Von Maastricht bis Nizza: Neuformen differenzierter Integration in der Europäischen Union [1 ed.] 9783428510443, 9783428110445

Der Vertrag von Maastricht ermächtigte eine Gruppe von EU-Mitgliedstaaten, den rechtlichen und institutionellen Rahmen d

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German Pages 279 [280] Year 2003

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Von Maastricht bis Nizza: Neuformen differenzierter Integration in der Europäischen Union [1 ed.]
 9783428510443, 9783428110445

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Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 64

Von Maastricht bis Nizza Neuformen differenzierter Integration in der Europäischen Union

Von

Manuel Kellerbauer

Duncker & Humblot · Berlin

Manuel Kellerbauer · Von Maastricht bis Nizza

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Burkhard Heß Kristian Kühl, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Martin Nettesheim Wolfgang Graf Vitzthum, Joachim Vogel sämtlich in Tübingen

Band 64

Von Maastricht bis Nizza Neuformen differenzierter Integration in der Europäischen Union

Von Manuel Kellerbauer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-11044-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Diese Arbeit ist Herrn Steuerberater Mirko Gottmann in aufrichtiger Freundschaft gewidmet

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung konnte noch die bis August 2002 veröffentlichte Literatur berücksichtigt werden. Meinem verehrten Doktorvater, Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Graf Vitzthum, LL.M., möchte ich in ganz besonderem Maße danken. Er war mir im Verlauf meiner Studien stets Vorbild und Begleitung. Durch glückliche Fügung traf ich auch während meines Magisterstudiengangs in Aix-en-Provence und in der mündlichen Prüfung des ersten Staatsexamens auf ihn. Das Vertrauen dieses akademischen Vaters in meine fachlichen und persönlichen Fähigkeiten waren stets Auszeichnung und Ansporn zugleich für mich. Vielfältige Unterstützung bei der Erstellung der vorliegenden Arbeit erfuhr ich seitens des Europäischen Parlaments. Meine Tätigkeiten für den Ausschuss für konstitutionelle Fragen und für Prof. Dr. Dimitris Tstatsos, Beobachter des Europäischen Parlaments bei der Regierungskonferenz, vertieften meine Kenntnisse des Europäischen Rechts und gestatteten mir zeitnahe Einsichten in die Verhandlungen zum Vertrag von Nizza. Meinen ehemaligen Vorgesetzten und Kollegen in Brüssel möchte ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit aussprechen. Zu aufrichtigem Dank verpflichtet bin ich auch dem Cusanuswerk. Die finanzielle und ideelle Förderung der christlichen Begabtenförderung ermöglichte die intensive Beschäftigung mit dem von mir gewählten Thema, ohne mein fachübergreifendes Interesse in den Hintergrund treten zu lassen. Nicht zuletzt gebührt mein Dank all denjenigen, die durch wissenschaftlichen Diskurs, geistreiche Anregung und persönlichen Zuspruch zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Mirko Gottmann, Dr. Martin Heger, Margit Bühler, Dr. Georg Wurzer, Jörg Fetzer und Dr. Andreas Kopp möchte ich in diesem Zusammenhang besonders hervorheben. Manuel Kellerbauer

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21 Erster Teil

Die neue Differenzierungsform des Vertrags von Maastricht und ihre bisherigen Anwendungsfelder A. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform I. Das Konzept der europäischen Pioniergruppen und seine Verwirklichung 1. Das wirtschaftliche und politische Umfeld der siebziger Jahre 2. Der neue Integrationsansatz Willy Brandts 3. Die Weiterentwicklung und Konkretisierung durch den Bericht Leo Tindemans' 4. Die weitere Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht 5. Die Umsetzung des neuen Integrationsansatzes im Vertrag von Maastricht II. Die Wesenszüge der neuen Differenzierungsform 1. Die Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der EU a) Die herkömmlichen völkerrechtlichen Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten b) Die seit dem Vertrag von Maastricht existierenden Kooperationen im Unionsrahmen 2. Der umfassende Ausschluss eines Teils der Mitgliedstaaten a) Die unbefristete Freistellung von der Fortentwicklung gemeinschaftlicher Politikbereiche b) Der Ausschluss von der Mitgestaltung des Integrationsprozesses 3. Zusammenfassung B. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik I. Entstehungsgeschichte und Hintergrund 1. Die gemeinsame Sozialpolitik vor Maastricht als „Stiefkind" der Integration 2. Die Verhandlungen in Maastricht: Der Kompromiss des „Opt-in der Elf 4 II. Die rechtliche Ausgestaltung des vereinbarten Opt-in 1. Überblick 2. Das Protokoll und das Abkommen über die Sozialpolitik

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nsverzeichnis

3. Die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft a) Die gemeinschaftliche Rechtsnatur des geschaffenen Primärund Sekundärrechts aa) Das Sozialabkommen als gemeinschaftliches Primärrecht... bb) Die Rechtsakte der Abkommenstaaten als gemeinschaftliches Sekundärrecht b) Der acquis communautaire als Ausgangspunkt der Abkommenstaaten c) Die Erweiterung des acquis communautaire durch die Abkommenstaaten aa) Das erweiterte Primärrecht des Sozialabkommens bb) Das auf Grundlage des Sozialabkommens erlassene Sekundärrecht cc) Keine Erweiterungen durch Entscheidungen des EuGH d) Die Sonderstellung des geschaffenen Rechts infolge seiner beschränkten Geltung 4. Die Inanspruchnahme des modifizierten institutionellen Rahmens der EG a) Die Beratung und Beschlussfassung ohne den britischen Ratsvertreter b) Die unveränderte Zusammensetzung der übrigen Gemeinschaftsorgane 5. Die Finanzierungsregelung 6. Die fehlende Beitrittsregelung III. Die aufgeworfenen Rechtsfragen der neuen Differenzierungsform 1. Die Vereinbarkeit mit den unions- und gemeinschaftsrechtlichen Grundprinzipien a) Die Vereinbarkeit des Rückgriffs auf den modifizierten institutionellen Rahmen aa) Das Unionsprinzip des einheitlichen institutionellen Rahmens bb) Die Beschränkung durch Ziffer 1 und 2 Sozialprotokoll . . . . cc) Die Vereinbarkeit mit der Zielsetzung des Unionsprinzips.. . b) Die Vereinbarkeit des beschränkt geltenden Gemeinschaftsrechts aa) Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Rechtseinheit... bb) Die Beschränkung durch das partielle Recht cc) Die Rechtfertigung durch Überwindung des Integrationsstillstands 2. Die Folgeprobleme der Schaffung eines partiellen acquis communautaire a) Die Konkurrenz der sozialpolitischen Rechtsetzungsermächtigungen b) Die Bedeutung des partiellen Rechts für EU-Kandidatenländer . . IV. Die Beendigung der sozialpolitischen Differenzierung

