Stämme bewahrt, das Hochdeutsche sie aber verändert habe: Es werden jeweils in zwei Kolumnen die niederdeutschen Begriffe (‚Saxonicè‘) und die hochdeutschen Begriffe (‚Misnicè‘) gegenübergestellt wie etwa ‚Thorn‘ und ‚Zorn‘ oder ‚Tecken‘ und ‚Zeichen‘. Aus der heutigen sprachhistorischen Standardlehre, nach der die germanischen stimmlosen Plosivlaute (p, t, k) im (sich aus dem germanischen Kontinuum auch dadurch ausgliedernden) Hochdeutschen zu Affrikaten oder Spiranten und die stimmhaften Plosive (b, d, g) zu Tenues verschoben werden, sind die Beispiel korrekt gewählt; sie werden aber natürlich wieder der Gegenüberstellung von einfach=alt=unverdorben vs. komplex=neu=verdorben gleichgeordnet. Dabei werden die lauthistorischen, morphologischen und syntaktischen Konstanzen bzw. Veränderungen auch mit dem Geist der niederdeutschen bzw. hochdeutschen Gebiete verknüpft: Seiner Natur entsprechend ist der Niederdeutsche bei der alten, reinen und klaren Sprache geblieben, während vor allem in jüngster Zeit sich in der Entwicklung des Hochdeutschen ein Trend zur negativ gesehenen Abwechslung zeige.36 Zum Schluss möchte ich nochmals auf die Argumentation im Zusammenhang mit der kirchlichen Verkündigung (und im Nachgang dazu mit Problemen, die sich in Schul- und Bildungswesen sowie in der Verwaltung zeigen) zu sprechen kommen, der Raupach sich im letzten Teil der Schrift (§ 20 – 23) zuwendet. Die sächsische Sprache ist mittlerweile als die ältere und ursprünglichste und zugleich als die unvermischteste, einfachste und klarste unter den deutschen Varietäten erwiesen. Raupachs Argumentation basiert, wie bereits gesagt, auf dem Plädoyer der Reformatoren für die Sprache des gemeinen Mannes, die bei ihm allerdings ins Sprachkritische in Hinblick auf das Hochdeutsche und Apologetische in 35 Vgl. Lindow 2007 (wie Anm. 9), S. 80. 36 Dafür findet Raupach einen Gewährsmann in der Literatur: den Rostocker Professor Johann Lauremberg, der Ende des 17. Jahrhunderts mit seinen ‚Scherzgedichten‘ Erfolg hatte und der von ihm oft zitiert wird. Diesen führt er an, als es um die ‚mutabilitas‘ des Hochdeutschen und die ‚stabilitas‘ des Niederdeutschen geht, die sich in Art von negativ und positiv besetztem Vertreter eines Paars gegenüberstehen (§ 13, S. 110: „Unse Sprake blyfft altyd bestendig und vest,/ Als se ersten was, even so ys se ok lest. / Juwe verendert sick alle föfftig Jahr, / Dat könen de Schrifften bewiesen klahr“). Johann ­Lauremberg, Johann: Niederdeutsche Scherzgedichte (Neudrucke deutscher Litteraturwerkee des XVI. und XVII. Jahrhunderts). Mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar hg. von Wilhelm Braune, Halle an der Saale 1879.

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Hinblick auf das Niederdeutsche umgeformt wird. Paragraph 20 zufolge betrifft die Sprachsituation zur Zeit Raupachs, der Situation im niederdeutschen Sprachraum im ­Zeichen der Dominanz des Hochdeutschen, sogar das Seelenheil vieler („salutem animarum“, S. 146). Als eindrückliches Beispiel gilt ihm die Unverständlichkeit der hochdeutschen Erläuterung der Zehn Gebote in Luthers Katechismen. Raupach führt folgende für einen Niederdeutschsprecher unverständlichen Wendungen an, wobei dem (angeblich) unverständlichen das verständliche niederdeutsche Wort folgt: ‚Zaubern‘ statt ‚Tövern‘ (2. Gebot); ‚Gehorchen‘ statt ‚Gehorsam wesen‘ (4. Gebot); ‚fördern‘ statt ‚syn beste söcken‘ (5. Gebot); ‚Gemahl‘ für ‚Mann edder Wyff‘ (6. Gebot), ‚Afterreden‘ statt ‚Achter klappen‘ (8. Gebot); ‚Bösen Leumund‘ statt ‚Verlömden‘; ‚Förderlich‘ für ‚behilflick‘ (9. Gebot), ‚Abspannen‘ für ‚Affbrüden‘ (10. Gebot) und ‚Heimsuchen‘ für ‚Tho Hues Söcken‘ im Beschluss (ebd., S. 148). 37 In Paragraph 21 wird ein weiteres Argument für die innere Mission genannt, dass über die Gemeinsprachen-Argumentation hinausgeht: Die niederdeutschen Bibelübersetzungen ­seien von mindestens ebensolcher Qualität wie die hochdeutschen, das heißt: wie die LutherBibel. Die Vorzüge der niederdeutschen Bibelübersetzung werden anschließend in einem Vergleich der Luther- mit der Bugenhagen-Bibel in der Auflage Wittenberg 1665 demonstriert (S. 154 – 160). Die zugrunde liegende Behauptung, ­welche durch die pure Gegenüberstellung mit teilweisem Rückgriff auf den hebräischen Wortlaut des Alten Testaments untermauert wird, bezieht sich dabei vor allem auf die (letztlich theologische) Kategorie der Richtigkeit der Übersetzung, nicht auf den Maßstab ästhetischer Qualität. Der ursprünglich angezielte Sinn des biblischen Urtexts lasse sich genauso gut ins Niederdeutsche wie in andere Sprachen auch übertragen. An einigen Stellen überragten die Bemühungen Bugenhagens sogar die von Luther, was Raupach mit einer Gegenüberstellung aus Übersetzungen der Genesis zu beweisen sucht.38 In ­diesem Zusammenhang ist das protestantische Verständnis der Wortverkündigung bedeutsam, das Raupach in polemischer Abgrenzung zur alten ­Kirche und in Bezug auf das Niederdeutsche entfaltet: Einem lutherischen Prediger reiche es nicht, wenn die Gläubigen beten „wie die Nonne den Psalter“, nämlich „sine sensu, 37 Aus heutiger linguistischer Sicht ließe sich einiges kritisieren, so die Tatsache, dass die Beispiele auf verschiedenen Ebenen (lautlichen, lexikalischen und phraseologischen) liegen. Zudem zeigt sich, im Gegensatz zu den vorangegangenen Ausführungen, dass das Niederdeutsche in dieser Liste keineswegs das Einfache, das Hochdeutsche aber das Komplizierte ist (die Verteilung von Simplicia und Verb­gefügen verläuft in beide Richtungen). Dies kann hier aber nicht interessieren; hat man es doch in erster Linie mit dem metasprachlichen Urteil eines hochdeutsch-niederdeutsch aufgewachsenen Sprechers zu tun, der aus gewissermaßen sprachpolitischer Sicht urteilt. 38 So wird Luthers Übersetzung von Gen 2,6 („Also ward vollendet Feuchtet alles Land“) verglichen mit der Bugenhagens („Also wurd vollenbracht. Dede vuchtmakende dat bouenteste der erde“); dabei geht Raupach nicht auf den Wortlaut der Vulgata („sed fons ascendebat e terra inrigans universam superficiem terrae“), sondern auf den hebräischen Text zurück, der sich mit einem Kausativum genauer übersetzen lässt (als ‚der trinken macht das Angesicht der Erde‘, S. 154), – was Raupach allerdings nicht explizit bemerkt, sondern vom kundigen Leser erschlossen werden muss.

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sine intelligentia“ (§ 22, S. 162), gemeint ist: weil die evangelische Verkündigung auf den Nachvollzug des Wortes setzt. Das Wort Gottes sei aber in allen Sprachen ausdrückbar; ebenso wie Gott alle Sprachen verstehe, was in die rhetorische Schlussfolgerung mündet, die niederdeutsche Sprache als Gottes Geschenk (‚donum suum‘) zu sehen, ja sogar diese Sprache als ‚divina Saxonica‘ zu apostrophieren (ebd.). Ich erwähne nur kurz die weiteren Argumente für eine Wiederaufnahme des Gebrauchs der niederdeutschen Sprachen in allen Domänen, angefangen mit der kirchlichen Verkündigung über die Schule bis zur Dichtung: Sie beruhen mehr oder weniger auf dem Anführen von hervorragenden Beispielen aus der Vergangenheit (neben Bibelübersetzungen niederdeutsche Glossare, Kirchenordnungen, Reinke de vos und natürlich wieder Laurembergs Scherzgedichte, § 23) und beweisen implizit, dass eine Sprache, die in der Vergangenheit zu wertvollen Textproduktionen befähigte, dies auch in der Zukunft zu leisten imstande sei. Bevor Raupach sich an die Ausräumung der letzten möglichen Einwände macht (§ 25 – 26), wie sie schon dargelegt wurde, folgen – in der Funktion einer Gelenkstelle – in Paragraph 24 zwei Klarstellungen. Die ‚argumenta‘ (S. 176) s­ eien ausgeführt; klargestellt wird aber, dass es keineswegs gegen die Hochdeutschsprecher gehe (‚contra ipsos Misnicos‘), sondern der Appell sich ‚nostris Saxonibus‘, also ‚uns Niederdeutschsprechern‘ widme (ebd.). In ­diesem Zusammenhang wird als Einwand im Vorfeld die Behauptung des imaginären Opponenten angeführt, es bestehe (von den insgesamt kleineren Unterschieden im Konsonantismus und Vokalismus abgesehen) ohnehin kein linguistischer Abstand z­ wischen Nieder- und Hochdeutsch. Dieser Voreinwand, welcher Raupachs flammendem Appell in der Tat den Boden unter den Füßen wegziehen würde, wird mit der Technik einer Demonstration anhand von Exempla (induktive rhetorische Beispiele) in Form einer in keiner Weise erläuterten Wort- und Phrasenliste in jeweils zwei Spalten (‚Saxonicè‘, ‚Misnicè‘, S. 178 – 188) beiseite geräumt, die zeigen soll, dass kaum ein Hochdeutschsprecher alle niederdeutschen Wörter und Wendungen zu verstehen in der Lage wäre. Es ist dies das einzige Argument für den (bis in unsere Zeit bekanntlich umstrittenen) Status des Niederdeutschen als eigener Sprache, – wenn auch nicht im Sinn einer Entgegensetzung zu einem Dialekt, Idiom etc. Nach der Ausräumung aller Einwände gegen die Verwendung des Niederdeutschen in den folgenden Paragraphen wird im letzten Abschnitt der Bogen der Argumentation zum flammenden Aufruf, dem Niederdeutschen wieder günstig zu sein, gespannt und der Pfeil schließlich mit dem Aufruf: ‚Favete linguis‘ abgeschossen.

5. Fazit Raupachs Schrift lässt sich verschieden lesen: als Teil eines Diskurses, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schrift schon über mindestens 200 Jahre andauerte; als Ausdruck der ‚barocken‘ Spracharbeit, auf die der Autor sich mit ihren Protagonisten immer wieder

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beruft; als Sammlung sprachlicher Beobachtungen und metasprachlicher Urteile, die mehr oder weniger direkt die Sprachsituation im norddeutschen 17. Jahrhundert, vor allem in dessen protestantischen Teilen, widerspiegeln. Diese Lesarten existieren in der Forschung bereits; und ich hoffe, dass ich durch eine leicht veränderte Perspektive der Wertung von Raupachs Schrift neue Aspekte hinzufügen konnte. Im Kontext der frühneuzeitlichen Situation knüpft De neglectu atque contemtu injusto linguae saxonicae natürlich an Diskussionen an, die von der Emanzipation des (Hoch-)Deutschen gegenüber dem Lateinischen und den ‚welschen‘ Sprachen ihren Ausgang nahmen. Auf der anderen Seite aber grenzt Raupach sich von den Inhalten und Strukturen dieser Diskussion ab, die ja durchaus auf das Hochdeutsche bezogen waren, indem er den Emanzipations- und Umwertungsgestus nicht auf die antiken Sprachen oder die gewissermaßen modischen Sprachen der Romania (Italienisch und Französisch) bezieht, sondern auf das zweigeteilte Spannungsfeld ‚innerhalb‘ der deutschsprachigen Varietäten: auf die unbillige Verachtung des Niederdeutschen, die von den Sprechern des Hochdeutschen ausgeht. ­Raupach tut dies aber nicht in der primären Absicht, ein philologisches Bild vom Niederdeutschen im Gegensatz zum Hochdeutschen zu zeichnen, sondern zielt auf eine Änderung des sprachlichen Habitus in Sachen der Sprachverwendung. Und in ­diesem Punkt ließe sich sogar heute noch von ihm lernen. Wie auch immer Sprachwandel, Sprachwechsel und die Rolle der Spracheinstellungen beschrieben werden, so standen bis in die jüngere Zeit vor allem die im weiten Sinn sozialen Ursachen im Vordergrund. Jeder Prozess dieser Art ist aber letztlich eine Beschreibungsabstraktion einer Summe von individuellen Entscheidungen des oder der jeweiligen Sprecher(in), in einer gegebenen Situation diese oder eine andere Art der zur Verfügung stehenden Varietäten und Sprachformen zu wählen.39 Aus d ­ iesem Grund ist auch eine globale Sprachsituation prinzipiell wandelbar. Dass Einstellungen und (Selbst-) Wahrnehmungen einer autochthonen Sprache in doppelter Perspektive, aus der eigenen Sprechersicht und einer imaginierten Distanzbetrachtung in der Reflexion, rhetorisch gedacht ist, scheint mir (auch von Vorgaben des Zeitalters abgesehen) beinahe zwingend. Raupachs Schrift sollte in Zukunft mehr als schriftstellerisches und wissenspoetologisches Dokument denn als protolinguistischer Text betrachtet werden. Es wäre dies eine Betrachtungsweise von sprachreflektierenden Werken, die freilich für viele Texte noch ansteht.

39 Dass historischer Sprachwechsel auf Entscheidungen der Sprecher im Diskurs zurückgeht, betont jüngst Walter Haas: Sprach- und Varietätenwechsel in der Geschichte des Deutschen, in: Handbuch Sprache in der Geschichte (Handbücher Sprachwissen 8), hg. von Jochen A. Bär, Anja Lobenstein-Reichmann, Jörg Riecke, Berlin, Boston 2019, S. 313 – 341.

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Bernd Roling

Caspar Abels Sassine: Eine Apologie des Niederdeutschen im 18. Jahrhundert *40 1. Einleitung Wissenschaftliche Lehrdichtung diente in der Frühen Neuzeit nicht allein der Verbreitung von Wissen, nur zu oft besaß die Dichtung einen Mehrwert, über den die Prosa nicht verfügte. Poesie wertete den Gegenstand auf, den sie versifizierte; sie verschaffte ihm einen legitimen Ort im sozialen Gefüge. Lehrgedichte wurden gelesen und deklamiert und schufen über ihre Objekte eine Identität, eine gesellschaftliche Formation, die sich durch den Rückbezug auf den besungenen Gegenstand erst ergab. Dies konnte eine wissenschaftliche Gesellschaft sein, ein Forscherverbund wie die Royal Society, eine Gemeinschaft von Aristo­ kraten, die gemeinsam Tabak importierten, aber auch die englische Nation. Noch deutlicher konnte dieser identitätsformende Effekt von Poesie hervortreten, wenn der Gegenstand des Gedichtes mit der Sprache, ja mit einer bestimmten Sprache zusammenfiel. Ein Gedicht, dessen Inhalt die Poetik war, dokumentierte sich selbst, war Medium und Objekt gleichermaßen. Ein Gedicht, das den Gebrauch einer scheinbaren Marginal- oder Minderheitensprache empfahl, konnte deren Gebrauchswert unter Beweis stellen, indem sie die Sprache als Dichtersprache selbst zur Anwendung brachte. Die didaktische, wenn nicht gar apologetische Wirkung des Gedichtes fiel mit seinem bloßen Vorhandensein zusammen. Das Gedicht verschaffte seiner Sprache Gehör und der Sprache als Gegenstand wieder einen Platz im Konkurrenzgeflecht partikularer Interessen. Wer also mit dieser Absicht in niederdeutscher Sprache schrieb, beanspruchte Raum für die niederdeutsche Sprache und schuf ihn zugleich. Ein solches Gedicht, das Medium und Gegenstand gleichermaßen war, hatte im 18. Jahrhundert der Ascherslebener Pfarrer und Antiquar Caspar Abel geschrieben, die Sassine, ein Epyllion, das wie ein Hybrid zugleich ein Lehrgedicht der niederdeutschen Sprache sein wollte. Kaum ein niederdeutscher Text dieser Zeit beantwortet die Frage nach der Stellung des Niederdeutschen in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in kaum einem anderen Werk wird die Kluft, die ­zwischen den heimatgebundenen Träumen seiner Sprecher und der tatsächlichen Bedeutungserosion des Niederdeutschen bestand, deutlicher und *

Der vorliegende Beitrag ist aus dem DFG-Projekt ‚Aristoteles in Helmstedt‘ und dem Projekt ‚Lamemoli‘ (Academy of Finland and University of Jyväskyla, Nr. 307635) hervorgegangen. Mein Dank geht an die Mitarbeitenden Benjamin Wallura und Amira Assmann.

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werden die Verlustängste, die sich mit damit verbinden mussten, selbst zum Thema eines Gedichtes. Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Rostocker Historiker und Universitätsbiblio­ thekar Adolph Hofmeister die Sassine aus dem Manuskript abgedruckt.1 Seitdem war es immer wieder einmal in den Historien der niederdeutschen Sprache erwähnt worden, ohne dass ihm eine eingehende Untersuchung gewährt worden wäre.2 Der vorliegende Beitrag möchte zwei Dinge leisten: In einem ersten Schritt soll das Gedicht in seinen größeren geistesgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. In welchem Umfeld ist die Sassine entstanden, was waren die Motive seines Verfassers, die sich aus ­diesem Umfeld ableiten lassen? Es wird deutlich werden, dass Abels Werk sich nur schwer aus dem Milieu der niedersächsischen Antiquare und Lokalhistoriker lösen lässt, das vor allem in Helmstedt angesiedelt war. Der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung legt eine Interpretation des Gedichtes vor, die seinem z­ wischen Lehrgedicht und Epos schillernden Charakter gerecht wird. Welche Ziele verfolgt Abel und wie gelingt es ihm, sein Anliegen vorzubringen? Welche Mittel standen ihm dazu zur Verfügung?

2. Zwischen Urgeschichte und Niederdeutsch: Caspar Abel und der Antiquarismus in Helmstedt Caspar Abel (1676 – 1763) war in Hindenburg in der Altmark geboren worden, einer Region, die am äußersten Rande des niederdeutschen Sprachgebietes lag.3 Nach einer ersten Ausbildung an der Lateinschule in Braunschweig hatte Abel zuerst in Halle ein Studium der 1

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Adolph Hofmeister: Caspar Abels niederdeutsche Gedichte, in: Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 8 (1882), S. 1 – 25, dort die Transkription der Sassine S. 7 – 19. − Erwähnt wird das Exemplar auch bei Wilhelm Freis: Deutsche Dichterhandschriften von 1400 bis 1900. Gesamtkatalog der eigenhändigen Handschriften deutscher Dichter in den Bibliotheken und Archiven Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der ČSR, Leipzig 1934, S. 3. Eine erste, wenn auch fehlerhafte Würdigung Abels als niederdeutscher Dichter findet sich schon bei Johann Friedrich August Kinderling: Erster Grundriß einer Literatur der plattdeutschen oder niedersächsischen Sprache und ihrer Töchter, in: Für Deutsche Sprache, Litteratur und Cultur-Geschichte 1 (1794), S. 87 – 166, hier S. 135 f. − Unter den k­ urzen Einlassungen zur Sassine Abels außerdem z. B. H. K. A. Krüger: Geschichte der niederdeutschen Literatur. Nachdruck der Ausgabe Schwerin 1913, Bremen 2010, S. 58 f. − Wolfgang Stammler: Geschichte der niederdeutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 1920, S. 76. − Hermann Teuchert: Der Schicksalsweg der niederdeutschen Sprache, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 77 (1954), S. 120 – 133, hier S. 127. Teuchert nennt die Sassine einen „gut gemeinten, aber ungeschickten und unzeitgemäßen Werberuf“ und ignoriert dabei leider ihren weiteren Kontext. − Handbuch zur niederdeutschen Sprachund Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Cordes, Dieter Möhn, Berlin 1983, S. 438. Als kurze Biographien Abels Karl Goedeke: Art. Abel, Kaspar, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1 (1875), S. 12. − Johannes Schultze: Art. Abel, Kaspar, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1 (1953), S. 12. − Außerdem mit Werkverzeichnis, Gerhard Dünnhaupt: Caspar Abel, in: Bibliographisches Handbuch

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Theologie aufgenommen, war dann aber nach Helmstedt gewechselt, wo er rasch Anschluss an die historisch interessierten Gelehrtenzirkel seiner Epoche fand. Nach einer ersten Zeit als Privatlehrer in Helmstedt wechselte Abel als Lehrer nach Osterburg in die Altmark, dann als Rektor an die St.-Johannes-Schule in Halberstadt. Seine schulische Karriere endete im Jahre 1718, vermutlich auch, weil seine Kollegen vor Ort den Humor seiner Satiren nicht geteilt hatten. Sein weiteres Auskommen fand Abel bis zu seinem Tod als Pfarrer in Westdorf. Seine Freunde schätzten ihn als integren und grundgelehrten Mann, der in seiner heimatlichen Pfarre scheinbar sein Glück und auch ausreichend Zeit für seine Studien gefunden hatte.4 Abel war zweimal verheiratet. Nach dem Tod seiner ersten Frau ­Margarethe heiratete er mit 79 Jahren ein weiteres Mal. Die späte Ehe, die offensichtlich ähnlich glücklich war wie die erste, sollte Abel Freund Johannes Trinius veranlassen, eine Schuz-Schrift für das Heiraten im Alter zu verfassen.5

2.1 Niedersächsische Altertumskunde Schon ein kursorischer Blick auf die Bildungslandschaft Niedersachsens unserer Zeit offenbart, dass Caspar Abel mit seinen Interessen keine isolierte Figur war. Das ausgehende 17. Jahrhundert hatte in Nord- und Ostdeutschland einen Aufschwung antiquarischer Studien gesehen und damit verbunden, zum ersten Mal auch ein Gefühl für die verschiedenen Sprachstufen des Deutschen entwickeln können. Nicht zu trennen war von dieser neuen Begeisterung für die Vergangenheit in Historie und Literatur vor allem in Norddeutschland die lokalhistorische Aufwertung des Mittelalters, die nicht nur Quellen in bisher unbekanntem Maße erschloss, sondern deren Träger auch bereit waren, sich von alten konfessionellen Vorurteilen gegenüber der vergangenen Epoche zu lösen. Im niedersächsischen Raum waren die wesentlichen Impulse hier von Abels Heimatuniversität Helmstedt ausgegangen und vom Welfenhaus in Hannover, wo die Landesherren die Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit zum besonderen Anliegen erklärt hatten.6 Auch Gelehrte, die weit entfernt von Niedersachsen tätig

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zur Barockliteratur, Bd. 1 (1980), S. 67 – 75. − Martin Kintzinger: Art. Abel, Kaspar, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 1 (1991), S. 7. Johann Anton Trinius: Beytrag zu einer Geschichte berühmter und verdienter Gottesgelehrten auf dem Lande (3 Bde.), Leipzig 1751 – 53, Bd. 1, S. 1 – 23. − Ein sehr idyllisches Bild Abels zeichnet Johann Temme: Der sittlichen Character des seligen Herrn Caspar Abels berümten Historici und Predigers zu Weßdorf, nebst der Fortsetzung der Nachrichten von seinem Leben und Schriften, Blankenburg 1765, passim. Johannes Anton Trinius: Schuzschrift für die Heirathen der Alten: In einem Sendschreiben an den Herrn Kaspar Abel, wohlverdienten Pastor zu Westdorf, als Derselbe im Jahr 1755 sich zum zweitenmahl in den Ehestand begab, Rostock 1755. Eine kurze Synopse des frühen Geschichtsunterrichtes in Helmstedt findet sich bei Michael Maaser: Humanismus und Landesherrschaft. Herzog Julius (1528 – 1589) und die Universität Helmstedt, Stuttgart

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waren, standen im Regelfall in engem Kontakt zu diesen beiden Zentren des Antiquarismus und der Mittelalterstudien. Die Vorreiterrolle in der Beschäftigung mit der norddeutschen Geschichte hatten an der Universität Helmstedt die Angehörigen der Familie Meibom eingenommen,7 die schon Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Chroniken der ansässigen Klöster, die zum Teil in niederdeutscher Sprache überliefert waren, herausgegeben hatten,8 darunter die Chroniken von Marienthal und Berge an der Elbe,9 aber auch den für die Geschichte der Sachsen so wichtigen Geschichtsschreiber Widukind von Corvey.10 Heinrich der Ältere und sein Enkel Heinrich der Jüngere, die wichtigsten Abkömmlinge dieser Professorendynastie, hatten zahlreiche Arbeiten zur Frühgeschichte der Sachsen veröffentlicht, die das Bewusstsein für die Existenz und die historische Kontinuität dieser Völkerschaft geschärft hatten.11 Ebenfalls in Helmstedt hatte Reiner Reineccius versucht,12 dem Ursprung der Sachsen nachzuspüren und die Gestalt Wittekinds, des sagenhaften Sachsenherzogs, mit Bedeutung zu füllen.13 Dazu war auch in seinem Fall eine ganze Batterie von Quellenausgaben gekommen, die fast durchgehend lokalhistorischen Bezug hatte.14

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2010, S. 145 – 149. − Eine Zusammenschau der antiquarischen Studien in Helmstedt liefert Martin ­Mulsow: Religionsgeschichte in Helmstedt, in: Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität H ­ elmstedt 1576 – 1810, hg. v. Jens Bruning, Ulrike Gleixner, Wolfenbüttel 2010, S. 182 – 189. Allgemein zu Heinrich Meibom dem Älteren Heinrich Meibom d. Ä.: Poemata selecta – ausgewählte Gedichte (1579 – 1614), hg. v. Lothar Mundt, Berlin 2012, dort die Einleitung S. XI–XCVII − Und auch schon die Grundlagenarbeit von Ingrid Henze: Der Lehrstuhl für Poesie an der Universität Helmstedt bis zum Tode Heinrich Meiboms d. Älteren, Hildesheim 1990, dort S. 100 – 163. Eine Sammelausgabe der Werke Heinrich Meibom des Älteren und des Jüngeren liegt vor als dies.: Rerum Germanicarum Tomi III (3 Bde.), Helmstedt 1688, dort z. B. die Chronik Hermanns von ­Lerbecke mit Anmerkungen Meiboms, Bd. 1, S. 491 – 548. Heinrich Meibom der Ältere: Chronicon Marienthalense. Opus posthumum, Helmstedt 1651. − Ders.: Chronicon Bergense, Helmstedt 1669. Heinrich Meibom der Ältere: Primi et antiquissimi Historiae Saxonicae Scriptoris Witichindi ­Monachi Corbeienis, Familiae Benedictiae, Annalivm libri tres, emendatius et auctius quam antea editi, cum luculentis notis, quae instar iusti commentarii esse possunt, Frankfurt 1621. Zu nennen sind hier z. B. Heinrich Meibom der Ältere: De veteris Saxoniae finitimarumque regionum quarundam pagis ex mediae aetatis rerum scriptoribus Germanicarum commentariolum, Helmstedt 1610. − Heinrich Meibom der Jüngere: Irminsula saxonica, hoc est eius nominis Idoli sive numinis tutelaris, apud antiquissimos Saxones paganos culti, Helmstedt 1659. − Oder ders.: De cervisiis potibusque et ebriaminibus extra vinum aliis commentarius, Helmstedt 1671. − Und ders., Heinrich Hartwig Knorn (resp.): Dissertatio historica de metallifodinarum Hartzicarum prima origine et progressu et quomodo ad Sereniss. Brunsvic. et Lynaeb. Duces A. MCCXXXV. pervenerint, Helmstedt 1680. Eine gute Einführung in Leben und Werk von Reineccius gibt noch immer Otto Herding: Heinrich Meibom (1555 – 1625) und Reiner Reineccius (1541 – 1595). Eine Studie zur Historiographie in Westfalen und Niedersachsen, in: Westfälische Forschungen 18 (1965), S. 5 – 22. Reiner Reineccius: De Angrivariis, Angaria oppido et ibidem Widechindi Magni monumento commentatiuncula, Helmstedt 1620. − Und ders.: Commentatio de Saxonum originibus, Helmstedt 1620. Unter vielen Arbeiten des Reineccius hier z. B. Annales Witichindi Monachi Corbeiensis, Familiae Benedictinae, hg. v. Reiner Reineccius, Frankfurt 1577. − Chronici Ditmari Episcopi Mersepurgii libri

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Eine Generation ­später betraten Gelehrte wie Hermann Conring und Joachim Mader in Helmstedt die Bühne. Mader gab dem Publikum weitere, für die Geschichte der Sachsen bedeutsame Ausgaben von Geschichtsschreibern in die Hand,15 die den Raum Braunschweig im Zentrum hatten;16 der Universalgelehrte Conring,17 dessen Werke sich kaum überschauen lassen,18 weckte darüber hinaus das Interesse an der Rechtsgeschichte des niedersächsischen Raums.19 Christian Franz Paullini, ein weiterer Polyhistor, sorgte in Frankfurt für die Edition weiterer lokaler Chroniken und würdigte die Bedeutung des Klosters Corvey in der Kolonisation und Christianisierung Norddeutschlands.20 Als direkter Zeitgenosse Abels trat schließlich schon Johann Georg Leuckfeld in Erscheinung, der in Diensten der Henriette Christine von Braunschweig stand,21 der Äbtissin von Gandersheim, und von 1705 an mehr als ein Dutzend ausladende Abhandlungen über Klöster Niedersachsens und des angrenzenden Thüringens verfasste, darunter Ilfeld,22 Walcken-

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VII, hg. v. Reiner Reineccius, Frankfurt 1580. − Chronica Slavorum seu Annales Helmoldi, Presbyteri Buzoviensis in Agro Lubecensi, hg. v. Reiner Reineccius, Frankfurt 1581. − Oder Poeta Saxo: Annales de gesti Caroli Magni Imperatoris libri V, Helmstedt 1594. Adam von Bremen: Historia ecclesiastica religionis propagatae gesta, ex Hammaburgensi potissimum atque Bremensis ecclesiis per vicina septentrionis regna libris IV repraesentans, hg. v. Joachim Johann Mader, Helmstedt 1666. − Chronicon M. Theoderici Engelhusii, continens res ecclesiastiae et reipublicae, hg. v. Joachim Johann Mader, Helmstedt 1671. − Gervasius von Tilbury: De imperio Romano et Gottorum, Lombardorum, Brittonum, Francorum commentatio, hg. v. Joachim Johann Mader, Helmstedt 1673. Zu nennen ist hier vor allem Joachim Johann Mader: Antiquitates Brunsvicenses, sive variorum monumentorum […] sylloge, Helmstedt 1661. − Und das Chronicon Montis-Sereni sive Lauterbergense, hg. v. Joachim Johann Mader, Helmstedt 1665. Notker Hammerstein: Die Historie bei Conring, in: Hermann Conring (1606 – 1681). Beiträge zu Leben und Werk, hg. v. Michael Stolleis, Berlin 1983, S. 217 – 236. − Christian Fasolt: Hermann Conring and the European History of Law, in: Publics and Reformations: Histories and Reformations, hg. v. Christopher Ocker, Michael Printy, Leiden 2007, S. 113 – 134. − Allgemein zu Conring als Historiker in Helmstedt z. B. Jens Bruning: Innovation in Forschung und Lehre. Die Philosophische Fakultät der Universität Helmstedt in der Frühaufklärung 1680 – 1740, Wiesbaden 2012, S. 42 – 44, S. 48 – 57, S. 101 – 104. − Und jetzt vor allem Christian Fasolt: Past Sense. Studies in Medieval and Early Modern European History, Leiden 2014, S. 313 – 463. Eine bei weitem nicht vollständige Sammelausgabe existiert als Hermann Conring: Opera, hg. v. Johann Wilhelm Göbel (7 Bde.), Braunschweig 1730. Hermann Conring: De origine iuris Germanici commentarius historicus, obiter de Justinianei iuris in scholas et fora reductione disseritur, Helmstedt 1643. Das Werk erhielt bis 1720 vier weitere Auflagen. Christian Franz Paullini: Theatrum illustrium virorum Corbeiae Saxonicae, Jena 1686. − Und ders.: Rerum et antiquitatum Germanicarum syntagma, varios annales, chronica et dissertationes comprehendens, Frankfurt 1698. Zu Leben und Werk Leuckfelds Carsten Berndt: Historia Leuckfeldi oder ausführliche Beschreibung von Leben und Werk des Johann Georg Leuckfeld, Auleben 2003, dort auch ein Werkkatalog, der die ungedruckten Schriften miteinschließt, S. 47 – 87. Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Ilfeldenses, oder Historische Beschreibung des Closters Ilfeld, Praemonstratenser-Ordens, worinnen von d ­ ieses Stiffts-Alter, Landes-Gegend, Orthe, Nahmen, Aufbauung,

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ried,23 Amelungsborn und Michaelstein,24 Gandersheim und viele andere.25 Eine ganze Landkarte des mittelalterlichen geistlichen Lebens in Niedersachsen war so im Umfeld der Universität Helmstedt entstanden, die den Blick auf die Epoche auch regional erheblich verändern musste. Direkt im Dienst des Welfenhauses standen die beiden Figuren, die die Kartographierung der Kultur- und Geistesgeschichte Norddeutschlands wohl entscheidend vorangetrieben hatten, Gottfried Wilhelm Leibniz und sein Sekretär und Mitarbeiter Johann Georg von Eckhart. Leibniz hatte mit dem Codex iuris gentium diplomaticus,26 den Accessiones historicae und den Scriptores rerum Brunsvicensium drei Meilensteine in der Quellenkunde des Mittelalters geliefert, die gerade auch die Gestalt Heinrichs des Löwen in den Mittelpunkt gestellt hatten.27 Eckhart, der ebenfalls an Abels Heimatuniversität, Helmstedt, eine Professur bekleidete,28 sollte vor allem durch Arbeiten zur historischen Etymologie und zur Herkunft und Geschichte der germanischen Völker hervortreten.29

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Orden, K ­ irchen, Kayserl. Privilegien, wie auch deßen vorigen Landes-Herren, Stifftern, Aebten, Administratoren, Evangelischen Predigern, Schul-Rectoren, u. s. w. ausführlich gehandelt wird, Quedlinburg 1709. Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Walckenredenses, oder historische Beschreibung der vormahls berühmten käyserl. freyen. 1. Handelnd von allerhand darinnen vorgegangenen Closter-Sachen, Leipzig 1705. − Und ders.: Antiquitates Walckenredenses, oder historische Beschreibung der vormahls berühmten käyserl. freyen. 2. Handelnd von unterschiedenen darin gelebten Closter-Personen, Leipzig 1705. Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Michaelsteinenses et Amelunxbornenses, das ist historische Beschreibung derer vormahls berühmten Cistercienser-Abteyen Michaelstein und Amelunxborn, worinnen von dererselben Lage, Stiftern, Erbauung, Gütern, Aebten, usw. gehandelt wird, Wolfenbüttel 1710. Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates Gandersheimenses, oder Historische Beschreibung des Uhralten Kaeyserl. Freyen Weltlichen Reichs-Stiffts Gandersheim, worinnen von deßen alter Lands-Gegend Durchl. Stifftern, Orte ausführlich gehandelt wird, alles aus denen Archiven zusammengetragen und mit Registern versehen, Wolfenbüttel 1709. Gottfried Wilhelm Leibniz: Codex iuris gentium diplomaticus, Hannover 1693. − Ders.: Accessiones historicae, quibus utilia superiorum temporis historiis illustrandis scripta monumentaque nondum hactenus edita inque iis scriptores diu desiderati continentur (2 Bde.), Hannover 1698 – 1700. − Ders.: Scriptores rerum Brunsvicensium illustrationi inservientes, antiqui omnes et religionis reformatione priores (3 Bde.), Hannover 1707 – 1711. Zur Entstehung der lokalhistorischen Arbeiten Leibniz’ und zu ihrem lokalpolitischen Hintergrund im Welfenhaus ausführlich Armin Reese: Die Rolle der Historie beim Aufstieg des Welfenhauses 1680 – 1714, Hildesheim 1967, hier S. 104 – 190. − Und schon die klassische Studie von Louis Davillé: Leibniz historien. Essai sur l’activité et la méthode historiques de Leibniz, Paris 1909, ND Aalen 1986, hier besonders S. 99 – 273. Als grundlegende Würdigung Eckharts Hermann Leskien: Johann Georg von Eckhart (1674 – 1730). Das Werk eines Vorläufers der Germanistik, Diss. Würzburg 1965. − Dazu auch Thomas Wallnig: Johann Georg Eckhart als Verwerter von Leibniz’ historischen Kollektaneen: Geschichtsforscher in höfischen Diensten oder gelehrter Beamter?, in: Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen, hg. v. Nora Gädeke, Wiesbaden 2012, S. 189 – 210. Als Beispiele schon posthum herausgegeben Johann Georg von Eckhart: Historia studii etymologici linguae Germanicae, Hannover 1711. − Und ders.: De origine Germanorum eorumque vetustissimis colonis, migrationibus ac rebus gestis libri duo, Göttingen 1750.

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Ebenfalls seit Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich die Begeisterung für die frühen Stufen des Englischen, Deutschen und der skandinavischen Sprachen wie ein Lauffeuer in Europa verbreiten können.30 Ausgehend von den ersten Wörterbüchern des Gotischen und Altenglischen, von althochdeutschen Texten wie dem Anno-Lied, das Martin Opitz herausgegeben hatte,31 den Keronischen Glossen oder der Evangeliendichtung des Otfrid von Weissenburg, und den Auszügen der mittelhochdeutschen Dichtung aus dem Codex Manesse, die Melchior Goldast von Haiminsfeld verantwortete, hatte sich hier eine Debatte um das Alter und den Vorrang der Nationalliteraturen entwickelt, die mit erheblichem Hang zur Spekulation ausgetragen wurde. Barden, Meistersänger und altgermanische Druiden waren hier an die Seite der schwedischen Skalden getreten und wetteiferten mit ihnen um den historischen Vorrang.32 Auf Seiten der Niedersachsen waren die Sprachforscher und Literaturhistoriker zu einem großen Teil mit dem Kreis der Lokalhistoriker identisch, doch dominierte unter ihnen ein eher nüchterner Umgang mit den Phänomenen. Im Umfeld von Leibniz hatte vor allem Johann Georg von Eckhart intensive Studien zur Sprachgeschichte betrieben, umfangreiche etymologische Lexika angelegt und eine eigene Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur anvisiert.33 In seiner Würzburger Zeit sollte ihm immerhin die 30 Grundlegend ist Rudolf von Raumer: Geschichte der Germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870, S. 4 – 105. − Überblicke über die Beschäftigung mit dem Alt- und Mittelhochdeutschen im 17. und 18. Jahrhundert geben u. a. Wolfgang Harms: Das Interesse an mittelalterlicher deutscher Literatur ­zwischen der Reformationszeit und der Frühromantik, in: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980, hg. v. Heinz Rupp, Hans-Gert Roloff, Frankfurt 1981, S. 60 – 84. − Ders.: Des Winsbeckes Genius. Zur Einschätzung didaktischer Poesie des deutschen Mittel­alters im 17. und 18. Jahrhundert, in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, hg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 46 – 59. − Dazu auch Johannes Janota: Zur Rezeption mittelalterlicher Literatur ­zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur, hg. v. James F. Poag, Gerhild Scholz-Williams, Königstein 1983, S. 37 – 46. − Ulrich Seelbach: Mittelalterliche Literatur in der Frühen Neuzeit, in: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur (Chloe 33), hg. v. Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr, Amsterdam 2000, S. 89 – 115. − Und Johannes Klaus Kipf: Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450 – 1600), in: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption ­zwischen Kanon und Populärkultur, hg. v. Mathias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki, Berlin 2012, S. 15 – 49. 31 Martin Optiz: Incerti Poetae Teutonici Rhythmus de Sancto Annone, Colon. Archepiscopo, Danzig 1639. 32 Zu den Arbeiten Melchior Goldast von Haiminsfelds zur mittelhochdeutschen Literatur Raumer 1870 (wie Anm. 30), S. 52 – 55. − Harms 1986 (wie Anm. 30) S. 46 – 50. − Und z. B. Anne A. Baade: Melchior Goldast von Haiminsfeld. Collector, Commentator and Editor, New York 1992, S. 60 – 96. − Seelbach 2000 (wie Anm. 30), S. 100 – 106. − Und Graeme Dunphy: Melchior Goldast und Martin Opitz. Humanistische Mittelalter-Rezeption um 1600, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. v. Nicola M ­ cLelland, Hans-Jochen Schiewer, Stefanie Schmitt, Tübingen 2008, S. 105 – 121. 33 Johann Georg von Eckhart: Abschriften und Excerpta aus alten deutschen Dichtern vom IX . bis zum XV. Jahrhundert (Leibnizbibliothek Hannover, MS. IV, 483).

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Teilausgabe des Hildebrandslieds gelingen.34 Zu Eckharts Gewährsleuten war der Bremer Antiquar und Philologe Dietrich von Stade geworden, dessen ausgiebige Kollektaneen zur deutschen Sprachgeschichte auch Leibniz als Grundlage gedient hatten.35 Es wundert im Umfeld dieser Gelehrten nicht, dass auch die Überreste der nichtgermanischen Sprachen in Niedersachsen irgendwann in den Blick gerieten. Dass im Wendland noch eine elbslawische Sprache gesprochen wurde, hatte die Hannoveraner regelrecht euphorisiert. Man beauftragte den in Wustrow ansässigen Pfarrer Christian Hennig von Jessen, ein Wörterbuch anzulegen, das gleichsam aus dem Nichts heraus dokumentierte, wie vielschichtig sich der Sprach- und Kulturraum Niedersachsen in seinem Hinterland tatsächlich gestaltete. In Druck ging ­dieses Werk im 18. Jahrhundert leider nicht mehr.36

2.2 Die Stellung des Niederdeutschen zu Beginn des 18. Jahrhunderts Antiquarismus und die Suche nach sächsischen Altertümern, das universitäre Studium der Lokalgeschichte, das Wissen um das Alter und den Wandel der deutschen Sprache und die vielschichtige Sprachlandschaft Norddeutschlands waren der Humus, auf dem auch das neue Interesse am Niederdeutschen gedeihen konnte. Niedersachsen sollte hier jedoch

34 Johann Georg von Eckhart: Commentarii de rebus Franciae orientalis et episcopatus Wirceburgensis (2 Bde.), Würzburg 1729, dort das ‚Fragmentum fabulae romanticae Saxonica dialecto saeculo VIII. conscriptae‘, Bd. 1, S. 864 – 866. − Ergänzend hierzu auch von Johann Georg von Eckhart: Incerti monachi Weissenburgensis Catechesis Theotisca Seculo IX. conscripta, Hannover 1713, Text, S. 60 – 99. 35 Dietrich von Stade, eine Schlüsselfigur in der Geschichte der norddeutschen Sprachwissenschaft, verdient noch immer eine eingehende Untersuchung. Grundlegend zu seinem Leben und seinen Schriften ist Johann Heinrich von Seelen: Memoria Stadeniana sive de vita, scriptis ac meritis Diederici a Stade commentarius, varia simul Historica, Philologica et inprimis Teutonica complectens, Hamburg 1725, dort eine Biographie Dietrichs von Stade, c. 1, S. 33 – 52. − Wie Leibniz die Vorarbeiten seiner lokalen Vorgänger von Stade und von Eckhart nutzt, zeigt Stephan Waldhoff: Leibniz’ sprachwissenschaftliche und polyhistorisch-antiquarische Forschungen im Rahmen seines Opus historicum. Mit einem Blick auf die ‚Collectanea etymologica‘, in: Einheit der Vernunft und Vielfalt der Sprachen. Beiträge zu Leibniz’ Sprachforschung und Zeichentheorie, hg. v. Wenchao Li, Stuttgart 2014, S. 269 – 315. 36 Christian Hennig von Jessen: Vocabularium Venedicum oder Wendisches Wörter-Buch, von der Sprache, ­welche unter den Wenden in den Chur-Braunschweig-Lüneburgischen Amtern Lüchow und Wustrow annoch im Schwange gehet (Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, MS . ­Philol. 257), dort eine lange Vorrede fol. 3v–75r. − Nachträgliche Teilabdrucke dieser Wortlisten finden sich z. B. als Fortgesetzte Beiträge zur Kenntnis des Hannoverschen Wendlandes im Fürstenthume Lüneburg, in: Neues vaterländisches Archiv oder Beiträge zur allseitigen Kenntniß des Königreichs Hannover und des Herzogthums Braunschweig 21 (1832), H. 1, S. 299 – 350, hier S. 319 – 350, H. 2, S. 6 – 26. − Die in der Leibnizbibliothek zu Hannover aufbewahrte Version des Vocabularium Wenedicum wurde gedruckt als Christian Hennig von Jessen: Vocabularium Venedicum, hg. v. Reinhold Olesch, Köln 1959.

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zunächst Diaspora bleiben.37 An der Universität Rostock ließ der aus dem deutsch-dänischen Grenzgebiet stammende Theologe Bernhard Raupach im Jahre 1704 eine Disputation veröffentlichen, die das langsame Verschwinden des Niederdeutschen zum Thema machte.38 Die Gegenwehr, mit der sich Raupach im Zuge seiner Arbeit konfrontiert sah, hatte ihn darüber hinaus genötigt, der Disputation eine Verteidigungsschrift zur Seite zu stellen.39 In beiden Traktaten beklagt Raupach mit großer Leidenschaft, wie sehr das einstmals so weit verbreitete Niederdeutsche zu einer Sprache allein der Bauern und des einfachen Gesindes verkommen konnte und in den Ohren seiner Hörer nur noch zum Burlesken geeignet war. Das Niederdeutsche aber im Unterschied zum Hochdeutschen war, wie Raupach betont, vom Fremdeinfluss des Französischen weitgehend frei geblieben und hatte den Charakter der alten deutschen Sprache bewahrt. Es war frei von falschem Putz und Künstelei und in seinen Erscheinungsformen voller Warmherzigkeit und Eleganz.40 Raupach stieß im mecklenburgisch-pommerschen Raum durchaus auf Gegenliebe, wenn auch erst Jahrzehnte ­später. Erst im Jahre 1781 erschien das Plattdeutsche Wörterbuch des Greifswalder Professors und Bibliothekars Johann Carl Dähnert,41 dem jahrelange Arbeit vorausgegangen war.42 Aus dem gleichen Geist entstanden war das niederdeutsche Wörterbuch des Lübecker Antiquars Jakob von Melle, der sein Unternehmen schon um 1720 in Angriff genommen hatte, doch es nicht mehr in Druck geben konnte.43 Mit dem Idioticon Hamburgense des Hamburger

37 Eine Übersicht über die Kontroverse über die Nutzung des Niederdeutschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt mit weiterer Literatur Katja Faulstich: Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 184 – 221. 38 Eine allgemeine Würdigung Raupachs liefert Arno Herzig: Das Werk des Hamburger Geistlichen und Historikers Bernhard Raupach (1682 – 1745), in: Hamburg. Eine Metropolregion ­zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung, hg. v. Johann Anselm Steiger, Sandra Richter, Berlin 2012, S. 119 – 134. 39 Eine kurze Zusammenfassung der Debatte gibt Faulstich 2008 (wie Anm. 37), S. 186 – 191. − Außerdem auch wertvoll Birte Arendt: Niederdeutschdiskurse. Spracheinstellungen im Kontext von Laien, Printmedien und Politik, Berlin 2010, S. 65 – 75. − Ergänzend hierzu Matthias Vollmer: Anmerkungen zu den sprachlichen Verhältnissen Vorpommerns in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Niederdeutsch und regionale Umgangssprache in Mecklenburg-Vorpommern. Strukturelle, soziolinguistische und didaktische Aspekte, hg. v. Birte Arendt, Andreas Bieberstedt, Klaas-Hinrich Ehlers, Frankfurt 2017, S. 55 – 70. Vgl. auch den Beitrag von Jörn Bockmann in diesem Band. 40 Franz Albert Aepinus, Bernhard Raupach (resp.): Exercitatio academica de linguae Saxoniae inferioris neglectu et contemptu iniusto – Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache, Rostock 1704. − Und Bernhard Raupach: Defensio Exercitationis academiae de linguae Saxoniae Inferioris neglectu atque contemptu iniusto, Stralsund 1704. 41 Allgemein zum Wirken Dähnerts Andreas Önnerfors: Svenska Pommern. Kulturmöten och identifikation 1720 – 1815, Lund 2003, S. 125 – 128, S. 175 – 179, S. 250 – 256. 42 Johann Carl Dähnert: Platt-deutsches Wörter-Buch nach der alten und neuen Pommerschen und Rügischen Mundart, Stralsund 1781. 43 Ulrike Möller: Das Wörterbuch des Jakob von Melle. Untersuchungen zur niederdeutschen Lexikographie im frühen 18. Jahrhundert, Heidelberg 2000.

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Poeten Michael Richey hatte hier 1743 zumindest ein dialektales Wörterbuch vorgelegen, das auch ins Deutsche übertragen wurde.44 Wie aber stand es um die niederdeutsche Dichtung im ausgehenden 17. Jahrhundert? Zwei Jahrzehnte vor Abel war das ausgreifende Epos Wittekind entstanden, das sein Verfasser, der Hamburger Theologe und Dichter Christian Heinrich Postel als nationales Epos der Niedersachsen apostrophiert hatte.45 Postel, der die spätere Drucklegung seines Opus magnum nicht mehr erleben sollte, entwirft mit allen Mitteln des epischen Instrumentariums eine bildmächtige und mäandernde Verslandschaft, die das historisch dürre Szenario mit einer Fülle von Figuren und Nebenhandlungen anreichert. Ohne die materialgesättigten Studien zur Gestalt des Sachsenherzogs, die man in Helmstedt und Umgebung in Angriff genommen hatte, hätte er das Gedicht kaum zu Papier bringen können. Die Sprache, für die sich Postel entschied, blieb dennoch das Hochdeutsche.46 Einen festen Ort hatte das Niederdeutsche in dieser Zeit dagegen im Bereich der Okkasionalpoesie, vor allem in der Brautdichtung, wie sich an den Vitae Pomeranorum zeigen lässt. Nur zu oft nahm die niederdeutsche Sprache hier allerdings den untersten Rang ein und bediente damit genau jene Ebene des vulgären Possenreißertums, die Raupach in Rostock so beklagt hatte.47 Eine entscheidende Ausnahme bildet die Gestalt, auf die sich Abel anschließend berufen sollte, Johannes Lauremberg, der allerdings nicht in Niedersachsen oder Mecklenburg-Pommern wirkte, sondern in Dänemark. Der Professor und Poet, der ebenso souverän die lateinische und griechische Sprache handhabte, hatte ebenfalls etliche niederdeutsche Epithalamien verantwortet, die durchaus heiterer Natur waren,48 doch 44 Michael Richey: Idioticon Hamburgense sive Glossarium vocum Saxonicarum quae populari nostra dialecto Hamburgi maxime frequentantur, Hamburg 1743. − Und mit ausgreifender Bibliographie diverser ungedruckter Glossare ders.: Idioticon Hamburgense oder Wörter-Buch, zur Erklärung der eigenen, in und um Hamburg gebräuchlichen Nieder-Sächsischen Mund-Art, Hamburg 1755, S. XIV–XXX. − Zu nennen ist auch Johann Christoph Strodtmann: Idioticon Osnabrugense. Ein Hochzeits-Geschenk an den Herrn Professor und Consistorial-Assessor Schütze bey der Verbindung desselben mit der Demoiselle Esmarchinn, Leipzig 1756. − Und Johann Georg Bock: Idioticon Prussicum, oder Entwurf eines Preußischen Wörterbuches, darin die deutschen Redensarten und Ausdrücke die allein in hiesigem Lande gebräuchlich sind, zusammengetragen und erörtert werden sollen, Königsberg 1759. 45 Eine Übersicht über die Werke Postels, der aus dem schwedischen Stade stammte und vor allem als Opernlibrettist hervorgetreten war, gibt Solveig Olsen: Christian Heinrich Postels Beitrag zur deutschen Literatur des späten 17. Jahrhunderts, Ann Arbor 1968, passim. 46 Christian Heinrich Postel: Der große Wittekind in einem Helden-Gedichte, Hamburg 1724. 47 Eine aussagekräftige Kollektion niederdeutscher Brautgedichte druckt Ingrid Schröder: Niederdeutsche Gelegenheitsdichtungen in den ‚Vitae Pomeranorum‘. Textedition, in: Die Konstanz des Wandels im Niederdeutschen, hg. v. Birte Arendt, Enrico Lippmann, Hamburg 2005, S. 3 – 103. − Außerdem Walter Baumgartner: Burleske Hochzeitsgedichte des Barock in schwedischen Dialekten und in Niederdeutsch, in: Gelegenheitsmusik im Ostseeraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Peter Tenhaef, Berlin 2015, S. 61 – 95. 48 Johann Lauremberg: Scherzgedichte, hg. v. Johann Martin Lappenberg, Stuttgart 1861, dort die Brautgedichte S. 99 – 151.

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unter seinen vier berühmten Scherzgedichten auch zwei Gedichte mit den Überschriften Von altmodischer Sprache und Titeln und Von altmodischer Poesie und Rimen. Vor allem das letzte Gedicht bot nicht nur Kritik am Sprachmissbrauch und der übermäßigen Nutzung von gespreizten Fremdwörtern, sondern las sich auch als Werbeschrift für das Niederdeutsche,49 das Idiom der ‚olden Neddersaxen‘, als Schrift- und Literatursprache.50 Im Verbund mit den anderen Scherzgedichten sollten diese Gedichte wieder und wieder aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt werden und auf diese Weise eine enorme Wirkung entfalten.51 Abel war sich über die monolithische Stellung Laurembergs, die in krassem Widerspruch zur tatsächlichen Bedeutung des Niederdeutschen stand, sehr wohl im Klaren. Als Universalgelehrter, Antikenforscher und als Person musste dieser auf den Pfarrer im doppelten Sinne vorbildlich wirken. Als Dichter offenbarte Lauremberg, dass wissenschaftlicher Anspruch sich auch in der niederdeutschen Sprache artikulieren konnte, als Anhänger des Niederdeutschen zeigte er, dass die Liebe zur plattdeutschen Muttersprache einer weithin anerkannten wissenschaftlichen Reputation keinen Abbruch tun musste.

2.3 Geschichte als Apologie der Sachsen: Abel als Historiker Caspar Abel hatte sich in seinen Helmstedter Jahren eine erstaunliche, doch für die Zeit durchaus typische Expertise als Orientalist und Historiker erworben. Disputationen und Programmschriften zu Fragestellungen der biblischen Geschichte hatten den Anfang gemacht,52 49 Die ausführlichste Interpretation der niederdeutschen Gedichte Laurembergs liefert noch immer Klaus Peter: Der Humor in den niederdeutschen Dichtungen Johann Laurembergs. Seine Struktur und Funktion, Köln 1967, dort zu Quellen S. 106 – 125. − Dazu auch Vibeke Winge: Vormengede Sprake in Johann Laurembergs Scherzgedichten (Niederdeutsch-Dänisch-Hochdeutsch), in: Westfeles unde sassesch. Festgabe für Robert Peters zum 60. Geburtstag, hg. v. Robert Damme, Norbert Nagel, Bielefeld 2004, S. 321 – 328. − Im Detail zu Laurembergs Apologie des Niederdeutschen Heiko Wiggers: Min Schnack mi wol gefelt: The Polemics of Johann Lauremberg and other Advocates of Low German, in: Text Analyses and Interpretations: In Memory of Joachim Bumke, hg. v. Sibylle Jefferies, Göppingen 2013, S. 125 – 147. 50 Lauremberg 1861 (wie Anm. 48), dort das vierte Gedicht, S. 54 – 72. − Im Originaldruck als Johann Lauremberg: Veer Schertz-Gedichte: I. Van der Minschen itzigem Wandel und Maneeren. II. Van Almodischer Kleder-Dracht. III. Van vormengder Sprake und Titeln. IV. Van Poësie und Rym Gedichten, s. l. 1652, Dat Veerde Schertzgedichte, S. 62 – 86, dort besonders S. 81 f. 51 Eine Übersicht über Neudrucke und Übersetzungen, u. a. ins Hochdeutsche, Niederländische und Dänische gibt Lappenberg, in: Lauremberg 1861 (wie Anm. 48), S. 193 – 204. − Unter vielen Übersetzungen z. B. die dänische, die Lauremberg vielleicht selbst verantwortet, dazu ders.: Fire skjæmtedigte i dansk oversættelse fra 1652, hg. v. J. Paludan, Kopenhagen 1889. 52 Als Beispiele Caspar Abel: Disquisitio historica de Herodis Magni genere quam aequo patronorum, fautorumque iudicio subiicit, eosque simul ad declamationem scholasticam invitat, Halberstadt 1701. − Und ders.: Zarach ha-Kushi seu Dissertatio historica de clade Serachi Cuschaei, qua simul Cuschaeorum,

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große heilsgeschichtliche Entwürfe, die das Gerüst der biblischen Monarchien zur Diskussion stellten, hatten sich angeschlossen.53 Eine Sciagraphia der griechischen Geschichte, die Abel ebenfalls noch während seiner Tätigkeit als Rektor in Halberstadt als Programmschrift zu Papier brachte,54 bildete die Grundlage für ein Monumentalwerk, die Griechischen Altertümer, die mehr als 1500 Seiten umfassten.55 Dass Abel mit diesen materialreichen zwei Bänden die wohl erste deutschsprachige universale Landeskunde Griechenlands und Kleinasiens, deren Horizont bis in die Kirchengeschichte und die konfessionellen Zersplitterungen der Gegenwart reichte, geschrieben hatte, hat bisher kaum Beachtung gefunden. Ähnlich angelegt waren die Hebräischen Altertümer, die ebenfalls fast 1000 Seiten ausfüllten und Abel nicht nur als Bibelkundler, sondern vor allem auch als Kenner der orientalischen Sprachen zeigen.56 Den größten Erfolg erzielt Abel mit seiner Preußischen Staatshistorie und seiner Preußischen Staatsgeographie,57 die das Modell der Landeskunde auf das Reich der Hohenzollern übertrugen und vor allem im zweiten Teil einen weitläufigen Überblick über Völkerschaften, Städte und Landesteile des preußischen Hoheitsraumes gaben.58 Schon wenige Jahre s­ päter konnte Abel eine erweiterte Fassung d ­ ieses Werkes auf den Markt bringen, dazu noch eine Fortsetzung.59

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Aethiopum, Aegyptiorum, aliorumque antiquitates excutiuntur, gloriosaque Asae R. Judaeorum v­ ictoria meritis effertur laudibus, actui oratorio, in honorem victoriae Hochstadiensis, Halberstadt 1705. Caspar Abel: Epitome famosissimarum Monarchiarum, quarum non quatuor tantum, sed multo p­ lures, ad imperium orbis, ante et post Christi nativitatem adspirasse, et imposterum quoque adspiraturas esse, evincitur, Halberstadt 1706. Caspar Abel: Sciagraphia priscae historiae Graecae, ad normam Scripturae Sacrae, sanaeque rationis, Halberstadt 1709. − Dazu nach demselben Muster ders.: Sciagraphia priscae historiae Italicae, et speciatim Latinae, qua Latinorum, Romanorumque antiquitates solicite excutiuntur, Halberstadt 1715. − Und ders.: Sciagraphia historiae Orientalis, in primis Persicae, a prima rerum origine ad nostra tempora deductae, Halberstadt 1722. Caspar Abel: Griechische Alterthümer, worinnen die Geschichte ­dieses vordem so weltberühmten ­Volckes, und aller von demselben gestiffteten Reiche auf dem festen Lande, Inseln, zu Zeit ihrer Monar­ chie blühenden Staaten, vom ersten Anbeginn an, bis auf die dem Römischen Reiche geschehene Einverleibung, aus den besten Scribenten zusammen getragen (2 Bde.), Leipzig 1738 – 39. Caspar Abel: Hebräische Alterthümer, worinnen nicht allein Die Geschichte des Volckes Gottes und der benachbarten Nationen vorgestellet, sondern auch der Israeliten und Juden Regiment und Religion, ­Sitten und Gebräuche zusammen getragen, Leipzig 1736. Eine Einschätzung der Preußischen Staatshistorie Abels gibt Wolfgang Neugebauer: Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018, S. 108 – 110. − Vorher schon Franz-Xaver Wegele: Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München 1885, S. 714 f. Caspar Abel: Preußische und Brandenburgische Staats-Historie, worinnen nicht nur ­dieses Königlichen Chur-Hauses Hohe Abkunfft von einer gantz neuen Stamm-Wurtzel hergeleitet, und die beglückte Fortpflanzung biß auf unsre Zeiten durch alle seine Haupt- und Neben-Aeste, samt allen dessen vornehmsten Groß-Thaten aufs gründlichste vorgestellet, sondern auch von denen vorigen Beherrschern seiner weit ausgebreiteten Länder, und Staaten eine zulängliche Nachricht ertheilet wird, in zwey Theilen ausgefertiget (2 Bde.), Leipzig 1710 – 11. Die Neuausgabe der Preußischen Staatshistorie erschien 1735, die verm. und überarb. Ausgabe 1747.

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Waren viele seiner Arbeiten Teil des protestantischen Schul- und Universitätssystems und seines Curriculums gewesen oder Zeugnisse des Polyhistorismus, so sollte bei Abel ab etwa 1730 das lokalgeschichtliche Studium in den Vordergrund treten. Ausdrücklich suchte der protestantische Pfarrer hier den Anschluss an Reineccius, Mader, Conring, Leibniz, von Eckhart, Paullini, Leuckfeld und andere Vertreter des norddeutschen Antiquarismus. Von Anfang an war das historische Interesse bei Abel auch apologetischer Natur gewesen und sollte unmittelbar der Aufwertung seiner Heimat dienen. Warum hatte man den Sachsen als autochthoner Ethnie des deutschen Nordwestens so lange so wenig Beachtung geschenkt? Im Jahre 1729 erscheint der erste Band der Teutschen und Sächsischen Altertümer, dem Abel 1732 den zweiten Band folgen lässt.60 Schon die Anlage der beiden Bände verrät ihren besonderen Charakter. Der erste Band schildert, wie er proklamiert, die Geschichte aller deutschen Völker in ihren antiken und mittelalterlichen Verzweigungen, der zweite Band gebührt wie ein großes Parallelnarrativ ausschließlich den Sachsen. Beide Volumina gemeinsam liefern eine Summe der antiquarischen Arbeiten, wie sie in Helmstedt und Hannover vorgelegt worden waren, und bemühen sich um eine Synthese, die Abel zugleich Gelegenheit gibt, Überlegungen seiner Vorgänger in Frage zu stellen. Vor Spekulationen bewahrt ihn der scheinbar kritische Anspruch nicht. Im Gegenteil, auch die ausdrückliche Absicht, sich durchgehend auf historische Quellen zu stützen, hat bei Abel nicht zur Folge, dass der Wille zur großen Konstruktion in den Hintergrund tritt. Deutsche wie sächsische Geschichte formten Großerzählungen, die bis in die Anfangstage der Menschheit zurückreichten. Besonderes Interesse bringt Abel darüber hinaus den archäologischen Zeugnissen entgegen, Graburnen, Hünengräbern und Steinaltären, die ihm allerdings wie der Mehrzahl seiner Zeitgenossen zu Belegen einer bis weit in die Vorzeit rekonstruierbaren ethnischen Kontinuität der Sachsen werden.61 Wie hatte man sich die Geschichte der deutschen Völker vorzustellen? Abel distanziert sich zwar von der pseudoepigraphischen Chronologie eines Annius von Viterbo, doch lässt er seine ‚Deutschen Altertümer‘ noch immer mit der biblischen Völkertafel und Magog den Anfang machen. Verbarg sich hinter dem biblischen Stammvater Aschkenas nicht die ‚Eiche‘, so wie ‚Thiud‘ das ‚Volk‘ bezeichnete? 62 Die älteste deutsche Geschichte fällt für Abel mit der bei Herodot geschilderten Geschichte der Skythen zusammen. Es bestand zwar kein Zweifel, dass die von Humanisten des 16. Jahrhunderts wie Johannes Aventin geschilderten Völkergenealogien ebenso ohne Wert waren wie die ehrgeizigen Filiationsmodelle 60 Caspar Abel: Der Teutschen, und Sachsen, alte Geschichte, und Vorfahren, Nahmen, Ursprung, und Vaterland, Züge, und Kriege, aus den besten Schrifften und rechten Urkunden vorgetragen, und erläutert, insonderheit aber der Hohe Stamm, des Königlichen Hauses Braunschweig-Lüneburg, bis auf unsre Zeit ausgeführet, samt einer noch nie gedruckten Nieder-Sächsischen uhralten Chronick (2 Bde.), Braunschweig 1729 – 30. 61 Ebd., Bd. 1, Vorrede (o. S.). 62 Ebd., Bd. 1, Buch 1, c. 1, §§ 1 – 4, S. 1 – 13.

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der schwedischen Gotizisten,63 die der Norweger Thormod ­Torfaeus für Abel weitgehend widerlegt hatte.64 Dennoch blieben die Skythen das deutsche Stammvolk, aus deren scheinbarem Fundus sich seine Überlieferungen mit Bedeutung füllen ließen. Unter den bei Herodot genannten Regenten des Reitervolkes fanden sich für den kleinasiatischen Raum Namen wie Idanthyrsos oder Tanaus. Konnte der Letztere nicht, um nur ein Beispiel zu nennen, der ‚Tannhäuser‘ gewesen sein, der in Kleinasien dem Venusberg gegenübergestanden hatte?65 Aus den Skythen waren, wie Abel weiter fabuliert, Kimmerier, Amazonen und die keltischen Völkerschaften hervorgegangen, mit deren Abkömmlingen sich die Linie der deutschen Stämme weiter fortsetzte. Erinnerte der Name des ‚Acichorus‘, ein Gefährte des Keltenfürsten Brennus, der als Heerführer weite Teile Europas geplündert hatte, nicht an den ‚treuen Eckhart‘? Sollte man nicht auch andere alte deutsche Heldenlegenden auf historische Begebenheiten der skythischen Epoche zurückführen, die man in langen mündlichen Überlieferungen bis ins Mittelalter getragen hatte?66 Der weitere Reigen deutscher Völkerschaften reichte, wie Abel materialreich zeigt, von den Galatern aus Kleinasien, den Kimbern und Teutonen über die Sueben des Ariovist bis zu den Reichen der Völkerwanderung.67 Nicht Skandinavien war dabei die Urheimat der Goten, Vandalen, Heruler und Gepiden gewesen, so Abel, sondern das nördliche Elbegebiet in Niedersachsen.68 Der generisch behandelten deutschen Geschichte stellt Abel die Geschichte der Sachsen zur Seite, die wie das erwählte Volk unter den deutschen Ethnien erscheinen mussten. Ihre fassbare Geschichte hatte als Historie eines einzelnen skythischen Stammes begonnen, der in der Zeit Alexanders des Großen gen Westen gezogen war. Die Formali, der Beginn der 63 Johannes Aventinus: Annalium Boiorum libri VII , Basel 1580 (zuerst 1554), dort besonders Liber I, S. 7 – 14. − Als Panorama der humanistischen deutschen Geschichtsschreibung dieser Zeit und ihrer europäischen Verortung die zeitlose Studie von Johannes Helmrath: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland, hg. v. Matthias Werner, Ostfildern 2005, S. 333 – 392. − Unter vielen Arbeiten zur Nationalmythologie bei Aventinus, die von Abel ausführlich widerlegt werden, z. B. Andrej Doronin: Историк и его миф. Иоганн Авентин (1477 – 1534), Moskau 2007, S. 133 – 170. − Und ders.: „Baierisch nam, das römisch reich, die ganz christenhait“. Das Regionale, das Nationale und das Universale bei Aventin, in: Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume, hg. v. Johannes Helmrath, Albert Schirrmeister, Stefan Schlelein, Berlin 2013, S. 124 – 150, dort besonders S. 125 – 130. 64 Thormod Torfaeus: Series Dynastarum et Regum Daniae, a primo eorum Skioldo Odini filio ad Gormum Grandaevum, Haraldi Caerulidentis patrem, Kopenhagen 1702, Liber I, c. 1, S. 1 – 13. − Dazu unter vielen mit weiterer Literatur Sigvald Grøfjeld jr.: Sagakritikkens historie. Hovedlinjer i norsk og nordisk forskning på sagaenes troverdighet fra Torfaeus til vår tid, Stavanger 2016, S. 29 – 37. 65 Abel 1729 – 30 (wie Anm. 60), Bd. 1, c. 1, §§ 5 – 8, S. 13 – 43. 66 Ebd., Bd. 1, c. 1, §§ 9 – 12, S. 43 – 86. 67 Ebd., Bd. 1, c. 1, §§ 13 – 22, S. 46 – 169. 68 Ebd., Bd. 1, c. 2, §§ 1 – 24, S. 169 – 512, dort zur Urheimat der germanischen Völker § 5, S. 188 – 195.

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Edda, in dem vom Auszug der Asen die Rede war, hatte von dieser Wanderung berichtet.69 Über Wolga, Don und die Siedlungsgebiete der Kimmerier waren die Ursachsen dann unter Führung ihrer Fürsten Odin und Thor bis nach Europa gelangt, wo sie, wie Abel folgert, erst Kriege mit den Römern geführt hatten, um dann in Teilen in Richtung des römischen Britannien überzusetzen.70 Die im Norden zurückgebliebenen sächsischen Verbünde trugen lange Kämpfe mit Thüringern, Schwaben und Franken aus, wie man bei Widukind von Corvey lesen konnte,71 dann waren sie von Karl dem Großen christianisiert worden.72 Mit dem Aufstieg der sächsischen ­Kaiser von Heinrich I. bis zu den Ottonen war die deutsche Geschichte in der Folgezeit eine sächsische Geschichte geworden, wie Abel zeigt.73 Ihr Echo ließ sich bis zur Zeit Heinrichs des Löwen verfolgen.74 Der historische Sonderstatus der Sachsen verlangte auch nach kultureller und sprachlicher Festschreibung. Die Ausführungen des Tacitus zum Brauchtum und zur Religion der alten Germanen hatten zuvorderst die Sachsen betroffen, so Abel, gleiches galt für die von den großen Antiquaren gesammelten Berichte zu den nordischen Gottheiten und dem Pantheon der Edda, die ihren Ausdruck in der Irminsul der alten Sachsen gefunden hatten.75 Die ‚Dencksteine‘ der norddeutschen Tiefebene, die vielen Großsteingräber, die im Monument von Stonehenge, wie Abel glaubt, ihren eindrucksvollsten Vertreter vorweisen konnten, waren Zeugnisse der altsächsischen Kultur gewesen.76 Abel neigt dabei nicht zur vorschnellen Glorifizierung. Dass in den Leges Saxonicæ, die Leibniz gerade herausgegeben hatte, an keiner Stelle vor Hurerei gewarnt wurde, konnte zwar ein Hinweis auf den hohen moralischen Standard der alten Sachsen sein, denn ein solches Gebot schien überflüssig gewesen zu sein. Der zivilisatorische Status der alten Sachsen durfte dennoch einem ‚unbehauenen Acker‘ geglichen haben, auf dem ‚Disteln und Wolfsmilch‘, aber auch einige ‚Blumen‘ gediehen.77 Wenn das Volk der Sachsen allerdings von so majestätischem Alter war und über einen so langen Zeitraum die deutsche Geschichte mitbestimmt hatte, warum hatte sich dann niemand um den Erhalt seiner Sprache bemüht? War es nicht verwunderlich, dass die zeitgenössischen Sprachgelehrten in ihren Stammbäumen versuchten, das Hochdeutsche mit seinen verschiedenen Sprachstufen mit dem 69 Ebd., Bd. 2, c. 1, §§ 1 – 4, S. 1 – 47. − Dazu Edda Islandorum – Völuspá – Hávamál, hg. v. Peder Hansen Resenius, Kopenhagen 1665, ND Reykjavík 1977, c. 3, altnordisch, dänisch und lateinisch fol. Av–C3v. 70 Abel 1729 – 30 (wie Anm. 60), Bd. 2, c. 1, §§ 5 – 6, S. 47 – 65. 71 Ebd., Bd. 2, c. 1, §§ 7 – 12, S. 65 – 117. 72 Ebd., Bd. 2, c. 1, §§ 13 – 15, S. 117 – 157. 73 Ebd., Bd. 2, c. 1, §§ 16 – 17, S. 157 – 176. 74 Ebd., Bd. 2, c. 1, §§ 18 – 22, S. 176 – 254. 75 Ebd., Bd. 2, c. 2, § 2, S. 262 – 272. Hauptquelle Abels zur altgermanischen Religion war Elias Schedius: De diis germanis sive veteri Germanorum, Gallorum, Britannorum, Vandalorum religione syngrammata quatuor, hg. v. Johann Georg Keysler, Halle 1728. 76 Abel 1729 – 30 (wie Anm. 60), Bd. 2, c. 2, § 3, S. 272 – 288. 77 Ebd., Bd. 2, c. 2, § 1, S. 254 – 261. − Dazu Leibniz 1707 – 11 (wie Anm. 26), Bd. 1, Nr. 2, S. 77 – 81.

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Gotischen oder Griechischen aufzurechnen, ohne dabei dem Niederdeutschen Rechnung zu tragen?78 Zum ersten Mal artikuliert Abel, was ihn zur Abfassung der Sassine veranlassen sollte. Warum hatte man zugelassen, dass die niederdeutsche Sprache, das natürliche Idiom der Sachsen, das ihre Geschichte so lange begleitet hatte, aus seinem angestammten Gebiet verdrängt wurde, so dass nun die Gefahr ihres vollständigen Verschwindens drohte? Handelte es sich beim Niederdeutschen nicht um eine Sprache, die das Hochdeutsche in ihrer Geschmeidigkeit noch hinter sich ließ, die nicht nur ‚lieblicher und leichter‘ war als ihre Kontrahentin, sondern auch ebenso ‚wortreich und nachdenklich‘? Warum hatte sich diese Sprache über einen so langen Zeitraum so ‚prostituiert‘ und nur ‚Idiotismi‘ für die ‚gröbsten Bauern‘ bereitgehalten? Retten konnte sich das Niederdeutsche nur durch eine Reform, die Aussprache wie Orthographie gleichermaßen vereinheitlichte. Die sich zerfasernden ‚Red-Arten‘, die den Gebrauch des Plattdeutschen erschwerten, aber auch die Diphthonge, der Usus, ‚au‘ statt ‚o‘, ‚ei‘ statt ‚e‘ zu verwenden, mussten beseitigt werden. Dazu kam die Notwendigkeit einer fortan verbindlichen Schreibweise. Erforderlich war daher eine gelehrte Gesellschaft, die eine s­ olche Vereinheitlichung in Angriff nahm. Abel hatte sich für ein solches Unternehmen eine Pionierrolle zugestanden, wie er festhält, und begonnen Horaz und Nicolas Boileau ins Niederdeutsche zu übertragen. Damit sollte gezeigt werden, dass die Ausdruckskraft und das poetische Kapital des Niederdeutschen dem Hochdeutschen in Nichts nachstanden.79 Die weiteren Kapitel der Sächsischen Altertümer behandeln die angestammten Siedlungsgebiete der Sachsen, darin eingeschlossen auch die Niederlande, Flandern, England und natürlich West- und Ostfalen und das gesamte Land z­ wischen Weser und Rhein.80 Ausführlich geht Abel auf die vielen Völkerschaften ein, mit denen sich die Sachsen im Laufe ihrer Geschichte konfrontiert sahen, auf Wenden und andere slawische Völker, Preußen und Litauer, Lutizen und Obodriten,81 dann folgt eine eigene Genealogie und Geschichte der Adelsfamilien, die vor allem Abkömmlinge des Wittekind’schen Stammes waren, der Bistümer und Stifte, Klöster und Abteien in ihren Gebieten, der Städte und Landschaften. All diese Geschlechter und Orte waren Ausweis der kulturellen Strahlkraft, mit der die Sachsen in ihrer Geschichte auftrumpfen konnten.82 Mehr als 100 Seiten gebühren abschließend dem Haus der Welfen, in dem sich die Glorie der Sachsen symbolisch vollendete und 78 Wie sehr vergleichbare Sprachenstammbäume, die bis zum ‚Celto-Skythischen‘ reichten, für das Nieder­ deutsche attraktiv blieben, zeigt deutlich der schon erwähnte Johann Friedrich August Kinderling: Geschichte der Nieder-Sächsischen oder sogenanten Plattdeutschen Sprache, vornehmlich bis auf Luthers Zeiten, nebst einer Musterung der vornehmsten Denkmahle dieser Mundart, Magdeburg 1800, dort der Sprachvergleich S. 37 – 40. Kinderling scheint Abels Altertümer gründlich gelesen zu haben. 79 Abel 1729 – 30 (wie Anm. 60), Bd. 2, c. 2, § 1, S. 261 f. 80 Ebd., Bd. 2, c. 2, §§ 4 – 5, S. 288 – 326. 81 Ebd., Bd. 2, c. 2, §§ 6 – 14, S. 326 – 415. 82 Ebd., Bd. 2, c. 2, §§ 15 – 27, S. 415 – 629.

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das Abel in all seinen Verzweigungen rekapituliert. Aus ihm war das Haus Hannover hervorgegangen, die aktuellen Landesherren, auf die Abel seine Hoffnungen richtet.83 Auch deshalb musste eine Galerie von Eulogien auf Georg I. und Georg II., die Abel zum Teil schon veröffentlicht hatte, die Geschichte der Welfen abschließen.84 Abel hatte schon in der Einleitung zum ersten Band der Altertümer die Notwendigkeit des Quellenstudiums hervorgehoben. Nicht anders als seine Gewährsleute Meibom, Reineccius, Paullini, Leibniz, Eckhart und Leuckfeld fühlte sich Abel daher berufen, selbst eine Kollektion von Textzeugen folgen zu lassen, die er vor allem den Archiven seiner Heimat Halberstadt entnommen hatte. Abel erinnert in seiner Einleitung noch einmal an die Arbeit seiner Kollegen, an Leibniz und die Meiboms, doch moniert er zugleich deren mangelhafte editorische Fähigkeiten.85 Kaum zufällig fällt seine Entscheidung dann auf einen niederdeutschen Text, die Braunschweiger Chronik des Hermann Bote, die er vollständig wiedergibt und abdruckt.86 Zur Seite gestellt werden ihr etliche Auszüge aus lateinisch überlieferten Chroniken der Region, unter denen die Chroniken des Johannes Wittigstedt eine Vorrangstellung einnehmen.87 Noch 1741 bringt Abel eine überarbeitete Fassung der Altertümer in Druck, die den Inhalt des zweiten Bandes aus dem Jahre 1732 noch einmal zusammenfasst und mit einer neuen Einleitung versieht. Auch die Forderung nach der Rehabilitation des Niederdeutschen wird hier wiederholt.88 Acht Jahre s­päter erscheint eine überarbeitete Fassung der Walbeckischen Chronik, die vor Abel schon Meibom

83 Ebd., Bd. 2, c. 3, §§ 1 – 12, S. 630 – 725. 84 Ebd., Bd. 2, Appendix, S. 726 – 730. − Dazu z. B. Caspar Abel: Epigrammata in honorem Dn. G ­ eorgii Ludovici Magnae Britanniae, Franciae et Hiberniae Regis necnon Ducis Brunsvicensium et Luneburgensium, Halberstadt 1714. − In der Anlage entspricht Abels Werk hier in vielen Merkmalen dem zeitgleich entstandenen Werk von Johann Heinrich Pfeffinger: Historie des Braunschweig-Lüneburgischen Hauses, und selbiger Landen, bis auf gegenwärtige Zeiten, mit Beyfügung der darin befindlichen Hoch-Gräflich-Frey-Herrlich- und Hoch-Adelichen Geschlechter, Stiffter, Clöster, Gerechtsamen der Städte, Beschaffenheit der Sültze und derselben Soothmeister-Wahl, nebst anderen Sonderheiten der Stadt Lüneburg, und vielen Anmerckungen aus alten glaubwürdigen Urkunden, genau untersuchet, beschrieben, und mit einem vollständigen Register versehen (3 Bde.), Hamburg 1731 – 34. 85 Caspar Abel: Sammlung etlicher noch nicht gedruckten alten Chronicken als der Nieder-Sächsischen, Halberstädtschen, Quedlinburgischen, Ascherslebischen und Ermslebischen, ­welche nun mit besonderem Fleiß aus dem Manuscript herausgegeben, und hin und wieder durch nöthige Anmerckungen erläutert, samt einer Zugabe zu den Teutschen und Sächsischen Alterthümern, worinnen des uhralten Buzicischen Geschlechts Ursprung und Vaterland genauer untersucht und allerhand, die alte Teutsche und Sächsische Historie betreffende, Supplementa und Verbesserungen hinzugefüget, wie auch zwey vollständige Register über besagte Alterthümer mit angehänget worden, Braunschweig 1732, Vorrede (o. S.). 86 Ebd., S. 1 – 251. 87 Ebd., S. 252 – 696. 88 Caspar Abel: Geschichte der alten Teutschen Völcker, vornemlich der Sachsen, Braunschweig 1741, c. 2, S. 261 f.