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1. Der britische „Beitritt" zum Sozialabkommen 2. Die Ausweitung der beschränkt geltenden Richtlinien 3. Die Anziehungswirkung der erweiterten Sozialpolitik auf Großbritannien V. Bewertung

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Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion I. Der Delors-Plan und seine Verwirklichung für einen Teil der EU-Mitglieder 1. Die drei Stufen der Wirtschafts- und Währungsunion 2. Die Hintergründe der Differenzierung a) Die politischen Vorbehalte in Dänemark und Griechenland b) Das Verfehlen der Eintrittsvoraussetzungen durch Griechenland und Schweden II. Die rechtliche Ausgestaltung 1. Die Freistellung zugunsten der Nichtteilnehmerstaaten a) Die vorübergehende Ausnahmeregelung bei Verfehlen der Eintrittsvoraussetzungen aa) Die von der Freistellung betroffenen Bestimmungen bb) Die grundsätzliche Pflicht zum Eintritt in die dritte Stufe.. . b) Die dauerhafte Opt-out-Stellung Dänemarks und Großbritanniens 2. Der verringerte Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der dritten Stufe a) Der Ausschluss vom Stimmrecht im Rat b) Kein Ausschluss von den Beratungen im Rat - Die Euro-12Gruppe als Beratungsforum c) Der Verlust personalpolitischen Einflusses im ESZB d) Der Erweiterte Rat als Bindeglied zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern 3. Der nachträgliche Eintritt in die dritte Stufe der WWU a) Der Eintritt durch Aufhebung der Ausnahmeregelung b) Der Eintritt durch Verzicht auf die Opt-out-Stellung III. Die aufgeworfenen Rechtsfragen: Die differenzierten Außenkompetenzen 1. Der partielle acquis communautaire der dritten Stufe der WWU . . . . 2. Die Außenkompetenzen des Art. 111 EG 3. Die Folgen differenzierter Kompetenzen zum Abschluss internationaler Verträge a) Überblick über die Problemstellung b) Die differenzierten Vertragsabschlusskompetenzen nach Art. 111 Abs. 1 und 3 c) Die Entstehung einer Neuform gemischter Abkommen d) Der differenzierte Zuwachs ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen

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aa) Der fortschreitende Außenkompetenzverlust der WWU-Teilnehmerstaaten bb) Die Problematik verbleibender Außenkompetenzen der WWU-Nichtteilnehmerstaaten cc) Der Einfluss des Art. 10 EG nach der Rechtssache Kramer . dd) Die analoge Anwendung des Art. 307 EG 4. Zusammenfassung IV. Bewertung D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres I. Entstehungsgeschichte und Hintergrund 1. Die Verknüpfung zwischen Personenfreizügigkeit und Justiz- und Innenpolitik 2. Freizügigkeit, Justiz und Inneres in EG und EU bis zum Vertrag von Amsterdam 3. Der Schengen-Prozess als Forum des Integrationsfortschritts a) Die beiden Schengener Abkommen b) Die beteiligten Mitgliedstaaten c) Die Defizite der intergouvernementalen Struktur 4. Die Amsterdamer Reformen im Bereich Justiz und Inneres II. Das Opt-out aus dem Titel IV EG 1. Die primärrechtlichen Ermächtigungen zum Opt-out 2. Die institutionellen Modifikationen 3. Die Re-Opt-in-Möglichkeiten der Opt-out-Staaten a) Der Verzicht Dänemarks auf seine Sonderstellung b) Die Re-Opt-in-Möglichkeiten Großbritanniens und Irlands aa) Die Möglichkeit zur Beteiligung im Vorfeld einer Maßnahme bb) Die Möglichkeit zum nachträglichen Re-Opt-in cc) Die „Gesamt-Opt-in-Möglichkeit" Irlands 4. Die Finanzierungsregelung 5. Der geschaffene Sonderacquis und dessen Folge Wirkungen III. Die verstärkte Zusammenarbeit der Schengen-Staaten im Unionsrahmen 1. Die Überführung des Schengen-acquis a) Die Methode der Überführung des Schengen-acquis aa) Die Definition des Schengen-acquis bb) Die Zuweisung einer Kompetenzgrundlage b) Die Freistellung Dänemarks von der Überführung in der ersten Unionssäule c) Die Ermächtigung zur verstärkten Zusammenarbeit ohne die Nicht-Schengen-Staaten d) Die Beitrittsmöglichkeiten der Nicht-Schengen-Staaten aa) Das Erfordernis der einstimmigen Genehmigung des Beitritts

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bb) Der Beitritt „à la carte" Großbritanniens 2. Die Weiterentwicklung des Schengen-acquis a) Die Methode der Weiterentwicklung des Schengen-acquis b) Die Freistellung Dänemarks von der Weiterentwicklung in der ersten Unionssäule c) Die Ermächtigung zur verstärkten Zusammenarbeit ohne die Nicht-Schengen-Staaten d) Die Beitrittsmöglichkeiten der Nicht-Schengen-Staaten 3. Die institutionellen Modifikationen und die Finanzierungsregelung. . 4. Die Sonderstellung des Schengen-acquis und die daraus resultierenden Fragen a) Der Schengen-acquis als gesondertes Rechtsgebilde im Unionsrahmen b) Die Erweiterung des von Kandidatenländern zu übernehmenden acquis communautaire c) Die Folgewirkungen des Schengen-acquis IV. Bewertung E. Abschließende Bewertung zum ersten Teil

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Zweiter Teil Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten

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A. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform I. Die generalklauselartige Differenzierung des Vertrags von Amsterdam. . 1. Die Regierungskonferenz 1996/1997 2. Das Verhandlungsergebnis II. Die Reform der Differenzierungsklauseln durch den Vertrag von Nizza . III. Die Regelungsstruktur der Bestimmungen 1. Nach dem Vertrag von Amsterdam 2. Nach dem Vertrag von Nizza

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B. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit I. Die Voraussetzungen für alle Säulen 1. Das Gebot der Förderung der Unionsziele und -interessen a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza 2. Der Schutz des einheitlichen institutionellen Rahmens 3. Die Wahrung des acquis communautaire 4. Die Subsidiarität verstärkter Zusammenarbeit a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Konkretisierung durch den Vertrag von Nizza 5. Die Mindestanzahl teilnehmender Mitgliedstaaten

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II.