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der Ältere herausgegeben hatte.89 Noch weitere ähnlich gelagerte Werke Abels waren geplant und lagen scheinbar schon in Manuskriptform vor.90 Wie ein Abschlussdokument mutet Abels Geschichte des Fürstentums Halberstadt an, die 1754 in Druck geht und vor allem den Arbeiten Johann Georg Leuckfelds folgt. Auch hier stellt Abel seiner mit Detailwissen wuchernden Darstellung der Geschichte seiner Heimat einen ‚Vorbericht‘ voran, der sich als Urgeschichte der Sachsen lesen lässt. Beim Dorfe Hargistorff in der Nähe von Aschersleben hatte man kurz zuvor ein weiteres Großsteingrab ausgehoben, ein ‚Heydengrab‘, in dem sich nicht nur Knochenreste in einer Urne fanden, sondern auch die Figur eines Stiers, die den Vorfahren als Votivbild gedient hatte. Waren diese Artefakte nicht Zeugnisse einer uralten Anwesenheit der Sachsen in dieser Region gewesen, die bis weit über die Zeit der Römer hinaus reichen musste? Als Urbewohner des ‚Harzes‘, der den Namen der ‚Cherusker‘ trug, war diese Völkerschaft der natürliche Feind der Thüringer gewesen, die sie selbst die ‚Thoren‘ genannt hatten. Halberstadt im anhaltinischen Harz hatte noch zu ­diesem sächsischen Herrschaftsgebiet gehört.91

3. Die Sassine 3.1 Die Rettung der niederdeutschen Dichtersprache Als junger Mann hatte Caspar Abel eine hochdeutsche Übersetzung der Heroiden Ovids angefertigt, die noch 1721 eine Neuauflage erlebte.92 Im Jahre 1714 war eine erste Kollektion von Satiren erschienen. Den Grundstock dieser Sammlung bildeten Variationen ­Nicolas Boileaus, des wichtigsten französischen Moralisten, und deutsche Fassungen einiger Satiren 89 Caspar Abel: Heinrich Meiboms Walbeckische Chronike, das ist wahrhafter und gegründeter Bericht von dem uralten und vornehmen Geschlechte der Grafen zu Walbeck an der Aller und denen daraus entsprossenen Bischöfen und Aebten, inngleichen von dem Dom-Stifte daselbst, Helmstedt 1749. − Dazu Heinrich Meibom der Ältere: Walbeckische Chronica, das ist Warhafftiger unnd wolgegründeter Bericht von dem alten Hochadelichen Geschlecht der wolgebornen Graffen zu Walbeck im Holtzlande am Allerstrom Halberstädisch Bistumbs, item von anfenglicher Stifft: unnd Erbawung der DomKirchen daselbst unnd was innerhalb Sechshundert und Siebentzig Jahren für denckwirdige Geschicht unnd Verenderung daselbst sich begeben und zugetragen, Helmstedt 1619. 90 Trinius 1751 – 53 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 19 – 22. Unter den Manuskripten findet sich neben einer Persischen Geschichte auch eine Geschichte von Scythien, Scandinavien und Britannien. Der Nachlass Abels hat sich bisher trotz intensiver Suche meinerseits in den einschlägigen Bibliotheken nicht auffinden lassen. Auch im Stadtarchiv in Aschersleben liegt er nicht mehr, wie eine Anfrage ergeben hat. 91 Caspar Abel: Stiffts- Stadt- und Land-Chronick des jetzigen Fürstenthums Halberstadt, worinnen die Geschichte d ­ ieses ehemaligen Bischoffthums, samt einer accuraten Liste aller Stiffter aus vielen alten und neuen Chronicken beschrieben worden, Bernburg 1754, Vorrede (o. S.). 92 Caspar Abel: Publii Ovidii Nasonis, des berühmten römischen Poeten Brieffe der Heldinnen, jetzo zum erstenmahl ihrer ungemeinen Anmuth und Vortrefflichkeit halber in ungezwungene teutsche Verse

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des Horaz, dazu auch eigene Gedichte wie Das Wol und Weh eines Schülers, das den Schulbetrieb karikierte, und Eines rechtschaffenen Priesters Ausbildung, das sich gegen die zeitgenössischen Kleriker richtete.93 Auch d ­ ieses Werk war vollständig hochdeutsch gehalten. Horaz und Boileau sollte Abel weiter treu bleiben. War es Zufall, dass auch der Hamburger Bürgermeister und Opernlibrettist Lukas von Bostel einige der Satiren des Boileau wenige Jahre zuvor ins Niederdeutsche übertragen hatte, ohne diese allerdings in Druck zu geben?94 Fünfzehn Jahre nach seinen ersten Übersetzungen nahm sich Abel ein weiteres Mal in einem ganzen Band von Satiren des Franzosen und auch seiner lateinischen Quelle an und ließ d ­ iesem Band drei Jahre ­später einen weiteren folgen. Beide Bände zusammen bieten ein weitaus komplexeres Bild als ihr Vorgänger aus dem Jahre 1714.95 In der Einleitung zum zweiten Band erinnert Abel an die Bemerkungen aus den Sächsischen Altertümern und unterstreicht, dass neben hochdeutschen Übersetzungen der bedeutenden Moralisten und eigenen Satiren nun auch niederdeutsche Übersetzungen und eigene Gedichte in der nieder­deutschen Sprache folgen sollten, die der unterdrückten Sprache endlich wieder Gehör verliehen. Deutlich werden sollte, so Abel, dass ­dieses plattdeutsche Idiom als Dichtersprache ebenso geeignet sei wie das Hochdeutsche. Zu ­diesem Zweck sei auch ein eigenes Epos geschrieben worden, die Sassine, die das freudlose Schicksal der niederdeutschen Sprache und ihre Unterdrückung durch das Hochdeutsche in Worte fasste.96 Den zeitgenössischen Poeten, den Brockes, Dietsches und Weichmanns, sollte d ­ ieses Epos als Werbeschrift dienen, um fortan auch niederdeutsche Gedichte zu verfassen und das heimatliche Idiom vom Leumund der grobschlächtigen Bauernsprache zu befreien.97

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übersetzet und mit dero beygefügten Liebes-und Leidens-Geschichten wie auch allerhand courieusen Anmerckungen erläutert, Leipzig 1704, und noch einmal Quedlinburg 1723. Caspar Abel: Auserlesene satirische Gedichte, worinnen viele jetzo im Schwange gehende Laster, auf eine zwar freye, und schertzhaffte doch vernünfftige Art gestrafet werden, und theils aus dem berühmten Boileau und Horatio übersetzet, theils auch nach deren Vorbilde verfertiget sind, Quedlinburg 1714, dort Das Wol und Weh eines Schülers S. 81 – 128, und Eines rechtschaffenen Priesters Ausbildung S. 128 – 164. So berichtet es Carl Friedrich Weichmann in seiner Einleitung zu Postel 1724 (wie Anm. 46), Vorrede (o. S.). Nicolas Boileau Despréaux: Satyrische Gedichte, ­welche nicht allein voll herrlicher ­Sitten- und TugendLehren sind, sondern auch die Laster darinnen gar artig und sinnreich durchgehechelt werden, aus dem Frantzösischen in Teutsche Verse übersetzet, und mit einem Anhange, verschiedener aus dem Horatio, Virgilio, und andern, verteutschten, wie auch noch andern Hoch- und Nieder-Sächsischen Gedichten vermehret (2 Bde.), Goslar 1729 – 32. Ebd., Bd. 2, Vorbericht (o. S.). Vor Augen hatte Abel hier vielleicht die in niederdeutscher Sprache geschriebenen Gelegenheits­gedichte, die Carl Friedrich Weichmann in seiner Poesie der Niedersachsen versammelt hatte: Carl Friedrich ­Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen, oder allerhand, mehrentheils noch nie gedruckte, Gedichte von den berühmtesten Nieder-Sachsen (6 Bde.), Hamburg 1712 – 38, dort z. B. von Brockes Bd. 1, S. 138 – 141, Bd. 2, S. 51 f., von Weichmann selbst Bd. 5, S. 95 – 98, aber z. B. auch von Johann Gruppe Bd. 2, S. 10 – 13, S. 27 – 30.

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Die beiden gedruckten Bände warten mit etlichen niederdeutschen Übersetzungen auf, die der Illustration der von Abel postulierten poetischen Kraft des Plattdeutschen dienen sollten. Abel überträgt alle zehn Eklogen Vergils und adaptiert ihnen ein Bilderrepertoire, das dem Mantuaner durchaus gerecht wird.98 Angemessen hymnisch heißt es hier von der Wiederkunft des Gotteskindes: Und nu fengt de Himmel an öhr Wisseggen to erfüllen Nu schynt och de Welt-Lop uns gans van nyen antogahn, Dat de Jumffer wedder kummt, und Saturnus upgestahn, Um dat Ryck in güldner Rauh as vor oller Tyt to föhren. Und dorch Unschuld Trü und Recht alle Laster to verstöhren.99

Abels Entscheidung für Vergil war sicher kein Zufall. Schon sein Vorbild Lauremberg hatte eine niederdeutsche Klage Corydons vorgelegt,100 aber vor allem dürfte der agrarische Kontext der Eklogen und ihre zeitlose Qualität, die Transformierung der Hirtenwelt in eine Idylle, die zugleich eine politische Utopie war und Artikulationsraum aktueller Fragestellungen sein konnte, Abel motiviert haben. Dass die Pastorale darüber hinaus ein im frühen 18. Jahrhundert allgegenwärtiges Genre war, an dem sich schon deshalb die Adaptationsfähigkeit des Niederdeutschen mit Recht erproben ließ, liegt auf der Hand. Auch Caspar Friedrich Renner, der in vielem ein vergleichbares Projekt wie Abel verfolgte, hatte sich im Jahre 1738 in seiner Handvoll Knittel-Gedichte mit den Königs-Blomen für eine Adaptation der dritten vergilianischen Ekloge entschieden.101 Renner freilich, der mit Abel das Interesse an Sprachgeschichte teilte,102 hatte bei weitem nicht das Niveau Abels erreichen können. Konnte es einen geeigneteren Text geben, um das Niederdeutsche vom Verdikt des Primitiven zu befreien, und es zugleich in seiner scheinbar natürlichen Sphäre zu belassen? Zu Vergils Eklogen kamen zwei Satiren des Horaz und zwei seiner Briefe,103 dazu liefert Abel drei eigene Satiren, das Gespräch vom Frauenvolk und dem Ehestand,104 sein

98 Boileau Despréaux (1729 – 32) (wie Anm. 95), Bd. 1, S. 248 – 253 (1. Ekloge), S. 253 – 257 (9. Ekloge), S. 257 – 260 (4. Ekloge), Bd. 2, S. 105 – 110 (2. Ekloge), S. 110 – 114 (3. Ekloge), S. 114 – 118 (5. Ekloge), S. 118 – 122 (6. Ekloge), S. 122 – 125 (7. Ekloge), S. 125 – 131 (8. Ekloge), S. 131 – 135 (10. Ekloge). 99 Ebd., Bd. 1, S. 257. 100 Lauremberg 1861 (wie Anm. 48), S. 119 – 123. 101 Caspar Friedrich Renner: Eine Handvoll Knittel-Gedichte, Bremen 1738, Nr. 14, S. 101 – 109. 102 Renner sollte noch im Jahre 1760 die durch Goldast berühmt gewordene Winsbekinn herausgeben: Caspar Friedrich Renner: Die Winsbekinn, oder mütterlicher Unterricht glücklich zu lieben und zu heuraten. Aus den Zeiten der Minnesänger, o. O. 1760. − Zum Erfolg ­dieses Textes Harms 1986 (wie Anm. 30), passim. 103 Boileau Despréaux 1729 – 32 (wie Anm. 95), Bd. 1, S. 260 – 263 (Epist. 1, 10), S. 263 – 265 (Sat. 2, 6), S. 273 – 276 (Epist. 1, 7), Bd. 2, 236 – 243 (Epist. 2, 7). 104 Ebd., Bd. 1, S. 287 – 293.

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Gegenstück, das sich gegen die Unarten der Männer richtet,105 und die Verkehrte Welt.106 Alle drei Gedichte umfassen nur wenige Seiten. Es bleibt auf den ersten Blick unklar, warum Abel nach diesen ersten durchaus gelungenen Kostproben niederdeutscher Poesie keine weiteren Gedichte drucken ließ. Adolf Hofmeister vermutet,107 die unfreundliche und sehr kleinteilige Kritik, die seine BoileauÜbersetzung von Seiten Johann Gottscheds erhalten hatte, sei der Grund für Abels Verstummen gewesen.108 Hatte sich der selbsternannte Retter des Niederdeutschen so rasch entmutigen lassen? Die Universitätsbibliothek Rostock verwahrt das Handexemplar der beiden Bände der Abel’schen Boileau-Übertragung, dem handschriftlich, datiert auf das Jahr 1738, der dritte Band, den er schon in den Sächsischen Altertümern angekündigt hatte, als Druckvorlage beigegeben ist.109 Hier nun steht das Niederdeutsche eindeutig im Zentrum. Zehn Blätter enthalten 59 hochdeutsche Epigramme von Boileau, darunter Auf die Jesuiten oder Auf Molière,110 dazu kommen die horazische Epistel 2, 2, an Augustus, die ebenfalls in hochdeutscher Fassung präsentiert wird, und drei weitere horazische Episteln.111 Fast 100 Blatt, also 200 Seiten, werden von 16 niederdeutschen Gedichten eingenommen. Zwei dieser Gedichte hatte Hofmeister transkribiert, die Hülflose Sassine (Nr. 1), die vierzehn Seiten einnimmt,112 und das Gespräch von den bösen Weibern und wie sie zu zwingen (Nr. 10).113 Auch die übrigen Gedichte wären eine Ausgabe wert. Abels Schrift fällt im Oktavformat des Bandes sehr klein aus, doch ist durchaus lesbar. Satiren und biblische Stoffe bilden den Inhalt der von Hofmeister nicht wiedergegebenen Gedichte. Auf die ­Sassine folgt mit B ­ elphegor, oder ein böses Weib ist des Teufels Obermeister eine weitere Satire.114 Ebenfalls satirisch gehalten 105 Ebd., Bd. 1, S. 293 – 300. 106 Ebd., Bd. 1, S. 300 – 312. − Alle drei Texte wurden noch einmal separat herausgegeben als Caspar Abel: Ein Gespräch von dem Frauenvolck und dem Ehestande Anno 1696. Drei plattdeutsche Satiren, München 1891. 107 Hofmeister 1882 (wie Anm. 1), S. 5. 108 Johann Gottsched: Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (8 Bde.), Leipzig 1732 – 44, 16. Stück (1737), S. 519 – 560. 109 Caspar Abel: Des berühmten Poeten Nicolai Despreaux Boileau Satyrischer Gedichte dritter Theil, worinnen, nebst dessen kurtzen Epigrammaten, oder Sinn-Schriften, auch noch einige andre, aus dem Frantzösischen übersetzte, und daneben viele Plat-Teutsche, oder Nieder-Sächsische Satyren oder Gedichte mit enthalten sind, um dadurch die Vortrefflichkeit, und Annehmlichkeit dieser Sprache, desto besser vorzustellen, ingleichen einige Oden und Episteln des ersten Buchs des Horatii, zu seinem und anderer Vergnügen verfasset und vollendet, 1738 (Universitätsbibliothek Rostock, MS. phil. 92). Hofmeister hatte den Band, wie ein Hinweis im Einband verrät, auf einer Auktion erworben und der Bibliothek zu Rostock vermacht. Über den Vorbesitzer lässt sich nichts ermitteln. 110 Ebd., fol. 1r–12r. 111 Ebd., fol. 112 – 116v, und in den Umschlagblättern. 112 Ebd., fol. 13r–20v, dazu Hofmeister 1882 (wie Anm. 1), S. 7 – 19. 113 Abel 1738 (wie Anm. 109), fol. 76r–78v, dazu Hofmeister 1882 (wie Anm. 1), S. 20 – 23. 114 Abel 1738 (wie Anm. 109), fol. 20v–33r.

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ist die Bauernhochzeit auf dem Carneval 115 und das Gespräch von jungen Weibern und ihren Wiederfreyern.116 Einen antiken Stoff, der im alten Griechenland angesiedelt ist, liefern die Zwei Schwestern,117 die Ereignisse um Thomas Müntzer behandelt Der Bauren-Krieg,118 die Widerfahrnisse des Dreißigjährigen Krieges und die Figur Jan de Werths Der abgedanckte Soldat.119 Hinzu kamen die Episierungen biblischer Stoffe, Der keusche Joseph, den Abel mit einem gelehrten Fußnotenapparat versieht,120 Esther und Haman,121 Der Tochter Jephtas Tränen und Tröstungen,122 Der verlorene Sohn,123 und Der reiche Schlemmer.124 Den Höhepunkt bilden sicher Das verlorene Paradies, das Caspar Abel aus der Sicht Evas schildert,125 und das zu einem ausgreifenden theologischen Traktat angewachsene Wiedererworbene Paradies, das dem geschulten Orientalisten die Gelegenheit gibt, mit seiner hebraistischen Bildung zu wuchern. Abel spart in ­diesem enzyklopädisch angelegten Gedicht nicht mit Hinweisen auf die Kosmologie des Paracelsus oder auf den Adam Kadmon der Kabbala und liefert lange heilsgeschichtliche Exkurse, die die Unsterblichkeit der Seele gegen die Zumutungen der Socinianer auch philosophisch verteidigen sollten.126 Alles in allem bieten die sechzehn Gedichte ein breitangelegtes Spektrum an Sujets, das die Wandlungsfähigkeit des Niederdeutschen als Literatursprache hinreichend untermauern konnte. Das Hauptanliegen des ersten Gedichtes war nachhaltig orchestriert worden.

3.2 Das Epos von der Hülflosen Sassine Abel hatte seine Sassine also nicht nur von langer Hand geplant, wie die Hinweise in seinen gedruckten Werken zeigen, sie hatte im Chor der weiteren Gedichte auch programmatisch das Projekt der Restitution der niederdeutschen Sprache als Bildungssprache umsetzen sollen. Sie war ebenso Apologie, wie sie das Ziel, die Emanzipation des Niederdeutschen selbst manifestierte. The medium was the message. Ohne Rückbezug auf die antiquarischen Bemühungen Abels, seine Arbeit als Lokalhistoriker und sein Unternehmen, die Sachsen als Ethnie auch historisch wieder ins Recht zu setzen, kann das Epyllion aus dem Jahre 1738 ebenso wenig 115 Ebd., fol. 72v–74r. 116 Ebd., fol. 74v–76r. 117 Ebd., fol. 53r–58r. 118 Ebd., fol. 58r–65v. 119 Ebd., fol. 66r–72r. 120 Ebd., fol. 43r–53r. 121 Ebd., fol. 78v–82r. 122 Ebd., fol. 82v–87r. 123 Ebd., fol. 101v–107r. 124 Ebd., fol. 107r–111v. 125 Ebd., fol. 87r–93v. 126 Ebd., fol. 94r–101v.

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verstanden werden, wie es ohne den Aufschwung der Sprachwissenschaft in seinem Umfeld hätte entstehen können. Die gut 600 Verse der Sassine weisen mit ihren eingefügten Reden und Peripetien eine formal epische Struktur auf, zugleich tragen sie schon durch ihre grundständige Intention, ihr allegorisches Personal und ihre diegetischen Passagen, wie schon zu Beginn bemerkt, deutliche Züge eines Lehrgedichtes. Im letzten Drittel tritt die äußere Handlung weitgehend in den Hintergrund, um Sassine, dem Niederdeutschen, selbst Gehör zu verleihen. Genau diese Selbstermächtigung und Mündigkeit aber sollte Zweck des Gedichtes sein. 3.2.1 Aschenboschels Leidensgeschichte

Den äußeren Rahmen des Gedichtes gibt, wie schon angedeutet, das Perrault’sche Aschenbrödel-Märchen vor. Dass Abel auf diese Weise dem entschiedenen Gegner Boileaus in der Querelle des Anciens et Modernes Gehör verleiht, kann als ironische Volte des Pfarrers verstanden werden.127 Ob Abel allerdings in seiner Wahl des Cendrillon-Motivs überhaupt auf Perrault zurückgreift oder nicht einfach auf virulente Volksüberlieferungen, muss offenbleiben. Abel gibt das Märchen zugleich Gelegenheit, um noch einmal an den Sprachenstammbaum, damit aber auch an die Geschichte der Niedersachsen zu erinnern.128 Als das Christentum noch nicht nach Deutschland vorgedrungen war, herrschte ein König mit Namen Alboin im Land der Sachsen, das in dieser Zeit von den Flüssen Belt, Elbe, Weser und Ems durchzogen und begrenzt wurde und bis an den Harz heranreichte. In Nachbarschaft der Sachsen fanden sich Ethnien wie die Wenden, Langobarden und Thüringer. Zur Frau nimmt der ursächsische König die Fürstin von Holland und Friesland, Gudrune. Sie war liebenswert und klug, wie Abel bemerkt, und wusste, was zu tun war, ganz wie die Alraunen. Gudrune hatte es dennoch nicht leicht in ihrer Umgebung. Sie war auf den ersten Blick nicht schön und nicht imstande, griffige Komplimente zu formulieren, sondern zeichnete sich durch herzenswarme Direktheit aus: Gudrune was öhr Nahm, wust guden Rath to geven wat overall to dohn, wat nütt u. qvad im Leven na der Allrunen Art, doch wo de Schönheit feilt, da ward nich licht en Rath der Leeve mitgedeilt, Gudrune was nich schön, ock nich vull Cumpelmenten, de se vor ollers nich in düßem Lande kennten, se was wat liketo, mein aver alles got, u. was na ollen Welt en trü u. ehrlick Blot.129

127 Charles Perrault: Histoires ou contes du temps passé, avec des moralitez, Amsterdam 1697, S. 117 – 148. 128 Zitiert wird im Folgenden der Einfachheit halber nach der Transkription Hofmeisters 1881 (wie Anm. 1), die das Manuskript, soweit ich erkennen kann, fehlerfrei wiedergibt. 129 Abel: Die hülflose Sassine, in: Hofmeister 1881 (wie Anm. 1), S. 7 f., Zitat S. 8.

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‚Gudrune‘ stand, wie Abel in einer Fußnote vermerkt, für die ‚nordische Sprache‘, zu der auch das Dänische und Schwedische zu zählen waren. Alboin repräsentierte daher, wie sich leicht folgern lässt, das Ursächsische, die ‚elbische‘ Stammsprache des Englischen wie des Norddeutschen. Seine eigentlichen Verwandten hatte das Niederdeutsche damit, wie Abel alludiert, nicht in den diversen hochdeutschen Sprachvariationen, sondern in den Sprachen Skandinaviens. Aus ihnen, ihren Überlieferungen und ihrem Alter musste es auch seinen eigenen Adel ableiten. Wie Schwedisch oder Dänisch war das Niederdeutsche auf den ersten Blick keine Literatursprache, nicht mit den Possierlichkeiten des Hofes vertraut, doch auf den zweiten Blick Trägerin uralter Überlieferungen. Es schließt sich die verhängnisvolle Zersplitterung der Sprachen an, die zugleich zur Degeneration des Niederdeutschen führen musste. Frankissa, die böse Stiefmutter, das Fränkisch-Hochdeutsche, betritt die Bühne. Heimtückisch horcht sie Gudrune aus und Schritt für Schritt gelingt es ihr, ihre Kontrahentin um die Liebe ihres Gatten zu bringen. Alboin verstößt Gudrune und nimmt Frankissa zur Frau. Die gedemütigte und traurige Gudrune begibt sich zur Küste und hält Ausschau nach einem Schiff, das sie zurück nach Holland bringt. Als sie verzweifelt ins Wasser steigt und schon fast in den Fluten umzukommen droht, wird sie von einem Kriegsschiff entdeckt, das im letzten Moment wendet und sie aufnimmt. Es handelt sich um den Angelsachsen Hengist, der als Räuberfürst auf dem Weg nach England ist und Gudrune als seine Braut ins Boot hievt. In ihrer neuen Heimat gebiert Gudrun ihrem Gatten ein Kind, das ‚Engelke‘, dem sie den Namen ‚Rosamunde‘ gibt. Die Tochter ist von wunderbarer Schönheit, wie Abel hinzufügt, ihr Mund purpurfarben wie die Rose, ihre Haut so weiß wie der Mond: He telde da van öhr en wunderschöne Kint, dergliken man nich veel in allen Ländern find, man het et Engelke, süß aver Rosemunde, u. körter Röneke, wo ick et recht verstunde de Maent ist nich so witt in sinen vullen Schien, u. kene Rose mag so schön bepurpert syn, as öhr Gesicht was.

Auch Rosamunde gewinnt einen Bräutigam, den Britenfürsten Vortigern. Ganz Großbritannien huldigt ihr fortan und staffiert sie so stattlich aus, dass ihre sächsisch-nordische Abkunft schon fast nicht mehr zu erkennen ist.130 Mochte das Englische also auch, so Abel, mit Versatzstücken der französischen Sprache angereichert sein, die Sprache der Landesherren, des Hauses Hannover, war doch durch die Invasion der Angelsachsen ein Abkömmling der sächsischen Sprache und durch die Verbindung mit den keltischen Sprachen entstanden,

130 Ebd., S. 8 f., Zitat S. 8 f.

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die ja ebenfalls zum Stamm der Skythen gehört hatte, wie man glaubte. Von diesen Landes­ herren hatte daher vielleicht auch das Niederdeutsche Gnade zu erwarten. Nach dieser sprachhistorischen Vorgeschichte wendet sich Abel seiner Heldin zu, der Sassine, der Tochter Alboins, die ihrer Stiefmutter Frankissa ausgeliefert war. Der norddeutsche Pfarrer hat keine Bedenken, das Schicksal seiner Sympathieträgerin mit der gebührend persuasiven Sentimentalität zu schildern. Es war klar, dass Sassine Mitleid verdiente. Gudrunes Tochter, die eigentliche Erbin der Ländereien Alboins, hatten die Liebe und ihr reines Gemüt schön werden lassen. Sie blühte im Verborgenen wie die Lilie im Mai, ohne dass sie wahrgenommen wurde. Mochte sie auch der ‚Tucht‘, der guten Erziehung, entbehren, so waren bei ihr doch Tugend und Natur aufs wunderbarste zusammengekommen:131 Se was sin enig Kind u. Erve siner Staaten, en Kind van Lieve schön, noch schöner van Gemöth, u. even as im May de kleine Lilge blöht, de in den Dählern wäßt of gliek se kener wahret, so hatt by öhr Natur u. Dugend sick gepaaret, da et an Tucht gebrack.

Das Niederdeutsche hatte also alle Qualitäten, gerade weil seine Schönheit eine natürliche war. Wie zu erwarten provoziert Sassines Liebreiz die Missgunst der Stiefmutter Frankissa, die ihre schüchterne Unbedarftheit zum Anlass nimmt, Sassine bei Alboin anzuschwärzen. War sie nicht ein dummes Mädchen? Abel wechselt ins Hochdeutsche, als er die Worte der Frankissa wiedergibt, um die Niedertracht der Stiefmutter als Teil des Sprachenkonfliktes zu markieren: „Lieber man, was däucht Dir doch dabey, / ob die Sassine wol von dir entsproßen sey, / ich zweiffle fast daran, das Mensch hat kein Gehirne, / u. schwatzt bey meiner Treu wie eine Bauerndirne“.

Das Niederdeutsche war Opfer einer Intrige geworden. Sassine wies keine Gemeinsamkeiten mit ihrem Vater auf, sie wirkte wie ein agrarischer Tölpel, sicher handelte es sich bei ihr um einen Wechselbalg. Schritt für Schritt verbucht die perfide Strategie Frankissas Erfolge, der König wird Sassine gram und meidet seine Tochter. Schließlich beraubt man sie ihrer schönen Kleider und der Dinge, die ihr sonst noch bei Hofe Ansehen verliehen hatten. Sie wird zum ‚Aschenboßel‘ und selbst das Küchenpersonal beginnt, sie herablassend zu behandeln.132 Die fortwährende Malträtierung Sassines lässt Abel in den ersten Monolog seiner Heldin münden, die bitterlich ihr Leid beklagt. Abel setzt ganz auf die Gefühle seiner Leser: Erst hat sie die M ­ utter verloren, jetzt den Vater! Was hatte sie 131 Ebd., S. 9, Zitat S. 9. 132 Ebd., S. 9, Zitat S. 9.

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armes Kind denn getan, warum ging man so schlecht mit ihr um? Wo es keine Schuld gab, konnte es auch keine Strafe geben. Ja, sie konnte nicht lesen und schreiben, doch hatte ihr niemand diese Kunst beigebracht. Hätte sie es gelernt, wer wusste, ­welche Werke sie vollbringen würde? Ins Zentrum rückt Abel Sassines Lauterkeit, entscheidend war ihre Herzenswärme. Sie war ein Menschenkind, von edler Abkunft wie ihre Eltern, frei von Hoffart. Sie war klug, fromm, treu, aufrichtig und sprach frei und ohne Verstellung, wie Gott ihr die Worte eingab: Ick ben ken Ungehür, ich bin en Minschenkind, van miner Öllern Art, u. so as se gesinnt. weet ick nu glick noch nist van frömder Hoffart Saken, so werd mick doch dat nicht o enem Undeert maken, wenn ick süß klock u. from trü u. uprichtig bin.

War das falsch? Sollte sie stumm verharren? Nein, selbst wenn sie noch so beschimpft wurde, musste sie ihrem Charakter treu bleiben.133 Abel dürfte seine Leser bereits jetzt hinreichend für die so in Misskredit geratene niederdeutsche Sprache eingenommen haben. 3.2.2 Schande und Gelegenheitsdichtung

Sassines Leidensgeschichte aber geht noch weiter und Abel schenkt ihr einige retardierende Momente. Frankissa lässt ihrer Stieftochter das lockig-wallende Haar schneiden, das ihr so gut stand; dennoch lässt sich die Schönheit des Mädchens nicht verstecken. Sassine wächst heran und ihre Umgebung erkennt, dass sie aus fürstlichem Geblüte hervorgegangen sein muss und nicht aus dem einfachen Volk. Wieder aber ist es ihr Herzensadel, der sie für Abel vor anderen auszeichnet. Sassine schmückte sich zwar nicht mit edlen Worten wie die anderen Damen des Hofes, auch ihr Knicks ließ zu wünschen übrig, doch hatte sie ein aufgewecktes Gemüt. Ihr Umgang war ungekünstelt und alltäglich, liebliche Rede und Höflichkeit waren ihr ebenso wenig fremd wie dem Hochdeutschen, ohne dass sie in diesen Fähigkeiten unterrichtet worden wäre: Se plegte sick wol nich met Worden so to teeren, as et de Damen süß van öhren Mömen lehren, se makde kenen Knix u. öhr was nich bewost, dat se bym Knien ock de Bost erheven most, likwol fund sick by öhr en upgeweckt Gemöthe, u. alles wat deh dat hadde Händ u. Föte.134

133 Ebd., S. 9 f., Zitat S. 10. 134 Ebd., S. 10, Zitat S. 10.

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Das Niederdeutsche bedurfte also, so lässt Abel durchblicken, keiner Opitz’schen P ­ oetik, keiner Regelsprache, die ihre Konformität und ihren Klassizismus garantierte, und gewiss keiner dem Französischen nachgeformten Rhetorik, um ihren Wohlklang zu sichern, ihre Vollkommenheit entsprang ihrem Wesen. Aschenbrödels Geschichte ging noch weiter. Frankissa erkennt den natürlichen Liebreiz ihrer Stieftochter und verbietet ihr fortan auch die Küche. Wenn sie auf eine Feier geht, schließt sie Sassine im Keller ein, denn die natürliche Anmut ihrer Stieftochter drohte die aufgeputzte Schönheit der Töchter Frankissas auf den Festivitäten in den Schatten zu stellen. Letztere werden mit Gold, Perlen und Rubinen geschmückt, bei Sassine, die im ‚faulen Loch‘ zu hocken hat, genügt ein Sack als Kleidung.135 Die Vormachtstellung des Hochdeutschen hat also zur Folge, dass auch die Dialekte, die ihm nahestanden, immer noch höhere Akzeptanz fanden als das Niederdeutsche. Dennoch findet sich, wie Abel fortfährt, eines Tages ein ‚Druide‘, der sich Sassines Schicksal erbarmt und sie für den Ball ausstattet. Er verschafft ihr ein Kleid aus ungefärbter Seide, das ihr die Möglichkeit gibt, selbst als schöne Braut auf eine Hochzeit zu gehen: Et drog sick aver to, dat enmal en Druide öhr enen fienen Rock van ungefarvter Siede metliedig overtog, u. se so utgesmückt as ene schöne Brut, met hen tor Hochtiet schickt.136

Eine Fußnote Abels verrät uns, wer dieser Druide war, Johannes Lauremberg. Abels Gewährsmann als Apologet des Niederdeutschen war also der letzte Gelehrte, so lässt es uns der Pfarrer wissen, der seinem Idiom in seinen Gedichten noch einmal den Glanz verliehen hatte, der ihm gebührte. Auf der Hochzeit fragt sich die Gesellschaft, wer die unbekannte Schönheit sei und woher sie stammen mag. Allgemein wird Sassine bewundert, als sie tanzt und sich dem Publikum präsentiert. Selbst Frankissa und ihre Töchter huldigen ihr, auch wenn es sie betrübt, dass Sassine mehr Aufmerksamkeit erhält als sie. Natürlich wird die Camouflage aufgedeckt und auch der seidene Rock, den Sassine schon in Lumpen eingewoben hatte, im Nachhinein gefunden. Frankissa beschimpft ihre Stieftochter auf das Übelste und schlägt sie; fortan wird ihr jeder Schritt aus dem Haus untersagt. Um den Ruf der Renegatin vollends zu ruinieren, greift Frankissa zu einer infamen Strategie. Es schlägt Sassine zu besonderem Schaden aus, dass sie auf einer Hochzeit erschienen war. Ob Abel hier ebenfalls auf das Faktum anspielt, dass auch Lauremberg niederdeutsche Epithalamien verfasst hatte, sei dahingestellt. Es findet sich ein Haufen ‚Mutzen‘, so Abel, die sich wie Sassine vor den Gästen ausschmücken und für sie ausgeben. Wenn ‚Hans die Grete freit‘, so Abel, kann 135 Ebd., S. 10 f. 136 Ebd., S. 11, Zitat S. 11.

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er nicht zur ­Kirche gehen, ohne dass eine ‚Sassine‘ aufspielt und Häcksel für sie streut. Sie verfolgt das Brautpaar bis in die Hochzeitsnacht und lässt das Publikum wissen, was im Ehebett vor sich geht. Alles, was garstig und unverschämt anzuhören ist, haben die falschen Sassinen bei den Bauern vorzutragen, üble und grobe Zoten deklamiert diese depravierte Bagage und ‚kauderwelschige Fratzen‘: Sassine sitt daby wenn se to Bedde geiht, Sassine weet et wol wat se im Bedde deiht, wat gastrig, unverschamt, affschulick antohören dat sall Sassine dohn u. alle Buren lehren de fulste Zoten gahn ut öhren reinen Mund, u. se makt sick alleen dorch öhre Groffheit kund, se weet ock anners nist to köhren och to swatzen, as dulle stinckige u. kuderwelsche Fratzen.137

Sehr zur Freude Frankissas gerät Sassine in öffentliche Schande, was das unschuldige Mädchen zutiefst betrübt. Ein zweites Mal hebt sie zu einer Rede an und beklagt ihr Schicksal mit harschen Worten: Was hat man aus ihr gemacht? Warum tritt jedes Schandpack in ihrem Namen auf? Wenn sie jetzt allen Spitzbuben und Huren zur Kurzweil dient, dann wäre es besser, wenn sie gar nicht mehr existieren würde. Gab es niemanden, der sich ihrer erbarmte und sie ums Leben brachte? Das wäre noch immer erträglicher als zur allgemeinen Unzucht missbraucht zu werden und in vollständiger Schande zu leben! Wer befreite sie aus ­diesem Jammertal, wer holte sie ans Licht und ließ sie in eigenem Namen sprechen? Iß keener mehr, de sick min Elend jamern lett, u. mi dat Levent nemt? dat were mi ja bett, as dat ick mick so sall tor Untucht bruken laten, u. alle Lüde nu den Argwohn van mi faten, as of nist plumperes ock nist unreineres sy. wer makt mick doch enmal vo solcker Schande fry, wer bringt mick an dat Licht, wer gifft mi Macht to spreken, u. hilpt, dat ick mick kann an minen Fienden räcken?138

Sassine weint bitterlich, doch vergeblich. Niemand kommt ihr zur Hilfe. Spott und Hohn sind die Antwort und man schämt sich ihrer. Abel macht zum Thema, was er schon in den Sächsischen Altertümern angesprochen hatte. Das Niederdeutsche der letzten 100 Jahre war auf das Niveau eines barbarischen Soziolektes herabgenötigt worden, zu 137 Ebd., S. 11, Zitat S. 11. 138 Ebd., S. 11 f., Zitat S. 12.

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einer vernakularen Gossensprache, der im Sprachenverbund die unterste Ebene vorbehalten blieb. Gerade die auf Hochzeiten vorgetragenen Gelegenheitsgedichte dokumentieren ­dieses Dilemma. Im Regelfall oblag ihnen die Kategorie des Obszönen, die sich in der Fassade des bäuerlichen Niederdeutschen artikulieren durfte, und eine Klaviatur, die innerhalb der Hochsprache schon aus Gründen des Anstandes nicht mehr gespielt wurde. Das Plattdeutsche hatte sich auf diese Weise selbst entwürdigt und in den Ohren des gelehrten Publikums derartig diskreditiert, dass es zur Vermittlung anspruchsvoller Inhalte nicht mehr in Frage kam. 3.2.3 Sprachpurismus

Der Tiefpunkt des Epyllions war nun erreicht und es war Zeit für die Peripetie. Die Heldin, die ‚desperat‘ geworden ist, so Abel, begibt sich auf eine Aventiure, um sich ihres Wertes zu vergewissern. Sassine beschließt ihr Vaterland zu verlassen, denn sie will nicht länger ein Leben unter wilden Tieren führen. Frankissa, die sich freut, die lästige Konkurrentin ihrer Töchter endlich losgeworden zu sein, überlässt ihr ein paar Lumpen, und Sassine macht sich auf den Weg. Abel gibt diese Entscheidung seiner Hauptfigur die Gelegenheit, an die Verbreitungsgebiete der niederdeutschen Sprache zu erinnern, wie er selbst in einer Anmerkung betont. Sassine springt auf einen Elbkahn und fährt gen Osten, nach Mecklenburg, Pommern, zu den Preußen, schließlich nach Livland und an die russische Grenze.139 Alle diese Länder waren einst Hanseterritorien gewesen, damit aber auch Teil des niederdeutschen Sprachraums. Wie eine zerlumpte Bettlerin stellt sich Sassine an die Straße und bettelt um ein Stück Brot. Wie der Zufall es so will, reitet der Zar, Peter der Große, an ihr vorbei, der ihren Adel gleich erkennt und sie nach ihrem Namen fragt. Sassine stellt sich vor. Sofort kommt dem Zaren ins Gedächtnis, dass doch seine Gemahlin Katharina das Niederdeutsche so oft gerühmt hatte, und lädt Sassine zu sich ein. War er nicht selbst in Holland gewesen und hatte viel von ihr und ihrer Sprache gehört? Mehr noch, war nicht auch die Zarin Katharina aus Livland, wo die Aristokratie noch Niederdeutsch sprach, und stammte nicht auch der erste Minister des Reiches, Johann Andreas Ostermann, aus Westfalen, wo das Plattdeutsche ebenfalls noch gebräuchlich war? Ey sprack he, sind ji de, de mine Catharine so offte mi geröhmt? So leeff as se mi iß, so leeff sind ji mi ock, dat lövet man gewiß. ick bin in Holland west, ick weet um jue Sake, u. holle likeveel van jück u. juer Sprake.

139 Ebd., S. 12.

Caspar Abels Sassine: Eine Apologie des Niederdeutschen im 18. Jahrhundert | 87

Sein Reich sollte ihr offenstehen, solange er und seine Gemahlin die Regentschaft führten. Sassine folgt dem Zaren bereitwillig, sie hatte ja auch keine andere Wahl, wie Abel noch hinzufügt.140 Die Zeit der Erholung währt nur kurz, denn Abel ist sich über die Wechselhaftigkeit der russischen Politik durchaus im Klaren. Nach dem Tod Peters und Katharinas begann die Russifizierung des Reiches und die Bereitschaft, deutsche oder gar niederdeutsche Konversation am Hof zu betreiben, war verschwunden. Ostermann, dessen endgültiger Sturz zur Zeit der Abfassung des Gedichtes noch nicht erfolgt war, rät Sassine, Russland wieder zu verlassen. Der neue Zar, Peter II ., war, wie es heißt, kein Freund der Fremden mehr. Als Alternative schlägt ihr der Minister England vor, wo ihre Halbschwester, die Tochter Gudrunes, residierte. Vielleicht könnte sie dort den Beistand ihres Sohnes erhalten, des englischen Regenten, also König Georgs II ., dessen Ruhm Abel selbst mit Gedichten verbreitet hatte. Er übe auch die Herrschaft über jenes Land aus, das einst die Heimat ihres Vaters Alboin gewesen sei, das alte Niedersachsen. Er sei kein Feind der Frankissa, doch würde er, so lässt es Abel Ostermann versprechen, Sassine auch nicht aus seinem Land vertreiben. Wenn er schon nicht ihr Sohn sei, so doch aus dem Geschlecht der Sachsen, dem Haus Hannover. Er sei in Deutschland aufgewachsen. Wichtig sei noch, wie der Minister hinzufügt, etwas Anderes. Der Regent hätte die wendische Sprache, die so lange im Verborgenen vor sich hin vegetiert hatte, wieder freigegeben. Warum also sollte nicht auch Sassine in den Genuss der Großzügigkeit des Monarchen kommen? He were wol kein Fiend der Königin Frankissen u. wörde se nich gar ut sinem Rieke mißen, doch möste se ock nich Sassinen Unrecht dohn, dat leed he nich van öhr. Wer he schon nich öhr Sohn, so wer he doch as vam Blot der eddlen Saßen, u. noch dato by öhr in Dütschland upgewaßen, de Fryheit, de he ja Wenditten nich versegt, de wörde noch vel ehr Sassinen bygelegt, in sinem Lande sick met Ehren uptohollen, fry ut u. intogahn, ast öhr beleeven wollen.

Abel ist diese Sprachenpolitik des Hauses Hannover eine Fußnote wert. Die Anerkennung von Minderheitensprachen, wie sie durch die Zulassung des Wendischen erfolgt war, musste auch für das Niederdeutsche eine Chance sein. Warum sollte ein polyglottes ­Niedersachsen nicht möglich sein?141 Sassine ist euphorisiert und beschließt, dem Rat des westfälischen Hofmannes zu folgen. Wie aber soll es ihr gelingen, eine Appellation an den englischen König zu erstellen? 140 Ebd., S. 12 f., Zitat S. 12. 141 Ebd., S. 13, Zitat S. 13.

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Noch einmal kommt es zu einer Peripetie, nun aber mit deutlich satirischem Einschlag. Als Sassine wieder in Deutschland ist, wendet sie sich an einen Advokaten und bittet ihn unter Tränen, sich ihrer Sache anzunehmen. Der Jurist schlägt es ihr ab, denn er steht, wie er zur Antwort gibt, in Diensten Frankissas und ist nicht bereit, für sie tätig zu werden. Als alleinige Amtssprache fungierte das Hochdeutsche, wie Abel, ins Gedächtnis ruft. Schon ­dieses Vorrecht musste einen großen Teil der Bevölkerung ausschließen.142 Der Rechtsverdreher gibt Sassine den Ratschlag, sich an einen Küster zu wenden, er sei ein guter Schreiber, der ihr zur Seite stehen könne. Sassine erstarrt in Frustration zu einem Marmorbild, doch so weh ihr der Schimpf auch tut, sie reißt sich zusammen und geht zu dem Mann, der ihr empfohlen wurde. Die anschließende Episode verrät gleich zweierlei. Die Kritik an der mediokren Geistlichkeit und ihrer schlechten Ausbildung war eine besondere Domäne der niederdeutschen Satire gewesen, gerade Lauremberg hatte sich hier hervorgetan. Die Bloßstellung des verkommenen protestantischen Klerus vor Ort geht für Abel einher mit Sprachkritik, wie sie Abel schon in den Sächsischen Altertümern formuliert hatte. Es war auch das Niederdeutsche selbst, das einer Purgierung und Vereinheitlichung bedurfte, wenn es als Schrift- und Gelehrtensprache funktionieren sollte. Der Küster zeigt sich durchaus bereit, Sassine bei der Aufsetzung des Briefes an den König zu helfen, doch sind seine Fähigkeiten augenscheinlich begrenzt. Als er zu Tinte und Feder greift, zeigt sich, dass das Tintenfass schon Schimmel angesetzt hat und das einzige noch vorhandene Blatt Papier von Bier und Fett verdreckt ist. Sassine ahnt bereits, dass das Unternehmen keinen Erfolg zeigen wird, doch belässt es beim Gedanken.143 Nachdem der Küster mühsam eine Initiale zu Papier gebracht hat – Sassine hält von solchen Possen nichts –, schreibt er: „De Keuni wait et jau, wat eck vaur aine ben“. Da waren sie also wieder, die von Abel bemängelten Diphthonge! Entsprechend empört lässt er seine Heldin reagieren. Sollte diese ‚Kakely‘ ihre Sprache sein? O sprack se lat et wesen, ick hebbe nog gesehn, ick mag nich wider lesen, de Ohren dohn mi weh vor diner Kakely, ick weet ock nich wat vor ene Sprake sy.

Wenn sie nach ihren Schuhen, den „Schoh“, verlange, sage sie dann „Schau“? Sassine nennt noch weitere Beispiele, dann verlässt sie den Schreiber, nicht ohne seine Intonation zu imitieren. Abel bemerkt in einer Note, es sei eine Schande, wie sehr „im Niederdeutschen die Bauerndialekte zusammengeschmiert“ worden ­seien.144

142 Ebd., S. 13. 143 Ebd., S. 13 f. 144 Ebd., S. 14, Zitate S. 14.

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3.2.4 Die Apologie des Niederdeutschen

Endlich aber gewinnt Sassine einen Fürsprecher, der ihr den Weg zum König ebnet. Das Gedicht nennt ihn nicht, doch Abel scheint sich selbst zu meinen. Als der Monarch ausreitet, stellt sich auch Sassine mit Hilfe ihres Protektors an den Weg, um ihr Anliegen vorzubringen. Neben ihr erscheint Wendite, ihre Schicksalsgenossin, die wendische Sprache. Gemeinsam erlangen sie die Aufmerksamkeit König Georgs noch leichter, der Regent lässt seine Kutsche halten und fragt, was die beiden Damen wollten. Wendite begehrt nichts weiter, wie sie betont, sie dankt dem König nur, von ihren Ketten befreit worden zu sein, und kündigt an, den Ruhm des Regenten zu verbreiten: Wendite segte, nist, se danckete velmehr, dat se nu wedder fry van öhren Kedden wer, se woll in Ewigheit der Woldat nich vergeten, u. sines Nahmens Rohm mit uttobreden weten, so swack u. arm se was.145

Auch Sassine erhält das Wort. Ihre sich nun anschließende Rede nimmt einen großen Teil des weiteren Gedichtes ein und liest sich als großes Eulogium des Niederdeutschen, das zugleich die ihm gebührende Wiederaufwertung einfordert. Sassine beginnt mit dem Drama ihrer Degradierung: Sie war Sassine, von königlichem Blut, doch sollte ihr Name jetzt besser ‚Burelleke‘ lauten, denn sie hatte nur noch Umgang mit Bauern, während das höhere Volk sie mied. Schon ein Blick in ihre Geschichte jedoch offenbarte, wie weit die Historie des Sachsenvolkes reichte; an ihrer Genealogie, so hatte Abel schon in seinen Sächsischen Altertümern gezeigt, musste auch Sassine Anteil haben. Welche Sprache hatten die deutschen ­Kaiser, die in Magdeburg residierten, gesprochen, wenn nicht Niederdeutsch? Welcher Sprache hatte sich Heinrich der Löwe bedient, der größte der Welfen, den seine Feinde so brutal um sein Land gebracht hatten? Viele Epochen der sächsischen Geschichte könnte Sassine noch anführen. Franken und Schwaben hatten Heinrich seiner Würde beraubt, damit aber auch Sassines Domäne weiter und weiter eingeschränkt. Das Ende der Sachsenkaiser hatte sie auf das ‚Löwennest‘, das heimatliche Niedersachsen, zurückgeworfen. Selbst aus dieser Region hatte Frankissa sie jetzt weitgehend vertrieben: De Francken u. de Swaven entögen öhm u. mi de Vörsten u. de Graven, de öhm süß underdahn mi togedahn gewest, u. ick beheel alleen ju eddle Lauen-Nest. ock darut hatt mi nu Frankissen List gedreven.146 145 Ebd., S. 14, Zitat S. 14. 146 Ebd., S. 15, Zitat S. 15.

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Zur fortwährenden Verringerung der räumlichen Einflusssphäre kam der fortschreitende Niveauverlust, den Abel wiederholt beklagt hatte. Sassines natürliches Reich hatte aus Hof, Kanzel und Rathaus bestanden, wie die vielen niederdeutsch verfassten Chroniken bezeugen konnten. Sassine hatte Gottes Wort verkündet und Recht gesprochen, die Geschichte, also die hohe Form der fachlichen Literatur, wie auch unterhaltsame Werke zu Papier gebracht. Ein griffiges Beispiel hat Abels Sassine direkt zur Hand, den Reineke Fuchs, den jeder gerne las und ‚aestimierte‘.147 Einer der möglichen Lehrer Abels in Helmstedt, der Professor für Ethik und Poetik, Friedrich August Hackmann, hatte den niederdeutschen Reineke zusammen mit den Spruchgedichten des Koners einige Jahre zuvor neu herausgegeben,148 nachdem er diesen Text selbst in seinen Vorlesungen in Helmstedt als Exempel zeitloser Laiendidaxe gefeiert und unterrichtet hatte.149 Dass Abel Hackmanns Namen unterschlägt, konnte an dessen Konversion zum Katholizismus gelegen haben.150 Caspar Friedrich Renners Hennynck de Han, das sich als Fortsetzung des Reineke verstand, war im Jahre 1732 erschienen,151 für Abel ohne Zweifel ein Beleg der Inspirationskraft, die von der alten niederdeutschen Volksdichtung noch immer ausgehen konnte. Selbst wenn, wie Sassine fortfährt, das Niederdeutsche keine Männersprache mehr war, so war es F ­ rankissa doch noch nicht gelungen, sie vollständig aus dem Reich der Frauen zu vertreiben. Zumindest diese Hälfte ihres alten Herrschaftsgebietes hatte Sassine, wie sie proklamiert, eine lange Zeit noch in Händen gehalten: As ock Frankisse mi dat Mannvolck schon entogen, bleef doch dat Fruenvolck noch lange mi gewogen, u. wer met öhnen sprack was ock met mi bekannt, so hadd ick doch dat Rieck noch halff in miner Hand.152

Jenseits der Soziolekte und ihrer Skalierung hatte Abel hier vielleicht noch etwas Anderes vor Augen, die niederdeutschen Gedichte der Husumerin Anna Owena Hoyers,153 die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ähnlich wie Lauremberg noch einmal den Reichtum 147 Ebd., S. 15. 148 Friedrich August Hackmann: Reineke De Vos, mit Dem Koker, Wolfenbüttel 1711. 149 Friedrich August Hackmann: Programma de morali apologo poetico qui nostra vernacula De Reineke Voß appellatur, lectionibus practicae philosophiae publicis praemissum, Helmstedt 1709. 150 Zur etwas zwielichtigen Gestalt Friedrich Hackmanns ist noch immer grundlegend Paul Zimmermann: Friedrich August Hackmann, insbesondere in seinem Verhältnisse zu Leibniz und zu der Universität Helmstedt, in: Braunschweigisches Jahrbuch 2 (1903), S. 81 – 115, dort S. 96 – 101 zu Hackmanns ReinekeVorlesungen, die vor Ort sehr umstritten waren. 151 Caspar Friedrich Renner: Hennynk de Han, Bremen 1732. 152 Abel: Die hülflose Sassine, in: Hofmeister 1881 (wie Anm. 1), S. 15, Zitat S. 15. 153 Zu Anna Hoyers unter vielen z. B. Adah Blanche Roe: Anna Owena Hoyers. A Poetess of the Seventeenth Century, Bryn Mawr 1915, passim. − Als kurze Biographie Heinz-Peter Mielke: Anna Qwena Hoyers. Leben und Werk, Bunsoh 2013, passim.

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dieser Sprache verdeutlichte.154 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts drohte auch d­ ieses Reservat in Gefahr zu geraten; der Abstieg des Niederdeutschen schien unaufhaltsam. Bis hinab in die letzten Schichten der Gesellschaft drang das Monopol des Hochdeutschen und wurde auch den unteren Ständen und den Vertretern des einfachen Volkes oktroyiert. War es den Mädchen in Anstellung früher noch erlaubt, plattdeutsch zu sprechen, so schien jetzt Hochdeutsch Pflicht. Hatte der Bursche aus dem Gesinde bis vor kurzem noch „fründlich gröten“ dürfen, so hieß es nun „schön zu grüßen“, sonst hatte er mit seinem Rücken zu büßen. Sprach er ein Wort Niederdeutsch, setzte es Schläge. War dieser Zustand, so ­Sassine, nicht ein Grund verdrießlich zu sein, wenn man einstmals so ein großes Territorium beherrscht hatte, und nun für alle Welt albern und bäuerlich sein musste?155 Dann nimmt Sassine ihre Konkurrentin, die hochdeutsche Frankissa, in den Blick. So klug und gewandt wie ihre Antagonistin war sie allemal. Dass Frankissa sich dennoch so weise gerierte, sei ihr verziehen. Letztere schwelgte in bunten Kleidern, Sassine trug die „Plünnen“, um die sich niemand scherte. Mit Kunst und Putz ließ sich aus jedem „Hoppenstacken“ ein „Modepüppchen“ machen. Wenn ein Diamant jedoch noch nicht poliert war, war es schwierig, ihn zum Leuchten zu bringen. Verhielt es sich mit S­ assine nicht genauso? Niemand hatte ihr gesagt, was gut und schlecht war, kein Bauernkind war je so vernachlässigt worden. Es war ein Wunder, wie Sassine dem König zu bedenken gibt, dass sie immer noch existierte und ihre hochdeutschen Feinde sie noch nicht ausgerottet hatten.156 Doch es gab Hoffnung, so Sassine, der Abel einen leidenschaft­ lichen Appell in den Mund legt. Gott hatte ihr genug Kraft gegeben, um bei dem König vorzusprechen. Schon das Vorhandensein des aktuellen Gedichtes war also ein Beleg der Kraft, über die das Plattdeutsche als Sprache der Poesie noch immer verfügte. Wandte man etwas Fleiß auf, so Sassine, konnte sich die Sprachensituation in Niedersachsen rasch wandeln. War der Regent nur gnädig, so fanden sich leicht Gelehrte, die ihren Pegasus reiten konnten: Et kumt näst Gott up jück u. jues glieken an, wo ji mick nich versmaht, u. ick mick röhmen kann, dat Ji mi gnädig sind, so feilt et nich an Lüden, de minen Pegasus van Herten gern berieden, so stellt sick herna en heele Sellschopp in, u. maken mick so schön a sick nu gastrig bin. denn sall Ji jue Lust an minen Ledern hören, u. junck u. old werde mick mehr as Frankissen ehren.

154 Anna Owena Hoyers: Geistliche und Weltliche Poemata, Amsterdam 1650, dort z. B. De denische DörpPape, S. 246 – 262. 155 Abel: Die hülflose Sassine, in: Hofmeister 1881 (wie Anm. 1), S. 15. 156 Ebd., S. 15 f.

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Eine gelehrte Sozietät ließ sich gründen, die die scheinbar garstige Sprache in ein edles Idiom verwandeln konnte, dann würde man mit Lust die Lieder hören, die man so lange verachtet hatte. Abel veranlasst diese Bemerkung noch einmal zu einer Fußnote: Ein wenig Fleiß würde schon genügen und mit der Erfahrung würde sich der Erfolg einstellen.157 Sassine betrachtet ihre Lage aus theologischer Perspektive. Zum Ende war es eine Frage der Schicksalsordnung und ihrer Wechselhaftigkeit. Wer heute darniederlag, konnte sich morgen schon wieder erheben. Auch Ikarus war vom Himmel gestürzt. Warum nicht Frankissa? Gott hatte erhoben, was er erniedrigt hatte, auf Nebel folgte Sonnenschein. Auch für Sassine, die so degradiert erschien, konnte sich der Lauf der Dinge ändern. Es kam auf den König an. Wenn er ihr Unterstützung gewährte, könnte Frankissa fallen. Man müsste die Probe aufs Exempel machen. Könnte Sassine ebenso hoch und sinnreich, so nett und lustig wie ihre hochdeutsche Konkurrentin sprechen, wenn sie nur ein wenig in der Kunst geübt wäre?158 Der Leser sollte sich hier, wie Abel antizipiert, rasch im Klaren sein, dass er mit den fünfzehn Gedichten, die der Sassine im Druck folgten, die Probe bereits hinreichend gegeben hatte. Sassine kann noch einige weitere Argumente geltend machen: Aus der Perspektive der nichtgermanischen Zunge müssten Hoch- und Niederdeutsch in ihrer Komplexität gleichberechtigt erscheinen. Warum sollte es schwerer fallen, Nieder- statt Hochdeutsch zu lernen? Franzosen und Engländer hätten ihr schon zu verstehen gegeben, so Sassine, dass das Hochdeutsche in ihren Ohren unverständlich wie Skythisch klänge.159 Die Wiedereinsetzung Sassines in ihre alten Rechte müsste zudem nicht vollständig auf Kosten des Hochdeutschen erfolgen, sie wolle Frankissa auf ihrer neuen Position, die ja nur ihre alte war, nicht verdrängen; es ginge allein um Gerechtigkeit. Es ginge nicht an, dass Sassine mit Bauern als Bauernmädchen spreche, während die Konkurrentin als Fürstin mit Fürstinnen verkehre. Sei nicht die Ansprache, die sie gerade gehalten habe, ein sprechender Beweis, so Sassine noch einmal, dass sie die hohe Form des höfischen Milieus beherrschte? Dat aver geiht nich an, dat gev ick öhr nich fry, dat se de Könnigin ick öhre Slavin sy, dat ick met Buren sall, kum as en Kohstall-Meken, u. se met Vörsten will as ene Vörstinn spreken. Ji hören mick upstund met groter Langmoth an, u. sehn woll dat ick ock met Vörsten spreken kann, so werd et hop ick jück Herr Könnig nich verdreten, dat ick in Demoth mick derff jue Fründin heten.160

Damit ist sie fertig und verbeugt sich demütig vor dem Regenten. 157 Ebd., S. 16, Zitat S. 16. 158 Ebd., S. 16 f. 159 Ebd., S. 17. 160 Ebd., S. 17. Zitat S. 17.

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3.2.5 Realismus, Utopie und Arkadien

Abel konnte in seinem Gedicht keinen Sprachgesetzen, keiner Gründung einer niederdeutschen Akademie oder einem monarchischen Reformprogramm zum Schutz des Niederdeutschen und anderer Minderheitensprachen vorgreifen. Also musste die Antwort des Königs im Vagen bleiben und zugleich ausreichend Hoffnung und Perspektiven bieten. Gnädig blickt Georg auf Sassine und gibt ihr Bescheid. Der neue Erfolg des Niederdeutschen lasse sich nicht herbeizwingen, er läge in ihrer Hand. Es s­ eien die Gelehrten und die Dichter, die sich Sassines Anliegen zu eigen machen müssten, darunter auch diejenigen, die bisher allein im Dienste der Frankissa gestanden hatten. Dazu sei noch Glück notwendig und das Gespür für den rechten Augenblick. Sei Sassines Stunde gekommen, so der König, dann könne sich der Wechsel einstellen. Er selbst würde sich der Wiedereinsetzung Sassines in ihre alten Rechte nicht verweigern: Dat leete sick nich twingen, se möste sülvest sick to Ehren bringen, Gelehrde können veel by öhrer Sake dohn, u. de Poeten ock, de wieder kenen Lohn von öhr verlangeten, as welcken de bekomen, de der Frankissen sick so trülick angenommen.161

Also musste sich Sassine in der gelehrten Welt beliebt machen. Vielleicht fand sich in Hamburg ein Partisan für sie, vielleicht in Lübeck, Kiel, Rostock, Bremen, Celle, Minden, Hannover, Lüneburg, Braunschweig, Magdeburg, Helmstedt oder Halberstadt. Damit waren mehr oder weniger alle Städte im niederdeutschen Sprachgebiet, in denen sich Universitäten, gelehrte Gesellschaften, illustre Gymnasien oder andere Verbünde befanden, genannt. Der König beendet seine Antwort mit einem Segen; ihn würde es freuen, wenn Sassine aus ihrem Winkel hervortreten würde.162 Die letzten Verse des Gedichtes sind nüchtern gehalten. Bei aller Sentimentalität und Empörung weiß Abel doch, wie sehr sich seine Forderungen an den gesellschaftlichen Realien und dem Sprachwandel orientieren mussten. Zugleich bietet er eine vorläufige Lösung an, die ebenfalls eine erste Versöhnung in Aussicht stellt. Sassine dankt dem König für den guten Rat und macht sich auf die Reise. Sie erweitert ihren Horizont noch und beschließt, u. a. auch Berlin, Königsberg, Thorn, Danzig, Stettin, Greifswald und Frankfurt an der Oder aufzusuchen, also auch Städte in Schwedisch-Pommern, Preußen und Brandenburg, und schließlich auch die Altmark, Abels eigene Heimat, in der das Niederdeutsche

161 Ebd., S. 17, Zitat S. 17. 162 Ebd., S. 17 f.

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ebenfalls stark an Geltung verloren hatte.163 Der Dichter selbst wendet sich an seine Leser, um Sassines Situation einzuschätzen. Die Rahmenbedingungen waren, wie gesehen, nicht von Vorteil. Von ‚Hinz und Kunz‘ war keine Hilfe zu erwarten, ‚Meister Grobian‘ würde nur mit der Glocke läuten und Zoten von sich geben: Wat öhr helpen werd, dat werd de Tiet uns lehren, dat weet ick Hintz u. Cuntz werd sick an se nich kehren, Hans Albrecht wiest se hen to Mester Groffian, de met der Klocke lühn u. Zoten riten kan, an Spöttern werd et wol an kenem orde feilen, wenn öhr man einige noch Rath u. Trost erdeilen.164

Die Poeten hatten sich, wie Abel zugibt, schon auf die hochdeutsche Dichtersprache festgelegt; selbst in Niedersachsen, wo die Dichter auf allen Bäumen wuchsen, war der Helikon längst der Frankissa geweiht. Jemand musste den Anfang machen. Doch wer sollte ­diesem Dichter, mit dem sich Abel ein weiteres Mal selbst meinen dürfte, zu Hilfe kommen, wenn sich alle Poeten schon in das Hochdeutsche verliebt hatten? Es fiel nicht leicht, die gelehrte Welt durch entsprechende Schriften zu überzeugen.165 Abel hatte mit seiner Übertragung der Eklogen bereits einen Anfang gemacht und ­Sassine, wie er nahelegt, einen Weg gewiesen. War die Pastorale nicht das für sie angemessene Genre? Ein Arkadien, das vielleicht mit dem bukolischen Pfarrhaus Abels in Aschersleben und seinem Familienleben entsprach, ein Rückzugsraum, der stellvertretend für das sprachliche Asyl stehen konnte, das Sassines Freunde ihr gewährten. Gottergebenheit, Eskapismus, Pfarrhausidylle, vor allem aber der Neuanfang im Kleinen, Gefälligen konnten hier zusammenkommen. Am leichtesten ertrug Sassine ihr Schicksal mit der Souveränität einer Königstochter, die zwar nicht mehr auf dem Thron ihres Vaters saß, doch noch immer eine Krone trug, eine Krone aus Blumen. Wenn sie von Streit und Neid weit entfernt am kühlen Brunnen saß, hatte sie vielleicht die richtige Entscheidung gefällt. Waren die Angehörigen des hohen Standes, so fragt der geschasste Gymnasialrektor Abel, wirklich glücklich oder führen sie nicht ein Leben, das hinter dem der einfachen Menschen zurückblieb? Es folgt die recusatio des Eklogendichters. Sollte Frankissa ruhig die scheinbar edlen Dinge besingen und den Krieg. Sassine besang das Leben selbst. Satyrn und Nymphen freuten sich mit ihr und verzehnfachten ihr Vergnügen. Besser war es, wenn sie lachte, als wenn sie weinte, und auf einer Bauernfeier tanzte, als steif an einer Tafel saß, wo man keinen Brocken Brot ohne Zwang essen konnte:

163 Ebd., S. 18. 164 Ebd., S. 18, Zitat S. 18. 165 Ebd., S. 18.

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Sitt se as Vörstinn nich up öhres Vadders Throne, so iß se doch nu fry: se dregt och ene Crone, de use Schapers öhr ut schönen Blohmen makt, wenn se sick ock by uns an köhlen Beken strakt u. wiet van Nied u. Striet met usen Lämmern speelet, so hatt se sick gewiß dat beste Deel erwehlet. de hoge Stand werd wol vor glücklich angesehn, he iß aver nich, vel Sorgen drücken öhn, u. sellen föhlt he wat van dem vergnögten Leven, dat Gott dem neddrigen so sinem Deel gegeven. Frankisse weete sick met öhrer Hogheit veel, Gott ehre mi davor Sassinen Schaperspeel, Frankisse mag allwol van Krieg u. groten Dingen, Sassine sall davor van Lust u. Leeve singen, so dantzt de Satyren u. Nymphen um se her, u. maken se dadorch noch teinmol lustiger. ‘t iß beter dat se lacht, as dat se weenen möste, se hüppt ock leever met up ener Buren Köste, as dat se vuller Twang an ener Tafel sitt, wo man ken Betten Brod met fryem Herten it.166

Zumindest ein erster Schritt war mit einem solchen Rückzug nach Arkadien getan, der die Märchenmotivik, die den Rahmen des Gedichtes gebildet hatte, zugleich noch einmal reflektierte. Sassine musste sich nicht länger grämen, auch wenn sie keinen großen epischen Poeten fand, der sich ihrer annahm. Wenn sie schon nicht in ihrer Reputation mit dem Hochdeutschen gleichzog, so war sie doch wenigstens der Prostitution der Vulgärsprache entrissen worden. Ein ‚Narrenkleid‘ musste ihr niemand mehr überwerfen.167 Eine Utopie möchte Abel zum Ende dennoch aufscheinen lassen; sie hat ihren Ort in Niedersachsen. Ein Jahr vor Beendigung des Gedichtes war vom hannoverschen Landesherrn in Göttingen eine neue Universität gegründet worden, die allen anderen Hochschulen und Bildungs­ institutionen den Rang ablaufen sollte. Konnte Göttingen nicht auch zu einem Pindos und Parnass des Niederdeutschen werden? Zum Lobpreis der Niedersachsen konnte hier die Zeder blühen. Wenn Halle oder Leipzig zum Herrschaftsgebiet der Frankissa zu rechnen waren, warum sollte Göttingen, so Abel, nicht zur neuen Festung der Sassine werden? Von hier aus sollte die ganze Welt dann über sie urteilen, denn sie musste sich nicht mehr vor ihr verstecken: Werd Gott öhr Glück dato u. sinen Segen geven, ja fenget se dasülffst van nien an to leven, 166 Ebd., S. 18 f., Zitat S. 18 f. 167 Ebd., S. 19.

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so werd ock Göttingen dorch öhren Glans u. Schien, en Pindus u. Parnass in Nedder-Saßen syn. Gott gev et dat se mag tom Pries der eddlen Saßen, as ene Palme blöhn, as ene Ceder waßen, dat, wenn Frankisse veel van Hall u. Leiptzig hölt, Sassine Göttingen öhr driest entegen stellt, un lett de ganse Welt davan dat Ordel spreken, dat se nich brucket sick vor öhnen to versteken.168

4. Fazit Zu beantworten bleibt die Frage, ob Abel sein Projekt tatsächlich nach 1738 dennoch für gescheitert hielt und von der Veröffentlichung der Sassine und der anderen Gedichte des dritten Bandes der Satiren deshalb absah. Auch wenn Gottscheds Kritik den Pfarrer vielleicht zum Rückzug ins Private motiviert hatte, hatte Abel, wie gesehen, den Anspruch auf die Restituierung des Niederdeutschen auch in der überarbeiteten Fassung der Sächsischen Altertümer nicht gestrichen. Es gibt noch ein zweites Indiz für das ungebrochene Vertrauen Abels, das er vor allem in die Universität Göttingen setzte. Im Jahre 1750 hält Johann David Michaelis in Göttingen, als er seinen Ruf auf die ordentliche Professur annahm, eine Rede über die Dialekte der deutschen Sprache, die in der Vermittlung der Theologie Verwendung fanden. Beantworten wollte der große Orientalist, der aus Halle stammte, hier vor allem, warum der Dialekt von Meißen sich im Gefolge der Lutherbibel in der Frühen Neuzeit so massiv hatte verbreiten können.169 Große Aufmerksamkeit schenkt Michaelis in ­diesem Zusammenhang noch einmal dem Niederdeutschen, das, wie der Theologe betont, angenehm im Klangbild war, weich und flüssig ausgesprochen wurde und auch d ­ iesem Grund lange Zeit als Übersetzungssprache der Bibel und als Sprache der Kirchenordnungen in Norddeutschland bis Ende des 17. Jahrhunderts in Gebrauch geblieben war. Es war daher angebracht, wie Michaelis schließt, dieser Sprache in Niedersachsen wieder mehr Respekt entgegenzubringen und sie wieder häufiger zu n ­ utzen.170 Ein Verbot, auf Niederdeutsch zu predigen, war zudem nie erlassen worden. Die Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen 168 Ebd., S. 19, Zitat S. 19. 169 Johann David Michaelis: Oratio de ea Germaniae dialecto, qua in sacris faciundis atque in scribendis libris utimur, Göttingen 1750, passim. − Zum gleichen Thema danach z. B. auch Kinderling 1800 (wie Anm. 78), S. 389 – 394. − Oder Petrus Trendelenburg, Johannes L. Schenmark (resp.): Meditationes nonnullae circa linguam germanicam, Lund 1773, §§ 12 – 14, S. 12 – 14. 170 Michaelis 1750 (wie Anm. 169), S. 21 – 34. − Zu dieser Rede schon Heinrich Wesche: Niederdeutsch an der Georg-August-Universität in Göttingen, in: Neues Archiv für Niedersachsen 8 (1955/56), S. 357 – 372, hier S. 360 f., dort auch kurz zu Abel. − Auch Faulstich 2008 (wie Anm. 37), S. 194 – 198. − Wiggers 2013 (wie Anm. 49), S. 137.

Caspar Abels Sassine: Eine Apologie des Niederdeutschen im 18. Jahrhundert | 97

(später Göttingische gelehrte Anzeigen) des Jahres 1750 und 1751 rezensieren die Rede des neuberufenen Professors durchaus wohlwollend.171 Abel hatte auch dreizehn Jahre nach Abfassung seiner Sassine sein Handexemplar offensichtlich nicht vollständig zur Seite gelegt. Gleich zweimal, einmal am Rande des gedruckten „Vorberichtes“ zu Beginn des zweiten Bandes und noch einmal am Anfang der Sassine, notiert der Pfarrer aus Aschersleben einen Hinweis auf die Göttinger Rede des Michaelis und ihre Rezension in den Gelehrten Anzeigen.172 Michaelis hatte Abel also aus der Seele gesprochen und seinem Wunschtraum in Abels Augen noch einmal Nachdruck verliehen. Caspar Abel hatte die Form des Gedichtes gewählt, um für das Niederdeutsche Partizipation einzufordern und damit Sprachenpluralismus für den niedersächsischen Raum. Er entscheidet sich für eine Mischform z­ wischen Lehrgedicht und Kleinepos, um die niederdeutsche Sprache für sich selbst sprechen zu lassen. Die genealogischen Konstruktionen, mit deren Hilfe Abel die Geschichte der Sachsen aufrüstet und ihre historienübergreifende ethnische Identität überhaupt erst behauptet, unterscheiden sich dabei, wie gesehen, in ihrem Universalitätsanspruch nur wenig von den Modellen seiner Zeitgenossen. Bei Abel werden sie zu einem Instrument, nicht um Überlegenheits- oder Primordialitätsnarrative zu liefern, die einen Exklusivitätsanspruch vertreten würden, sondern um Gleichberechtigung für seine Muttersprache einzufordern. Das Niederdeutsche war als Dichtersprache in der Lage, es mit Vergil und Horaz aufzunehmen und sich damit über die Latinität in den Chor der europäischen Kultursprachen einzureihen. Selbst wenn seine Rehabilitation scheitern sollte, blieb ihm ein arkadischer Rückzugsraum, der seine poetische Legitimation aus dieser Tradition gewinnen konnte. Im Unterschied zu den vielen missratenen Nationalisten, die sich im 19. und 20. Jahrhundert zu Fürsprechern des Niederdeutschen erklärt hatten, favorisiert Abel eine Utopie, die Sprachenemanzipation nicht zu einem individuellen Vorrecht auf Kosten anderer erklärt. Sassines Mitstreiterin, der slawischen Wendite, sollten in Niedersachsen die gleichen Rechte gebühren wie dem Plattdeutschen. Die neue, monarchisch garantierte Sprachenlandschaft des Nordens sollte pluralistisch sein. Dieser Wunsch dürfte Abel auf seine Weise moderner gemacht haben als viele der Apologeten des Niederdeutschen, die ihm nachfolgten.

171 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen (1750), Nr. 115, 16. November, S. 913 – 915. − Ebd., (1751), Nr. 37, 15. April, S. 305 f. 172 Abel 1738 (wie Anm. 109) (Universitätsbibliothek Rostock, MS. phil. 92), Vorbericht (Bd. 2), fol. 6r. − Und ebd., Bd. 3, fol. 13r.

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Martin Baisch und Anabel Recker

Ein Traum von arthurischer sælde Die Leidener Wigalois-Handschrift (Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B)

1. Wigalois in Amelungsborn – Eine prachtvolle Artushandschrift aus Niedersachsen Im 14. Jahrhundert kommen Vollhandschriften, die Artusromane überliefern, in Norddeutschland so gut wie nicht vor.1 Dies führt Jürgen Wolf zu dem Befund, die „höfischarthurische Literatur spiel[e] im norddeutschen Raum in jeder Beziehung keine Rolle“.2 Der Grund hierfür sei das grundsätzlich verloren gegangene Interesse an dem literarischen Stoff um die Tafelrunde: Im Norden und Nordosten nimmt man einen sonst überall erfolgreichen literarischen Artus dagegen nur gebrochen über einige wenige Abschriften hochdeutscher Artushandschriften oder Übersetzungen französischer Artusromane wahr. Auf eine eigene, fiktionale Artusliteratur verzichtet man sogar vollständig. Wirkmächtig ist allerdings die Vorstellung eines realen König Artus, eines realen Artushofs und einer realen Artusturnier- bzw. Festkultur – freilich im zeitgenössischen und nicht im historisch-dynastischen Sinn. Entsprechende Artuskenntnisse werden über persönliche Kontakte, über Handelsbeziehungen und dann vor allem über die beliebten Preußenreisen direkt aus dem arthurischen Kernraum in den Ostseeraum hineingetragen. Die reiche Artusliteratur des Westens und des Südens scheint in einem solchen Beziehungsgeflecht fast bedeutungslos gewesen zu sein.3

Neben einem westfälischen Fragment des von Wolf als „Zeugnis des Scheiterns“ 4 bezeichneten Loccumer Artusromans und einem heute in Kiel verwahrten Fragment der Crône 1

2 3 4

Vgl. die Tabelle bei Hans-Jochen Schiewer: ‚Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme‘. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert, in: Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. v. Volker Honemann, Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 222 – 278, hier S. 242 – 255. Jürgen Wolf: Arthuriana im deutschen Norden. Das Mysterium des (deutschen) Nordens: breites Artus­ interesse ohne literarische Zeugnisse?, in: Artushof und Artusliteratur, hg. v. Matthias Däumer u. a. (Schriften der internationalen Artusgesellschaft, Bd. 7), Berlin, New York 2010, S. 325 – 340, hier S. 329. Ebd., S. 339 – 340. Wolf 2010 (wie Anm. 2), S. 329.

Ein Traum von arthurischer sælde | 99

Heinrichs von dem Türlîn 5 scheint es nur einen im mittelniederdeutschen Sprachraum entstandenen, vollständig erhaltenen Überlieferungszeugen eines Artusromans aus dem 14. Jahrhundert zu geben: die Leidener Wigalois-Handschrift.6 Jede Studie über produktive literarische Artusrezeption in Norddeutschland sollte wesentlich von dieser Handschrift ausgehen. Umso überraschender wirkt es, dass dies bislang kaum geschehen ist. Spricht man von Artusromanen im deutschen Norden, ist damit geographisch und dialektal der mittelniederdeutsche Sprachraum gemeint. In den Fällen von fragmentarischer Überlieferung oder wo keine anderen Hinweise auf den Ursprungsort einer Handschrift, wie etwa Schreiberkolophone, vorhanden und keine Informationen zur Provenienz gegeben sind, verkörpert der schreibsprachliche Nachweis mittelniederdeutscher Einflüsse häufig den einzigen Anhaltspunkt, um einen Codex zu lokalisieren. Wenngleich seine Entstehung im mittelniederdeutschen Sprachraum ein wichtiges Kriterium bildet, damit man über einen Textzeugen sagen kann, er stamme aus dem Norden, kann für den hier besprochenen Zeitraum oft nicht leicht darüber entschieden werden. Das Mittelniederdeutsche hat sich erst mit einiger Verspätung gegenüber dem Mittelhochdeutschen als Schreibsprache durchgesetzt, entweder wurde Latein geschrieben oder das Hochdeutsche als standardisierte Variante der eigenen Mundart rezipiert.7 Schreiber von Abschriften mittelhochdeutscher Vorlagen hätten nur bedingt Anlass gehabt, die Schreibsprache eines umfangreichen Texts willentlich zu 5 6

7

Vgl. Universitätsbibliothek Kiel UB, Ms. K. B. 48, digitalisierte Bestände der Universitätsbibliothek Kiel; urn:nbn:de:gbv:8:2-1698463 (12. 04. 2021). Bei dem Fragment handelt es sich um die Abschrift einer oberdeutschen Vorlage im niederdeutschen Sprachraum. Vgl. Schiewer 1988 (wie Anm. 1), S. 232. Vgl. zum Loccumer Artusroman Hartmut Beckers: Ein vergessenes mittelniederdeutsches Artuseposfragment (Loccum, Klosterbibliothek, Ms. 20), in: Niederdeutsches Wort 14 (1974), S. 23 – 52. – Ders.: Loccumer Artusroman, in: Verfasserlexikon, Bd. 5 (1985), Sp. 886 – 888. Beckers hat in einer Reihe von Beiträgen die fragmentarischen Zeugnisse für die Rezeption höfischer Erzählstoffe im norddeutschen Raum erforscht. Vgl. ders: Sprachliche Beobachtungen zu einigen ‚Parzival‘-Bruchstücken niederdeutscher Schreiber, in: Wolfram-Studien 12 (1992), S. 67 – 92. – Ders.: Literatur am klevischen Hof von 1174 bis 1542: Zeugnisse, Spuren, Mutmaßungen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 426 – 434. Vgl. zur mittelniederdeutschen Schriftsprachlichkeit vor allem Hartmut Beckers: Zum Wandel der Erscheinungsformen der deutschen Schreib- und Literatursprache Norddeutschlands im ausgehenden Hoch- und beginnenden Spätmittelalter (rund 1170 – 1350), in: Niederdeutsches Wort 22 (1982), S. 1 – 39 – Robert Peters: Zur Sprachgeschichte des niederdeutschen Raumes, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), Sonderheft: Regionale Sprachgeschichte, hg. von Werner Besch und Hans Joachim Solms, S. 108 – 127. – Robert Peters: Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (ASnA). In Zusammenarbeit mit Christian Fischer, Norbert Nagel, 3 Bde., Berlin, Boston 2017. Robert Langhanke erstellt eine historische Periodisierung niederdeutscher Literatur, die dem allgemeinen Konsens folgend mittelniederdeutsche Literatur ­zwischen ca. 1200 und 1650 ansetzt. Vgl. Robert Langhanke: Neuniederdeutsche Literatur: Über Beginn und nahenden Abschluss einer überschaubaren Literaturtradition, in: Dialektliteratur heute – regional und international. Forschungskolloquium am Interdisziplinären Zentrum für Dialektforschung an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, 19. 11. 2009 – 20. 11. 2009, hg. v. Horst Haider Munske, Erlangen 2010;

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verändern – mit anderen Worten: ins Mittelniederdeutsche zu übersetzen –, da die auftraggebenden Rezipienten gebildet und der Hochsprache mächtig waren. Vor d ­ iesem Hinter­ grund handelt es sich bei Wolfs Einschätzung, das um 1300 datierende Fragment des auf Mittelniederdeutsch abgefassten Loccumer Artusromans sei „der einzige genuin norddeutsche Artusroman“ 8, womit die eigenständige Dichtung eines solchen gemeint ist, um eine stark aus hochdeutscher Perspektive gedachte Auffassung, die die intralingualen Überlieferungsbedingungen weitgehend ausblendet.9 Die Zahlen zeigen überdeutlich, wie viel mehr Artushandschriften im hochdeutschen Süden produziert wurden. Was sie nicht zeigen, und auch nicht zeigen können, ist, wer diese Texte wann an welchem deutschsprachigen Ort rezipiert hat. Im Anschluss an die bisherige Forschung soll im Folgenden danach gefragt werden, warum die Leidener Handschrift von der germanistischen Mediävistik so wenig beachtet wurde. Warum versteht man sie als Zeugnis einer späten arthurischen Heldenverehrung, nimmt sie als Überlieferungszeugen aber nicht ernst?10 Warum wird ihre Existenz im norddeutschen Raum in ein Argument für die Abwesenheit von Artusliteratur verkehrt (‚Einzelfall‘)? Überformt die Dichotomie von Zentrum und Peripherie der Literaturproduktion eventuell die Art und Weise, wie die Handschrift wahrgenommen wird? Wie wird in ihr der Wigalois rezipiert, adaptiert und verbildlicht? Lässt der Codex Rückschlüsse auf regionale Identitätsstiftung zu? Um diesen Fragen nachzugehen, erfolgt eine Beschreibung, die vor allem dem Bildprogramm größere Aufmerksamkeit schenkt. Im nächsten Schritt wird eine Auswahl von Illustrationen der Handschrift unter besonderer Berücksichtigung ihrer Materialität näher beleuchtet und zum Text des Wigalois in Beziehung gesetzt. Unter anderem stellt sich uns die Frage, w ­ elche Darstellungsabsichten sich aus der kostbaren Bebilderung ablesen lassen und auf w ­ elche Weise die enge Text-Bild-Interaktion im Rahmen des Wigalois funktionalisiert wird. Über die Spezifika der Visualisierungsstrategien sollen Merkmale des Codex www.dialektforschung.phil.uni-erlangen.de/dialektliteratur (25. 02. 2022). Den Wechsel vom Lateinischen zum Mittelniederdeutschen beschreibt Ingrid Schröder in ihrem Beitrag in ­diesem Band. 8 Wolf 2010 (wie Anm. 2), S. 329. 9 Die disziplinäre Zugehörigkeit der Niederdeutschphilologie zur Sprachwissenschaft zieht ein literaturwissenschaftliches Forschungsdefizit nach sich, dessen sich die germanistische Mediävistik langsam bewusst wird. Während die Linguistik Übertragungen z­ wischen Mittelhochdeutsch bzw. Frühneuhochdeutsch und Mittelniederdeutsch oft nicht untersuchte, da sie mehr an ‚genuin‘ niederdeutschen Texten interessiert war, galten sie der mediävistischen Literaturwissenschaft aus demselben Grund nicht als wirkliche Übersetzungen, sondern als unbedeutende intralinguale ‚Varianten‘. Die innerdeutschen Transferleistungen als ­solche haben beide Disziplinen nicht anerkannt. An vielen Stellen sind mittelniederdeutsche Textzeugen daher unsichtbar, besitzen beispielsweise keine eigenen Einträge im Verfasserlexikon oder werden weiterhin editionsphilologisch marginalisiert, wie in der Neuausgabe des Lieds vom Hürnen Seyfrid von Maike Claußnitzer und Kassandra Sperl. Stuttgart 2019 (Relectiones 7). Der mittelniederdeutsche Überlieferungszeuge erscheint dort, unverändert zu früheren Ausgaben, als Variante im Apparat. 10 Vgl. Wolf 2010 (wie Anm. 2), S. 329.

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herausgestellt werden, die seinen aus dem Fehlen bestimmter Eigenschaften heraus proklamierten Mängeln und seiner daraus resultierenden Vernachlässigung positive Werte entgegenhalten.