III.

IV.

V.

VI.

a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza 6. Der Schutz der nichtteilnehmenden Mitgliedstaaten a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza 7. Die Offenheit verstärkter Zusammenarbeit für die Nichtteilnehmerstaaten Die zusätzlichen Voraussetzungen für die erste Säule 1. Der Ausschluss im Bereich ausschließlicher Zuständigkeit 2. Das Verbot der Beeinträchtigung von Gemeinschaftsaktivitäten a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza 3. Der Ausschluss der Unionsbürgerschaft a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Streichung durch den Vertrag von Nizza 4. Das Verbot der Diskriminierung zwischen Unionsbürgern a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Streichung durch den Vertrag von Nizza 5. Das Kompetenzschaffungsverbot 6. Das Verbot von Handelsbeschränkungen und Wettbewerbsverzerrungen a) Die Regelung des Vertrags von Amsterdam b) Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza Die zusätzlichen Voraussetzungen für die dritte Säule 1. Die Wahrung der Zuständigkeit der Gemeinschaft 2. Die Wahrung der Ziele des Titels VI EU 3. Das Gebot schnellerer Fortentwicklung 4. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza Die zusätzlichen Voraussetzungen des Vertrags von Nizza für die zweite Säule 1. Die zusätzlichen Voraussetzungen 2. Die weiteren Beschränkungen Das Einsetzungsverfahren für die erste Säule 1. Die Regelung des Vertrags von Amsterdam a) Der Antrag der interessierten Mitgliedstaaten b) Das alleinige Vorschlagsrecht der Kommission c) Das Anhörungsrecht des Parlaments d) Der Mehrheitsbeschluss im Rat und die Vetomöglichkeit 2. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza a) Die Streichung des Veto-Rechts b) Die Einführung des parlamentarischen Zustimmungserfordernisses Das Einsetzungsverfahren für die dritte Säule

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1. Die Regelung des Vertrags von Amsterdam 210 2. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza 212 VII. Das Einsetzungsverfahren des Vertrags von Nizza für die zweite Säule 213 C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit 214 I. Die anwendbaren Regeln und Beschränkungen 214 1. Der Grundsatz der Geltung der allgemeinen Regeln 214 a) Die verstärkte Zusammenarbeit als EU bzw. EG „im verkleinerten Format" 214 b) Die Unabänderlichkeit der anzuwendenden allgemeinen Regeln .216 2. Die anwendbaren Sonderregeln 217 a) Die institutionellen Modifikationen 217 aa) Der Ausschluss der Nichtteilnehmerstaaten im Rat 217 bb) Die abweichenden Abstimmungsregeln im Rat 217 cc) Die Geltung der allgemeinen Regeln für die übrigen Organe 218 b) Die besonderen Unterrichtungs- und Koordinationspflichten . . . . 220 c) Das Verbot zur Behinderung einer verstärkten Zusammenarbeit . 221 3. Die besonderen Grenzen 221 a) Die aus den Einsetzungsvoraussetzungen folgenden Beschränkungen 222 b) Die durch den Einsetzungsbeschluss gezogenen Grenzen 222 c) Die Zulässigkeit der Ausübung von Außenkompetenzen 224 aa) Die grundsätzliche Zulässigkeit 224 bb) Die geltenden Beschränkungen 226 II. Der Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit 226 1. Die Beitrittsvoraussetzungen 226 a) Die materiellen Regeln 227 aa) Der Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit.. . 227 bb) Die Pflicht zur Übernahme des entstandenen Besitzstands . . 228 cc) Das Fehlen von Aufholmechanismen 229 b) Die prozeduralen Regeln 230 aa) Das Beitritts verfahren für die erste Säule 230 bb) Das Beitrittsverfahren für die dritte Säule 231 cc) Das Beitrittsverfahren des Vertrags von Nizza für die zweite Säule 232 2. Die Rechtsfolgen des Beitritts 233 a) Die Rechtsfolgen für den beigetretenen Mitgliedstaat 233 aa) Die Geltung der aus der Zusammenarbeit folgenden Rechte und Pflichten 233 bb) Die Ausnahme- und Übergangsbestimmungen durch „spezifische Regelungen" 234 b) Die Rechtsfolgen für die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten 235

nsverzeichnis

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III. Die Zuständigkeit des EuGH 1. Die Zuständigkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Säule 2. Die Zuständigkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule a) Die unbeschränkte Zuständigkeit für die spezifischen Flexibilisierungsbestimmungen b) Die beschränkte Zuständigkeit für die allgemeinen Bestimmungen der dritten Säule 3. Die unbeschränkte Klagebefugnis der Nichtteilnehmerstaaten D. Die Rechtswirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit I. Die Eigenschaften des geschaffenen Rechts 1. Die Wirkung gegenüber den Teilnehmerstaaten 2. Der beschränkte Geltungsbereich 3. Die unions- und gemeinschaftsrechtliche Qualität II. Die Auswirkungen des geschaffenen Rechts auf den Besitzstand der EU-15 1. Die Vorrangfrage im Kollisionsfall a) Kollisionsfall durch Rechtsetzung verstärkter Zusammenarbeit . . b) Kollisionsfall durch Rechtsetzung der EU-15 c) Die Bedeutung des Vorrangs für die Entscheidungen des EuGH . 2. Die Erweiterung des von Kandidatenländern zu übernehmenden acquis communautaire III. Die Auswirkungen auf das Kompetenzgefüge in der EG 1. Der auf die Teilnehmerstaaten beschränkte Kompetenzverlust 2. Die Problematik der verbleibenden Kompetenzen der übrigen EUMitglieder IV. Die Finanzierungsregelung V. Die Beschränkung völkerrechtlicher Kooperationsformen