2. Die Materialität der Handschrift Die Leidener Wigalois-Handschrift ist eine noch 115 Blätter umfassende Pergamenthandschrift, die als einzigen Text den Wigalois beinhaltet.11 Diese für mittelalterliche Artusepik eher ungewöhnliche Einzelüberlieferung ist charakteristisch für den Text. Im Gegensatz zu den meisten anderen höfischen Romanen hat sich die Form der Einzelcodifizierung zu irgendeinem Zeitpunkt der Überlieferung verfestigt, obwohl der Wigalois im 15. Jahrhundert gelegentlich auch mit anderen epischen Texten zusammen überliefert wurde, meistens dann nur mit einem anderen Text, wie etwa Wolframs Parzival.12 Bis auf den Parzival ist auch kein anderer Artusroman derart breit überliefert: Mit 38 Textzeugen, davon 13 11 Leidener Wigalois-Handschrift, Universiteitsbibliotheek Leiden, Ltk. 537, Sigle B. Kloster Amelungsborn, 1372. Vgl. Leiden University Libraries. Digital Collections, LTK 537; http://hdl.handle.net/1887.1/ item:1615443 (25. 02. 2020). Ausgaben (ohne die engl. u. frz. Übersetzungen): Wigalois, Der Ritter mit dem Rade, getihtet von Wirnt von Gravenberch, hg. v. Georg Friedrich Benecke,2 Bde. Berlin 1819. – Wigalois. Eine Erzählung von Wirnt von Gravenberg (Dichtungen des deutschen Mittelalters 6), hg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1847. – Guy von Waleis. Der Ritter mit dem Rade. Von Wirnt von Gravenberg, hg. v. Wolf von Baudissin, Leipzig 1848. – Wigalois, der Ritter mit dem Rade, von Wirnt von Gravenberc, hg. v. J. M. N. Kapteyn, Bd. I: Text (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde, Bd. 9) [mehr nicht erschienen], Bonn 1926. – Wigalois A: A Prototype Edition of Wirnt von Gravenberg’s Wigalois, hg. v. Beverly Mae Freeland, Diss. masch. Los Angeles 1993 (nach A). – Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text, Übersetzung, Stellenkommentar. Text der Ausg. v. J M. N. Kapteyn übers., erl. u. mit einem Nachw. vers. v. Sabine Seelbach, Ulrich Seelbach, 2., überarb. Aufl., Berlin, Boston 2014. 12 Gemeinsam mit dem Parzival überliefert den Wigalois der Cod. germ. 6 der Hamburgischen Staats- und Universitätsbibliothek (Parzival Bl. 8a–365a, Wigalois Bl. 367a–560a), vgl. Staats- und Universitätsbiblio­ thek Hamburg Carl von Ossietzky, Digitalisierte Bestände, Cod. germ 6; https://digitalisate.sub.unihamburg.de (25. 02. 2020). Diese Konstellation findet sich ebenfalls in einem Schweriner Codex ohne Signatur (Wigalois Bl. 1ra–68va, Parzival Bl. 69ra–206vb), den Günther Uecker von der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern in Verbindung mit dem Berner Parzival-Projekt von Michael Stolz online zugängig gemacht hat unter https://www.parzival.unibe.ch/schwerin/Daten/index.html (25. 02. 2020). In ­diesem Fall handelt es sich wahrscheinlich um eine sekundäre Zusammenstellung beider Texte aus dem 19. Jahrhundert, wie Robert Schöller in der Handschriftenbeschreibung vermerkt. Vgl. https://www. parzival.unibe.ch/schwerin/Daten/einfuehrung.html (25. 02. 2020). Mirjam Geissbühler zeigt darüber hinaus, dass sowohl der kodikologische Befund – verwendetes Papier, Wasserzeichen, Einrichtung des Texts, Tintenuntersuchung – als auch der Textvergleich die von Bernd Schirok vertretene These einer gemeinsamen Vorlage aus dem 13. Jahrhundert, die den Parzival und den Wigalois enthalten haben könnte, widerlegen. Vgl. Mirjam Geissbühler: Codex Germanicus 6 der Staats- und Universitätsbiblio­ thek Hamburg. Entstehungsprozess, Sammelkonzept und überlieferungsgeschichtliche Stellung der

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Vollhandschriften, zählt er zu den erfolgreichsten Vertretern weltlicher Erzählkunst des Mittelalters.13 Eine der vollständigen Handschriften, ein Kölner Codex aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, ermöglicht der Forschung sogar einen Einblick in die in anderen Fällen häufig verlorene Frühüberlieferung des um 1220 entstandenen Texts.14 Die Provenienz der Handschrift lässt sich zurückverfolgen bis zu Cyriacus Spangenberg, der sie nach eigenen Angaben um 1570 an die Grafen zu Mansfeld übergeben hat. Später gehörte sie zur Bibliothek der deutschen Brüder Eustachius und Alexander Wiltheim (Ende 17. / Anfang 18. Jahrhundert), aus deren Besitz sie in die Maatschappij der Nederlandse Letterkunde überging (gegründet 1766 in Leiden).15 Im Kontext der Überlieferung fällt dem Leidener Codex eine bedeutende Rolle zu. Nicht nur repräsentiert er eine von lediglich drei vollständig erhaltenen Handschriften aus dem 14. Jahrhundert,16 sondern er wurde als einziger im norddeutschen Raum angefertigt. Ein mittelniederdeutsches Kolophon bestimmt Ort und Zeit seiner Herstellung: Amelungsborn im Jahr 1372 (Bl. 117v). Dit bok is gehe screuen na godes bort / dritteyn hundert iar in deme twe vnde / Seuentigesten iare in dem hilghen auen / to twelften. Vnde heft gehe screuen / her Jan uon brunswik monek tho / amelunges born vnde dit bok hort / hertzogen alberte here tho brunsw / vnde heft et getu [get] wert stelt oder ni / mpt dat oms. Nummer gut gesche. Amen.

Mit 49 meist halbseitigen Illustrationen verfügt die Handschrift über eine außerordentlich reiche Bebilderung.17 Als weitere Besonderheit tradiert sie den berühmten Prolog des

13

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17

Parzival-Handschrift L. Diss. masch. Bern 2017, S. 141 – 146 und S. 154 – 162. – Bernd Schirok: Parzivalrezeption im Mittelalter (Erträge der Forschung 174), Darmstadt 1982, S. 39. In der Überlieferung der späteren Artusromane nimmt der Wigalois einen herausragenden Platz ein. Schiewer zählt 41 Textzeugen (vgl. Schiewer 1988, wie Anm. 1, S. 235), der Handschriftencensus hingegen 38 (https://www.handschriftencensus.de/werke/432 [25. 02. 2020]), da einige Fragmente inzwischen als denselben Überlieferungsträgern zugehörig identifiziert werden konnten. Der Codex Köln W* 7020 (Hs. A) tradiert den Wigalois zusammen mit dem Iwein. Vgl. Das digitale Historische Archiv der Stadt Köln, Wigalois, der Ritter mit dem Rade; http://historischesarchivkoeln. de/de/lesesaal/verzeichnungseinheit/172902/Best.+7020+6+Wigalois%2C+der+Ritter+mit+dem+Rade?​ limit=&page=1 (25. 02. 2020). Vgl. John Meier: Die deutschen Handschriften in der Bibliothek der Wiltheims, in: Anzeiger für deutsches Altertum 15 (1889), S. 148 – 149. – Antonia Gräber: Bild und Text bei Wirnts von Gravenberg ‚Wigalois‘. Mag.-Arb. Freiburg i. Br. 2001, hg. und mit einem Vorwort von Marcus Schröter, Volker Schupp, Freiburg i. Br. 2012, S. 30. Staats- und Universitätsbibliothek Bremen Ms. b 42, 1356, alemannisch und Württembergische Landesbibliothek Stuttgart HB XIII.5, 1361 – 64, schwäbisch. Vgl. Heribert A. Hilgers: Materialien zur Überlieferung von Wirnts Wigalois, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 93 (1971), S. 228 – 288, hier S. 234 u. 269. Die halb- und ganzseitigen Illustrationen befinden sich auf den Bll. Ir, Iv, 4r, 7v, 15r, 17v, 18v, 20v, 21v, 22r, 24r, 25v, 29v, 31v, 32r, 36v, 40v, 45v, 46r, 46v, 47r, 47v, 49v, 51v, 53r, 53v, 56r, 56v, 57v, 58r, 59r, 61r,

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Wigalois, den nur vier der Vollhandschriften mitüberliefern. Das Buch selbst tritt als die sprechende Instanz auf, die den Leser adressiert: Wer hat mich guter uf ghe tan Si iz ieman der mich kan Beide lesen und ver sten Der sol genade an mir be gen Ob icht wandels an mir si Daz he mich doch laze vri Valscher rede daz eret in.18

Auf eine in der mittelalterlichen Literatur einzigartige Weise spricht der Text zum Leser, aber nicht wie es der Erzähler oder eine Figur der Erzählung in höfischen Romanen tun, sondern das Buch selbst ergreift das Wort. Mit diesen selbstreflexiven Versen tritt die Medialität und Materialität des Codex in den Vordergrund, der Text verweist auf sich selbst als historisches Dokument. Damit stellt er aus, dass er weiß, dass er unabhängig von seiner Dinglichkeit nicht wahrgenommen, eben nicht betrachtet und gelesen werden kann. Dass die Forschung zum späten Artusroman dem Codex bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, muss auch angesichts seiner prunkvollen Ausstattung überraschen.19 61v, 63r, 64r, 68v, 69r, 71v, 72v, 74v, 75r, 79r, 80r, 90v, 95r, 95v, 96r, 97r und 118r. 18 Leiden LTK 537 (wie Anm. 11), Bl. 1r. Diese und alle weiteren aus der Handschrift zitierten ­Textstellen werden behutsam normalisiert wiedergegeben, das heißt Kürzungszeichen und Diakritika werden aufgelöst, r- und s-Grapheme normalisiert. Die Groß- und Kleinschreibung sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung folgt der Handschrift. Alle Versangaben verweisen auf die Ausgabe von Seelbach/ Seelbach 2014 (wie Anm. 11). 19 Zentral behandelt wird der Codex bei Gräber 2012 (wie Anm. 15) und James H. Brown: Imagining the Text. Ekphrasis and Envisioning Courtly Identity in Wirnt von Gravenberg’s Wigalois, Leiden, Boston 2016. – Siehe auch Anja Becker: Dialogszenen in Text und Bild. Beobachtungen zur Leidener WigaloisHandschrift, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. v. Nine Miedema, Franz Hundsnurscher (Beiträge zur Dialogforschung 36), Tübingen 2007, S. 19 – 41. – Frühere Auseinandersetzungen mit der Handschrift blieben meist knapp. Vgl. Edward Schröder: Die Leidener Wigaloish[and]s[chrift], in: Zeitschrift für deutsches Altertum 45 (1901), S. 228. – ­Victor Curt Habicht: Zu den Miniaturen der Leidener Wigalois-Handschrift, in: Der Cicerone 14 (1922), S. 471 – 475. – Wolfgang Stammler: Zur Leidener Wigaloishandschrift, in: Der Cicerone 14 (1922), S. 699 – 700. – Alexander Willem Byvanck: Les principaux manuscrits à peintures conservés dans les collections publiques du royaume des Pays-Bas (Bulletin de la Société Française de Reproductions de Manuscrits à Peintures 15), Paris 1931, S. 96, Tafel XXXI. – Werner Fechter: Zu den Wigalois-Handschriften, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 71 (1934), S. 258. – Alfred Stange: Deutsche Malerei der Gotik. 2 Bde. Bd. 2: Die Zeit von 1350 bis 1400, Berlin 1936, S. 131. – Roger Sherman Loomis: ­Arthurian Legends in Medieval Art, New York 1938, S. 81 u. 134 – 135. – Gerard Isaac Lieftinck: ­Manuscrits datés conservés dans les Pays-Bas. Bd. 1: Les manuscrits d’origine étrangère (816 – c. 1550), Amsterdam 1964, S. 110 (Nr. 252), Tafel 293. – Ingeborg Henderson: Manuscript Illustrations as Generic D ­ eterminants in Wirnt von Gravenberg’s ‚Wigalois‘, in: Genres in Medieval German Literature,

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Das eng an den Text angeschlossene Bildprogramm bleibt für das 14. Jahrhundert ohne Vergleichsbeispiel, denn sowohl was den Umfang als auch was die Darstellung anbelangt, erregen die Illustrationen Aufsehen in ihrer Komposition, Farbigkeit, Detailgenauigkeit und Textnähe. Außer den leuchtenden Farben, die sofort ins Auge springen, fällt die senkrechte Zweiteilung der Bilder auf (vgl. Bl. 4r, Abb. 2). Viele der Miniaturen sind auf diese Weise unterteilt, entweder durch einen Farbwechsel des Hintergrundes oder durch Pflanzen, Ornamente und Rosetten, manchmal sogar durch einen Rahmen. Allerdings wird dadurch fast nie die Handlungseinheit des Bildes beeinträchtigt, die rechts und links der vertikalen Linie abgebildeten Elemente gehören in der Regel derselben Bildeinheit an, wie auf Bl. 45v, wo Larie Wigalois zum Abschied eine Felltasche über die vertikale Begrenzung hinweg reicht. Die mittige Teilung scheint somit ästhetisch-konzeptioneller Natur zu sein, wie Antonia Gräber annimmt, die darauf hinweist, dass sich der Bildaufbau dezidiert von dieser Linie ausgehend entfaltet.20 Der Raum wird nicht realistisch wiedergegeben, und auch innerhalb von aufeinanderfolgenden Bildserien zum gleichen Handlungsort und -abschnitt variieren Hintergrundfarben und Ornamente erheblich. Auf die Erzeugung einer Illusion von räumlicher Kontinuität für die Romanhandlung wird verzichtet, die abgebildeten Gegenstände und Personen ordnen sich der ornamentalen Struktur der Bilder unter. Ihre räumliche Entwicklung beschränkt sich auf die zweidimensionale Fläche, weder eine Raumtiefe noch ein körperliches Volumen deuten sich an. Große Areale der Bilder nehmen die Ornamente selbst ein, wodurch sie wesentlich die Komposition diktieren. Dabei erscheinen sie eher als gegenständlicher Zwischenraum z­ wischen den Figuren und Gebäuden, denn als Hintergrund oder Verzierung, da Objekte und Rankenwerk einander nie überlappen (vgl. Bl. 25v, Abb. 1). In der Szene, in der Joram am Artushof Ginover den Zaubergürtel überreicht, beeindruckt die Illustration durch eine gekästelte und mosaikartige Ausgestaltung der Burg (vgl. Bl. 4r, Abb. 2), die in ihrer Buntheit verwirrend ‚modern‘ anmutet. Zwei Schoßhunde laufen im Inneren treppauf und treppab, surreal ragen Erker und Balkone an den Seiten des Gebäudes heraus. Wie in vielen anderen der Miniaturen übertreten die Bildelemente den Rand der Bildfläche. Alle auf den Bildern sichtbaren Gebäude bestehen aus verschiedenfarbigen, gemusterten Einzelflächen, deren Formen und Farben von Bild zu Bild wechseln können. Die Fülle, Dichte und Schwere der Illustrationen lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auch hier auf die Materialität der Handschrift. Zusammen mit der kostbaren Goldeinfassung, deren Eckornamente den Bildern den Anschein geben, auf dem Pergament hg. v. Hubert Heinen, Ingeborg Henderson (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 439), Göppingen 1986, S. 59 – 73, hier S. 72 – 73.– Norbert H. Ott: Höfische Literatur in Text und Bild: Der literarische Horizont der Vintler, in: Schloss Runkelstein. Die Bilderburg, hg. v. der Stadt Bozen unter Mitw. des Südtiroler Kulturinstitutes, Bozen 2000, S. 311 – 330, hier S. 314 – 315. 20 Vgl. Gräber 2012 (wie Anm. 15), S. 32.

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Abb. 1: Ornament mit Pferden in der Leidener Wigalois-Handschrift: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B. Kloster Amelungsborn, 1372, Bl. 25v. Vgl. für sämtliche Abbildungen aus dieser Handschrift: Leiden University Libraries. Digital Collections, LTK 537; http://hdl.handle.net/1887.1/item:1615443 (25. 02. 2020).

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Abb. 2: Joram und der Zaubergürtel: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 4r.

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Abb. 3: Tristan-Teppich III, 3. Viertel 14. Jahrhundert, Kloster Wienhausen. Vgl. Sabine Wehking: Nr. 21, in: Deutsche Inschriften 76, Lüneburger Klöster; www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238di076g013k0002104 (15. 02. 2021).

aufgehängt zu sein wie Teppiche an einer Wand, erinnern sie an die poetologischen Prologverse, in denen der Text gezielt auf seine eigene Materialität in Form des Buches abhebt.21 21 Ähnlich auch James Brown, der den Schreiber für den Miniator hält: „In Jan’s mostly half-page illustrations, framed with gold leaf, we see an emphasis on materiality in keeping with the opening lines of the poem and its reference to itself as a material object.“ Brown 2016 (wie Anm. 19), S. 142.

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Abb. 4: Eichenranke: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 46v.

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An den, über die Grenzen Norddeutschlands hinaus bekannten Wienhäuser Tristan-­ Teppichen 22 ist ablesbar, welcher Umgang mit Farbe, Fläche und Ornament die Teppichkunst in der Region pflegte, als die Handschrift entstand. Auf dem jüngeren Tristan-­Teppich, der mit 1360 nur wenige Jahre früher als die Fertigstellung der Handschrift datiert, sind große Ranken, hauptsächlich in Form von Eichenblättern und Eicheln, abgebildet. Vergleicht man die Eichenranken des jüngeren Tristan-Teppichs (vgl. Abb. 3) mit den Eichenranken im Leidener Codex (vgl. Bl. 46v, Abb. 4), fällt die Ähnlichkeit unmittelbar ins Auge. Anhand des Bildausschnitts mit den zwei Pferden (vgl. Bl. 25v, Abb. 1) kann man erkennen, wie das Ornament exakt in den freien Zwischenraum eingepasst wurde, ohne dass die Illusion erweckt werden sollte, es gehöre dem Hintergrund an. Stattdessen befindet es sich in der gleichen Bildtiefe wie die Pferde, so wie sich überhaupt alle Bildelemente in die Zweidimen­sionalität der Illustrationen fügen. Dem Miniator müssen die Wienhäuser oder ähnliche Teppichkunstwerke bekannt gewesen sein. Argumente für diese Annahme bilden vor allem die übereinstimmenden ornamentalen Verzierungen und die konzeptionelle Zweidimensionalität der Bilder.

3. Die Entstehung der Handschrift im mittelniederdeutschen Sprachraum Das mittelniederdeutsche Kolophon nennt als Schreiber der Handschrift einen Mönch namens Jan von Brunswick, der den Text nach eigener Auskunft 1372 im Kloster Amelungsborn fertigstellte. Tatsächlich verfügte das Zisterzienserkloster in Amelungsborn, das im heutigen Landkreis Holzminden in Niedersachsen liegt, zu vorreformatorischer Zeit über ein aktives Skriptorium. Die Schreibsprache legt eine ostmitteldeutsche bis thüringische Vorlage nahe, lässt aber auf einen niederdeutschen Schreiber schließen, was sich mit den Angaben aus dem Kolophon deckt.23 Bei dem Beschreibstoff der Handschrift handelt es sich um ein wertvolles Pergament, die verwendete Schrift ist eine auf gehobenem kalligraphischen Niveau ausgeführte Textualis. Gemeinsam mit dem umfangreichen Bildprogramm ist daraus zu schließen, dass der Codex zweifellos für den repräsentativen Gebrauch bestimmt war. In diese Richtung deuten auch die schlecht erhaltenen Illustrationen des letzten Blattes. Das dreigeteilte Bild zeigt in der linken unteren Ecke ein Mönch bei der Schreibarbeit (vgl. Bl. 118r, Abb. 5). Die undeutlichen Schriftzüge auf dem vor ihm liegenden Pergament könnten für „I o b r“ und damit für „Iohan Brunswick“ stehen, womit sie 22 Vgl. zuletzt Albrecht Hausmann: Der älteste ‚Tristan‘-Teppich im Kloster Wienhausen bei Celle, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 64 (2017), S. 294 – 301. 23 Vgl. Schröder 1901 (wie Anm. 19). Schröders kurze schreibsprachliche Einstufung wäre zu überprüfen, um den Grad und die Charakteristik, in der die Sprache der Vorlage von der Schreibersprache gefärbt ist, besser einschätzen zu können.

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einen direkten Bezug zum Schreiber und/oder Miniator und zum Kloster als Entstehungsort der Handschrift verkörpern. In der oberen Hälfte des Bildes, die mittig die Figur eines Ritters zweiteilt, ist augenscheinlich ein Wappen verloren gegangen, die sauberen Ränder der Lücke indizieren, dass es gezielt herausgeschnitten wurde. Den darüber erhalten gebliebenen Helm ziert das Sachsenross, das auch heute noch auf dem niedersächsischen Wappen abgebildet ist. Auf der linken Seite zeigt ein intaktes Wappen zwei schreitende, übereinander angeordnete goldene Leoparden auf rotem Grund, das Wappen des welfischen Hauses Braunschweig.24 Laut dem Kolophon der Handschrift war der Auftraggeber und Empfänger Herzog Albrecht  II. von Braunschweig-Grubenhagen, der von 1361 bis 1384 regierte. „Besonders die Linie Braunschweig-Grubenhagen schickte im 14./15. Jahrhundert Söhne und Töchter weithin“, bemerkt Renate Kroos bezüglich der Reichweite des welfischen Geschlechts, „als Condottieri, Kanoniker und Kaiserinnen können sie ­zwischen Konstantinopel und Cammin Psalterien, Stundenbücher, Romane, Chroniken, R ­ echtsbücher u. a. bestellt haben“ 25. Allein aufgrund der vergleichsweise ­kurzen Distanz z­ wischen Amelungsborn und Braunschweig kann für die Wigalois-Handschrift von einem direkten Auftrag des regierenden Welfen an Jan von Brunswick ausgegangen werden. James H. Brown sieht im Schreiber auch den Miniator,26 nachweisen lässt sich dies nicht. Vielleicht wurde die Handschrift, wie Christoph Fasbender meint, nicht in Amelungsborn, sondern in einem Nonnenkloster oder Damenstift ausgemalt, „erinnern die Bilder doch an Wandteppiche, wie sie in den Heideklöstern, insbesondere bei den Zisterzienserinnen in Wienhausen, vielfach angefertigt wurden.“ 27 Kroos hingegen vermutet in Anlehnung an Johann Georg Leuckfeld den Amelungsborner Abt Hermann Maske als Miniator.28 Das Kloster selbst nennt wenigstens zwei als Miniatoren tätige Äbte im 14. Jahrhundert, die seiner Ansicht nach die Illustrationen der Handschrift angefertigt haben könnten, darunter den 24 Nach 1361 begegnet das weiße Pferd vor einer mit Pfauenfedern geschmückten Säule als Helmzier in Kombination mit dem braunschweigischen Wappen. Der um 1370 begonnenen Codex Gelre des Herolds Claes Heinen bildet es beispielsweise auf diese Art ab (Wapenboek Gelre, Bibliothèque Royale zu Brüssel, Ms. 15652 – 56, Bl. 36r). Vgl. Peter Veddeler: Das Niedersachsenross. Geschichte des niedersächsischen Landeswappens, Hannover 1996, S. 28 – 29. – Georg Schnath: Das Sachsenross. Entstehung und Bedeutung des niedersächsischen Landeswappens (Schriftenreihe der Landeszen­trale für politische Bildung in Niedersachsen, Reihe B, H. 6), 2., verm. u. verb. Aufl., Hannover 1961, S. 21 – 48; Abb. 32. 25 Renate Kroos: Welfische Buchmalereiaufträge des 11. bis 15. Jahrhunderts, in: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, hg. v. Bernd Schneidmüller (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7), Wiesbaden 1995, S. 263 – 278, hier S. 263. 26 Vgl. Anm. 21. 27 Christoph Fasbender: Der ‚Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin, New York 2010, S. 201. 28 Vgl. Kroos 1995 (wie Anm. 25), S. 269. – Johann Georg Leuckfeld: Antiquitates historicae seletiores. Bd. 1, Wolfenbüttel 1728, S. 38.

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Abb. 5: Wappen auf der letzten Seite: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 118r.

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„Erbauer des gotischen Chores und bedeutenden Miniator Abt Johannes  III . Masco (1377 – 1385)“,29 der mit Hermann Maske identisch sein könnte. Im Gegensatz zu den deutlichen Parallelen zur Teppichkunst fallen die Anzeichen für mögliche Einflüsse aus der Buchmalerei spärlich aus. Weniger in stilistischer Hinsicht als mit Blick auf die Systematik der Bebilderung rückt Curschmann die Leidener Handschrift in die Nähe spätmittelalterlicher Willehalm- und Weltchronik-Prachthandschriften. Darin ist das System französischer Bilderhandschriften Vorbild gebend, weshalb Curschmann sie als Produkt einer im 14. Jahrhundert aufkommenden bibliophilen Mode einstuft.30 Korrespondierende Elemente zu der Mosaiktechnik der Illustrationen lassen sich am ehesten im Herforder Rechtsbuch erkennen.31 Die Burgelemente und der Hintergrund, der die Figur umgibt, haben zumindest eine vage Ähnlichkeit mit den Gebäudedarstellungen im Leidener Codex. Aufgrund der Ornamente, der Komposition und der fehlenden Absicht, eine Illusion von Dreidimensionalität in der Darstellung zu erzeugen, vermutet aber auch Gräber, dass mögliche Einflüsse und Vorlagen eher in der Teppichkunst zu suchen sind.32 In der ursprünglich thüringischen Schreibsprache des Textes hinterließ Jan von Brunswick die Spuren seiner Herkunft in Form von mittelniederdeutschen Einsprengseln. Dass die Handschrift im niederdeutschen Sprachraum entstanden ist, zeigen insbesondere die Spruchbänder der Illustrationen. Für diejenigen Spruchbänder, die einen Vers aus dem Text aufgreifen, stellt Schröder, wie für den Text insgesamt, eine Mischung mittelniederdeutscher und mittelhochdeutscher Schreibweisen fest.33 Spruchbänder, deren Inhalt unabhängig vom Haupttext formuliert wurde, sind dagegen durchgehend auf Mittelniederdeutsch verfasst, wie dies etwa in der Illustration von Wigalois im Kampf mit dem zweiten Riesen der Fall ist. Wigalois hält sein Schwert, der Riese schwingt eine Keule, dazu beschreibt das Spruchband oberhalb des Riesens das Dargestellte: „dit is eyn rese de kift“ 34 (vgl. Bl. 22r, Abb. 6). Auch 29 Herbert Gömann: Vom Amelungsborner Skriptorium. Homepage des Klosters Amelungsborn 2012; http://www.kloster-amelungsborn.de/301.html (25. 02. 2020). „Es erscheint auch nicht abwegig, dass der als Miniator bekannte Abt Engelhard (1355 – 1371) die 49 kunstvollen, meist halbseitigen Miniaturen geschaffen hat.“ Ebd. 30 Vgl. Michael Curschmann: Wort – Schrift – Bild, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug (Fortuna Vitrea 16), Tübingen 1999, S. 378 – 470, hier S. 420 – 423 und S. 436 – 437. Was Curschmann als „französischen Usus“ (S. 423) bezeichnet, sieht Norbert H. Ott bereits in der deutschen Tradition vorgeprägt. Vgl. Norbert Ott: Zur Ikonographie des ‚Parzival‘-Stoffes in Frankreich und Deutschland, in: Wolfram-Studien 12 (1992), S. 108 – 123, hier S. 113 – 115. 31 Vgl. Gräber 2012 (wie Anm. 15), S. 34. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Schröder 1901 (wie Anm. 15), S. 228. 34 ‚Dies ist ein Riese, der kämpft‘. „kîven stv.“: streiten, zanken, kämpfen. Vgl. Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Von Agathe Lasch und Conrad Borchling. Fortgef. von Gerhard Cordes, Dieter Möhn, hg. v. Ingrid Schröder. 3 Bde. 1956 ff. Bd. 2, Sp. 564 – 565.

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Abb. 6: Wigalois und der Riese: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 22r.

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in der rechten Bildhälfte von Bl. 40v, die den Truchsess von Roymunt im Lanzenstechen mit Wigalois porträtiert, geht die Funktion des Spruchbands nicht über eine Beschreibung dessen hinaus, was das Bild zeigt: „dit is eyn borchsetich ridder von roymunt“ 35. Jan Brunswick scheint ein kundiger Schreiber gewesen zu sein, er versteht der Vorlage sprachlich im Allgemeinen zu folgen. Das Kolophon aber schreibt er auf Mittelniederdeutsch (Bl. 117v). Dem gebildeten Zisterziensermönch des 14. Jahrhunderts unterstellt man vermutlich nicht zu viel, wenn man davon ausgeht, dass ihm die Differenz ­zwischen seiner eigenen Alltagssprache und dem Dialekt der Handschriftenvorlage bewusst war. Da die Spruchbänder, die nicht Verse aus dem Text aufnehmen, sondern selbst erdacht wurden, auf Mittelniederdeutsch verfasst sind, tritt hier der Bezug zur regionalen Mundart unmittelbar hervor. Auch falls der Schreiber Brunswick und der Miniator unterschiedliche Vorlagen benutzt haben (vorausgesetzt es waren zwei verschiedene Personen), wie Kroos aus der sprachlichen Abweichung folgert,36 so ist die Sprache der Region an diesen Stellen in die Gestaltung des Codex eingeflossen – eines Codex, der repräsentativ ausgestattet und für ein Mitglied der im Gebiet herrschenden Adelsfamilie vorgesehen war.

4. Die Illustrationen 4.1 König Artus’ Glücksrad Eine Miniatur aus der berühmten Wolfram-Handschrift G (Cgm 19), die als eine Art Werkausgabe der Texte Wolframs von Eschenbach beschrieben werden kann,37 zeigt eine vielleicht als typisch zu bezeichnende Darstellung der Tafelrunde des König Artus.38 Die ikonographische Vorlage wird im Motiv des christlichen Abendmahls zu suchen sein, an dessen formalem Aufbau sich die Miniatur anlehnt. Dabei ist grundsätzlich einzuräumen, dass nicht jede Darstellung einer gedeckten Tafel, hinter der eine Reihe von Menschen Platz gefunden hat, automatisch auch eine Verbindung zum Bildtypus des letzten Abendmahls und damit eine religiöse Konnotation evoziert. Die Bildseiten des Cgm 19 erwecken jedoch den Eindruck, gezielt eine religiöse Semantik zu suggerieren und einen Rezeptionshinweis zu implizieren. Dafür spricht auch das eigenständige Layout der Bildseiten. Wie Norbert Ott festgestellt hat, folgen die auf gesonderten Blättern beigefügten narrativen Bilderzyklen einem – vor allem in der biblisch-geistlichen Ikonographie 35 „Dies ist ein auf einer Burg ansässiger Ritter von Roymunt“. 36 Vgl. Kroos 1995 (wie Anm. 25), S. 269. 37 Vgl. Burghart Wachinger: Autorschaft und Überlieferung, in: Autorentypen, hg. v. dems., Walter Haug (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1991, S. 1 – 28. 38 Bayerische Staats- und Universitätsbibliothek München, Cgm 19, um 1240, Bl. 49v.

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Abb. 7: Tafelrunde/Glücksrad: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. Iv.

­entwickelten – Typ der Buchmalerei, der sich schon in d ­ iesem Traditionsstrang dadurch auszeichnete, die Texte nicht bloß ‚bebildern‘ zu wollen, sondern sie mit den Mitteln der Bildkunst neu zu erzählen und zu ‚interpretieren‘.39 Völlig anders ist die Abbildung im Leidener Wigalois-Codex gestaltet, die auf einem separaten Vorsatzbild zu finden ist (vgl. Bl. Iv, Abb. 7). Das ganzseitige Bild zeigt vor purpurfarbenem Hintergrund König Artus mit Ginover und seine Hofgesellschaft an einer weiß gestalteten Tafel. Die oberen beiden Drittel des Bildes werden von dieser runden Tafel bestimmt, auf der verschiedene goldene Ess- und Trinkgefäße sowie sechs Messer mit roten Griffen verteilt sind. Durch seine Flächigkeit wirkt die Tafel wie ein Schild. Oben in der Bildmitte sitzen der König und die Königin am Tisch, während an beiden Seiten 39 Norbert H. Ott: Bildstruktur statt Textstruktur. Zur visuellen Organisation mittelalterlicher narrativer Bildzyklen. Die Beispiele des Wienhausener Tristanteppichs I, des Münchener Parzival Cgm 19 und des Münchener Tristan Cgm 51, in: Bild und Text im Dialog, hg. v. Klaus Dirschel, Passau 1993 (pink 3), S. 53 – 70, hier S. 55. – Vgl. auch: Nina Fahr: Symmetrie und Symbolik: Bildliches Erzählen in den ‚Parzival‘-Illustrationen des Cgm 19, in: Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter, hg. v. Volker Leppin, Berlin 2021, S. 171 – 190.

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der Tafel je vier weitere Personen zu sehen sind, deren Körperachsen radial zur Mitte der ­Rundtafel ausgerichtet sind. Sie scheinen mit Essen oder Trinken beschäftigt. Zeigegesten signalisieren, dass einzelne Figuren mit ihren Tischnachbarn Gespräche führen. Fünf weitere Damen, ganzfigurig sichtbar, bringen goldene Ess- und Trinkgefäße. Zwei von ihnen sind in den oberen Ecken des Bildes dargestellt; die drei übrigen stehen im unteren Bildbereich nebeneinander, wobei die mittlere Dame durch Hängeärmel hervorgehoben ist und von zwei weißen Hündchen eingerahmt wird. Vier verschiedenfarbige, baumförmige Pflanzen strukturieren die untere Hälfte des Bildes. In ihrem Aufsatz über Dialogszenen in der Leidener Wigalois-Handschrift verweist Anja Becker 40 auf den Umstand, dass auf der Rectoseite der Tafelrunden-Abbildung auf dem ersten Vorsatzblatt der Handschrift „eine christlich-allegorische Darstellung“ zu sehen ist, deren Mitte ein seitenfüllender Baum einnimmt, auf dessen Ästen und neben dessen Stamm zahlreiche Tiere angeordnet sind. Der Baum selbst, als Baum des Lebens ein Symbol für Christus, sowie die Tiere (z. B. Pelikan, Wildesel, Hirsch, Panther, Hase) laden zur allegorischen Ausdeutung ein.41

Die folgende ganzseitige Darstellung illustriert, wie bereits betont, die arthurische Tafelrunde: „Beide Vorsatzblätter deuten somit die zwei zentralen ­Themen des Romans an: Wigalois als christlich-religiöser Heilsbringer und als mustergültiger Artusritter.“ 42 Wie ‚liest‘ man aber ­dieses außergewöhnliche Bild? Wie genau betrachtet man diese Darstellung? Hierzu haben Lauri Finke und Martin Shichtmann aus medientheoretischer Perspektive ein Modell entwickelt, das die Materialität der Handschrift als Ausgangspunkt wählt. Sie gehen davon aus, dass diese besondere Bildseite nicht unmittelbar als Ganze wahrgenommen worden ist, sondern als aufeinanderfolgende Sequenz von Bildausschnitten. Folgt man dieser Ansicht, ist es notwendig, die Handschrift zu bewegen, sie zu drehen. We can, in fact, follow this image as we might a tracking shot in film by simply turning the book around, as medieval readers most likely did. The viewer is meant to focus first on the Round Table itself, shown from above […]. The eye is drawn there because of its white space, punctuated by the geometric patterns created by the swords, and because of the light reflecting off the illuminated cups.43

40 Vgl. Becker 2007 (wie Anm. 19). 41 Ebd., S. 25. 42 Ebd. 43 Lauri A. Finke, Martin B. Shichtmann: Remediating Chivalry: Political Aesthetics and the Round Table, in: spell: Swiss papers in English language and literature 21 (2008), S. 139 – 162, hier S. 148. – Vgl. auch Anja Becker: Das Problem der Interpretation alteritärer Texte. Responsivität als Antwort?, in: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, hg. v. ders., Jan Mohr, Berlin 2011, S. 73 – 101, besonders S. 95 – 97.

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So einleuchtend der Versuch ist, aus der konkreten Gestaltung der Handschriftenseite die Rezeptionsweise abzuleiten, so problematisch scheint es, durch den Vergleich mit dem Medium Film (am Beispiel von John Boormans Excalibur den Formen der Wahrnehmung in der mittelalterlichen Rezeption näherzukommen: The eye, then, tracks down to the three maidens below. From there, rotating the image ninety degrees left will focus the viewer’s attention on the three figures on the right. A rotation ninety degrees to the right will then take us to the top where the crowned King and Queen are represented, then another rotation to the right brings us to the three figures on the left. The figure on the far left bottom of the table points back to the starting point and closes the circle, ending the tracking shot. In the manuscript, the reader must do the work of tracking (by rotating the image) that, in a film, the camera does through its movement (and through the illusion that the viewer moves with the camera).44

Abschließend betonen die beiden Autoren, dass die Darstellungsweise des Bildes einen besonderen ästhetischen Effekt erzielt. Die Figuren werden zu einem abstrakten geome­ trischen Muster arrangiert: Still, the medieval image manages an effect that, for us at least, is hypermediated by Boorman’s filmic one. It turns the human figures into geometric patterns: note in particular the interlocking triangles created by the green and red dresses of three of the maidens (two at the top, one at the bottom) and the diaper patterned clothing connecting Arthur at the top and two maidens below. The image’s patterns all ultimately direct the viewer’s attention to Arthur, situating him as the object of the viewer’s desire, interpellating the viewer, such that Arthur’s demand for a marvel becomes the viewer’s demand as well.45

In der Tat emergiert aus der spezifischen Darstellungsweise der Illustration ein ästhetischer Effekt, den man als Geometrisierung der Figuren beschreiben kann. Es entsteht dabei auch der optische Eindruck, dass die festliche Tafel von König Artus auch ein Glücksrad darstellt – und damit ein zentrales Motiv des Wigalois: „Dieser Tisch ist deshalb nicht nur ein Tisch, sondern er stellt mit heraldischer Unmittelbarkeit das Leitmotiv des Textes und das wichtigste Motiv des Textes dar: das Glücksrad.“ 46

44 Finke, Shichtmann 2008 (wie Anm. 43), S. 148. 45 Finke, Shichtmann 2008 (wie Anm. 43), S. 148. 46 James H. Brown: ‚Gemeistert dar mit worten‘. Ekphrasis und Visualisierungsstrategien in den illustrierten ‚Wigalois‘-Handschriften, in: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter, hg. v. Kathryn Starkey, Horst Wenzel, Stuttgart 2007, S. 33 – 49, hier S. 38. Vgl. auch James H. Brown: Envisioning Salvation. An Ecumenical Ekphrasis in Wirnt von Gravenberg’s ‚Wigalois‘, in: Arthuriana 20/3 (2010), S. 6 – 20.

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4.2 Der Kampf von Wigalois gegen Roaz in Anwesenheit Japhites und ihrer Damen Das ganzseitige Bild ist durch einen goldenen bzw. gemusterten Rahmen in zwei Register geteilt, wobei in der oberen Bildhälfte, vor blauem Hintergrund, die Herrscherin Japhite mit ihren sechs Damen zu sehen ist, während im unteren Bildteil vor rotem Hintergrund der Schwertkampf z­ wischen Wigalois und König Roaz abgebildet ist (vgl. Bl. 79r, Abb. 8).47 Japhite ist frontal, auf einem reich verzierten Sitz thronend, dargestellt; sie trägt einen Kruseler wie Beleare und darüber eine große goldene Krone sowie einen langen Mantel über dem Kleid. Mantel wie Kleid sind mit Sternen geschmückt. Im Schoß hält sie ein weißes Hündchen, während sie mit der rechten Hand eine Rede- oder Befehlsgeste macht. Sie wird von jeweils drei Fackel tragenden, gleich gekleideten Damen an ihren Seiten flankiert, die auf den Stufen ihres Thrones stehen, so dass sich ein symmetrisches Bild ergibt; die Zahl ihrer Jungfrauen ist gegenüber dem Text auf die Hälfte reduziert (V. 7397). Renate Kroos hat die These vertreten, dass bei der Darstellung Japhites, die dem Kampf ­zwischen Wigalois und Roaz zusieht, das tradierte Bildmuster der ‚Maria als Thron Salomonis mit den Allegorien der Tugenden‘ verwendet worden ist.48 Typisch ist hier die Darstellung des Thrones mit sechs Stufen, auf denen sich neben den in der Bibel genannten Löwen die Personifikationen der Tugenden befinden. In der Leidener Handschrift ist die Verwendung dieser Bildvorlage womöglich durch den Text motiviert, denn die Darstellung des erhöhten Thrones mit den auf den Stufen stehenden Damen findet im Roman eine Entsprechung: „Vrowe yaphite die reyne / Uf eine hohe brucke saz“ (V. 7468 – 7469). Und es heißt weiter: „Die meyde hiez si hoher sten / Alle neben eyn ander da“ (V. 7476 – 7477). Der Kampf im unteren Bildteil zeigt den kämpfenden Wigalois in Bedrängnis, da er vom Schwert seines Gegners am Helm getroffen wird; auch im Text von Wirnt von Grafenberg wird die erste Kampfphase als für den Helden schwierig beschrieben (V. 7546 – 7558). Er trägt hier – inkonsequenterweise – wieder den Radhelm, hat aber nach wie vor den Bogenschild in der Hand. Roaz trägt dem Text entsprechend einen goldenen Drachen auf Helm und Schild (V. 7358 – 7369, V. 7379 – 7391). Die Szene zeigt einen vollkommen ritterlichen Zweikampf und enthält keinerlei Anhaltspunkte, dass es sich bei Roaz um einen Heiden und Teufelsbündler handelt.49 47 Vgl. Gräber 2012 (wie Anm. 15), S. 55. 48 Renate Kroos: Buchmalerei 1200 – 1500, in: Kunst und Kultur im Weserraum 800 – 1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, Corvey 1966, Münster 1967, Bd. 2, S. 525 – 558, S. 543. 49 „Und genauso verhält es sich im Roaz-Kampf: Da das Rad weniger als materielles Wappen von Bedeutung ist, als daß es als äußerlich sichtbares ­Zeichen für Wigalois’ Auserwähltheit steht, drängt es sich auf, den Helden gerade im Kampf gegen den Hauptgegner Roaz, auch im Widerspruch zur Textoberfläche, mit Rad darzustellen. Es kann hier gewissermaßen als Entsprechung zu den im Bild nicht darstellbaren Vortrefflichkeitsattributen dienen, mit denen der Erzähler seinen Held immer wieder belegt.“ Gräber 2012, S. 84 (wie Anm. 15).

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Abb. 8: Wigalois kämpft gegen Roaz/Japhite: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 79r.

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In der nächsten Miniatur auf Bl. 80r zeigt das Bild, wiederum vor purpurfarbenem Hintergrund, wie Wigalois Roaz den tödlichen Schwertstreich versetzt und wie dieser sein Schwert fallen lässt und strauchelt. Da die Ritter hier, wie meist für Schwertkampfszenen üblich, statt der Helme nur ihre Kappen tragen, ist Roaz auffälligerweise durch seine geschlossenen Augen bereits als Sterbender gezeichnet. Er ist hier wesentlich größer als Wigalois selbst dargestellt, was der Aussage im Text, er sei „Michel als eyn gygant“ (V. 7353 – 7354)50 entspricht und den Erfolg des Helden auch im Bild umso größer erscheinen lässt. Antonia Gräber betont schließlich, dass die bildliche Darstellung im Leidener Codex die christlich-religiöse Semantik dieser Kampf-Episode unterlaufe und die Auseinandersetzung als adligen Zweikampf hervorhebe: Wigalois’ Rolle als von Gott eingesetzter Kämpfer wird am deutlichsten beim Kampf gegen Roaz. Dieser wird zwar letztlich als ritterlicher Zweikampf ausgetragen, doch wird dies nur dadurch ermöglicht, daß Wigalois vor dem Kampf durch einen christlichen Zauberbrief und ein Kreuzzeichen einen Teufel ausschalten kann, der in einer Wolke vor Roaz herfliegt, um ihn zu unterstützen. Im Bild dagegen […] gibt es auf diesen Sachverhalt keinerlei Hinweise, vielmehr wird der Kampf gänzlich als ritterlicher Zweikampf dargestellt und damit seiner religiösen Dimension entkleidet. Ferner sind neben dem Zauberbrief, der im Bild nicht vorkommt, auch die übrigen christlichen Zaubermittel, die Wigalois von König Lar erhält, auf dem Bild nicht als ­solche erkennbar.51

4.3 Der Drache Pfetan Die Kämpfe von Wigalois gegen den Teufelsbündler Roaz und gegen den Drachen Pfetan sind eng aufeinander bezogen, da sie den Anfang und das Ende der Befreiung Korntins darstellen: Gwigalois muß nicht lange nach Pfetan suchen, denn dieser verbreitet gewaltigen Lärm, welcher schon von weitem zu vernehmen ist. Es ist mitreißend erzählt, wie Gwigalois den Drachen wahrnimmt, der sich seinen Weg durch den dichten Wald bricht und dabei mit seinem riesigen Schwanz alles um sich zerstört.52

Die Beschreibung Pfetans nimmt dann als erste derart ausführliche Beschreibung eines Drachens in der deutschen Literatur 53 eine besondere Stellung ein, wobei Wirnt so verfährt, dass er „einer riesigen Schlange verschiedene Körperteile [auf ]pfropft […][,] vom gladius 50 Vgl. hierzu die Studie von Lena van Beek: Riesen in der Literatur des Mittelalters – Diskursive Formationen im deutschen Sprachraum. Mittelalter. Interdiszipinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 2021. 51 Gräber 2012, S. 84 (wie Anm. 15). 52 Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum ‚Bel Iconnu‘, zum ‚Wigalois‘ und zum ‚Wigalois vom Rade‘ (Literatur, Imagination, Realität 19), Trier 1999, S. 190. 53 Vgl. schon Claude Lecouteux: Der Drache, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 108 (1979), S. 13 – 31.

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Abb. 9: Der Drache: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk. 537, Sigle B, Bl. 53r.

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de[n] Schnabel, von der serra de[n] schneidende[n] Kamm, vom Basiliscus de[n] kamp, vom Greifen die Füße […].“ 54 Bei der Darstellung des Untieres schließt sich Wirnt verschiedenen Traditionen aus der lateinischen Naturkunde an und erschafft ein exotisches Wesen (vgl. Bl. 53r, Abb. 9; vgl. auch Bl. 53v).55 Die ausführliche Deskription des M ­ onstrums füllt in der Handschrift fast die ganze Seite, die der Miniatur gegenüberliegt, und lautet folgendermaßen: Sin houbet waz ane maze groz / Swartz ruoch sin snabel bloz / Eyns clafters lang wol ellen breit / Vor gespitz vnde sneyt / Als eyn nuwesliffen sper / In sinem giel hatte her / Lange ztene als eyn swin / Breyte schuppen hornin / Waren an ym uober al / Von dem houbte hin ztuo tal / Stunt uf ym eyn scharfer grat / Als der cocodrille hat / Da her die kiele snidet mite / Der wuorm hatte nach wurmes site / Eynen ztagel langen / Da hatte her mit bevangen / Vier rittere lustsam […] Eynen kam hatte her als eyn han / Wan daz her ungevuoge was / Sin buoch was grune als eyn gras / Die ougen rot die siten gel / Der wuorm der waz sinwel / Als eyn kerzte hin ztuo tal / Sin scharfer grat der was val / Ztwey orn hatte her als eyn muol / Sin adem stank wan der was vuol / […] Ouch hatte er uil vnsuze / Als eyn grife vuoze / Die waren ruch als eyn ber / Ztwene schone vitiche hatte her / Gelich eyns pfawen gevider / Sin hals was im uil nider / Gebogen uf daz grune gras / Sin hals ym gar von knorren was / Als eyn steynbockes horn (V. 5028 – 5044, V. 5055 – 5063, V. 5066 – 5074)

Wenn auch sonst zumindest die produktionsästhetischen Konzeptionen der Romanautoren um 1200 nicht auf einen Bruch der poetischen Konventionen bei den literarischen Schöpfungen abzielen,56 ist bei der Darstellung Pfetans die Übertretung erwartbarer Darstellungsnormen bzw. -prinzipien nicht zu leugnen. Sie dient rezeptionsästhetisch betrachtet gleichermaßen der Erzeugung von Faszination wie Angst.57 In Bezug auf die Abbildung

54 Ebd., S. 28. 55 Vgl. Bianca Häberlein: Transformationen religiöser und profaner Motive in ‚Wigalois‘, ‚Widuwilt‘ und ‚Ammenmaehrchen‘, in: Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption ­zwischen Kanon und Populärkultur, hg. v. Mathias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki (Trends in Medievil Philology 27), Berlin 2012, S. 66 – 86. – Vgl. auch Monika Unzeitig-Herzog: Vom Sieg über den Drachen: alte und neue Helden, in: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag, hg. v. Trude Ehlert (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 644), Göppingen 1998, S. 41 – 61. – Gabriela Antunes: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur, Trier 2013. – Timo Rebschloe: Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2014. 56 Maximilian Benz: Elemente einer historischen Poetik des Staunens um 1200, in: Poetiken des Staunens, hg. v. Mireille Schnyder, Nicola Gess, München 2018, S. 171 – 187. 57 Martin Baisch: Faszination als ästhetische Emotion im höfischen Roman, in: Machtvolle Gefühle, hg. v. Ingrid Kasten (Trends in Medieval Philology 24), Berlin, New York 2010, S. 139 – 166. – Mireille Schnyder: Überlegungen zu einer Poetik des Staunens, in: Wie gebannt. Ästhetische Verfahren der affektiven Bindung von Aufmerksamkeit, hg. v. Martin Baisch, Andreas Degen, Jana Lüdtke, Freiburg i. Br., ­Berlin, Wien 2013, S. 95 – 113.

Ein Traum von arthurischer sælde | 123

im Leidener Codex lässt sich zunächst feststellen, dass Text und Bild in einem Bezug zuein­ ander stehen: Bei der bildlichen Wiedergabe d ­ ieses Wesens […] entsteht der Eindruck, daß der Miniator sich nahezu in allen Einzelheiten an Wirnts phantastische Beschreibung gehalten hat: der Leidener Drache hat einen runden, schlangenartigen Körper, der in den langen Schwanz ausläuft, mit dem er die geraubten Ritter umfaßt hält. Sein Kopf ist swarz und rûch und der Drache hat einen Vogelschnabel, aus dem, ganz dem Text gemäß, lange Eberzähne hervorragen; auf dem Kopf trägt er einen kamp […] als ein han; sein Hals ist mit Schuppen bedeckt, und auf seinem Rücken läuft ein scharfer grât. Seine Greifenfüße sind wie der Kopf schwarz dargestellt, womit sie wohl dem Vergleich mit haarigen Bärentatzen entsprechen, und seine Flügel sind gelîch eins pfâwen gevider mit runden Augen verziert. Auch die Farben, d. h. die roten Augen, der grüne Bauch bzw. Hals und ein gelber Streifen, der den Drachenschwanz schmückt, sind getreu wiedergegeben. Den einzigen wirklichen Widerspruch zum Text stellen die nicht vorhandenen Maultierohren dar, so daß insgesamt die Fülle der Entsprechungen dafür spricht, daß sich der Miniator sehr stark am genauen Wortlaut des Textes orientiert hat, anstatt auf existente ikonographische Muster zurückzugreifen.58

Darüber hinaus scheint es, dass die der Darstellung des Drachen dienenden Bilder als ein sehr gutes Beispiel anzusehen sind, um zwei bedeutende Funktionen des Illustrationszyklus zu fassen: Er dient zum einen dazu, der ja von der Forschung immer wieder konstatierten Phantastik und Exotik von Wirnts Roman Ausdruck zu verleihen, und zum anderen, Wigalois in seiner Rolle als christlicher Erlöser zu präsentieren.

5. Perspektiven Mittelalterliche Textualität zeichnet sich, so Christian Kiening in einer bekannten Skizze, durch folgende drei Merkmale aus: Neben der „Unfestigkeit der Überlieferung“ sind dies das „Fehlen eines klaren Werkbegriffs“ und der „Mangel an auktorialer Kontrolle“.59 Fraglos ist die mittelalterliche europäische Literatur durch spezifische textuelle, soziale, performative und situativ-pragmatische Bedingungen geprägt, die für das moderne oder gegenwärtige Verständnis nur schwer begreiflich zu sein scheinen. Auffällig an diesen ja nicht falschen Bestimmungen ist zudem, dass sie die Charakteristika mittelalter­ licher Textualität durchweg ‚negativ‘ zu fassen versuchen: Aus der Perspektive moderner philologisch-textkritischer Begrifflichkeit werden Phänomene beschrieben, die in der 58 Gräber 2012, S. 65 – 66 (wie Anm. 15). 59 Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 10.

124 | Martin Baisch und Anabel Recker

Kultur, aus der sie stammen, mit Sicherheit nicht als defizitär wahrgenommen worden sind. Jenseits von ‚Unfestigkeit‘, ‚Fehlen‘ und ‚Mangel‘ sind jene Eigentümlichkeiten der Schriftartefakte in den Blick zu nehmen, die zu den großen Leistungen des europäischen Mittel­alters gehören. Ursula Peters plädiert daher, Überlegungen von Hans Robert Jauß und Paul Zumthor aufgreifend, unter dem Stichwort der ‚Materialität‘ dafür, die spezifische Textualität und Medialität mittelalterlicher Texte als ein – als das zentrale Alteritätsparadigma des Mittelalters anzuerkennen. Unter Rekurs auf Positionen der New und/oder Material Philology sieht sie in dem Aspekt der Materialität das generellste und überzeugendste Kriterium der kulturtypologisch orientierten Alteritätsdebatte, da die „Materialität handschriftlicher Schriftproduktion und -tradierung für die gesamte Literaturpraxis, die lateinische wie die volkssprachige, die wissenschaftliche Gelehrtenliteratur wie die höfische Liebesdichtung“ 60 Geltung beanspruchen kann. In materialphilologischen Überlegungen erhalten Formen von Textualität, die als Besonderheit volkssprachiger Schriftlichkeit bezeichnet werden können, ein berechtigtes Gewicht. Zu nennen wäre hier etwa die Singularität der mittelalterlichen Handschrift mit dem in ihr verwirklichten Repräsentationssystem, das sich nicht auf den einzelnen überlieferten Text reduzieren lässt – ein Verständnis von mittelalterlicher Textu­ alität, das den Codex als Werk versteht.61 Es scheint unerlässlich, die Leidener WigaloisHandschrift genau in dieser Perspektive wahrzunehmen und zu analysieren. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Leidener Codex im Allgemeinen und die Bewertung des Illustrationszyklus im Besonderen zeichneten sich zunächst allerdings durch eine überraschende Zurückhaltung aus, denn die Handschrift wurde kaum be- oder erforscht. Anja Becker plädierte 2007 dafür, den Leidener Codex aufgrund seiner prachtvollen Ausstattung zu faksimilieren, inzwischen hat die Universiteitsbibliotheek Leiden ein Digitalisat in hoher Qualität bereitgestellt.62 Eine digitale Edition des Leidener Wigalois wäre ebenfalls überaus wünschenswert. Die zögerliche Reaktion seitens der Forschung, sich intensiv mit der Wigalois-Handschrift zu beschäftigen, beruht mit Sicherheit auf einer Reihe von Gründen. Die Zeiten, in denen der späte, ehemals sogenannte ‚nachklassische‘ Artusroman und eben auch der Wigalois – besonders vehement etwa von Werner Schröder 63 – aufgrund seiner ästhetischen Faktur abgewertet worden sind, gehören seit den 1990er Jahren der Vergangenheit an.64 Und doch scheint sich die 60 Ursula Peters: ‚Texte vor der Literatur‘? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der MittelalterPhilologie, in: Poetica 39 (2007), H. 1 – 2, S. 59 – 88, hier S. 85. 61 Vgl. ebd. 62 Becker 2007, S. 25 (wie Anm. 19). 63 Werner Schröder: Der synkretistische Roman des Wirnt von Gravenberg. Unerledigte Fragen an den ‚Wigalois‘, in: Euphorion 80 (1986), S. 235−277. 64 Vgl. hierzu die Dissertationen von Jutta Eming (wie Anm. 52), Stephan Fuchs-Jolie: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert

Ein Traum von arthurischer sælde | 125

Forschung noch nicht in Gänze von den überkommenen Bewertungsmaßstäben ablösen zu können. So betont etwa Schiewer in seinem wichtigen Beitrag zur Überlieferung des Romans einerseits dessen Qualitäten als sogenannter ‚Bestseller‘ der volksprachlichen deutschen Literatur des Mittelalters, um dann aber andererseits mit und vor der Folie von Wolframs von Eschenbach Parzival dessen ästhetisch-thematische Minderwertigkeit zu behaupten, ohne die poetische Andersartigkeit von Wirnts Roman in angemessener Weise zu berücksichtigen: In d ­ iesem Punkt begegnen sich Wolframs ‚Parzival‘ und Wirnts ‚Wigalois‘, nur Wirnts Werk war „leichtere Kost“ und stand einem heilsgeschichtlichen Verständnis nicht offen. Die heilsgeschichtliche Dimension des ‚Parzival‘ hat einen kollektiven Bezug, die christliche Morallehre des ‚Wigalois‘ bleibt individuell umsetzbar und war für den einzelnen leichter konsumierbar. Gegenüber seinen Nachfolgern setzt sich Wirnts Werk durch eine geringere Neigung ab, mit den literarischen Vorgaben spielerisch umzugehen.65

Die hier aufscheinende Ambivalenz gegenüber dem Werk, aufbauend auf letztlich anachronistischen Dichotomien wie Fiktion und Didaxe 66 oder ‚weltlich‘ und ‚geistlich‘, wiederholt sich auch, wie bereits angedeutet, in Bezug auf den Leidener Codex. Jürgen Wolf konstatiert zwar, dass der Codex an sich etwa durch das verwendete Gold eine Kostbarkeit darstelle, die Ausführung aber verrate wenig Professionalität.67 Der behauptete Mangel an ‚Professionalität‘ rührt auch von dem Umstand her, dass diese Handschrift nicht im Zen­ trum, sondern an der Peripherie der mittelalterlichen deutschen Handschriftenproduktion entstanden ist: Festgehalten wird in der Forschung des Öfteren das „sehr Liebenswürdige“ und „Märchenhafte“ der Illustrationen der Handschrift –„abseits der großen Stilentwicklung“,68 die sich eben anderswo vollziehe. Ein Gedankenexperiment könnte hier womöglich weiterhelfen: Was wäre, wenn der Codex in einem Kloster im oberdeutschen Raum

65 66

67 68

(Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31), Heidelberg 1997. – Und Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts (Germanisch-Romanische Monatsschrift-Beiheft 12), Heidelberg 1994. Schiewer 1988 (wie Anm. 1), S. 236 – 237. Walter Haug: Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ‚nachklassischen‘ Ästhetik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 204 – 231. – Volker Mertens: Gewisse lêre. Fiktion und Didaxe im späten Artusroman, in: Artusroman und Intertextualität, Vorträge der Tagung Frankfurt 1989, hg. v. Friedrich Wolfzettel, Frankfurt a. M. 1990, S. 85 – 206. – Annette Gerok-Reiter: Waldweib, Wirnt und Wigalois. Die Inklusion von Didaxe und Fiktion im parataktischen Erzählen, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Henrike Lähnemann, Sandra Linden, Berlin, New York 2009, S. 155 – 172. Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jh. (Hermaea NF 115), Tübingen 2008, S. 278. Kroos 1967 (wie Anm. 48), S. 543.

126 | Martin Baisch und Anabel Recker

entstanden wäre? Wie würde dann seine Bewertung durch die Forschung ausfallen? Die regionale Abgeschiedenheit, so unsere These, überdeckte die innovative Konzeption und ästhetische Durchschlagskraft des Leidener Wigalois und führte zu der Rezeptionsverweigerung von Seiten der Forschung. Der Codex ist vielmehr als genuines Produkt des norddeutschen Kulturraums zu verstehen, das sich im klösterlichen Kontext durch Rückgriff auf eigene kulturelle Hervorbringungen und Traditionen einen Vertreter der Gattung des Artusromans, die regelhaft dem oberdeutschen Literaturraum zugehört, untypisch für das 14. Jahrhundert aneignet, spezifisch funktionalisiert und so auch zur Identitätsbildung beiträgt. Der dabei zutage tretende Medienwechsel – vom Bildteppich zur illustrierten Handschrift – generiert eine neue und intensive Form von Materialität, die sich auch an den literarischen Vorgaben des ausgewählten Artusromans und seinen Beschreibungen von Figuren, Dingen und Artefakten orientieren kann. Uneinheitlich fallen auch die Einschätzungen der Forschung in Hinblick auf die Konzeption des Codex aus. Für eine christlich-religiöse Sinngebung plädieren etwa Hans-Jochen Schiewer und Christoph Fasbender: Der Eindruck, Gwigalois werde eher in seiner Rolle als Bezwinger des Bösen denn als arthurischer Musterritter vorgestellt, dürfte in die richtige Richtung weisen. So hätten die Konzepteure des Bilderzyklus als geistliche Interpreten des Romans dessen genuine Ambiguität ausgenutzt und gleichsam ein „arthurisches Andachtsbuch“ […] geschaffen. Eine grundsätzliche Untersuchung der Einzelszenen auf eine Verwendung christlicher Bildformeln hin wäre trotzdem wünschenswert.69

Noch grundsätzlicher nimmt Ingeborg Henderson diese Position ein, dabei die absolute Nachrangigkeit der arthurischen Welt und ihren Normen und Werte behauptend: The church’s zeal in combatting the infidels throughout the medieval period is well known. There is no reason to believe that a monk like Jan von Brunswick would not have shared the popular sentiment and have demonstrated it whenever the opportunity arose. I am suggesting that his work was one such opportunity. […] The Arthurian parts of the narrative and, consequently, the Arthurian genre are clearly of secondary importance to him when compared to the poem’s central religious message as expounded by means of visual explicitness in the Korntin adventure. Here, the generic framework is provided by biblical tradition and such literary conventions as we commonly associate with the chanson de geste in its distinct blend of legend and crusading tale.70

Zu einer anderen Sichtweise gelangen hingegen James H. Brown und Antonia Gräber in ihren Untersuchungen. Grundsätzlich betonen sie in funktionaler Perspektive den außerordent­ lichen Rang der Handschrift als Repräsentationsobjekt. Die Handschrift solle „dem Auftraggeber als Identifikations- und Repräsentationsobjekt gedient haben, der seine Verwurzelung 69 Fasbender 2010 (wie Anm. 27), S. 202. 70 Henderson 1986 (wie Anm. 13), S. 70 – 71.

Ein Traum von arthurischer sælde | 127

in den alten höfischen Idealen veranschaulichen wollte.“ 71 Der Codex selbst verfolge – so die Auffassung von James Brown – eine als heraldisch zu bezeichnende Visualisierungsstrategie.72 Intensiv diskutiert Gräber am Beispiel der Bebilderung des Kampfes gegen Roaz die These, ob der Illustrationszyklus eine primär christlich-religiöse Ausrichtung besitze: Wigalois’ Rolle als von Gott eingesetzter Kämpfer wird am deutlichsten beim Kampf gegen Roaz. Dieser wird zwar letztlich als ritterlicher Zweikampf ausgetragen, doch wird dies nur dadurch ermöglicht, daß Wigalois vor dem Kampf durch einen christlichen Zauberbrief und ein Kreuzzeichen einen Teufel ausschalten kann, der in einer Wolke vor Roaz herfliegt, um ihn zu unterstützen. Im Bild dagegen gibt es auf diesen Sachverhalt keinerlei Hinweise, vielmehr wird der Kampf gänzlich als ritterlicher Zweikampf dargestellt und damit seiner religiösen Dimension entkleidet. Ferner sind neben dem Zauberbrief, der im Bild nicht vorkommt, auch die übrigen christlichen Zaubermittel, die Wigalois von König Lar erhält, auf dem Bild nicht als ­solche erkennbar.73

Des Weiteren kommt Gräber zu dem Ergebnis, dass in der Bebilderung überdies eine Tendenz zur „Stilisierung des Helden zum märtyrerhaften Legendenheiligen“ beobachtbar sei: Auffällig sind nämlich die vielen Ohnmachten des Helden und seine offenkundige Passivität.74 Allerdings verweist Gräber mit Recht darauf, dass in der Bebilderung der Handschrift immer auch die Liebesbeziehung zu Larie zur Anschauung gebracht wird, insbesondere in jenen Episoden, in denen der Held eigentlich in seiner Rolle als Legendenheiliger zu sehen ist.75 Die Erwähltheit von Wigalois, seine Funktionalisierung als Heilsbringer, wird dabei von der Thematik der Minne überformt: „In der Bebilderung der Leidener Handschrift werden also durchgehend diejenigen Momente, die Wigalois’ Ausgeliefertsein und damit […] auch seine Erwähltheit durch Gott zur Anschauung bringen, zwar beibehalten, aber im Sinne des Leidens im Dienste seiner Dame uminterpretiert.“ 76 Darüber hinaus ließe sich auch die These aufstellen, dass die zahlreichen Bilder in der Korntin-Episode auf das Ziel verweisen, „dem atmosphärisch-phantastischen Erzählen Wirnts zu entsprechen.“ 77 71 72 73 74

Gräber 2012 (wie Anm. 15), S. 86. Vgl. Brown 2006 (wie Anm. 19). Gräber 2012 (wie Anm. 15), S. 84. „Während also die aktive Rolle des Helden als Gottesstreiter auf höfisches Rittertum und innerhalb menschlichen Maßes liegende Kampfeskraft reduziert wird, werden die passiv-leidenden Momente, die im Text im zweiten Teil der zweiten Aventiurereihe gehäuft auftreten und zur Stilisierung des Helden zum märtyrerhaften Legendenheiligen beitragen, scheinbar eher betont: Gerade im Fall der Ohnmacht des Helden nach dem Drachenkampf wird durch die Zahl der auf diese Ereignisse verwendeten Bilder der Blick besonders auf Wigalois’ hilflosen Zustand gelenkt, und ebenso verhält es sich mit der RuelEpisode, auf die zwei Bilder verwendet wurden, von denen beide den Helden in höchster Bedrängnis zeigen.“ Ebd. 75 Vgl. ebd. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 84 – 85.

128 | Martin Baisch und Anabel Recker

Die hier zusammengetragenen, so unterschiedlichen, ja einander ausschließenden Deutungsperspektiven auf den Leidener Wigalois-Codex, scheinen gegenwärtig im Bereich der germanistischen Mediävistik symptomatisch für eine mangelnde Ambiguitätstoleranz dem Untersuchungsobjekt gegenüber. Was sich am wissenschaftlichen Umgang mit dem Leidener Codex beobachten lässt, ist nämlich in Rückgriff auf eine These von Burkhard Hasebrink und Peter Strohschneider als paradoxale Argumentationsfigur zu beschreiben: So sehr die moderne Mittelalterphilologie nämlich Sakrales und Nicht-Sakrales (Profanes) methodisch nivelliert, so sehr wird beides auf kategorialer Ebene anachronistisch dichotomisiert. Was historisch zumal im Gemenge komplexer Vermittlungslagen begegnet, das kategorisiert die philologische Mediävistik in klaren Differenzen. So setzt sie zum Beispiel auf der Ebene der Sujets „Geistliches und Weltliches“, auf derjenigen der Gattungen „Legende und Roman“, auf derjenigen der Kommunikationskreise „Kloster und Hof“ als symmetrisches Oppositionen gegeneinander. […] Steht nicht selbst noch das avancierte Konzept „Höfischer Kompromisse“ in dieser Tradition kategorialer Kompromissbildungen?78

In Bezug auf Artefakte wie den Leidener Wigalois hieße dies in forschungskritischer Perspektive zunächst, allen Dichotomisierungen zu widerstehen, die die These einer vermeintlichen Ambiguität des Romans, die die Wigalois-Philologie beschäftigt, reproduziert. Es hieße, den Amelungsborner Codex in seiner beeindruckenden Materialität als Zeugnis einer kulturell spezifischen Aktualisierung wahrzunehmen, die jenseits von Kategorisierungen wie ‚Hybridisierung‘ oder ‚Kompromissbildung‘ die Eigenart dieser Handschrift in einer ‚dichten Beschreibung‘ zu erfassen versucht.79

78 Burkhard Hasebrink, Peter Strohschneider: Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft. Germanistische Mediävistik in postsäkularem Kontext, in: Poetica 46 (2014), S. 277 – 291, hier S. 284 – 285. 79 Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 2002.

Ein Traum von arthurischer sælde | 129

Christina Ostermann

Verse verfolgen Überlegungen zu einer Zusatzepisode in der Lübecker Handschrift von Bruder Philipps Marienleben 1

1. Einleitung Meinen Beitrag zu d ­ iesem Sammelband, der sich dem norddeutschen Raum widmet, möchte ich im Elsass beginnen lassen: Das Westportal des gotischen Münsters St. Theobald in Thann aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeigt ein ‚Marienleben‘, eine Geschichte der Gottesmutter von ihrer Geburt bis zu ihrer himmlischen Krönung.2 In drei Darstellungen ist eine Episode abgebildet, die sich auf der Flucht nach Ägypten ereignet: Ein Räuber hindert die Heilige Familie an ihrer Weiterreise und führt sie zu seinem Haus, wo Jesus und das Kind des Räubers von ihren Müttern gebadet werden. Eben ­dieses Bad bzw. die Erzählung eines Wunders in d ­ iesem Bad findet sich in der Fülle der Darstellungen zum Marienleben nur an einer anderen Stelle wieder: in einer niederdeutschen Handschrift.

1

2

Der vorliegende Aufsatz ist die Zusammenfassung eines Kapitels aus meiner Dissertation: Christina Ostermann: Bruder Philipps ‚Marienleben‘ im Norden. Eine Fallstudie zur Überlieferung mittelniederdeutscher Literatur (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 157), Berlin, Boston 2020. Für ihre hilfreichen Anmerkungen und Hinweise in der Überarbeitung für diesen Aufsatz sei Kurt Gärtner, Nigel Palmer (†), Andreas Kraß und Jacob Klingner (†) an dieser Stelle herzlich gedankt. Vgl. Wolfgang Augustyn: Art. Die Flucht nach Ägypten, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 9 (2001), Sp. 1352 – 1432, hier Sp. 1422. – Abbildungen finden sich bei: Adolf Katzenellenbogen: Art. Apokryphen, in: Reallexikon der Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 1 (1935), Sp. 781 – 801, hier Sp. 789, Abb. 5. – Otto Schmitt: Das Marienleben am Thanner Westportal, in: Oberrheinische Kunst. Jahrbuch der oberrheinischen Museen 9 (1940), S. 45 – 62, hier S. 47, Abb. 3, S. 52 f., Abb. 10 f.

Verse verfolgen | 131

2. Die Lübecker Handschrift von Bruder Philipps Marienleben Bei der niederdeutschen Handschrift handelt es sich um Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. theol. germ. 4° 23 [Sigle Lü],3 einen von neun niederdeutschen Textzeugen von Bruder Philipps Marienleben, der meistüberlieferten Reimpaardichtung des Mittelalters.4 Der Kartäuserbruder Philipp von Seitz verfasst seine deutschsprachige Bearbeitung der lateinischen Mariendichtung Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Steiermark und widmet sowie sendet sie dem Deutschen Orden.5 Als Beleg für die tatsächliche Entsendung in den Norden wird u. a. ein niederdeutsches Fragment aus dem Jahr 1324 gewertet,6 mit dem die Überlieferung nach aktuellem Forschungsstand beginnt und danach das ganze deutschsprachige Gebiet erfasst.7 3

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Die Handschrift ist digitalisiert: Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. theol. germ. 4° 23. Norddeutschland [Wismar/Lübeck?], 1489; http://digital-stadtbibliothek.luebeck.de/viewer/image/Mstheolgerm423/5/ LOG_0000/ (09. 02. 2020). – Vgl. auch die Beschreibungen: Paul Hagen: Archivbeschreibung: Lübeck, Stadtbibliothek, Theol. germ. quart. 23 (6 Bll.), Berlin 1909. – Paul Hagen: Die deutschen theologischen Handschriften der Lübeckischen Stadtbibliothek (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek der Freien und Hansestadt Lübeck, Bd. 1,2), Lübeck 1922, hier S. 17. – Für eine aktualisierte Beschreibung vgl. Ostermann 2020 (wie Anm. 1), S. 46 – 49. Für eine Übersicht aller bekannten Textzeugen von Philipps Marienleben siehe den entsprechenden Eintrag im Handschriftencensus; http://www.handschriftencensus.de/werke/495 (09. 02. 2020). – Für eine Untersuchung der Überlieferungsgeschichte vgl. Kurt Gärtner: Die Überlieferungsgeschichte von Bruder Philipps Marienleben. Habilitationsschrift, Marburg 1978. – Derzeit sind fünf Handschriften und vier Fragmente in niederdeutscher Schreibsprache bekannt. Neben der hier zentralen Lübecker Handschrift sind dies die Handschriften Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. qu. 760. Ostwestfalen, 1470er-Jahre; Oxford, Taylor Institution Library, MS 8° G.2. Herkunft unbekannt, Mitte bis 3. Viertel 15. Jahrhundert; Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 894 Helmst. Raum Braunschweig, 1445 – 1450; und Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 937 Helmst. Südostniedersachsen, 1390 – 1400 sowie die Fragmente: Freiburg i. Br., Universitätsbibliothek, Hs. 1500,25. Herkunft unbekannt, 2. Viertel 14. Jahrhundert; Privatbesitz Hans Müller-Brauel, Haus Sachsenheim bei Zeven, Nr. 42. Herkunft unbekannt, 1324; Privatbesitz Sigurd Wandel, Kopenhagen, Cod. 29. Herkunft unbekannt, ca. 1400 und Rostock, Universitätsbibliothek, Mss. philol. 102a. Ostfalen, Mitte 15. Jahrhundert. Zu Bruder Philipp und seinem Marienleben vgl. Kurt Gärtner: Art. Bruder Philipp OCart, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7 (1989), Sp. 588 – 597. – Zur Vita vgl. Kurt Gärtner: Art. Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10 (1999), Sp. 436 – 443. Dieses Fragment (Privatbesitz Hans Müller-Brauel, Haus Sachsenheim bei Zeven, Nr. 42. Herkunft unbekannt, 1324) gilt derzeit als verschollen. Eine Beschreibung mit Transkription gibt Fritz Goebel: Bruchstücke von Bruder Philipps Marienleben aus dem Jahre 1324, in: Niederdeutsches Jahrbuch 31 (1905), S. 36 – 38. Vgl. Gärtner 1978 (wie Anm. 4), S. 74, 374. – Kurt Gärtner: Philipp von Seitz: Marienleben, in: Die Kartäuser in Österreich, Bd. 2, hg. v. James Hogg (Analecta Cartusiana, Bd. 83), Salzburg 1981, S. 117 – 129, hier S. 127.

132 | Christina Ostermann

Abb. 1: Die Zusatzepisode in der Lübecker Handschrift von Bruder Philipps Marienleben: Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. theol. germ. 4° 23, Bl. 62r. Norddeutschland [Wismar/Lübeck?], 1489; http://digital-stadtbibliothek.luebeck.de/viewer/object/Mstheolgerm423/127/ (09. 02. 2020).

Verse verfolgen | 133

Abb. 2: Die Zusatzepisode in der Lübecker Handschrift von Bruder Philipps Marienleben: Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. theol. germ. 4° 23, Bl. 62v. Norddeutschland [Wismar/Lübeck?], 1489; http://digital-stadtbibliothek.luebeck.de/viewer/object/Mstheolgerm423/128/ (09. 02. 2020).

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Für die Lübecker Handschrift sind dank eines Kolophons der Schreiber und das Jahr der Abschrift bekannt: „Anno dominy M cccc lxxxix do ward dit bock gescreuen van enem genomet Hans Stortekare“ (Lü, Bl. 188r).8 Von einem Schreiber d ­ ieses Namens ist bislang nur diese Handschrift bekannt. Für eine historische Person ­dieses Namens lässt sich in einer Hamburger Bursprake, einer Art ‚Amtsblatt‘, aus dem Jahr 1482 ein Beleg finden.9 In der Form einer Versicherung an Eides statt wird dort von einem Schiffsunfall berichtet, an dem der Wismarer Bürger Hans Stortekare beteiligt war. Bei der Seltenheit des Namens ‚Stortekare‘ und der zeitlichen Nähe zum Marienleben ist es durchaus möglich, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelt.10 Auch eine Herkunft Stortekares aus Wismar wäre mit der Schreibsprache der Handschrift, Nordniederdeutsch, vereinbar.11 Ob die Marienleben-Abschrift auch in Wismar vorgenommen wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. 8

Sofern nicht anders angegeben, stammen sämtliche Transkriptionen im Rahmen ­dieses Beitrags von mir. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst, Schaft-s wird als Rund-s dargestellt, es findet kein u/v-, i/j/y-Ausgleich statt. Die Groß- und Kleinschreibung entspricht der jeweiligen Handschrift, nur bei Eigennamen wird der Anfangsbuchstabe großgeschrieben. Spatien z­ wischen ­zusammengehörenden Wörtern werden aufgehoben, fälschlicherweise zusammengefasste Wörter getrennt. Für unlesbare Buchstaben wird [:] verwendet. Historische Korrekturen werden in die Transkription integriert. Es wird keine Interpunktion ergänzt. 9 Die Bursprake ist ediert: Hamburgische Burspraken. 1346 bis 1594. Mit Nachträgen bis 1699, Bd. 2: Bursprakentexte, hg. v. Jürgen Bolland (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hanse­ stadt Hamburg, Bd. 6,2), Hamburg 1960, hier S. 166 (Nr. 74). 10 Für den Nachnamen ‚Stortekare‘ konnten für das ausgehende 15. Jahrhundert nur noch Personen in Hamburg nachgewiesen werden, von denen jedoch keine den Vornamen ‚Hans‘ oder ‚Johannes‘ trägt, vgl. Nicolaus Staphorst: Hamburgische K ­ irchen-Geschichte, Bd. 1,4, Hamburg 1731, hier S. 172. – Peter Gabrielsson: Die Gesellschaft der Schonenfahrer in Hamburg im 15. Jahrhundert, in: Wirtschaft – Gesellschaft – Mentalitäten im Mittelalter. Festschrift zum 75. Geburtstag von Rolf Sprandel, hg. v. Hans-Peter Baum, Rainer Leng, Joachim Schneider (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 107), Stuttgart 2006, S. 41 – 62, hier S. 48. – Die Hamburgisch-Lübischen Pfundgeldlisten 1485 – 1486, hg. v. Dennis Hormuth, Carsten Jahnke, Sönke Loebert (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 21), Hamburg 2006, hier S. 59, 75. – Peter Gabrielsson: Bertram Veltberg – Richard Rodenborg – Peter Sommerland. Drei Hamburger Schonenfahrer in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Der Blick auf sich und die anderen. Selbst- und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und früher Neuzeit. Festschrift für Klaus Arnold. Mit 34 Abbildungen, hg. v. Sünje Prühlen, Lucie Kuhse, Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, Bd. 2), Göttingen 2007, S. 149 – 189, hier S. 171. 11 Merkmale des Nordniederdeutschen des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die in der Abschrift begegnen, sind u. a. my und dy für „mich“ bzw. „dich“, die Schreibung von a für tonlanges o wie beispielsweise bei „gades“ und „appenbar“, „wôr“ für „wo“ und „wô“ für „wie“ sowie „yewelk“ für „jeder“, vgl. Robert Peters: Katalog sprachlicher Merkmale zur variablenlinguistischen Erforschung des Mittelniederdeutschen. Teil II, in: Niederdeutsches Wort 28 (1988), S. 75 – 106, hier besonders S. 104. – Robert Peters: Die Diagliederung des Mittelniederdeutschen, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 2,2, hg. v. Werner Besch u. a., 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 2), Berlin, New York 2000, S. 1478 – 1490, hier besonders S. 1481. – Robert Peters: Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen

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Fest steht lediglich, dass sie bereits kurz nach 1500 in den Besitz des Lübecker Michaeliskonvents ging, einem Konvent der Schwestern vom gemeinsamen Leben.12 Innerhalb des niederdeutschen Korpus weist Lü die meisten Gemeinsamkeiten mit Wolfen­büttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 894 Helmst. [Sigle Wo] auf.13 Im ersten Textdrittel stimmt auch Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. qu. 760 [Sigle Be] mit Lü und Wo überein. In ­diesem Teil der Erzählung weist Lü eine Ergänzung des Textbestands auf, die in der Marienleben-Überlieferung einmalig ist. Sie steht im Kontext der zahlreichen Wunder, die Jesus auf der Flucht nach Ägypten vollbringt: Der Gottessohn versorgt seine Eltern in der Ödnis mit Speis und Trank, zähmt wilde Drachen, stoppt den Regen, vertreibt Teufel, verkürzt die Reiseroute auf wundersame Weise und heilt eine verletzte Räuberbande.14 In der Lübecker Handschrift heilt er auch das leprakranke Kind eines dieser Räuber.

3. Die Heilige Familie bei den Räubern Vor und nach der Ergänzung entspricht der Handlungsverlauf weitgehend der übrigen Überlieferung (vgl. Marienleben, V. 2938 – 3095): Maria, Joseph und Jesus werden auf ihrer Flucht vor Herodes in einem Wald von einer Räuberbande überfallen, gefangen genommen und in das Haus eines alten Räubers gebracht. Die Räuberfrau erkennt die Heiligkeit der Familie und veranlasst die Versorgung ihrer Tiere, badet Jesus und bringt ihn zu Bett.15 Im

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15

des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (ASnA), Bd. 1: Einleitung, Karten, Berlin, Boston 2017, hier besonders S. 59, 153. Diese Provenienz ist dank einer Altsignatur auf dem Buchrücken gesichert, vgl. Hagen 1922 (wie Anm. 3), S. 91. Handschriftliche Nachträge auf Bl. 188r und dem vorderen Spiegel bezeugen die zweimalige Weiter­gabe der Handschrift bis kurz nach 1500. Die Handschrift ist digitalisiert: http://diglib.hab.de/mss/894-helmst/start.htm (09. 02. 2020). Bruder Philipps Marienleben liegt bislang nur in einer Edition vor: Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben, hg. v. Henrich Rückert (Bibliothek der deutschen National-Literatur, Bd. 34), Quedlin­ burg, Leipzig 1853. Die hier genannten Episoden werden in V. 2786 – 3275 erzählt. Versangaben im Fließtext beziehen sich auf diese Edition. Eine Neuausgabe durch Kurt Gärtner und Martin Schubert ist in Vorbereitung. Eine Besonderheit der Lübecker Abschrift besteht darin, dass 24 Verse (V. 2983 – 3006) fehlen. Die Räuber­frau erkennt in dem fehlenden Abschnitt die Heiligkeit der Gefangenen anhand der Schönheit der Gottesmutter und der strahlenden Erscheinung des Jesuskindes. Erst in der Folge ihrer freund­ lichen Aufnahme der Familie zeigt sich auch der Räuber gastfreundlich. Die anschließenden zwei Verse, V. 3007 f., erzählen in der Wolfenbütteler Handschrift vom weiteren Handeln des Räubers: „Er ve in eynen stal he scluk | He gaf en voder vnde stro“ (Wo, Bl. 133r). Der Lübecker Textzeuge lässt V. 2982 „do ze dat gezinde sach“ (Lü, Bl. 61v) auf V. 3007 „ere vee yn eynen stal se sloch“ (Lü, Bl. 61v) reimen. Über die Veränderung des Personalpronomens zur femininen Form wird ein reibungsloser Anschluss an V. 2982 garantiert. In der Lübecker Version fehlt durch diese Auslassung eine Begründung für die freundliche Aufnahme durch die Räuberfrau und der Sinneswandel des Räubers. Es ist die Räuberfrau, die hier als aktive Handelnde in den Vordergrund tritt. Dieser veränderte Erzählfokus verstärkt

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weiteren Erzählverlauf zeigt Jesu Badewasser seine magische Wirkung: Die verletzt heimkehrenden Räuber der Bande waschen sich mit d ­ iesem Wasser, werden geheilt, knien vor dem Gottessohn und seiner ­Mutter nieder und bitten um Vergebung. Der Wirt bewahrt das Badewasser auf und kommt mit d ­ iesem Wundermittel zu großem Reichtum. Am dritten Tag bricht die Heilige Familie wieder auf. Der Räuber und seine Frau begleiten sie ein Stück des Weges und bitten zum Abschied um einen weiteren Besuch.