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E. Abschließende Bewertung zum zweiten Teil

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Zusammenfassung

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Dokumente der Regierungskonferenz 2000

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Literaturverzeichnis

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Sachverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis a. Α. ABl. Abs. a. E. a. M. Aufl. BB1 Bd. Benelux, Benelux-Staaten BGBl. BullEG BullEU BVerfG BVerfGE CDE CMLRev ders. DÖV DVBl. EAG ECU EEA EG EGV

E LR EP ESZB EU EuG EuGH 1

anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz am Ende anderer Meinung Auflage Der Betriebs-Berater Band Belgien, Niederlande, Luxemburg Bundesgesetzblatt Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bulletin der Europäischen Union Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Cahiers de droit européen Common Market Law Review Derselbe Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft European Currency Unit Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft/Vertrag über die Europäische Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags von Amsterdam Vertrag über die Europäische Gemeinschaft/Vertrag über die Europäische Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags von Maastricht European Law Review Europäisches Parlament Europäisches System der Zentralbanken Europäische Union/Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Amsterdam Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

Bei den kursiv gedruckten Angaben handelt es sich um Zeitschriften.

2 Kellerbauer

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EuR EUV EWG EWGV EWI EWR EWS EZB f. FAZ ff. Fn. FS FusV GASP gem. GG GMB1. GS JCMS JZ Lfg. lit. M. m. w.N. NATO NJW NVwZ NZA PJZS RdA Rdnr. RL RMCUE Rs. Rspr. RtDE RVAP S. SDÜ Slg. sog.

Abkürzungsverzeichnis

Europarecht Vertrag über die Europäische Union/Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Maastricht Europäisehe Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Währungsinstitut Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Währungssystem Europäische Zentralbank Folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fortfolgende Fußnote Festschrift Fusionsvertrag Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gemeinsames Ministerialblatt Gedächtnisschrift Journal of Common Market Studies Juristenzeitung Lieferung litera Meinung mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organisation Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Recht der Arbeit Randnummer Richtlinie Revue du Marché commun et de V Union Européenne Rechtssache(n) Rechtsprechung Revue trimestrielle du droit européen Revista Vasca de Administración Püblica Seite Schengener Durchführungsübereinkommen Sammlung (der Rspr. des EuGH) sogenannte(n)(r)

Abkürzungs verzeichni s

Spgstr. str. st. Rspr. u.a. Uabs. tiberw. u.U. verb. vgl. VK Vorbem. WEU WVK YEL Z. ZaöRV z.B. ZEuS z.T.

Spiegelstrich streitig ständige Rechtsprechung unter andere(m)(n); und andere Unterabsatz überwiegend unter Umständen verbunden(e) vergleiche Vereinigtes Königreich Vorbemerkung Westeuropäische Union Wiener Vertragsrechtskonvention Yearbook of European Law Ziffer Zeitschrift für ausländisches öffentliches recht zum Beispiel Zeitschrift für europarechtliche Studien zum Teil

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Recht und Völker-

Einleitung Die in den Vertrag von Nizza 2 gipfelnde Regierungskonferenz des Jahres 2000 stellte erneut unter Beweis, dass die Suche nach dem jeweils erreichbaren größten gemeinsamen Nenner unter Verzicht auf eine eindeutige politische Finalität der Europäischen Union an ihre Grenzen stößt. Die neofunktionalistischen Hoffnungen, wonach die schrittweise Rechtsharmonisierung in wirtschaftlichen Feldern eine Zugkraft entfaltet, die auf kürzere oder längere Sicht funktional verbundene oder interdependente Politikbereiche mit in die Fortentwicklung einbezieht, erscheinen nach den dürftigen Ergebnissen des jüngsten Vertragswerks getrübt. 3 Zu deutlich geht die Europäische Integration 4 seit den 90er Jahren ins Politische über, als dass sich diejenigen Mitgliedstaaten, die in ihrer wirtschaftlichen Dimension das Kernziel sehen, weiteren Kompetenzübertragungen in souveränitätssensiblen Bereichen anschließen wollen. Auch lassen die Pläne einer Erweiterung der Europäischen Union erwarten, dass die Interessendivergenzen und Konfliktpotenziale in ihr um ein Vielfaches zunehmen werden. Das Vorhaben, die ursprünglich nur sechs Mitgliedsländer umfassende Gemeinschaft durch den Beitritt vorwiegend strukturschwächerer Staaten Mittel- und Osteuropas auf eine Europäische Union von bis zu 27 Mitglieder zu vergrößern, 5 wirft nicht nur die Frage 2 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, unterzeichnet in Nizza am 26. 2. 2001, ABl. EG 2001 Nr. C 80/1. Der Vertrag von Nizza und die Mehrzahl der unter Verweis auf dessen Entstehung zitierten Dokumente sind im Internet veröffentlicht unter http:// europa.eu.int/comm/archives/igc2000/index_de.htm. 3 Zu den überwiegend kritischen Bewertungen der Ergebnisse der Regierungskonferenz 2000 Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 154 ff.; Duke , European Foreign Affairs Review 2001, S. 155, 156 ff.; Giering/Janning , Integration 2001, S. 146 ff.; Hatje, EuR 2001, S. 143, 179 ff.; Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 195; Regelsberger , Integration 2001, S. 156 ff.; Wiedmann, EuR 2001, S. 185, 212 f. 4 Entsprechend Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 33 meint Europäische Integration im Folgenden „die Verschmelzung bzw. Angleichung und Harmonisierung der verschiedenen mitgliedstaatlichen Ordnungen hin auf ein einheitliches, europaweit wirkendes Rechtssystem". Im Interesse der auf die Europäische Union in ihrer Gesamtheit bezogenen Untersuchung umfasst der Begriff dabei zugleich die stärker auf eine politisch als rechtlich geprägte Verschmelzung der mitgliedstaatlichen Systeme abzielenden Prozesse des EU-Vertrags.