3.1 Der Lübecker Sonderweg Die Lübecker Handschrift überliefert in d ­ iesem Erzählkontext, das heißt nach V. 3023 der Rückert’schen Edition, dreizehn Zusatzverse, für die sich in der gesamten MarienlebenÜberlieferung keine Parallele findet. Die Verse erweitern die Einkehr der Heiligen Familie bei den Räubern um eine kurze Begebenheit, die z­ wischen der Badeszene und der Rückkehr der verletzten Räuber stattfindet: [Lü, Bl. 62r] 3023,1 3023,5 [Lü, Bl. 62v] 3023,10 3023,13

de zulue vrouwe hade en kind dat was boze also de vttsetescen zind myt deme hadde ze vngemak beyde dach vnde nacht do Yesus vtte deme bade qwam de zulue vrouwe dat cynd nam vnde sette dat an dat vetelin tohand vorgink em de suke zin ze dankeden Yezum al tohant dat zin gnade was em becand vnde hadde em dar scyn 16 an deme suluen water zin siner gnaden hulppe scin

den Eindruck, dass die Räuberfamilie als Kontrafaktur der Heiligen Familie zu lesen ist. Maria und die Räuberfrau, Joseph und der alte Schächer sowie Jesus und das im weiteren Handlungsverlauf eingeführte Räuberkind könnten spiegelbildlich gelesen werden. Ebenso wie Maria im Marienleben im Zentrum steht, übernimmt die Räuberfrau diese Rolle in der Lübecker Räuberepisode. Noch deutlicher als in der weiteren Überlieferung zeigt der Lübecker Textzeuge damit eine Spiegelung der Heiligen Familie in der Sphäre der Unheiligkeit. 16 In der Handschrift folgt auf das Reimwort „scyn“ noch der nächste Versanfang („an de“), der in der Transkription ausgelassen wurde.

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Der Passus führt ein Räuberkind in die Handlung ein, das „boze“ (krank) wie die Aussätzigen ist und von seiner M ­ utter im Anschluss an Jesus gebadet wird.17 Das Badewasser heilt das Kind und die Eltern danken Jesus für seine Gnade, die ihnen mit d ­ iesem Wunder zuteilgeworden ist. Die ungerade Verszahl der interpolierten Binnenepisode ist vermutlich auf einen fehlenden Reimpaarvers innerhalb V. 3023,11 – 3023,13 zurückzuführen, aus syntaktischen Gründen ist ein fehlender Vers nach V. 3023,13 zu vermuten. Die Zusatzverse geben sich als Interpolation zu erkennen, da mit ihnen, insbesondere mit dem fünften Zusatzvers, die Chronologie der Ereignisse gestört wird. Das Verspaar V. 3022 f. berichtet, dass Jesus schlafen gelegt wird. In V. 3023,5 wird der Zeitpunkt der zweiten Heilung jedoch auf „do Yesus vtte deme bade qwam“ gelegt. Sprachlich fügt sich das zweite Heilungswunder hingegen nahtlos ein. Das erste Verspaar erinnert im Wortlaut an die zwei Verse, mit denen die Räuberfrau in die Erzählung eingeführt wird, und bindet die Episode auf diese Weise zurück an den bisherigen Handlungsverlauf: „de zulue sceker hadde en wiff | de was em leff alzo zin liff“ (V. 2980 f. – Lü, Bl. 61v). Optisch sticht die Interpolation auf Bl. 62r–v nicht hervor. Es ist demnach davon auszugehen, dass sie schon in seiner Vorlage v­ orhanden war.18 Die Parallelüberlieferungen in Wo und Be überliefern die Ergänzung nicht, die Textgestaltung weist in beiden Handschriften (Wo: Bl. 133v, Be: S. 102) keine Unregelmäßigkeit auf, die für eine Auslassung sprechen könnte.19

4. Auf der Suche nach der Quelle Für die Lübecker Ergänzung gibt es keine Entsprechung in der Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, der Vorlage des Marienlebens; die Rahmenhandlung läuft aber parallel zur Vita (vgl. V. 2234 – 2267).20 In einem Vergleich der lateinischen Quelle mit dem mittel17 Zur Bedeutung von mittelniederdeutsch „bôs(e)“ vgl. Agathe Lasch, Conrad Borchling: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Neumünster 1956, Sp. 331. 18 An dieser Stelle ist es wichtig, genau ­zwischen der Produktions- und Rezeptionsebene zu unterscheiden. Der Lübecker Textzeuge bewahrt zwar als einziger diesen Passus, es lässt sich dennoch nicht mit aller Sicherheit sagen, dass die Interpolation auch in dieser Abschrift erfolgte. Fest steht lediglich, dass eine Rezeption der Erzählung im nordniederdeutschen Sprachraum stattgefunden hat. 19 Auch die mit Lü verwandten, ostmitteldeutschen Handschriften Uppsala, Landesarchiv, Depositio Schytteana I E 2 [Sigle U]. Herkunft unbekannt, 2. Drittel 15. Jahrhundert; und Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. qu. 13 [Sigle B]. Herkunft unbekannt, 1454; http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB00013DB400000000 (09. 02. 2020) überliefern die Interpolation nicht. B zeigt keine Auffälligkeit im Textlayout, die für eine Auslassung sprechen könnte, vgl. Bl. 41r. Die Handschrift U überspringt die Räuberepisode in der Darstellung der Flucht nach Ägypten, vgl. Bl. 61r–68v. 20 Die Verszahlen beziehen sich auf die einzige Edition der Vita: Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hg. v. Adolf Vögtlin (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 180), Tübingen 1888.

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hochdeutschen Text zeigt sich Philipps Bearbeitungstechnik deutlich: Er weitet die 34 Vagantenverse der Vita auf 158 Reimpaarverse aus und legt einen Schwerpunkt auf die zusätzliche Handlungsmotivierung. Er begründet den Überfall der Räuber mit deren Annahme, dass es sich um eine Entführung handelt, auf die sie ihrerseits mit einer Entführung reagieren. Der Ort der Gefangennahme – das Haus eines in die Jahre gekommenen Räubers – wird damit erklärt, dass es sich in der Nähe des Überfalls befindet. Bei Philipp ist es die Frau ­dieses Räubers, die die Außergewöhnlichkeit der Heiligen Familie erkennt und sie daher nicht als Gefangene, sondern als Gäste empfängt. Erst dann folgt der Sinneswandel des Wirtes selbst. Philipp weitet die Episode auch zeitlich aus, indem er die Heilige Familie erst nach drei Tagen weiterreisen lässt.

4.1 Das Pseudo-Matthäusevangelium Da die Bibel sämtliche Details der Flucht nach Ägypten ausspart,21 macht die Vita – und in der Folge auch Philipps Marienleben – ausführlichen Gebrauch von apokryphen Schriften, vor allem von den im Mittelalter äußerst beliebten sogenannten apokryphen Kindheitsevangelien.22 Zu den Vorlagen der Vita zählt das Pseudo-Matthäusevangelium. Die Flucht nach Ägypten wird dort in den Kapiteln 18 bis 22 geschildert, im Zentrum stehen, wie bei Philipp, Jesu Wundertaten.23 In der ursprünglichen Version fehlt der Bericht über das Aufeinandertreffen mit Räubern; in den zahlreichen Bearbeitungen, Auszügen und Kompilationen wird die Räubergeschichte jedoch zuweilen ergänzt. 21 Vgl. Mt 2,13 – 15. Markus- und Johannesevangelium kennen keine Erzählungen zu Jesu Geburt und Kindheit. Das Lukasevangelium fasst sein Aufwachsen in einem einzigen Satz zusammen (vgl. Lk 2,40) und berichtet im Anschluss direkt vom Besuch des zwölfjährigen Jesus im Tempel (vgl. Lk 2,41 – 52). Das Matthäusevangelium bietet damit den einzigen hier relevanten Vergleichstext. Im Rahmen dieser Arbeit verweisen alle direkten und indirekten Bibelzitate auf die Vulgata = Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. v. Robert Weber OSB, 3., verb. Aufl., Stuttgart 1984. 22 Unter dem Begriff sind nicht-kanonische Erzählungen zu verstehen, die Jesu Kindheit zum Gegenstand haben und so eine biblische Leerstelle füllen, vgl. Silvia Pellegrini: Kindheitsevangelien, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1: Evangelien und Verwandtes, hg. v. Christoph ­Markschies, Jens Schröter, 7. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm ­Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 2012, S. 886 – 902. 23 Vgl. Libri de nativitate Mariae. Pseudo-Matthaei Evangelium. Textus et commentarius, hg. v. Jan Gijsel (Corpus Christianorum. Series Apocryphorum, Bd. 9), Turnhout 1997, S. 446 – 481. Gijsel nennt das 7. Jahrhundert als Entstehungszeit; Pellegrini 2012 (wie Anm. 22), S. 888 spricht vom 8. bis 9. Jahrhundert. – Für eine deutsche Übersetzung der Kapitel 18 – 22 vgl. Oliver Ehlen: Das Pseudo-Matthäusevangelium, in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1: Evangelien und Verwandtes, hg. v. Christoph Markschies, Jens Schröter, 7. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten und von Wilhelm Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 2012, S. 983 – 1002, hier S. 999 – 1001.

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Zwei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert sind besonders relevant für die Untersuchung des Lübecker Zusatzes: London, British Library, Harley MS 3199 Bl. 95r–126v und Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. Lat. 6300, Bl. 87r–127r überliefern ein Exzerpt des Pseudo-Matthäusevangeliums mit interpolierter Räuberepisode ­zwischen Kapitel 17 und 18 (London: Bl. 104v–106r, Vatikanstadt: Bl. 118r–119r).24 Sie erzählt von einem Räuber, dem von seiner Bande aufgetragen wurde, ein Waldstück zu bewachen und jeden Durchreisenden zu überfallen, zu töten und auszurauben. Als die Heilige Familie auf ihrer Flucht in eben ­dieses Waldstück gelangt, gerät der Räuber in eine Konfliktsituation, denn eigentlich will er keinen Mord begehen. Er beschließt, seine Bande zu hintergehen und die Flüchtenden in Sicherheit zu bringen. Er führt sie zu seinem Haus, wo seine Frau gerade ein Bad für ihren Sohn vorbereitet, der als „quasi leprosus […] vel scabiosus“ (London, Bl. 105r) in die Erzählung eingeführt wird. Sie lässt sich von ihrem Mann davon überzeugen, Maria mit ihrem Kind den Vortritt zu geben und wäscht ihren kranken Sohn erst danach. Sobald das Räuberkind in Kontakt mit Jesu Badewasser kommt, wird es gesund. Die Räuberfrau erkennt Jesu Göttlichkeit und betet ihn an. Am nächsten Tag reist die Heilige Familie weiter und der Räuber begleitet sie. So weit bestehen eindeutige Gemeinsamkeiten mit Philipps Bericht, doch geht die Erzählung hier weiter: Als die Reisenden an einen Brunnen kommen, wäscht Maria Jesu Kleider und wringt sie in ein kleines Gefäß aus. Das Wasser verwandelt sich in eine wohlriechende Salbe, die Maria dem Räuber zum Dank für seine Gastfreundschaft schenkt. Das Ende der Episode wirft einen Blick in die Zukunft: Als der Räuber in Geldnot gerät, verkauft er die Salbe an Maria Magdalena, die sie s­päter für die Salbung von Jesu Füßen verwendet. Die Erzählung endet mit der Erklärung, dass eben dieser friedfertige Räuber gemeinsam mit Jesus gekreuzigt werden wird. Er werde ihn am Kreuz bitten, seiner im Jenseits zu gedenken: ­ ieses Zitat „memento mei domine dum ueneris in regnum tuum“ (London, Bl. 106r). Über d von Lk 23,42 wird die Geschichte an die kanonischen Evangelien zurückgebunden. Unter denjenigen Texten, die von der Forschung als ‚apokryphe Kindheitsevangelien‘ bezeichnet werden, kennt nur d ­ ieses – bislang in zwei Handschriften bezeugte – Exzerpt des Pseudo-Matthäusevangeliums die Heilung eines leprakranken Räuberkindes. Beide Einzelbestandteile der Erzählung sind jedoch schon früher belegt. Das Arabische Kindheitsevangelium, dessen Kompilation im 6. Jahrhundert angesetzt wird, erzählt an unterschiedlichen Stellen von Begegnungen der Heiligen Familie mit Räubern und von der Heilung Leprakranker 24 Beide Handschriften sind online einsehbar. London, British Library, Harley MS 3199. Herkunft unbekannt, 15. Jahrhundert; http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Harley_MS _3199 (09. 02. 2020). – Rom (Vatikanstadt), Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. Lat. 6300. Herkunft unbekannt, 15. Jahrhundert; https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.lat.6300 (09. 02. 2020). – Einen Abdruck der Interpolation im Harleyanus bietet Maurits Geerard: Der gute Schächer. Ein neues unediertes Apokryphon, in: La spiritualité de l’univers byzantin dans le verbe et l’image. Hommages offerts à Edmond Voordeckers à l’occasion de son éméritat, hg. v. Kristoffel Demoen, Jeannine Vereecken (Instrumenta Patristica, Bd. 30), Turnhout 1997, S. 85 – 89, hier S. 86 f.

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durch Jesu Badewasser, jedoch stets isoliert voneinander und nie im Kontext der Fluchtgeschichte.25 Zwei Aufeinandertreffen mit Räubern finden während der Zeit in Ägypten statt: In Kapitel 13 flieht eine Räuberbande bei Herannahen der Heiligen Familie von einem bis dahin erfolgreichen Überfall; in Kapitel 23 kann der gute Räuber Titus die gefangen genommene Heilige Familie vom schlechten Räuber Dumachus freikaufen, woraufhin Jesus eine Prophezeiung ausspricht: Die beiden werden mit ihm gekreuzigt werden, Titus zu seiner Rechten, Dumachus zu seiner Linken und nur Titus werde ins Paradies gelangen. Erzählungen von einer Heilung von Aussatz durch Jesu Badewasser begegnen in den Kapiteln 17, 18, 31 und 32. Die ersten beiden Episoden spielen in Ägypten, die letzten beiden erst nach der Rückkehr nach Nazareth. In Ägypten werden ein leprakrankes Mädchen (Kapitel 17) und ein leprakranker Junge (Kapitel 18) mit Hilfe von Wasser, mit dem zuvor der Gottessohn gewaschen wurde, geheilt. Zu den Wundergeschichten in Nazareth gehören die Heilung einer leprakranken Frau (Kapitel 31) und einer leprakranken Braut (Kapitel 32).

4.2 Die griechischen Acta Pilati Ein zweiter direkter Beleg für die Heilung eines leprakranken Räuberkindes durch Jesu Badewasser begegnet in einer Interpolation, die ausschließlich in der mittelalterlichen Bearbeitung der Acta Pilati in griechischer Sprache bezeugt ist. Die Episode wird im zehnten Kapitel zum Zeitpunkt der Kreuzigung als Rückblende eingesetzt.26 Sie versetzt das Geschehen um 33 Jahre in die Vergangenheit und beginnt mit einer Zusammenfassung der Ausgangssituation: Ein Engel sei Joseph erschienen und habe ihn vor Herodes’ geplanten Gräueltaten gewarnt, woraufhin die Heilige Familie nach Ägypten geflohen sei. Eine detaillierte Schilderung der Flucht fehlt, stattdessen wird die Zeit während ihres Aufenthalts in Ägypten unter Berücksichtigung zweier besonderer Begebenheiten erzählt. Bei der ersten handelt es sich um das Palmbaumwunder, das in einem knappen Absatz wiedergegeben wird: Als die Heilige Familie Hunger verspürt, bittet Maria einen Palmbaum, sich mit seinen Früchten zu 25 Für eine lateinische Edition des Arabischen Kindheitsevangeliums vgl. Evangelia apocrypha. Adhibitis plurimis codicibus graecis et latinis maximam partem nunc primum consultis atque ineditorum copia insignibus, hg. v. Konstantin Tischendorf, 2. Aufl., Leipzig 1876, S. 181 – 209. Die im Folgenden genannten Kapitel beziehen sich auf diese Edition. – Für eine Übersicht zum Handlungsverlauf vgl. ­Montague Rhodes James: The Apocryphal New Testament being the Apocryphal Gospels, Acts, Epistles, and Apocalypses with other narratives and fragments, Oxford 1924, S. 80 – 82. Der Ursprung des Werkes liegt, so Pellegrini 2012 (wie Anm. 22), S. 891, im 4. bis 5. Jahrhundert. 26 Bei den Acta Pilati handelt es sich um den ersten Part, das heißt Kapitel 1 – 12, des Evangeliums Nicodemi. – Für eine Edition vgl. Les recensions byzantines de l’Évangile de Nicodème, hg. v. Rémi Gounelle (Corpus Christianorum. Series Apocryphorum. Instrumenta, Bd. 3), Turnhout 2008, hier S. 247 – 251 (Kapitel 10.2.2a–10.2.2i).

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ihnen zu neigen. In der Folge setzt das zweite erzählenswerte Vorkommnis ein: Die Heilige Familie trifft auf den Räuber Dysmas, der sie, überwältigt von Marias Schönheit, anspricht. Er lädt die Familie zu sich ein, übergibt sie in die Obhut seiner Frau und geht auf die Jagd. Sobald der Räuber das Haus verlassen hat, wird sein Kind in die Erzählung eingeführt: Dieses sei von Geburt an leprakrank und weine ununterbrochen. Die Räuberfrau bereitet ein Bad vor, in dem zuerst Jesus und dann ihr eigenes Kind gewaschen werden. Jesu Badewasser zeigt seine Wirkung unmittelbar: Das Räuberkind wird von seiner Krankheit geheilt und hört auf zu weinen. Als der Räuber heimkehrt, setzen sich beide Familien mit Ausnahme des genesenen Kindes zu Tisch. Dysmas bemerkt das Fehlen seines Sohns, woraufhin seine Frau zunächst von dessen wundersamer Heilung berichtet und ihm dann sein gesundes Kind präsentiert. Beide Elternteile danken Maria für das Wunder, Dysmas kniet vor ihr nieder und beschließt, nicht von ihrer Seite zu weichen, solange sie in Ägypten weilt. Als die Heilige Familie abreisen möchte, führt er sie auf den richtigen Weg und bittet zum Abschied um eine erneute Einkehr, die Maria mit einer Prophezeiung beantwortet: Sein Verhalten gegenüber der Heiligen Familie werde ihm gelohnt werden. Es folgt ein Zeitsprung in die erzählerische Gegenwart und Marias Worte bewahrheiten sich: Eben dieser Räuber ­Dysmas bittet Jesus am Kreuz, in seinem Reich an ihn zu denken, und Jesus antwortet mit dem ­biblischen Versprechen, ihn noch am selben Tag im Paradies zu empfangen. Im Vergleich mit der Lübecker Version des Heilungswunders zeigen sich drei signifikante Unterschiede: Erstens ist die Rolle der Gottesmutter in den Acta Pilati hervorgehoben. Bereits in der Erzählung des Palmbaumwunders ist sie es – und nicht ihr Sohn (vgl. Marienleben, V. 2786 – 2865) –, die dem Baum erfolgreich befiehlt, sich mit seinen Früchten zu ihr zu neigen. In der anschließenden Räuberepisode ist es ihre Schönheit, mit der die Gewogenheit des Räubers begründet wird. Ebenso gilt ihr der überschwängliche Dank des Räubers für die Heilung seines Sohns. Zweitens unterscheidet sich die Positionierung des Geschehens. In den Acta Pilati wird die Episode gerade nicht von zahlreichen Wundertaten des Gottessohns gerahmt, sondern als ausgewähltes Wunder kurz vor dem Ende seines irdischen Lebens erzählt. Drittens nimmt diese Erzählung dem Räuber seine Anonymität, indem sie ihm den Namen ‚Dysmas‘ gibt.

4.3 Die italienische Prosaauflösung der Vita Philipp ist nicht der einzige Dichter, der die Vita in die Volkssprache überträgt. Vor ihm übersetzt bereits Walther von Rheinau die Dichtung in die deutsche Sprache, ihm folgt Wernher der Schweizer.27 Keine dieser anderen beiden deutschsprachigen Vita-Bearbei27 Wernhers Marienleben wird auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert, vgl. Kurt Gärtner: Walther von Rheinau, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10 (1999), Sp. 657 – 660, hier Sp. 657. – Für eine Edition vgl. Das Marienleben Walthers von Rheinau, hg. v. Edit Perjus, 2., verm.

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tungen kennt das Heilungswunder des leprakranken Kindes. Im Unterschied zu den deutschen Bearbeitungen nimmt die italienische Prosaauflösung der Vita die Episode auf.28 In der Fluchtschilderung hält sich die italienische Fassung zwar eng an ihre Vorlage, ergänzt deren Räuberepisode aber um eine zweite. Die erste Begegnung der Heiligen Familie mit Räubern berichtet wie die Vita und die deutschsprachigen Versübertragungen von der Heilung einer verletzten Räuberbande durch Jesu Badewasser. Die Heilige Familie trifft jedoch kurz darauf erneut auf zwei Räuber. Als diese beiden Räuber namens Dismas und Gestas die herannahende Familie wahrnehmen, erfasst sie große Furcht: Die wilden Tiere, die die Familie auf ihrer Flucht begleiten, jagen ihnen Angst ein und sie springen auf einen Baum. Maria geht zu ­diesem Baum, redet den Räubern gut zu und bittet sie, hinabzusteigen. Im Gegensatz zu Gestas hört Dismas auf die Gottesmutter, erkennt Jesus als seinen Schöpfer und lädt die Heilige Familie zu sich ein. Bei Dismas angekommen, bereitet seine Frau gerade ein Bad für ihr leprakrankes Kind vor, bietet Maria und ihrem Kind aber den Vortritt an. Als ihr Kind danach in Jesu Badewasser gesetzt wird, wird es geheilt.29 Die Räubereltern preisen Jesus und bitten die Familie, eine Nacht bei ihnen zu bleiben. Die Heilige Familie willigt ein und zieht erst am nächsten Tag weiter. Das darauf­folgende Kapitel dient einer Erklärung und Positionierung der Erzählung im Leben Jesu. Unter Verweis auf „Santo Bernardo“ wird mit ­diesem Nachsatz eine Prophezeiung erläutert:30 Die beiden Räuber werden gemeinsam mit Jesus gekreuzigt werden, Gestas Aufl. (Acta Academiae Aboensis, Humaniora, Bd. 17,1), Åbo 1949. – Walthers Marienleben wird auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert, vgl. Kurt Gärtner: Wernher der Schweizer, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10 (1999), Sp. 953 – 957, hier Sp. 953. – Für eine Edition vgl. Das Marienleben des Schweizers Wernher. Aus der Heidelberger Handschrift, hg. v. Max Päpke, Arthur Hübner (DTM, Bd. 27), Berlin 1920. 28 Die italienische Prosaauflösung der Vita ist der Forschung erst seit einer 2017 an der Universität Oxford verteidigten Dissertation bekannt, vgl. Lisandra Costiner: La vita della beata Vergine Maria e di Cristo. The Production, Circulation and Illustration of the Italian Vernacular Version of the Vita Rhythmica in the Fourteenth and Fifteenth Centuries, Oxford 2017. – Da eine Edition bislang fehlt, erfolgt die Inhaltszusammenfassung anhand des ältesten Textzeugen: Oxford, Bodleian Library, MS. Canon. Ital. 280, Bl. 63rb–65ra. Venetien, letztes Viertel 14. Jahrhundert. 29 Auf Bl. 64v der Oxforder Handschrift findet sich eine Miniatur, die den Moment der Heilung des leprakranken Kindes zeigt. Am linken Bildrand steht Dismas, der die Hände wie zum Gebet zusammenhält, rechts neben ihm ist seine Frau zu erkennen, die ihr geheiltes Kind gerade aus dem Badewasser zieht. Rechts davon befindet sich die Heilige Familie und wieder einen Schritt weiter in die Leserichtung ist Gestas zu sehen, der sich nach wie vor in der Baumkrone versteckt. Am unteren Bildrand wird sein Verhalten mit fünf wilden Tieren erklärt. 30 Vgl. Oxford, Bodleian Library, MS. Canon. Ital. 280, Bl. 65ra. Die genaue Autorität bleibt ungewiss. Es ist zu vermuten, dass der Erzähler sich auf Bernhard von Clairvaux beruft, der sich in seinem 77. Brief an Hugo von St. Viktor mit dem guten Räuber auseinandersetzt, vgl. Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 2, hg. v. Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1992, S. 608 – 641, hier besonders S. 618 – 621. Bernhard nennt im Unterschied zu der italienischen Prosaüberlieferung keine Namen für die Räuber.

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zu seiner Linken, Dismas zu seiner Rechten. Einzig Dismas’ Seele könne gerettet werden, da er Jesu Heiligkeit rechtzeitig erkannt habe. Während Jesu Badewasser in der italienischen Prosafassung erst eine Räuberbande und dann das Kind eines weiteren Räubers heilen kann, sind beide Heilungswunder in der Lübecker Handschrift zu einer Episode verbunden, die nur eine Räuberbande berücksichtigt. Die Heilung des leprakranken Räubersohnes findet in der Lübecker Handschrift zudem vor der Heilung weiterer Räuber statt und wird nicht annähernd so ausführlich vor- und nachbereitet.

4.4 Weitere Parallelen in der europäischen Literatur des Mittelalters Darüber hinaus konnten auch von der Vita unabhängige Parallelstellen in der europäischen Literatur des Mittelalters ermittelt werden. Die kastilische Kindheitserzählung Libro de la infancia y de la muerte de Jesús aus dem 13. Jahrhundert weist Gemeinsamkeiten mit den Zusatzversen auf.31 Sie erzählt von der Anbetung des Jesuskindes durch die Heiligen Drei Könige und der anschließenden Flucht vor Herodes. Auf ihrem Weg nach Ägypten wird die Heilige Familie von zwei Räubern, einem guten und einem bösen, überfallen. Der böse Räuber will Jesus töten, kann aber vom guten Räuber rechtzeitig gestoppt werden. Die Familie kehrt bei dem guten Räuber ein, wird herzlich von seiner Frau in Empfang genommen und bewirtet. Es folgt die detaillierte Schilderung eines Bades, das die Räuberfrau für ihren leprakranken Sohn vorbereitet. Als Maria von der Krankheit erfährt, wäscht sie das Räuberkind mit Jesu Badewasser und befreit es so von seinem Aussatz. Danach springt die Erzählung zur Zeit der Passion: Die Söhne der beiden Räuber werden mit Jesus gekreuzigt. Nur dem Sohn des guten Räubers, Dismas, sagt Jesus ein Wiedersehen im Paradies voraus. Der Sohn des bösen Räubers, Gestas, werde nach seinem Tod in die Hölle gelangen. Ein französisches Gedicht kennt das Heilungswunder ebenfalls. In der ältesten bekannten Handschrift (Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. fr. 1533. Herkunft unbekannt, 13. Jahrhundert) steht es unter der Überschrift „Comance la vie nostre dame et la passion de nostre seigneur“.32 Die Begegnung der Heiligen Familie mit dem Räuber Dismas ­findet auf 31 Die Erzählung ist unikal überliefert in San Lorenzo de El Escorial, Real Biblioteca del Monasterio, Ms. K-III-4, Bl. 82v–85r. Herkunft unbekannt, 15. Jahrhundert. – Die drei in der Handschrift enthaltenen Erzählungen stammen vermutlich aus dem frühen 13. Jahrhundert, vgl. Carina Zubillaga: El llanto como medida de la sensibilidad medieval en el contexto del Ms. Esc. K-III-4 (Libro de Apolonio, Vida de Santa María Egipciaca, Libro de los tres reyes de Oriente), in: Bulletin of Spanish Studies 94,1 (2017), S. 25 – 40, hier S. 26. – Eine Edition liegt vor: Libro de la infancia y muerte de Jesús (Libre dels tres reys d’Orient), hg. v. Manuel Alvar, Madrid 1965 (Clásicos hispánicos, Bd. 2; Ediciones críticas, Bd. 8). 32 Vgl. Die Pseudo-Evangelien von Jesu und Maria’s Kindheit in der romanischen und germanischen Literatur, hg. v. Robert Reinsch, Halle 1879, hier S. 42 – 75. – Ein Schwarz-Weiß-Digitalisat der Handschrift

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der Flucht nach Ägypten statt, das Heilungswunder erfolgt in Dismas’ Garten und betrifft nicht seinen Sohn, sondern seine seit sieben Jahren kranke Frau. Auch zeigt das Wasser seine Wunderwirkung noch auf eine andere Art und Weise: Als es auf den Boden tropft, wachsen zahlreiche Blumen, die Maria pflückt, zu einer Salbe verarbeitet und ihren Gastgebern überlässt. Die Familie verkauft das Gastgeschenk in einer finanziellen Notlage an Maria Magdalena, die damit zu einem späteren Zeitpunkt Jesu Füße salbt. Nach ­diesem Ausblick, der deutlich an die bereits diskutierte Interpolation im Pseudo-Matthäusevangelium erinnert, kehrt die Geschichte wieder in die erzählerische Gegenwart zurück und führt ein Räuberkind in die Erzählung ein, das seit seiner Geburt weint und nicht isst. Maria stillt das Kind und es legt ­dieses Verhalten ab. Auch eine mittelenglische Erzählung, die vom Leben von Gottesmutter und Gottessohn handelt und unikal überliefert ist (Minneapolis, Minnesota, University Library, MS Z822 N81. Herkunft unbekannt, 15. Jahrhundert), berichtet von der Heilung eines kranken Räubersohns und einer Salbenherstellung mit anschließendem Verkauf.33 Hier findet der Überfall durch eine Räuberbande auf der Rückkehr von Ägypten statt. Der Räuber, dem an ­diesem Tag die Beute zusteht, führt die Heilige Familie in sein Haus, wo er von seiner Frau überzeugt wird, die Gefangenen wie Gäste zu behandeln. Jesus wird auf Marias Wunsch in ein Bad gesetzt, das ursprünglich für das stumme, blinde und gehbehinderte Räuberkind gedacht war. Jesu Badewasser zeigt auch an ­diesem Kind seine heilbringende Wirkung, und die Eltern erkennen in Jesus den Erlöser. Als der Gottessohn schläft, bemerkt die Räuberfamilie einen wohlriechenden Schweiß, der von seinem Gesicht perlt, und fängt diesen in einem Behältnis auf. Kurz darauf treten Maria, Joseph und Jesus ihre Weiterreise an und der Räuber und seine Frau schließen sich ihnen an. In einer Stadt verkaufen sie den zu einer Salbe gewordenen göttlichen Schweiß an Maria Magdalena, die dadurch von ihren Sünden gereinigt wird. Auffällig ist, dass weder über Maria Magdalena noch über den Räuber oder sein Kind ein Bezug zur Kreuzigung hergestellt wird. In der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters finden sich zwei Parallelen zu dieser Episode, die textgeschichtlich voneinander abhängen. Die Erzählung von der wundersamen Heilung eines krummen und buckeligen Räuberkindes durch Jesu Badewasser liegt in Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2° vor, einer im Jahr 1399 von Heinz Sentlinger geschriebenen Handschrift, die Heinrichs von München Weltchronik in der β-Redaktion überliefert.34 Heinrichs von München Weltchronik macht im neutestamentlichen ist online einsehbar: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9009683f (09. 02. 2020). Die Räuberepisode findet sich auf Bl. 10vb–12ra. 33 Vgl. The Middle English Stanzaic Versions of the Life of Saint Anne, hg. v. Roscoe E. Parker, London 1928, S. 1 – 89, hier besonders S. 50 – 54. 34 Die Neuedition berücksichtigt diesen Wolfenbütteler Textzeugen nicht, die hier diskutierte Episode ist daher nicht in der Ausgabe vertreten, vgl. Die Weltchronik Heinrichs von München. Neue Ee, hg. v. Frank Shaw, Johannes Fournier, Kurt Gärtner (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 88), Berlin

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Teil Gebrauch von Philipps Marienleben, die Räuberepisode auf der Flucht nach Ägypten ist jedoch aus dem Passional übernommen, das sich wiederum auf Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu stützt.35 Nicht aus dem Passional stammen die im Folgenden abgedruckten vierundzwanzig Zusatzverse, die z­ wischen V. 3202 und 3203 des Passionals eingefügt und bisher nur in der Sentlinger-Handschrift bezeugt sind. Sie knüpfen nahtlos an die bisherige Erzählung an, indem sie die gerade erfolgte Schilderung von Jesu Schlafgemach um einen weiteren Vers ergänzen und dann mit einem zweiten Zusatzvers zum Heilungswunder überleiten: [Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2°, Bl. 139rb] Dar an legt si ez liepleich do nu sagt vnz die schrift etzwo Daz die fraw hiet ein chind als die mar ze wizzen sind Daz waz chrump vnd hofrat vnd an dem leib do vil mat Daz nam die fraw do ez waz vnd satzt ez in daz paduaz Do Jesus [:]in gesezzen het [Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2°, Bl. 139va] zehant an der selben stet Wart vil frisch der selb chnecht hofer vnd pain ward im do sleht Dez frawt die můter vnd vater sich daz pad behielt do fleizziklich Die fraw zu dem schewm vil gar die schrift sagt vnz auch fur war Daz ditz selb chint do war her nach diser schachar Der got an den zeiten hie ze der rechten seiten An seiner marter fron alz ich her nach sag da von So mich daz mar da hin treit alz sein ze sagen wirt nu zeit 2008. – Zum Schreiber vgl. Gisela Kornrumpf: Art. Sentlinger, Heinz, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 8 (1992), Sp. 1102 – 1105. 35 Vgl. Norbert H. Ott: Art. Heinrich von München, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3 (1981), Sp. 827 – 837, hier Sp. 830. – Kurt Gärtner: Die Reimvorlage der ‚Neuen Ee‘. Zur Vorgeschichte der neutestamentlichen deutschen Historienbibel, in: Was Dolmetschen fur Kunst und Erbeit sey. Beiträge zur Geschichte der deutschen Bibelübersetzung, hg. v. Heimo Reinitzer, Hamburg 1982 (Vestigia bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg, Bd. 4), S. 12 – 22, hier S. 16. – Passional. Buch I: Marienleben, hg. v. Annegret Haase, Martin Schubert, Jürgen Wolf (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 91,1), Berlin 2013.

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Zum Zeitpunkt einer zweiten Einkehr bei der Räuberfamilie auf der Rückreise von Ägypten wird der Verweis auf die Passion im Wortlaut des Passionals (vgl. V. 4363 – 4378) wiederholt, nun ist es jedoch wie im Passional der Vater und nicht der Sohn, der als guter Räuber identifiziert wird (vgl. Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2°, Bl. 147va). Während der Passion folgt dann unter Rückverweis auf die Flucht nach Ägypten der biblische Dialog z­ wischen dem guten Räuber und Jesus (vgl. Wolfenbüttel, HerzogAugust-Bibliothek, Cod. Guelf. 1.16 Aug. 2°, Bl. 189vb). Erneut wird somit der Räubervater und nicht der in den Zusatzversen genannte Räubersohn mit dem guten Schächer gleichgesetzt. Die Erzählung von der Heilung des Räuberkindes während der ersten Einkehr wird deutlich als Interpolation erkennbar. Sentlinger hat neben der Wolfenbütteler Handschrift noch eine weitere Handschrift der Weltchronik geschrieben, die sogenannte Runkelsteiner Handschrift (München, Staatsbiblio­ thek, Cgm 7330, datiert 1394), die aber die Zusatzverse nicht enthält.36 Die Forschung geht davon aus, dass die Wolfenbütteler Handschrift der gemeinsamen Vorlage nähersteht und diese Vorlage als Quelle für die Historienbibel Die Neue Ee benutzt wurde.37 In der Tat begegnen die Zusatzverse auch in dieser neutestamentlichen Historienbibel, von der drei niederdeutsche Frühdrucke bekannt sind. Im ältesten Lübecker Druck vom Jahr 1478 lautet die entsprechende Passage:38 Nu hadde de werdynne en kint dat was schorffdich seek vnde vnghestalt vnde de sulue vruwe nam ere kint vnde settede id in dat water dar Jhesus hadde ynne gebadet do wart dat kint heel vnde slicht an syneme lyue als effte em nee wat hadde geschelt vnde wart sunt vnde wol to passe. De vruwe bewarde dat water vlytliken vnde dankede gade vnde deme kinde vnde Marien vor de woldaet de got by en beweesen hadde Vnde men secht als etlike lerer willen vnde seggen dat id de scheker gewest sy de noch by vnsen heren Jhesum quam to hengende to der vorderen syde vnder dat kruce dar vnse leue here Cristus Jhesus an geslagen vnde gehenget wart dar he synen geest ane up gaff vnde starff vns to verlosende van deme ewighen dode

Die Prosafassung dieser Episode war somit zum Zeitpunkt der Marienleben-Abschrift im Jahr 1489 bereits in Lübeck im Umlauf.

36 Zu den Unterschieden der beiden Handschriften desselben Schreibers vgl. Gärtner 1982 (wie Anm. 36), S. 16. 37 Vgl. Die Neue Ee, eine neutestamentliche Historienbibel, hg. v. Hans Vollmer (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters, Bd. 4), Berlin 1929, hier S. 52 f. – Gärtner 1982 (wie Anm. 36), S. 16 f. 38 Eingesehen wurde das Londoner Exemplar ­dieses Drucks: London, British Library, IA.9823. Die hier zitierte Stelle findet sich auf Bl. 40b. Die anderen beiden Lübecker Drucke aus den Jahren 1482 und ca. 1495 weichen nur geringfügig ab. Vgl. den Eintrag im Gesamtkatalog der Wiegendrucke; http:// www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/EHENEU.htm#GW09249 (09. 02. 2020).

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5. Die narrative Funktion der Räuberepisode in der Lübecker Handschrift Mit nur einer Ausnahme weisen die ermittelten und untersuchten Vergleichstexte eine Gemeinsamkeit auf, die dem Lübecker Textzeugen fehlt: Sie setzen die wundersame Heilung des Räuberkindes durch Jesu Badewasser in Bezug zur Passion. Wie bisherige Arbeiten zeigen konnten, heben diese Erzählungen zum einen Jesu Wunderwirken hervor und geben zum anderen die Unausweichlichkeit von Jesu irdischem Tod früh im Narrativ zu erkennen.39 Sie sind aber auch als Teil des mittelalterlichen Diskurses um die Identität des zu Jesu Rechten gekreuzigten Schächers zu verstehen, das heißt als Antworten auf zwei Fragen, die sich aus der entsprechenden Stelle im Lukasevangelium ergeben: Weshalb erkennt nur einer der beiden Räuber den Gottessohn? Warum kann ein ungetaufter Verbrecher in das Paradies gelangen?40 Die erste Frage wird beantwortet, indem die Erzählung eine frühere Begegnung von Gottessohn und Räuber inszeniert. Die zweite Frage wird in denjenigen Texten adressiert, die im Räuberkind und nicht in seinem Vater den mit Jesus gekreuzigten Schächer sehen. Hier kann das Bad des leprakranken Räuberkindes in Jesu Badewasser als Sakrament der Taufe verstanden werden. Diese Lesart wird möglich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Aussatz im Mittelalter als äußere Erscheinungsform von sündhaftem Verhalten gewertet wurde, das entweder selbst begangen oder vererbt wurde – die Parallele zur Erbsünde zeigt sich deutlich.41 Das Wasser, das zuvor mit dem Gottessohn in Berührung kam, befreit also nicht nur von Aussatz, sondern auch von Schuld. Die Begegnung mit Jesus in Kindheitstagen wird für das Räuberkind zur notwendigen Voraussetzung, um in das Paradies zu gelangen. Den Lübecker Zusatzversen und der mittelenglischen Erzählung fehlt ein Zusammenhang mit der Passion. Das Bad bereitet mit seiner heilenden Wirkung nicht im Sinne einer ‚proleptischen Passion‘ auf die Kreuzigung vor,42 sondern bewirkt – ebenfalls ganz im Sinne 39 Vgl. insbesondere Mary Dzon: Out of Egypt, into England. Tales of the Good Thief for Medieval English Audiences, in: Devotional Culture in Late Medieval England and Europe. Diverse Imaginations of Christ’s Life, hg. v. Stephen Kelly, Ryan Perry (Medieval Church Studies, Bd. 31), Turnhout 2014, S. 147 – 241, hier S. 193. 40 Mit dieser Frage beschäftigen sich bereits Cyprian von Karthago im 3. Jahrhundert und Augustinus am Übergang vom 4. zum 5. Jahrhundert. Im Mittelalter setzen insbesondere Bernhard von Clairvaux und Thomas Aquinas die Debatte fort. Für einen Überblick der vertretenen Positionen vgl. Dzon 2014 (wie Anm. 40), S. 231 – 234. 41 Auf diese Deutung hat erstmals Margaret Chaplin mit Blick auf das Libro de la infancia y de la muerte de Jésus aufmerksam gemacht, vgl. Margaret Chaplin: The Episode of the Robbers in the Libre dels tres Reys d’Orient, in: Bulletin of Hispanic Studies 44,2 (1967), S. 88 – 95. In dieser Kindheitserzählung wird das mittelalterliche Verständnis von Aussatz besonders deutlich: Die Räuberfrau begründet die Krankheit ihres Sohns mit ihrer eigenen Sündhaftigkeit. – Zu Lepra im Mittelalter vgl. auch Dzon 2014 (wie Anm. 40), S. 224 f. 42 Dzon 2014 (wie Anm. 40), S. 191 definiert „proleptic passion“ als „a term used to refer to the device of foreshadowing Jesus’s Passion, through subtle (or not-so-subtle) hints, in artistic and literary treatments of his infancy“.

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einer Taufe – eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die beiden Erzählungen geben die Identität des Räubers oder seines Kindes nicht preis, verweilen mit der Geschichte aber dennoch nicht in der erzählerischen Gegenwart. In der Lübecker Handschrift wird auf den zukünftigen Reichtum der Räuberfamilie verwiesen, die mittelenglische Erzählung schildert den Verkauf der aus Jesu Schweiß gewonnenen Salbe an Maria Magdalena. Der Verweis in die Zukunft erfolgt also in beiden Fällen mit Blick auf das Badewasser und nicht mit Blick auf das geheilte Kind. In Bezug auf die Lübecker Textfassung lässt sich der Verzicht auf das prophetische Potential begründen, wenn man die Erzählung vor dem Hintergrund des gesamten Marienlebens untersucht. Denn während die Vita den biblischen Dialog am Kreuz analog zum Lukasevangelium wiedergibt,43 verzichtet Philipp auf eine Umsetzung des Gesprächs und erwähnt die beiden Räuber nur noch in vier Versen (vgl. Marienleben, V. 7692 – 7695), wenn ihnen, bevor Longinus Jesus seinen Speer durch die Seite stößt, die Beine gebrochen werden (vgl. Joh 19,32). Der Bezug z­ wischen Einkehr und Passion ist zwar nicht Gegenstand der Vorlage, dort aber noch theoretisch möglich. Durch Philipps spezifische Bearbeitung wird der Brückenschlag unmöglich. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass ein mittelalterliches Publikum sich der Identität des Räubers oder seines Kindes dennoch bewusst war.44 Wesentlich ist an dieser Stelle allerdings, dass der Schreiber der Lübecker Handschrift das erzählerische Potential einer proleptischen Passion ungenutzt lässt. Stattdessen reiht sich das Heilungswunder ein in eine Kette an Erzählungen von Wundern, die Jesus als Kleinkind auf der Reise nach Ägypten vollbringt. Im Unterschied zu den herangezogenen Vergleichstexten charakterisiert die Episode damit nicht den Räuber oder sein Kind, sondern Jesus und hat eine christologische Funktion. Auch unter Verzicht auf den Passionsbezug weist die interpolierte Binnenepisode eine strukturelle Funktion in der Gesamthandlung des Marienlebens auf, denn über den Einschub wird eine Parallelisierung von Jesu- und Marienleben erreicht. Für diesen narrativen Effekt sind die Zusatzverse mit Blick auf die Gottesmutter zu lesen, die nach Jesu Tod die Wundertaten ihres Sohns übernimmt: Maria heilt Aussätzige, Blinde, Lahme, Taube, Stumme sowie vom Teufel Besessene und erweckt drei Tote zum Leben (vgl. Marienleben, V. 8998 – 9025). Für die meisten dieser Wunder gibt es im Marienleben eine Entsprechung in Jesu Wirken, so beispielsweise in V. 5476 f.: „die blinden machet er gesênde, | die krumben wurden rehte gênde“.45 Jesus erweckt auch drei Tote zum Leben (vgl. Marienleben, V. 5520 – 5549, 5720 – 5747, 5972 – 6069) und heilt Besessene (vgl. Marienleben, V. 5550 – 5595). 43 Das Kapitel (V. 5296 – 5305) steht unter der Überschrift „De latronibus qui pendebant cum Jesu“ und hält sich eng an Lk 23,39 – 43. 44 Vgl. hierzu Dzon 2014 (wie Anm. 40), S. 160. 45 Der Wortlaut erinnert an ein späteres Verspaar, das von demselben Wunder durch Maria erzählt: „die blinden machets wol gesênt | und die krumben rehte gênt“ (Marienleben, V. 9008 f.).

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Die Heilung Tauber und Stummer kommt zunächst nicht explizit zur Sprache.46 Die Heilung Aussätziger ist Teil der Erzählung (vgl. Marienleben, V. 5494), die Passage fehlt jedoch in der Lübecker Handschrift. Auf der Ebene der Erzählung bringen die Lübecker Zusatzverse somit das Leben von Gottessohn und Gottesmutter wieder in ein Gleichgewicht. Wenn Maria nach Jesu Tod Leprakranke heilen kann, so muss Jesus dies ebenfalls zu Lebzeiten getan haben. Es soll hiermit selbstredend keine Intention aufgedeckt, sondern vielmehr ein textueller Effekt beobachtet werden. Während die Zusatzepisode in Heinrichs von München Weltchronik und Der Neuen Ee in Widerspruch mit der weiteren Handlung steht, fügt sie sich in der Lübecker Abschrift passgenau in das durchgängig mit typologischen Mustern arbeitende Marienleben ein. Ebenso wie die in ­diesem Abschnitt diskutierten Parallelstellen schlagen die Zusatzverse eine Brücke z­ wischen den Zeiten – nicht z­ wischen Jesu Kindheit und Kreuzestod, sondern ­zwischen Jesu Kindheit und Marias Leben nach Jesu Kreuzestod. Eine Szene, die sonst zur näheren Identifizierung des guten Räubers eingesetzt wird, erscheint als weiteres Wunder Jesu, das seine Entsprechung in einem späteren Wunder seiner ­Mutter findet.

6. Einordnung der Ergebnisse Im Zentrum der Untersuchung stand die Erzählung von der Heilung des leprakranken Räubersohns durch Jesu Badewasser. Wie gezeigt werden konnte, handelt es sich bei den Lübecker Zusatzversen um ein Narrativ, das bereits in den apokryphen Kindheitsevangelien angelegt ist und für das sich in der europäischen Literatur des Mittelalters Parallelen aufzeigen lassen. Die Lübecker Handschrift ist der einzige Textzeuge für eine Episode, die in der übrigen Marienleben-Überlieferung fehlt, aber in der Wolfenbütteler Heinrichvon-München-Handschrift belegt ist. Die Wolfenbütteler Handschrift der Weltchronik, ­welche der Vorlage für die Prosa der Neuen Ee am nächsten steht, dürfte die Quelle für Lü gewesen sein. Auch die Lübecker Zusatzverse stellen also eine Interpolation dar, die in den Text des Marienlebens eingefügt wurde. Dafür spricht auf textinterner Ebene die gestörte Chronologie im Handlungsverlauf und auf textexterner Ebene das literarische Leben in Lübeck zum Entstehungszeitpunkt der Handschrift: Mindestens zwei Drucke der Neuen Ee waren in Lübeck im Jahr 1489 im Umlauf. Die Erzählung von der Heilung des leprakranken Räuberkindes durch Jesu Badewasser war also im Lübeck der Zeit durchaus vertreten. 46 Eine Heilung Tauber und Stummer findet nach Marias irdischem Tod statt und zwar mit Hilfe des Palmzweigs, den Jesus seiner M ­ utter kurz vor dem Ende ihres irdischen Lebens von einem Engel bringen lässt. Rückert übergeht das entsprechende Verspaar nach V. 9469 in seiner Edition. Gärtner und Schubert nehmen es in ihre Neuedition auf.

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Die Analyse konnte auch verdeutlichen, dass die Lübecker Handschrift besonders aufgrund ihrer spezifischen Verwendung der Episode Aufmerksamkeit verdient. In seiner Aufnahme der dreizehn Zusatzverse macht der Schreiber bzw. Kompilator zwar von einer Episode Gebrauch, die sich im Spätmittelalter wachsender Beliebtheit erfreut, bringt diese aber gerade nicht in Zusammenhang mit dem aufkommenden Kult um den guten Räuber Dismas.47 Der Einschub dient als weiteres Wunder in einer Kette von Ereignissen, die Jesu Wunderwirken herausstellen, und nicht der Charakterisierung des guten Räubers. Daneben steht er ganz im ­Zeichen des Marienlebens, indem er eine über Versauslassungen entstandene Inkongruenz ­zwischen Jesu- und Marienleben wieder aufhebt und die Handlung auf Maria fokussiert. Dem eingangs vorgestellten Thanner Tympanonrelief fehlt – ebenso wie den Lübecker Zusatzversen – jeglicher Bezug zur Passion und auch hier ist ein derartiger Bezug gar unmöglich, denn das Relief ist ganz auf die Gottesmutter fokussiert und nimmt die Kreuzigung nicht in sein Bildprogramm auf. Eine niederdeutsche Erzählung, für die es wenige, aber weit verbreitete literarische Parallelen gibt, findet ihre einzige Entsprechung in Bezug auf die narrative Funktionalisierung in einem elsässischen Relief. Die Lübecker Zusatzverse sind damit zwar auffallend anders eingesetzt als vorherige und zeitgenössische Vergleichstexte, sie sind kulturgeschichtlich aber nicht ohne Parallele.

47 Zur Dismasverehrung in Mittelalter und Barock vgl. Leopold Kretzenbacher: St. Dismas, der rechte Schächer. Legenden, Kultstätten und Verehrungsformen in Innerösterreich, in: Zeitschrift des historischen Vereines für Steiermark 42 (1951), S. 119 – 139. – Friedrich Zoepfl: Dismas und Gestas, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 4 (1955), Sp. 83 – 87. – Erich Wimmer: Dismas der rechte Schächer, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 3 (1981), Sp. 697 – 701.

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Monika Unzeitig

Text- und Bildräume im niederdeutschen Bibeldruck des 15. Jahrhunderts 1. Fragestellung Lukas Brandis kündigt in seiner Lübecker Bücheranzeige von 1478 (oder 1479) sechzehn Titel zum Verkauf an. Die Liste der zu kaufenden Bücher „in dudesch“ beginnt mit „de Biblie mit den figuren des olden vnde nien testamentes“.1 Dass eine Bücheranzeige mit dem Hinweis auf die beigefügten Holzschnitte, die „figuren“, wirbt, ist für die deutschsprachigen bzw. niederdeutschen Drucke nicht ungewöhnlich, vielmehr ein typisches Ausstattungsmerkmal der frühen Drucke und somit ein wichtiges Verkaufsargument.2 Dass allerdings die volksprachigen Bibeldrucke fast von Anfang an als illustrierte gedruckt werden, ist hingegen durchaus bemerkenswert, auch da die Bildausstattung der deutschen Bibeldrucke kein Vorbild in lateinischen Bibeldrucken hat.3 Die folgenden Untersuchungen beziehen sich auf die Verbindung von Text und Bild in der Gestaltung der Bibeldrucke der Inkunabelzeit, auf Form und Funktion der Holzschnitte mit Bezug zum Text. Besonders in den Blick genommen wird, w ­ elche innovative Rolle die niederdeutschen Bibeldrucke für die Text-Bild-Gestaltung im 15. Jahrhundert einnehmen. Die Bildprogramme der ersten deutschen Bibeldrucke in Augsburg und 1

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Bücheranzeige, niederdeutsch (GW 05014), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Inc 1446.9 Einbl, Lübeck, Lukas Brandis, um 1478/79, Bl. 1r; http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0002333900000000 (21. 02. 2020). Die Datierung der Bücheranzeige ist unsicher (1478 oder 1479), gleichwohl liegt nahe, dass der Hinweis auf den illustrierten Bibeldruck sich auf die Kölner Bibeln (um 1478 entstanden) bezieht; nach Olaf Schwencke: Art. Niederdeutsche Bibeldrucke, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 6 (1987), Sp. 977 – 986, hier Sp. 977 f., erscheint wenig plausibel, dass mit der Ankündigung ein weiterer, aber nicht bezeugter Bibeldruck gemeint sein könnte. Vgl. zu den Bücheranzeigen und ihren Vermarktungsstrategien im 15. Jahrhundert Lotte Hellinga: Sale Advertisements for Books Printed in the Fifteenth Century, in: Books for Sale. The Advertising and Promotion of Print since the Fifteenth Century, hg. v. Robin Myers, Michael Harris, Giles Mandelbrote, New Castle, London 2009, S. 1 – 25. Vgl. dazu Henning Wendland: Art. Bibelillustration, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 1 (1987), S. 354 – 362, hier S. 354 f. – Zur Buchillustration der vorreformatorischen Bibeldrucke siehe Walter Eichenberger, Henning Wendland: Deutsche Bibeln vor Luther. Die Buchkunst der achtzehn deutschen Bibeln ­zwischen 1466 und 1522, Hamburg 1977.

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Nürnberg gliedern den Text durch historisierte Initialen; diese dienen als Anfangsmarkierung der Bucheinteilung. Demgegenüber verändern sich mit den ersten niederdeutschen Bibeldrucken in Köln 1478 Form und Umfang der Holzschnitte; diese werden zu narrativen Bildfolgen, die mit Bezug zu Kapiteleinteilung und Text platziert sind. Diese neuen Holzschnitte werden für die hochdeutschen Bibeldrucke übernommen, zunächst durch Anton Koberger in Nürnberg. Für alle folgenden vorreformatorischen Drucke werden sie nachgeschnitten und prägen damit das Bildprogramm. Der Lübecker Drucker Steffen Arndes setzt mit seiner niederdeutschen Bibel im Jahr 1494 ebenfalls ­dieses Bildkonzept fort, allerdings lässt er die Holzschnitte neu herstellen und neu gestalten und ergänzt wiederum eigenständig eine neue illustrative Form zur Markierung der Buchanfänge bzw. der Vorreden zu den Büchern. Anliegen des Beitrags ist daher, die Bibeldrucke in ihrer Gestaltung der Illustrationen vorzustellen und sie in ihrem Kontext und damit in ihrer Funktion zum Text zu beschreiben. Der Fokus liegt darauf, wie die deutschsprachigen Bibeldrucke das Seitenlayout mit Bild und Text als einen eigenen und je spezifischen Lektüreraum ausgestalten, der seine eigene Betrachtungs- und Leseweise einfordert und somit auch die Lesbarkeit und die Rezeption steuert.

2. Text und Platzhalter für manuelle Ausgestaltung: Gutenbergs 42-zeilige Bibel und die ersten gedruckten deutschsprachigen Bibeln (Straßburg) Wie genau sich die Seitengestaltung der frühen Drucke an den Handschriften ausrichtet und diese zum Vorbild nimmt, ist nicht zu übersehen. Dies betrifft das Seitenlayout, die Gestaltung der Drucktypen und ebenso die Initialornamentik. Es sind ehrgeizige Projekte für schöne Bücher, die wie Handschriften aussehen, wie Gutenbergs 42-zeilige Bibel, die B42.4 Schon bei einem ersten Blick auf die Gutenberg-Bibel besticht der zweispaltige Blocksatz mit seinem geschlossenen Satzbild. Zwar hat Gutenberg am Anfang auch mit einem zweifarbigen Druckverfahren experimentiert, aber dies nur für wenige Seiten durchgeführt.5 Die jeweilige künstlerische Ausgestaltung des Drucks mit Initialschmuck und Ranken in Großfolio-Format erfolgte – nachträglich – im Auftrag des Erstbesitzers.6 Die Vorlage für

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Siehe Biblia (GW 04201), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB -Ink B-408, Mainz, Johannes Gutenberg, 1454/55; Bl. 5r; http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00004647/image_13 (21. 02. 2020). Der zu hohe technische Aufwand wurde kompensiert durch eine nachträgliche Rubrizierung per Hand; ein Verzeichnis der Kapitelüberschriften, eine ‚tabula rubricarum‘ wurde erstellt, so dass ein Rubrikator die Überschriften selbst von Hand eintragen und auch die Großbuchstaben rot markieren konnte. Die Ausmalung konnte durchaus auch auf Vermittlung von Johannes Fust und Peter Schöffer erfolgen, so Stephan Füssel: Johannes Gutenberg, Mainz 3. Auflage 2003, S. 46.

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Gutenbergs Bibeldruck ist nicht mehr vorhanden, könnte aber vergleichbar mit einer um 1450 in Mainz entstandenen, handschriftlichen Bibel gewesen sein.7 Gutenberg druckt seine Vulgata-Bibel, die B42, nicht illustriert. Es gibt keine bildliche Ausgestaltung mit Bezug zum Text, die mitgedruckt wird. Ausgespart sind quadratische Räume, ‚Platzhalter‘ für Initialen zu den Textanfängen der Prologe und Bibelbücher, abgesehen von der schmalen I-Initiale, für die keine Einrückung vorgenommen wird, sondern allein der Randstreifen vorgesehen ist.8 Verkauft wurde ein ‚unfertiges‘ Buch, das Rubrikator bzw. Kalligraph (für die Rubriken) und Buchmaler (für die Initialen) mit hohem Zeit- und Kostenaufwand noch fertigstellen mussten. Die manuell ergänzten roten Überschriften wie auch die dekorative Buchstabenausgestaltung unterstützen die im Drucklayout angelegte Textgliederung.9 „Die 42zeilige Bibel war somit bilderlos geplant und entsprach dem Grundcharakter lateinischer Bibelhandschriften ihrer Zeit.“ 10 Eine Sichtung der erhaltenen, heute digitalisierten Exemplare der B42 zeigt, dass die nachträglich ausgeführte manuelle Ausgestaltung zumeist eine ornamentale, keine figürliche ist. Die in der Zeit übliche Fleuronné-Ornamentik dominiert sowohl die Initialen zu den Abschnittsanfängen wie auch die Seitenrandausfüllung. Ein textbezogener Figurenschmuck ist nur in wenigen Exemplaren vorhanden.11 Zu diesen gehört die Berliner Bibel, der prächtigste illuminierte Bibeldruck der B42,12 der sich neben rein dekorativen durch textbezogene historisierte Initialen auszeichnet. Die enorm aufwendige Ausgestaltung der Berliner Bibel macht nicht nur die Rolle der Kalligraphen und Buchmaler für den Inkunabelschmuck sichtbar,13 sondern gilt stellvertretend ebenso für alle anderen Druckexemplare der B42, 7

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Siehe dazu Füssel 2003 (wie Anm. 6), S. 37 – 42, insbesondere S. 37: „Johannes Gutenberg imitierte die Handschrift in allen Aspekten; so übernahm er nicht nur die Kolumnenaufteilung, den Blocksatz, den er im Druck noch verbessern konnte, und die Anordnung der Kolumnen auf der Seite, die ein ideales Modul ergaben, sondern auch die Missal-Type, eine Textura. Sie ergab ein sehr geschlossenes Satzbild, da die einzelnen Buchstaben die Senkrechte betonen und optisch wie ein Gitter wirken, so daß die fertige Seite wie ein Gewebe (lateinisch ‚textura‘) erscheint.“ Vgl. Eberhard König: Die Illuminierung der Gutenbergbibel, in: Johannes Gutenbergs zweiundvierzigzeilige Bibel. Faksimile Ausgabe nach dem Exemplar der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, hg. v. Wieland Schmidt, Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, Kommentarband, München 1979, S. 69 – 125, hier S. 75. Die Funktion der sichtbaren Textgliederung verbindet König 1979 (wie Anm. 8), S. 113 wesentlich mit der Konzeption der Drucke als Vorlesebibel im klösterlichen Gebrauch. Eberhard König: Die Berliner Gutenbergbibel, Darmstadt 2018, S. 50. Siehe auch König 1979 (wie Anm. 8), S. 71: „[…] separate Bildfelder fehlen“. Nachweisbar sind sieben bzw. acht Exemplare mit textbezogenem Figurenschmuck ausgestattet, siehe Wolfgang Mayer, Christine Beier, Helmut Zäh: Ein weiteres Pergament-Exemplar der Gutenberg­bibel. Fund eines Einzelblattes in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, in: Gutenberg-Jahrbuch 93 (2018), S. 29 – 41, hier S. 32. So König 1979 (wie Anm. 8), S. 90. Vgl. ebd., S. 111. Siehe auch König 2018 (wie Anm. 10).

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Abb. 1: Prolog B-Initiale: Biblia (GW 04295), Bayerische Staatsbibliothek München, BSBInk B-482, Straßburg, Johannes Mentelin, 1466, Bl. 1r; http://daten.digitale-sammlungen. de/bsb00036981/image_5 (24. 09. 2019).

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Abb. 2: Prolog B-Initiale: Biblia (GW 04296), Bayerische Staatsbibliothek München, BSBInk B-483, Straßburg, Heinrich Eggestein, 1470, Bl. 1r; http://daten.digitale-sammlungen. de/bsb00041186/image_53 (24. 09. 2019).

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die eine einzigartige, unikale, wenn auch überwiegend dekorative und nicht textbezogene Ausgestaltung erfahren. Wie in der lateinischen Gutenberg-Bibel sind auch in den ersten deutschen gedruckten Bibeln, in der Mentelin-Bibel von 146614 und in der Eggestein-Bibel von 1470,15 hergestellt in Straßburg, Aussparungen für Initialen und Initialschmuck zur manuellen Ausgestaltung vorgesehen, die die Buchanfänge markieren. Die Platzhalter für die Initialen zu Beginn der Bibelbücher zur Textgliederung werden in den einzelnen Exemplaren durch Buchmaler ausgestaltet. Beide Drucke bieten einen zweispaltigen Blocksatz, aber ohne zweifarbiges Druckverfahren für Überschriften, und auch noch keine illustrierenden Druckverfahren. Wie die Abbildungen 1 und 2 exemplarisch zeigen, erfolgt die doppelte Textanfangsmarkierung einerseits durch die sprachliche Incipit-Formel „Hie hebt an“ und andererseits optisch hervorgehoben durch die Initiale. Beide Elemente sind manuell ausgeführt: die rubrizierte Textanfangsmarkierung wie auch der Initialschmuck und die Gestaltung der Initiale. In dem abgebildeten Exemplar der Mentelin-Bibel (Abb. 1) ist der Buchstabe B zur Einleitung des ‚Prologus‘ dekorativ farbig als Ornamentalinitiale ausgemalt, in dem Exemplar der Eggestein Bibel (Abb. 2) ist das B als historisierte Initiale gestaltet.16 Der Buchstabenkörper bildet den Rahmen für das Autorportrait des hl. Hieronymus mit dem Löwen und nimmt damit Bezug auf den nachfolgenden Brief des Hieronymus an Paulinus, der dem Bibeltext vorangestellt ist. Die beiden deutschsprachigen Bibeldrucke folgen damit in ihrer Seitenkonzeption dem Gutenberg-Vorbild und sparen den Platz für eine B-Initiale aus (anstelle der F-Initiale des lateinischen Textes).

3. Text und Initiale: illustrierte Bibeldrucke aus Augsburg und Nürnberg Die ersten deutschsprachigen Bibeln sind somit (wie die lateinische Gutenberg-Bibel) für eine manuelle Ausgestaltung konzipiert, die die Lesbarkeit durch Textgliederung bzw. Markierung der Buchanfänge verbessern soll, aber noch nicht mit Illustrationen durch Holzschnitt ausgestattet. Dies ist vor allen Dingen gegenüber der sich im Folgenden im deutschsprachigen Bibeldruck durchsetzenden seriellen Bildausstattung im Medium des Holzschnitts hervorzuheben.17 Die bislang handschriftlich eingefügten Kapitelüberschriften 14 GW 04295; Mentelin druckt zuvor 1460/61 auch eine lateinische Bibelausgabe: GW 04203. 15 GW 04296; auch Eggestein hat zuvor schon lateinische Bibelausgaben gedruckt: GW 04205 (1466); GW 04206 (1468); GW 04208 (1468/70). 16 Zur Initiale in der mittelalterlichen Buchkunst Christine Jakobi-Mirwald: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004, zur Initiale besonders S. 171 – 194. 17 Eine systematische Untersuchung der deutschen Bibelhandschriften des Spätmittelalters liegt bislang nicht vor. Zeitlich etwas früher und auch parallel zum Buchdruck gibt es eine umfangreiche Produktion von Historienbibeln in der Werkstatt des Diebold Lauber, die sich vor allen Dingen durch

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Abb. 3: Prolog B-Initiale: Biblia (GW 04298), Bayerische Staatsbibliothek München, BSBInk B-485, Augsburg, Günther Zainer, 1475, Bl. 1r; https://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00025978/image_7 (24. 09. 2019).

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wie auch die manuell ergänzten Initialen mit zu ,drucken‘ und damit getrennte Arbeitsgänge für Text und Bild zu verbinden bzw. zusammenzuführen, gelingt Günther Zainer in dem ersten deutschsprachigen Bibeldruck in Augsburg. Zainer bringt 1475 seine deutsche Bibel auf den Markt, die sich nicht nur durch einen verbesserten Text, sondern auch durch ihre Ausstattung mit 73 Bildinitialen 18 auszeichnet. In seiner Bücheranzeige von 1476 bewirbt er sie mit den Worten: Das buch der teutschen Bibel mit figuren mit größtem fleiß corrigiert vnd gerechtgemacht. Also daz alle frembde teutsch vnnd vnverstendtliche wort, so in den erstgedruckten klainen bybeln gewesen, gantz ausgethan, vnd nach dem latein gesetzt vnd gemacht seind.19

Die Abbildung 3 zeigt wiederum die erste Initiale, platziert mit dem Text der einleitenden Vorrede bzw. dem Brief des hl. Hieronymus an Paulinus: Die Initiale bildet auch hier mit dem Buchstabenkörper den Rahmen und Raum für die bildliche Darstellung; das Bild entspricht dem traditionellen Typ des Autorportraits am Schreibpult, es zeigt Hieronymus aber auch im gelehrten Gespräch mit Paulinus, dem Bischof von Nola. Insofern nimmt die Bildgestaltung der Initiale deutlicher Bezug zum Text, der Vorrede, die eigentlich, wie es der Titulus auch sagt, eine Epistel, ein Brief des hl. Hieronymus an Paulinus ist, mit der Aufforderung an diesen, sich dem Studium der heiligen Texte zu widmen. In der Bildinitiale eröffnen beide Leitfiguren Hieronymus und Paulinus den Lesevorgang, indem sie mit den Händen auf das auf dem Pult liegende Buch zeigen und agieren; und in ihrer kommunikativen Anordnung dürften sie auch – wie der folgende Text – die Lesehaltung des Rezipienten steuern. Seit dem 9. Jahrhundert findet sich die Epistola ad Paulinum Prespyterum des Hieronymus als Eingangstext in den Vulgata-Handschriften und -Drucken.20 Der Inhalt des Briefes ist zwar konkret an Paulinus adressiert, fungiert jedoch als einleitender umfassende Illustrationsprogramme auszeichnet, vgl. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, 2 Bde., ­Wiesbaden 2001. Die in den kolorierten Federzeichnungen der Historienbibeln verwendeten Bildtypen und Bildmotive beeinflussen die Ausgestaltung der Holzschnitte im deutschsprachigen Bibeldruck, allerdings ohne direkte Übernahmen zu sein. Exemplarisch untersucht wird dieser Transfer von der Verfasserin in dem Beitrag: Monika Unzeitig: Illustration und Textaneignung. Weltschöpfung, Paradies und Sündenfall in den vorreformatorischen Bibeldrucken, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 61 (2020), S. 135 – 182. 18 GW 04298. Siehe allgemein zur Entwicklung der Bildinitialen im Druck Otto Mazal: Buchkunst der Gotik, Graz 1975, S. 154 – 157. Von Zainer stammt auch das erste seriell mit Holzschnitten illustrierte Buch Legendar. Der Heiligen Leben, 1471/72, GW M11402. Den einzelnen Legenden wird jeweils ein kolumnenbreiter Holzschnitt vorangestellt. Siehe auch Caroline Zöhl: Das Catholicon-Projekt – eine Augsburger Kooperation im frühen Medienwandel, in: Unter Druck. Mitteleuropäische Buchmalerei im 15. Jahrhundert, hg. v. Jeffrey Hamburger, Maria Theisen, Petersburg 2008, S. 224 – 244, hier S. 238. 19 Zitiert nach Füssel 2003 (wie Anm. 6), S. 115. 20 Zur Analyse der Epistola und ihrer Integration als Vorrede in die Vulgata siehe Maurice E. Schild: Abendländische Bibelvorreden bis zur Lutherbibel, Heidelberg 1970, S. 42 – 48.

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Text für den Rezipienten als „Wegweiser in die Hl. Schrift“ 21, als erste Einführung und Erklärung zum Aufbau der Bibel und als Aufforderung zur Bibellektüre, die als Schlüssel zur Erkenntnis der göttlichen Weisheit gilt. Insofern nehmen Bild und Text Bezug auf die folgende Rezeption der Bibellektüre. Der einführende Titulus ist zudem rot gedruckt, nicht mehr manuell nachträglich eingefügt: „Hier hbet an die Epistel des heyligen priesters sant Jheronimi z Paulinum von allen gtlichen bchern der hystori · Das erst Capitel“.22 Der Holzschnitt ist in dem hier gezeigten Exemplar jedoch nachträglich manuell koloriert, wie dies für die frühen Drucke durchgehend zur Ausstattung gehört. Buchstabenrahmung und Perspektivierung lenken den Blick des Betrachters auf die dargestellte Szene. Sensenschmidt aus Nürnberg folgt 147623 mit seinem Bibeldruck (Abb. 4) dem Vorbild von Zainers Bibel. Allerdings druckt er die Überschrift schwarz, verzichtet damit auf einen technisch aufwendigen zweifarbigen Druck, und fügt die Bildinitialen gerahmt als kolumnenbreite Illustration über dem Textbeginn ein. Die Initiale ist also nicht der Leserichtung folgend links eingerückt und damit Bestandteil der einsetzenden Lektüre, sondern vorangestelltes Eingangsbild. Nicht von ungefähr scheint hier auch ein späterer Leser das B unmittelbar vor „Růder“ gesetzt zu haben. Die Zainer-Bibel wie auch die Sensenschmidt-Bibel verbinden stets den erklärenden Textbeginn in der Formulierung „Hie hebt an“ mit einer Initiale zu Anfang eines neuen Buches, sie bieten damit eine klar strukturierte und sichtbare Gliederung des Alten und Neuen Testaments. Für das Alte Testament sind als Motive für die Bildinitialen prominente Szenen gewählt, die Bezug auf den Text nehmen, für das Neue Testament die Apostel der vier Evangelien. Als Beispiel für das Alte Testament ist hier exemplarisch aus der Zainer- und Sensenschmidt-Bibel der Beginn des dritten Buchs der Könige gewählt: In der U-Initiale ist das salomonische Urteil abgebildet, mit Salomon stehend bzw. auf dem Richterstuhl sitzend (1 Kön 2,13 – 46) (Abb. 5). Die Initialen dienen damit sowohl der Textgliederung durch Anfangsmarkierung zu Beginn jedes biblischen Buches als auch der Illustration des Bibeltextes. Die Illustration ist wiederum zudem Interpretation, Kommentar und Ausdeutung. Die gewählte Szene für die Bildinitiale bezieht sich nicht notwendig auf den Textanfang, sondern durchaus auch auf s­ päter angeführte Inhalte, wie es z. B. für das Urteil Salomons zutrifft; als Bildmotive sind durchweg herausragende Personen ausgewählt, die sich ohne weiteres mit dem Text der jeweiligen Bibelbücher verbinden lassen und die „Stationen der biblischen Geschichte im Bild“ 24 markieren. Der Erfolg d­ ieses Illustrationskonzepts lässt sich 21 Ebd., S. 44. 22 Biblia (GW 04298), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-485, Augsburg, Günther Zainer, 1475, Bl. 1r; https://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025978/image_7 (24. 09. 2019). 23 GW 04299; siehe zum Vergleich der beiden Bibeldrucke: Paul Knoblauch: Die Bildinitialen der Augsburger Zainerbibel und der Sensenschmidbibel, Diss. Greifswald 1916. 24 Amin Doumit: Deutscher Bibeldruck von 1466 – 1522, St. Katharinen 1997, S. 85.

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Abb. 4: Prolog B-Initiale: Biblia (GW 04299), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-486, Nürnberg, Johann Sensenschmidt, 1476/78, Bl. 3r; http://daten.digitale-sammlungen. de/~db/0002/bsb00026111/images/index.html?seite=5&fip=193.174.98.30 (24. 09. 2019).

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an den Bibeldrucken in Augsburg ablesen. Zainer druckt bereits 1477 eine zweite Ausgabe seiner deutschen Bibel mit den gleichen Initial-Holzschnitten, aber in einem etwas kleineren Buchformat. Anton Sorg wiederum druckt 1480 in Augsburg, nach dem Tod Zainers, mit seinen Holzschnitten eine weitere deutsche Bibel.25 Damit ist der zweispaltige Bibeldruck mit einer seriellen Initialmarkierung der Buchanfänge als Typus etabliert und verbreitet. An dieser Stelle sei betont, dass die Markierungsfunktion der Initiale in den gezeigten Bibeldrucken nicht allein durch die Heraushebung von der Grundschrift in Größe und Schriftart sowie durch Kolorierung visualisiert ist, sondern vor allem durch die künstlerische bildliche Ausgestaltung, so wie sie die mittelalterliche Buchkunst entwickelt hat. Diese bildliche Ausgestaltung der Initiale schafft eine „autonome Sphäre ­zwischen Schrift und Bild“,26 in der die kategoriale Differenz von Schrift und Bild aufgehoben scheint und in der Buchstabe und Bild in ein semiotisches Spannungsverhältnis gesetzt sind.27 Indem die Initiale Schrift und Bildlichkeit verbindet, macht sie den Buchstaben in seiner Gestalt präsent. Dabei scheint es weniger um die Lesbarkeit zu gehen, denn durch die Ausgestaltung der Initiale kommt es auch zu Verzierungen und Verformungen, die den Buchstaben durchaus weniger leicht erkennbar machen. Dem ‚Verlust‘ der Lesbarkeit stehen die raumfüllende Bedeutung und der Bezug zum fortlaufenden Text gegenüber. Die Initiale setzt mit ihrer Gestalt auf ihre Wirkung,28 erfordert eine eigene Wahrnehmung und eine genaue Lektüre ihrer komplexen Bildstruktur: Der Schriftkörper ist sowohl rahmende Begrenzung als auch Raum für die figürliche Darstellung. In den gedruckten Holzschnitten ist dieser Effekt durch den gelenkten Blick in die Initiale angelegt. Der Buchstabenkörper öffnet und zentriert die Sicht auf den im Hintergrund abgebildeten Vorgang, bei den nachträglich kolorierten Drucken verstärkt sich dieser Effekt eines Fensterblicks zusätzlich. Gerade in der möglichen doppelten Funktionalisierung der Initiale liegt ihre Besonderheit: Die Initiale kann das Lesen erleichtern, indem sie den Text strukturiert; sie kann aber auch von der fortlaufenden Lektüre ablenken und erst ihre eigene Lektüre einfordern.

25 Zuvor hatte Sorg schon 1477 eine deutsche Bibel mit den Holzschnitten von Jodokus Pflanzmann gedruckt, der seinerseits 1475 im gleichen Jahr mit Zainer einen Bibeldruck herausgebracht hatte, mit kolumnenbreiten Eingangsbildern. Siehe zum Augsburger Buchdruck und zur Vernetzung der Drucker Hans-Jörg Künast: „Getruckt zu Augspurg“. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg ­zwischen 1468 und 1555, Tübingen 1997, insbesondere S. 72 – 95. 26 Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, 5. Aufl., München 2004, S. 45. 27 Grundlegend dazu, auch in Auseinandersetzung mit der Forschung: Bernd Mohnhaupt: ­Initialzündungen. Die Kontamination von Buchstaben und Bildern in der mittelalterlichen Buchmalerei, in: Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, hg. v. Silke Horstkotte, Karin Leonhard, Köln, Weimar, Wien 2006, S. 35 – 49. 28 Siehe dazu Peter Czerwinski: Verdichtete Schrift. comprehensiva scriptura. Prolegomena zu einer ­Theorie der Initiale, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997), S. 1 – 33, hier S. 1.

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Abb. 5: Das Salomonische Urteil. Links: Biblia (GW 04298), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-485, Augsburg, Günther Zainer, 1475, Bl. 132v; https://daten.digitale­sammlungen.de/bsb00025978/image_270 (24. 09. 2019).

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Rechts: Biblia (GW 04299), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-486, Nürnberg, Johann Sensenschmidt, 1476/78, Bl. 131r; http://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00026111/image_265 (24. 09. 2019).

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4. Text und Illustration: Kölner Bibeln Die Kölner Bibeln (KBB), 1478 unsigniert gedruckt, liegen parallel in zwei niederdeutschen Ausgaben vor: einer niedersächsischen (KBu-Fassung) und einer niederrheinischen Fassung (KBe-Fassung). Sie bieten eine neue Übersetzung 29 und ein verändertes Bildprogramm im Kontext von neu eingefügten Kapitelüberschriften.30 Die beiden Fassungen unterscheiden sich sprachlich 31 sowie in der Anzahl der Holzschnitte: Die KBu enthält 113, die KBe hingegen 123 Holzschnitte, von denen zehn zudem die Apokalypse illustrieren.32 Die Forschung zu den Kölner Bibeln betont zu Recht, dass es sich um den ersten deutschen Bibeldruck handele, der eine geschlossene, zusammenhängende Folge von Holzschnitten biete,33 die diesen damit „zur ersten Bilderbibel schlechthin und zu einem Novum innerhalb der traditionellen Bibelillustration“ 34 mache. Die einspaltigen Bildinitialen werden von größeren Bildformaten im Querformat abgelöst, die über zwei Spalten dem Satzspiegel angepasst und ca. 19 cm × 12 cm groß sind. Das Bildprogramm setzt sich zusammen aus szenischen Erzählungen des Alten Testaments, die den größten Teil der 29 Zur Übersetzung siehe Severin Corsten: Die Kölner Bilderbibeln von 1478. Neue Studien zu ihrer Entstehungsgeschichte, in: Gutenberg-Jahrbuch (1957), S. 72 – 93, hier S. 82. Die KBB sind auch durch Glossen nach der Postilla litteralis des Nicolaus de Lyra ergänzt, die jeweils mit einem Asterisk innerhalb des fortlaufenden Textes als s­ olche auch markiert werden, wie in der Vorrede zu den KBB erklärt; siehe Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, BIBLTH -1A-57:INK, Köln, 1478/79, Bl. 1v und 2r; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/8258457; http:// digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/8258458 (21. 02. 2020). Sie sind die ersten deutschen gedruckten Bibeln mit Glossen, siehe Schwencke 1987 (wie Anm. 1), Sp. 981. 30 KBu GW 04307; KBe GW 04308. Die Genese der Druckherstellung der KBB ist in der Forschung anhand der Typenverwendung, der Übersetzungsphasen und der möglichen Bildvorlagen untersucht worden, vgl. umfassend und genau argumentierend Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 72 – 93. Die unsignier­ ten Drucke lassen sich möglicherweise den Druckern Bartholomäus von Unckel und/oder Heinrich Quentell zuordnen und werden in der Forschung auf das Jahr 1478 datiert. Zur Forschungslage und -problematik mit Rückgriff auf Corsten 1957 (wie Anm. 29) und Hildegard Reitz: Die Illustrationen der ‚Kölner Bibel‘. Diss. Düsseldorf 1959 zuletzt ausführlich Andrea Fromm: Die Kölner und Lübecker Bibel. Zeugnisse der Buchdruckerkunst im niederdeutschen Raum im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 10 (1998), S. 153 – 165. 31 Die KBu, als erste Fassung entstanden, verwendet als Bindewort ‚unde‘; hingegen verwendet die nachfolgend entstandene KBe die Kopula ‚ende‘. Siehe dazu auch Tage Robert Ahldén: Die Kölner BibelFrühdrucke. Entstehungsgeschichte, Stellung im niederdeutschen Schrifttum, Lund 1937. 32 Zum ausführlichen Vergleich der Holzschnitte in beiden Fassungen Rudolf Kautzsch: Die Holzschnitte der Kölner Bibel 1479, Habilitationsschrift, Halle 1896, S. 4 – 8. Die Erweiterung des Bildprogramms in der KBe begründet u. a. die zeitliche Abfolge von KBu und KBe. 33 Vgl. z. B. Die Kölner Bibel. 27 Holzschnitte von 1479 mit einer Einleitung von Wilhelm Worringer, mit 27 Abbildungen, München 1923, S. 5; Reitz 1959 (wie Anm. 30), S. 14 – 17. 34 Fromm 1998 (wie Anm. 30), S. 153 – 165, hier. S. 153. – Vgl. dazu z. B. auch Horst Kunze: Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 15. Jahrhundert, Leipzig 1975, S. 305: „[…] der Grundtypus einer echten Bilderbibel“. – Siehe auch Doumit 1997 (wie Anm. 24), besonders S. 138 – 143.

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Holzschnitte ausmachen, und aus der Darstellung der vier Evangelisten für das Neue Testament sowie der Darstellung der Apokalypse.35 Diese Zusammensetzung des Bildzyklus wird in der Folge tradiert.36 Vergleicht man den Beginn der Genesis, den Schöpfungsbericht in der Zainer-Bibel mit dem der Kölner Bibel (Abb. 6), so zeigt sich auf den ersten Blick schon, dass Initiale und Bild auseinandertreten. Die in der Kölner Bibel manuell zu ergänzende bzw. im g­ ezeigten Exemplar schon ergänzte Initiale markiert den Textbeginn: „In dem ambegyn schoep got hemell e erde“; das Bild illustriert als Eingangsbild die Schöpfungsgeschichte mit der Erschaffung von Eva aus Adams Rippe. Über der Initiale ist eine Kapitelüberschrift eingefügt, die nicht nur das erste Buch Genesis ankündigt, sondern auch auf den Inhalt von Text und Bild verweist: „Hijr begint Genesis dat ijrste boeck: e is v der schepnis der werlt: e des msch.“ 37 Bei der weiteren Lektüre der KBB fällt unmittelbar die Fülle an zusätzlichen Holzschnitten auf, die nicht mehr allein die Buchanfänge der Bibel in Szene setzen, sondern vielmehr mit engem Bezug zu den Textstellen selbst ihren Platz finden. Es werden nur noch wenige Buchanfänge mit einem einleitenden Holzschnitt ausgestattet (Genesis, Exodus, Numeri, erstes und zweites Buch der Könige, Hiob und das Buch der Psalmen sowie die vier Evangelien), alle anderen Buchanfänge nicht.38 Durchgehend ist für die Großgliederung der Bibelbücher 35 Die kunsthistorische Forschung hat für die Holzschnitte jeweils mögliche Vorbilder bzw. Vorlagen ausgewiesen. Für die Holzschnitte des Alten Testaments werden die Federzeichnungen der niederdeutschen Historienbibel Ms. germ. fol. 516 (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz) angeführt, siehe Kautzsch 1896 (wie Anm. 32), S. 10 – 15. – Worringer 1923 (wie Anm. 33), S. 9 f. – Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 74 und S. 83. – Reitz 1959 (wie Anm. 30), S. 60. – Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 138 – 143, mit kritischer Sicht auf die Datierung der Berliner Handschrift und das Verhältnis zur KBB Fromm 1998 (wie Anm. 30), S. 158 f. – Für die Evangelisten-Darstellungen wird auf Zainers Bildinitialen als Vorbild verwiesen, vgl. Kautzsch 1896 (wie Anm. 32), S. 9. – Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 74. – Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 138. Die Holzschnitte der Apokalypse in der KBE wiederum werden in Verbindung gebracht mit der in der Handschrift Paris, Bibliothèque Nationalede France, Ms. néerlandais 3 illus­ trierten Offenbarung, vgl. Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 74. 36 Siehe Wendland 1987 (wie Anm. 3), S. 355: „Weit über 100 Jahre lang hat diese Bildfolge die Auswahl der Bildthemen und die Art der Bildkompositionen aller nachfolgenden ill. Bibeln geprägt oder beeinflußt.“ 37 Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Köln, 1478/79, Bl. 4r; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/8258462 (24. 09. 2019). 38 Zusätzlich sind zur Ausgestaltung von einzelnen Buchanfängen Rahmenleisten eingefügt, die diese zu eindrucksvollen Prachtseiten machen, vgl. zur Beschreibung Reitz 1959 (wie Anm. 30), S. 39 f. In den Exemplaren KBu sind so meist die Vorrede, die Genesis, das Buch der Sprüche und die Apokalypse hervorgehoben; in der KBe hingegen sind die Zierleisten nicht für das Buch der Sprüche, sondern für das Evangelium nach Matthäus eingefügt. Diese aus mehreren Teilen bestehenden Holzschnittleisten sind einerseits als Blatt- und Blütenranken mit Figuren und Tieren gestaltet, andererseits hebt sich von den dekorativen, figurierten Ranken die szenische Darstellung in der unteren Querleiste ab. Zu sehen ist die Anbetung der Heiligen Drei Könige, flankiert zur rechten Seite von einem Bannerträger mit dem Wappen Kölns (vgl. Abb. 6 rechts). Die Forschung hat aus kunsthistorischer Sicht in den ausgestalteten

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Abb. 6: Weltschöpfung. Links: Biblia (GW 04298), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-485, Augsburg, Günther Zainer, 1475, Bl. 5r; http://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00025978/image_15 (24. 09. 2019).

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Rechts: Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Köln, 1478/79, Bl. 4r; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/8258462 (24. 09. 2019).

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durch entsprechende Platzhalter im Druck eine Markierung vorgesehen, die mit manuell ausgeführten Initialen zu ergänzen ist. Die konsequente Koppelung von Buchbeginn und Bild ist aufgegeben und damit auch eine einheitliche Funktionszuweisung für die Holzschnitte zur Anfangsmarkierung, es dominiert vielmehr eine fortlaufende Illustration von Bibelszenen. Diese fortlaufende Anordnung verdichtet die Holzschnitte teilweise zu Bildserien, indem z. B. acht Seiten in Folge mit einem Holzschnitt illustriert sind (Exodus) oder auch häufig zwei und drei illustrierte Seiten als Bildfolge zusammengehören. Die bildreiche Ausstattung mit Holzschnitten verweist auf veränderte Interessen, die die ‚schönen figuren‘ umsetzen. Die Holzschnitte dienen nicht mehr überwiegend der Sichtbarmachung einer Makrostruktur der Buchanfänge, sie fügen sich vielmehr in die durch die im Text eingefügten Kapitelanfänge vorgegebene Mikrostruktur ein. In Zainers Bibeldruck sind die Kapitel durch Nummerierung markiert, optisch abgesetzt durch Einrückung. Die Kölner Bibeln integrieren die Holzschnitte in diese kleinteiligere Kapitelgliederung und ergänzen die bloße Zählung mit einer Inhaltsangabe zum Kapitel (vgl. Abb. 8). Die durchgehende Einfügung von Kapitelüberschriften ist eine wesentliche Neuerung 39 in den Kölner Bibeln – die für das Alte Testament vorgenommen, aber nicht im Neuen Testament durchgeführt wird; die Kapitelüberschriften stellen zugleich den Bezug zum eingefügten Bild her.40 Damit ist der Kontext für die Platzierung der Holzschnitte einerseits ein strukturierender und andererseits ein inhaltlicher. „Dat derde Capittell · wo de slanghe Euen bedroch ende Eua adam ende verdreeff se got vyt den paradyse ende vermaledyede dye erde dor er werck.“ 41 Die numerische Markierung wird sprachlich umgesetzt: Das dritte Kapitel. Zudem wird der Bezug zum Text wiederum durch die insgesamt neu eingefügten Kapitelüberschriften deutlich gemacht: Die Titel der Kapitel formulieren nicht nur zusammenfassend den folgenden Textinhalt, sondern referieren als Bildtitulus auch auf den Holzschnitt und die darin erzählten Szenen. Die Steuerung der Aufnahme des Bildes geschieht durch den Text, wie auch umgekehrt die Aufnahme des Textes in der Folge durch das Bild gesteuert wird. Kapitelüberschrift und Bild gehören zusammen, auch wenn die Platzierung der Kapitelbeischriften nicht einheitlich nach oder vor dem Holzschnitt erfolgt. Dafür ist kein regelhafter Gebrauch zu erkennen; dies dürfte in Anordnung von Textmenge und Seitenlayout begründet sein, wie z. B. auf den Seiten zu Abrahams Opfer zu sehen ist (Abb. 7). Zierleisten französischen Einfluss vermutet. Zudem hat die Forschung für die nicht firmierten Kölner Drucke in den Holzschnittleisten mögliche angedeutete, verdeckte Druckermarken gesehen, vgl. dazu Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 73 f. und Fromm 1998 (wie Anm. 30), S. 161 f. 39 Siehe auch Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 59; dort auch der Hinweis auf die neueingefügten Buchsummarien in den KBB. 40 Ebd., S. 59; er sieht aber nicht den Zusammenhang von Holzschnitt und Kapitelüberschrift; die Wieder­ gabe der Abbildungen erfolgt in der Untersuchung stets ohne Text! 41 Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, BIBLTH -1A-57:INK, Köln, 1478/79, Bl. 5r; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/8258464 (21. 02. 2020).

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Abb. 7: Abrahams Opfer: Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, BIBLTH -1A-57:INK, Köln, 1478/79, Bl. 12v–13r; https://digital.ub.uni-duesseldorf. de/ink/content/pageview/8258479, https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ink/content/pageview/ 8258480 (24. 09. 2019).

In dem ausführlichen Vorwort der Kölner Bibeln gibt es einen Passus zur Funktion der ‚figuren‘: Vnde ouck vmme dat meere ghenoechde vnde leeffde kreghe dee mynsche dese werdige hyllighe schrifft tho lesen vnde sin tijt dar mede nuytlick thoe ghebruken: sint in etliken enden vnde Capi­ ttulen figuren ghesat · Soe see van oldes ouck noch in veelen kercken v cloesteren ghemaelt staen: welcke ok dat suluen de oghen ertoenen vnde meer erclaren: dat de text des Capittels dar man de figuren vindet ynne hefft.42 42 „Und auch damit der Mensch mehr Freude und Liebe bekomme, diese würdige Heilige Schrift zu lesen und seine Zeit dazu nützlich zu gebrauchen, sind an etlichen Stellen und in Kapiteln Holzschnitte eingefügt, so wie sie von alters her noch in vielen ­Kirchen und Klöstern gemalt sind, ­welche gleichfalls den Augen zeigen und mehr erklären als der Text des Kapitels, wo man die Holzschnitte eingefügt findet.“ Zitiert nach der KBu: Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Stadtbibliothek Köln,

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Sehr deutlich wird in dem Zitat die Platzierung der Holzschnitte zu den Kapiteln als Ordnungseinheit in Bezug gesetzt.43 Betont wird zudem der Mehrwert und Anspruch der Bebilderung gegenüber dem Text.44 Das Bild ist gegenüber dem Text also nicht defizitär,45 im Gegenteil: mit der visuellen Wahrnehmung verbinden sich die über den Text hinausgehenden Erläuterungen. Dies leisten im Übrigen auch die hervorragende Qualität der Holzschnitte mit ihren feinen Schraffuren und ihre kompositorische Anlage, mehrere Szenen in einem Bild zu fassen (vgl. Abb. 8).46 Es sind unterschiedliche Lesevorgänge für Text und Bild, die sich in gegenseitiger Beeinflussung zueinander verhalten, wie die Anlage der Kölner Bibeln zeigt. Mit der eigenständigen Bildkonzeption der Kölner Bibeldrucke wird die Rezeption durch eine notwendig veränderte Leserichtung gesteuert: Die zweispaltige Anlage der Holzschnitte im Querformat unterbricht die vertikale Textlektüre der Textspalten durch eine horizontale Bildlektüre. Durch die Fülle der Holzschnitte ist dies immer wieder der Fall. Der Blick des Betrachters auf das Bild im Kontext der Seite wird durch die Rahmung mit doppelten Linien gebunden, die eine optische Raumtiefe schafft, und durch diese Rahmung des Holzschnitts vom Text getrennt.47 Innerhalb des Holzschnitts wiederum wird das Sehen/Lesen durch den dargestellten szenischen Ablauf gelenkt. Zum Beispiel von rechts unten nach links oben wie in der Erzählung von Abrahams Opferung seines Sohnes (vgl. Abb. 7) oder von oben links nach unten rechts wie in der Szene von Kain und Abel (vgl. Abb. 8). „Zeitliches Nacheinander und Nebeneinander ist in die Bilder aufgenommen, indem eine Geschichte als Vorgang dargestellt ist, zuweilen in einer Folge mehrerer Phasen des Geschehens.“ 48 Die Textlektüre geht voraus oder folgt, stets zugleich kontex­ tualisiert von dem großen Bildholzschnitt. Mit der Vervielfachung der Holzschnitte und ihrer narrativen szenischen Ausgestaltung sowie durch ihre Platzierung verbinden sich Text, Bild und Überschrift in einem sich gegenseitig bedingenden und voneinander abhängigen, intermedialen Lesevorgang. AD +BL 594 – 1, Köln 1478/79, Bl. 2r; http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/compoundobject/collection/

inkunabeln/id/4247/rec/1 (21. 02. 2020); Übers. v. d. Verf.. 43 Nicht eindeutig ist, ob der Text des Kapitels oder die Kapitelüberschrift gemeint ist, näher liegt die zweite Bedeutung. 44 Die Forschung hat bislang besonders und allein die didaktische Funktion der Bilder betont, vgl. Fromm 1998 (wie Anm. 30), S. 153 – 165, hier S. 156. 45 Wie in der modernen ­Theorie zur Intermedialität, vgl. Manuel Braun: Illustration, Dekoration und das allmähliche Verschwinden der Bilder aus dem Roman (1471 – 1700), in: Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period, hg. v. Karl Enenkel, Wolfgang Neuber, Leiden, Boston 2005, S. 371 f. 46 Zum Prinzip der Komposition, mehrere Szenen auf einem Bild dazustellen, und zum Einfluss der Altarmalerei, siehe Eichenberger, Wendland 1977 (wie Anm. 3), S. 8. 47 Siehe auch Reitz 1959 (wie Anm. 30), S. 14. 48 Ebd., S. 16.

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Abb. 8: Kain und Abel: Biblia, niederdeutsch (GW 04308), Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, BIBLTH-1A-57:INK, Köln, 1478/79, Bl. 5v; http://digital.ub.uniduesseldorf.de/ink/content/pageview/8258465 (24. 09. 2019).

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Gegenüber der auf den Buchstabenkörper verdichteten Lektüre der einzelnen Bildinitiale der Augsburger Bibeldrucke setzt sich mit den Kölner Bibeln eine lineare Lektüre narrativer Szenen im großformatigeren Holzschnitt durch; die veränderte Konzeption, auch in Verbindung von Kapitelbeischriften und Bild, dürfte einer veränderten Lektüreerwartung entsprechen und auch entsprochen haben,49 denn das Bildprogramm der Kölner Bibeln wird für alle folgenden vorreformatorischen Bibeldrucke zum Vorbild. Anton Koberger war an dem Konsortium zur Finanzierung der Kölner Bibeln beteiligt 50 und übernimmt als finanzielle Gegenleistung 109 Druckstöcke von Holzschnitten der Kölner Bibeln. Er folgt bei ihrer Verwendung der neuen Text-Bild-Strukturierung, indem er ebenso Kapitelüberschriften einfügt.51 Sein Bibeldruck erscheint 1483 in hoher Auflagenzahl und wird fortgesetzt kopiert: von Grüninger 1485, von Schönsperger 1487 und 1490, von Johann und Silvan Otmar 1507 und 1518.52

5. Text und Illustration sowie Gliederungsmarkierung: Steffen Arndes, Bibeldruck Lübeck 1494 Steffen Arndes folgt 1494 mit seinem Druck ebenfalls dem Konzept der Kölner Bibeln, gestaltet ­dieses aber wiederum auch anders.53 Die Übersetzung ins Niederdeutsche ist in Teilen neu bzw. gegenüber den KBB verbessert und durch Glossierung deutlich erweitert.54 Die Holzschnitte der Kölner Bibeln werden nicht einfach übernommen oder bloß kopiert, sondern für den Druck der Lübecker Bibel werden neue Holzstöcke entworfen (siehe Abb. 11). Die Holzschnitte der Arndes-Bibel sind in ihrer künstlerischen Ausgestaltung, in der Wirkung von Räumlichkeit durch Schraffuren noch eindrücklicher; der Blick in das 49 Die Entstehung der KBB wird in der Forschung im Kontext der Devotia moderna gesehen, vgl. z. B. Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 93 und Füssel 2003 (wie Anm. 6), S. 116. Für die reiche Textillustration dürfte aber auch für die Erwartungen der Leserschaft auf die allgemein zunehmende Illustrierung der frühen Drucke mit Holzschnitten bei deutschsprachigen Drucken verwiesen werden, z. B. in den Prosa­ romanen vgl. Braun 2005 (wie Anm. 45). 50 Siehe zur Beteiligung von Koberger am Druck der KBB Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 83. 51 Vgl. dazu weiterführend Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 60 – 63. 52 Koberger druckt zunächst die lateinische Bibel in mehreren Auflagen, für die Zeit von 1475 bis 1500 sind elf Drucke im Gesamtkatalog der Wiegendrucke verzeichnet; der deutsche Bibeldruck erscheint 1483 (Nürnberg): GW 04303, gefolgt von Johann Grüningers Druck (Straßburg) 1485: GW 04304, zwei Drucken von Johann Schönsperger (Augsburg) 1487: GW 04305 und 1490: GW 04306, und den ­Drucken von Johann Otmar (Augsburg) 1507 und Silvan Otmar (Augsburg) 1518. 53 GW 04309: De Biblie mit vlitigher achtinge: recht na deme latine in dudesck auerghesettet. Mit vorluchtinghe vnde glose: des hochgelerden Postillatoers Nicolai de lyra Vnde anderer velen hillighen doctoren. 54 Siehe Olaf Schwencke: Ein Kreis spätmittelalterlicher Erbauungsschriftsteller in Lübeck, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 88 (1965), S. 20 – 58, hier S. 23 – 25.

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Bild ist als perspektivischer Effekt durch die doppelte Linienrahmung erzeugt und gegenüber den KBB zusätzlich durch die schräg angeschnittenen Ecken in seinem Effekt von räumlicher Tiefe verstärkt. Es sind insgesamt 152 und damit deutlich mehr Illustrationen (mit Wieder­holungen) eingefügt. Hier soll allerdings weder die Gestaltung der Holzschnitte noch die Wahl von Th ­ emen und Motiven oder der aktuelle Zeitbezug 55 zu Interieur, Kleidung, Bauwerken usw. interessieren, sondern wiederum die Strukturierung des Textes durch die Holzschnitte und damit auch die Zuordnung von Bild und Text. Während die Kölner Bibeln, der Vulgata-Tradition folgend, den Brief des Hieronymus an Paulinus nicht voranstellen und auch nicht die der Vulgata-Tradition zugehörigen Vorreden zu den Bibelbüchern übernehmen, sondern mit einer eigenen Vorrede den Bibeldruck eröffnen,56 betont die Lübecker Bibel auch durch die Bildausstattung ihren Bezug zur Vulgata. Nach der Aufstellung und Inhaltsangabe zu den einzelnen Büchern und einer ­kurzen Vorrede an den Leser ist die Epistel des hl. Hieronymus an Paulinus (De vorrede sunte hieronimi) eingefügt, eingeleitet mit einem zwei Kolumnen breiten, quadratischen Holzschnitt, der fast zwei Drittel der Seite einnimmt. Abgebildet ist der hl. Hieronymus als hochgelehrter Kirchenmann in Kardinalstracht (Abb. 9). Die Szene zeigt ihn nachdenkend und schreibend mit dem aufgeschlagenen Buch. Anders als in den Initialholzschnitten bei Zainer und Sensenschmidt ist Hieronymus nicht mit Blick auf den Adressaten des Briefs, Paulinus, dargestellt, sondern in der im Mittelalter bekannten Hieronymus-Ikonographie als Gelehrter und Kardinal allein in der Studierstube sitzend mit dem Löwen zu seinen Füßen, die zusätzlich in dem Holzschnitt in eine christlich konnotierte Landschaftsgestaltung eingebunden wird. Welche Autorität ihm als Übersetzer der Vulgata zukommt, wird deutlich bei der Durchsicht der nachfolgenden Markierung der Buchanfänge: Nach dem Pentateuch beginnt jedes Buch mit einer einspaltigen Darstellung von Hieronymus mit seinem Löwen, sitzend mit Feder am Schreibpult, die somit die großformatige Darstellung auf den Innenraum reduziert (Abb. 10). Der Holzschnitt leitet jeweils die Hieronymus zugewiesenen Vorreden zu den einzelnen Büchern ein. Es sind insgesamt 37 einspaltige kolumnenbreite Holzschnitte und drei schriftspiegelbreite Holzschnitte (vor der Epistel an Paulinus, vor dem Buch Salomon und zu Beginn der Einleitung zum Neuen Testament). 55 Siehe dazu Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 222 – 226. 56 Die Vorrede der KBB ist immer wieder in der Forschung als ‚Verteidigung‘ der Übersetzung ins Nieder­ deutsche gelesen worden, siehe zusammenfassend Corsten 1957 (wie Anm. 29), S. 90 – 93. In dem Kontext des hier vorliegenden Beitrags ist auffällig, dass in der Vorrede der KBB gesagt wird, dass die niederdeutsche Übersetzung für die gelehrten und ungelehrten Menschen gedacht sei, hingegen die hochgelehrten Meister auf die lateinische Übersetzung des Hieronymus verwiesen werden (Vorrede, Biblia, niederdeutsch [GW 04308], Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, AD+BL594 – 1, Köln 1478/79, Bl. 1v; http://www.ub.uni-koeln.de/cdm/compoundobject/collection/inkunabeln/id/4247/rec/1 [21. 02. 2020]). Weitere Bezugnahmen auf Hieronymus fehlen. In Zainers Bibeldruck sind die üblichen Vorreden der Vulgata-Tradition vorhanden.

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Abb. 9: Hieronymus am Schreibpult: Biblia, niederdeutsch (GW 04309), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-495, Lübeck, Steffen Arndes, 1494, Bl. 3v; http:// daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025548/image_10 (24. 09. 2019).

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Abb. 10: Hieronymus am Schreibpult: Biblia, niederdeutsch (GW 04309), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-495, Lübeck, Steffen Arndes 1494, Bl. 89v; http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025548/image_182 (24. 09. 2019).

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Die Wiederholung ist nicht bloßes Versatzstück, sondern mit der Wiederholung des stets gleichen Holzschnitts ist auf der Ebene der Großgliederung eine Markierung eingerichtet, die als einheitliche und eindeutige Leserorientierung dient und zugleich als wiederholter Rückverweis auf Hieronymus fungiert. Damit wird ein mehrfacher Text-BildBezug hergestellt: Der Holzschnitt hat eine Ordnungs- und Indexfunktion durch seine Platzierung; er stellt zudem mit dem 39 Mal wiederholten Gebrauch eine fortlaufende Verbindung zu dem Eingangsbild des hl. Hieronymus her. So wird nicht nur der bildliche Rekurs auf die Autorität des hl. Hieronymus für den Bibeltext multipliziert und mehrfach an diese erinnert, sondern es wird auch die Imagination eines fortlaufenden Schreib- und Übersetzungsprozesses durch das Bild des Schreibenden am Pult evoziert. Diese bildliche Inszenierung entspricht durchweg Inhalt und Funktion der Vorreden. Die von Hieronymus selbst verfassten Vorreden der Vulgata thematisieren seine Aufgabe und Arbeit als Übersetzer, seine philologische Arbeit an der Textgrundlage. Sie ­dokumentieren immer wieder variierend den fortlaufenden Übersetzungsprozess.57 Die damit verbundenen Aspekte stellt Hieronymus in seinen Prologen vor (Konstituierung des ­Bibeltextes bzw. seine Kanonisierung und der Umgang mit den hebräischen und griechischen Quellen sowie der lateinischen Vetus-Latina-Fassung) und richtet diese zum Teil auch an einen persönlichen Adressatenkreis. Sie bieten aber keinen inhaltlichen Bezug zu den nachfolgenden Büchern.58 Die s­ päter in der Vulgata ergänzten, sekundären Vorreden sind zum einen von Hiero­ nymus übernommene, aber in anderen Kontexten verfasste Texte sowie insbesondere für das Neue Testament nicht von Hieronymus verfasste Prologe.59 Das in der Forschung beschriebene fortwährende „Ansammeln von Vorreden in der Vulgata“,60 das auch die Fortschreibung der Vulgata-Tradition im Mittelalter prägt, lässt offensichtlich eine bewusste Differenzierung von primären und sekundären Vorreden nicht mehr zu. Durch die bildlich herausgestellte, Hieronymus zugewiesene Textautorität wird seine in den Vorreden immer wieder thematisierte Übersetzertätigkeit durchgehend bezeugt. Die Verbindung von Holzschnitt und Vorrede dient der Rezeptionssteuerung für die Lektüre der jeweils nachfolgenden Bücher aber nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern auf einer Metaebene, die die Textkonstituierung reflektiert. Diese explizit vorangestellte Form der Kommentierung des Bibeltextes findet ihre Entsprechung in den Büchern und zwar durch eine fortgesetzte ausführliche Glossierung innerhalb des Textes. Die Grundlagen für die ausführlichen Glossen sind die Glossa ordinaria, die Schriften des Hugo von St. Victor und vor allem die Postillae perpetuae in Vetus et 57 58 59 60

Vgl. dazu Schild 1970 (wie Anm. 20), S. 17 und S. 24. Vgl. ebd., S. 39. Dazu ebd., S. 42 – 70 und S. 71 – 106. Ebd., S. 99.

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Abb. 11: Sündenfall: Biblia, niederdeutsch (GW 04309), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB-Ink B-495, Lübeck, Steffen Arndes, 1494, Bl. 8r; http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00025548/image_19 (24. 09. 2019).

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Novum Testamentum des Nicolaus von Lyra (14. Jahrhundert).61 Die in den Text eingebundene Exegese ist markiert, denn der Glossentext wird erkennbar abgesetzt vom Bibeltext durch Asterisk (‚sterneken‘) und Obelus in Form von senkrechten Doppelstrichen (‚teken‘), wie auch in der Vorrede an den Leser beschrieben. Der Lesevorgang und damit auch das Textverständnis unterliegen somit insgesamt einer immer wieder eingeschobenen Lektürereflexion durch Vorrede vor dem Buch und Glossierung im Buch. Noch deutlicher als in den KBB ist aber in der Lübecker Bibel sichtbar, dass eine Zuordnung von Buchanfang und Eingangsillustration nicht mehr die Aufgabe für die eingefügten narrativen Holzschnitte ist. Auf der Ebene der Mikrostruktur sind die Holzschnitte den Kapiteln mit ihren ausformulierten Kapitelüberschriften zugeordnet, wie dies auch in den Kölner Bibeln vorgesehen ist. Die narrative Ausgestaltung der wie auch in den Kölner Bibeln meist dramatischen Szenen ist durchweg vergleichbar, so dass auch in der Lübecker Bibel Text und Bild einen engen Konnex eingehen, indem sich wiederum Text- und Bildlektüre gegenseitig bedingen und beeinflussen (Abb. 11). „Dath iii. Capittel secht: wo de slāghe Euen bedroch v Eua Adam. v wo god se vordreff vth deme paradyse vnde vormaledyede de erde dr ere werk.“ 62

Die in der Lübecker Bibel vermehrte Einfügung von Holzschnitten führt zu einer dichten Abfolge von illustrierten Seiten, besonders im Pentateuch, die narrative Sequenzen bilden. Die räumliche Zuordnung von Text und Bild folgt wie auch in den KBB keiner erkennbar systematisch festgelegten Platzierung im Layout, ist aber inhaltlich mit möglichst engem inhaltlichem Bezug organisiert, der durch die Kapitelüberschriften hergestellt wird, die aber nicht notwendig in unmittelbarer Nähe angeordnet sind. Im Vergleich mit den Kölner Bibeln fällt auch auf, dass die den Text einleitende Initiale nicht mehr für eine manuelle Ausführung vorgesehen ist, sondern mitgedruckt wird. Die KBB verwenden keine gedruckten Initialen. Es gibt in der Lübecker Bibel nur noch ganz wenige Stellen, an denen Raum für eine manuelle Dekorinitiale ausgespart bleibt, wie es auf der Seite mit dem hl. Hieronymus oder auf der Seite mit der Weltschöpfung zu Beginn des Buchs Genesis der Fall ist. Arndes hat für seinen Bibeldruck ein reiches Reservoir an Holzschnittinitialen, die zum Einsatz kommen. Auch damit ist die Arndes-Bibel ein Höhepunkt der Inkunabeldrucke.

61 Siehe dazu Schwencke 1965 (wie Anm. 54), S. 20 – 58, hier S. 23 – 27. Siehe auch Schwencke 1987 (wie Anm. 1), Sp. 981 und Sp. 983 f. 62 Biblia, niederdeutsch (GW 04309), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB -Ink B-495, Lübeck, Steffen Arndes, 1494, Bl. 8r; http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025548/image_19 (24. 09. 2019).

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6. Text- und Bildlektüre Die kurze Übersicht über die deutschen und niederdeutschen Bibeldrucke sollte gezeigt haben, wie sich die Entwicklung der Drucktechnik und damit die Möglichkeiten der Seiten­gestaltung im Bibeldruck spiegeln. Die qualitative Verbesserung der volkssprachigen Texte, ihre Einrichtung wie auch die bildliche Ausgestaltung im Druck sind sichtbar auf veränderte Lesevorgänge ausgerichtet. Im Vergleich zu den lateinischen Bibeldrucken und ihrer Ausgestaltung mit Aussparungen im Druck und nachträglicher, überwiegend dekorativer Initialornamentik ist die serielle Bildausstattung der volkssprachigen Bibeldrucke im Medium des Holzschnitts figürlich und narrativ. Die ersten illustrierten deutschsprachigen Bibeldrucke folgen, wie im lateinischen Bibeldruck angelegt, mit ihren Initialen dem Prinzip der Anfangsmarkierung der Bibel­ bücher und schaffen mit den historisierten Initialen kleine, im Buchstabenkörper begrenzte Erzählräume mit Bezug zum Textinhalt. Die Neuerung der niederdeutschen Bibeldrucke ist demgegenüber nicht nur mit dem Stichwort ‚Bilderbibel‘63 zu fassen, sondern mit der Neugestaltung des Text-Bild-Bezuges. Mit den niederdeutschen Kölner Bibeln und ihrer eigenständigen Konzeption eines Bildprogramms in enger Verbindung mit ausformulierten Kapitelüberschriften ist eine neue Form einer zweifachen Bibellektüre in Text und Bild umgesetzt. Die Rezeptionssteuerung ist eine erläuternde und kommentierende, die den eigentlichen Bibeltext mit Kapiteltext und Bild ergänzt. Diese neuen Lektüreformen richten sich an alle potenziellen Leser des Niederdeutschen, so wie es auch in der Vorrede der Kölner Bibeln gesagt wird: „mynschen gelert ende vngelert geystlyck unde wertlyck“;64 sie sollen in dem Buch lesen, so wie es sich für jeden fügt („bequemelicheyt“), für sein Seelenheil und seinen Trost. Das Gleiche gilt auch für die Lübecker Bibel: „Item dyt boek der hillighen scrift de Biblie is van alle tolesende. mit entvoldigher innicheit. vnde nuchterheit. to erer sele salicheit.“ 65 Die Lübecker Bibel nutzt die Erweiterung durch Holzschnitte einerseits für eine ordnende und kommentierende Leserorientierung und inseriert durch ihre umfangreiche Glossierung des Bibeltextes eine vermittelnde und zudem gelehrte Textinterpretation. Andererseits bietet sie mit der umfangreichen Bebilderung des Alten Testaments eine eigene Narration parallel zum Bibeltext und den beigegebenen Kapitelüberschriften. Beide niederdeutschen Bibeln bieten nicht nur neue Illustrationen, sondern auch ein neues Text-Bild-Konzept. Die Neugestaltung der Bibeldrucke ist durch serielle Illustration auf einen visuellen Lektürezugang ausgerichtet, der zugleich den Lesevorgang von Text und Bild verändert. 63 Die Forschung markiert mit ­diesem Begriff immer wieder das Neue der KBB; vgl. Anm. 30. 64 Doumit 1997 (wie Anm. 24), S. 144. 65 Biblia, niederdeutsch (GW 04309), Bayerische Staatsbibliothek München, BSB -Ink B-495, Lübeck, Steffen Arndes, 1494, Bl. 3r; https://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025548/image_9 (21. 02. 2020)

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Während die Forschung zu den illustrierten Bibeldrucken wesentlich Aussage und Funktion der Holzschnitte mit den Stichworten Schmuck, Verkündigungsauftrag 66 und Didaxe 67 belegt, dürfte der Text-Bild-Bezug komplexer sein. Sowohl die umfangreiche Forschungsdiskussion im medientheoretischen Diskurs, die grundlegend das Text-Bild-Verhältnis zu erfassen versucht,68 als auch die Forschung, die das Text-Bild-Verhältnis im Frühen Druck in vielfacher Hinsicht zum Gegenstand macht, stellen vor allen Dingen die potenzielle Mehrdeutigkeit des Bildes, seine vielfachen Funktionen in Bezug auf den Text und seinen Rezeptionskontext als wichtige Analysekategorien vor.69 Für die hier relevante Frage der Rezeptionssteuerung soll deshalb abschließend die sich bedingende Lektüre von Text und Bild in den Fokus gerückt werden und dies mit einem Seitenblick auf die Forschung zum deutschsprachigen Prosaroman der Inkunabelzeit, der sich zeitlich parallel durch eine reiche Illustration durch Holzschnitte auszeichnet. Manuel Braun hat aus rezeptionsästhetischer Perspektive die unterschiedlichen möglichen Vorgänge der Lektüre beschrieben: Der Rezipient kann vom Text ausgehen, aus ihm eine Vorstellung gewinnen und sich dann der Illustration zuwenden. Dabei kann er etwaige Widersprüche weginterpretieren, er kann sich aber auch vom Bild irritieren lassen und sein Textverständnis korrigieren. Denken lässt sich aber auch ein Rezeptionsvorgang, der bei der Illustration ansetzt, aus ihr eine Vorstellung bezieht und diese dann auf den Text appliziert. Auch hier kann die Vorstellung die Aufnahme des Textes steuern oder an ihm scheitern. Welchen Zugang der jeweilige Rezipient wählt und wie der Akt der Rezeption verläuft, hängt von ihm selbst wie von der kulturellen Situation ab, in der er sich befindet.70

Überträgt man diese für den Prosaroman formulierten, grundsätzlichen Überlegungen zum Rezeptionsvorgang mit seinen text- und bildgebundenen Lektüren auf die Rezeptionssteuerung im illustrierten Bibeldruck, so dürften diese gleichermaßen gelten. Dies wäre besonders auch unter Berücksichtigung der Lesekompetenzen der Rezipienten festzustellen. Beide Richtungen der Lektüre sind möglich: vom Text zum Bild, vom Bild zum Text. Die enge Verklammerung von Kapitelüberschrift und Bild (wie sie sich auch im Prosaroman 66 Eichenberger, Wendland 1977 (wie Anm. 3), S. 8. 67 Zum Beispiel Fromm 1998 (wie Anm. 30), S. 156. 68 Vgl. z. B. Wolfgang Bock: Intermedialitätsforschung, in: Methodengeschichte der Germanistik, hg. v. Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 255 – 268. – Franz X. Eder, Oliver Kühschelm: Bilder – Geschichtswissenschaft – Diskurse, in: Bilder in historischen Diskursen, hg. v. dens., Christina L ­ insboth, Wiesbaden 2014, S. 3 – 44. 69 Vgl. z. B. zum Verhältnis von Text und Bild und den vielfältigen Funktionen ausführlich und grundsätzlich Jan-Dirk Müller: Das Bild – Medium für Iliterate? Zu Bild und Text in der Frühen Neuzeit, in: Schriftlichkeit und Bildlichkeit. Visuelle Kulturen in Europa und Japan, hg. v. Ryozo Maeda, Teruaki Takahashi, Wilhelm Voßkamp, München 2007, S. 71 – 104. 70 Braun 2005 (wie Anm. 45), S. 371.

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etabliert) soll durch die inserierten Kapitelüberschriften nicht nur den Text in überschaubare Einheiten gliedern, sondern ebenfalls das Bildverständnis steuern. Der komplexe Bildinhalt ist damit aber nicht allein zu erfassen. Erst die Bibeltextlektüre kann das Bildverständnis vervollständigen. Insofern ist sicher auch mit wiederholten Lektürevorgängen zu rechnen. Ebenso ist durch die Illustration jedoch auch intendiert, wie die KBB dies in der Vorrede betonen, dass die Bilder mehr erklären als der Text, somit die Holzschnitte mit ihren Bildinhalten einen Informationsüberschuss gegenüber dem Text der Heiligen Schrift bieten.71 Die Bildbetrachtung soll dementsprechend die Textlektüre ergänzen. In ­diesem wechselseitigen Bedingungsverhältnis sind in den niederdeutschen Bibeldrucken Text und Bild angeordnet, mit dieser Neugestaltung wird der Weg des Betrachters und Lesers durch das Buch der Bücher gelenkt.

71 Inwiefern das Bildpotenzial der Holzschnitte damit auch nicht durch die Heilige Schrift autorisierte Vorstellungen der Rezipienten prägt, wäre eine weiterführende Frage. So enthält z. B. der Holzschnitt in der KBB zur Aussetzung von Moses auf dem Nil neben der durch die Bibelerzählung gesicherte Erzählung (Exodus 2,1 – 2,10) von Aussetzung im Körbchen und Rettung durch die Tochter des Pharao auch eine weitere Szene, die der Moses-Legende zuzuordnen ist: Der junge Moses nimmt die Krone des Pharao von seinem Kopf, um sie zu zerbrechen. Diese Bildmotiv findet sich in der Federzeichnung der als mögliche Vorlage benannten Historienbibel, siehe Worringer 1923 (wie Anm. 33), Abb. 7. Zur Bildkomposition vgl. Reitz 1959 (wie Anm. 30), S. 21.

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Sebastian Holtzhauer

Die mittelniederdeutschen Brandaniana Eine überlieferungs-, text- und kulturgeschichtliche Untersuchung zum hl. Brandan und seinen Zeugnissen im norddeutschen Raum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

1. Hinführung Der irische Abt Brendan of Clonfert (lat. zumeist „Brendanus“, dt. zumeist „Brandan“), der von ca. 483 bzw. ca. 575 lebte,1 gehört zwar nicht zu den überregionalen kanonischen Heiligen des Mittelalters, er war dennoch in weiten Teilen Westeuropas gut bekannt. Die anonym überlieferte abenteuerliche Erzählung, wie er als Seefahrer die Insel der Verheißung (lat. „terra repromissionis sanctorum“) bereiste, firmiert in der Forschung unter dem Titel Navigatio sancti Brendani abbatis (kurz Navigatio) und verbreitete sich auf Latein spätestens seit dem 9. Jahrhundert von Irland aus – über 140 Handschriften sind inzwischen bekannt.2 Die Navigatio ist dann ab dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts auch zunehmend in volkssprachlichen Übersetzungen auf den Britischen Inseln wie auf dem Kontinent greifbar.3 Vermutlich schon ab Mitte des 12. Jahrhunderts konkurriert diese Fassung vor allen Dingen im niederländischen und deutschen Sprachraum mit der sogenannten Reise des hl. Brandan (kurz Reise), die ein abweichendes Erzählkonzept aufweist (siehe Kap. 2). Die vorliegende Studie stellt insbesondere die mittelniederdeutschen Brandaniana (Navigatio und Reise) in den Fokus, will jedoch in erster Linie keine detaillierten narratologischen Analysen bieten,4 1

2

3 4

Vgl. zu den Lebensdaten u. a. das Nachwort von Hahn und Fasbender in: Brandan. Die mitteldeutsche Reise-Fassung, hg. v. Reinhard Hahn, Christoph Fasbender (Jenaer Germanistische Forschungen, Neue Folge 14), Heidelberg 2002, S. 190 (diese Edition wird im Folgenden mit ,M‘ zitiert). – Clara Strijbosch: The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-century Voyage of Saint Brendan, Dublin 2000, S. 1. Vgl. zur Überlieferung der lateinischen Navigatio die neue Edition von Orlandi und Guglielmetti: Navigatio sancti Brendano. Alla scoperta dei segreti meravigliosi del mondo, hg. v. Giovanni Orlandi, Rossana E. Guglielmetti (per verba. Testi mediolatini con traduzione 30), Firenze 2014, nach der ich im Folgenden zitiere. Vgl. The Legend of St Brendan. A Critical Bibliography, hg. v. Glyn S. Burgess, Clara Strijbosch, Dublin 2000, S. 49 – 78 [= Kap. 5, Vernacular Versions of the Navigatio sancti Brendani]. Vgl. Clara Strijbosch: The Fire Rekindled. Brendan in the Baltics, in: Court and Cloister. S­ tudies in the Short Narrative in Honor of Glyn S. Burgess, hg. v. Jean Blacker, Jane H. M. Taylor, Arizona 2018,

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sondern das kulturelle und vor allem religiöse Umfeld genauer beleuchten, in welchem die Geschichten des hl. Brandan tradiert wurden.5 Vor allem die „anonyme niederdeutsche Bearbeitung, die in den Druck gelangte“, habe nach Hahn und Fasbender „bisher nur wenig Interesse gefunden, auch ihre Zusammenschau mit anderen Formen der Brandandevotion im norddeutschen Raum“.6 Einen Großteil der Erkenntnisse zum Brandankult verdanken wir der historischen Forschung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Doch diese verfügte notwendigerweise noch nicht über das literarhistorische Wissen, das sich in den letzten Jahrzehnten angesammelt hat. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden – unter Berücksichtigung auch und gerade der älteren Forschung –, eine möglichst umfassende Zusammenstellung der literarischen und nicht-literarischen Zeugnisse zu Brandan in Norddeutschland zu geben und diese in ihren jeweiligen Zusammenhängen zu analysieren. Darunter fallen auch die bei einer Sichtung der Lübecker Liturgica und anderer Handschriften und (Inkunabel-)Drucke von mir entdeckte Brandanmesse im Missale Lubicense (1486) des Druckers Matthäus Brandis, die der Brandanforschung hier durch einen Abdruck erstmals zugänglich gemacht wird, sowie der Nachweis Brandans in einigen bisher nicht beachteten Heiligenkalendern der Lübecker Handschriftenbestände (Kap. 3.3). Schließlich werden für den nord- und süddeutschen Raum anhand der spezifischen literarischen Überlieferungsprofile (unter besonderer Beachtung der Druckgeschichte) und des nachweisbaren Heiligenkults tendenziell unterschiedliche Interessen an Brandan nachgezeichnet (Kap. 4).

2. Die Brandanmateria – Navigatio sancti Brendani abbatis und Reise des hl. Brandan Neben der Vita des hl. Brandan, die sowohl auf Latein als auch (jedoch relativ spät) auf Irisch erhalten ist,7 gehören vor allem die eng mit der Vita Brendani verflochtene Navigatio-Fassung sowie die Reise-Fassung zu den Hauptzweigen der Brandanüberlieferung. Beide unterscheiden sich in ihrem Motivbestand und ihrer Erzählkonzeption zum Teil

5

6 7

S. 171 – 192. Recht herzlicher Dank gilt Clara Strijbosch sowohl für die Übersendung ihres Skripts als auch des publizierten Aufsatzes. In ­diesem Sinne schließt der Beitrag eher an Karl A. Zaenker: St. Brendan the Navigator. A ,Wanderkult‘ in Hanseatic Towns around 1500, in: The Medieval Text. Methods and Hermeneutics. A Volume of Essays in Honor of Edelgard E. DuBruck, hg. v. William C. McDonald, Guy R. Mermier (Fifteenth Century Studies 17), Detroit 1990, S. 515 – 526, an. Obwohl er wesentliche Positionsbestimmungen für das hier behandelte Thema enthält, wurde der Aufsatz Zaenkers kaum von der Brandanforschung rezipiert. Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 205, Anm. 71. Vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 3 – 12 [= Kap. 1, Vita Brendani/Betha Brénnain/The Life of Brendan].

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erheblich.8 In der lat. Navigatio besucht zunächst der Mönch Barindus das Kloster von Abt Brandan und erzählt ihm von der „terra repromissionis sanctorum“, einer paradiesischen Insel. Von dem Bericht angeregt, sticht Brandan zusammen mit vierzehn Brüdern in See, um die Insel der Verheißung selbst zu finden. In besonderem Maße kennzeichnend für die Navigatio ist, dass der irische Abt sieben Jahre benötigt, um sein Ziel zu erreichen, und dabei die kirchlichen Hochfeste jedes Jahr an den gleichen Stationen verbringt: Ostern auf der Insel mit den Schafen (u. a. N99) und auf dem Fisch Jasconius (u. a. N10), Pfingsten auf der Insel mit den neutralen Engeln in Vogelgestalt (u. a. N11) und Weihnachten schließlich auf der Insel des Ailbe (u. a. N12), eines Abtes, der dort mit vierundzwanzig weiteren Mönchen in einer mustergültigen monastischen Gemeinschaft zusammenlebt. Nachdem Brandan diese und einige weitere Stationen in sieben Jahren durchlaufen und die Paradiesinsel mit eigenen Augen gesehen hat (N28), kehrt er in sein Kloster zurück und stirbt (N29). Die Geschichte amalgamiert antike und orientalische Erzähltraditionen, irische Schifffahrtserzählungen und apokryphe Jenseitsvisionen, was für ihre enorme Beliebtheit gesorgt hat; Brandan beobachtet den Kampf von Meeresungeheuern (N16), vermisst eine vom Meeresboden bis zum Himmel reichende Säule (N22), entdeckt eine Schmiede- und eine Vulkaninsel (N23, N24) und trifft sowohl auf Judas (N25) als auch auf den Eremiten Paulus (N26). Doch mehr noch als durch all diese illustren Episoden ist die Navigatio durch den liturgisch durchformten Alltag der irischen Mönche geprägt, der sich in der Erzählung allerorts Bahn bricht: Brandan und seine Begleiter halten allein oder zusammen mit anderen Tieren oder Figuren, denen sie begegnen, stetig Messfeiern ab, fasten oder zelebrieren die Horae canonicae.10 Die Brandanfigur ist in der Navigatio das unumstößlich positive Exempel eines Christen, der sich freiwillig und im absoluten Vertrauen auf und im Einklang mit Gott auf eine gefährliche Reise begibt. Gänzlich anders gelagert ist der Fall in der Reise. Sie ist, wie Haug treffend analysiert hat, nicht repetitiv, sondern restitutiv angelegt.11 Denn Brandan verbrennt zu Beginn der Erzählung ein Buch, in dem er von diversen Wundern Gottes liest, die er jedoch nicht glauben will 8

Vgl. Julia Weitbrecht: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2011, S. 183 – 206. – Walter Haug: Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epen­ struktur, in: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Studienausgabe, Tübingen 1990, S. 379 – 407. 9 Die Bezeichnungen folgen den Schemata zur Navigatio und Reise von Haug 1990 (wie Anm. 8), S. 406, wobei die Sigle ,N‘ für Episoden der Navigatio und die Sigle ,R‘ für Episoden der Reise steht. 10 Vgl. Martin McNamara: Navigatio Sancti Brendani. Some Possible Connections with Liturgical, Apocryphal and Irish Tradition, in: The Brendan Legend. Texts and Versions, hg. v. Glyn S. Burgess, Clara Strijbosch (The Northern World, Nr. 24), Leiden, Boston 2006, S. 159 – 191. 11 Vgl. Haug 1990 (wie Anm. 8).

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(R1).12 Als Strafe für die Sünde muss er eine Schiffsreise antreten, um die Wunder selbst zu sehen, wie ihm ein Engel verkündet. Damit ist implizit – nur in der mittelniederdeutschen Redaktion N der Reise auch explizit 13 – der Auftrag verbunden, das Buch neu zu schreiben, welches er verbrannt hat. Die Voraussetzungen des Aufbruchs sind also völlig andere, und damit ist auch das Ziel der Reise ein anderes. Denn Brandan bekommt den göttlichen Befehl, seine Sünde durch eine ihm auferlegte Bußfahrt wettzumachen. Sein Verhältnis zu Gott ist gestört und sein Gottvertrauen wird auf der Meerfahrt des Öfteren auf die Probe gestellt, da es zur Disposition steht. Ein konkretes Ziel der Reise gibt es nicht, zumindest handelt es sich nicht um die Besichtigung der paradiesischen Insel wie in der Navigatio. Das Buch muss neu geschrieben, es muss mit Wundern ,angefüllt‘ werden, womit die Reise offener für neue Episoden 14 und Kontingenz erzeugende Erzählmuster wird und insgesamt wesentlich weniger final motiviert erscheint. So lässt diese Fassung kaum noch etwas von der ursprünglichen Struktur der lateinischen Navigatio erahnen (ein direktes Abhängigkeitsverhältnis ist bis heute nicht nachgewiesen worden), und auch die durch einen monastischen Alltag geprägten Elemente sowie die damit einhergehende allegorische Lesart gehen ihr gänzlich ab. Grob ausgedrückt zielt sie recht offensichtlich, genau wie die ihr zugrunde liegenden Volkssprachen, in denen sie abgefasst wurde, auf ein eher laikal denn klerikal geprägtes Publikum.

3. Brandaniana im mittelniederdeutschen Sprachraum – Interdependenzen von Literatur und Religion 3.1 Die Überlieferung zur Reise Nimmt man zunächst die Überlieferung zur Reise im niederdeutschen Sprachraum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Blick, so ist das Ergebnis ernüchternd. Verzeichnet werden kann: 12 In den Redaktionen C und M der Reise sind es mehrere Bücher, die Brandan liest und anschließend verbrennt, nur in N und P ist es ein Buch. Zu den Redaktionen und zur Auflösung der Siglen siehe Kap. 3. 13 Vgl. Walter Haug: Brandans Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes, in: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters z­ wischen Orient und Okzident, hg. v. Laetitia Rimpau, Peter Ihring, Berlin 2005, S. 37 – 56, der auf S. 53 meint, dass die konzeptionellen Differenzen innerhalb der durch unterschiedliche Redaktionen geprägten Reise-Fassung „vor allem die Funktion des auf der Reise neu geschriebenen Buches“ betreffen. Über N wird in Kap. 3 noch ausführlicher referiert. 14 Einige Episoden teilt die Reise mit der Navigatio, auch wenn sie teilweise anders im Erzählablauf positioniert und unterschiedlich gestaltet sind: u. a. Kampf der Ungeheuer (R4 ≈ N16), Jasconius (R5 ≈ N10), Teufelsinsel (R19 ≈ N23), Judas (R24 ≈ N25); andere Episoden sind neu integriert worden: u. a. das Meerweib (R6), die Insel der dürstenden Seelen (R7), die Sirene (R18), der verlorene Hut (R20). Dabei unterscheidet sich das Episodenmaterial noch einmal innerhalb der Reise-Fassung je nach Redaktion, vgl. die Übersicht bei Strijbosch 2000 (wie Anm. 1), S. 13.

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a) eine Reim-Reise, enthalten in der Handschrift mit der Sigle N (Wolfenbüttel, HerzogAugust-Bibliothek, Cod. Guelf. 1203 Helmst., Ostfälisch, 2. H. 15. Jh.),15 b) eine Prosa-Reise mit der Sigle Pl (P = Prosa), die vermutlich z­ wischen 1510 und 1520 in einem niederdeutschen Druck von Der Heiligen Leben (Steffen Arndes, 1507) auf vier nicht nummerierten Nachsatzblättern niedergeschrieben wurde; dieses Exemplar befindet sich in der British Library in London und trägt die Signatur c.107.g.2.16 Zumindest die Reim-Reise hat sich außerhalb des niederdeutschen Sprachraums nur einmal im Mitteldeutschen 17 und zweimal im Mittelniederländischen 18 erhalten, damit ist sie also nicht nur im mittelniederdeutschen Sprachraum, sondern insgesamt relativ schlecht überliefert.19 Anders sieht das bei der Prosa-Reise aus, die im mittel- und insbesondere süddeutschen Raum durch mehrere Handschriften sowie zahlreiche Drucke vertreten ist (vgl. Kap. 4) und im Mittelniederdeutschen mit nur einem Textzeugen (Pl) vergleichsweise deutlich ,unterrepräsentiert‘ erscheint. Wie lassen sich diese beiden Textzeugen nun aus literaturwissenschaftlicher und literarhistorischer Sicht charakterisieren? Zunächst ist auf die bereits erwähnte Besonderheit in der Konzeption der Erzählung hinzuweisen, dass Brandan – im Gegensatz zu M und C (in H ist der Beginn nicht überliefert) – sowohl in P als auch in N nur ein Buch und nicht mehrere findet und anschließend verbrennt:

15 Http://diglib.hab.de/mss/1203-helmst/start.htm (28. 02. 2019). Eine kritische Edition liegt vor durch Torsten Dahlberg: Brandaniana. Kritische Bemerkungen zu den Untersuchungen über die deutschen und niederländischen Brandanversionen der sog. Reise-Klasse. Mit komplettierendem Material und einer Neuausgabe des ostfälischen Gedichtes (Göteborgs Universitets rsskrift, Nr. 64,5), Göteborg 1958, S. 108 – 140 (im Folgenden mit ,N‘ zitiert). 16 Diese neue Signatur ist Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 179, entnommen, die in Anm. 22 als Quelle ihre Korrespondenz mit der British Library anführt. In der bisherigen Forschungsliteratur wurde das Exemplar unter der Signatur 3851 e e 16 geführt, vgl. u. a. die philologische und linguistische Beschreibung sowie Edition des Textes in Carl Bayerschmidt, Carl Selmer: An Unpublished Low German Version of the Navigatio Sancti Brendani, in: Germanic Review 30 (1955), S. 83 – 91 (im Folgenden mit ,Pl‘ zitiert). Bayerschmidt und Selmer charakterisieren die Sprache von Pl als „the standard Middle Low German Schriftsprache of the late fifteenth and sixteenth centuries“, wobei es hin und wieder „­ Eastphalian forms“ zu verzeichnen gebe, der Dialekt insgesamt jedoch recht genau „as that of Lübeck“ definiert werden könne, ebd., S. 91. 17 Sigle M: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 56, Mitte oder 3. Viertel 14. Jahrhundert. Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 215 f., führen „mehrere Testimonien von unterschiedlichem Aussagewert“ an, die die Vermutung nahelegten, „daß die mitteldeutsche Bearbeitung nicht allein in der Berliner Handschrift verbreitet gewesen sein dürfte“. 18 Sigle C: Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. poet. et phil. 2° 22, ­zwischen 1385 und 1425; Sigle H: Brüssel, Koninklijke Bibliotheek van België, Ms. 15.589 – 15.623, ­zwischen 1399 und 1410. 19 Vgl. zur Überlieferung und stemmatologischen Erkenntnissen zur ursprünglichen Reise u. a. Strijbosch 2000 (wie Anm. 1), S. 5 – 10. – Haug 2005 (wie Anm. 13), S. 44 f.

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In enem boke kam om vor van wunderliken saken de Got wol konde maken […] Dat sulue bok dar he de red inne vant, dat warp he in dat vur, dat it vorbrant. In Irlant dut gheschach. De engel van Godde to om sprak: ,Du hest gesundiget wedder Got, de scrift duchte di sin en spot. Di schullen werden lange froide dure, darvmme dat du dat bok vorbrant hest in dem vure. Dat bok mostu wedder maken, al kondestu nummermer to frauden raken. Got het my to di gesant dat du scalt de waterland buwen vnde eruaren in dussen negen iaren vnde scalt de wunder scriuen an.‘ (Reise N, V. 4 – 6, 17 – 31) De [Brandan] las ein mal in einem boke van grotem wunder de godt geschapen hedde im hemmel vnd ock vp erden. […] vnd werp dat bock int fur vnd vorbrande it. Do qwam de engel vam hemmel vnd sprack: ,Brandan, worvmme heffstu dat gedan? Westu nicht dat godt groter dinge gedan hefft, vnd ick gebede di bi dem leuendigen gade, dat du di boreidest vnd beschowest alle de wunder de du in dem boke gelesen heffst.‘ (Reise Pl, I)

Im Vergleich zu P (hier Pl) kommt Brandan in N zudem der spezifische Auftrag zu, ­dieses eine Buch neu zu schreiben. Und doch wird es gerade in N, nachdem Brandan zurückgekehrt ist, zum Schluss der Geschichte nicht wieder erwähnt.20 Für Haug ist das kein Widerspruch, sondern im Gegenteil stringenter, denn wenn Brandan alle Wunder in einem einzigen Buch liest, das er dann verbrennt, […] ist es sinnvoll, daß ihm der Auftrag erteilt wird, das Buch neu zu schreiben, und d ­ ieses Buch ist dann keine Dokumentation der Bußfahrt, sondern es ersetzt das zerstörte Wunderbuch. So ist es denn vielleicht kein Zufall, daß in N am Ende nicht gesagt wird, das Buch sei in der ­Kirche niedergelegt worden.21 20 Vgl. etwa M: „do sie an daz lant quamen, / den kiel sie do namen. / die selben elenden geste / bunden den kiel veste. / daz buch trugen si mit in hin. / da quamen gegangen kegen in / vil der brudere, die sie entphiengen / und mit den crucen kegen in giengen.“ (Reise M, v. 1895 – 1902) In N heißt es dagegen: „Do se to lande kemen, / den kil se do nemen, / de suluen elenden geste, / vnde bunden one al vaste. / Do kemen tigen one brodere mit crucen gangen / de se lefliken entfengen.“ (Reise N, V. 1131 – 1136). 21 Haug 2005 (wie Anm. 13), S. 49.

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In jedem Fall handelt es sich um eine (wohl sekundäre) Konzeption, die so nur im Mittel­niederdeutschen überliefert ist. Hinzu kommt, dass sowohl N als auch Pl eine verkürzte Version der Reise wiedergeben. N kennt beispielsweise (gegen P und M) nicht die Episoden R22 (das durchsichtige Meer), R25 (die brennenden Seelenvögel), R28 (das unsichtbare Volk) und R29 (Botewart und der hl. Johannes).22 Der Prosa-Reise P fehlen (gegen M und N) die Episoden R11 (Hölle), R21 (Himmelsvision), R22 (das durchsichtige Meer) und R32 (Fels mit Altar, Kelch und Patene).23 Gegenüber P stellt Pl wiederum eine noch weiter verkürzte Form dar, sowohl was den Episoden- als auch den Textbestand anbetrifft, so dass Pl „little more than a minimal story“ liefere; „it contains only one quarter of the text of Voyage-P. […] In the middle of the text, a series of episodes of Voyage-P has been left out, for no obvious reason“.24 Inspiriert wurde die Niederschrift der Reise Pl sicherlich durch ihre Mitüberlieferung, das heißt ihren eigentlichen Textträger, den mittelniederdeutschen Druck von Der Heiligen Leben, da sich in ihm auch ein Brandanteil findet (siehe dazu weiter unten). Im Fall von N lässt sich kein besonderes, den Codex übergreifendes Konzept ausmachen, wenn man sich die darin abgefassten Texte anschaut.25 22 Vgl. die Übersicht bei Strijbosch 2000 (wie Anm. 1), S. 13. Volker Krobisch: Die Wolfenbütteler Sammlung (Cod. Guelf. 1203 Helmst.). Untersuchung und Edition einer mittelniederdeutschen Sammelhandschrift (Niederdeutsche Studien 42), Köln u. a. 1997, S. 115, vermutet aufgrund eingehender kodikologischer Untersuchungen, dass die Kürzungen „höchstwahrscheinlich Platznot als Ursache“ haben und also „in dieser Redaktion […] entstanden“ und „nicht in der Vorlage angelegt“ waren. 23 Vgl. die Übersicht bei Strijbosch 2000 (wie Anm. 1), S. 13. 24 Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 181. Das betrifft die Episoden R19 (Teufelsinsel), R20 (der verlorene Hut), R23 (der Mann auf der Erdscholle); die Episoden R21 (Himmelsvision) und R22 (das durchsichtige Meer) fehlen dem Prosa-Überlieferungszweig der Reise ohnehin. Dass Pl aufgrund des geringen Platzes, der durch die vier Nachsatzblätter vorgegeben war, in gekürzter Form vorliegt, vgl. Bayerschmidt, Selmer 1955 (wie Anm. 16), S. 91, überzeugt. Doch erklärt es nicht, warum ausgerechnet diese Episoden komplett ausgelassen wurden: „The physical appearance of the manuscript does not suggest missing leaves, so they were probably not present in the text of l, or in the text that the author had at his disposal“, Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 181, Anm. 29. 25 Die Inhaltsangabe folgt Otto von Heinemann: Die Helmstedter Handschriften. Bd. 3: Codex Guelferbytanus 1001 Helmstadiensis bis 1438 Helmstadiensis (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Nr. 3), Frankfurt a. M. 1965, S. 110; bzw. in der Wahl der Titel für die Texte dem Handschriftencensus: Zeno (Bl. 1r–37r), Des Kranichhalses neun Grade (Bl. 37v–41v), Lob der Frauen VII (Vruwenloff) (Bl. 41v–44v), Rat der Vögel (Bl. 44v–46v), Die neun Helden (Bl. 46v–47r), Von Alexander (Van Alexander, Prosa) aus dem Seelentrost (Bl. 47r–71v), Marina I (nd. Verslegende) (Bl. 72r–80v), Reise des hl. ­Brandan (Bl. 81r–107v), Flos vnde Blankeflos (Bl. 108r–142v), Theophilus-Spiel (Bl. 143r–159v), Carmen latinum (Bl. 159v–160r). Vgl. dazu auch Krobisch 1997 (wie Anm. 22). Krobisch, ebd., S. 149, stellt zum Ende seiner in erster Linie überlieferungs- und textgeschichtlich angelegten Studie zur Wolfenbütteler Sammlung, in welcher N zu finden ist, fest: „Von einer planvollen Anlage der Sammlung unter thematischen Gesichtspunkten kann also keine Rede sein, eher von einer aus zufällig vorhandenen Vorlagen und Vorlieben resultierenden Zusammensetzung“.

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Das heißt in der Zusammenschau, dass die mittelniederdeutsche Reise-Überlieferung – egal ob in Reim- oder Prosaform – im Vergleich zur oberdeutschen und mitteldeutschen Reise-Überlieferung zum einen nur verkürzte Versionen der Reise bietet und dass diese Überlieferung zum anderen nur die ,Ein-Buch-Konzeption‘ kennt. Gerade Letzteres unterscheidet sie deutlich von allen anderen Regionen, in denen die Reise tradiert wurde (auch von den Niederlanden). Es wird sich ­später noch zeigen, ob aus ­diesem Umstand Rückkopplungs­ effekte mit den Darstellungen des Heiligen im norddeutschen Raum gefolgert werden können.

3.2 Die Überlieferung der Navigatio Während die lateinische Navigatio im oberdeutschen Raum immerhin zweimal eigenständig ins Frühneuhochdeutsche übertragen wurde, jedoch wenig rezipiert worden sein dürfte (siehe Kap. 4), kannte man sie im norddeutschen Raum, wenn man die Überlieferung für sich sprechen lässt, hauptsächlich in vermittelter Form 26 als ,Sondergut‘ einer mittelnieder­ deutschen Übertragung vom oberdeutschen Der Heiligen Leben (kurz obdHL), die in der Forschung unter Lübecker Passional oder Der Hilligen Levent (kurz ndHL) firmiert.27 Dafür war diese Version des Brandanstoffs im Norden, das zeigen die zahlreichen Auflagen der Inkunabeln und späteren Drucke, um so wirkmächtiger.28 26 Der Brandanteil daraus zirkulierte wohl auch separat, was das einzige, nur noch in vier Blättern fragmentarisch erhaltene Exemplar eines 1481/82 entstandenen Lübecker Drucks im Quartformat von Johann Snell belegt, das heute in der Universitätsbibliothek Rostock aufbewahrt wird (Borchling-Claussen 54, GW 05012, ISTC ib01073400). Vgl. dazu insbesondere Bruno Claussen: Van sunte Brandanus. Ein Lübecker Druck von Johann Snell, in: Nordisk tydskrift för bok- och biblioteksväsen I (1914), S. 33 – 37. Eines der Blätter „ist das Schlussblatt des Druckes“, wobei „die Vorderseite schliesst: A. M. E. N. Finit feli[citer], die Rückseite ist leer. Es ist also mit Sicherheit anzunehmen, dass das Leben des Brandan selbständig erschienen ist und nicht einen Teil eines grösseren Werkes bildete. […] Der Druck hat 16 Blätter umfasst, zwei Lagen zu je 8 Blättern. Erhalten sind Bruchstücke von Blatt 9, 11, 14 und 16. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Druck einen Titel gehabt hat und dass der Text auf Blatt 1b begann“, ebd., S. 33 f. Vgl. auch Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 205, Anm. 72. – Die Inkunabeln der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Nilüfer Krüger, Wiesbaden 2003, S. 440 [Fragm. B. 7]. 27 In vielen Katalogen vor allem älteren Datums wird das ndHL als Übersetzung der lateinischen Legenda aurea des Jacobus de Voragine angesprochen, was jedoch in zweifacher Hinsicht nicht stimmt. Zum einen handelt es sich bei dem von obdHL übernommenen Textbestand um eine direkte Übersetzung aus dem Obd. ins Nd., und zum anderen geht obdHL „nicht auf eine lateinische Vorlage zurück“, auch wenn die Legenda aurea „als eine der Hauptquellen diente“, Werner Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte (Texte und Textgeschichte 20), Tübingen 1986, S. 13. Als weitere Quellen gelten nach Williams-Krapp das Passional (nur Buch III), das Märterbuch, das Speculum historiale des Vincenz von Beauvais sowie die lateinischen Vitaspatrum, vgl. ebd., S. 273. 28 Vgl. hierzu und im Folgenden Burgess, /Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 27 – 30 [= Kap. III, The Legenda Aurea Versions]. – Karl A. Zaenker: Sankt Brandans Meerfahrt. Ein lateinischer Text und seine drei

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Die Legendare ,per circulum anni‘, zu denen auch das obdHL und das ndHL zählen, waren weitgehend „kompendienartige Sammlungen, die für beinahe jede Art spezifischer Erweiterung oder Kürzung offen waren“, das heißt sie unterlagen einem „,offene[n]‘ Werkverständnis“,29 was umso mehr für die Drucke gilt, die noch ganz anderen Wettbewerbsbedingungen unterstanden als die Handschriften.30 Zu den spezifischen Integrationsleistungen der Legendare gehörte es daher auch, regional bekannte und beliebte Heilige mit aufzunehmen. Im mittelniederdeutschen Sprachraum entlang der Ostsee gehörte Brandan, da er in keinem der Drucke des obdHL, dafür aber in allen Drucken des ndHL zu finden ist, für eine gewisse Zeit tatsächlich zu den kanonischen Heiligen. Die Überlieferung des ndHL lässt sich chronologisch wie folgt aufschlüsseln:31 1. Lübeck: Lucas Brandis, um 1478, 2° (Borchling-Claussen 34, GW M11509, ISTC ij001700000, Williams-Krapp d6), Gesamtüberlieferung: 13 Ex./Fragm. in ­öffentlichen Einrichtungen 32 2. Magdeburg: Simon Koch, 7.III.1487, 2° (Borchling-Claussen 118, GW M11513, ISTC ij00172000, Williams-Krapp d15), Gesamtüberlieferung: 13 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 33 3. Lübeck: Steffen Arndes, 23.VI .1488, 2° (Borchling-Claussen 131, GW M11501, ISTC ij00172400, Williams-Krapp d17), Gesamtüberlieferung: 2 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 4. Lübeck: Steffen Arndes, 19.XI.1492, 2° (Borchling-Claussen 202, GW M11503, ISTC ij00172600, Williams-Krapp d21), Gesamtüberlieferung: 19 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 34

29 30 31

32 33 34

deutschen Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 191), Stuttgart 1987, S. xv–xxi und S. xxxiv f. Zum ndHL lässt sich sagen, dass es ausschließlich in Druckform überliefert wurde, wobei 8 nd. Drucke, die alle den Brandanteil überliefern, 33 obd. Drucken sowie 197 Handschriften gegenüberstehen, vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 188. Das ndHL zitiere ich im Folgenden nach Zaenker 1987. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 10. Vgl. ebd., S. 304. Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 205, Anm. 72, geben zu den hier aufgeführten acht Drucken noch einen neunten an: Borchling-Claussen 86 (GW M11405, ISTC 00171000, Williams-Krapp d6). Bei d ­ iesem Druck handelt es sich allerdings um eine smndl. Legenda aurea, vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 84, in der kein Brandanteil vorhanden ist; https://gesamtkatalogderwiegendrucke. de/docs/M11405.htm (14. 03. 2019). Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Ink H-25, ist online einsehbar: http://mdznbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00029323-9 (05. 03. 2019). Das Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, °4 Inc 1494.3, ist online einsehbar: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015F7500000000 (05. 03. 2019). Das Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 4° Inc 1484, ist online einsehbar: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00015F7400000000 (05. 03. 2019).

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5. Lübeck: Steffen Arndes, 23.IV.1499, 2° (Borchling-Claussen 314, GW M11506, ISTC ij00173000, Williams-Krapp d26), Gesamtüberlieferung: 21 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 35 6. Lübeck: Steffen Arndes, 15.VIII.1507, 2° (Borchling-Claussen 416, VD16 H 1483, WilliamsKrapp d30), Gesamtüberlieferung: mind. 7 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 36 7. Basel: Adam Petri, 1511 (Borchling-Claussen 497, VD16 H 1484, Williams-Krapp d34), Gesamtüberlieferung: mind. 5 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 37 8. Basel: Adam Petri, 1517 (Borchling-Claussen 592, VD16 H 1485, Williams-Krapp d38), Gesamtüberlieferung: mind. 8 Ex./Fragm. in öffentlichen Einrichtungen 38 Lucas Brandis richtete sich bei seinem ndHL nach dem oberdeutschen Druck von G ­ ünther Zainer, der nur etwa sechs Jahre zuvor 1471/72 in Augsburg das allererste obdHL überhaupt herausgab.39 Sogar die Holzschnitte lässt Brandis nachschneiden, doch nutzt er die Gelegenheit auch, um einige Änderungen vorzunehmen, die sich nach den Vorlieben seines adressierten Publikums richten. So fügt er an den Winterteil im Vergleich zu seiner Vorlage insgesamt siebzehn Texte an, unter die auch der Brandanteil fällt, der textgeschichtlich dem Navigatio-Zweig zuzuordnen ist.40 Strijbosch untersuchte zuletzt genauer, w ­ elche Art von spezifischen Modifikationen im Vergleich zur lateinischen Navigatio im Brandanteil des ndHL auszumachen sind. Die Kürzungen auf der Satzebene (u. a. Auslassung von redundanten Informationen, Tilgung von Psalmentexten) sowie auf der Erzählebene und die Auslassungen von „supernatural elements“ wie Prophezeiungen führen zu einem um ein Viertel geschrumpften Umfang.41 Am besten lässt sich die Bearbeitungstendenz wohl als ,vereinfachende Kürzung‘ beschreiben, denn, so heißt es etwa im Teil zur strukturellen Analyse des Textes bei Strijbosch: „An important abbreviation is reached here by collapsing two Church festivals (Vigil of Easter and Easter itself ) 35 Das Exemplar der Stadtbibliothek Lübeck, Ink B 168, 2°, ist online einsehbar: http://digital.stadtbibliothek.luebeck.de/viewer/resolver?urn=urn%3Anbn%3Ade%3Agbv%3A48-1-1549129 (05. 03. 2019). 36 Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, VD16 H 1483, ist online einsehbar: http:// mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00019910-0 (05. 03. 2019). 37 Das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek, 489791-C, ist online einsehbar: http://data. onb.ac.at/rep/1096483B (05. 03. 2019). 38 Das Exemplar der Universitätsbibliothek Basel, fa 191, ist online einsehbar: http://doi.org/10.3931/erara-1116 (05. 03. 2019). 39 Vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 307, der entsprechende Zainer-Druck ist auch ebd. in der Übersicht auf S. 235 zu finden. 40 Vgl. dazu ebd. Schon Claussen 1914 (wie Anm. 26), S. 36, erkannte, dass „das letzte Stück des eigentlichen Passionals“ vom Lübecker Drucker Brandis „hinzugefügt worden zu sein [scheint], während der übrige Teil des Buches eine Übertragung eines älteren hochdeutschen Heiligenlebens ins Niederdeutsche ist“. 41 Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 174.

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into one simple ,Resurrection‘. All the consequential complicated sailing back and forth in the Navigatio has […] been reduced […]“.42 Auffällig sei zudem eine mikrostrukturelle Änderung im Text, die die Rolle des Heiligen betrifft. Als sich Brandan und seine Mönche vor der Schmiedeinsel befinden und mit feurigen Klumpen beworfen werden (N23), wird Brandan in der lateinischen Vorlage in einer Inquit-Formel als „sanctus pater“ tituliert (Navigatio, XIII ,15). Im ndHL ist es „de hillighe vader vnde noethulper sunte Brandanus“ (ndHL , S. 121, Z. 10 f.), der seine Mönche tröstet und ihnen gut zuspricht. Brandan erlangt hier die Funktion eines Intercessors, der bei entsprechender Anrufung (in der Not) für den Fürbittenden Partei vor Gott ergreift. Dass diese Änderung nicht zufällig an genau dieser Stelle vorgenommen wurde, sondern dass ­zwischen dem literarischen Motiv der Schmiedeinsel und Brandan als ,realem‘ Nothelfer in Angelegenheiten, die mit Feuer zu tun haben, eine direkte Verbindung bestand, wird s­ päter noch thematisiert. Völlig richtig stellt Strijbosch daher fest: It is probably no coincidence that Brendan is referred to here in the capacity of a saint who might be petitioned in dangerous situations, and not just in the function of the spiritual father that he had for his monks. For what may be a fifteenth-century audience it is this role that Brendan came to play, the role of a saint who might be appealed to in cases of everyday need rather than as a seafaring saint in search of enlightenment […].43

Auf die Abbreviation des Osterfestes sowie die Funktion Brandans als Nothelfer wird ­später noch zurückzukommen sein. Einstweilen soll es an dieser Stelle genügen, den Charakter der Bearbeitung, den Strijbosch für den Brandanteil im ndHL herausgearbeitet hat, dem des obdHL gegenüberzustellen. Hier lässt sich recht schnell erkennen, dass der „conscientious, intelligent translator“ 44 des Brandanteils das Muster, das durch den Rest des ndHL, welcher sich wiederum nach dem obdHL richtet, genau erkannt und für seine Übersetzung bestmöglich imitiert hat. Durch die Änderungen wird die schon im obdHL angestrebte „formale und stilistische Einheitlichkeit“ bewahrt, die sich „gänzlich an dem Bildungsstand des Rezipientenkreises, der intendierten Gebrauchsfunktion des Werkes“ orientiert 45 und sich vor allem in einer Reduktion und Vereinfachung auf inhaltlich-struktureller und formaler Ebene spiegelt.46 So stellt der Brandanteil im ndHL zwar auf strukturell-materialer

42 43 44 45 46

Ebd., S. 176. Ebd., S. 179. Ebd., S. 178. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 271. Vgl. dazu Volker Mertens: Verslegende und Prosalegendar. Zur Prosafassung von Legendenromanen in Der Heiligen Leben, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, hg. v. Volker Honemann, Kurt Ruh, Bernhard Schnell, Werner Wegstein, Tübingen 1979, S. 265 – 289, hier S. 287.

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Ebene im Erstdruck von Lucas Brandis 1478 zunächst einen Appendix dar,47 er integriert sich aber bereits hier formal-stilistisch vollkommen in den übrigen Teil, der aus dem obdHL herstammt. Williams-Krapp liefert zudem einen validen Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage, warum Lucas Brandis die Navigatio- der Reise-Fassung bei der Einarbeitung seines ,Sonderguts‘ vorgezogen hat: Der HL-Verfasser schafft in seinen Legenden keine menschlich greifbaren Heiligengestalten, die dann als nachzuahmende Vorbilder herausgestellt werden, sondern eher der Menschheit entrückte Wundertäter, die Gottes Güte und Allmacht vor Augen führen.48

Genau das ist einer der zentralen Unterschiede in der Gestaltung der Brandanfigur ­zwischen Reise und Navigatio,49 weswegen die Reise, die im Norden durchaus bekannt gewesen ist (vgl. Kap. 3.1), für die Quellenwahl zum hl. Brandan im ndHL nicht in Frage kommen konnte. In der Chronologie folgt nun der Druck von Johann Snell 1481/82 (vgl. Anm. 26), der den Brandanteil getreu nach Lucas Brandis 1478 wiedergibt, soweit man das anhand des erhaltenen Fragments erkennen kann.50 Dass ausgerechnet Snell als nächster Drucker nach Brandis in Erscheinung tritt, verwundert wenig, wenn man um die engen Beziehungen ­zwischen den beiden weiß. Johann Snell war zusammen mit Markus Brandis, dem Bruder von Lucas Brandis, Setzer bei eben jenem.51 Als Lucas Brandis Lübeck 1478, also noch im selben Jahr, in welchem er die Editio princeps des ndHL verantwortete, den Rücken kehrte, 47 Der nächste Text nach der hl. Eufrosina (7. Mai) ist der zu St. Hulpe (19. Mai), danach folgt St. Brandan (16. Mai), anschließend kommen vierzehn gegenüber der obd. Vorlage ebenfalls hinzugefügte Detempore-Texte (die Aufzählung ist bei Williams-Krapp 1986 [wie Anm. 27], S. 307, zu finden). Während die De-tempore-Texte eine eigene Einheit bilden und chronologisch betrachtet nicht recht zum Ende des Winterteils passen, kann man das von St. Hulpe und St. Brandan nicht unbedingt behaupten, da ihre (gängigen) Festtage genau wie der der Eufrosina in den Mai fallen. Beliebig angehängt worden sind die beiden Heiligen damit also wohl nicht. 48 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 355. 49 Vgl. dazu u. a. Weitbrecht 2011 (wie Anm. 8). – Sebastian Holtzhauer: Naufragentes in hoc mari. Zur Symbolik des Wassers in Berichten über die Seereise des hl. Brandan, in: Wasser in der mittelalterlichen Kultur / Water in Medieval Culture. Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik / Uses, Perceptions, and Symbolism, hg. v. Gerlinde Huber-Rebenich, Christian Rohr, Michael Stolz (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 4), Berlin, Boston 2017, S. 406 – 418. 50 Siehe dazu Claussen 1914 (wie Anm. 26), S. 36: „Dieser Text [Brandis 1478, Anm. d. Verf.] hat ohne Zweifel Johan Snell bei seiner Ausgabe als Vorlage gedient. Die kleinen sprachlichen Abweichungen erklären sich aus dem Gebrauch der Drucker jener Zeit, die meist in sehr freier Weise die Vorlage nach ihrem Gutdünken zurechtstutzten“. Vgl. auch die Gegenüberstellung der beiden Drucke bei Claussen, ebd., S. 37. 51 Vgl. Ursula Altmann: Die Leistungen der Drucker mit Namen Brandis im Rahmen der Buchgeschichte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1974 [Maschinenschr.], S. 50.

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um am Magdeburger Missale-Druck mitzuwirken, ließ er zudem „Druckstöcke für Holzschnitt-Illustrationen und Initialen […] in Lübeck zurück, vermutlich bei Johann Snell“.52 Der Magdeburger Druck des ndHL von Koch 1487 ist strukturell betrachtet identisch mit dem von Brandis 1478, auch hier ist Brandan an gleicher Stelle (hinter St. Hulpe und vor den De-tempore-Texten) zu finden. Damit steht er, genau wie Arndes 1488 mit seinem ndHL-Druck, „in der engen Nachfolge des Brandis-Druckes, wobei Arndes offensichtlich die Holzschnitte dem in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Brandis abgekauft hatte“.53 Arndes nun, der für die meisten Drucke des ndHL verantwortlich zeichnet, war ein strategisch denkender Geschäftsmann, denn er ließ nicht nur für seine 1492 entstandene zweite Auflage die kunstvollen Nürnberger Illustrationen des Koberger-Drucks nachschneiden und berücksichtigte „in noch größerem Umfang als die Augsburger die Bedeutung von kultmäßigen Gegebenheiten für den Absatz seines Buchs“,54 sondern er ging etwa auch bei der Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses innovative Wege. Im Druck von 1492 ist das Register alphabetisch und nicht chronologisch entsprechend der Festtage der Heiligen angeordnet,55 womöglich ein ­Zeichen für eine Zielorientierung hin auf ein Publikum von Laien.56 Diese Änderung könnte aber auch durch den angeschwollenen Anhang lokaler Heiliger zu erklären sein, der die Durchsuchbarkeit des Legendars ,per circulum anni‘ nun zusätzlich erschwerte. Diese Neuerung musste offenkundig noch sehr ausführlich erklärt und exemplifiziert werden,57 konnte sich aber auf Dauer nicht durchsetzen – in der Auflage von 1507 führt Arndes das chronologische Register wieder ein. Mit dem Druck von 1492 erweitert Arndes nicht nur das Heiligen-Repertoire – auf dem letzten Blatt zählt er alle Neuerungen auf 58 –, sondern er nimmt auch Umstellungen vor, von denen u. a. der Brandanteil betrof52 53 54 55

Ebd., S. 32. Vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 308. Vgl. ebd. Den Druck von 1488 konnte ich leider nicht einsehen und kann daher keine Aussage darüber treffen, ob das Register schon hier alphabetisch angeordnet war. 56 Vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 367. 57 Auf Bl. 1v heißt es: „Hijr is to merkende. wen me enes hyllyghen leuene in dysseme boeke vynden wyl. so scal me seen vppe wat boekstaff syk de hyllighe anheuet vnde denne soeken in deme suluen boekstauen. so dyt register vthwyset Exemplum. Amrosius heuet sik an van dem boekstaue A. den soek in deme suluen boekstaue A […]“. Die Sortierung beschränkt sich jedoch nur auf den Anfangsbuchstaben, das heißt innerhalb der einzelnen Buchstaben sind die Heiligen nicht mehr alphabetisch angeordnet, wobei sich aufgrund der recht geringen Anzahl Heiliger pro Buchstabe der Überblick gut behalten lässt. 58 In der Auflage von 1499 fällt dieser Schlussteil zunächst kürzer aus, der von 1507 ist dann wiederum mit dem von 1492 identisch. Es zeigt sich insgesamt, dass Arndes viel mit seinen Drucken experimentiert, um das ,Optimum‘ herauszuholen. Wenn sich Neuerungen (alphabetisches Register, kürzerer Schluss) nicht bewähren, nimmt er sie durchaus wieder zurück. Im längeren Schlussteil enthalten ist im Übrigen auch der Hinweis auf ein neu aufgenommenes Magdalenen-Mirakel, das sich in Lübeck zugetragen haben soll. Die Konzentration auf Lübeck und seine unmittelbare Umgebung (Hamburg, Ratzeburg) ist augenfällig.