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Einleitung

auf, ob der europäische Staatenverbund der Europäischen Union 6 mit seinen derzeit zur Anwendung gelangenden Entscheidungsverfahren und -mechanismen handlungsfähig bleiben wird. Es erscheint zugleich zweifelhaft, ob künftig die Gesamtheit der Mitgliedstaaten in vollem Umfang die Rechte und Pflichten wahrnehmen bzw. erfüllen kann, die sich aus der beständig und zügig vorangetriebenen Integrationsentwicklung ergeben. 7 Als möglicher Ausweg aus dem unauflöslich erscheinenden Konflikt zwischen der beständig zunehmenden Heterogenität in der Europäischen Union und dem Vorhaben einer weiteren Vertiefung der Europäischen Integration rückt daher ein Sonderweg ins Blickfeld, von dem die Mitgliedstaaten erstmals im Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 19928 Gebrauch gemacht haben. Vor dem Hintergrund der fehlenden Bereitschaft einzelner Mitgliedstaaten, die ehrgeizigen Integrationsziele im Bereich der gemeinsamen Sozialpolitik und der Wirtschafts- und Währungsunion mitzutragen, hatte man sich damals auf ein Konzept neuer Art geeinigt. Die Mitgliedsländer, die sich zu einer substanziellen Erweiterung der gemeinschaftlichen Handlungsbefugnisse nicht bereit erklären wollten oder konnten, überließen den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft 9 den übrigen zum Gebrauch. Eine sich formierende „europäische Pioniergruppe" konnte so das gemeinschaftliche Handlungsinstrumentarium in den Dienst des weiteren Integrationsfortschritts stellen, wobei sie 5

Bereits im März 1998 wurden mit Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, Estland, Slowenien und Zypern Beitritts Verhandlungen aufgenommen. Im Februar 2000 folgte der Beginn der offiziellen Verhandlungen mit Lettland, Litauen, der Slowakischen Republik, Rumänien, Bulgarien und Malta. Zu den Erweiterungsplänen der EU vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7655 vom 14./15. 2. 2000, S. 5 f.; Wessels, in Maurer/Lippert, S. 349 ff. 6 Zum Verständnis der Europäischen Union als „Staatenverbund" vgl. das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 89, 155, 184 sowie die Ausführungen bei Oppermann, Europarecht Rdnrn. 887 ff. 7 Vgl. Deubner, in Ehlermann S. 117, 118; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 62. Wessels, in Maurer/Lippert, S. 349, 357 stellt insoweit treffend fest: „Die Geschwindigkeit der Vertiefung ... bedeutet - selbst bei den besten Absichten der betroffenen Staaten - ein verzweifeltes Nachlaufen der jüngsten EU-Mitglieder hinter einer vorauseilenden Kerngruppe". 8 Vertrag über die Europäische Union, in Kraft getreten am 1. 11. 1993 (BGBl. 1992 II 1251, geändert durch Beitrittsvertrag vom 24. 6. 1994, BGBl. 1994 II 2022). Der Vertrag über die Europäische Union wird auch als Vertrag von Maastricht bezeichnet. 9 Wenn im Rahmen dieser Arbeit von der Europäischen Gemeinschaft oder auch nur von „der Gemeinschaft" gesprochen wird, ist damit stets die 1957 durch den Vertrag von Rom (BGBl. 1957 II 766) gegründete frühere Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und heutige Europäische Gemeinschaft bezeichnet. Die EAG und die EGKS sind für die angestellte Untersuchung nicht von hinreichender Bedeutung und bleiben daher aus der Darstellung ausgeschlossen.

Einleitung

den zunächst zurückbleibenden Mitgliedstaaten offerierte, sich den Entwicklungen im späteren Verlauf anzuschließen. Auf diese Weise wurde in der gemeinsamen Sozial-, Wirtschafts- und Währungspolitik erstmals ein Europa unterschiedlicher Integrationsniveaus und -geschwindigkeiten geschaffen, an denen sich die bis dahin gemeinsam und einheitlich voranschreitenden Mitgliedstaaten in völlig unterschiedlichem Umfang beteiligten. Was in der europapolitischen Diskussion unter den Schlagwörtern „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten", „Kern- und Randeuropa" oder „Europa der variablen Geometrie" Bekanntheit erlangt hatte, ist seither unions- und gemeinschaftsrechtliche 10 Realität geworden. Wer in diesem in Maastricht getroffenen Kompromiss lediglich eine Randerscheinung und eine auf die schwierige Verhandlungssituation mit der konservativen britischen Regierung zugeschnittene Notlösung zu sehen glaubte, wurde durch den kaum fünf Jahre später geschlossenen Vertrag von Amsterdam 11 eines Besseren belehrt. Das Vertragswerk verhalf dem Vorgehen auf unterschiedlichen Integrationsstufen nicht nur in der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik zu einem weiteren Einsatzfeld. Vielmehr bewirkte es zugleich eine Institutionalisierung des neuen Konzepts, die dessen Anwendung zukünftig in vereinheitlichter Form auf allen Integrationsfeldern ermöglichen soll. In den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ( E G V ) 1 2 wurden detaillierte Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit aufgenommen, die es Pioniergruppen seither in vielen Politikbereichen ermöglichen, auf die Organe, Mechanismen und Verfahren der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft zurückzugreifen, um mit Wirkung für einen Teil der Mitgliedstaaten die vertraglichen Handlungsbefugnisse voll ausschöpfen zu können. Gemeinschaftsrecht, das in einzelnen Mitgliedstaaten vorübergehend oder dauerhaft keine Anwendung findet, ist in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft seit deren Entstehung anzutreffen. Es wird als diffe10

Zur Hervorhebung des grundlegenden Unterschieds zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht umfasst die Bezeichnung Unionsrecht hier und im Folgenden nur das Unionsrecht, das nicht Gemeinschaftsrecht ist. Zu dieser antithetischen Begriffsverwendung etwa Vedder, EuR - Beiheft 1 - 1999, S. 7, 8; Pechstein, EuR 1999, 1 ff. 11 Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997 (BGBl. 1998 II 386, i.d.F. der Bek. vom 28. 4. 1999, BGBl. 1999 II 416). Der Amsterdamer Vertrag trat am 1. 5. 1999 in Kraft. 12 Wird im Folgenden auf einen Artikel oder einen Titel des EUV oder EGV in der nach dem 1.5. 1999 geltenden Fassung Bezug genommen, so werden der Zahl des Artikels bzw. des Titels die Buchstaben EU bzw. EG angefügt. Der Zusatz EGV bzw. EUV bezeichnet dagegen die beiden Verträge in der nach dem 1. 11. 1993 und vor dem 1.5. 1999 geltenden Fassung.