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fen ist. Der irische Abt kommt nun nach dem neu hinzugefügten hl. Bernhard (20. August), nach Brandan findet sich St. Hulpe („Van deme hyllyghen kruce in der stad Luca. dat me sunte hulpe edder de godes hulpe heth“), auf den wiederum mit St. Rochus (16. August) und „Uan den vntelliken hyllighen merteleren tho Hamborch“ neue Bestandteile folgen. Mit Letzterem endet der Sommerteil, der in dieser Auflage vor dem Winterteil angeordnet ist, das heißt, dass Brandan zudem vom Winterteil in den Sommerteil hinübergeholt wurde. An der Positionierung Brandans ändert Arndes in den nächsten Auflagen (1499, 1507) dann nichts mehr. Beachtenswert ist zudem eine Hinzufügung im Brandantext, die Arndes 1492 vornimmt und die sich bis zur letzten Auflage des ndHL dort hält – es handelt sich um ein Caveat lector: De grote lerer Uincencius dede vele hystorien beschrift. schryfft nicht vele van desseme Brendano. men he secht wo id eyn Abbet ghewest is. vnde heft seer vele moneke vnder syk ghehat. vnde heft ok vele wandert. men dat id war scal wezen. alze syne hystorie hijr ghescreuen ludet. wyl he nicht louen. (ndHL, S. 151, Z. 8 – 11)

Die „gezielte[…] Enthistorisierung“ sowie der „Verzicht auf eventuelle Quellenkritik oder -kommentare“,59 beides ist für das obdHL ja in besonderer Weise charakteristisch, sind bei Arndes’ späteren Auflagen des ndHL somit ansatzweise zurückgenommen. Dass Vincenz von Beauvais als Gewährsmann angeführt wird, verwundert nicht weiter, da sein Speculum historiale zu einer der Hauptquellen des obdHL gehörte (vgl. Anm. 27); das Speculum historiale ist (und war vermutlich schon für Arndes) als Inkunabel in Lübeck greifbar 60. Der genaue Grund, warum Vincenz den irischen Abt Brandan aus seinem Werk ,herausgeschnitten‘ hat, wird durch Arndes jedoch nicht übersetzt („propter apocrypha quædam deliramenta“). Zu dieser (vorsichtig) kritischen Stellungnahme gegenüber seinem Brandantext passen auch weitere Änderungen: „Wie Brandis kürzt Arndes den Inhalt einzelner Legenden, generell im Bereich der Mirakelanhänge, nach Möglichkeit sogar erheblich“.61 Wie weiter oben ausgeführt, gehören zu den von Strijbosch erwähnten Kürzungen im Brandanteil (die bereits bei Brandis zu beobachten sind) auch ­solche im Bereich des 59 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 271. 60 Die Teile 1 und 2 (= GW M50587) befinden sich zusammengebunden unter der Signatur I.-K. 1299 in der Stadtbibliothek Lübeck (Ausgabe Straßburg: Johann Mentelin 1473). Brandan wird dort auf Bl. 18v im Inhaltsverzeichnis erwähnt: „De sancto brendano scoto & bonis iniciis sancti gregorii . lxxxi“. Die entsprechende Textstelle zu Brandan im 81. Kapitel des 21. Buchs des vierten Teils im Speculum historiale lautet: „Per idem tempus floruit in Scotia sanctus Brendanus, qui scilicet magnæ abstinentiæ vir, & in virtutibus clarus, trium fere millium monachorum pater fuit. Huius autem peregrinationis historiam, propter apocrypha quædam deliramenta, quæ in ea videntur contineri, penitus ab opere isto resecaui“, zitiert nach Vincentius Bellovacensis: Speculum quadruplex sive Speculum maius, naturale/doctrinale/ morale/historiale (Douai: Balthasar Bellière, 1624 – 25; Nachdruck Graz 1965). 61 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 309.

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,Übernatürlichen‘. Arndes scheint diese Bearbeitungstendenz aufzugreifen und weiter zu verstärken, wobei nicht letztgültig zu entscheiden sein wird, ob er „Unglaubwürdiges beseitigen wollte, das seinen Druck unter den Käufern hätte in Verruf bringen können“, oder ob es ihm doch „in erster Linie darum ging, sich durch Streichungen Platz für seine zahlreichen Zusätze zu schaffen“.62 Was Brandan anbelangt, brauchte Arndes zumindest keinerlei Angriffe von Seiten der ­Kirche befürchten, da der Heilige dort zu ­diesem Zeitpunkt fest in der Liturgie verankert war, was noch zu zeigen sein wird. Adam Petri schließlich besorgte zwei Drucke des ndHL in Basel (1511, 1517), wobei er sich, was die Textauswahl angeht, nach Arndes 1492 richtet, und in Bezug auf die Holzschnitte mit den Exemplaren Grüningers arbeitet, dessen oberdeutscher Druck von 1502 die süddeutsche Konkurrenz ausstach.63 Der Plan, den norddeutschen Absatzmarkt zu erobern, scheint aufgegangen zu sein, da dort seit dem Druck von Arndes 1507 in Lübeck keine weitere Auflage mehr zustande kam.64 Dass Petri das ndHL nicht noch einmal auflegte, wird neben der allerorts einsetzenden Reformation und dem damit abnehmenden Interesse an Heiligenleben vor allem damit zu tun haben, dass er selbst ab 1517 in seiner Baseler Offizin in der Hauptsache nur noch Reformationsschriften druckte.

3.3 Brandankult im norddeutschen Raum Wendet man sich dem Kult um den hl. Brandan zu, ist es sinnvoll, zunächst von seinem Todestag auszugehen und zu schauen, wie und wo er in den historischen Dokumenten verzeichnet wurde. In den irischen Annalen, Genealogien und Martyrologien wird sein 62 Ebd. Immerhin erwähnt Williams-Krapp, ebd., eine ähnlich kritische Hinzufügung wie im Brandanteil für die Johannes-Chrysostomus-Legende, was diesbezüglich eine systematische Überarbeitung der Legenden vermuten lässt. Die Ausführung von Williams-Krapp zum Thema volkssprachliche Legendare und religiöse Laienbildung, ebd., S. 370 – 377, deuten für den hier geschilderten Fall eher in die Richtung, dass Arndes den „kritischen Augen“, ebd., S. 370, der zunehmend gebildeten städtischen Laien entsprach und ihren womöglich skeptischen Einwürfen entgegen- bzw. zuvorkommen wollte. Gerade der Einschub zu Vincenz von Beauvais im Brandanteil des ndHL scheint Spiegel „eine[r] zunehmende[n] laikale[n] Kritik am Wahrheitsgehalt der Legende“, ebd., S. 371, zu sein. 63 Vgl. ebd., S. 311 f. Welche Resonanz das ndHL bei den Käufern im Norden hervorgerufen haben musste, lässt sich indirekt auch daran ablesen, dass nur noch ein weiteres nd. Druckwerk im obd. Sprachraum aufgelegt wurde: die Vitaspatrum-Prosa beim ,Drucker des Antichrist‘ in Straßburg, vgl. ebd., Anm. 65. Ohne eine entsprechend hohe Nachfrage an Exemplaren des ndHL hätte wohl kaum ein obd. Drucker das Risiko gewagt, es in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. 64 Man kann anhand der Orte, an denen heute noch Exemplare der Petri-Drucke zu finden sind, nur noch erahnen, dass sie ihren anvisierten Absatzmarkt im nd. Sprachraum auch erreicht haben: Basel, Berlin, Köln, Wien, Wolfenbüttel (1511); Basel, Berlin, Köln, Lüneburg, München, Rostock, Wien, Wolfenbüttel (1517), vgl. die Datenbankeinträge im online stehenden Verzeichnis der Drucke 16. Jh. zu VD16 H 1484 und VD16 H 1485.

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Sterbedatum, sofern es denn vermerkt ist, übereinstimmend mit dem 16. Mai angegeben.65 Grotefend, der sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert intensiv mit den Heiligenverzeichnissen und Ordenskalendern auseinandersetzte, gibt zu Brandan zunächst an: „abb. Cluanferten. Mai 16: Basel, Konstanz. – Aberdon. || Mai 17: Lübeck (wegen festum patronorum verschoben)“.66 Es fallen hier die beiden Orte auf, in denen auch Offizinen zu finden waren, w ­ elche für die Drucke des ndHL verantwortlich zeichnen: Lübeck und Basel (vgl. Kap. 3.2). Ein direkter Zusammenhang lässt sich also vermuten, wobei insbesondere für Basel noch nachzuweisen wäre, ob der Heiligenkult Folge oder Ursache des ndHL-Drucks war oder ob er eher als eine wie auch immer geartete Nebenwirkung anzusprechen ist.67 Für Lübeck lassen sich indes weitere Belege für einen Festtag des hl. Brandan anführen. Zwar sind die Handschriftenbestände der Stadtbibliothek insgesamt noch schlecht erschlossen, jedoch gebührt Paul Hagen das Verdienst, die Signaturengruppe Ms. theol. germ. recht gut untersucht zu haben.68 Den in seinen Beschreibungen verzeichneten Hinweisen auf Heiligenkalender bin ich nachgegangen und konnte in den folgenden Codices Einträge zum Festum patronorum bzw. Brandan auffinden:69 1. Ms. theol. germ. 33 (15. Jh.), Bl. 3v: 15. Mai „der patronen fest“, 16. Mai „brandani abbet“ (beide Einträge sind ursprünglich) 2. Ms. theol. germ. 48 (15. Jh.), Bl. 4v: 16. Mai „patronen fest / brandanus abbat“ (Eintrag ist ursprünglich) 65 Vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 79 – 84. „Um ihn weiß zum 16. Mai das Martyrologium Romanum“, Georg Schreiber: Irland im deutschen und abendländischen Sakralraum. Zugleich ein Ausblick auf St. Brandan und die zweite Kolumbusreise (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, H. 9), Köln, Opladen 1956, S. 64. 66 Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. II/2: Ordenskalender, Heiligenverzeichnis, Nachträge zum Glossar, Hannover 1891, S. 74. Vgl. auch Hermann Grotefend: Das Fest des heiligen Brendanus. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichtsund Altertumsvereine 57 (1909), Sp. 395 – 397, hier Sp. 395. 67 Es ist schwer vorstellbar, dass ein nd. Druck in der Schweiz die Durchschlagskraft hatte, einem norddeutschen Regionalheiligen zu so viel Ansehen zu verhelfen, dass er in die dortigen Heiligenkalender aufgenommen wurde. Vielleicht gab es also noch mehr Gründe für Adam Petri, das ndHL in Basel zu drucken, als die norddeutsche Konkurrenz auszustechen (vgl. Kap. 3.2). Immerhin eine Inkunabel der obd. Prosa-Reise wurde ebenfalls in Basel gedruckt: Jakob Wolff 1491 (GW 5005; ISTC ib01073050), was dafür sprechen könnte, dass Brandan dort bereits bekannt war, als Petri seinen Druck anging. Einen ersten Hinweis auf die frühe kultische Verankerung des Heiligen gibt Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 73: „Die Brandankapelle in Basel war eine der ältesten K ­ irchen der Stadt. Der Heilige hieß hier Brandolph. […] Im Straßburger Kalender erscheint er im späteren Mittelalter. Wenn übrigens Konstanz und Basel als Kultstätten anzusprechen sind, mag man daran denken, daß sie Nachbarbistümer von Straßburg waren“. 68 Paul Hagen: Die deutschen theologischen Handschriften der Lübeckischen Stadtbibliothek, Lübeck 1922. 69 Die Heiligenkalender in den folgenden Handschriften habe ich geprüft, bin dort aber nicht fündig geworden: Ms. theol. germ. 40 (15. Jh.), Ms. theol. germ. 47 (nicht vor 1471), Ms. theol. germ. 68 (1488), Ms. theol. germ. 87 (15. Jh.). Ich danke an dieser Stelle auch Frau Britta Lukow von der Stadtbibliothek Lübeck für Ihre Auskünfte im Vor- und Nachfeld der Besichtigung.

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3. Ms. theol. germ. 56 (Ende 15. Jh.), Bl. 5r: 16. Mai „brandanus abt / festum van den patro­ nen“ (Eintrag ist ursprünglich) 4. Ms. theol. germ. 70 (15. Jh.), Bl. 6v: 16. Mai „Der patronen fest“ (Eintrag ist ursprünglich) Von einer Verschiebung des Brandanfestes auf den 17. Mai wegen des Festum patronorum ist in den von mir gesichteten Handschriften nichts festzustellen. In Ms. theol. germ. 33 fällt das Fest auf den 15. Mai und kollidiert daher nicht mit dem traditionellen Festtag Brandans am 16. Mai. Ms. theol. germ. 48 und 56 führen beide Feste am 16. Mai, in Ms. theol. germ. 70 wird Brandan nicht verzeichnet. Leider sind die Datierungen von Hagen für eine chronologische Anordnung der Entstehungsdaten der Handschriften nicht aussagekräftig genug, weswegen aus den Beobachtungen keine weiteren Schlüsse in der Frage der historischen Entwicklung bezüglich des Festtages von Brandan gezogen werden können. Ms. theol. germ. 48 weist auf Bl. 227r einen Besitzereintrag auf: „suster anneken lunsmans“, der Heiligenkalender in Ms. theol. germ. 56 wurde von Kathrina Kardow aus dem Michaeliskonvent niedergeschrieben,70 der in Ms. theol. germ. 70 von „en arm suster“ (hinterer Innendeckel). Da Hagen in seiner Einleitung feststellt, dass die weitaus meisten der von ihm verzeichneten Handschriften dem Lübecker Michaeliskonvent angehört haben,71 der „älteste[n] und bedeutendste[n] Niederlassung der Schwestern vom gemeinsamen Leben im Ostseeraum“,72 kann davon ausgegangen werden, dass diese Provenienz für alle von mir oben aufgeführten Manuskripte zutreffend ist. Geht man zudem davon aus, dass sie im Konvent geschrieben und nicht bei seiner Begründung im Jahr 145173 dorthin mitgebracht wurden, kann keine der noch von Hagen vage auf das 15. Jahrhundert datierten Handschriften vor der zweiten Hälfte ebenjenes Jahrhunderts entstanden sein. Durch die geschilderten Überlieferungszusammenhänge ist nun erstmals ein stichhaltiges Indiz für die Vermutung Selmers erbracht, dass die Brüder bzw. Schwestern vom gemeinsamen Leben den Brandanstoff in Norddeutschland populär gemacht haben: It is […] quite natural to assume that the Brendanus story, so well known in Holland, was introduced to Lübeck in the Low German territory through members of this Order and their literary activities. The literary material available to them, in Lübeck as well as in Rostock, is unquestionably of western provenance (Holland).74

70 Vgl. Hagen 1922 (wie Anm. 68), S. 42. 71 Ebd., S. vi. 72 Vgl. Johann Peter Wurm: Die Gründung des Michaeliskonvents der Schwestern vom gemeinsamen Leben in Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 85 (2005), S. 25 – 53, hier S. 25. 73 Vgl. ebd., S. 29 und S. 39. 74 Carl Selmer: The Irish St. Brendan Legend in Lower Germany and on the Baltic Coast, in: Traditio 4 (1946), S. 408 – 413, hier S. 412 f.

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Auch für Pl vermuteten ja Bayerschmidt und Selmer seinerzeit – wohl nicht zu Unrecht –, dass der Schreiber den (Lübecker) Brüdern vom gemeinsamen Leben angehörte, „whose chief activity consisted in copying medieval manuscripts“.75 Diese Tradierungsrichtung von West (Niederlande) nach Ost (Lübeck) wäre nicht ungewöhnlich, ist sie doch auch in anderen literarischen Gattungen für die Stadt direkt nachweisbar.76 Somit war die Verbreitung des Brandankults im Norden allem Anschein nach weniger an den Handel der Hanse denn an die Ausbreitung der verschiedenen Orden geknüpft.77 Für die Verbreitung des Kults unter den Laien der damaligen Stadtbevölkerung dürfte wiederum vor allem das ndHL gesorgt haben: Vom wohlhabenden Handwerker (etwa Goldschmied) über das städtische Patriziat bis hin zum hohen Adel sind Legendarbesitzer vertreten. […] Die Rezeption von Hagiographie unter den Laien erfolgte – und das muß hier nachdrücklich betont werden – beinahe ausschließlich über die Legendare […].78

Doch zurück zum Brandankult selbst. In seinem „Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit“ gibt Grotefend noch einen weiteren wichtigen 75 Bayerschmidt, Selmer 1955 (wie Anm. 16), S. 91. 76 Dazu u. a. Alissa Theiß, Jürgen Wolf: Lübeck, in: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien – Werke – Mäzene, hg. v. Martin Schubert, Berlin, Boston 2013, S. 283 – 305, hier S. 299: „Für die spätmittelalterliche Ausrichtung der Stadt auch nach Westen charakteristisch ist die enge Bindung der ,Lübecker Historienbibel‘ an die nordniederländischen Historienbibeln. Sieht man dies zusammen mit den westlichen Einflüssen, die schon im Fleuronée der Rechtsbücher des ausgehenden 13. Jh.s aufscheinen […], wird einmal mehr deutlich, wie nachhaltig Lübeck im gesamten ost- und nordseeischen Raum vernetzt war. Handel, Recht und Politik steht dabei offensichtlich eine nicht minder intensive kulturell-literarische Vernetzung zur Seite“. Auch die Totentanz-Tradition ist diesen Weg gegangen, ebd., S. 303: „Die Vermittlung zur Ostsee erfolgte wohl über Brügge“. 77 So folgert Selmer 1946 (wie Anm. 74), S. 411, aus der Angabe „1543 am tage Brandani“ in einer aus dem livländischen Zisterzienserkloster Padis stammenden und bei Grotefend 1909 (wie Anm. 66), Sp. 396, vermerkten Urkunde: „It is plain that not so much the Hanseatic trade with the East, but rather the eastward spread of the Cistercian Order was here instrumental in bringing St. Brendan’s name and achievements to these remote northern regions“. Außer Frage steht natürlich, dass Brügge, genau wie Lübeck, Hochburg der Hanse war und somit der Eindruck eines unmittelbaren Zusammenhangs bei der Verbreitung der Brandanverehrung aufkommen kann, wie bei Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 74: „Nach allem wurde er auch Patron der Schiffer und Seefahrer. Hierauf mochte vor allem die Ostsee, wo seine Patrozinien stärker verbreitet sind, einen Anspruch machen. Er trat damit in einen gewissen Wettbewerb mit St. Nikolaus, dem bedeutendsten Schifferpatron des Baltischen Meeres […]“. Dem lässt sich entgegenhalten: Ja, seine Patrozinien sind zwar im Ostseeraum und insbesondere in den Hanse­städten weit verbreitet, aber nein, die Indizien sprechen nicht dafür, dass er dort in Konkurrenz zu St. Nikolaus stand und als Patron der Schiffer und Seefahrer verehrt wurde, sondern eher als ,Feuer-Heiliger‘ (siehe weiter unten). Dass die Hanse als ,Transportdienstleister‘ mittelbar an der Verbreitung des Kults beteiligt war, ist demgegenüber sehr wahrscheinlich. Eine „Geschichte der hansischen Sakralkultur“, ebd., S. 71, die Brandan mit einbezieht, sehe ich daher skeptisch. 78 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 366 f.

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Hinweis für den norddeutschen Raum, da er unter dem Eintrag zu „Brandani“ für eben jenen vermerkt: „Festtag zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten“.79 In seiner k­ urzen, aber sehr ergiebigen Detailuntersuchung zu Brandan führt Grotefend mehrere Zeugnisse an, die nach Mecklenburg weisen und diese Feiertage belegen können: So wird etwa im Jahr 1480 eine „im Hauptarchive zu Schwerin aufbewahrte Urkunde für die Rostocker Jakobikirche datiert: in sunte Brandanius daghe in der pascheweke“; das Rechnungsbuch des Vogtes von Wittenburg von 1471 (im gleichen Archiv) verzeichnet einen Abrechnungstag „Dominica amme dage Brandani“, der durch die Abfolge der anderen davor und danach angegebenen Tage auf den 29. Dezember zu bestimmen ist; der Stralsunder Bürgermeister Franz Wessel fasste 1550 eine Schrift ab (Etlike stücke, wo idt vormals im pawesttdhome mit dem godesdenste thom Stralsunde gestahn, beth up dadt jar 1523 etc.), wo es im Stück Van dem advente heißt: „Men hedde ock in dem gebruck bi velen bruvern und beckeren, smeden und sus, de mit vure umbgingen, gebracht, dadt desulven des jars 3 efte 4 mall eine misse holden lethen in s. Brannanius erhe, dadt desulve woll thom vure sehen scholde“; und in derselben Schrift ist etwas ­später von „de III Brandaniesfeste“ die Rede, so dass Grotefend für Pfingsten zu dem Schluss kommt: „Nur vermutungsweise möchte ich wagen, den Brandanustag ohne Beisatz für den Donnerstag nach Pfingsten anzusprechen […]“.80 Nimmt man die Ergebnisse der Historiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und stellt sie neben die Erkenntnisse der jüngeren Literaturwissenschaft, lässt sich ein direkter Zusammenhang ­zwischen Brandankult und -literatur ausmachen. Dass Brandan zu Ehren auch mehrere Messen im Jahr abgehalten wurden, verweist auf eine verstärkte Rezeption der Navigatio-Fassung via ndHL, da die Reise die Feier dieser hohen Kirchenfeste schlicht nicht kennt und sie auch nicht, wie oben bemerkt, aus den irischen Martyrologien herstammen können, w ­ elche ja nur einen Brandanfeiertag kennen. So erklärt sich wohl auch, dass die Reise auf Niederdeutsch, abgesehen von N, nur noch ein weiteres Mal als Streuüberlieferung auf uns gekommen ist (Pl). Diese Version der Brandangeschichte dürfte im norddeutschen Raum verhältnismäßig unbekannt gewesen sein.81 Zudem lässt 79 Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 5. Aufl., Hannover 1922, S. 39. 80 Alle Zitate Grotefend 1909 (wie Anm. 66), Sp. 396 f. Der 29. Dezember wird durch einen weiteren Nachweis bestätigt bei Heinrich Otte: Handbuch der kirchlichen Kunst-Archäologie des deutschen Mittelalters. Bd. 1, Leipzig 1883, S. 563: „Als in Wittstock ein Brand entstand, gelobte die Bürgerschaft, sonderlich die mit Feuer arbeitenden Handwerker, alljährlich am 29. December sein Fest zu begehen“. Eine weitere Datierung auf Brandan, die jedoch nicht genauer zu bestimmen ist, weist Grotefend 1909 (wie Anm. 66), Sp. 396, in einer herzoglich Mecklenburgischen Urkunde von 1497 aus Güstrow nach: „am dage s. Brandani“. 81 Dass das auf den gesamten baltischen Raum übertragbar zu sein scheint, legen Beobachtungen von Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 520, nahe, der die Abbildung Brandans in der ­Kirche von Täby nördlich von Stockholm beschreibt: „It depicts ,Sanctus Brandanus monacus‘ with a book and a flaming torch, standing on a huge, dangerous-looking fish on whose head is placed a black cooking pot“. Diese

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sich so auch der von Strijbosch erkannte Zusammenfall der verschiedenen Osterfesttage in der Navigatio-Übersetzung des ndHL erhellen (siehe Kap. 3.2), der direkt mit den regionalen liturgischen Gegebenheiten in Mecklenburg gekoppelt scheint. Werfen wir im Folgenden einen Blick auf die regionalen Liturgica der Diözese Lübeck. Als Quelle für seine Angabe zu Brandan in der „Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit“ diente Grotefend für den Ort Lübeck der „Liber horarum canonicarum Lubec. (1513), Herzogl. Bibl. Wolfenbüttel“,82 womit nur der lateinische Druck mit dem Titel Liber horarum canonicarum secundum lubicensem diocesim gemeint sein kann, der am 13. September 1513 in Nürnberg bei Georg Stuchs erschien (VD 16 B 8166; USTC 672813) und von dem in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel eines der wenigen erhaltenen Exemplare liegt (unter der Signatur A: 148.14 Theol.).83 Dieser Druck firmiert in der Forschung inzwischen eher unter dem Titel Breviarium Lubicense (BL ) und wurde 1478 das erste Mal von Lucas Brandis 84 in Lübeck aufgelegt (GW 05374; ISTC ib01164100), der im gleichen Jahr die erste Ausgabe des ndHL besorgte (siehe Kap. 3.2). In Auftrag gegeben wurde das BL im Übrigen durch den damals amtierenden Bischof Albert II. Krummendiek.85 Ebenjener Bischof wiederum gab auch das Missale Lubicense (ML) in Auftrag, das 1486 bei Matthäus Brandis, dem anderen Bruder von Lucas Brandis, erschien.86 Es belegt, dass in der Diözese Lübeck im ausgehenden 15. Jahrhundert Messen zu Ehren des Heiligen abgehalten wurden. Die Messe zum hl. Brandan, die bisher in der Brandanforschung nicht bekannt gewesen ist, wird im Folgenden das erste Mal abgedruckt:87 Episode ist, wie Zaenker, ebd., völlig richtig feststellt, so nur in der Navigatio überliefert, nicht jedoch in der Reise. 82 Grotefend 1891 (wie Anm. 66), S. 105. 83 Das Breviarium Lubicense ist schon 1490 bei Stuchs in Nürnberg erschienen (GW 05375; ISTC ib01164300) und stand Grotefend vermutlich nicht zur Verfügung. 84 Isak Collijn: Lübecker Frühdrucke in der Stadtbibliothek zu Lübeck, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 9 (1908), S. 285 – 333, hier S. 291, meint, dass der „Liber horarum canonicarum ecclesiae Lubicensis […], obwohl nicht signiert, unzweifelhaft Lucas Brandis zugeschrieben werden muß“. Vgl. dazu auch Altmann 1974 (wie Anm. 51), S. 50. 85 Vgl. zu Albert II. den Artikel von Heinrich Reincke: Art. Albert II., in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 129. Ebd.: „Ein dauerndes Denkmal setzte er sich durch das monumentale, schon von den Zeitgenossen bewunderte, riesige Triumphkreuz, das er 1477 auf eigene Kosten durch die Meisterhand Bernt Notkes im Lübecker Dom errichtete und auf dem er sich selber in mehr als Lebensgröße als Gegenfigur zu dem trauernden Weltkind Maria Magdalena darstellen ließ“. 86 Altmann 1974 (wie Anm. 51), S. 64: „Die Brandis-Drucker hatten sich als Spezialisten auf dem komplizierten Gebiet der Herstellung von Liturgika ausgewiesen“. 87 Mein Abdruck richtet sich nach dem Exemplar der Stadtbibliothek Lübeck (I.-K. 877), Bl. 232r, das einem Simon Grothe gehörte (Eintrag auf dem Vorsatzblatt: „Simon grothe est possessor huius libri“) und online einsehbar ist unter: http://digital.stadtbibliothek.luebeck.de/viewer/image/IK 877/508/ (11. 03. 2019). Alle Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst. Ich danke insbesondere Monika Prams-Rauner, die mir beim Erstellen der Übersetzung (siehe Anm. 89) geholfen hat.

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Sancti brandani abbatis Collecta: Intercessio nos quaesumus domine beati brandani abbatis commendet. ut quod nostris meritis non valemus. eius patrocinio assequamur. Per dominum.88 Secreta: Sacris altaribus domine hostias suppositas sanctus brandanus quaesumus in salutem nobis prouenire deposcat. Per dominum. Completa: Protegat nos domine cum tui percepcione sacramenti beatus brandanus abbas pro nobis intercedendo, ut conuersacionis eius insignia et intercessionis percipiamus suffragia. Per dominum.89

Wer Anspielungen auf den historischen Brandan oder Hinweise auf individuelle Heiligenattribute erwartet, wird enttäuscht. Man erfährt nicht viel Konkretes. Unterzieht man diese Messe einer genaueren textgeschichtlichen Recherche, stellt man fest, dass man es zudem mit einem interessanten Fall vormoderner Retextualisierung zu tun hat, wie er auch von Hymnen zu Heiligen bekannt ist: Was hier vorliegt, ist keine genuin für Brandan verfasste Messe, sondern sie ,gehörte‘ ehedem dem hl. Benedikt von Nursia und wurde ,umgewidmet‘.90 Das dürfte also bedeuten, dass die Messe des Benedikt eben aufgrund ihrer Unkonkretheit in Bezug auf historische Ereignisse oder Heiligenattribute ohne weitere Änderungen auf Brandan übertragen werden konnte – es musste, wie geschehen, nur der Name ausgetauscht werden.91 Passend ist sie im Lübecker Kontext, da sie die Rolle des irischen Abts als Intercessor und Helfer in der Not in besonderem Maße betont. Die Änderung des „sanctus pater“ in der Navigatio zu „de hillighe vader vnde noethulper sunte Brandanus“ in den Lübecker Drucken des ndHL (siehe Kap. 3.2) lässt sich somit, genau wie die Feier dreier Feste im ndHL statt vier in der Navigatio (wo Ostern nicht zu einem 88 „Per dominum“ steht hier wie im Folgenden abkürzend für die Formel: „Per Dominum nostrum Jesum Christum, Filium tuum: Qui tecum vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti Deus: per omnia sæcula sæculorum. Amen.“ 89 Übersetzung: „Die Messe des heiligen Abtes Brandanus. Die Fürbitte des seligen Abtes Brandanus möge uns, so bitten wir, o Herr, empfehlen, dass wir das durch seinen Schutz erlangen, was wir durch unsere Verdienste nicht vermögen. Durch den Herrn. Der hl. Brandan möge für uns erbitten, dass die Opfergaben, die an den heiligen Altären dem Herrn niedergelegt wurden, uns zum Heil gereichen. Durch den Herrn. Der heilige Abt Brandan möge uns ­schützen durch die Aufnahme deines Sakramentes, o Herr, indem er für uns eintritt, damit wir seinen herausragenden Lebenswandel erfahren und seine Hilfe und Fürsprache erlangen. Durch den Herrn“. 90 Vgl. dazu etwa: The Missal of St Augustine’s Abbey Canterbury with Excerpts from the Antiphonary and Lectionary of the Same Monastery, hg. v. Martin Rule, Cambridge 1896, S. 97, wo die Messe „In translatione sancti Benedicti abbatis“ nahezu denselben Wortlaut aufweist. In erweiterter Form ist sie ­später in das päpstlich abgesegnete Missale romanum (1570) eingegangen. 91 Ein konkreter Anlass für die Wahl der Benedikt-Messe könnte womöglich in der Beliebtheit des Brandanstoffes bei den Benediktinern liegen. Zahlreiche Abschriften der Navigatio stammen aus BenediktinerAbteien: Berge bei Magdeburg (Ha), St. Mang in Füssen (Hr), St. Jakob bei Pegau (L1, L3), Schäftlarn (M3), Benediktbeuern (M7), Polling (M8), Tegernsee (M9), Michaelbeuern (Mb), Montecassino (Mc) usw., vgl. Orlandi, Guglielmetti 2014 (wie Anm. 2), S. CXXXIII–CXLV.

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einzigen Hochfest zusammengezogen wurde), direkt durch die regionalen Kirchenbräuche begründen bzw. andersherum – die genaue Einflussrichtung wird sich im Nachhinein kaum letztgültig ,beweisen‘ lassen, in Frage kommt schließlich genauso gut ein bilateraler Prozess, also eine gegenseitige Durchdringung der kultischen und der literarischen Sphären.92 Nach Williams-Krapp sind „kultische Gegebenheiten […] der Hauptfaktor bei der Erweiterung oder Reduzierung des Urkorpus eines Legendars“,93 was zunächst dafür sprechen würde, dass der Brandankult zuerst Einzug in die norddeutschen Städte hielt und dass er somit der Grund für die Aufnahme der – dann angepassten – NavigatioÜbersetzung in das ndHL war. Womöglich kann hier ein Blick auf die Attribute des Heiligen helfen, die sowohl auf Holzschnitten im ndHL als auch in der gegenständlichen religiösen Kunst des Spätmittelalters in der norddeutschen Region zu finden sind. Ausgangspunkt sollten hierbei die spezi­ fisch für den Brandankult angefertigten religiösen Kunstwerke sein, da die Holzschnitte der Drucke andersartigen Produktionsbedingungen unterworfen sind, was bei ihrer Interpretation beachtet werden muss. Der wohl älteste gegenständliche Nachweis des Brandankults kann für Lübeck geführt werden, wo noch heute im St.-Annen-Museum (derzeit jedoch nicht öffentlich ausgestellt) eine Skulptur aufbewahrt wird, die den Heiligen mit einer langen Stange in der rechten Hand zeigt und um 1440 entstanden ist.94 Was für Albrecht ein „langstielige[r] Bootshaken“ ist, der auf die neunjährige Reise Brandans (und damit auf die Reise-Fassung?) verweisen soll,95 ist für Strijbosch „a fireman’s hook“.96 In ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Funktionsweise 92 Dass sich Ordnung und Art der Einträge im ML nach den lokalen Bedürfnissen richteten, lässt sich über weitere Messen nachweisen: Die Messe Pro nauigantibus (Bl. 215r) verweist auf die dominante Rolle der Stadt als Machtzentrum der Hanse, Contra pestilentiam (Bl. 219r) und Contra pestilentiam et famem (Bl. 220r) sind als direkte Reaktion auf die Pestwellen zu verstehen, die Lübeck im 15. Jahrhundert erreichten, vgl. etwa zur Pest und der damit unmittelbar zusammenhängenden Memento-moriLiteratur und -Kunst Theiß, Wolf 2013 (wie Anm. 76), S. 303. Nicht umsonst gehört der ,Pest-Heilige‘ Rochus seit dem Druck von Arndes 1492 zum ,Sondergut‘ im ndHL, vgl. zur Rolle von Rochus auch Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 354. 93 Ebd., S. 353. Das gelte umso mehr „auf der zweiten Rezeptionsstufe, der dt.-dt. Überlieferung“, in deren Zusätzen – dazu gehört der Brandanteil im ndHL – „besonderes kultmäßiges Interesse“ zu fassen sei, und das erst recht in der Drucküberlieferung, ebd., S. 354. 94 Vgl. Uwe Albrecht: Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur in Schleswig-Holstein. Bd. 1: Hansestadt Lübeck, St.-Annen-Museum, Kiel 2005, S. 168 [Inventarnummer: 1299; Katalognummer: 46]. Ein Foto der Skulptur in Frontalansicht ist online zu sehen unter: http://www.museen-nord.de/Objekt/ DE-MUS-088015/lido/1299 (13. 03. 2019). 95 Albrecht 2005 (wie Anm. 94), S. 168. Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 519, identifiziert ebenfalls einen Bootshaken und findet die Begründung, dass „the manufacture of metal tools for fishing and shipping was one of the main functions of blacksmiths in a coastal township“. 96 Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 186. – Vgl. auch W. P. Gerritsen: In Brandaans kielzog, in: De wereld van sint Brandaan, hg. v. dems., Doris Edel, Mieke de Kreek, Utrecht 1986, S. 71 – 82, hier S. 72, Abb. 32,

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unterscheiden sich die beiden Gegenstände kaum. Während der Bootshaken zum Heranziehen oder Lösen von Knoten benutzt wurde, setzte man den Feuer- bzw. Brandhaken dazu ein, brennende Gebäudeteile oder Mauern zum Einsturz zu bringen. Für die Interpretation Strijboschs spricht zum einen, dass die Reise im Gegensatz zur Navigatio mit ihrer siebenjährigen (!) Meerfahrt, wie bereits festgestellt, im Norden Deutschlands (wie im baltischen Raum generell) eher unbekannt war. Zum anderen wurde die Skulptur wohl auf Veranlassung der Brandanusbruderschaft der Schmiede gefertigt, die in der Petrikirche in Lübeck 1442 „eine dem hl. Brandanus geweihte Kapelle erworben hatten“,97 wo die Skulptur vermutlich bis 1535 stand. Die linke Hand der Skulptur fehlt, weswegen sich keine Aussagen über ein mögliches zweites Attribut des Heiligen tätigen lassen.98 Zu den selbst auferlegten Verpflichtungen der Bruderschaft gehörte es wohl, u. a. Votivmessen zu Ehren Brandans durch einen Geistlichen abhalten zu lassen 99 – eine mögliche Erklärung für die Messe im ML? Das St.-Annen-Museum bewahrt im Übrigen auch ein Armreliquiar des hl. Brandanus auf, das wohl in Lübeck entstanden und auf das Jahr 1463 zu datieren ist.100 Die Verbreitung Brandans als ,Feuer-Heiliger‘ bis in den norddeutschen Raum kann – ebenso wie die Totentanz-Tradition für Lübeck (vgl. Anm. 76) – bis Brügge zurückverfolgt werden: In Bruges, traces of the veneration of Brendan can be seen from as early as 1359: the church of the hospital of O. L. Vrouwe ter Potterie contains an altar dedicated to St Anne and St Brandanus. Devotions here were intended to avert house-fires. The same function must be attributed to the wo der Haken in der Bildunterschrift ebenfalls als „brandhaak“ identifiziert wird. 97 Albrecht 2005 (wie Anm. 94), S. 168. Ebd. heißt es auch: „Eine ikonographisch vergleichbare Darstellung des hl. Brandanus zeigt auch das Siegel der Schmiede aus dem frühen 16. Jahrhundert“. Vgl. zur Bruderschaft der Schmiede in Lübeck auch Hanna Link: Die geistlichen Brüderschaften des deutschen Mittelalters, insbesondere die Lübecker Antoniusbruderschaft, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 20 (1920), S. 181 – 269, hier S. 208. Diese Bruderschaft war „the only one in the Middle Ages known to have been dedicated to St. Brendan as its patron“, so Selmer 1946 (wie Anm. 74), S. 409. 98 Es könnte sich um ein Buch gehandelt haben, wie Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 519, aus einem Bildzeugnis im finnischen Lohja schließen zu können glaubt, das den Heiligen mit einem Haken in der einen und einem Buch in der anderen Hand zeigt. 99 Ebd., S. 518. 100 Vgl. Albrecht 2005 (wie Anm. 94), S. 217 [Inventarnummer: 1936/213; Katalognummer: 73]. Auf einem schmalen Pergamentstreifen steht in roter Schrift „Reliquie s[anc]ti brandani abbatis“, ebd., S. 218. Ein silberner Reliquienhalter vom Ende des 15. Jahrhunderts ist auch für die ­Kirche van Onze Lieve Vrouwe ter Potterie in Brügge belegt, vgl. Gerritsen 1986 (wie Anm. 96), S. 75, Abb. 35. Auf ­solche Reliquien, die im norddeutschen Raum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit noch zahlreicher vorhanden gewesen sein dürften, bezieht sich die Brandanepisode im Eulenspiegel, wo der gleichnamige Held mit dem – natürlich unechten – „haubt sant Brandonus“ predigend durch Pommern zieht, vgl. dazu Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 65, Anm. 382. – Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. xvii.

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fresco in Sint-Jan in ’s Hertogenbosch. The island of Terschelling probably served as a link between the North Sea and the Baltic; the present Brandaris lighthouse there was built in 1594 on the site of a dilapidated chapel of St Brandarius. In North Germany, too, one finds signs of Brendan cult, with the saint invariably linked to fire. One could mention here such places as Güstrow, Schwerin, Wittenburg, Malchin, Wittstock, Parchim, Eixen and Zierzow, where in the 16th century the saint was depicted with a torch or a candle.101

Es besteht also kaum Anlass dazu, die Verehrung Brandans als Heiliger des Feuers bzw. Beschützer vor Feuer unmittelbar auf eine in Norddeutschland greifbare literarische Vorlage zurückführen zu wollen, wie dies etwa noch Lisch 1870 für die Darstellung Brandans mit einer dreiteiligen Kerze auf dem linken Altarflügel des Güstrower Doms von 1495 tat.102 Um das Attribut auszudeuten, zieht er die Ausgabe des ndHL von Petri 1517 heran, wobei er an die Szene denkt, in der der Abt Ailbe und Brandan in der K ­ irche beobachten, wie die Kerzen der Altäre durch ein ,körperloses‘ Licht entzündet werden (N12).103 Dieser Erklärung gegenüber war schon Grotefend skeptisch, der „Anstoß und Veranlassung zu der Verehrung seitens der Feuerarbeiter“ eher im „Namensanklang von Brandanus an Brand“ sehen wollte.104 Diese Herleitung aus einer volksetymologischen Zuschreibung des Namens zu „Brand“ ist nach wie vor die überzeugendste, jene Zuschreibung dürfte demnach 101 A Dictionary of Medieval Heroes. Characters in Medieval Narrative Traditions and Their Afterlife in Literature, Theatre and the Visual Arts, hg. v. Willem P. Gerritsen, Anthony G. van Melle, Woodbridge 2000, S. 67. Weitere Belege zu Brandan in Verbindung mit Feuer finden sich bei Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 185 – 187. – Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 192. – Gerritsen 1986 (wie Anm. 96), S. 73, Abb. 33 [Brandan mit Fackel, Altarskulptur in der ­Kirche von Eixen, 2. H. 16. Jh.]; S. 74, Abb. 34 [Brandan mit Fackel und Buch, Gemälde auf dem Altarflügel in der ­Kirche von Zierzow, Anfang 16. Jh.]; S. 76, Abb. 36 [Brandan mit Brandhaken und brennendem Haus, Medaillon, Glasmalerei auf einer Tür im Kloster van O. L. Vrouwe ter Potterie in Brügge]; S. 77, Abb. 37 [Brandan mit Abtsstab, Brandhaken und brennender ­Kirche, Kupferplatte im Kloster van O. L. Vrouwe ter Potterie in Brügge, 1648]. 102 Georg Christian Friedrich Lisch: Die Domkirche zu Güstrow, in: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 35 (1870), S. 165 – 200, hier S. 173: „Dieser Heilige ist ohne Zweifel der H. Brandanus, Abt. Dies wird auch durch ein handschriftliches Inventarium des Kirchensilbers vom J. 1552, bei der Säcularisierung, bestätigt, in welchem, außer einigen Marienbildern, auch aufgeführt wird: ,Ein silbern Brandanus, mit einer silbern Monstrantze, wiget XI marck XII Loth‘“. Eine Abbildung des Altarflügels findet sich u. a. bei Friedrich Schlie: Die Kunst- und Geschichts-Denkmäler des Grossherzogtums Mecklenburg-Schwerin. Bd. 4, Schwerin 1896, S. 207. – Vgl. zum Altar auch Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 519. 103 Ich zitiere hier nach Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. 74, Z. 6 bis S. 75, Z. 2: „Do se also preken / do quam een vurich schot in een vinster / unde entffengede alle de lampen vor den altaren do vloch dat schot wedder vth dem vinster. Do vragede sunte brandanus. We deyt des morghens de kersen wedder yth. De abbet seede. kum vnde see dat wunder gadhes. Se / du sust de karsen barnen men dar wert nycht van vermynret / wente dat is gheestlyck lycht. Do vraghede sunte brandanus. Wo mach een gheestlick lycht in enem lycham bernen. De abbet antweerde vnde sprack. Hestu nicht ghelesen. dat de busch Moysi brende vp deme berghe Syna / vnde bleef doch vngheserighet“. 104 Grotefend 1909 (wie Anm. 66), Sp. 397.

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aber zuerst im Niederländischen erfolgt und – mit der Verbreitung der Brandandevotion nach Norddeutschland – dort ebenfalls so verstanden worden sein.105 Denn die oben angeführten Nachweise zu Brandan in Verbindung mit Feuer (Brügge, ’s Hertogenbosch) sind – wie die Skulptur in Lübeck – an das Attribut des (Feuer-)Hakens geknüpft.106 Die mit Feuer in Verbindung zu bringenden Attribute (Haken, Fackel, Kerze) auf eine andere Episode in der literarischen Tradition zurückzuführen, nämlich auf die der Schmiedeinsel (N23, R19), wurde schon früher versucht,107 und der Fund einer Marginalie in einer Handschrift aus dem Augustiner Chorherrenstift Bordesholm scheint diese Annahme zu bestätigen (siehe weiter unten). Wenn man von einer Verbreitung der Verehrung B ­ randans als ,Feuer-Heiliger‘ von den Niederlanden nach Osten hin ausgeht, sind zumindest die Attribute Fackel und Kerze wohl als eher sekundär anzusehen, da diese ausschließlich im baltischen Raum auftreten.108 In Zusammenhang mit den Drucken des ndHL ist das Attribut der dreiteiligen Fackel von besonderem Interesse, da Arndes 1492 Brandan mit einer ebensolchen abbildet, die zudem extreme Ähnlichkeit zu der aufweist, die der Heilige auf dem Altarflügel des Güs­ trower Doms hält. Der Holzschnitt bei Arndes, der sich bei den Drucken seines ndHL in der Hoffnung auf höheren Absatz in besonderem Maße nach den kultischen Gegebenheiten vor Ort in Lübeck richtete (siehe oben), könnte unmittelbar von solchen Darstellungen inspiriert worden sein – in jedem Fall ist er ein Ausweis für die Beliebtheit des Heiligen, dem Arndes einen eigenen Holzschnitt angedeihen ließ. Das war mitnichten eine Selbstverständlichkeit, denn Arndes verwendete, was hingegen weniger ungewöhnlich war und wohl aus Kostengründen geschah, für einige andere Heilige dieselben Holzschnitte. Noch bei der Editio princeps von Lucas Brandis 1478 wird Brandan mit Krummstab und einem Buch in der rechten Hand dargestellt. Es ist verlockend, das Buch, das Brandan auf 105 Eine von den Niederlanden nach Norddeutschland und ins Baltikum ausgehende Verbreitung des Brandankults im Spätmittelalter – ohne iroschottischen Einfluss (siehe weiter unten) – vermutete schon Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 517. Inwiefern der Heilige die Namensvergabe in Norddeutschland beeinflusst haben könnte, lässt sich nicht unmittelbar beweisen, doch will die ältere Forschung dafür eindeutige Belege kennen, vgl. u. a. Grotefend 1909 (wie Anm. 66), Sp. 395. – Selmer 1946 (wie Anm. 74), S. 409 und ebd., Anm. 3 mit weiterführender Literatur. Dass der irische Abt sogar der Namensgeber Brandenburgs sein könnte, bringt Carl Selmer: The Origin of Brandenburg (Prussia), The St. Brendan Legend, and the Scoti of the Tenth Century, in: Traditio 7 (1951), S. 416 – 433, ins Spiel. 106 Vgl. dazu die Abbildungen von Charles Michel, 2014, bei Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 187, sowie von Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 526, die die Art der Attribute zum hl. Brandan und ihre Verteilung über Nordeuropa schematisch abbilden. Der Haken ist ansonsten nur noch in Lohja, Finnland, zu finden. 107 Vgl. Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 187. 108 Dazu Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 519: „The iconographical traits in the case of Brandanus are homogeneous: his specific attribute is usually the torch. This is true for the Brandanus painting decorating a pillar of the Gothic church of Fanefjord on the Danish island of Mon […]. It is also clearly recognizable in murals of three formlerly Swedish churches in Southern Finland, those of Hattula, Siuntio and Lohja“.

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Bl. 223r in der Hand hält, auf die Reise – womöglich sogar spezifisch auf die mittelnieder­ deutsche ,Ein-Buch-Konzeption‘ (siehe oben) – zurückzuführen. Das Problem dabei ist, dass St. Johannes dem Abt, der nicht zum ,Sondergut‘ gehört, nur wenige Seiten vor ­Brandan auf Bl. 216v der ­gleiche Holzschnitt zugeordnet wird. Schaut man nun im obdHL bei Zainer 1471/72 nach, dessen Holzschnitte Brandis ja hat nachschneiden lassen, wird man auch hier bei Johannes dem Abt fündig – der Holzschnitt ist lediglich an der Längsachse gespiegelt, ansonsten aber nahezu identisch mit dem von Brandis.109 Das bedeutet, dass der bei Brandis zum irischen Abt zu findende Holzschnitt definitiv sekundär zum Einsatz kam, also genau wie die Benedikt-Messe im ML für Brandan wiederverwendet wurde (und nicht andersherum für Johannes den Abt). Man muss daraus nicht zwangsläufig folgern, dass bei Lucas Brandis ausschließlich praktische Gesichtspunkte für die Zuordnung des Holzschnitts zu Brandan ausschlaggebend waren, aber man sollte zukünftig nach Möglichkeit etwas vorsichtiger sein, was eine direkte Herleitung der Abbildung von der ReiseFassung anbelangt.110 So liefert etwa auch Caxtons englischer Druck der Legenda aurea von 1484, der einen Brandanteil beinhaltet, einen Holzschnitt zum irischen Abt, der dort ebenfalls mit einem Buch in der Hand dargestellt wird. Für Caxton kann die Kenntnis der niederländisch-deutschen Reise-Fassung jedoch mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden.111 Umso erklärungsbedürftiger erscheint das Faktum, dass Brandan überregional, vor allem auch im baltischen Raum, immer wieder das Buch als Attribut zur Seite gestellt wird. Für die Drucker des niederdeutschen Sprachraums, also auch Lucas Brandis, kann man zumindest die Kenntnis der im Druck weitverbreiteten Prosa-Reise annehmen, in der Brandan selbstverständlich wiederholt mit einem Buch abgebildet wird. Es wird sich wohl nicht mehr für jeden Einzelfall rekonstruieren lassen, ob das Buch als individuelles Attribut zum Einsatz kam, was nur im Fall einer Herleitung von der Reise-Fassung stichhaltig wäre, oder eher als allgemeines bzw. Gattungs-Attribut.112 So passen insgesamt 109 Vgl. Augsburg: Günther Zainer, Sommerteil 27.IV.1472 (GW M11402, ISTC ij00156000, WilliamsKrapp d1), das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien ist online einsehbar: http:// digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc=DTL_5574098 (14. 03. 2019). 110 So zuletzt noch Strijbosch 2018 (wie Anm. 4), S. 185: „It is highly likely that the fact that Brendan is depicted with a book as an attribute in Brandis’s Der Hilligen Levent stems from the Voyage tradition, as it is only there that Brendan is associated with a book“; S. 189: „Finally, woodcuts preceding the Brendan chapter in Der Hilligen Levent are evidence of the dual influence of two different Brendan traditions […]“; vgl. zudem ihre Ausführungen ebd., S. 188. 111 Vgl. zum Brandanteil bei Caxton die Einführung zur Edition desselbigen von W. R. J. Barron: II: ­Caxton’s Golden Legend Version, in: The Voyage of St Brendan. Representative Versions of the Legend in English Translation, hg. v. dems., Glyn S. Burgess, Exeter 2005, S. 323 – 327. 112 „Die Schriftrolle od. das Buch verweisen sowohl auf die Lehre Christi (allg. A.) wie auch auf die Lehrfunktion der attribuierten Person (Gattungs-A.)“, Rainer Volp, Lore Kaute: Attribute, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 1, Darmstadt 2012, Sp. 197 – 201, hier Sp. 199. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 519 f., für die Wandmalerei der Marienkirche

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die Attribute, die mit dem Feuer in Verbindung zu bringen sind – also auch die Fackel in Arndes’ ndHL  –, wesentlich besser in die Zeit um 1500 als das Buch, da sie direkt mit der Funktion, die Brandan als ,Feuer-Heiligem‘ in Norddeutschland und darüber hinaus zugeschrieben wurde, korrelieren: Denn neben dem in den Sondergut-Legenden zu erwartenden Niederschlag von lokalen, standesund ordensmäßigen Kultinteressen, spiegeln diese Zusätze [im obdHL und ndHL, Anm. d. Verf.] doch auch das im späten Mittelalter sich verändernde Erscheinungsbild der Heiligenverehrung, wo statt ,Lokal‘-Verehrung die ,Funktions‘-Verehrung in den Vordergrund tritt.113

Ähnlich wie Lucas Brandis nun geht auch Simon Koch bei seinem Magdeburger Druck des ndHL 1487 vor, der die Abbildung von Brandan (Bl. 235r, er steht mit Krummstab in der Linken und eine Segensgeste mit der Rechten vollführend vor einer K ­ irche) wenige Seiten zuvor sowohl für St. Pastor (Bl. 227v) als auch für St. Arsenius (Bl. 229r) verwendet. Johannes der Abt hingegen wird, wesentlich passender zu seiner Geschichte als noch bei Zainer und Brandis, in der Wildnis stehend und nicht mit einem Buch in der Hand dargestellt (Bl. 228r). Adam Petri, der bei seinen Drucken 1511 und 1517 auf die Holzschnitte des Grüninger-Drucks des obdHL zurückgreift (siehe oben), stand ebenfalls keine individuelle Abbildung für den zum ,Sondergut‘ des ndHL gehörenden Brandan zur Verfügung. Er hätte ihn erst neu schneiden lassen müssen. Genau wie Brandis und Koch vor ihm verwendete er daher einfach einen anderen Holzschnitt noch ein weiteres Mal für Brandan. Diesmal steht der Heilige inmitten einer Gruppe Mönche, während eine Taube aus der Höhe auf sie zufliegt (Bl. 240r des Sommerteils; so auch bei St. Vincencius auf Bl. 242r des Winterteils zu sehen). Aus Sicht der Drucker war es je nach Zielpublikum aus Kostengründen oft eher sinnvoll, für die etwas unbekannteren Heiligen Abbildungen zu ,recyceln‘, die nicht absolut unpassend waren, als neue schneiden zu lassen, die absolut passend zur Geschichte des jeweiligen Heiligen waren – auch die Taube (der Heilige Geist) ließe sich mit viel gutem Willen einer Episode in der Navigatio zuordnen (N11 = die Insel mit dem Vogelbaum). Das obdHL wie das ndHL gehörten ohnehin schon „von Umfang und Ausstattung her sicher zu den aufwendigsten Produkten der Offizinen“,114 was die Drucker immer wieder zur Vermeidung weiterer Kosten veranlasst haben dürfte.

in Helsingborg: „Were it not for the name ribbon clearly inscribed above his head this mural would not be identifiable. It displays only ,generic‘ attributes: the habit, the crozier and perhaps a maniple and a book“. 113 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 354. 114 Ebd., S. 305.

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4. Brandan – im Süden ein ,Papierheiliger‘? 115 Während sich die ursprünglich mittelfränkische Reise-Fassung ab ca. 1150 von der Gegend südlich Kölns sowohl nach Nord-, Mittel- und Süddeutschland wie nach den Niederlanden ausbreitete,116 kamen Übersetzungen der lateinischen Navigatio-Fassung ins Deutsche erst sehr spät auf und entstanden zudem ohne gegenseitige Kenntnisnahme bzw. Beeinflussung. Von welcher Vorlage Lucas Brandis 1478 seinen Brandanteil für das ndHL übersetzte bzw. übersetzen ließ, ist nach wie vor nicht geklärt. Eine oberdeutsche Quelle kann, wie gesagt, mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden – zwar gab es oberdeutsche Übersetzungen der Navigatio, doch war diesen keine weitreichende Rezeption beschieden (siehe dazu weiter unten). Auch existiert eine niederländische Übersetzung des lateinischen Texts aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, no. 1690, 8 J. 33, Bl. 31r–67v, Leven ende pelgrimadse des heiligen abts Brandanus),117 doch scheidet diese als unmittelbare Vorlage für den niederdeutschen Text ebenso aus.118 Wenn Neufunde das Bild der Überlieferung nicht entscheidend verrücken, wird es vorerst am überzeugendsten sein, eine lateinische Vorlage anzunehmen, zumal das 15. Jahrhundert „einen neuerlichen Höhepunkt in der Überlieferung der Nav. dar[stellt], etwa ein Viertel aller heute bekannten Hss. gehört ihm an“.119 Zu diesen zählt etwa auch die Papierhandschrift Kl1 (Kiel, Universitätsbibliothek, Bordesholm 27 4°, fr. 4, Bl. 1r–21v, um 1476, Holstein), ein Textzeuge, der nur die lateinische Navigatio enthält und aus dem gerade einmal 70 Kilometer von Lübeck entfernten Augustiner Chorherrenstift Bordesholm stammt.120 Ebenfalls aus Bordesholm stammt die Papierhandschrift Kl2 (Kiel, Universitätsbibliothek, Bordesholm 5b °4, f. 329r–350v, 1510), eine direkte Abschrift von Kl1 durch Johannes

115 Der Terminus stammt von Konrad Kunze: Papierheilige. Zum Verhältnis von Heiligenkult und Legendenüberlieferung um 1400, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/87), S. 53 – 64. 116 Vgl. Strijbosch 2000 (wie Anm. 1), S. 11. 117 Vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 57. Eine Edition ist greifbar durch Henri Ernest Moltzer: Levens en legenden van heiligen. Deel I. Brandaen en Panthalioen, Leiden 1891, und auch online verfügbar: https://www.dbnl.org/tekst/molt001leve01_01/colofon.php (15. 03. 2019). Die Handschrift stammt ursprünglich aus dem Utrechter Bistum und „ist ansonsten mit der Hs. S 2054 der Bonner UB eng verwandt“, so Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 172, Anm. 24, in welcher jedoch kein Brandantext zu finden ist, vgl. auch die Angaben zur Bonner Handschrift in Jürgen Geiß: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Berlin 2015, S. 326 f. 118 Auch Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 307, kommt zu dem Schluss, dass die Zusätze in Brandis’ ndHL „nicht aus der S[üd]mndl. oder N[ord]mndl. und wahrscheinlich auch nicht aus der Nd. LA“ herstammen. 119 Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 204, Anm. 68. 120 Vgl. Orlandi, Guglielmetti 2014 (wie Anm. 2), S. CXXXVI; vgl. auch die online stehende Beschreibung durch Kerstin Schnabel; http://diglib.hab.de/?db=mss&list=ms&id=ki-ub-bord-27&catalog=Schnabel (09. 04. 2021).

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cum Naso de Plone,121 der diese auch in Bordesholm abfasste. In ihrer Editio maior der Navigatio aus dem Jahr 2017 bemerkt Rossana Guglielmetti: „Nel margine inferiore del f. 345v, nell’episodio dell’isola dei fabbri, è annotato: De fabris quorum sollemnisant (?) festum beati brandani.“ 122 Der vom Schreiber Johannes Nese selbst stammende, am unteren Rand der Handschrift zu findende Hinweis zu Beginn der Schmiedeinsel-Episode, dass die Schmiede ein Fest zu Ehren Brandans feiern, stellt eine direkte Verbindung zur weiter oben bereits angeführten Bruderschaft in Lübeck und damit zum Kult des Heiligen selbst her (obschon Bordesholm vor 1490 zur Diözese Bremen gehörte, wo Brandan nicht verehrt wurde 123). Und auch der Einzelstempel auf dem Lederbezug des Holzdeckels aus der Werkstatt „Lübeck, Schwedischer Buchführer“ (EBDB w000905) erhärtet diesen Verdacht.124 Vergleichende textkritische Untersuchungen, die womöglich einen endgültigen Beweis dafür erbringen können, dass die mittelniederdeutsche Übersetzung der Navigatio im ndHL aus einer lateinischen Handschrift aus der Nähe Lübecks stammt, fehlen hier bislang und müssten zukünftig noch geleistet werden. Sie würden nicht nur die Brandanforschung einen Schritt weiterbringen, sondern auch neues Licht auf die Arbeitsweise der Offizinen im norddeutschen Raum werfen. Wie bereits festgestellt, gehörte die Übertragung der Navigatio zwar in Norddeutschland zum ,Sondergut‘ des ndHL, das dort acht Mal aufgelegt wurde, im Süden ging jedoch kein Text des Brandancorpus in das obdHL ein, das dort immerhin 33 Mal gedruckt wurde.125 Das ndHL steht so quantitativ zwar dem obdHL deutlich nach, doch sind die Überlieferungszeiträume nahezu deckungsgleich. Lucas Brandis brachte seine Editio princeps des 121 Johannes nennt sich selbst im Explicit von Kl2: Expliciunt legende sanctorum confessorum quas frater Johannes cum Naso presbiter professus in Bardesholm ordinis canonicorum regularium sancti Augustini complevit die beati Francisci confessoris anno domini 1510. Oretis dominum deum pro me unum Ave Maria propter deum (zitiert nach der derzeit online stehenden Neubeschreibung durch Kerstin Schnabel; http://diglib.hab. de/?db=mss&list=ms&id=ki-ub-bord-5b&catalog=Schnabel [09. 04. 2021)]. Ich danke Kerstin Schnabel für ihre weiteren Auskünfte bezüglich der Handschrift: „Brandan wird im Kalendar von Cod. ms. Bord. 5b nicht erwähnt. Aber für die liturgische Verehrung hätte das auch keine Aussagekraft, denn ­dieses nichtliturgische Kalendar bezieht sich nur auf den Inhalt der Handschrift und die dortige Auswahl der Bekennerviten weicht von den liturgisch verehrten ab. Die Aufnahme der Navigatio in die Handschrift Cod. ms. Bord. 5b scheint erst nach Abschluss des alphabetischen Registers und des Kalendars erfolgt zu sein. Im alphabetischen Register der Bekenner ist Brandan ein Nachtrag. Das könnte erklären, warum er nicht im Kalendar erscheint“ (E‑Mail vom 19. 09. 2019). 122 Siehe Navigatio Sancti Brendani, editio maior a cura di Rossana E. Guglielmetti, testo critico di ­Giovanni Orlandi e Rossana E. Guglielmetti (Millennio Medievale 114, Testi 29), Firenze 2017, S. 30. Ich danke Rossana Guglielmetti für das Digitalisat der entsprechenden Seite, das sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. 123 Das Chorherrenstift schloss sich zudem 1490 der Windesheimer Kongregation an und auch die Windes­ heimer verehrten Brandan nicht. 124 Vgl. Schnabel (wie Anm. 121). 125 Vgl. Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 188.

Die mittelniederdeutschen Brandaniana | 213

ndHL nur sechs Jahre nach der des obdHL von Günther Zainer 1472 (Winterteil) heraus und Adam Petris Ausgabe des ndHL von 1517 gehört mit zu den letzten Auflagen ­dieses Legendars überhaupt.126 Vor der Entstehung des ndHL existierten bereits zwei frühneuhochdeutsche Übersetzungen der Navigatio, die beide weder weit über ihren Entstehungszeitraum noch ihren Entstehungsort hinauswirkten, wenn man die Überlieferungszeugen befragt. Eine unikal erhaltene stammt von dem Kartäuser Heinrich Haller (Innsbruck, Universitätsbibliothek, Cod. 979, Bl. 49v–81v, Von der wandrung und pillgramschaft des heyligen Wrendani, nach 1473)127 und ist mit ziemlicher Sicherheit in Zusammenhang mit den reformatorischen Bestrebungen des Ordens im Zuge der Devotio moderna enstanden.128 Für die andere zeichnet J­ ohannes Hartlieb wohl noch vor 1450129 verantwortlich; sie wird durch insgesamt vier Textzeugen repräsentiert.130 Diese Übersetzung wiederum verdankt sich in erster Linie einem Klima ­extremer Laienfrömmigkeit sowie frühhumanistischen Tendenzen am Münchener Wittelsbach-­Hof,131 obschon Handschrift D, die dem dortigen Rentmeister Mattheus Brätzl gehörte, mit zahlreichen Reiseberichten eine Mitüberlieferung aufweist, w ­ elche ein vordergründig geo- und ethnographisches Interesse an der Version Hartliebs offenbart.132 Anzeichen dafür, dass diese Übersetzung über die Münchener Hofkreise hinaus­gewirkt haben könnte, sind allerdings nicht auszumachen.

126 Das obdHL wurde im gleichen Jahr, also 1517, noch einmal durch Johann Knoblouch in Straßburg sowie durch Johann Miller in Augsburg aufgelegt, der Druck von Martin Flach in Straßburg setzt 1521 als extrem ­später Ausläufer dieser Druck-Tradition den Schlusspunkt, vgl. ebd., S. 238. 127 Vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 57. 128 Vgl. dazu Sebastian Holtzhauer: Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum. Untersuchungen ausgewählter Retextualisierungen des Brandancorpus von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert: mit einer Edition der Münchener Prosafassung der Reise des hl. Brandan (Pm). Göttingen 2019. 129 Vgl. zur Datierung Frank Fürbeth: Johannes Hartlieb. Untersuchungen zu Leben und Werk (Hermaea 64), Tübingen 1992, S. 77. 130 Hs. A = München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. germ. Mon. 301, Bl. 235r–262r, Legend Sand Brandan (1457 oder vor 1468); Hs. B = München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. germ. Mon. 385, Bl. 153r–187r, Legend Sand Brandan (1457 oder früher); Hs. C = München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. germ. Mon. 689, Bl. 85r–116r, Legend Sand Brandan (Kolophon: 1457, Abschrift für den Prior Johannes von Schäftlarn); Hs. D = München, Stadtbibliothek, Cod. L 1603 (früher 4° M. Mon. 22; davor Nürnberg, Stadtbibliothek, Solg. Ms. 34.2°), Bl. 61r–86r, Legend Sand Brandan (1458 oder früher), vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 57. Sowohl die Übersetzung Heinrich Hallers als auch die von Johannes Hartlieb sind in der Edition Zaenkers von 1987 (wie Anm. 28) zu finden. 131 Vgl. Fürbeth 1992 (wie Anm. 129), S. 241. 132 Vgl. Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. xvii f. – Sebastian Holtzhauer: „In dir gemessen gewegen vnd ­gezcalt sind alle ding“. Zahlen, Zyklen und ihr Symbolgehalt in der Legend Sand Brandan des J­ ohannes Hartlieb, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144 (2015), S. 178 – 202, hier S. 194 f.

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Auf einem ebensolchen Interesse an fernen Orten und Völkern dürften auch die Drucke der Prosafassung der Reise beruht haben, von der es im oberdeutschen Raum insgesamt 25 Auflagen gab (im niederdeutschen Raum keine einzige), wobei bereits die Editio princeps von Anton Sorg 1476 in Augsburg teilweise zusammen mit dem Herzog Ernst sowie dem Reisebuch Hans Schiltbergers herausgegeben wurde.133 In Augsburg sog man wissbegierig alle Neuigkeiten zu den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen auf, bevorzugt über das Medium des Druckes. Diese Berichte kamen „einerseits dem großen Interesse der Augsburger Bevölkerung an Kuriosem und Exotischem“ entgegen, eröffneten „andererseits aber auch den Kaufleuten der Stadt die Aussicht auf spektakuläre Profite“.134 Ein solches, vordergründig ,weltliches‘ Interesse an der Prosa-Reise geht den vier oberdeutschen Handschriften ab, wenn man ihre Mitüberlieferung als Indiz für die Lesart der Reise auffasst.135 Für die Handschrift Ph wurde bereits ein verstärktes laikales Interesse an den Jenseitsorten (vor allem am Fegefeuer) nachgewiesen.136 War der hl. Brandan im süddeutschen Raum also bloß ein ,Papierheiliger‘ oder wurde er dort tatsächlich verehrt? Pauschal ist diese Frage kaum zu beantworten, aber eines dürfte nach den Arbeiten von Schreiber aus den 1950er Jahren feststehen: Der Brandankult – das heißt in dem Fall: auch die Verbreitung der Navigatio – ging in Süddeutschland (genau wie 133 Vgl. Elisabeth Geck: Buchkundlicher Exkurs zu Herzog Ernst, Sankt Brandans Seefahrt und Hans Schiltbergers Reisebuch, Wiesbaden 1969, S. 9. 134 Mark Häberlein: Monster und Missionare. Die außereuropäische Welt in Augsburger Drucken der frühen Neuzeit, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Helmut Gier, Johannes Janota, Wiesbaden 1997, S. 353 – 380, hier S. 353. 135 Es sind dies die Handschriften Pb = Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. quart. 1113, Bl. 97v–106r, letztes Viertel 15. Jahrhundert; Pg = Gotha, Forschungs- und Landesbiblio­ thek, Cod. Chart. A 13, Bl. 54r–63r, Anfang 15. Jahrhundert; Ph = Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 60, Bl. 157ar–184r, ca. 1460; Pm = München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 688, Bl. 230v–260r, drittes Viertel 15. Jahrhundert, vgl. Burgess, Strijbosch 2000 (wie Anm. 3), S. 60 f. 136 Vgl. Sebastian Holtzhauer: Retextualisation through Contextualisation. The German Reise (Voyage of St Brendan) and the ,Purgatory Narrative‘ in the Codex Palatinus Germanicus 60 of the University Library Heidelberg, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 78 (2018), S. 46 – 74. – Vgl. eine ausführlichere Darstellung bei Holtzhauer 2019 (wie Anm. 128). Eine Verehrung des irischen Abts im Zusammenhang mit dem Fegefeuer kann ich im norddeutschen Raum nicht ausmachen. Zwar gibt es etwa in Lübeck seit 1324 eine Straße mit dem Namen „Veghvur“, doch sehe ich hier keine Verbindung zum ,Feuer-Heiligen‘ Brandan, siehe zur Geschichte der Straße Wilhelm Brehmer: Die Straßennamen in der Stadt Lübeck und deren Vorstädten, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 6 (1892), S. 1 – 48, hier S. 17: „Plata parva, quae ducit ad sanctum Nicolaum de platea molendinorum 1296, Platea Veghvur 1324. Die Straße führt zur derjenigen Thür der Domkirche, vor der sich als Vorbau das sogenannte Paradies befindet“. – Max Hoffmann: Die Straßen der Stadt Lübeck. Mit einer Karte, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde 11 (1909), S. 215 – 292, hier S. 239: „Fegefeuer, 1324, platea Veghevur, ein im Volksmunde entstandener Name für die kurze Straße, die von der Mühlenstraße zu der Paradies genannten Nordvorhalle des Doms führt. Derselbe Name findet sich in Stralsund“.

Die mittelniederdeutschen Brandaniana | 215

in Mitteldeutschland) von den zahlreichen iroschottischen Klöstern aus, die in zwei Gründungswellen Europa ergriffen. Die (nach wie vor) älteste Handschrift L1, die aus St. Maximin in Trier stammt,137 veranlasste schon Selmer dazu, in Trier „den Ausgangspunkt der Legende auf dem Kontinent“ 138 zu sehen. So scheint im Übrigen auf dem Kontinent der mittelfränkische Raum sowohl für die Navigatio also auch für die Reise den Ausgangspunkt zu bilden, wenn auch zeitlich deutlich versetzt – eine bloße Koinzidenz oder ein direkter Zusammenhang? Das wird sich rückblickend kaum noch klären lassen. Wie dem auch sei, die Verbreitung der Brandanverehrung sieht Schreiber vor allem getragen durch die größeren Flussläufe: Im Hochmittelalter erfolgten weitere Gründungen des 11. und 12. Säkulums im Stromgebiet des Main und der Donau. […] An der Einbürgerung und Werbung dürften die iroschottischen Niederlassungen auch der zweiten Wanderwelle einen wesentlichen Anteil genommen haben.139

Dem Bamberger Festkalender gehörte Brandan seit dem 11. Jahrhundert an 140 und „ein Regensburger Kalendar des 11. und 12. Jahrhunderts verzeichnet ein Gebet, als dessen Verfasser Brandanus angesprochen wird“.141 Weitere Untersuchungen in ­diesem Bereich stehen seit Schreiber aus, vorläufig lässt sich vorsichtig formulieren, dass die Devotion des Heiligen in Süd- wie Mitteldeutschland zunächst wohl auf das monastische Umfeld, also den Ordensklerus, beschränkt blieb. Immerhin sind alle von Schreiber aufgeführten Belege zu Brandan (Gedichte, Gebete usw.) auf Latein verfasst und entstammen Klöstern bzw. Abteien. Dem entspräche schließlich auch die Tatsache, dass der Brandanstoff mindestens bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts – je nachdem, wann man das Original der Reise ansetzt – im deutschen Sprachraum nur in Form der Navigatio und damit ebenso ausschließlich auf Latein verfügbar war. Im Spätmittelalter ist hingegen in Süd- und Mitteldeutschland keine auch nur ansatzweise dem Norden ähnliche Devotion zu erkennen, die, getragen von der Devotio moderna sowie dem Weltklerus, das städtische Bürgertum und damit die Laienbrüderschaften erfasst hätte.142 137 138 139 140

Vgl. Orlandi, Guglielmetti 2014 (wie Anm. 2), S. CXXXVI. Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 66. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 70. – Georg Schreiber: Der irische Seeroman des Brandan. Ein Ausblick auf die KolumbusReise, in: Festschrift Franz Dornseiff zum 65. Geburtstag, hg. v. Horst Kusch, Leipzig 1953, S. 274 – 290, hier S. 281. 141 Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 72. 142 Vgl. auch Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 522, zum Brandankult im norddeutschen Raum: „A ,Wanderkult‘ without a home base, as it were (a central shrine or an institutionalized place in the official church organization), the veneration of St. Brendan the Navigator was propagated and sustained mainly by the non-clergy, by lay confraternities and trade guilds, in compliance with their local church authorities“.

216 | Sebastian Holtzhauer

Das literarische Profil des irischen Abts und sein Kult entwickelten sich im Norden, das konnte aufgezeigt werden, unabhängig von den Tendenzen im südlichen Deutschland.143 Am weitesten verbreitet – via ndHL – war im niederdeutschen Sprachraum die NavigatioFassung. Dass diese durch Petri 1517 auch in Basel gedruckt wurde, führte zu einem literaturgeschichtlich eher selten zu verzeichnenden Ereignis (zumindest abseits der Gattung der Sachliteratur) – nämlich zur Übersetzung ­dieses niederdeutschen Brandantextes ins Hochdeutsche durch Valentin Forster für Gabriel Rollenhagens enorm erfolgreiche Vier Bücher Wunderbarlicher bis dahin unerhörter / und unglaublicher indianischer Reysen durch die Lufft/ Wasser/ Land/ Helle/ Paradiss/ und den Himmel, das in Magdeburg zuerst 1603 durch Johan Bötcher gedruckt wurde.144 Etwas vorsichtig kann man diesen Umstand als Bestätigung dafür werten, dass die oberdeutschen Übersetzungen durch Haller und Hartlieb in der Tat rezeptionsgeschichtlich recht wirkungslos blieben. Denn näherliegend wäre es für Rollenhagen doch gewesen, wenn er schon nicht auf eine lateinische Vorlage zurückgriff, von denen es immer noch genug gegeben hat, eine oberdeutsche Übersetzung der lateinischen Navigatio heranzuziehen. Dass Rollenhagens Übersetzung der niederdeutschen Navigatio „nur scheinbar“ von „Geringschätzung gegenüber dem überkommenen Stoff gekennzeichnet ist“ und „der Text selbst keine nennenswerten Abweichungen von der niederdeutschen Vorlage oder gar polemische Einschübe enthält“,145 ist für diese Zeit bereits außergewöhnlich. Gerade die nachreformatorische Zeit sieht in den Erzählungen um den irischen Abt meist nur eine Fundgrube zur religiösen Polemik gegen die Katholiken – die ,Legende‘ gerät zur 143 Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 69, suggeriert dem Leser, dass das in Mitteldeutschland liegende, von den Iroschotten stark beeinflusste Erfurt an der Vermittlung des Kults in den Norden beteiligt gewesen ist: „Zum anderen mag man bedenken, daß gerade die wichtigste Stadt des Thüringer Vorlandes ein bedeutender Verkehrsmittelpunkt ist, auch für Straßenzüge, die zur Ostsee und Nordsee führen, zwei Seegebieten, die Brandan als Schutzherrn des Meeres kannten und Kultstätten aufrichteten“. Zum einen kann das Vorhandensein dieser Straßenzüge nicht als Beweis für eine Verbreitung durch die Iroschotten herhalten, zum anderen lassen sich nur indirekte Beleg dafür finden, dass Brandan als Schutzherr des Meeres verehrt wurde, vgl. etwas Zaenker 1990 (wie Anm. 5), S. 520, hingegen sehr wohl direkte dafür, dass er als ,Feuer-Heiliger‘ verehrt wurde (siehe oben). 144 Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. xix: „Rollenhagen gibt […] seine Quelle an, nämlich das ,Sechsische Passional/ gedruckt zu Basel/ durch Adam Petri/ im Jahr 1517‘“ und ebd., S. xx f.: „Es zeigte sich, daß die hochdeutsche Fassung in Rollenhagens Buch äußerst eng der niederdeutschen Vorlage folgt, hier und da etwas kürzt und oft nur die niederdeutsche Lautform ins Hochdeutsche umsetzt. Diese übersetzerische Leistung erforderte kein größeres poetisches oder linguistisches Talent“. – Vgl. auch Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 206, Anm. 73. 145 Ebd., S. 220. Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. xxi, der die Widmungsvorrede mit ins Kalkül zieht, sieht das entsprechend anders: „Aus Rollenhagens Werk sprechen sowohl studentischer Übermut als auch anti-katholische Polemik“. – Vgl. auch Sankt Brandan. Zwei Frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die Brandan-Legende aus Gabriel ­Rollenhagens Vier Büchern Indianischer Reisen, hg. v. Rolf D. Fay (Helfant Texte 4), Stuttgart 1985, S. IX f.

Die mittelniederdeutschen Brandaniana | 217

,Lügende‘ (Luther).146 Dieses Schicksal teilten insbesondere auch das obdHL und das ndHL , „womit eine zweite Rezeptionsphase für diese Werke beginnt“.147 Hieronymus Rauscher, der für Williams-Krapp in dieser Hinsicht als charakteristisch gilt, stellt mit seinen Centurien keine Ausnahme dar.148 Auch für Rauscher sind die überkommenen Legendare ein Quell der Inspiration für seine Angriffe gegen die päpstlichen Lehren. Und es dürfte kein Zufall sein, dass hier noch einmal die Fäden der Brandangeschichte (durchaus im doppelten Wortsinn) zusammenlaufen, denn Rauscher wählt den irischen Abt als Ziel für seinen Spott über den naiven Glauben der Katholiken. Im Exempel „Wie einer Meß auff einem grossen Fisch helt“ nimmt er die Episode N10 (in der Reise R5) aufs Korn, die er zuerst knapp wiedergibt, um sie dann in Form einer seiner vielen ,Erinnerungen‘ zu desavouieren: Dise Fabel gehört auch inn Esopus Buch / vnd zu aller öberst auff den Lügenberg / Dann wer wolt glauben / er sey dann gar vnsinnig / das ein Fisch im Meer als ein Insel sein sol / Aber die Meß thut das best dabey / das dise nicht ersauffen / noch vom Fisch verschlungen werden / derhalben sol sich forthin keiner auff keinen solchen grossen Fisch wagen / Er hab dann einen Bischoff bey jm der Meß darauff lesen könne / er müste sonst ertrincken / Also merck abermal warzu die Bäpsliche Meß gut sey.149

Nur etwas s­ päter als Rollenhagen, nämlich im Jahr 1621, schreibt der Abt Kaspar Plautz unter dem Decknamen Honorius Philoponus im weit entfernten niederösterreichischen Stift Seitenstetten seine Nova typis transacta navigatio, die sich mit der zweiten Kolumbusfahrt befasst.150 Hier ist Brandan nicht nur auf dem Titelbild zu sehen (mit Abtsstab und Palme als Attribut des Überseegebietes), sondern auch auf dem berühmt gewordenen Stich des Atlantischen Ozeans: in der Mitte ein riesiger Fisch, auf dessen Rücken von Geistlichen eine Messe zelebriert wird. Schreiber fühlt sich völlig zu Recht „an die Ostermesse in der Vita des Machutus erinnert“ und gedenkt unwillkürlich „der Schilderungen von 146 Vgl. in Bezug auf Brandan zusammenfassend dazu Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 219 f. – Zaenker 1987 (wie Anm. 28), S. xvii. 147 Williams-Krapp 1986 (wie Anm. 27), S. 374. 148 Vgl. ebd., S. 373. 149 Zitiert nach der online stehenden Ausgabe Regensburg 1562, Geißler (Exemplar Regensburg, Staatliche Bibliothek, 999/4 Theol. syst. 646[2]); http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11071421-0 (27. 03. 2019). Den Hinweis auf die bisher in der Brandanforschung scheinbar noch nicht entdeckte Stelle verdanke ich Katharina Koitz. Rauscher bezieht sich allerdings nicht auf das ndHL, sondern auf eine lateinische Quelle: Zu Beginn des Exempels steht am Rand „Ex Vitis Sanctorum“, was zunächst nicht weiterhilft. Auffallend an der Version Rauschers ist jedoch, dass er einen speziellen Überlieferungszweig der Navigatio wiederzugeben scheint, in welchem St. Malo (Maclovius, Machutus, Machutius) als Schüler Brandans dargestellt wird. – Vgl. dazu u. a. Hahn, Fasbender 2002 (wie Anm. 1), S. 191, Anm. 9. 150 Vgl. Schreiber 1956 (wie Anm. 65), S. 75 – 79, hier insbesondere S. 75.

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­Brandan“.151 Weit entfernt vom reformierten Norden kann Brandan noch als ernstgenommenes und ernstzunehmendes Exempel eines Heiligen dienen. Hier habe, wie ­Schreiber bemerkt, die Brandanvorstellung in das 17. Jahrhundert gegriffen, im erzkatholischen Spanien sogar bis ins 18. Jahrhundert.152

151 Ebd., S. 78 f. (Hervorhebungen im Original). Beide Stiche sind im Übrigen bei Schreiber, ebd., S. 111 und S. 113, abgedruckt. 152 Ebd., S. 76. Gleichwohl haben die Bollandisten Brandan nicht mit in ihre Acta Sanctorum aufgenommen. Nachtrag: Wichtige Erkenntnisse zum Thema des vorliegenden Beitrags, die kurz vor Drucklegung nicht mehr eingearbeitet werden konnten, steuern auch zwei jüngst erschienene Aufsätze bei: (a) Rossana Guglielmetti: Reading the Navigatio Brendani in the Middle Ages: Text and Contexts (and a Lost Fragment Recovered), in: St. Brandan in europäischer Perspektive – St. Brendan in European Perspective. Textuelle und bildliche Transformationen – Textual and Pictorial Transformations, hg. v. Jörn ­Bockmann, Sebastian Holtzhauer (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 24), Göttingen 2022, S. 105 – 133; (b) Clara Strijbosch: Brendan’s Endless Voyage. Late-medieval Brendan Veneration along the Coasts of the North Sea and the Baltic Sea, in: St. Brandan in europäischer Perspektive – St. Brendan in European Perspective. Textuelle und bildliche Transformationen – Textual and Pictorial Transformations, hg. v. Jörn Bockmann, Sebastian Holtzhauer (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 24), Göttingen 2022, S. 195 – 217.

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Christian Scholl

Zwischen Gewohnheit und Konstruktion Regionalität in der mittelalterlichen Sakralarchitektur im norddeutschen Raum

1. Kunstlandschaft: Identität als Utopie In der kunsthistorischen Forschung sind die Fragen, die sich beim Thema Regionalität stellen, lange Zeit vor allem anhand des Konzepts der ‚Kunstlandschaft‘ verhandelt worden. Dieses fand in den 1920er und 30er Jahren Eingang in die Kunstgeschichtsschreibung und wird zum Teil bis heute gebraucht, ist aber auch immer wieder hinterfragt worden.1 Problematisch ist dabei insbesondere die Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie, wie sie auch von den Nationalsozialisten vertreten wurde.2 Insofern erstaunt es wenig, dass das Konzept ‚Kunstlandschaft‘ unmittelbar nach 1945 zunächst einmal keine bedeutende Rolle in der kunsthistorischen Forschung spielte.3 Erst 1960 wurde es von Harald Keller eher unreflektiert in dem Buch Die Kunstlandschaften Italiens reaktiviert und danach wieder vermehrt gebraucht.4 In den letzten Jahrzehnten ist es zu einer verstärkten Reflexion über die Praktikabilität ­dieses Ansatzes gekommen. Exemplarisch sei hier nur der 2008 von Peter Kurmann und Thomas Zotz publizierte Band Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter angeführt.5 Unabhängig davon feierte und feiert der Begriff ‚Kunst­ iesem Feld scheint das in d ­ iesem landschaft‘ Urstände in der Reiseliteratur.6 Gerade auf d Konzept potentiell enthaltene Versprechen einer identifikatorischen Verbindung von Landschaft, Menschen und Kunst immer noch eine besondere Anziehungskraft zu entfalten. Die Vorstellung, dass regionale Kunst unbewusst und vermeintlich ‚natürlich‘ aus einer 1

2 3 4 5 6

Vgl. u. a. Brigitte Kurmann-Schwarz: Zur Geschichte der Begriffe ‚Kunstlandschaft‘ und ‚Oberrhein‘ in der Kunstgeschichte, in: Historische Landschaft – Kunstlandschaft? Der Oberrhein im späten Mittelalter, hg. v. Peter Kurmann, Thomas Zotz (Vorträge und Forschungen. Herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. 68), Ostfildern 2008, S. 65 – 68. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd. Harald Keller: Die Kunstlandschaften Italiens, München 1960. Vgl. hierzu Kurmann-Schwarz 2008 (wie Anm. 1), S. 68. Kurmann, Zotz 2008 (wie Anm. 1). Vgl. u. a. Bernd Fischer: Tirol. Nordtirol und Osttirol. Kunstlandschaft und Urlaubsland an Inn und Isel, Köln 1981. – Gerhard Körner: Kunstlandschaft Lüneburger Heide, München, Zürich 1985.