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Einleitung

renziertes oder flexibilisiertes Recht bezeichnet, das eine differenzierte Integration bzw. Flexibilisierungen im Integrationsprozess zur Folge hat. 1 3 In diesem Sinne können auch die seit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht im Unions- und Gemeinschaftsrecht anzutreffenden Formen mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit als Differenzierungen verstanden werden. Sie heben sich aber in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung so grundlegend von den herkömmlichen Differenzierungen ab, dass dies eine gesonderte und eingehende Betrachtung rechtfertigt. Die vorliegende Arbeit hat daher das Ziel, die seit dem Maastrichter Vertrag im Gemeinschafts- und Unionsrecht verankerten Formen der Zusammenarbeit eines Teils der Mitgliedstaaten umfassend und zusammenhängend darzustellen und zu untersuchen. Um die Novität der in Maastricht beschlossenen Änderungen rechtlich einordnen und ihre Auswirkungen auf die Europäische Integration bewerten zu können, wird im ersten Teil der Untersuchung zunächst auf die ideengeschichtlichen Ursprünge eingegangen, auf die der im Vertrag über die Europäische Union erstmals beschrittene Sonderweg zurückgeht. Nach einem Rückblick auf die Anfänge der heutigen Debatte um Konzepte differenzierter Integration werden die Wesenszüge der neuen mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit, ihre Unterschiede zu den bis dahin existierenden völkerrechtlich strukturierten Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten und ihre Besonderheiten gegenüber den herkömmlichen Differenzierungen im Gemeinschaftsrecht aufgezeigt. Im Anschluss daran richtet sich der Blick auf die Politikbereiche der Europäischen Union, in denen die neue Differenzierungsform bislang zur Anwendung gelangt ist. Die in der gemeinsamen Sozialpolitik, der Wirtschafts- und Währungsunion und seit dem Vertrag von Amsterdam auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik anzutreffenden Differenzierungen werden auf ihren Hintergrund, ihre rechtliche Ausgestaltung und auf ihre möglichen Folgen für den Integrationsprozess untersucht. Die neuen rechtlichen Fragen, die daraus resultieren, dass sich eine Teilgruppe von Mitgliedstaa13 Die Begriffe Differenzierung und Flexibilisierung bezeichnen im Folgenden die Existenz von Unions- und Gemeinschaftsrecht, das den Mitgliedstaaten unterschiedliche Rechte und Pflichten einräumt bzw. auferlegt. Nach diesem Begriffsverständnis sind offene Formen der Rechtsangleichung, wie die Festlegung gemeinschaftlicher Mindeststandards oder der Rückgriff auf Formen optionaler Harmonisierung nicht als Differenzierung zu verstehen. Diese stellen vertragliche Begrenzungen des Ziels der Rechtsvereinheitlichung dar, die sich allen Mitgliedstaaten im gleichen Maß mitteilen und die daher die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts intendiert beschränken. Zu den verschiedenen Differenzierungsbegriffen in der Literatur Bender, ZaöRV 2001, S. 729, 733; Bribosia, CDE 2000, S. 57, S. 60; Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 450; Tuytschaever, S. 2, m.w.N.

Einleitung

ten der Organe, Verfahren und Mechanismen des Unions- und Gemeinschaftsvertrags bedient, werden aufgezeigt und erörtert. Der zweite und umfangreichere Teil dieser Arbeit ist den Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und ihrer Reform durch den Vertrag von Nizza gewidmet. Anhand der Entstehungsgeschichte des Titels V I I E U 1 4 wird erläutert, durch welche Wesenszüge sich diese Fortentwicklung der in Maastricht begründeten Differenzierungsform auszeichnet. Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit werden im Einzelnen dargestellt und untersucht, wobei die Funktionsweise einer verstärkten Zusammenarbeit im Hinblick auf ihre Begründung, ihre Durchführung und den aus ihnen folgenden Rechtswirkungen erhellt wird. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es am Ende der Arbeit, den in Amsterdam geschaffenen und in Nizza reformierten Differenzierungsmechanismus nach seiner rechtlichen Ausgestaltung und seiner Bedeutung für den Integrationsprozess zusammenfassend zu bewerten.

14 Hier wie im Folgenden sind mit der Bezeichnung „Titel VII EU" nicht nur die Art. 43 bis 45 EU, sondern zugleich die Artikel 40 EU und Art. 11 EG gemeint, auf die in Art. 43 Abs. 1 lit. h) EU Bezug genommen wird.

Erster Teil

Die neue Differenzierungsform des Vertrags von Maastricht und ihre bisherigen Anwendungsfelder A. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform Der ideengeschichtliche Hintergrund eines Europas unterschiedlicher Integrationsniveaus und -geschwindigkeiten reicht in die siebziger Jahre zurück. Damals äußerten die Politiker Willy Brandt und Leo Tindemans ihre Zukunftsvisionen einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die bei ihrem Vorgehen stärker als zuvor die unterschiedliche Integrationskapazität ihrer Mitglieder berücksichtigen sollte. Ihre Empfehlungen, den Gemeinschaftsrahmen dazu zu nutzen, in verschiedenen Teilnehmerkreisen zeitversetzt voranzuschreiten, sind als Ursprünge des Differenzierungskonzepts zu begreifen, dem erst zwei Jahrzehnte später im Maastrichter Vertrag zu einer ersten gemeinschaftsrechtlichen Umsetzung verholfen wurde. Im Folgenden werden die Beiträge der beiden Pioniere differenzierter Integration vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Situation ihrer Entstehung skizziert, um im Anschluss auf die spätere Verwirklichung des neuen Entwurfs im Vertrag über die Europäische Union einzugehen. I. Das Konzept der europäischen Pioniergruppen und seine Verwirklichung In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass die Pariser Rede des früheren deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt von 1974, 15 gemeinsam mit ihrer Weiterentwicklung und Konkretisierung durch den ein Jahr darauf veröffentlichten Bericht des damaligen belgischen Premierministers Leo Tindemans 16 die Geburtsstunde der Debatte um moderne Differenzierungsformen darstellt. 17 In den ersten beiden Jahrzehnten nach Entstehung der Europäi15 Willy Brandt, Rede vor der Organisation Française du Mouvement Européen in Paris am 19. 11. 1974, abgedruckt in Europa-Archiv 1975, Folge 2, D 33-38. Im Weiteren als Brandt-Rede bezeichnet. 16 Leo Tindemans, Bericht über die Europäische Union an den Europäischen Rat, abgedruckt in BullEG, Beilage 1/76. Im Weiteren als Tindemans-Bericht bezeichnet.

Α. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform

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sehen Wirtschaftsgemeinschaft hatten Differenzierungen im Gemeinschaftsrecht das europäische Aufbauwerk zwar stets begleitet, im rechtlichen Gefüge der EWG aber nur einen nachgeordneten Stellenrang eingenommen, der keine kontroversen Diskussionen in Politik und Wissenschaft hervorzubringen geeignet war. Insoweit war ab Mitte der siebziger Jahre eine Änderung spürbar, die bereits als Vorbote der späteren Regelungen im Vertrag von Maastricht zu begreifen ist. 1. Das wirtschaftliche und politische Umfeld der siebziger Jahre Es ist einem Verständnis der Beiträge Brandts und Tindemans' dienlich, einen Augenmerk auf das politische und wirtschaftliche Umfeld zu richten, das für deren Entstehung ursächlich wurde. Ebenso wie das spätere Wiederaufleben der Debatten um differenzierte Integrationsformen ist auch deren erstmalige Initiierung vor dem Hintergrund einer Krisenzeit der Europäischen Integration zu sehen. Als der damalige SPD-Parteivorsitzende und ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt am 19. November 1974 vor der Pariser Organisation Française du Mouvement Européen zu seiner Rede ansetzte, befand sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in einer ihrer bis dahin schwersten Krisen. 18 Die ab Mitte 1973 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte die Mitgliedstaaten in eine Mischung aus Rezession, hoher Inflation und zunehmender Arbeitslosigkeit gestürzt, auf die sie keine gemeinsame Antwort zu finden vermochten. Dies entzog den ehrgeizigen Plänen einer gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Währungsunion auf längere Sicht die wirtschaftliche und politische Grundlage und nährte Zweifel an der künftigen ökonomischen Integrationsfähigkeit des von der Rezession in besonderem Maß betroffenen EWG-Gründungsmitglieds Italien. 19 Nach dem Beitritt Dänemarks, Irlands und Großbritanniens 20 zum 1. Januar 1973 wurde überdies deutlich, dass die drei Neumitglieder einer Ausschöpfung der gemeinschaftlichen Handlungsbefugnisse wesentlich kritischer gegenüberstanden als die sechs EWG-Gründerstaaten. Insbesondere Dänemark und Großbritannien machten keinen Hehl daraus, dass ihre Integrationsbereitschaft nicht in 17

Vgl. Becker EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29; Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 112; Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 366; Grabitz, in Bieber, S. 67, 73 ff.; Martin/N anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 206; Nomden, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 31, 33; Schutz, S. 4; SohX S. 11. 18 Zur europapolitischen Krisenzeit der 70er Jahre vgl. Freiburghaus, S. 152 ff.; Pfetsch, S. 53 f.; Schutz, S. 1 ff. 19 Vgl. Scharrer, in Grabitz, S. 225, 226 ff.; Schutz, S. 12. 20 Hier wie im Folgenden ist mit „Großbritannien" das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland bezeichnet.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

allen Bereichen mit der der übrigen Mitgliedstaaten Schritt halten würde. 21 Die Entscheidungsprozesse in der auf neun Mitgliedstaaten erweiterten EWG erwiesen sich als träge und drohten, im Verlaufe der anstehenden Beitritte wirtschaftsschwächerer Kandidatenländer auf eine umfassende „Eurosklerose" zuzusteuern. 22 Die Fortentwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde sowohl durch die mangelnde Integrationsfähigkeit als auch durch die fehlende Integrationsbereitschaft einzelner ihrer Mitglieder behindert. 2. Der neue Integrationsansatz Willy Brandts Diese Krisensituation veranlasste Willy Brandt in seiner Pariser Rede zu der Feststellung, dass der Europäische Integrationsprozess „vor der schwierigsten Bewährungsprobe der Nachkriegsgeschichte" stünde. 23 Unter dem Obersatz „die Gemeinschaft braucht eine Politik der Abstufung der Integrat i o n " 2 4 riet er vor diesem Hintergrund zu einem für die damalige Zeit völlig neuartigen Integrationsansatz: „Die Gemeinschaft sollte sich ... die Einsicht zu eigen machen, daß sie nicht geschwächt, sondern gestärkt wird, wenn die ihrer Wirtschaftslage nach objektiv stärkeren Länder die wirtschaftliche Integration voranbringen, während andere Länder aufgrund ihrer objektiv abweichenden Lage hieran zunächst in Abstufungen teilnehmen. Hierbei kann es sich keineswegs um eine „Abkoppelung" handeln, sondern es muß darum gehen, den gemeinsamen Rahmen zu erhalten und das gemeinsame Dach zu stärken. Man tritt niemandem zu nahe, wenn man darauf hinweist, daß die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder über günstigere Voraussetzungen eines aufeinander abgestimmten Verhaltens verfügen als dies gegenwärtig bei Italien und Großbritannien gegeben ist." 25 Brandts Vorschlag löste europaweit heftige Reaktionen aus, 26 die sich nicht allein aus der expliziten Erwähnung der hinter dem Integrationsfortschritt zurückbleibenden Mitgliedstaaten, sondern gleichermaßen aus der Neuartigkeit des vorgetragenen Ansatzes heraus erklären lassen. Seine Forderung nach einem nur abgestuften und zeitversetzten Voranschreiten unter Einhaltung des gemeinsamen Rahmens zielte darauf ab, innerhalb der Ge21