Zwischen Gewohnheit und Konstruktion | 221

geographischen Determination entsteht, erweist sich mithin als Kern, aber auch als Crux des Konzepts ‚Kunstlandschaft‘. Umso wichtiger erscheint ein Nachdenken über Modelle von Regionalität, die sich von ­diesem Identitätsversprechen distanzieren. Gleichzeitig lohnt es sich, das Konzept ‚Kunstlandschaft‘ nicht einfach nur zu umgehen, sondern nach seiner historischen Funktion für die Kunst und Kunsthistoriographie im frühen 20. Jahrhundert zu fragen. Die Idee einer vermeintlich unbewussten Verbundenheit ­zwischen regionaler Umgebung, den dort lebenden Menschen und der von diesen Menschen geschaffenen Kunst hat hier eine längere Vorgeschichte. Sie entspringt einem kulturgeschichtlichen Denken, das bereits im 18. Jahrhundert in die Kunsthistoriographie implementiert wurde und das im 19. Jahrhundert nicht zuletzt die Suche nach Nationalstilen angetrieben hat.7 Im Historismus mündete diese Suche in einen kaum noch überblickbaren Stilpluralismus. Und dementsprechend hatte die Vorstellung einer Identität von Landschaft, Menschen und Kunst um 1900 vor allem den Charakter einer Utopie. Sie war ein Ideal, das man vergangenen Epochen wie dem Mittelalter unterstellte und für die eigene Zeit als erstrebenswertes Ziel vor Augen hielt, um aus dem Geflecht der vermeintlich willkürlichen Wahloptionen des Historismus hinauszugelangen.8 Entsprechend einfallsreich waren die Strategien, die vermeintlich verloren gegangene Identität zurückzugewinnen. Zu den bemerkenswertesten Versuchen einer gezielten Identitätseinübung zählt das sogenannte ‚Richardsonian Romanesque‘: der in den 1880er Jahren von dem amerikanischen Architekten Henry Hobson Richardson angestoßene Versuch, eine kraftvolle Neoromanik als neuen amerikanischen Nationalstil zu etablieren. Die Identität sollte sich hier mit dem rauen Alltag des jungen Amerika einstellen, katalysiert durch das Medium des korpulenten Architekten selbst, der auf Photographien so monumental und mittelalterlich in Szene gesetzt wurde wie seine Bauten.9 „The man and his work are absolutely one“, schreibt Richardsons Freund, der Theologe Phillips Brooks, über diese Inszenierung von Identität.10 7

Vgl. etwa Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. 1. Theil, Dresden 1764, S. 128 – 130; über den Einfluss des Klimas auf die Qualität griechischer Kunst. 8 Zur Funktionalisierung deterministischer Modelle als Ausstiegsstrategien aus dem Historismus vgl. Christian Scholl: Determination als Utopie. Louis Sullivan und das Problem der Formfindung für die Wolkenkratzerfassade, in: Building America, Bd. 3: Eine große Erzählung, hg. v. Anke Köth, Kai ­Krauskopf, Andreas Schwarting, Dresden 2008, S. 29 – 42. – Christian Scholl: Die Zeit der Architektur. Bauen und Entwerfen als Prozess ­zwischen Historismus und Moderne, in: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, hg. v. Michael Gamper, Helmut Hühn (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 1), Hannover 2014, S. 100 – 107. 9 Vgl. u. a. Mariana Griswold Van Rensselaer: Henry Hobson Richardson and His Works, New York 1969. – James F. O’Gorman: H. H. Richardson. Architectural Forms for an American Society, Chicago, London 1987, S. 39 und passim. – Scholl 2008 (wie Anm. 8), S. 36 – 40. – Scholl 2014 (wie Anm. 8), S. 99 – 102. 10 Zitiert nach O’Gorman 1987 (wie Anm. 9), S. 29.

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Die Utopie einer ‚natürlichen‘ Verbindung von Landschaft, Mensch und Kunst blieb aber auch nach 1900 ein wichtiges Leitbild bei der intensiven Suche nach dem angemessenen, zeitgemäßen, möglichst notwendigen Stil für Regionen, Länder oder auch für die ganze Welt – eine Suche, an der sich auch Vertreter der Moderne beteiligten. Die Konstruk­tion von Identität ­zwischen ‚Kunst‘ und ‚Landschaft‘ blieb dabei stets eine Option: Ein prominentes Beispiel bietet Frank Lloyd Wright, der bei seinem Atelierkomplex Taliesin lokales Baumaterial (Kalkstein) so einsetzte, dass es an das geologische Erscheinungsbild erinnert, mit dem es in der umgebenden Landschaft auftritt.11 Utopisch ist im Übrigen auch der in solchen Zusammenhängen immer wieder formulierte Anspruch auf die Unbewusstheit, Natürlichkeit und Notwendigkeit derartiger Formfindungen, denn zweifellos wurden entsprechende Entscheidungen wie die Wahl des Baumaterials strategisch gefällt, um eine visuelle Einbindung der jeweiligen Bauten in ihre Umgebung bewusst zu befördern.12

2. Regionalisierung als bewusste Setzung Ganz offen um den bewussten Charakter von Regionalität geht es hingegen in einem aktuelleren Ansatz, ­dieses Konzept für die Kunstgeschichte nutzbar zu machen. Er stammt von dem Schweizer Kunsthistoriker Donat Grueninger und wurde im Zusammenhang mit dessen 2005 publizierter Dissertationsschrift zum mittelalterlichen Architekturschema des Chorumgangs mit Kapellenkranz entwickelt.13 Grueninger überträgt Konzepte der handlungsorientierten Sozialgeographie auf die Kunstgeschichte und spricht dementsprechend nicht von Regionalität, sondern aktivisch von Regionalisierung. Diese entstehe auf bewusste Weise durch bedeutungsgeladene Handlungen, die Grueninger zufolge nur dann relevant ­seien, wenn sie von den Zeitgenossen auch verstanden wurden. Regionalisierung müsse seiner Ansicht nach wahrnehmbar sein: Die Akteure wählen diejenigen künstlerischen Formen aus, die ihnen am geeignetsten erscheinen, die gewünschte Bedeutung zu transportieren – mehr noch, die Rezeption einer bestimmten 11 Vgl. die eigene Beschreibung des Architekten: Frank Lloyd Wright: An Autobiography, in: Frank Lloyd Wright. Collected Writings, hg. v. Bruce Brooks Pfeiffer, Bd. 2, New York 1992, S. 227. 12 Einen Beleg für diese Naturalisierung bietet abermals Frank Lloyd Wright: In the Cause of Architecture III: The Meanings of Materials – Stone, in: Frank Lloyd Wright. Collected Writings, hg. v. Bruce Books Pfeiffer, Bd. 1, New York 1992, S. 270, der sich über Stein als Baumaterial und die Begabung des Architekten, ­dieses Material zu n ­ utzen, äußert: „They [die Baumaterialien, Anm. d. Verf.] are Naturegifts to the sensibilities that are, again, gifts of Nature.“ 13 Donat Grueninger: „Deambulatorium Angelorum“ oder irdischer Machtanspruch? Der Chorumgang mit Kapellenkranz – von der Entstehung, Diffusion und Bedeutung einer architektonischen Form, Wiesbaden 2005. – siehe auch Donat Grüninger: Die kunsthistorische Regionalisierung. Grundsätzliches zu einem neuen Forschungsansatz, in: Concilium medii aevi 7 (2004), S. 21 – 44.

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künstlerischen Innovation ist bereits ein Grossteil der Botschaft. So lautet die Grundthese der hier vorgestellten kunsthistorischen Regionalisierung, dass Kunstwerke eine heute sichtbare Verteilung erfahren haben auf Grund ihrer Bedeutung. Diese Diffusion fand statt, weil Auftraggeber und Künstler bewusst Innovationen adoptierten/wählten.14

Im Vergleich zum traditionellen Modell der Kunstlandschaft werden die Prämissen hier umgekehrt: Nicht das Unbewusste, vermeintlich Natürliche rückt ins Zentrum ­dieses Regionalitätsbegriffs, sondern dessen programmatischer Charakter. Was Grueninger als neuen Forschungsansatz propagiert, setzt freilich die kunsthistorische Regionalitätsforschung auf die ältere Spur der Architekturikonologie. Hier ist beispielsweise Richard Krautheimers bahnbrechender Aufsatz Introduction to an ‚Iconography of Mediaeval Architecture‘ von 1942 zu nennen, aber auch Günter Bandmanns folgenreiches Buch ­ rueningers Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger von 1951.15 Bemerkenswert ist G Insistieren auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Bedeutungssetzung. Dabei kommt das etwas neuere Konzept des bewussten Architekturzitats zum Tragen, das etwa von HansJoachim Kunst propagiert worden ist.16 Grundsätzlich ist es erfreulich, wenn ein Versuch unternommen wird, die kunsthistorische Regionalitätsforschung unabhängig von Identitätsutopien neu zu konstituieren. Gleichwohl lassen sich gegenüber Grueningers Ansatz zwei grundlegende Einwände erheben. Zum einen muss das Agieren einzelner Protagonisten – z. B. Auftraggebern für Bauprojekte – keineswegs zu einer Flächenwirksamkeit führen, die den Begriff Regionalisierung rechtfertigen würde.17 Hierzu sind Stiftungen in der Regel zu punktuell. Zur Charakterisierung solcher Setzungen erscheinen mithin Netzwerk-Modelle, die das nicht selten überregionale Wirken von Stiftern abbilden, angemessener als das, räumliche Konzentration suggerierende, Konzept der Regionalisierung. Zum anderen scheint nach Jahrzehnten extensiver Architek­ turzitat-Forschung Skepsis angebracht: Zweifellos gibt es in der mittelalterlichen Architektur bewusst gesetzte Nachbildungen und Bezugnahmen. Ob aber alles, was die kunsthistorische Forschung in den letzten Jahrzehnten auf der Basis rein visueller Analysen als 14 Grueninger 2004 (wie Anm. 13), S. 26. 15 Richard Krautheimer: Introduction to an „Iconography of Mediaeval Architecture“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 1 – 33. – Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951. 16 Vgl. u. a. Hans-Joachim Kunst: Freiheit und Zitat in der Architektur des 13. Jahrhunderts. Die Kathe­ drale von Reims, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, hg. v. Karl Clausberg, Dieter Kimpel, Gießen 1981, S. 87 – 102. – Siehe auch Anna Valentine Ullrich: Gebaute Zitate. Formen und Funktionen des Zitierens in Musik, Bild und Architektur, Bielefeld 2015, S. 43 – 45. 17 Donat Grueninger weist einzelnen Akteuren die entscheidende Rolle bei der Regionalisierung zu – vgl. Grueninger 2004 (wie Anm. 13), S. 24 – 26.

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Zitat gedeutet hat, als solches intendiert und darüber hinaus für Zeitgenossen als solches erkennbar war, darf bezweifelt werden. Vieles von dem, was in den letzten Jahrzehnten als bewusste Formübertragung angesehen wurde und dem man sowohl eine Intention als auch eine zeitgenössische Lesbarkeit unterstellt hat, basiert auf einem synoptischen Nachvollzug, zu dem erst moderne Bildersammlungen befähigen.

3. Gewohnheit Insofern erscheint es problematisch, Regionalität allein auf bewusst gestiftete und zugleich inhaltsgeladene Akte zu beschränken, wie Donat Grueninger dies vorgeschlagen hat. 18 Lohnt es sich also überhaupt, an Modellen wie ‚Regionalität‘ oder ‚Kunstlandschaft‘ festzuhalten? Nun lässt sich ja durchaus feststellen, dass bestimmte Regionen eigene Lösungsansätze für Bauaufgaben ausgeprägt haben. Gerade in seiner Unschärfe könnte der Begriff der ‚Gewohnheit‘ ein angemessenerer Terminus für d ­ ieses Phänomen sein als Grueningers Konzept der aktiven Regionalisierung. Vergleicht man beispielsweise romanische Dorfkirchen in Westfalen mit entsprechenden Bauten in der Altmark oder der Mark Brandenburg, so stößt man tatsächlich auf jeweils regionaltypische Lösungen. Charakteristisch für viele westfälische Dorfkirchen sind große Westtürme über quadratischem Grundriss, wie man sie etwa in Kirchdonop oder in Windheim findet.19 In der Altmark und der Mark Brandenburg gibt es hingegen zahlreiche Bauten mit einem Westriegel über rechteckigem Grundriss, die das Kirchenschiff komplett abschirmen. Beispiele bieten die Dorfkirchen in Arnim und Winterfeld.20 In den ersten Jahrzehnten nach 1900 hätte man vermutlich den Versuch unternommen, aus dem unterschiedlichen Aussehen der Bauten auf die Befindlichkeit und das Lebensgefühl ihrer Erbauer zu schließen. Die Vorstellung, dass eine westfälische Dorfkirche etwas über ‚die Westfalen‘ anschaulich machen könne, ist aber zumindest heikel, aller Wahrscheinlichkeit nach unsinnig und schlimmstenfalls sogar gefährlich. Zweifellos ist die Wahl eines Bauschemas ein reflektierter Akt. Dass ­diesem jedoch stets eine architekturikonologische Codierung zugrunde liegt, wie es Grueningers Regionalitätsthese verlangt, erscheint fraglich. Wahrscheinlicher ist doch, dass es in den jeweiligen Regionen konkrete Vorstellungen gab, wie eine Dorfkirche auszusehen habe. Wie es zur Ausprägung derartiger Vorstellungen kam, bleibt unklar, da es hierzu keinerlei schriftliche 18 Grueninger 2004 (wie Anm. 13), S. 26. 19 Vgl. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Nordrhein-Westfalen II . Westfalen, bearb. v. Dorothea Kluge, Wilfried Hansmann, München, Berlin 1986, S. 264 f. und S. 602. 20 Vgl. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Sachsen-Anhalt I. Regierungsbezirk Magdeburg, bearb. v. Ute Bednarz, Folkhard Cremer u. a., München, Berlin 2002, S. 37 f. und S. 1016 f.

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Quellen gibt. Gut vorstellbar ist aber, dass die Präsenz von Vorbildern hierbei eine wichtige Rolle spielte: Im Falle einer Dorfkirche dürfte es nicht selten entscheidend gewesen sein, wie die ­Kirche des Nachbardorfs aussah. Der Verweis auf die Rollenfunktion bestehender Vorbilder bleibt freilich spekulativ – auch hier fehlen schriftliche Quellen aus mittelalterlicher Zeit. Man kann aber zumindest auf vergleichbare Fälle aus der Frühen Neuzeit verweisen, bei denen im städtischen Bereich entsprechende Vorgänge dokumentiert sind. Offenbar kam es häufiger vor, dass Kirchenvorstände bei Bauprojekten auf ganz konkrete Muster aus der Nachbarschaft verwiesen, um ihre Vorstellungen zu untermauern. So wollte etwa der Rat von Neuburg an der Donau im Jahr 1605 einen avancierten Renaissance-Entwurf von Joseph Heintz verhindern und legte dem Landesherrn nahe, sich an der benachbarten spätgotischen Stadtkirche in Lauingen zu orientieren.21 Nur ein Jahr zuvor, 1604, schlugen die Prediger und Kirchenväter von Wolfenbüttel ihrem Herzog vor, „eine feine zierliche gewölbte ­Kirche mit steinernen Pfeilern und ander nothdurft, schlicht und recht, gleich dero in E. F. G. Closter Riddagshausen oder andern benachbarten Städten“ zu bauen.22 Beide Quellen stammen erst aus dem frühen 17. Jahrhundert. Möglicherweise vermitteln sie aber eine Vorstellung, wie derartige Auswahlprozesse im Mittelalter abliefen. Die Entscheidung für ein Schema wäre dann bewusst erfolgt, verdankte sich aber eher der Erfüllung von Sehgewohnheiten als einer Konstitution von Architekturzitaten. Wichtig ist es, die Flexibilität und Offenheit dieser Vorgänge zu betonen. Jeder Versuch, feste Determinanten zu suchen, um der Tradierung ganz bestimmter Formen eine Notwendigkeit zu unterstellen, scheint in die Irre zu gehen. Dies gilt beispielsweise für das Baumaterial – ein Faktor, der eigentlich geeignet sein sollte, eine besonders enge Verbindung ­zwischen Region und Baukunst herzustellen. Aufschlussreich ist diesbezüglich vor allem der Blick auf mittelalterliche Backsteinarchitektur: Im Falle der altmärkischen und märkischen Dorfkirchen wurde das Bauschema einfach übertragen. Spezifisch auf das Material Backstein abgestimmt ist hingegen die Bauornamentik, die allerdings nur bedingt als regional bezeichnet werden kann, weil sie aus Oberitalien importiert wurde und mit dieser Provenienz ab dem 12. Jahrhundert in den meisten Regionen auftaucht, in der man die Backsteinromanik kultiviert hat: beispielsweise 21 Vgl. Jürgen Zimmer: Hofkirche und Rathaus in Neuburg/Donau. Die Bauplanungen von 1591 bis 1630. Mit einem Quellenanhang (Neuburger Kollektaneenblatt 124), Neuburg 1971, S. 114 f. 22 Zitiert nach Harmen Thies: Zu Bau und Entwurf der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis, in: Die Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel, hg. v. Hans-Herbert Möller, Hannover 1987, S. 39 – 78[?], hier S. 41. – Vgl. hierzu auch Christian Scholl: Von der Neupfarrkirche zur Dreieinigkeitskirche. Lutherischer Kirchenbau der Frühen Neuzeit in Regensburg, in: Michael Ostendorfer und die Reformation in Regensburg, Ausst. Kat. Historisches Museum der Stadt Regensburg, hg. v. Christoph Wagner, Dominic E. Delarue (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 27), Regensburg 2017, S. 374 – 377.

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auch in Schlesien.23 An der Backsteinarchitektur lässt sich nachvollziehen, dass das vor Ort vorhandene oder zu gewinnende Baumaterial bestimmte Formenlösungen begünstigt und andere erschwert hat. Es zeigt sich aber auch, dass dies keineswegs im Sinne eines strengen Determinismus funktionierte.24 Als man im ausgehenden 13. Jahrhundert die ersten großen gotischen Backsteinbasiliken des Ostseeraums in Lübeck und Stralsund errichtete, war das Muster der Werksteingotik, komplexe Bündelpfeilerstrukturen zu entwickeln, so prägend, dass es auf das neue Material übertragen wurde. Dafür nahm man einige Komplikationen in Kauf, wie etwa die recht unsauber gebauten Chorpfeiler der Nikolaikirche in Stralsund zeigen.25 Erst s­päter entwickelte man Pfeilerformen, die besser mit dem Material kompatibel waren. Sie finden sich etwa im jüngeren Langhaus von St. Nikolai in Stralsund.26 Hier wird Regionalität als Eigenschaft greifbar, die in Auseinandersetzung mit überkommenen Mustern einerseits und lokalen Gegebenheiten andererseits über einen längeren Zeitraum entwickelt wird, die aber auch durch neue Vorbilder schnell wieder eine ganz neue Richtung einschlagen konnte. Dabei bleibt die Übertragbarkeit solcher Formen ein wichtiger Aspekt ­dieses Themenkomplexes. Ein weiterer Aspekt ist, dass es im Bereich der Architektur verschiedene Ebenen gibt, auf denen sowohl ein Transfer als auch ein Beharren auf dem Tradierten stattfinden konnte. Beispielhaft hierfür ist das Wirken oberitalienischer Bauhandwerker im sächsischen Raum im 11. und 12. Jahrhundert. Eine Schlüsselrolle kam der Abteikirche in Königslutter zu, deren Bauplastik direkt aus Oberitalien übertragen wurde. Die herausragende Qualität legt nahe, dass die Ausführung überwiegend durch lombardische Handwerker erfolgte.27 23 Charakteristisch ist das Auftreten des Kreuzbogenfrieses: Vgl. hierzu u. a. Rolf Naumann: Romanische Backsteinkirchen im Elbe-Havel-Gebiet, Genthin 1989, S. 21. – Ein schlesisches Beispiel bietet St. Ägidius in Breslau, vgl. Christofer Herrmann: Schlesien, in: Mittelalterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst ­zwischen Oder und Weichsel, hg. v. Christofer Herrmann, Dethard von Winterfeld, Bd. 2, Petersberg 2015, S. 582 f. 24 Generell ist die Frage, inwieweit Material und Technologie stilistische Veränderungen determiniert haben, in der kunsthistorischen Forschung frühzeitig diskutiert worden. Sie motivierte bereits Alois Riegls Einspruch gegen den ‚Materialismus‘ Gottfried Sempers, vgl. Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893, S. VI–IX. 25 Vgl. Michael Huyer: Die Stralsunder Nikolaikirche. Die mittelalterliche Baugeschichte und kunstgeschichtliche Stellung. Mit formalanalytischen Betrachtungen zu den Architekturgliedern der Domchöre in Lübeck und Schwerin, der Klosterkirche Doberan und der Pfarrkirchen St. Marien in Lübeck und Rostock, Schwerin 2005, S. 99 – 102. 26 Vgl. ebd., S. 177 – 179. 27 Vgl. u. a. Martin Gosebruch: Königslutter und Oberitalien, in: Königslutter und Oberitalien. Kunst des 12. Jahrhunderts in Sachsen, hg. v. dems., Hans-Henning Grote, 2. Aufl., Braunschweig 1982, S. 28 – 41. – Bruno Klein: Die ehemalige Abteikirche von Königslutter. Die Grablege eines sächsischen Kaisers am Beginn der Stauferzeit, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125 – 1235, Ausst. Kat. Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig, hg. v. Jochen Luckhardt, Franz Niehoff, Bd. 2, München 1995, S. 113 – 118.

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Von Königslutter ausgehend, fanden diese Formen dann im gesamten sächsischen Raum Verbreitung.28 Der Transfer betrifft aber lediglich die Bauplastik, denn der Grundriss kommt aus einer anderen Tradition: Er steht letztlich in der Nachfolge von Bauten wie St. Peter und Paul in Hirsau und der Klosterkirche in Paulinzella.29 Bauschema und Bauplastik liegen hier und in anderen Fällen auf verschiedenen Ebenen, die unabhängig voneinander tradiert werden konnten. Bei Kirchenbauten stellt sich die Frage, ob die Liturgie eine prägende Rolle für die Ausprägung bestimmter Bauschemata spielte. Gerade in d ­ iesem Punkt spricht aber einiges dafür, dass mittelalterliche Kirchenräume eher flexibel konzipiert waren. Sakralarchitektur bietet zumeist offen angelegte, multifunktional nutzbare Raumgefüge.30 Daher erscheint es fraglich, ob die Unterschiede ­zwischen den Bauschemata des Domes von Piacenza und der Abteikirche Königslutter nutzungsbedingt sind. Vielmehr spricht einiges dafür, dass das Beharren auf bestimmten Bauformen tatsächlich am ehesten mit ‚Gewohnheit‘ zu tun hat und lokal ausgeprägten Vorstellungen folgte, wie ein Sakralraum auszusehen habe. So bleibt man, wenn es um Regionalität geht, auf einen verhältnismäßig offenen Begriff von Usus mit wechselndem Bewusstheitsgrad angewiesen.

4. Konstruktionen von Lokalität Es scheint aber gleichwohl Fälle zu geben, bei denen eine bewusste Konstruktion von Lokalität wahrscheinlich ist. Als Beispiel können Turmlandschaften angeführt werden, die in vielen mittelalterlichen Städten ausgeprägt wurden. So hat Thomas Topfstedt auf die Silhouette von Magdeburg hingewiesen, wo auffallend viele ­Kirchen Doppelturmfassaden mit weit hochgezogenem Glockenhaus aufweisen. Dabei wurden die Turmanlagen zu unterschiedlichen Zeiten vom 12. bis ins 16. Jahrhundert errichtet.31

28 Vgl. hierzu bereits Erwin Kluckhohn: Die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst und Bau­ ornamentik in Deutschland. Mit einem Nachwort von Walter Paatz, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 16 (1955), S. 1 – 120. 29 Vgl. u. a. Gosebruch 1982 (wie Anm. 27), S. 29. – Klein 1995 (wie Anm. 27), S. 107 – 109. 30 Vgl. hierzu u. a. Helen Gittos: Liturgy, Architecture and Sacred Places in Anglo-Saxon England, Oxford 2013, S. 147, S. 195. – Christian Scholl: Funktion und architektonische Gestalt: Eine Annäherung an die mittelalterlichen ­Kirchen in Göttingen aus nutzungsgeschichtlicher Sicht, in: Göttinger ­Kirchen des Mittelalters, hg. v. Jens Reiche, Christian Scholl, Göttingen 2015, S. 67 f. 31 Vgl. Thomas Topfstedt: Der Westbau der Magdeburger Liebfrauenkirche und die Ausformung der mittelalterlichen Stadtsilhouette Magdeburgs, in: Köln. Die romanischen ­Kirchen in der Diskussion 1946/47 und 1985, hg. v. Hiltrud Kier, Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 4), Köln 1986, S. 195 – 208.

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Abb. 1: Lübeck, St. Marien: Westbau. Foto: Christian Scholl.

Abb. 2: Lübeck, St. Jakobi: Westbau. Foto: Christian Scholl.

Noch auffälliger ist d ­ ieses Phänomen in einigen norddeutschen Hansestädten. In Lübeck wurde der Nordturm der Marienkirche ab 1304 errichtet, der Südturm ab 1310 (Abb. 1).32 Charakteristisch ist die geschossweise Gliederung mit je zwei Fenstern, die als Biforien gestaltet sind. Die einzelnen Geschosse werden durch Friese mit stehenden Vierpässen voneinander geschieden. Man findet dieselbe Anordnung an den Türmen der Jakobi­kirche (Abb. 2) und der Ägidienkirche, die wohl ebenfalls im 14. Jahrhundert errichtet wurden.33 Etwas ­später, ­zwischen 1414 und 1427, wurde der Turm der Petrikirche erbaut, der dasselbe Gliederungsprinzip mit jeweils zwei biforialen Fenstern und geschossteilenden Vierpassfriesen 32 Vgl. Max Hasse: Die Marienkirche zu Lübeck, München, Berlin 1983, S. 40. 33 Vgl. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Hamburg. Schleswig-Holstein, bearb. v. Johannes Halbich u. a., Berlin, München 2009, S. 506 f. und S. 515.

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Abb. 3: Stralsund, St. Nikolai: Westbau. Foto: Christian Scholl.

Abb. 4: Stralsund, St. Jakobi: Westbau. Foto: Christian Scholl.

aufweist.34 Michael Huyer spricht zutreffend von einem „Markenzeichen stadtlübischer Türme“.35 Wirklich aussagekräftig wird dieser Befund aber erst, wenn man sieht, dass andere Hanse­ städte ihre Türme wiederum eigenständig gestalteten. So findet man in Stralsund an zwei ­Kirchen – an St. Nikolai und an St. Jakobi – in jedem Geschoss aufwändige Dreiergruppen von Blendmaßwerk (Abb. 3, 4). Zeitlich liegen beide Turmbauten weit auseinander: Die Freigeschosse von St. Nikolai dürften ab den späten 1320er Jahren errichtet worden sein.36 Demgegenüber wird der Westturm von St. Jakobi in die 1470er und 80er Jahre datiert 34 Vgl. ebd., S. 502. 35 Vgl. Huyer 2005 (wie Anm. 25), S. 390. 36 Vgl. ebd., S. 298.

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und entstand mithin mehr als 100 Jahre s­ päter.37 Umso mehr erscheint das Aufgreifen des Blendmaßwerks von St. Nikolai als bewusster Akt. Der Blick auf andere Hansestädte führt zu weiteren Vergleichsbeispielen: In Wismar findet man sowohl an St. Marien als auch an St. Nikolai geschossweise steile biforiale Fenster. Eine horizontale Blendgliederung wie in Lübeck gibt es hier nicht. Charakteristisch sind hingegen die an den Turmecken eingemauerten, hell leuchtenden Werksteine. An St. Georgen in Wismar hat man es nicht mehr geschafft, einen Turm zu errichten. Der erhaltene Turmansatz legt jedoch nahe, dass auch hier dasselbe Bauschema zur Ausführung kommen sollte.38 Um den Befund derartiger städtischer Turmlandschaften abzurunden, kann man nach Danzig schauen. Auch hier gibt es auffällige Übereinstimmungen ­zwischen den Kirchtürmen der Marienkirche, der Katharinenkirche und der Johanniskirche.39 Dass es sich bei solchen Turmlandschaften um ein Zufallsprodukt handelt, ist unwahrscheinlich. Hier scheint tatsächlich so etwas wie eine visuell wirksame städtische Identität konstruiert worden zu sein, die bei Küstenstädten im Übrigen auch praktische Gründe haben kann: Türme dienten damals als Seezeichen.40 Wichtig ist, die spezifischen Qualitäten derartiger Bezüge zu bedenken. Auch wenn sie offenbar bewusst vorgenommen wurden, kann doch von einer regelhaften Systematik keine Rede sein. Vielmehr gibt es immer wieder Ausnahmen – ein charakteristischer Befund für mittelalterliche Architekturikonologie, die selten eineindeutige Verbindungen bietet. Insofern sollten ­solche Befunde keineswegs überinterpretiert, sondern lediglich als jeweils konkrete Bezugnahmen gedeutet werden, die möglich, aber eben nicht verpflichtend waren. Inwieweit es hierfür administrative Vorgaben gab, bleibt offen. Am plausibelsten erscheint erneut die Überlegung, dass bestimmte Initialbauten ein Vorbild setzten, auf das spätere Bauten dann rekurrieren konnten – aber eben nicht mussten. Dies führt zurück zu den anfänglichen Überlegungen über Regionalität im ländlichen Kirchenbau, bei dem ja ebenfalls das konkrete Vorbild eine prägende Rolle gespielt haben dürfte. Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Idee von Regionalität in der mittel­ alterlichen Sakralarchitektur im norddeutschen Raum? Hier soll für einen offenen und 37 Vgl. Ursula Markfort: Baugeschichte und Baugestalt, in: Der vergessene Raum. 700 Jahre St. Jakobi Stralsund, hg. v. Förderverein St. Jakobikirche zu Stralsund e. V., Stralsund 2003, S. 46. 38 Vgl. Steve Ludwig: St. Georgen zu Wismar. Die Geschichte einer mittelalterlichen Pfarrkirche vom 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert, Kiel 1998, S. 85 – 88. 39 Vgl. Christofer Herrmann: Deutschordensland Preussen, in: Christofer Herrmann: Schlesien, in: Mittel­ alterliche Architektur in Polen. Romanische und gotische Baukunst ­zwischen Oder und Weichsel, hg. v. Christofer Herrmann, Dethard von Winterfeld, Bd. 2, Petersberg 2015, S. 981, S. 986, S. 988. 40 Vgl. Manfred Schneider: Pfarrkirchen in den Städten des Hansischen Raumes – eine thematische Einführung, in: Pfarrkirchen in den Städten des Hanseraums. Beiträge eines Kolloquiums vom 10. bis 13. Dezember 2003 in der Hansestadt Stralsund, hg. v. Felix Biermann, Manfred Schneider, Thomas Terberger, Rahden 2006, S. 9.

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flexiblen Regionalitätsbegriff plädiert werden, der ­zwischen verschiedenen Ebenen des Bauens – Grundschema und Ausgestaltung – differenziert und der sowohl einen allgemeinen Usus als auch konkrete, architekturikonologisch wirksame und damit inhaltlich aufgeladene Bezugnahmen zulässt. Ein Konzept von ‚Kunstlandschaft‘, das Kunst als unmittelbaren Ausdruck von Landschaft und Menschen deutet, sollte dabei ebenso kritisch hinterfragt werden wie das Gegenmodell einer Regionalisierung, das allein auf dekodierbare Akte von Gestaltsetzungen abzielt. Um Regionalität in ­diesem Sinne erfassen zu können, bedarf es eines sowohl umsichtigen als auch flexiblen Ansatzes, der das Spannungsfeld z­ wischen lokalen Gegebenheiten und bewussten Setzungen, z­ wischen Transfervorgängen und Traditionsbildung in ihrer Dynamik immer wieder neu auslotet.

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Jan Christian Schaffert

Die Darstellung sächsischer Identität in den Cronecken der sassen Ein netzwerkanalytischer Ansatz

1. Ausgangspunkte Die Cronecken der sassen 1 erschienen im Jahr 1492 in der Mainzer Offizin Peter Schöffers und gelten damit als die erste gedruckte niederdeutsche Chronik. Sie umfassen 284 Blätter im Folioformat, auf denen mehr als 1.300 Holzschnitte die Geschichte der Sachsen illustrieren. Diese reicht von deren Landnahme und Christianisierung über die Sachsenkriege Heinrichs IV ., den Konflikt Heinrichs des Löwen mit Friedrich I. bis ins Jahr 1489. Es handelt sich also um ein sehr umfangreiches Werk mit repräsentativem Anspruch. Der Inhalt jedoch irritiert. Die Cronecken präsentieren 300 Jahre nach der Auflösung des Stammherzogtums und dem Verlust der sächsischen Herzogswürde, im Kontext der askanischen Sachsen und zersplitterten welfischen Machtsphären, eine Vorstellung sächsischer Identität, wie sie von Widukind von Corvey entworfen und spätestens noch im Sachsenspiegel greifbar ist. Dieser Anachronismus fällt vor allem im Vergleich mit der zeitgenössischen volkssprachigen Chronistik auf, die primär institutionell gebundene regionale Historiographien hervorbringt und so unmissverständlich darauf hinweist, dass um 1500 Ethnonym und Raum nicht mehr so deckungsgleich sind, wie es die Cronecken erscheinen lassen. Doch wie genau präsentierten sie die Sachsen und w ­ elche Implikationen ergeben sich daraus für die Intention des Werkes? Über die Kontexte lassen sich diese Fragen nicht beantworten, da die näheren Entstehungsumstände der Cronecken weitgehend unbekannt sind. Diese Problematik schlägt sich nicht zuletzt im Verfasserlexikon nieder, das wahlweise und ohne befriedigende Erklärung Hermann Bote oder dessen Bruder Conrad als Verfasser/Autor/Kompilator vorschlägt, 1

N. N.: Cronecken der sassen, Mainz 1492 (GW 04963, ISTC ic00488000): München, Bayerische Staatsbibliothek, BSB -Ink B-765; http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00025661/image_1 (15. 09. 2019). Die Cronecken der sassen werden als Plural verstanden. Vgl. hierzu Brigitte Funke: Cronecken der sassen. Entwurf und Erfolg einer sächsischen Geschichtskonzeption am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Braunschweiger Werkstücke Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek, Bd. 48), Braunschweig 2001, Diss. Braunschweig, Techn. Univ. 2000, S. 11, sowie Eberhard Rohse: Art. Bote, Hermann (auch Herman, Hermen), in: Braunschweigisches biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert, hg. v. Horst-Rüdiger Jarck, Dieter Lent, Braunschweig 2006, S. 100 – 101, hier S. 101.

Die Darstellung sächsischer Identität in den Cronecken der sassen | 233

wohingegen Flood, Funke und Stackmann die Verfasserfrage als ungeklärt ansehen.2 Ähnliches gilt auch für den Ursprung der Holzschnitte, die wohl Wolfgang Beurer und eventuell auch dessen Bruder Anton zugeschrieben werden können.3 Weil deren Beteiligung jedoch nicht bewiesen werden kann und es an biographischen Informationen mangelt, ergibt sich auch hier kein Erkenntnisgewinn. Im Gegensatz dazu kann Peter Schöffer als Einziger sicher als Beteiligter genannt werden, wenngleich hierdurch eher neue Fragen aufgeworfen werden, da er im hochdeutschen Raum druckte.4 Angesichts des völligen Fehlens weiterer Informationen ist die Analyse letztlich auf den Text selbst zurückgeworfen, dem bisher überraschend wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. Von einer Publikationsflut, wie sie die Erforschung der Schedelschen Weltchronik in den letzten 30 Jahren hervorgebracht hat, kann nicht die Rede sein: Die Beiträge des gleichen Zeitraumes liegen für die Cro­necken im nie­drigen einstelligen Bereich und selbst das Verfasserlexikon widmet der Inkunabel nur wenige Zeilen.5 Zudem ist der schmalen Forschung lediglich eine gründliche Quellenanalyse zu attestieren. Die Konzeption und damit zwangsläufig auch Intention ihres Forschungs­objektes ist bisher kaum bearbeitet worden. Die Inkunabel wurde stets einseitig unter historiographischen (Schaer, Cordes, Funke)6 oder kunstgeschichtlichen (Baer, Wiswe, Reske)7 Prämissen betrachtet und dabei entweder der Text oder die Illustrationen untersucht. Als Text-Bild-Komplex kombinieren die Cronecken hingegen beide Medien und müssten daher aus beiden Perspektiven betrachtet werden, um greifbar zu werden.8 Allein 2

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Vgl. John L. Flood: Probleme um Botes „Cronecken der sassen“ (GW 4936), in: Hermen Bote: Braunschweiger Autor ­zwischen Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Detlev Schöttker, Werner Wunderlich (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 37), Wiesbaden 1987, S. 179 – 194, hier S. 182. – Vgl. ebenso Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 10 und Karl Stackmann: Die Stadt in der norddeutschen Welt- und Landeschronistik des 13. bis 16. Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, Bd. 121), Göttingen 1980, S. 289 – 310, hier S. 293. Vgl. Fedja Anzelewsky: Eine Gruppe von Malern und Zeichnern aus Dürers Jugendjahren, in: Jahrbuch der Berliner Museen Bd. 27 (1985), S. 35 – 59, hier S. 59. Vgl. Leo Baer: Die illustrierten Historienbücher des 15. Jahrhunderts, Straßburg 1903, S. 163. – Vgl. ebenso Flood 1987 (wie Anm. 2), S. 189. Vgl. Thomas Sandfuchs: Art. Bote, Konrad, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. v. Kurt Ruh u. a. Bd. 1. 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin, New York 1978, Sp. 970 f. Nur hier werden die Cronecken als Werk Konrad Botes genannt. Cars Schaer: Conrad Botes niedersächsische Bilderchronik. Ihre Quellen und ihr historischer Wert, Hannover 1880. – Vgl. Gerhard Cordes: Die Weltchroniken von Hermann Bote, in: Braunschweigisches Jahrbuch, Bd. 33, hg. v. Hans Goetting (1952), S. 75 – 101. Baer 1903 (wie Anm. 4), S. 161 – 172. – Mechthild Wiswe: Teilansicht Braunschweigs von Westen, in: Kat. Cannstatt 1985 (Stadt im Wandel: Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 – 1650, Bd. 1), S. 58 – 59. – Christoph Reske: Die „Koehoffsche“ Chronik und ihre Beziehung zur Schedelschen Weltchronik und der Mainzer Sachsenchronik aus buchwissenschaftlicher Sicht (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 43), Köln 2001, S. 91 – 112. Vgl. Michael Curschmann: Wort – Schrift – Bild. Zum Verhältnis von volkssprachigem Schrifttum und bildender Kunst vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Fortuna vitrea, Bd. 16), Tübingen 1999,

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Funke tut dies punktuell und deutet im Vergleich mit anderen historiographischen Werken eine ganzheitliche Konzeption an. So kann sie nachweisen, dass die Inkunabel hauptsächlich auf der Sächsischen Weltchronik und der Magdeburger Schöppenchronik basiert, einige Informationen aus der Braunschweiger Reimchronik übernimmt und somit letztlich auf Widukind fußt. Zudem verweist sie auf die Cronica Slavica als ein mögliches Vorbild der Textgliederung 9 und resümiert, dass die Cronecken die verschiedenen chronikalen Ansätze verbinden. Die Historiographie der Sachsen werde über ihre Origo gentis an die Weltgeschichte angeschlossen und anschließend eigenständig präsentiert. In dieser sächsischen Geschichte werden die Herrscher- und Bischofskataloge mit den chronologisch geordneten Informationen des norddeutschen Raumes verknüpft, was für diesen durch die präsentierten Städte und Siedlungen eine historische Tiefe anzeige. Die Cronecken entwerfen das Herrschaftsgebiet der Sachsen demnach in der dichten Vernetzung von dynastisch orientierter Landesgeschichtsschreibung und Bistums- sowie Stadthistoriographie als Geschichtsraum, innerhalb dessen jenen Episoden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werde, die als integrative Momente der sächsischen Geschichte verstanden werden können: die Origo gentis, die Christianisierung sowie die Kämpfe gegen Heinrich  IV . und Friedrich I. Aus diesen Beobachtungen schließt Funke auf die Genese eines historischen Bewusstseins: In den Cronecken sei erstmalig eine spezifisch sächsische Geschichtskonzeption zu erkennen, die die „Geschichte eines politisch heterogenen Raumes als Geschichtseinheit erfasst, innerhalb derer den Städten eine eigenständige Bedeutung [zukommt]“,10 darstelle. Damit tritt Funke der bisherigen Forschungsmeinung entschieden entgegen, w ­ elche die Cronecken häufig als Klitterung und daher wertlose historische Quelle brandmarkte.11 Den Schlüssen Funkes ist uneingeschränkt beizupflichten, wobei sie ihre Thesen hauptsächlich komparatistisch absichert und damit der Konzeption des Text-Bild-Komplexes zu wenig Rechnung trägt. Sie analysiert nur den Titelholzschnitt und erkennt darin jene genealogische Verflechtung, die sie aus einer auf Widukind basierenden sächsischen Herzogsfolge herausarbeitet.12 Im Folgenden soll daher versucht werden, die Thesen Funkes zu validieren und/oder zu revidieren, indem ihr Ansatz, Text und Bild nebeneinander zu betrachten, auf das ganze Werk ausgeweitet wird. Grundlage hierfür ist zweierlei: Den ersten Teil der Untersuchung bildet eine quantitative Analyse der S. 378 – 471. – Vgl. ebenso Monika Schausten, Brigitte Weingart: Text/Bild, in: Handbuch Medien der Literatur. Hrsg. von Natalie Binczek, Berlin 2013, S. 69 – 72. 9 Vgl. Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 13, 83. – Vgl. ebenso N. N.: Chronica Slavica, Lübeck nach 1485 (GW 06692, ISTC ic00489000.): München, Bayerische Staatsbibliothek, BSB -Ink C-282; http://daten. digitale-sammlungen.de/bsb00041528/image_1 (15. 09. 2019). 10 Vgl. ebd., S. 244. 11 Vgl. Sandfuchs 1978 (wie Anm. 5), Sp. 971. – Schaer 1880 (wie Anm. 6), S. 96 und Heinz-Lothar Worm: Zur Cronecken der sassen, in: Eulenspiegel-Jahrbuch 27 (1987), S. 29 – 38, hier S. 29. 12 Vgl. Funke (wie Anm. 1), S. 243.

Die Darstellung sächsischer Identität in den Cronecken der sassen | 235

Holzschnitte und der korrespondierenden Textabschnitte. Ausgehend von der Verteilung und Machart der Holzschnitte kann zunächst ihre Konzeption auf Basis grundlegender Überlegungen zur Funktion von Text-Bild-Komplexen erschlossen werden. Da sie hauptsächlich strukturierende und fokussierende Funktionen zu erfüllen scheinen, liegt es nahe, das Informationsangebot der Cronecken über die Illustrationen zu betrachten und zu erschließen. Zwar werden so nur jene Informationskomplexe berücksichtigt, die ­illustriert sind, hierbei handelt es sich jedoch um den absoluten Großteil der Informationen, auf denen zudem der Fokus des Werks zu liegen scheint. Auf diese Weise soll es möglich sein, den überaus heterogenen und unübersichtlichen Text greifbar zu machen und den unmittelbar erkennbaren sächsischen Schwerpunkt der Cronecken, die Konzeption der Sachsen, besser zu fassen. Die Ergebnisse der quantitativen Analyse, zu denen auch gehört, dass der absolute Großteil des Informationsangebotes über sächsische Herrscherhäuser kontextualisiert wird, münden in weiterführende Fragen nach der Darstellung dieser Herrscherhäuser, deren Interdependenz und der Art ihrer Kontextualisierung. Diese Fragen sollen in Teil zwei der Analyse beantwortet werden, indem die Verhältnisse, die in den Cronecken in den Text-Bild-Komplexen behandelt werden, in einem digitalen Netzwerk formalisiert werden. Mit ­diesem kann an die quantitative Analyse eine qualitative angeschlossen werden, mit der die Zwischenergebnisse verfeinert und spezifiziert werden sollen, indem das Netzwerk mit den Tools der Netzwerkanalyse ausgewertet wird. Dadurch sollen sich die Interaktionen der Akteure der Cronecken – als ­solche werden im Folgenden Städte, Klöster, Herzöge usw. verstanden – nachweisen und abbilden lassen. Indem Implikationen für die Darstellung der Sachsen aus dem Netzwerk und somit der fokussierten Informationsstruktur abgeleitet werden können, kann die Konzeption der Cronecken plastisch modelliert werden; etwa wenn untersucht wird, ­welche Persönlichkeiten und Siedlungen bedeutsam sind, warum sie es sind und wie sie mit den Sachsen verbunden werden. Natürlich kann dies in einer Netzwerkanalyse nur stark abstrahiert und vereinfacht geschehen.13 Dennoch handelt es sich nicht um eine simplifizierte Reproduktion ohne Mehrwert, sondern eine passende Betrachtungsweise für eine genuine Geschichtskonzeption des sächsischen Geschichtsraumes, der über die Genealogie der Sachsen und ihre Verknüpfung mit dem Land offenbar als Netzwerk entworfen wurde. Die Netzwerkanalyse bietet hier einen passenden und praktikablen Ansatz. Dies gilt erst recht, wenn die in den Illustrationen präsenten Bezüge oder Vernetzungen eine Grundkonzeption zu sein scheinen und darauf hinweisen, dass die Konzeption der Cronecken nicht durch eine summarische Betrachtung der diachron 13 Vgl. zum Abstraktionsgrad von Netzwerkanalysen: Marten Düring: Networks as gateways. Gleanings from applications for the exploration of historical data, in: The Power of Networks. Prospects of Historical Network Research, hg. v. Florian Kerschbaumer u. a. (Digital Research in the Arts and Humanities), London, New York 2020, S. 224 – 250.

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angelegten Herrscher-Kataloge zu fassen ist,14 sondern einer synchronen Betrachtung sämtlicher Informationen in einer Netzwerkstruktur bedarf. Die Grundlage der TextBild-Komplexe verbindet hierbei die kunstgeschichtlichen und historiographischen Ansätze und die Tatsache, dass sich die Vernetzung als Konzeption aus den Cronecken ergibt, entschärft die Gefahr, das Informationsangebot des Werkes in zu abstrakte Daten zu überführen, deren geringer Informationsgehalt für geisteswissenschaftliche Überlegungen kaum noch Wert habe. Die Aussagekraft der Analyse hängt somit nur von der Qualität und Menge der im Netzwerk hinterlegten und somit auswertbaren Daten ab, die sich jedoch relativ eindeutig aus dem Werk ergeben.

2. Die quantitative Analyse Alle 1246 iterierenden Illustrationen lassen sich grob in drei Klassen unterteilen, die sich in dem Kolophon spiegeln:15 Duſſe kronecke van keyſeren vnde | anderen furſten vnde ſteden der ſaſſen mit oꝛen wapen | hefft geprent Peter ſchofter van gernſheim | In der eddelen ſtat Menc. die eyn anefangk | is der prenterey […].16

Die Halbfiguren – „keyſeren vnde | anderen furſten […] der ſaſſen“ –, ­welche größtenteils in Genealogieschnitten kombiniert werden, weisen historische Persönlichkeiten aus. Die Siedlungsansichten – „ſteden der ſaſſen“ – repräsentierten Siedlungen vom Kloster bis zur Stadt. Die „wapen“ indes können als Metainformation begriffen werden, ­welche den „keyſeren vnde | anderen furſten […] der ſaſſen vnde ſteden der ſaſſen“ beigeordnet sind und diese spezifizieren. Für das Bildprogramm ist zweierlei unmittelbar einsichtig: einerseits, dass sich die Illus­ trationen in erheblichem Maß wiederholen, andererseits der zu erwartende sächsische Fokus. Aufgrund der extremen Iteration kann die Konzeption der Holzschnitte offensichtlich nicht auf der für zeitgenössische Chroniken typischen Einarbeitung bzw. Abbildung von Erfahrungswissen liegen. Während beispielsweise die Schedelsche Weltchronik eine ganze Reihe von Stadtansichten beinhaltet, deren Wiedererkennungswert unstrittig ist, scheint Authentizität oder zumindest ein Wiedererkennungswert für die Cronecken kein wichtiges 14 Vgl. Gerd Althoff: Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie (MGH Schriften, Bd. 33), Hannover 1988, S. 417 – 441, hier S. 422 – 426, der darauf hinweist, dass ­solche Konzeptionen analog in vielen Chroniken des Mittelalters nachzuweisen sind. 15 Grundlage dieser Argumentation ist die Auffassung, der Kolophon sei eine Interpretation des Werks durch den Drucker. Vgl. hierzu Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 82. 16 N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 284r.

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Abb. 1: Realitätsnahe oder von der Realität beeinflusste Illustrationen17: Cronecken der sassen, GW 04963, ISTCic00488000, Peter Schöffer: Mainz, 1492; eingesehenes Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, BSB-Ink B-765. Bl. 236v.

Kriterium gewesen zu sein.17Natürlich wäre es im Hinblick auf die Figuren vermessen, eine Portraitdarstellung zu erwarten, aber der ­gleiche Vorbehalt, nur Typen abzubilden, gilt auch für die Siedlungen. Beide Illustrationstypen sind wie Wappen in hohem Maße typisiert, fast zeichenhaft und offenbar nicht mit der Intention entworfen, die Realität – und sei es nur punktuell – abzubilden. Damit entsprechen die Cronecken nicht der spätmittelalterlichen Tendenz zunehmend realitätsnaher oder zumindest der Realität nacheifernder Darstellungen,18 die sich in „mit wiedererkennbaren individuellen Elementen gespickte[n] Bilderfindung[en]“ 19 äußern würden. Dass es sich bei ­diesem Befund um eine bewusste konzeptionelle Entscheidung handeln muss, zeigt der Vergleich mit den wenigen werkinternen 17 Vgl. Abb. 2 zur symbolischen Darstellung. 18 Vgl. Baer 1903 (wie Anm. 4), S. 165. Er hat darauf hingewiesen, dass zur Zeit der Entstehung der Cronecken realitätsnahe Illustrationen nicht nur möglich, sondern auch erstrebenswert waren. – Vgl. ebenso Norbert H. Ott: Zum Ausstattungsanspruch illustrierter Städtechroniken. Sigismund Meisterlin und die Schweizer Chronistik als Beispiele, in: Poesis et pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken: Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. v. Stephen Füssel, Joachim Knape, Dieter Wuttke (Saecula spiritalia, Sonderband). Baden-Baden 1989, S. 77 – 106, hier S. 87. 19 Vgl. Wilfried Krings: Text und Bild als Informationsträger bei gedruckten Stadtdarstellungen der Frühen Neuzeit, in: Poesis et pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten

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Gegenbeispielen:20 Die Cronecken enthalten einige Schnitte, die nicht nur der Realität nachempfunden sind (Abb. 1), wie beispielsweise die Darstellung Kölns samt Dombaustelle und ikonischem Baukran,21 sondern auch versuchen, die Realität direkt abzubilden. Für den Frühling 1473 wird beispielsweise ein besonders großes Lindenblatt im Maßstab 1:1 abgebildet, zu dem es heißt: „Vnde to paſchen | weren vp der lynden to brunſwick ſtod brede blede, alſe hyr vmme vp | dem anderen blat geteket is.“ 22 Den Produzenten der Cronecken war es also durchaus möglich, den zeitgenössischen Illustrations-Standards zu entsprechen. Warum sie sich gegen diese entscheiden, könnte der Vergleich mit analogen Untersuchungen für die Schedelsche Weltchronik offenlegen. Auch hier werden Illustrationen wiederholt oder sind typisiert, wenn auch in erheblich geringerem Maße als in den Cronecken. Diese Illustrationen werden in der aktuellen Forschung entweder als Schwachpunkt, der vom Text korrigiert werden muss, interpretiert 23 oder man nimmt an, dass die Illustrationen anderen Realitätskonzepten entspringen als die realitätsnahen.24 Der Informationsgehalt der Illustrationen ist entweder so gering, dass er vom Text ergänzt, die Illustration also erläutert werden muss, um verständlich zu werden. Oder die Illustrationen sind in Ermangelung konkreter Informationen oder Unfähigkeit, diese adäquat darzustellen, fiktive Symbole, die durch den Text um Informationen angereichert werden müssen. Für die Cronecken lassen sich aber weder unterschiedliche Realitätskonzepte nachweisen, noch kann dem Text die Funktion als Korrektiv beigemessen werden. Einerseits ist die Differenzierung von Realitätskonzepten angesichts der fast ausschließlich symbolischen Illustrationen kaum sinnvoll, ganz zu schweigen davon, dass der hierfür nötige Entstehungskontext fehlt. Andererseits spricht der geringe Informationsgehalt der Schnitte gegen das Prinzip des Textes als Korrektiv. Dementsprechend müsste entweder kaum etwas korrigiert werden oder, wenn das Fehlen von Information als Fehler interpretiert werden würde, nahezu alles. Wesentlich näher liegt daher die These der Zeichenfunktion der Schnitte. Nach den Prämissen Krings 25 können die Schnitte der Crone-

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Drucken: Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. v. Stephen Füssel, Joachim Knape, Dieter Wuttke (Saecula spiritalia, Sonderband), Baden-Baden 1989, S. 295 – 336, hier S. 308. Vgl. hinsichtlich dieser Forderung ebd., S. 306. Vgl. N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 140v und Albert Schramm: 1. Fust und Schöffer, 2. Johann Numeister, 3. Peter Schöffer (Der Bilderschmuck der Frühdrucke Bd. 14), Leipzig 1931, Tafeln 114 – 204; http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/schramm1931bd14/0144 (15. 09. 2019). Vgl. N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 268r, 268v und Schramm 1931 (wie Anm. 21), Tafel 197, Abb. 967. Vgl. Stephan Füssel: Die Welt im Buch. Buchkünstlerischer und humanistischer Kontext der Schedelschen Weltchronik von 1493 (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft, Bd. 111), Mainz 1996, S. 12. Peter Seibert: „Die Welt im Buch“ – aber ­welche Welt? Anmerkungen zu Schedels Weltchronik, in: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Claudia Brinker-von der Heyde, zu ihrem 60 Geburtstag, hg. v. Andreas Gardt u. a., Berlin, Boston 2011, S. 215 – 230, hier S. 215. Vgl. Krings 1989 (wie Anm. 19), S. 296.

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Abb. 2: Siedlungsdarstellungen: Abbildung kombiniert aus: Cronecken der sassen, GW 04963, ISTCic00488000, Peter Schöffer: Mainz, 1492; eingesehenes Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, BSB-Ink B-765. Bl. 57r (Goslar), 56v (Brandenburg), 36r (Hildesheim) und 27r (Basel und Worms).

cken nur ex negativo gefasst werden. Da sie gegenüber der Realität nicht exakt sein können, müssen sie werkintern agieren und den Text strukturieren.26 Somit wird nicht das spezi26 Diesen Ansatz hat bereits Funke skizziert, wenn sie schreibt, dass die „Holzschnitte mit ihren Überschriften und Wappendarstellungen […] ein entscheidendes Gliederungselement“ sind und „auf einer

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fische ­Referenzobjekt Stadt oder Herrscher außerhalb des Werks durch eine realitätsnahe Gestaltung ausgewiesen, sondern die in Relation stehende Textstelle. Mit Seibert sind die Illustrationen der Cronecken daher als Symbole zu reinterpretieren, die den dichten Text strukturieren.27 Daraus folgt, dass sie sich der Dichotomie von ‚authentisch‘ und ‚fingiert‘ oder ‚wahr‘ und ‚falsch‘ entziehen, weil sie im Kontext der Cronecken schlicht als gesetzt und demnach allein schon aus ihrer Definition heraus als wahr anzusehen sind. Die Cronecken der sassen sind damit kein „ausgesprochenes Bilder-Werk“,28 sondern eine Chronik mit komplexem Text-Bild-Verhältnis, in dem die Illustrationen den Text gliedern, dessen Rezeption als unmittelbares Medium steuern,29 eine repräsentative Funktion haben und vor allem die kontinuierliche Bedeutsamkeit der Sachsen in den Vordergrund rücken. Unter dieser Prämisse stellt sich die Frage nach der Konzeption des Illustrationsprogrammes über die Frage nach dem Wert der Illustrationen hinsichtlich ihrer auszeichnenden und fokussierenden Funktion. Zunächst fällt auf, dass die Verteilung der Holzschnitte sehr ungleichmäßig und offenbar nicht darauf bedacht ist, die Iteration zu verschleiern. Beispielsweise werden die verschiedenen Holzschnitte, die K ­ aiser, Adlige und Bischöfe auszeichnen, extrem ungleichmäßig verteilt, so dass ein Schnitt eines Kaisers elf Mal so oft verwendet wird wie der andere.30 Hinzu kommt, dass innerhalb der Genealogieschnitte, die aus Halbfiguren kombiniert sind, bei weitem nicht alle Kombinationsmöglichkeiten realisiert werden.31 Vergleichbare Verhältnisse gelten auch für die Siedlungen und legen nahe, die offensichtlich ungleichmäßige Verteilung als motiviert anzusehen. Eine Teilkonzeption der Cronecken wäre in dem Ausweis gewisser Spezifika (vor allem der niedrigfrequenten Schnitte) und deren Koppelung über Wappen und Überschriften an bestimmte Personengruppen zu suchen. Für die Halbfiguren lässt sich diese These jedoch nicht aufrechterhalten, da sich ihre intentional erscheinende Verteilung nicht durch die Korrelationen ­zwischen Text und Bild erklären lässt. Weder ist die Wahl des Holzschnittes – und damit

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31

Zeichenebene Inhalte des dazugehörigen Textes“ vermitteln. Zudem prognostiziert sie, dass durch diese Gliederung der Text beim Durchblättern in seiner groben Struktur zugängig werde. Theoretisch untermauert oder auf seine Produktivität hin geprüft wurde dieser Ansatz jedoch nicht. Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 88. Vgl. Seibert 2011 (wie Anm. 24), S. 225. Vgl. Reimar Walter Fuchs: Die Mainzer Frühdrucke mit Buchholzschnitten 1480 – 1500, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens Bd. 2 (1958), S. 1 – 120, Diss. Universität Mainz 1955, S. 107. Vgl. Curschmann 1999 (wie Anm. 8), S. 393. Ein Kaiserschnitt (vgl. Schramm 1931 [wie Anm. 21], Tafel 134, Abb. 637) wird 22 Mal verwendet, der andere (Tafel 131, Abb. 626) jedoch nur zweimal. Ähnliches gilt für die überproportional häufige Verwendung eines Adligenschnittes (Tafel 184, Abb. 925) im Vergleich mit den Übrigen (Tafel 176, Abb. 897; Tafel 156, Abb. 77) und die überproportional seltene Verwendung eines Erzbischofsschnittes (Tafel 171, Abb. 854) im Vergleich mit den übrigen (Tafel 171, Abb. 852; Tafel 171, Abb. 858). Von 28 möglichen Kombinationen (sieben mal vier ohne singuläre Schnitte) wurden nur sechzehn realisiert. Vgl. hierzu auch Flood (wie Anm. 2) S. 187.

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die Verteilung – der ­Kaiser, Könige und Adligen an genealogische Linien oder andere Zugehörigkeiten geknüpft, noch lassen sich aussagekräftige Korrelationen zu zugeschriebenen Attributen, Heiratspolitik oder irgendeiner anderen im Text genannten Information nachweisen. Die überproportional gehäufte Verwendung der einen Schnitte lässt sich daher ebenso wenig erklären wie die seltene Nutzung der anderen. Im Gegensatz dazu sind die Text-Bild-Zusammenhänge der Siedlungen zwar komplexer, die Verteilung jedoch nachvollziehbar und offensichtlich intentional. Die Cronecken unterscheiden nicht nur ­zwischen Kloster, Burg und Stadt (was der Unterscheidung ­zwischen ­Kaiser, König etc. entspräche), sondern bilden auch das spezifische Herrschaftshandeln der Machthaber im Kontext der jeweiligen Siedlung ab und lassen so feine Differenzierungen zu. Hierzu werden eine oder mehrere Figuren vor der Siedlung dargestellt und so Hinweise auf eine Handlung gegeben, die sich in Gestik und Figurenkonstellationen niederschlagen. Derart kann z­ wischen Burg-, Stadt-, Bistums- und Domgründungen sowie den Überantwortungen der gegründeten Machtsphären unterschieden und anhand der Personen und deren Anzahl abgelesen werden, wer was gründet und ob mehrere Gründungen im Text genannt werden. Ein ­Kaiser, König oder Adliger steht beispielsweise für weltliche Gründungen und in seltenen Fällen für die Überantwortung einer Siedlung,32 es sei denn, er ist mit einem Bischof abgebildet, dann handelt es sich um eine Gründung eines Klosters, Bistums, etc. Vergleiche hierzu die Illustrationen der Gründung der Stadt Goslar, der Überantwortung der Mark Brandenburg, der Gründung des Bistums Hildesheim und der Gründungen der Bistümer Basel und Worms in Abb. 2. Siedlungsdarstellungen scheinen nicht nur die Siedlung auszuweisen, sondern auch und vielleicht vor allem die Verknüpfung ­zwischen Herrschenden (die vorausgehend zumeist als Angehörige der sächsischen Herzogfolge präsentiert werden) und Siedlungen hervorzuheben. Schon dieser erste Überblick über die iterierenden Holzschnitte und deren Interaktion mit dem Text lässt erkennen, dass der Geschichtsraum, der in den Cronecken entworfen wird, offensichtlich nicht über primär genealogische, institutionelle oder andere vertikale Linien erfasst werden kann. Die vielfache Darstellung von Siedlungen und Herrschenden wirft die Frage auf, wie diese Institutionen und deren Handeln in die Chronik integriert werden. Die symbolhafte Konzeption der Illustrationen und deren unmotivierte Verteilung könnten darauf hinweisen, dass dies nicht einfach über den schlichten Umstand ihrer Lage in Norddeutschland oder über ein breit gefächertes und heterogenes Informationsangebot funktioniert.33 Vielmehr scheint es, als wären alle diese Institutionen einer Integra­tionsstrategie unterzogen worden, die sich nicht zuletzt im einheitlichen Bildprogramm 32 Vgl. Schramm 1931 (wie Anm. 21), Tafel 25, Abb. 604 hinsichtlich weltlicher Gründungen und Tafel 119, Abb. 598 hinsichtlich geistlicher. 33 Vgl. Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 242 f.

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niederschlägt.34 Auch die Handlungen vor den Städten und die Genealogien selbst verweisen mit den allgegenwärtigen Hinweisen auf die Sachsen darauf, dass sämtliche Insti­ tutionen vielfach vernetzt werden. Nicht nur die Genealogie steht als Netzwerk und damit klassisches Legitimierungsmedium im Vordergrund, sondern auch das Land, das als maßgeblich von den Sachsen beeinflusst dargestellt wird. Auf diese Weise könnte die spezifisch sächsische Geschichtskonzeption der Cronecken, die Funke als (nicht der Realität entsprechende) Geschichtseinheit beschreibt,35 genauer gefasst werden. Offenbar sind die Sachsen und deren Handeln im sächsischen Gebiet jener Faktor, der das heterogene Informationsprogramm homogenisiert. Die Sachsen erscheinen als kleinster gemeinsamer Faktor aller Informationen und sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Ausgangspunkt hierfür ist die offensichtliche Vernetzung der Sachsen in einem genealogischen Netzwerk, einem Stammbaum. Die häufigsten und damit am prominentesten vertretenen Schnitte sind genealogische. Vollkommen zu Recht erkennt Funke in diesen eine mehrfache Legitimationsstrategie, die auf der Kohärenz und Inkorporation bedeutsamer Herrschaftsträger fußt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nur Sachsen abgebildet werden. Insgesamt werden 135 ­Kaiser, Könige und Adlige illustriert. Von diesen stammen jedoch nur vier ­Kaiser und 45 Adlige direkt von Widukind ab. Die Konzeption in der sächsischen Herzogslinie zu suchen, erschöpft das Werk also offensichtlich nicht. Hierfür spricht auch der in Abb. 3 präsentierte Stammbaum auf Bl. 30r, der das Geschlecht Widukinds darstellt und sich in ­mehrfacher Hinsicht vom Titelblatt unterscheidet:36 Verknüpft das Titelblatt die Sachsen als Herrscher mit ihrem Herrschaftsraum und ihren Machtsphären, bildet der Stammbaum Widukinds dagegen nur Familienwappen ab. Neben sächsischen Wappen erscheinen jedoch auch die der Bayern, Österreicher und Franken. Gemäß den Cronecken stammen all diese Herrscherhäuser von zwölf sächsischen Adligen ab, die mit Widukind gegen Karl den Großen gekämpft haben und anschließend im Herzogtum Sachsen zu Lokalherrschern avancierten: vnde do konigh karle one [Widukind, Anm. d. Verf.] bekarde de makede do dat eyn hertoch- | dom to ſaſſen. vnde ſattede wedekint to eynem hertogen. vnde de ande |ren to heren vnde to greuen vnde ſcholde bliuen by der linea van aru | to aruen de wıle dat ſe warden. | So dat van duſſen twelff eddelınge der | ſaſſen ſund aff her gekommen duſſe furſten unde her. By namen De her | togen to ſaſſen De hertogen do Brunſwick De marggreu van br | denburck De hertoghen to francken De hertogen to ſwauen. De palt | greuen van dem Ryne De hertoghen van beyeren De hertoghen van | oſterick De Konıgh van frankrıke De foꝛſten van anhalt De grev v | merſboꝛch Dde greu van Rıngelhaym de greven van kattelenboꝛch 37 34 Auf die Einheitlichkeit der Illustrationen wies schon Baer 1903 (wie Anm. 4), S. 162 hin, der von einer „harmonisch, einheitlich ausgestatteten“ Inkunabel spricht. 35 Vgl. Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 244. 36 Vgl. N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 30r und Schramm, Tafel 125, Abb. 605. 37 N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 30v.

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Abb. 3: Titelblatt und sächsischer Stammbaum im Vergleich: Abbildungen kombiniert aus: Cronecken der sassen, GW 04963, ISTCic00488000, Peter Schöffer: Mainz, 1492; eingesehenes Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, BSB-Ink B-765. Bl. 1r (Titelblatt) und Bl. 30r (Stammbaum Widukind).

Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Motivationen durch genealogische Sukzession wirft die Interpretation einer legitimierenden Funktion von Genealogien durch die Anknüpfung an modellhafte Gestalten der Vergangenheit Probleme auf.38 Im Gegensatz zu vergleichbaren Lokalchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, denen häufig eine legitimierende Funktion einzelner Personen nachzuweisen ist,39 scheinen die Cronecken keinen spezifischen Herrscher, sondern die Personengruppe der Sachsen im Allgemeinen (Braunschweiger, Brandenburger, Katlenburger und sogar Bayern, Österreicher und Franken etc.) zu legitimieren, was für ein breites Netzwerk und gegen eine Herzoglinie spricht. Damit fehlen den Cronecken angesichts der breit gefächerten und homogen präsentierten Sachsen als askanischen, wettinischen, welfischen Herzögen und offenbar auch bayrischen, österreichischen 38 Vgl. Althoff 1988 (wie Anm. 14), S. 419 f. – Vgl. ebenso Tobias Tanneberger: Visualisierte Chronik. Visualisierte Genealogie – Zur Wirkmächtigkeit und Plausibilität genealogischer Argumentation, in: Handbuch der Chroniken des Mittelalters, Berlin 2016, S. 521 – 542, hier S. 521 sowie 536. 39 Vgl. Gesine Mierke: Norddeutsche Reimchroniken: Braunschweigische und Mecklenburgische Reimchronik, in: Handbuch Chroniken des Mittelalters, hg. v. Gerhard Wolf, Norbert H. Ott. Berlin 2016, S. 197 – 224, hier S. 222.

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und fränkischen Herrschern jene Legitimationsprinzipien der „Darstellung einer aktuell bestehenden oder gewünschten Situation, d. h. der natürlichen/göttlichen Ordnung entsprechend“ 40 ebenso wie die Motivation, in krisenhaften Kontexten Ansprüche zu klären. Den Cronecken fehlt eine in ihrer Zeit begründete und verankerbare Motivation,41 was die Frage nach der Intention umso drängender erscheinen lässt. Die fehlende Motivation spricht zudem ebenfalls für die These, dass die Analyse der Herzogsfolge die Konzeption und Intention der Cronecken nur zum Teil erfasst. Um die Intention begreifen zu können, muss die Netzwerkanalyse sämtliche dargestellten Persönlichkeiten erfassen, da anzunehmen ist, dass der Großteil der illustrierten Personen, die nicht von Widukind abstammen, im Rahmen des Werkes mit der Linie Widukinds verknüpft ist. Inwiefern dies stimmt, wie beispielsweise die Bayern, Österreicher und Franken in den sächsischen Stammbaum integriert werden und wie diese Verknüpfungen zur Repräsentation der Sachsen beitragen, gilt es zu ergründen. Darüber hinaus verweist das bereits angesprochene Titelblatt auf eine weitere Vernetzungsstrategie der Cronecken. Einerseits dupliziert die Darstellung den Inhalt des Werkes rudimentär und zeigt so andererseits, dass die Sachsen nicht nur genealogisch vernetzt zu sein scheinen, sondern auch mit den Institutionen Reich, Bistum, Stadt und Burg explizit in Beziehung stehen.42 All dies ist aus den Siedlungsansichten ebenso einfach abzulesen wie der räumliche Fokus der Cronecken, das ehemalige Stammherzogtum Sachsen sowie dessen erweiterte Ausdehnung unter Heinrich dem Löwen. Innerhalb ­dieses Raumes beschränken sich die Cronecken jedoch nicht nur auf Städte wie Braunschweig und Magdeburg, die von besonderer Bedeutung für eine sächsische Historie sind und mit singulären Illustrationen hervorgehoben werden, sondern nennen auch eine Reihe von kleineren bis kleinsten Siedlungen und generieren somit eine extreme historische Tiefe.43 Die Motivation der Nennung ist bei den meisten singulären Illustrationen leicht erkennbar, sie weisen eindeutige sächsische Bezüge auf.44 Gleiches gilt aber auch für die 40 Tanneberger 2016 (wie Anm. 38), S. 524. 41 Vgl. Althoff 1988 (wie Anm. 14), S. 434. 42 Nach: Funke 2001 (wie Anm. 1), S. 90 – 94 finden sich im Titelholzschnitt die Wappen des askanischen Herzogtums Sachsen (das in den Cronecken jedoch allgemein für die Nachkommen Widukinds verwendet wird), das Wappen der askanischen Markgrafen von Brandenburg, das des alten Hauses Braunschweig vereint mit dem des alten Hauses Lüneburg, das der Brandenburger, die Stadtwappen Braunschweigs und Lüneburgs sowie die Wappen der Bistümer Halberstadt, Hildesheim, Oldenburg/Lübeck und der Erzbistümer Magdeburg sowie Bremen. 43 Beispielsweise Alfeld, Northeim und verschiedene Stammsitze wie beispielsweise Ricklingen oder Bockenem. 44 Quedlinburg wird durch die hl. Mathilde ausgezeichnet, Magdeburg zeigt auf der Stadtmauer einen Heiligen, der das von Otto I. auf Wunsch seiner Frau Editha gegründete Benediktinerkloster repräsentiert, und für Braunschweig werden nicht nur die beiden mystischen Gründerbrüder Bruno und Dankwart samt sächsischen Wappen, sondern auch der Stadtheilige und Schutzpatron Braunschweigs, der

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iterierenden Siedlungsansichten, die keinen unmittelbar einsichtigen sächsischen Bezug aufweisen. Dieser ist über das Herrschaftshandeln gegeben, das zusätzlich über den Text spezifiziert werden muss. Fast alle Siedlungen werden im Kontext sächsischer Machthaber genannt, die zuvor über die Genealogien vorgestellt wurden und die nun über ihr Handeln im Kontext der Siedlung legitimiert werden. Da dies auch für die kleinen und kleinsten Siedlungen gilt, wird die Durchdringung der historischen Tiefe durch die Sachsen und damit ihr Status als allgegenwärtiger homogenisierender Faktor deutlich. Dies kann auch indirekt geschehen, wie in den Sachsenkriegen, in denen Karl der Große sächsisch-heidnische Kultstätten zerstört und an deren Stelle Bistümer gründet, oder indem Herrscher durch die Gründung von Siedlungen aufgewertet und anschließend von Sachsen im Kampf besiegt werden.45 Die Nennung des absoluten Großteils der Siedlungsdarstellungen ist somit direkt oder indirekt durch sächsische Machthaber motiviert. Ihr Wirkungsradius wird über die Grenzen Norddeutschlands hinaus ausgedehnt, indem auch die außerhalb des Fokus der Cronecken liegenden Siedlungsansichten (beispielsweise Riga, Basel, Paris) im Kontext sächsischer Machthaber genannt werden. Hinsichtlich der Siedlungsansichten soll mit der Netzwerkanalyse herausgearbeitet werden, welches die zentralen (sächsischen) Siedlungen sind und wie die Personen mit den Siedlungen interagieren. So stellt sich etwa die Frage, ob die Siedlungen im Ostseeraum mit mehreren Persönlichkeiten vernetzt sind – denen, die sie gründen und jenen, die sie erobern – und ob es hier Unterschiede zu den Siedlungen des Stammherzogtums gibt. Auch könnten mit einer entsprechenden Analyse die deskriptiven Thesen Funkes, nach denen die Cronecken dynastisch orientierte Landesgeschichtsschreibung dicht mit Bistumssowie Stadthistoriographie vernetzen, hinsichtlich der intendierten Funktion spezifiziert und erweitert werden.

3. Die qualitative Analyse 3.1 Exkurs: Netzwerkanalysen 46 Die Grundlage jeder Netzwerkanalyse sind die Fragen, die mit ihr beantwortet werden sollen. hl. Auctor präsentiert. Vgl. hinsichtlich Quedlinburg: N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 57v. – Schramm 1931 (wie Anm. 21), Tafel 176, Abb. 895, hinsichtlich Magdeburg Bl. 60r und Tafel 176, Abb. 896 sowie hinsichtlich Braunschweig Bl. 42r und Tafel 133, Abb. 634. 45 Insgesamt gibt es 74 Siedlungsdarstellungen, davon elf singuläre. Von den singulären weisen acht eindeutige sächsische Bezüge auf, sieben innerhalb der Illustration. Von den iterierenden Illustrationen sind 36 direkt durch sächsische Machthaber kontextualisiert, zwölf weitere indirekt. 46 Grundlage des Exkurses ist: Handbuch Historische Netzwerkforschung: Grundlagen und Anwendungen, hg. v. Marten Düring u. a., Berlin, Münster 2016.

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Auf Basis der quantitativen Analyse der Text-Bild-Komplexe sind dies: 1. Wie genau ist die Genealogie der Cronecken aufgebaut? Wie gliedert sich die Linie Widukinds in das Netzwerk mitteleuropäischer Herrscherhäuser ein und ­welche Implikationen können hieraus für die Legitimation der Sachsen abgeleitet werden? 2. Wie kann das von Funke als dicht bezeichnete Informationsmodell der Chronik als offenbar bewusste Komposition modelliert werden und w ­ elche Schlussfolgerungen lassen sich hieraus für die Darstellung der Sachsen ableiten? Daraus folgt: Wie sind die in 1 umrissenen Sachsen mit dem von ihnen beherrschten Gebiet verknüpft? Welche Interdependenzen gibt es ­zwischen den Machtsphären, ­welchen Einfluss nehmen die Sachsen und welcher Einfluss wird auf sie genommen? Die Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen ist die Verknüpfung der Informationen in einem Netzwerk, in dem sogenannte Knoten und Kanten die Akteure und deren Beziehungen formalisieren, die in den Cronecken genannt werden. Knoten entsprechen hierbei den Entitäten, die Kanten Beziehungen – häufig Interaktionen –, ­welche die Entitäten miteinander haben. Auch das den Cronecken zugrunde liegende Geflecht von Personen, Machtsphären und deren Beziehungen, das in den Illustrationen präsent wird, lässt sich über Knoten und Kanten darstellen. Knoten stehen für die Personen (Halbfiguren) und die Machtsphären (Siedlungsdarstellungen). Die Kanten fallen komplexer aus, da sie die diversen in den Illustrationen dargestellten Handlungen repräsentieren müssen, mit denen die Knoten miteinander in Beziehung treten können. Es handelt sich hierbei auch um Genealogien, in denen die Heirat und die Zeugung von Kindern schon in den Cronecken durch miteinander verknotete Taue dargestellt werden und die leicht in ein Netzwerk übertragen werden können. Darüber hinaus weisen die Siedlungsdarstellungen durch einen Zeigegestus die Handlung eines Adligen und/oder Bischofs aus, der eine Stadt oder ein Bistum gründet oder erobert, dabei ggf. Bischöfe ernennt, einen Dom oder eine ­Kirche baut etc., und somit in Beziehung zu d ­ iesem/dieser steht. Hinzu kommen eine Reihe von weiteren Illustrationen, die keine der Machtsphären, sondern abstrakte Konzepte wie Auseinandersetzungen, Ernennungen etc. ­zwischen oder von Akteuren darstellen, und ebenfalls als Kanten realisiert werden müssen. So wird bereits in den Illustrationen, die unter dem Blickwinkel einer Netzwerkanalyse betrachtet werden, eine zentrale These der Geschichtswissenschaften sichtbar: Historische Machtsphären, also Städte, Herrscherhäuser, Reiche usw., und damit im Kontext der Cronecken die Sachsen, manifestieren sich in der Summe historischer Ereignisse, sprich Handlungen.47 Dies weist schon jetzt auf die Möglichkeiten hin, mit der das Netzwerk der Cronecken die Frage nach der sächsischen Identität beantworten könnte: Anhand der 47 Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 144 – 158.

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Vernetztheit einzelner Knoten oder der durchschnittlichen Vernetztheit einer Gruppe von Knoten könnte zunächst die Zentralität einzelner Personen, ganzer Genealogien oder Herrscherhäuser erfasst werden. Anhand der Art der Kanten kann zudem die Darstellung der zentralen Machtsphären genauer gefasst werden. Dabei muss z­ wischen den genealogischen Kanten und anderen unterschieden werden, da Erstere nur auf viele Kinder oder häufige Heiraten hinweisen und somit höchstens über heiratspolitische Verhältnisse Aufschluss geben, wohingegen Letztere die Einflussnahme einzelner Machtsphären oder eines C ­ lusters dieser modellieren. Die Kanten und Knoten müssen daher mit Metadaten versehen werden, was den Informationen jener Textabschnitte entspricht, die illustriert werden. Nur auf diese Weise ist eine genauere Analyse möglich, da beispielsweise nur genealogische oder nicht genealogische Verhältnisse oder insbesondere die Interaktionen mit Bischöfen/Bistümern etc. betrachtet werden können. Für ein Netzwerk, an das entsprechende Fragen gestellt werden können, müssten zunächst sämtliche Knoten definiert werden. Für Siedlungs- und Bischofsdarstellung ergibt sich ein Knoten und pro Genealogieschnitt zwei; die dargestellten Kinder werden nur als Knoten erfasst, wenn sie in einer eigenen Genealogie genannt werden, da sie sonst für die Analyse Ballast sind, der rückwirkend herausgerechnet werden muss. Allen Knoten werden ID s zugeordnet, um diese eindeutig zu definieren. Heinrich der Löwe ist beispielsweise 326, seine Eltern 311 sowie 312 seine Frau Mathilde 327 und Braunschweig 85.48 Die Kanten, die zwei Knoten miteinander in Beziehung setzten, werden durch zwei IDs definiert, die in Mengenklammern dargestellt und Tupel genannt werden. So beschreibt das Tupel {326, 327} eine Kante oder Beziehung z­ wischen den Knoten Heinrich der Löwe und Mathilde, die im Kontext des Genealogieschnittes ihre Ehe bedeutet. Andere Interaktionen der beiden illustrieren die Cronecken nicht, aber wenn dem so wäre, müsste hierfür eine zweite Kante definiert werden, die durch Metadaten von der ersten zu unterscheiden wäre. Auch die Eltern Heinrichs sind verheiratet und stehen zugleich in einem Verhältnis zum Löwen. Hier sollte ebenfalls die ‚Eltern-Kind-Kante‘ von der ‚Ehe-Kante‘ unterscheiden werden, was wiederum durch die Annotation von Metadaten geschieht. Kanten können nicht nur benannt, sondern auch gerichtet werden. Für den Ausbau Braunschweigs durch Heinrich den Löwen bedeutet dies beispielsweise, dass die Kante von Heinrich nach Braunschweig weist und nicht umgekehrt, da sonst impliziert wäre, dass die Initiative von Braunschweig ausgehen würde, und, sollte die Kante über die Metadaten bereits als ‚Ausbau‘ definiert sein, Braunschweig Heinrich den Löwen ausbauen würde. Die Richtung der Kanten ist auch für die Analyse der Zentralität und der daraus abgeleiteten 48 Die Zahlen der IDs sind dabei arbiträre Werte, die sich allein aus der Abfolge der Knoten ergeben, ­welche von den Cronecken diktiert wird. Der Knoten, der für Heinrich den Löwen steht, trägt also nur die ID 326, weil Heinrich der Löwe die 326. Entität ist, die in den Cronecken durch Illustrationen dargestellt wird.

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Identität unabdingbar. Somit wird die Zentralität eines Knotens, genannt Grad, und damit seine Bedeutung für das Netzwerk, durch die von ihm ausgehenden oder die ihn bezielenden Kanten definiert, was verschiedene Implikationen für die Interpretation des Grades bedeutet. Ein Knoten hohen Grades an ausgehenden Kanten nimmt viel Einfluss, auf einen Knoten mit einem hohen Grad an eingehenden Kanten wird viel Einfluss genommen, was pro ausgezeichneter Person oder Siedlung eigene Implikationen ergibt. Die sich so ergebende Annotation ist das Herzstück der Netzwerktheorie, da erst sie differenzierte Abfragen ermöglicht.

3.2 Die Netzwerkanalyse 49 Durch die Netzwerkanalyse ist zunächst die Konzeption der Vernetzung erkennbar. So gut wie alle Illustrationen und korrespondierenden Textinformationen sind in das Netzwerk eingebunden; nur 8,2 % aller Knoten besitzen keine Kante, sind isoliert und somit kein Teil des Netzwerks. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sie keinen sächsischen Bezug aufweisen: Beispielweise sind die Universalhistorie und die Origo gentes der Sachsen zwar bebildert, lassen sich jedoch nicht an das Netzwerk anschließen. Die Gründung Roms und die fingierten Gründungen diverser Siedlungen durch Caesar im sächsischen Gebiet stehen ebenso isoliert da wie Konflikte der Sachsen nach deren Landnahme mit den Thüringern und Franken. Grund hierfür ist das Fehlen von Knoten, an die diese Handlungen angeschlossen werden können.50 Werden alle Knoten, die zwar nicht vernetzt sind, aber einen sächsischen Bezug aufweisen, ausgeklammert, ergibt sich, dass nur 4,8 % aller Illustrationen keinen direkten oder indirekten sächsischen Bezug aufweisen. Dies würde in einer Chronik der Sachsen wenig überraschen, präsentierte sie nicht ein derart homogenes und breit gefächertes Informationsangebot wie die Cronecken. Der Großteil der Genealogien behandelt zwar nicht die direkten Nachkommen Widukinds, deren Genealogie ist über Heiraten jedoch ebenso vernetzt wie mit der zivilisatorischen Infrastruktur in Form von Kloster, Burg, Stadt und Bistum in Norddeutschland, aber auch der geographisch benachbarten oder Sachsen inkorporierenden Machtsphären wie Paris, Basel, Ungarn, Polen oder dem Reich. 49 Grundlage der Netzwerkanalyse sind zwei Exceltabellen, in denen zunächst sämtliche Knoten mit IDs und Metadaten versehen und anschließend mit Kanten in Beziehung gesetzt wurden. Die Analyse dieser Tabellen erfolgte mit dem open-source-Programm: Gephi. The Open Graph Viz Platform. Version 0.9.2; https://gephi.org/ (17. 09. 2019) und einschlägigen Analyse-Algorithmen, die folgend genannt werden. Von einer Darstellung des Netzwerkes wird hier abgesehen, da dies nicht zur Veranschaulichung, sondern zur Analyse diente und daher visuell wenig aufschlussreich ist. 50 Man könnte zumindest für die mit einem Schiff in Norddeutschland landenden Sachsen einen Knoten präsupponieren, dieser würde jedoch so nicht in den Cronecken ausformuliert und soll deshalb auch nicht ergänzt werden. Zudem würde ein solcher Knoten im Kontrast zu den ansonsten existierenden und klar mit Metadaten ausgezeichneten stehen.

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Die These der Vernetzung kann demnach objektiviert werden. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der Form des Netzwerkes nieder, in dem Elemente zyklischer Graphen und Wurzelgraphen kombiniert sind. Die genealogischen Wurzelgraphen – klassische Stammbäume – einzelner Herrscher (Widukind, Karl der Große, Welf I.) werden offenbar untereinander vernetzt, woraus der zyklische Aspekt des Netzwerkes ebenso folgt wie die Tatsache, dass die Genealogien nicht isoliert betrachtet werden sollten. Um die genealogische Vernetzung zu analysieren, können sämtliche Knoten und Kanten ignoriert werden, die keine Genealogien abbilden. So ist es möglich, die einzelnen Geschlechter – ausgehend von einem jeweiligen Stammvater 51 – miteinander in Beziehung zu setzen und so die Implikationen für die Sachsen herauszuarbeiten. Für die Analyse spielen hierbei zwei Werte eine Rolle: Die Menge der Personen, die zu den jeweiligen Geschlechtern zählen,52 um die Gewichtung innerhalb der Cronecken zu durchdringen, und die durchschnittliche Zentralität der einzelnen Geschlechter und damit deren Vernetzung untereinander, um den im Stammbaum auf Bl. 30v dargestellten Verhältnissen nachzuspüren. So ergibt sich, dass in den Cro­ necken der sassen neben den Sachsen auch die Welfen im Fokus stehen. Beide Geschlechter machen mit 29 % (Widukind) und 26 % (Welf ) aller genannten Personen den Großteil der Knoten des entsprechenden Netzwerkes aus.53 Dies ist besonders interessant, da erst in der Mitte des Werkes die Linien in Heinrich dem Löwen auf Bl. 128V zusammenfallen. Die insgesamt ähnliche Frequenz weist diesbezüglich darauf hin, dass Welfen und Sachsen in gleichem Maße berücksichtigt werden, obwohl Erstere zumindest in der ersten Hälfte der Chronik kaum eine Rolle für die Sachsen spielen. Hinzu kommt, dass die Welfen ebenfalls eine Origo gentes erhalten und sich somit nicht nur hinsichtlich ihrer Frequenz von den übrigen Genealogien abheben. Um das Verhältnis von Welfen und Sachsen zueinander und zu den übrigen Genealogien zu erfassen, kann die Entfernung ­zwischen den einzelnen Genealogien berechnet werden, also, wie viele Kanten im Schnitt ­zwischen den Persönlichkeiten, die nicht von Widukind/Welf etc. abstammen und jenen, die es tun, liegen. Referenzrahmen hierfür ist die durchschnittliche Entfernung aller Knoten zueinander, die 6,046 beträgt – für einen gemischten Graphen ein hoher Wert, für einen Wurzelgraphen ein niedriger. Für das Netzwerk der Cronecken legt dies nahe, dass, obwohl es sich um ein gemischtes Netzwerk handelt, die genealogischen Strukturen und damit die Tendenzen eines Wurzelgraphen im Gegensatz zu denen eines zyklischen im Vordergrund stehen. Dies bedeutet, dass die Genealogien mehr oder minder eigenständig genannt werden und nur 51 Beispielsweise Widukind, Karl der Große, Welf I., Hermann Billung etc. 52 Hierbei kann es der Fall sein, dass eine Person und damit ein Knoten zwei oder sogar mehr Stammvätern zugeordnet wird, Heinrich der Löwe stammt im Kontext der Cronecken z. B. prominent von Widukind und Welf I. ab, und somit in der statistischen Auswertung mehrfach gezählt werden muss. 53 Zum Vergleich: Die direkten Nachkommen Albrechts I. von Brandenburg machen 11,6 % aus, die ­Wenzels I. von Sachsen-Wittenberg 5,2 %, die Balduins I. von Flandern 4,1 % und die Hermann Billungs sowie Karls des Großen jeweils 2,3 %. Der Rest sind gemischte andere.

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punktuell vernetzt sind. Die Tatsache, dass die Entfernung mehrerer zeitlich parallel existierender Linien untereinander höher ist als die jeweilige Entfernung zu Sachsen, lässt zudem darauf schließen, dass die Anbindung der jeweiligen Genealogien an die Linie Widukinds das Ziel der Vernetzung ist. Dies wird auch durch den sogenannten Clusterkoeffizienten bestätigt, der das Verhältnis von paarweise vernetzten benachbarten Knoten mit denen, die dies nicht sind, in ein Verhältnis setzt und somit Aufschluss darüber gibt, wie dicht ein Netzwerk vernetzt ist. Für die Cronecken ergibt sich insgesamt ein geringer Clusterkoeffi­ zient von 0,452, was darauf hinweist, dass im Kontext der Genealogien offenbar nur jeweils eine Linie verfolgt wird und sich somit nur selten Clusterungen, also mehrfache Verknüpfungen mit anderen Linien, ergeben. Die Cronecken präsentieren zentrale Genealogien als parallel nebeneinander existierende Linien, die nur selten miteinander vernetzt sind, und dies hat Methode. Nach der Vernetzung mit der Linie Widukinds werden die ansonsten parallel genannten Genealogien nicht mehr beachtet. Den Cronecken geht es offenbar nur darum, die jeweiligen Geschlechter in die sächsische Linie zu integrieren, was so sogar im Kontext der flandrischen Herrscher explizit ausformuliert wird: […] vnde ſyn schlechte dat warde went in dat achte leyt so gy | hyr na eynen na dein andern v­ inden willen na den iaren Do quam de | geuenschopp to flanderen an anderen heren dar wille ick dat laten bli- | uen dar dut schlechte kert wente ſe van dem bome van karolus des gro | ten gekomen ſy van ſpille haluen.54

Die zum Teil lange (die Hälfte des Werks) parallel genannten Genealogien sind dem typischen Bemühen geschuldet, möglichst viele prestigeträchtige Herrscher an die sächsische Genealogie anzuschließen. Im Kontext der Cronecken sind somit nur jene genealogischen Knoten weit von der sächsischen Genealogie entfernt, die genannt werden müssen, um über die letztliche Verbindung mit den Sachsen deren Genealogie aufzuwerten, was so insbesondere für Welf I. und Karl den Großen gilt. Diese Aufwertung scheint jedoch nicht dem zeitgenössischen Standard der Legitimierung einzelner Herrscher oder Geschlechter zu folgen, sondern im Kontext der Vernetzung der Sachsen eine Art gesamtsächsische Aufwertung zu verfolgen, in der neben den Stammsachsen und Welfen auch die Wettiner und Askanier mit einbezogen sind. Das sächsische Netzwerk speist sich zwar aus vielen Linien, fokussiert diese jedoch nicht in einer, sondern fächert die Abstammung von Widukind in der zweiten Hälfte der Cronecken weit auf. Im Gegensatz zur ersten Hälfte des Werkes, in der Karolinger, Welfen und auch Flandern in die sächsische Genealogie inkorporiert werden, werden die Askanier und Wettiner und sogar Österreicher in der zweiten Hälfte in die sächsische, also die Widukind’sche, Linie eingeheiratet und infolgedessen parallel zu dieser als Sachsen weiter geführt, womit letztlich genau jene Verhältnisse nachgezeichnet werden, die im Stammbaum auf Bl. 30r präsentiert werden. Das genealogische Netzwerk 54 Vgl. N. N.: Cronecken der sassen 1492 (wie Anm. 1), Bl. 51v.

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der Cronecken könnte als eine Sanduhr dargestellt werden, an deren engster Stelle H ­ einrich der Löwe steht. In ihm vereinigen sich alle Linien und aus ihm gehen alle Linien der Herrscher und jener Machtsphären hervor, die an die Stelle des Stammherzogtums treten und die sächsische Herzogwürde weitertragen. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die durchschnittlichen und damit von der Frequenz unabhängigen Zentralitäten, für die nun alle Knoten und nicht nur die genealogischen berücksichtigt werden, um die Verknüpfung von Sachsen und Raum zu ergründen. Für die Nachkommen von Welf und Widukind liegt der Grad der Zentralität bei 5,2. Ähnliches gilt auch für die Nachkommen Karls des Großen sowie Hermann Billungs und Balduins von Flandern mit 4,75. Dies bestätigt zunächst die These, dass die Cronecken auch die Welfen prominent präsentieren, quantitativ, da offenbar nur die direkte Linie verfolgt wird. Jeder Nachkomme hat im Schnitt vier Kanten, die seiner Eltern, die seiner Ehepartnerin und die seines Sohnes, der Stammhalter ist. Der bisher berechnete Grad gibt jedoch keinen Aufschluss über die Art der Zentralität und macht keine qualitativen Analysen möglich, obwohl gerade diese aufgrund der relativ geringen Werte im Hinblick auf die in den Illustrationen prominent vertretene Interaktion mit Siedlungen erstrebenswert sind. Neben der Frage, welches Konzept die Cronecken von ‚den Sachsen‘ vermitteln, bestehen weiterhin die Fragen nach dem ‚wer‘ und nach dem ‚wie‘. Erstere wurde mit dem Verweis auf die Linie Widukinds und deren Auffächerung beantwortet, Letztere mit der klassischen Inkorporation von bedeutsamen Persönlichkeiten in diese Linie angeschnitten, bedarf hinsichtlich der Siedlungsansichten jedoch weiterer Untersuchungen. Werden die Siedlungen im Clusterkoeffizienten berücksichtig, erhöht sich dieser nicht. Dies deutet darauf hin, dass Siedlungen hauptsächlich im Kontext einer Person und anschließend nicht noch einmal genannt werden. Daraus ergibt sich, dass die historischen Persönlichkeiten nicht über die Siedlungen miteinander in Beziehung gesetzt werden oder Genealogien über Machtsphären determiniert werden, sondern dass die Persönlichkeiten und somit letztlich deren Genealogien als Einflussfaktor auf das Land gelten müssen.

4. Fazit Die These, dass Institutionen nur aufgrund ihrer geographischen Lage genannt werden, muss abgewandelt werden. Die Institutionen werden vielmehr nur aufgrund ihrer Determinierung durch einen sächsischen Kontext genannt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Cronecken über die Genealogie die heterogenen geopolitischen Verhältnisse homogenisieren, die beispielsweise mit der Auflösung des Stammherzogtums und dem Entzug der sächsischen Herzogwürde einhergehen. Beides wird marginalisiert, indem die Sachsen im Kontext der Cronecken weder das eine noch das andere zu verlieren scheinen. Die Herzog­ würde wird immer noch von jenen Personen, die der sächsischen Integrationsstrategie

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unterzogen wurden, getragen und die Machtsphären, die anstelle des Stammherzogtums existieren, ebenso wie die neuen sächsischen im Osten, werden von Nachkommen ­Widukinds beherrscht. Somit wird die Diskussion der Zersplitterung der Machtsphären, die durchaus in den Wappen deutlich wird, umgangen, indem die herrschende und zunehmend auffächernde Linie Widukinds als allgegenwärtiger Faktor präsentiert wird. Um dies zu erkennen, bedarf es keiner Netzwerkanalyse. Mit ihr kann aber die Grundlage der Homogenisierung genauer herausgearbeitet werden, wie die Sachsen mit dem von ihnen beherrschten Gebiet vernetzt sind. Zunächst ist festzuhalten, dass die Kanten z­ wischen Persönlichkeiten und Siedlungen fast ausschließlich durch Gründungen, selten durch den Auf- und/oder Umbau und nur punktuell durch die Belagerung oder Überantwortung in andere Machtverhältnisse definiert werden. Die Cronecken inszenieren die Sachsen primär als formende Macht, die sich hauptsächlich durch die Etablierung von zivilisatorischer Infrastruktur auszeichnet. Über die Siedlungen scheint ein Faktor gegeben, der die Zentralität der Sachsen und damit ihre Präsentation innerhalb der Cronecken erfassen könnte. Für die bereits erarbeiteten durchschnittlichen Zentralitätswerte kann somit festgehalten werden, dass sie einerseits zu einem großen Teil über die Kanten zu Siedlungen definiert werden und andererseits maßgeblich durch wenige historische Persönlichkeiten determiniert werden. Die durchschnittliche Zentralität der Nachkommen Widukinds ist hierbei durch den erheblichen Einfluss auf die zivilisatorische Infrastruktur von Heinrich I., Otto I. und Heinrich den Löwen bestimmt, da die entsprechend vernetzten Städte den durchschnittlichen Grad der Sachsen im Alleingang über den Wert, der für eine Genealogie anzunehmen wäre, anheben. Somit wird der Einfluss der Sachsen auf die sie umgebende zivilisatorische Infrastruktur – nicht zuletzt durch die Iteration – als Charakteristikum präsentiert. Vergleichbare Verhältnisse lassen sich nur für die Franken nachweisen, deren ähnlich hohe Zentralität allein durch Karl den Großen bestimmt wird. Weiterhin ist festzuhalten, dass die zentralsten Machtsphären naturgemäß die Bischofssitze sind, da die vernetzen Bischöfe den Zentralitätsgrad des jeweiligen Bistumssitzes (Bremen, Magdeburg etc.) maßgeblich beeinflussen. Werden die Bischöfe ausgeklammert, ist der durchschnittliche Grad der Siedlungsansichten nur noch 1,1, was die alleinige Nennung im Kontext der Gründung u. Ä. bestätigt. Wenige Ausnahmen sind Braunschweig, Halberstadt, Helmstedt, Lübeck, Lüneburg und Magdeburg, die in einigen wenigen Fällen im Kontext von Auseinandersetzungen, Eroberungen oder Überantwortungen von Machtbereichen eine Rolle spielen. Der Grad geht hierbei jedoch nicht über 4 (Lüneburg) und 3 (Braunschweig) hinaus. Hinzu kommt, dass es nur wenige schwere Kanten gibt, also ­solche, die multiple g­ leiche Kanten z­ wischen denselben Knoten darstellen, etwa den mehrfachen Ausbau Braunschweigs durch Heinrich den Löwen, aber auch dessen wiederholte Konflikte mit Lübeck. Es scheint also, als würden die Siedlungen zwar eine historische Tiefe anzeigen, diese determiniert jedoch ausschließlich die direkt verknüpften

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Akteure und nicht die Siedlung. Selbst für so zentrale sächsische Städte wie Braunschweig, Magdeburg und Quedlinburg präsentieren die Cronecken im Kontext ihrer Illustrationen nur überraschend wenige Informationen, die zudem in den allermeisten Fällen auf die vernetzten Persönlichkeiten zurückfallen. Zwar wird über die Frequenz der Siedlungsdarstellungen der Raum, der von den Cronecken umrissen wird, unmittelbar einsichtig, eine punktuelle Stadt- oder sogar Landeshistorie liegt jedoch nicht vor. Vielmehr stehen auch hier die Sachsen im Fokus. Bei den Cronecken handelt sich also um keine sächsische Historie mit einem besonderen Fokus auf den Städten. Vielmehr sind die Machtsphären ein weiterer Faktor, über den die sächsische Genealogie aufgewertet wird. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich Herrschaftskompetenz neben der genealogischen Legitimation auch „durch die Taten der Herrscher, durch Städte-, Klostergründungen und den Ausbau von Städten“ 55 auszeichnet. Die Nerzwerkanalyse hat es ermöglicht, die Arbeit Funkes, nach der es sich bei den Cronecken um keine wertlose Klitterung, sondern eine bewusst konzeptionierte Darstellung sächsischer Geschichte handelt, zu überdenken und zu verfeinern. Die Thesen der spezifisch sächsischen und überraschend homogenen Geschichtsdarstellung konnten von Seiten der Text-Bild-Komplexe grundlegend validiert und die Konzeption genauer gefasst werden. In diesen deutet sich nun eine ungewöhnlich dichte Vernetzung von Genealogie und Raum an, für die im Vergleich mit Funke festzuhalten ist, dass die Cronecken nicht nur eine spezifisch sächsische Geschichte bieten, sondern auch ein Programm. Aufgrund des breiten und heterogenen Informationsangebotes des Werkes werden die Grenzen z­ wischen Lokal-, Welt- und Stadtchronik verwischt, in dem vor allem der räumliche und gentile Berichtshorizont verknüpft werden. Innerhalb des sich ergebenden Textes tritt jedoch mit Hilfe der Netzwerkanalyse eine sächsische Historie hervor, die sich durch eine kontinuierliche Vernetzung auszeichnet und durch die allgemeine Abstammung von Widukind die unüberschaubaren Informationen homogenisiert. Diese zentrale und homogenisierende Abstammung von Widukind ist jedoch keine schlichte Herzogfolge, wie Funke meint. Vielmehr scheinen die Nachkommen Widukinds in den Cronecken als Dreh- und Angelpunkt der mitteleuropäischen Herrschergeschlechter entworfen, die sich jedoch auf keinen einzelnen Herrscher/kein einzelnes Geschlecht fokussieren, sondern eine Art gesamtsächsische Legitimation und somit wohl auch Historie anzustreben scheinen. Im Hinblick auf den aktuellen Wissensstand sind die Cronecken der sassen somit letztlich genau das, was uns ihr Titel vermittelt: eine Chronik der Sachsen. Sicherlich sind sie auch eine Lokal-, Stadt-, und in Ansätzen sogar Weltchronik, doch was sie von vergleichbaren Chroniken abhebt und letztlich ihr Programm ausmacht, ist die Tatsache, dass sie ihre favourable history nicht im herkömmlichen Sinne auf eine Dynastie, auf einen Herrscher oder auf eine Stadt beziehen. Die Geschlechter der Liudolfinger, Ottonen, Immedinger, Billunger, Welfen, Askanier und 55 Vgl. Mierke 2016 (wie Anm. 39), S. 210.

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anderer Häuser gehen über die Linien Widukinds und Welfs I. nahtlos ineinander über und werden so allgemein positiv dargestellt. Zwar weisen die Überschriften, die den Illustrationen stets beigeordnet sind, ebenso wie die Wappen eindeutig darauf hin, dass man sich der Auflösung des Stammherzogtums und der damit einhergehenden Übertragung der sächsischen Herzogwürde bewusst war, doch spielt dies für die Cronecken keine Rolle. In ihnen werden alle oben genannten Häuser als Sachsen gleichberechtig nebeneinander präsentiert, ohne dass sich eine Präferenz festhalten ließe. Die von Funke genannte Intention der Cronecken als favourable history muss um das Argument der Allgemeingültigkeit erweitert werden, was die Cronecken von zeitgenössischen Chroniken abhebt. Daher präsentiert das Werk letztlich in der Tat einen Bruchteil jener sächsischen Identität, die Widukind von Corvey entwarf, die im Sachsenspiegel zu fassen ist und die sämtlich zweierlei zu präsentieren scheint: die Einheit und Allgegenwärtigkeit der Sachsen. Dieser offensichtliche Anachronismus scheint der Beliebtheit der Cronecken keinen Abbruch getan zu haben. So wenig über die Entstehungsumstände des Werkes bekannt ist, kann doch nachgewiesen werden, dass es sich, im Gegensatz zur Schedelschen Weltchronik um eine Erfolgsgeschichte gehandelt haben dürfte.56 Ende des 15. Jahrhunderts, also zu einem Zeitpunkt, als es weder ‚das Sachsen‘ noch ‚die Sachsen‘ gab, scheinen die Cronecken der sassen mit ihrer teils anachronistischen, teils neuen Präsentation der Sachsen durchaus einen größeren Käufer- und Interessentenkreis angesprochen zu haben.

56 Hierfür sprechen einerseits die (hochdeutschen) Neuauflagen wie z. B. Conrado Bothone: Chronicon Brunsvicensium Picturatum Dialetco Saxonica, in: Scriptores Rerum Brunsvicensius… / cura G ­ odefride Guilielmi Leibnitii, Bd. 3, hg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz. Hannover 1707, S. 277 – 423. – Vgl. ebenso Johannes Baumgarten: Chronica der Sachsen und Niedersachsen, Wittenberg 1589, VD16 B 6796; http:// gateway-bayern.de/VD16+B+6796 (20. 09. 2017). Baumgarten weist in seiner Vorrede explizit darauf hin, dass seine Neuauflage die erhebliche Nachfrage nach den Cronecken decken sollte: „[…] das die Exemplar bald verruckt und also auffgekauft worden, das man nun volengst und vielen Jahren keine Exemplar dersselben mehr hatt zu kauf bekommen können und […] fnnf Thaler fr ein Exemplar desselbigen gegeben worden sein.“ Cordes ist zudem der Ansicht, dass die Cronecken die meistgelesene niederdeutsche Chronik des 15. und 16. Jahrhunderts ­seien. Vgl. hierzu Gerhard Cordes: Die Goslarer Chronik des Hans Geismar, hg. v. dems., Goslar 1954 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar, H. 14), S. 487. – Vgl. ebenso Funke (wie Anm. 1), S. 208 f.

Die Darstellung sächsischer Identität in den Cronecken der sassen | 255

Wiebke Ohlendorf und Regina Toepfer

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum Digitale Bildung und regionale Zugehörigkeit

Braunschweig war im Mittelalter eine der wichtigsten Städte des norddeutschen Raums. Noch heute zeugen zahlreiche Objekte, Gebäude und Plätze von dieser bedeutenden Vergangenheit, wenn man die historischen Spuren verfolgt und zu deuten weiß. Die Stadt als Lehr- und Lernraum zu erschließen, um grundlegende Informationen über die mittelalterliche Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte zu vermitteln, war das Ziel eines innovativen Lehrprojekts der TU Braunschweig. Das von uns konzipierte Projekt MAppBS – Mittelalter-­ App für Braunschweig. LiteraToUr in der Stadt wurde vom Wintersemester 2016/17 bis zum Sommersemester 2017 vom BMBF gefördert 1 und 2018 mit dem erstmals verliehenen Wissenschaftspreis des Landes Niedersachsen in der Kategorie Lehre ausgezeichnet.2 Die Germanistik-Studierenden der TU Braunschweig, für die das Basismodul „Einführung in die Mediävistik“ verpflichtend ist, lernen seit dem Sommersemester 2018 ihre Universitätsstadt mittels game based learning aus einer neuen Perspektive kennen und merken, dass die mittelalterliche Kultur noch in der Gegenwart präsent ist.3 Dass digitale Bildung auch 1

2

3

Förderkennzeichen: 01PL 12043. Wir danken Teach4TU für die Aufnahme in das „Innovationsprogramm Gute Lehre“ der TU Braunschweig. Vgl. https://www.tu-braunschweig.de/lehreundmedienbil​ dung/konzepte/lehrprojekte/innovationsprogramm-gute-lehre/foerderung-zum-wise-2016/17#c641379 (31. 10. 2022). – Janos Krüger: Eine digitale Schnitzeljagd durch das mittelalterliche Braunschweig, in: Magazin der TU Braunschweig 16. 10. 2018; https://magazin.tu-braunschweig.de/m-post/eine-digitaleschnitzeljagd-durch-das-mittel​alterliche-braunschweig/ (29. 10. 2019). Vgl. Wolfgang Krischke: Wenn dem Mittelalter Ohren wachsen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 12. 2018. – Https://www.mwk.niedersachsen.de/startseite/forschung/forschungsfoerderung/wissen​ schaftspreise/wissenschaftspreis_niedersachsen_2018/wissenschaftspreis-niedersachsen-2018-162491.html (29. 10. 2019). Zum Projekt im Kontext des digitalen Lernens vgl. auch Wiebke Ohlendorf: Digitales und mobiles Lernen und Lehren am Beispiel der ‚Mittelalter-App für Braunschweig‘ (MAppBS), in: Digitale Methoden und Objekte in Forschung und Vermittlung der mediävistischen Disziplinen. Akten der Tagung in Bamberg 08. – 10. 11. 2018, hg. v. Martin Fischer (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien Bd. 15), 2020, S. 141 – 160. – Zur multimedialen Suche nach mittelalterlichen Spuren in der modernen Stadt siehe auch Regina Toepfer: Mediävistik für das 21. Jahrhundert. Die App ‚Frankfurt im Mittelalter. Auf den Spuren des Passionsspiels von 1492‘ aus fachwissenschaftlicher Perspektive, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 144 (2015), S. 274 – 280. – Dies., Stephanie Dreyfürst: Neue Medien in der Mediävistik. Die App ‚Frankfurt im Mittelalter. Auf den Spuren des Passionsspiels von

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 257

dazu beitragen kann, die regionale Zugehörigkeit zu stärken, soll in ­diesem Beitrag an ausgewählten Beispielen unserer Lern-App gezeigt werden.

1. Regionale Zugehörigkeit und vertikales Erbe Wie wichtig Fragen regionalen Wissens für Zugehörigkeiten sind, hat das Kultusministerium des Landes Niedersachsen 2011 betont. In einem Erlass wird gefordert, dass die Region und regionale Bezüge im Unterricht und im Schulleben eine Rolle spielen sollen.4 Geographische, historische, kulturelle und sprachliche Bedingungen, so wird erklärt, prägen sowohl Regionen als auch die Menschen, die in ihnen leben. Daher sollen sich auch Schülerinnen und Schüler mit diesen Aspekten beschäftigen. Im Kerncurriculum für das Fach Deutsch, aber auch in vielen anderen Fächern werden regionale Bezüge vorgeschrieben, was sich in den schulinternen Lehrplänen niederschlagen soll. Vor allem sprachliche Aspekte werden in dem Erlass hervorgehoben. Bei dem Thema Sprachbegegnung, das für Schülerinnen und Schüler in der Grundschule und in der Sekundarstufe I verpflichtend ist, wird eigens auf die Möglichkeit einer regionalen Anbindung hingewiesen. Grundschulen schreibt das Kultusministerium beim Spracherwerb und der Sprachpflege des Niederdeutschen eine besondere Bedeutung zu. Studierende mit dem Berufsziel Grundschullehramt sind an der TU Braunschweig mit Abstand die größte Gruppe im Fach Germanistik. Gerade diese Studierenden fragen häufig danach, weshalb sie sich mit mittelalterlicher Sprache und Literatur beschäftigen müssen. Dass Kenntnisse über die historische Entwicklung des Deutschen durchaus für ihre spätere Tätigkeit bedeutsam sind, können sie bei dem multimedialen Stadtrundgang mit MAppBS erkennen. Die Relevanz regionaler und sprachlicher Zugehörigkeiten, auf die das Kultusministerium mit seinem Erlass abzielt, hat auch der französisch-libanesische Autor Amin Maalouf in seinem Essay Mörderische Identitäten (dt. Erstausgabe 2000) hervorgehoben. Nach seiner Beobachtung konfrontiert uns die Globalisierung mit zwei gegensätzlichen Entwicklungen, von denen die eine höchst erstrebenswert ist, die andere hingegen vermieden werden sollte: Universalität und Uniformität.5 Maalouf sieht in der letzteren Entwicklung eine Gefahr für die Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Dialekten, was sich wiederum negativ auf das Verhalten von Menschen auswirkt. Wird die Globalisierung als eine Bedrohung der eigenen

4 5

1492‘ – eine Projektvorstellung. Veröffentlicht am 10. 02. 2015; http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=20163 (30. 11. 2019). Die Region und die Sprachen Niederdeutsch und Saterfriesisch im Unterricht, hg. v. Niedersächischen Kultusministerium. RdErl. d. MK v. 1. 6. 2019 – 32 – 82101/3 – 2 (SVBl. 6/2019 S. 288) – voris 22410. – Vgl. http://www.schure.de/22410/32-82101-3-2.htm (31. 10. 2019). Vgl. Amin Maalouf: Mörderische Identitäten. Aus dem Französischen v. Christian Hansen, Frankfurt a. M. 2000, S. 95.

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religiösen, sprachlichen oder kulturellen Identität aufgefasst, kann dies Reaktionen wie Rückwärtsgewandtheit oder gar Gewalt provozieren.6 Aus gutem Grund fordert Maalouf, das gemeinsame Erbe an Kenntnissen und Aktivitäten in seiner Vielfalt zu bewahren. Für eine vom Untergang bedrohte Sprache solle man sich ebenso engagieren wie für das Überleben von Pandabären oder Nashörnern.7 Überhaupt betrachtet Maalouf die Sprache unter allen möglichen Identitätsmerkmalen als die entscheidende. Sie sei nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch Grundlage kultureller Identität. Auf sprachlicher Pluralität basiere, so argumentiert Maalouf, jegliche Vielfalt. Diesen Zusammenhang scheint auch das Kultusministerium des Landes Niedersachsen vorauszusetzen, wenn es sich für regionale Bezüge in Schule und Unterricht einsetzt. Niederdeutsch zählt zweifellos zu den bedrohten Sprachen, wohingegen Mittelhochdeutsch und Mittelniederdeutsch ihren Untergang bereits hinter sich haben. Obwohl sie sich als historisch abgeschlossene Sprachstufen nicht mehr als Kommunikationsmittel eignen, kann ihre Kenntnis für ein Identitätsbewusstsein gleichwohl relevant sein, weil sie sprachliche Entwicklungen nachzuvollziehen helfen. Amin Maalouf differenziert in seinem Essay ­zwischen zwei verschiedenen Arten kultureller Erbschaften, die darüber entscheiden, welcher Gruppe sich Menschen zugehörig fühlen: eine vertikale Erbschaft, die eine historische Dimension aufweist und Menschen mit den Traditionen ihrer Vorfahren verbindet, und eine horizontale Erbschaft, die eher räumlich angelegt ist und Menschen mit ihrer Epoche und ihren Zeitgenossen verknüpft. Maalouf hält die Letztere für wichtiger und moniert, dass sich diese Realität kaum in der öffentlichen Wahrnehmung widerspiegle. Menschen beriefen sich nicht auf das horizontale, sondern vor allem auf das vertikale Erbe. Aus mediävistischer Sicht mag man über diese These streiten. Mit dem vertikalen Erbe des Mittelalters kennen sich Studierende tendenziell weit weniger aus, vielmehr müssen sie auf d ­ iesem Gebiet erst neue Kompetenzen erwerben, bis sie historische Zusammenhänge erkennen und reflektieren können. Für die Ausbildung einer regionalen Identität wiederum kann es entscheidend sein, zu wissen, was Menschen mit anderen verbindet, die vor ihnen an einem Ort lebten.

2. Braunschweig und seine Löwen Der unterschiedliche Umgang mit dem vertikalen und dem horizontalen Erbe einer Region lässt sich an Braunschweigs Charakterisierung als Löwenstadt veranschaulichen. Für ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind Löwen nichts Ungewöhnliches, begegnen sie doch im öffentlichen Leben in vielen verschiedenen Kontexten. Das Stadtwappen mitsamt seinen 6 7

Vgl. ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 115.

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 259

Löwen ist durch Flaggen in der Stadt präsent,8 diverse Sportvereine benennen ihre Mannschaften nach dem Tier – etwa die Basketball Löwen oder die Lions beim American Football 9 – und im Tourismusbüro gibt es Babylätzchen, um „Braunschweiger Löwenbabys […] perfekt für ihre ‚Raubtierfütterung‘“ 10 zu kleiden. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass der Löwe in Braunschweig zu einer Marke geworden ist, über die regionale Identitätsbildung konfiguriert wird. Wer aber kennt die kulturhistorischen Hinter­gründe und denkt bei der Bezeichnung Löwenstadt oder den diversen Löwen-Vereinen noch an Heinrich den Löwen, der die Stadt im hohen Mittelalter zu seinem Herrschaftssitz machte und dadurch entscheidend förderte? Bei einem Stadtrundgang kann dieser Zusammenhang schnell erläutert und das vertikale Erbe in den Vordergrund gerückt werden: Im Herzen des historischen Braunschweigs auf dem zentralen Platz z­ wischen dem Dom und der Burg Dankwarderode thront die (Kopie der) Skulptur eines majestätischen Bronzelöwen, den der welfische Herzog im 12. Jahrhundert aufstellen ließ. Das Motiv des Löwen war im Mittelalter auch außerhalb Braunschweigs sehr beliebt. Für Wappen wurden die Tiere genauso gern genutzt wie heute als lokale Maskottchen. Die mutigen positiven Eigenschaften, die dem Löwen als König der Tiere traditionellerweise nachgesagt werden, sind sicherlich einer der Gründe dafür. Bereits Aristoteles schreibt in seiner Historia animalium, ­dieses Tier sei „tapfer und edelgeartet“.11 Im christlichen Mittel­alter symbolisiert der Löwe mal den Evangelisten Markus, mal die Auferstehung Christi, wie es beispielsweise in der frühchristlichen griechischen Naturlehre, dem Physio­ logus, und ihren zahlreichen volkssprachigen Übertragungen nachzulesen ist.12 Für die Heraldik entwickelt sich eine eigene Ikonographie, wobei der Löwe „in der frühen Phase“ neben Adler und Panther „am häufigsten“ als Schildfigur genutzt wurde.13 Die Wappentiere sollten die Eigenschaften der ihnen zugeordneten Personen verdeutlichen, denen auf diese Weise Adel und Stärke attestiert wurde. Solche Zuordnungen waren „im Mittelalter nie nur harmlose Identitätssignale, sondern immer auch machtvolle Z ­ eichen von Herrschaft und Verfügungsgewalt.“ 14 8 Vgl. https://www.braunschweig.de/ (03. 09. 2019). 9 Vgl. z. B. https://www.basketball-loewen.de/ und https://www.newyorker-lions.de/ (21. 10. 2022). 10 Https://www.braunschweig.de/tourismus/touristinfo/souvenirs/souvenirs_kleidung.php (15. 11. 2019). 11 Aristoteles: Tierkunde, I,2. Übers. u. hg. v. Paul Gohlke, Paderborn 1957, S. 52. 12 Vgl. Der Physiologus, übertr. u. erläutert v. Otto Seel, Zürich, Stuttgart 1960, S. 3. – Vgl. auch z. B. Anette Pelizaeus: Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom – Provenienz und Nachfolge, in: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, hg. v. Sabine Obermaier, Berlin, New York, 2009, S. 181 – 205, hier S. 182. – Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik, 5. Aufl., München 2003, S. 69. 13 Vgl. Heiko Hoffmann: Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters. Ein Aufriss, in: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, hg. v. Sabine Obermaier, Berlin, New York, 2009, S. 147 – 178, hier S. 149. 14 Hoffmann 2009 (wie Anm. 13), S. 178.

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Abb. 1: Der Braunschweiger Löwe in der Ebstorfer Weltkarte, um 1300.15

Bei Herzog Heinrich wurde der Löwe gar zum festen Bestandteil seines Namens.15Die Löwenskulptur auf dem Burgplatz ist ein machtvolles ­Zeichen höfischer Repräsentation wie des herzoglichen Machtanspruchs. In der Forschung wurde hervorgehoben, dass der Löwe als „individuelles Herrschaftszeichen des Herzogs […], nicht aber als Familiensymbol“ der Welfen zu verstehen ist.16 Die Assoziation des Herzogs mit dem Löwen übertrug sich früh auf seinen Stammsitz Braunschweig, wie die Ebstorfer Weltkarte (um 1300)17 dokumentiert. Anders als die namentlich genannten Orte Hildesheim und Hannover wird Braunschweig durch ein Symbolbild dargestellt, das die stilisierte Burg und einen heraldischen Löwen zeigt.

15 Bildzitat aus: Die Ebstorfer Weltkarte. Reise in eine mittelalterliche Welt, hg. vom Kloster Ebstorf, ­Ebstorf 2013, S. 71. Illustrator: Joachim Blobel. 16 Joachim Ehlers: Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 2008, S. 257. 17 Ein kommentiertes Digitalisat der Karte, die unter der Projektleitung von Martin Warnke erschlossen worden ist, findet sich auf der Seite der Leuphana Universität Lüneburg, vgl. http://www2.leuphana. de/ebskart/index.html#O9999/ (09. 11. 2019).

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Die Bekanntheit des herrschaftlichen Beinamens wird also Pars pro Toto für die Stadt übernommen. Wie Heinrich zum Löwen und seinem berühmten Beinamen kam, wird in literarischen Werken des späten Mittelalters detailreich erzählt. Der Historiker Bernd Schneidmüller skizziert den Entwicklungsprozess vom historischen Herzog zur fiktionalen Romanfigur folgendermaßen: Die Fährten der historischen Urteilsbildung hatte schon die zeitgenössische Geschichtsschreibung gelegt. Die Erinnerungskulturen des Spätmittelalters machten Heinrich den Löwen zum ritterlichen Helden, der übers Meer fuhr und einen treuen Löwen ins heimische Braunschweig mitbrachte.18

Auch heute noch wird Heinrich im Stadtmarketing als ritterlich-höfische Idealfigur präsentiert. Als Beleg kann die 2015 als limitierte Auflage hergestellte Playmobil-Figur ‚Heinrich der Löwe‘ dienen. Die typische Plastikpuppe trägt einen herrschaftlichen Mantel und hält ein Schwert und ein Buch in den Händen. Natürlich ist im Gesamtpaket auch ein Löwe enthalten. Laut der beigelegten, an Kinder adressierten Broschüre symbolisiert das PlastikBuch das Evangeliar, das der Herzog „für den Marienaltar des Braunschweiger Doms“ stiftete. Der Löwe wiederum wird als „Heinrichs treuer Begleiter“ vorgestellt, der dem Herzog „aus Dankbarkeit“ nicht mehr von der Seite wich, weil dieser ihm das Leben gerettet hatte.19 Während das Schwert allgemein auf Ritterlichkeit und Tapferkeit verweist, sind der Löwe und das Evangeliar Elemente der personalisierten Legendenbildung. Von dem Playmobilmännchen und seinen Requisiten wie auch von der Löwenskulptur auf dem Burgplatz lassen sich schnell Bezüge zum Mittelalter herstellen und wichtige ­Themen der deutschen Literaturgeschichte wie Hermeneutik, Semantik, Wissen, Historizität, Kontextualität, Literaturproduktion, Institutionen, Gattungen, Medialität, Rezeptionsgeschichte u. a. behandeln.

3. Didaktisches Konzept der Lern-App Das didaktische Konzept von MAppBS basiert auf der Erkenntnis, dass haptisch vorhandene Objekte ein anschauliches und ganzheitliches Lernen ermöglichen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Basismoduls „Einführung in die Mediävistik“ werden zu einem 18 Bernd Schneidmüller: Heinrich der Löwe. Innovationspotentiale eines mittelalterlichen Fürsten, in: Staufer & Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter, hg. v. Werner Hechberger, Florian Schuller, Regensburg 2009, S. 51 – 65, hier S. 51. 19 N. N.: Begleitbroschüre „Heinrich der Löwe“ der Playmobil-Figur 6925, o. O. 2015. – Playmobil hat weitere Figuren mit historischen oder künstlerischen Vorbildern im Programm, wie z. B. die des Magdeburger Reiters, die in den Kontext der Ausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 – 1806“ gehört. Vgl. dazu auch Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte, Bd. 6), München 2007, S. 142 – 143.

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multimedialen Stadtrundgang durch das mittelalterliche Braunschweig eingeladen. An konkreten Orten, auf Plätzen, vor ­Kirchen, Skulpturen, Inschriften, Schildern und Mauern, erhalten sie in einer App Informationen, die auf die Inhalte der zentralen Vorlesung und der Begleitseminare bezogen sind. MAppBS kann und will die persönliche Vermittlung durch Lehrende nicht ersetzen, sondern eine zusätzliche Lernunterstützung bieten. Zur Verinnerlichung und Anwendung mediävistischer Grundkenntnisse nutzt MAppBS den außeruniversitären Lernraum Stadt, deren gewachsene Struktur anhand kultureller Zeugnisse, insbesondere bedeutsamer Bauten, offengelegt wird. Aleida Assmann spricht der Architektur ein besonderes Vermittlungspotential zu und deutet sie als „Palimpsest“, da sich Spuren der Vergangenheit an Bauten wiederentdecken und offenlegen lassen.20 Im Kontext der Vermittlung und Vergegenwärtigung von Geschichte unterscheidet Assmann drei Formen der Präsentation historischer Inhalte, die aufeinander aufbauen: „Erzählen, Ausstellen [und] Inszenieren“.21 Öffentliche Inszenierungen teilt sie in mediale und räumliche auf, wobei Letztere „anders als museale Ausstellungen an eine Bühne gebunden [sind], die zugleich ein historischer Schauplatz ist.“ 22 Dabei ist es nach Assmanns Ansicht nötig, einen Ort so aufzubereiten, dass Informationen vermittelt, Erfahrungen ermöglicht und Handlungsangebote unterbreitet werden. Genau dieser Ansatz liegt der didaktischen Konzeption von MAppBS zugrunde. Studierende werden durch Hörstücke, digitalisierte Handschriften und darauf abgestimmte Fragen, die sich auf lokale Begebenheiten beziehen, zum spielerischen Lernen angeregt. Dieses Prinzip des ‚game based learning‘ wird durch eine digitale Variante des Geocaching umgesetzt.23 Die Nutzerinnen und Nutzer werden mit digital gestellten Aufgaben durch die Stadt geschickt, so dass sie ihre bereits erworbenen Kompetenzen selbstbestimmt erweitern und vertiefen können. Umgesetzt wurde MAppBS mit dem Programm Actionbound, das für den hochschuldidaktischen Bereich entwickelt wurde und Tools zur Erstellung einer „interaktive[n] Schnitzeljagd“ 24 bereitstellt. Die App ermöglicht, Informationen als Text, Bild, Audio- oder Videodatei bereitzustellen und diese mit unterschiedlichen Fragenformen zu verbinden – wie beispielsweise Multipe- oder Single-Choice- sowie Schätzfragen. Auch freie Antwortmöglichkeiten sind vorgesehen, allerdings schwieriger zu kontrollieren und zu bewerten. Alle Aufgabentypen erfordern eine sehr genaue Fragestellung und eine konkrete Anweisung 20 21 22 23

Ebd., S. 115. Ebd. (Anm. 19), S. 149 – 154. Ebd. (Anm. 19), S. 153. Zu Geocaches mit historischen Inhalten, die „Bezüge zu den gewählten Orten“ herstellen und die „historische[…] Bedeutung des Orts für die regionale, nationale oder europäische Geschichte“ begründen, vgl. auch Daniel Bernsen: Mit GPS-Gerät und Smartphone historische Orte entdecken. Geocaching und historisches Lernen, in: Praxishandbuch Historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, hg. v. dems., Ulf Kerber, Opladen 2017, S. 347 – 354, hier S. 349. 24 Https://de.actionbound.com/ (04. 09. 2019).

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an den Nutzer bzw. die Nutzerin. Die Actionbound-Schnitzeljagd arbeitet mit einem kompetitiven Motivationsansatz des spielerischen Lernens: Bei der richtigen Beantwortung der Fragen werden festgelegte Punkte verteilt, die virtuell als Münzen in ein Sparschwein fallen, während das Geräusch einer Registrierkasse erklingt. Erstellt wurde MAppBS in Projektseminaren von Studierenden für Studierende. In zwei aufeinander aufbauenden Lehrveranstaltungen, die von der Projektmitarbeiterin geleitet wurden, recherchierten fortgeschrittene Studierende zunächst, ­welche Informationen, Texte, Karten, Handschriften, Objekte und Orte für die Vermittlung von Grundlagenwissen in der Stadt geeignet waren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sammelten das Material und ordneten es einerseits konkreten Räumen und andererseits spezifischen Vorlesungsinhalten zu. Literarische Werke mit einem Bezug zu Braunschweig, die für mehrere Themenbereiche in Betracht kamen, wurden unter verschiedenen Aspekten aufbereitet und bestimmte Aspekte absichtlich wiederholt, um erworbenes Wissen zu reaktivieren und zu vertiefen. Die erarbeiteten Grundlagen des ersten Projektseminars wurden nach einer kritischen Qualitätssicherung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des zweiten Seminars zur Verfügung gestellt. In der zweiten Projektphase setzten sich die Beteiligten intensiv damit auseinander, wie sich wissenschaftliche Inhalte mittels digitaler Medien möglichst gut Studienanfängern vermitteln lassen, damit diese auch in der Abschlussprüfung des Basismoduls, einer Klausur, davon profitieren können. Unterstützt von der Seminarleiterin und von studentischen Hilfskräften verfassten die Studierenden Hörtexte,25 die sie nach mehreren Redaktionsphasen selbst einsprachen, und formulierten Aufgaben, die in der Lern-App gelöst werden sollen. Entstanden sind auf diese Weise drei etwa einstündige interaktive Rundgänge durch die Stadt, in denen die Schwerpunkte Sprachgeschichte, Literaturgeschichte und Kulturgeschichte des Mittelalters an konkreten Braunschweiger Beispielen behandelt werden.26 Die Motivation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Projektseminare war sehr groß, wie die qualitativen Evaluationen am Ende belegten. Die Studierenden schätzten sowohl die lokale Ausrichtung als auch die didaktische Reflexion und die anwendungsbezogene Arbeitsweise. Sie empfanden es als einen Gewinn, eigenverantwortlich, produkt- und zielorientiert zu arbeiten, ihr eigenes Wissen weiterzugeben und Texte für andere Studierende zu verfassen. Über die Auswahl der Inhalte und die Art der Aufbereitung konnten sie weitestgehend selbst entscheiden. Weitere Aufschlüsse über die Lernprozesse und den Lernerfolg der Entwicklerinnen und Entwickler wie der Nutzerinnen und Nutzer versprechen 25 Zum Schreiben fürs Hören vgl. auch Regina Toepfer, Stephanie Dreyfürst: Schreibdidaktik in der Germanistik. Ein mediävistisches Lehrprojekt der Goethe-Universität Frankfurt, in: Wirkendes Wort 66 (2016), S. 161 – 172. 26 Näheres auf der Projekthomepage; https://www.tu-braunschweig.de/germanistik/abt/spr/forschungme/ mappbs (08. 09. 2019).

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die Masterarbeiten, die im Kontext von MAppBS entstanden.27 Auch vergleichbare Projekte haben ähnlich gute Erfahrungen mit dem selbstbestimmten Lernen gemacht, wie etwa eine Studie der Universität Bergen über ein norwegisches Projekt zeigt, das ungefähr im gleichen Zeitraum wie MAppBS durchgeführt worden ist. Die Schülerinnen und Schüler, die dort an der Erarbeitung einer lokalen und spielerisch angelegten Lern-App beteiligt waren, zeigten ebenfalls ein hohes Maß an Engagement und Wissensfreude, was zu einem nachhaltigen Lernprozess führte: Overall, the teacher reported that the participation in the scenario made them see the history in the city in a new way, and attach new meanings and associations to places already familiar to them. Thus, the learning of history is tied to places and aligned with existing knowledge.28

Das Braunschweiger Projekt wurde nach einer Testphase im Sommersemester 2018 erfolgreich in das Basismodul „Einführung in die Mediävistik“ implementiert und zeitgleich im Rahmen des Transferprogramms der TU Braunschweig fortgeführt.29 Auf diese Weise konnte das Konzept zum einen in die Abteilung für Pharmazie- und Wissenschafts­geschichte an der TU Braunschweig transferiert (PharmAppBS)30 und zum anderen ausgebaut werden. Der fachspezifische, germanistisch-mediävistische Stadtrundgang wurde um eine allgemeinverständliche Variante ergänzt und so für ein breiteres Publikum geöffnet. Der im Transferprojekt erarbeitete Rundgang (MAppBS für alle) richtet sich an Laien, die am historischen Braunschweig und an mittelalterlicher Literatur interessiert sind.

4. Exemplarische Stationen der Mittelalter-App Dreimal werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Basismoduls „Einführung in die Mediävistik“, das an der TU  Braunschweig immer im Sommersemester angeboten wird, zu einem digitalen Stadtrundgang aufgefordert, um Vorlesungsinhalte zu vertiefen 27 Denise Wullfen schrieb zum Thema: „Game-Based Learning an der Universität am Beispiel der App ‚Actionbound‘ im Kontext der Mediävistik und Pharmaziegeschichte (MAppBS und PharmAppBS)“, 2019. Die Arbeit bildet den Abschluss des interdisziplinären Braunschweiger Master-Studiengangs Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt (KTW). 28 Jo Dugstad Wake, Frode Guribye, Barbara Wasson: Learning through collaborative design of locationbased games, in: International Journal of Computer-Supported Collaborative Learning 13/2 (2018), S. 167 – 187, hier S. 177. Zugriff über DOI: 10.1007/s11412 – 018 – 9278-x (07. 09. 2019). 29 Durch ­dieses Programm sollen erfolgreiche Lehr-Lern-Konzepte in die Breite getragen und in andere Fächer, Institute und Disziplinen transferiert werden. Vgl. dazu https://www.tu-braunschweig.de/lehre​ undmedienbildung/konzepte/lehrprojekte/transferprogramm (31. 10. 2022). 30 Vgl. dazu https://www.tu-braunschweig.de/lehreundmedienbildung/konzepte/lehrprojekte/transferpro​ gramm#c187680 (31. 10. 2022).

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und das in den Begleitseminaren Gelernte anzuwenden und einzuüben. Dass unsere Studierenden dabei auch eine andere Beziehung zu ihrer Universitätsstadt entwickeln und sich der Region stärker zugehörig fühlen können, sollen die folgenden Stationen und die ausgewerteten Ergebnisse exemplarisch zeigen. Die ersten beiden Beispiele stammen aus MAppBS, das dritte aus MAppBS für alle, so dass Ausschnitte aus beiden Projekten – dem Innovations- und dem Transferprojekt – abgebildet sind.

4.1 St. Michaelis: Niederdeutsch an der Kirchenmauer Im ersten Rundgang der aufeinander aufbauenden Bounds, wie die Bezeichnung Actionbounds für einzelne Spiele lautet, wird analog zur Vorlesung die Sprachgeschichte thematisiert. Mit MA ppBS wiederholen die Studierenden nicht nur allgemeine Inhalte zu historischen Sprachstufen, Lautwandel und Lautwechsel, sondern erfahren selbst, dass Braunschweig im niederdeutschen Sprachraum liegt und ihre mediävistischen Grundkenntnisse über die zweite Lautverschiebung von lebensweltlicher und schulpraktischer Bedeutung sind. Obwohl heute kaum noch Menschen den Braunschweiger Dialekt sprechen, können der vom Kultusministerium gewünschte Spracherwerb und die Sprachpflege des Niederdeutschen direkt vor der eigenen Haustür bzw. außerhalb des Hörsaals oder Klassenzimmers beginnen. Als Beleg dafür und als Anlass der Sprachreflexion dient bei MA ppBS eine alte Inschrift, die an der ­Kirche St. Michaelis angebracht ist und sich am westlichen Rand des mittelalterlichen Kerns, unweit der alten Stadtgrenze befindet. Im Bound müssen die Nutzerinnen und Nutzer die Inschrift erst suchen, bevor ihr Inhalt schrittweise erschlossen werden kann. Da die Lesbarkeit der Schrift ein erstes Rezeptionshindernis darstellt, sollen sich die Studierenden zunächst mit den gotischen Minuskeln 31 beschäftigen und ihre Lesefähigkeit erproben: Wenn du die Tafel gefunden hast, stehst du vor dem ersten mittelalterlichen Textzeugnis unseres Rundgangs. Kannst du die Schrift entziffern? Falls du es geschafft hast: Super! Falls nicht, kannst du es entweder noch einmal versuchen oder dir ein paar relevante Wörter aussuchen.32

Das Zitat ist charakteristisch für die dialogische Konzeption von MAppBS. Studierende wenden sich direkt an Studierende und versuchen, ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen 31 Vgl. DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 57 (Andrea Boockmann); www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238di035g005k0005704 (14. 09. 2019). 32 Miriam Geißmar, Wiebke Ohlendorf, Katharina Schuck: Weihinschrift St.  Michaelis. Skript ‚MA ppBS  – Sprachgeschichte‘.

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Abb. 2: Weihinschrift St. Michaelis, Braunschweig, 1379. Foto: Wiebke Ohlendorf.

durch eine überlegte Blickregie und die Formulierung konkreter Aufgaben zu aktivieren. Um auch das Hörverständnis älterer deutscher Texte zu schulen, wurde die Inschrift eingesprochen, so dass sie parallel schriftlich und mündlich rezipiert werden kann: Hör dir die Weihinschrift einmal komplett an, du kannst sie dabei auf dem Bildschirm mitlesen: Na goddes bort M CCC LXX IX iar is desse parkerke vor nyget unde in sunte mychelis ere ­ghewyget we sine almesen hyr to gheve dat he in goddes hulden leve a[men].33

Gezielt werden die Studierenden auf historische und regionale sprachliche Besonderheiten der Inschrift aufmerksam gemacht: Der Text ist zwar auf ‚Deutsch‘, hört sich immer noch ziemlich fremd an, oder? Vielleicht hast du trotzdem ein paar Wörter verstanden – und vielleicht verstehst du noch mehr, wenn du dir den Text noch einmal im Einzelnen anschaust. Nimm zum Beispiel das vorletzte Wort in der zweiten Zeile. ‚Parkerke‘. Hast du eine Idee, wie das Wort auf Neuhochdeutsch lautet?34

33 Ebd. Transkription der Inschrift auf der Basis von DI 35 (wie Anm. 31). 34 Ebd.

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 267

Diese Frage ist mit einem Feld für eine Freitexteingabe versehen, so dass keine Lösungsvorschläge vorgegeben sind, sondern die Studierenden selbst eine Antwort finden müssen. Betrachtet man stichprobenartig die letzten 15 vollständig ausgefüllten Rundgänge, zeigt sich, dass viele, aber längst nicht alle Studierende den Begriff übersetzen konnten:35 Nennung

Pfarrkirche

pfarrkirche

Pfarkirche

Pfarrerkirche

Friedenskirche 36

Parkanlage

?/nein

8

1

1

1

1

1

2

Anzahl

Acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer geben ‚Parkerke‘ korrekt mit ‚Pfarrkirche‘ wieder, zwei weitere erkennen die Bedeutung, aber verwenden nicht die richtige Orthographie; die Antworten ‚Pfarrerkirche‘ und ‚Friedenskirche‘ sind falsch, doch wurde zumindest der zweite Teil des Kompositums korrekt bestimmt. Für die Antwort ‚Parkanlage‘ und für fehlende Eintragungen können dagegen keinerlei Punkte vergeben werden. Im nächsten Schritt sollen die Nutzerinnen und Nutzer das zugrunde liegende lautliche Phänomen erklären: „Wie nennt man die Veränderung von /p/ zu /pf/ im Zuge der zweiten Lautverschiebung?“ Diese Frage ist im Multiple-Choice-Modus angelegt, so dass die Studierenden ­zwischen drei Antwortmöglichkeiten wählen können: (1) Tenues-Affrikaten-Wandel (richtig), (2) TenuesSpiranten-Wandel oder (3) Mediae-Tenues-Wandel. Die ausgewählte Gruppe der fünfzehn Probanden zeigt hier mit 100 % eine erfreulich hohe Trefferquote. Ohne einen regelmäßigen Besuch der Einführungsveranstaltung hätten kaum alle Beteiligten die richtige Antwort geben können. Anschließend sollen die Studierenden aus dieser Erkenntnis eine weiterreichende Schlussfolgerung ziehen: „Um ­welche Sprachstufe und -region handelt es sich bei ­diesem Text?“ Zur Wahl stehen vier Optionen, auf die sich die Ergebnisse folgendermaßen aufteilen: Althochdeutsch

Altsächsisch

Mittelhochdeutsch

Mittelniederdeutsch

2

0

2

11

Die Auswertung zeigt, dass ca. 26 % der Spielenden Schwierigkeiten hatten, den Text sprachlich zu verorten. Sie konnten zwar lautliche Verschiebungen richtig benennen, doch waren sie noch nicht in der Lage, ihr Wissen zu übertragen und ­zwischen Hoch- und Niederdeutsch zu unterscheiden. Erst nachdem sich die Nutzerinnen und Nutzer mit den sprachlichen Details befasst haben, wird die Weihinschrift zu guter Letzt noch inhaltlich erläutert und so das Gesamtverständnis sichergestellt. 35 Nicht beendete oder kaum ausgefüllte Ergebnisse wurden dabei nicht berücksichtigt. Diese Bounds wurden im Zeitraum ­zwischen dem 12. 06. 2019 und dem 17. 09. 2019 gespielt, die Auswertung fand am 17. 09. 2019 statt. Für weitere beispielhafte Auswertungen dieser Art vgl. Ohlendorf 2019 (wie Anm. 3). 36 Die ursprüngliche Schreibung „Friedenskorche“ ist als Tippfehler durch die Nachbarschaft von „o“ und „i“ auf einer Standardtastatur bewertet und korrigiert worden.

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Das Beispiel der Weihinschrift belegt, dass die in den Lehrveranstaltungen gelehrten Inhalte, die von Studierenden oft als komplex und realitätsfern bewertet werden, auch in der heutigen Stadt noch präsent sind. MA ppBS macht auf die sprachliche Vielfalt des Deutschen aufmerksam und informiert wie sensibilisiert für die eigene Sprachregion. Dieses implizite Ziel spiegelt sich in den Antworten wider, die Spielerinnen und Spieler auf die abschließende Frage gaben: „Wenn du Freunden/Verwandten/Kommilitonen s­ päter von mind[estens] zwei ­Themen/Infos aus ­diesem Rundgang erzählst, ­welche werden es sein?“ Die Aufgabe ist nicht bepunktet, damit freiwillig und wurde daher seltener beantwortet. Bei den fünfzehn ausgewerteten Rundgängen gibt es nur zehn Rückmeldungen, von denen sich fünf auf die gerade vorgestellte Station beziehen. Die Antworten zeigen in absteigender Reihenfolge, was den Studierenden besonders im Gedächtnis geblieben ist: 1. die Michaeliskirche/der Sprachwandel, 2. die Lautverschiebung, 3. die Lautverschiebungen/ das Mittelniederdeutsche, 4. die Sprachgeschichte und ihre historische Bedeutung. Neben den sprachlichen Phänomenen wurde auch eine grundsätzliche Beobachtung notiert, die von einem neuen Bewusstsein für das vertikale Erbe zeugt und wie ein vorweggenommenes Fazit des gesamten Stadtrundgangs erscheint: 5. Braunschweig hat Geschichte. Die Vermutung, dass auch andere Studierende ihre Universitätsstadt mit neuen Augen sehen, bestätigt sich, wenn man die Rückmeldungen zum gesamten Bound einbezieht. Die Nutzerinnen und Nutzer merken an, dass sie die Reste der Stadtmauer, die Wälle oder Straßen erstmals wirklich wahrgenommen haben, und stellen diese Beobachtungen in einen historischen Zusammenhang. Vor allem der Kommentar, „wie nervig der Verkehr an der Güldenstraße ist“, und die dazugehörigen Erkenntnisse, „dass die Gegend um die heutige Echternstraße früher mal am Stadtrand lag. Wie klein die Stadt mal war!“, sind ein Beleg dafür, dass Braunschweig nun auch in seiner historischen Bedeutung erfasst wird.

4.2 Burgplatz: Geschichten von Heinrich und seinem Löwen Besonders präsent ist die mittelalterliche Geschichte der Stadt auf dem Burgplatz, in dessen Zentrum die Löwenskulptur steht und der vom Braunschweiger Dom und der Burg Dankwarderode gerahmt wird. Besucht wird diese Station im Rahmen des zweiten Bounds, der gespielt werden soll, nachdem die Studierenden in der Einführungsvorlesung literaturgeschichtliche Grundlageninformationen über wichtige Epochen, Institutionen, Autoren, Gattungen und Werke des deutschen Mittelalters erhalten haben. Auch wenn es sich bei der Burg um einen neoromanischen Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende handelt und der Löwe nur eine Replik ist, während das mittelalterliche Original wenige Meter entfernt im Museum steht, lassen sich an ­diesem Platz sehr gut Informationen über die mittelalterliche Literaturproduktion und -rezeption vermitteln. In den vorherigen Stationen des Bounds sind die Spielenden bereits mit einigen lokalen Beispielen

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 269

der Literaturproduktion im Kloster und bei Hofe vertraut gemacht worden, bevor sie als letzte Station zum Burgplatz gelangen, wo sie mehr über Heinrich den Löwen und die Löwenstatue erfahren. Mit Michel Wyssenherres bůch von dem edeln hern von Bruneczwigk als er über mer fůre aus dem 15. Jahrhundert 37 wird den Nutzerinnen und Nutzern eine spätmittelalterliche Bearbeitung der Löwensage vorgestellt, die großen Einfluss auf die Mythenbildung um den Herzog hatte. Die Sage handelt von Heinrichs Reise nach Jerusalem, die von Irrfahrten und Zwischenepisoden unterbrochen ist, und wird in MA ppBS genutzt, um davon zu erzählen, wie „Heinrich nun überhaupt zum Löwen“ 38 kam. Dies geschieht, indem ein Auszug aus Wyssenherres Werk vorgelesen wird, der zeitgleich auf dem Bildschirm mitgelesen werden kann. Erneut soll durch das bimediale Rezeptionsangebot die Fähigkeit der Studierenden geschult werden, ältere deutsche Texte zu lesen und zu verstehen: Von Brvneczwigk der edele fürst | Gingk dem geschreyee hinden nach | […] | Er qvam als nahe, bisz daz er sach | Striden eynen lintworm vnd eynen lewen. | […] Da daz hersach der werde man, | Wie balde er tzv dem lewen sprangk: | „Ich will dir stetlich hie by stan, | Dv dünckest mich syn eyn edelich dire | Vnd bist mir dar czv wol erkant.“ (Str. 35 – 37)39

Im Anschluss werden die Studierenden gefragt: „Es gibt zwei Gründe, dass der Herzog den Löwen im Kampf gegen den Drachen unterstützt. Welche sind es?“ Als Antworten stehen folgende Möglichkeiten zur Wahl: (1) Er hat den Drachen wiedererkannt, der ihm bei einem früheren Abenteuer Schaden zugefügt hat. (2, richtig) Er hat sich selbst in dem edlen Löwen wiedererkannt. (3, richtig) Der Löwe erscheint ihm als ‚edles Tier‘ und damit seiner Unterstützung würdig. (4) Er glaubt, den Löwen leichter bekämpfen zu können, sollte sich dieser nach dem Kampf gegen ihn wenden.

Nur wenn beide richtigen Optionen angeklickt werden, gilt die Frage als gelöst und wird die volle Punktzahl erreicht. Bei einer falschen Antwort erhalten die Nutzerinnen und Nutzer Hinweise, die – allerdings mit Punktabzug – zur korrekten Beantwortung der Frage führen sollen. Bei der vorliegenden Frage sind es einerseits die Information, dass die Bedeutung von ‚erkennen‘ nicht mit der Semantik des Neuhochdeutschen ‚wiedererkennen‘ identisch 37 Ridder nimmt eine Entstehungszeit z­ wischen 1471/74 an. Vgl. Klaus Ridder: Wyssenherre, Michel, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10 (1999), Sp. 1467 – 1470, hier Sp. 1467. – Vgl. dazu auch Hans-Joachim Behr: Vom Welfenherzog zum Mythos. Das Bild Heinrichs des Löwen in der deutschen Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Vestigia Leonis. Spuren des Löwen, hg. v. dems., Herbert Blume, Braunschweig 1995, S. 9 – 49, hier S. 21 f. 38 Phillip Schlinke: Michel Wyssenherre/Domplatz. Skript ‚MAppBS – Literaturgeschichte‘. 39 Zitiert nach Michel Wyssenherre: Hie hebt sich an ey[n] bůch von dem edeln hern von Bruneczwigk als er über mer fůre, in: Vestigia Leonis. Spuren des Löwen, hg. v. Hans-Joachim Behr, Herbert Blume, Braunschweig 1995, S. 50 – 121, hier S. 72 – 74.

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Abb. 3: Löwe auf Burgplatz. Foto: Katharina Schuck.

ist, und andererseits der Verweis auf das Tier in der „Heraldik Braunschweigs“ 40. Damit ist die eingangs erwähnte feste Verbindung Braunschweigs mit dem Löwen ein weiteres Mal hilfreich, um den Lerneffekt zu unterstützen. Michael Wyssenherre erzählt in seinem Buch nicht nur von der ersten Begegnung ­zwischen Heinrich und seinem Löwen, sondern auch, wie die Plastik auf den Burgplatz gelangte: „Dae wart nv vrkMnde gegoszen | Eyn hevbscher lewee und sind | Tzv Brvneczwigk al vff dem slosze“ (Str. 98).41 Von dem frühneuhochdeutschen Werk scheint eine Verbindungslinie also unmittelbar in die Gegenwart der Rezipientinnen und Rezipienten zu führen. Dass diese Verknüpfung aber zu relativieren und z­ wischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden ist, wird in MA ppBS eigens thematisiert. Die Behauptung, dass „die Bronzestatue ihm [dem Löwen] zu Ehren aufgestellt worden sein soll, ist wohl künstlerische Freiheit. Denn die Statue stand bereits seit 1166, also mehr als 15 Jahre vor

40 Schlinke (wie Anm. 38). 41 Wyssenherre 1995 (wie Anm. 39), S. 118.

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 271

Heinrichs Kreuzfahrt auf dem Burgplatz.“ 42 Nicht alles, was in Braunschweig aus dem Mittelalter zu stammen scheint und um das sich lokale Geschichten ranken, lässt sich historisch halten. Der Burgplatz bietet noch diverse andere Anknüpfungspunkte für literaturgeschichtliches Basiswissen, das MAppBS vermitteln und vertiefen will. Auch die umstehenden Gebäude sind Zeugen der Macht Herzog Heinrichs, allen voran die Stiftskirche St. Blasius, die in Braunschweig besser als ‚der Dom‘ bekannt ist. Obwohl die Stadt nie Bischofssitz war, wird dieser Name heute sogar für den offiziellen Internetauftritt der K ­ irche verwendet.43 Außer über den Burglöwen und den Dom informiert MAppBS auch über Heinrichs Tätigkeit als Gönner, der die Produktion von Literatur förderte und als (möglicher) Auftraggeber verschiedener Werke, darunter das Rolandslied des Pfaffen Konrad, gilt. In dem berühmten Helmarshauser Evangeliar aus dem 12. Jahrhundert ist Heinrich gemeinsam mit seiner Frau Mathilda von England als Stifter dargestellt, wie er einen kostbaren Codex einem Kleriker überreicht.44 Die Studierenden hören durch MAppBS nicht nur von der teuersten Handschrift, die das Land Niedersachsen je käuflich erworben hat und die heute in der Herzog-­ August-Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrt wird, sondern erhalten auch Gelegenheit, ihre literaturwissenschaftlichen und gattungsgeschichtlichen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. So werden sie aufgefordert, folgende Aufgabe zu lösen: Die Begriffe Evangeliar, Evangelistar und Evangelienharmonie erscheinen recht ähnlich, aber nur einer passt auf das hier vorgestellte Buch. Ordne die Definition der Reihenfolge zu: 1. Ein Evangeliar … 2. Ein Evangelistar … 3. Eine Evangelienharmonie … a)… ist eine Sammlung der vier Evangelien. b)… ordnet Stellen der Evangelien den passenden Tagen des Kirchenjahrs zu. c)… ist eine Art Zusammenfassung der vier Evangelien.

Dank der verschiedenen Tools von Actionbound können sich die Studierenden die Miniatur mit Heinrichs Buchübergabe auch digital anschauen. An ­diesem Beispiel werden sie zugleich dazu angehalten, über mediale Gestaltung, den Zweck religiöser Kunst und herrschaftliche Repräsentation nachzudenken. Die Multiple-Choice-Frage dazu lautet: „Die Seite mit dem Widmungsbild (Fol. 19r) ist nicht die einzige, auf der kaum Text, dafür aber viel Malerei zu sehen ist. Welche Funktion des Evangeliars kann man dafür als Grund annehmen?“ Als Antwortmöglichkeiten stehen drei Aussagen zur Wahl: (1) Das Buch wendet sich primär an Illiteraten, die auch die Bilder verstehen. (2) Das Buch ist repräsentativ für den Reichtum des Schreibers und des Malers. (3, richtig) Das Buch zeugt von der Macht des Herrschers, 42 Schlinke (wie Anm. 38). 43 Https://www.braunschweigerdom.de/ (01. 10. 2019). 44 Vgl. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen. HAB Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 105 Noviss. 2°, Fol. 19r; http:// diglib.hab.de/mss/105-noviss-2 f/start.htm?image=019r (01. 10. 2019). – Vgl. auch Bernd S­ chneidmüller, Harald Wolter-von dem Knesebeck: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes von England, Darmstadt 2018.

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der es in Auftrag gegeben hat. – Wer möchte, kann am Ende des zweiten Stadtrundgangs noch das Grab Herzog Heinrichs und Mathildas im Dom besuchen und ein Faksimile ihres Evangelienbuchs aus der Nähe betrachten.

4.3 Kaffeetwete: Sprechende Straßennamen Die dritte Beispielstation stammt aus dem Stadtrundgang MA ppBS für alle und richtet sich somit an einen größeren Adressatenkreis. Das bestehende didaktische Konzept wurde dahingehend variiert und erweitert, dass die vermittelten Informationen auch ohne spezifische Vorkenntnisse aus der ‚Einführung in die Mediävistik‘ verständlich sein müssen. Da die Vorlesung nicht mehr die Struktur vorgibt und mittelalterliche Th ­ emen von allgemeiner Bedeutung behandelt werden, sind die örtlichen Gegebenheiten umso relevanter und müssen – im Sinne Aleida Assmanns – zweckorientiert ‚aufbereitet‘ werden. Im folgenden Beispiel dient der Name einer Straße dazu, sprachhistorische Hintergründe zu erläutern und auf regionale sprachliche Besonderheiten aufmerksam zu machen.45 MA ppBS für alle führt die Nutzerinnen und Nutzer vom Hagenmarkt über die ­Andreasund die Brüdernkirche sowie den Eulenspiegelbrunnen zur ‚Kaffeetwete‘. Dies ist eine kleine Verbindungsstraße in dem Weichbild ‚Altstadt‘ und bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bezeugt.46 In den Braunschweiger Stadtplänen des späten Mittelalters trägt sie noch den Namen ‚Glümertwete‘.47 Dieser verweist auf das Haus der Familie Glümer, die damals in der Straße wohnte. Das Prinzip der Benennung nach Bewohnern oder besonderen Gebäuden setzte sich fort, als die Straße im Jahr 1758 zunächst in ‚Caffeestraße‘ und 1780 in ‚Coffee-Twete‘ umbenannt wurde, „nachdem das südliche Eckhaus zur Breiten Straße von Franz Heinrich Wegener zum Kaffeehause eingerichtet worden war“.48 Da weder die kleine Gasse in ihrer ursprünglichen Form und Bebauung erhalten ist, noch ein Kaffeehaus auf den einstigen Namensgeber schließen lässt, nutzt MAppBS für alle das moderne Straßenschild, um über Sprachgeschichte, Sprachverwandtschaft und Sprachbedeutung zu informieren. Behutsam wie gewitzt holt die Autorin des Hörtextes die Rezipientinnen und Rezipienten in ihrer Alltagswelt ab und lässt vor ihren inneren Augen das Bild einer mittelalterlichen Stadt entstehen:

45 ‚MAppBS für alle‘ ist über die App ‚Actionbound‘ frei verfügbar. 46 Vgl. Johannes Angel: Art. Kaffeetwete, in: Braunschweiger Stadtlexikon, hg. v. Luitgard Camerer, Norman-­Mathias Pingel, Manfred R. W. Garzmann, Braunschweig 1992, S. 121. 47 Vgl. Urkundenbuch der Stadt Braunschweig Bd. 3, 1. Abth.: 1321 – 1340, im Auft. der Stadtbehörden hg. v. Ludwig Hänselmann, Heinrich Mack, Braunschweig 1905, Anhang Bl. 2. 48 Angel 1992 (wie Anm. 46), S. 121.

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 273

Heute schon getwittert? Glaubt man einigen alteingesessenen Braunschweigern, ist die Redewendung ‚jemandem etwas zwitschern‘ im Sinne von ‚Tratsch austauschen‘ wesentlich älter als der gleichnamige Social-Media-Dienst. Und sie hat einiges mit dem Namen dieser Straße – der Kaffeetwete – zu tun. Du kannst gern ein wenig die Straße auf und ablaufen – vorbei an den Neubauwohnungen, den parkenden Autos und dem lot-Theater. Du wirst nicht lang dafür brauchen. Auch wird es dir schwer fallen, hier noch einen Bezug zur mittelalterlichen Stadt zu finden. Es gibt ihn aber doch. Siehst du den schmalen, beigefarben gepflasterten Streifen auf dem Kopfsteinpflaster? Er zeigt die ehemalige Breite der Twete an. Dort, wo jetzt Autos parken und Fußgänger flanieren, standen also einst dicht aneinandergedrängte Häuser.49

Um trotz der modernen Bebauung einen Eindruck von den historischen Straßenverhältnissen zu vermitteln, sollen die Spielerinnen und Spieler die Breite der Twete, die im Asphalt markiert ist, schätzen. Vor allem im Vergleich mit heutigen großen und vielbefahrenen Straßen wird deutlich, dass der Platzbedarf deutlich gestiegen ist; ursprünglich war die Twete ca. 2,5 m breit. Warum nannte man diese Straße – oder vielmehr Gasse – nun eine ‚Twete‘? Die Erzählung der alten Braunschweiger dazu lautet folgendermaßen: Die alten, windschiefen Häuser zu beiden Seiten der Twete standen so eng beieinander, dass sie sich in den oberen Geschossen fast berührten. Das bedeutete nicht nur, dass die Erdgeschosswohnungen wohl keine Platz-an-der-Sonne-Appartements waren. Es ermöglichte den Obergeschossbewohnern auch, Klatsch und Tratsch mit ihren Nachbarn von der anderen Straßenseite auszutauschen – wie Spatzen auf dem Dach. Deshalb nannte man ­solche Straßen Zwitscherstraßen – oder im Mittelniederdeutschen ‚Tweten‘.50

Diese Anekdote stammt von einem Anwohner, der unserer studentischen Autorin davon berichtete, als sie vor Ort nach Anknüpfungsmöglichkeiten für ihre Station suchte. Seine Erzählung bietet einen hervorragenden Einstieg, um die eigentliche Bedeutung des Straßen­ namens zu erklären. Sprachhistorisch lässt sich diese schöne Erzählung allerdings nicht belegen. Die ‚Twete‘, in anderen Städten auch ‚Twiete‘ genannt, hat nichts mit Tiergeräuschen zu tun. Stattdessen ist der Begriff wohl mit dem altnordischen Wort für ‚Furche‘ bzw. ‚Einschnitt‘ verwandt. Ab dem 12. Jahrhundert – im Mittelniederdeutschen – wurde daraus der Begriff für eine schmale Gasse, die zwei Grundstücke oder – wie im Fall der Kaffeetwete – zwei größere Straßen miteinander verband.51

Zwar dient MAppBS für alle nicht zur Lernunterstützung von Studierenden im Anfängerstadium, doch können und sollen auch bei ­diesem digitalen Stadtrundgang Fragen beantwortet werden. Das spielerisch-kompetitive Prinzip einer digitalen Schnitzeljagd, bei der Münzen 49 Anna Wandschneider: Kaffeetwete, in: ‚MAppBS für alle‘. 50 Ebd. 51 Ebd.

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im Sparschwein klimpern, funktioniert unabhängig von der konkreten Anbindung an ein Seminar und kann dazu beitragen, dass die gehörten Informationen länger in Erinnerung bleiben. Bei der vorgestellten Station werden die Nutzerinnen und Nutzer abschließend noch einmal gefragt, was der Straßenname ‚Twete‘ bedeutet. Entscheiden müssen sie sich ­zwischen den Optionen (1) Zwitscherstraße, (2, richtig) Verbindungsgasse und (3) Kopfsteinpflaster, bevor sie von dem einstigen Wechsel des Straßennamens erfahren: Die Gelegenheit, die Köpfe zusammenzustecken, bot sich in der Kaffeetwete übrigens dennoch. Im 18. Jahrhundert eröffnete Franz Heinrich Wegener hier nämlich ein Kaffeehaus – und gab der Straße damit einen neuen Namen.52

Abschließend wird die Kaffeetwete in den stadthistorischen Kontext eingeordnet und so auf eine regionalsprachliche Besonderheit hingewiesen: „In der Braunschweiger Innenstadt gibt es noch einige andere Tweten. Schätze, wie viele es sind.“ Die genaue Zahl lässt sich aus den vorherigen Informationen nicht erschließen, doch geht es hier auch weniger um nummerische Richtigkeit als um das Bewusstsein, dass es sich bei dem Begriff ‚Twete‘ um eine für Braunschweig typische Straßenbezeichnung handelt. Erst kürzlich protestierte ein Bürger, als eine Straße in der historischen Innenstadt umbenannt werden sollte: „In Braunschweig heißt es Twete.“ 53 Die regionale Identität hängt auch von sprachlichen Traditionen ab, deren Entstehung und Entwicklung bei MAppBS für alle nachvollzogen werden kann.

5. Regionale Identitätsbildung in der Lehre Eine zentrale Motivation für unser Lern-App war der lebensweltliche Bezug. Wir wollten Studierenden zeigen, dass die mittelalterliche Sprache, Literatur und Kultur etwas mit ihnen zu tun hat. Das Mittelalter sollte nicht länger eine historisch ferne Epoche und eine als unnötig empfundene Hürde für Germanistik-Studierende sein, die sich zu Beginn ihres Studiums mit historischer Grammatik quälen müssen. Vielmehr sollte das Mittelalter als wichtige Phase der Vergangenheit wahrgenommen werden, die in die Gegenwart hineinwirkt und deren vielfältige Spuren überall zu entdecken sind, sofern man nur mit offenen Augen durch Braunschweig geht. Studierende sollten am regionalen Beispiel erkennen, dass das Mittelalter zu ihnen gehört. Schnell wurde deutlich, dass diese Annahme auch in umgekehrter Weise gilt und ein enges Wechselverhältnis z­ wischen historischem Wissen und Lebensraum besteht. Durch ihre neuen sprach-, literatur- und kulturhistorischen 52 Ebd. 53 Ralph-Herbert Meyer: In Braunschweig heißt es Twete; https://www.der-loewe.info/in-braunschweigheisst-es-twete (24. 10. 2019).

Die Löwenstadt als Lehr-/Lernraum | 275

Kenntnisse wurde Braunschweig für die Studierenden zu einer Stadt, in der sie sich immer besser auskannten und noch mehr zuhause fühlten. Die regionale Identität, zu deren Formierung MA ppBS beitragen kann, ist keine, die sich durch Herkunft im Sinne von Abstammung definiert, sondern durch Bildungswissen. Angesprochen werden nicht nur diejenigen, die in Braunschweig geboren sind, sondern auch diejenigen, die zugezogen sind und erst seit Beginn ihres Studiums dort leben. Die Beschäftigung mit und das Wissen um die historischen Zusammenhänge und Geschichten rund um die mittelalterliche Sprache, Literatur und Kultur stärken das Zugehörigkeitsgefühl zur Stadt Heinrichs des Löwen. Obwohl Identitätsbildung bei MA ppBS über die Vermittlung von Wissen funktioniert, handelt es sich um kein elitäres Konzept. MA ppBS soll nicht zu einer Abgrenzung ­zwischen Wissenden und Unwissenden führen, sondern setzt auf die Weitergabe von Wissen. Studierende sind künftige Bildungsmultiplikatoren, die ihre Kenntnisse über regionale Bezüge s­ päter einmal in ihrem Beruf, insbesondere bei der Lehrtätigkeit an Schulen, teilen und vermitteln sollen. Dass regionale Zugehörigkeit durch Teilhabe entsteht und wächst, war schon bei der Durchführung des Projekts zu beobachten. Die Studierenden, die an der Erarbeitung der Bounds beteiligt waren, fühlten sich anschließend viel stärker ihrer Universitätsstadt verbunden. Auch bei den Nutzerinnen und Nutzern wirkt sich MA ppBS nachhaltiger auf ihr Erinnerungsvermögen und Identifikationsgefühl aus, als wenn ihnen die entsprechenden Informationen im Hörsaal vermittelt worden wären. Die Bewegung im Stadtraum, die aktive Spuren­suche und die Beantwortung konkreter Fragen vor historischen Objekten führen nicht nur zu einer Verinnerlichung erlernten Wissens, sondern auch zu einem verstärkten Gefühl regionaler Zugehörigkeit. Identitäten von Menschen sind komplex. Sie setzen sich aus verschiedenen Elementen zusammen, die an Bedeutung gewinnen und verlieren können, also veränderlich sind und sich nicht ein für alle Mal festlegen lassen. Dieses Grundlagenwissen, das auch Amin Maalouf herausstellt, gilt natürlich auch für regionale Identitäten. Menschen können eine Stadt verlassen, ihren Wohnort wechseln und in eine andere Region ziehen, gerade für Studierende gehören räumliche Veränderungen vielfach zum eigenen Lebensplan. Doch bedeutet dies nicht, dass literatur- und kulturhistorisches Wissen bei ihnen weniger identitätsprägend wirkt. Was Maalouf für sprachliche Zugehörigkeiten fordert, lässt sich auf regionale Zugehörigkeiten übertragen: Jeder Mensch kann demnach mehrere regionale Zugehörigkeiten in seine Identität einbeziehen.54 Wer einen ästhetisch stilisierten Löwen sieht, wird wohl auch dann noch an Braunschweig denken, wenn er oder sie längst nicht mehr in der Stadt lebt. Die Kompetenzen aber, die die Germanistik-Studierenden bei MA ppBS erwerben, können sie mitnehmen und auf historische Objekte in anderen Regionen übertragen. 54 Vgl. Maalouf 2000 (wie Anm. 5), S. 116.

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MA ppBS liefert den Braunschweiger Germanistik-Studierenden zahlreiche Beispiele,

wie Sprachbegegnungen mit dem Niederdeutschen aussehen könnten. Während der niederdeutsche Dialekt kaum mehr gesprochen wird, ist er in Straßennamen und Inschriften erhalten geblieben. Nach dem Vorbild von MAppBS können Studierende ­später einmal, wenn sie an einer Schule tätig sind, sich mit ihren Lerngruppen selbst auf eine regionale Spuren­suche begeben. Selbst Teilnehmende an den Projektseminaren, die Braunschweig bereits gut kannten, entdeckten so neue Details und betrachteten die Stadt mit anderen Augen. „Ich sehe jetzt überall Löwen,“ lautete die mündliche Rückmeldung eines Teilnehmers, mit der er sich in gleicher Weise auf das vertikale wie das horizontale Erbe bezog und die Identifikation Braunschweigs als Löwenstadt einmal mehr bestätigte.

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