Vgl. Schieren, S. 49 ff. Vgl. Boldt, S. 23. 23 Brandt-Rede, in Europa-Archiv 1975, Folge 2, D 33 f. 24 Brandt-Rede, in Europa-Archiv 1975, Folge 2, D 36. 25 Brandt-Rede, in Europa-Archiv 1975, Folge 2, D 36. 26 Zu den Reaktionen auf die Brandt-Rede eingehend Schutz, S. 5 ff. Im Hinblick auf die teils heftige Kritik konkretisierte Brandt später, dass sein neuer Integrationsansatz nur den Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik betreffen solle. Vgl. „Brandt maintains stance on EEC plan", in Financial Times vom 22. 11. 1974, S. 2. 22

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meinschaft eine Pioniergruppe der wirtschaftsstärkeren Mitgliedstaaten zu bilden, welche die übrigen zeitweilig weit hinter sich lassen konnte. Differenzierungen sollten sich demnach nicht mehr auf den punktuellen Dispens von einzelnen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen beschränken. Vielmehr galt es, das Potential der integrationsfähigsten Mitgliedsländer dadurch verstärkt in den Dienst des europäischen Aufbauwerks zu stellen, dass die Geschwindigkeit des Integrationstrosses nicht mehr länger durch die langsameren und zögerlicheren Mitgliedstaaten gebremst werde. Dabei lag nahe, dass Brandt in einer weiteren Hinsicht Türen aufgestoßen hatte. Sollte ein Teil der Mitgliedstaaten in bedeutsamem Umfang hinter der gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenstellung der Übrigen zurückbleiben, dann musste im Gegenzug davon ausgegangen werden, dass den zurückbleibenden Ländern nur verminderte Einflussmöglichkeiten bei der Gestaltung des zu schaffenden Rechts zustünden. War es einer Avantgarde vorbehalten, den Integrationsprozess zunächst im Alleingang voranzubringen, so war anzunehmen, dass diese auch darüber bestimmen sollte, in welche Richtung. 3. Die Weiterentwicklung und Konkretisierung durch den Bericht Leo Tindemans' Weiterentwickelt und präzisiert wurde Brandts Vorschlag etwa ein Jahr später in einem Bericht des belgischen Premierministers Leo Tindemans über die Europäische Union. 2 7 In diesem entwarf der belgische Premier einen „neuen Lösungsansatz" zur Erzielung von gemeinschaftlichen Fortschritten in der Wirtschafts- und Währungspolitik. 28 Er erklärte, dass sich die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft infolge der zwischen ihnen existierenden ökonomischen Unterschiede dazu bereit finden müssten, dass „...auf Grundlage eines Aktionsprogramms, das für ein bestimmtes Gebiet von den Gemeinschaftsorganen aufgestellt worden ist und dem grundsätzlich alle zugestimmt haben, - 1. die Staaten, welche die Möglichkeit haben, Fortschritte zu machen, auch die Pflicht haben, dies zu tun, - 2. die Staaten, welche vom Rat auf Vorschlag der Kommission als objektiv anerkannte Gründe haben, nicht weiter vorzurücken, dies nicht tun, - wobei sie von den anderen Staaten Hilfe und Beistand erhalten, soweit diese dazu in der Lage sind, damit sie die anderen einholen können - und wobei sie in den Gemeinschaftsorganen an der Beurteilung der auf dem betreffenden Gebiet erzielten Ergebnisse teilnehmen."29 27

Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76. Der Bericht war vom Europäischen Rat in Paris im Dezember 1974 in Auftrag gegeben worden. 28 Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76, S. 29.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Durch diese Ausführungen erfuhr die Rede Willy Brandts in zweifacher Hinsicht eine Konkretisierung: Zum einen wurde nun deutlicher, dass sich das Vorgehen der Pioniergruppe auf die Gemeinschaftsorgane und die gemeinschaftlichen Handlungsmittel stützen sollte. Einem möglichen Sonderweg fern des Gemeinschaftsrechts und fern der im damaligen Art. 4 EWGV (Art. 7 EG) bezeichneten Organe erteilte Tindemans damit eine Absage. Zum anderen ließ sich Tindemans' Worten deutlicher entnehmen, dass die der europäischen Avantgarde nicht angehörenden Mitgliedstaaten damit rechnen müssten, nur verminderten Einfluss auf den weiteren Integrationsprozess ausüben zu können. Die Mitwirkung dieser Länder in den Gemeinschaftsinstitutionen sollte sich dem Tindemans-Bericht zufolge nämlich auf „eine Beurteilung der auf dem betreffenden Gebiet erzielten Ergebnisse" beschränken. 30 Mit anderen Worten sollten die nichtteilnehmenden Länder zwar an den laufenden Diskussionen teilnehmen dürfen, nicht aber in die Entscheidungsverfahren eingebunden werden. 31 Die Beiträge Willy Brandts und Leo Tindemans' legten daher bereits den Grundstein für die spätere Differenzierung, die mit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht Einzug ins Gemeinschaftsrecht hielt. Sie empfahlen eine Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft, an der ein Teil der Mitgliedstaaten zunächst gänzlich unbeteiligt bleiben sollte.

4. Die weitere Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht Zwar beschränkten beide Politiker ihren neuen Integrationsansatz auf die Wirtschafts- und Währungsunion und betonten gleichzeitig, dass er zu keiner dauerhaften Abkoppelung einzelner EWG-Mitglieder führen dürfe. 32 Diese Begrenzungen wurden in der sich an ihre Beiträge anschließenden Debatte um Modelle eines Europas verschiedener Integrationsstufen jedoch schnell verworfen. Unter Schlagwörtern wie „Europa der variablen Geometrie", „Europa der konzentrischen Kreise", „Kern- und Randeuropa" oder „Europa à la carte" diskutierten Vertreter von Politik und Wissenschaft, wie die Europäische Gemeinschaft in unterschiedlichen Integrationsstufen neu organisiert werden könne. 33 29

Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76, S. 29 f. Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76, S. 30. 31 Vgl. Schutz, S. 16. 32 Vgl. Brandt-Rede, in Europa-Archiv 1975, Folge 2, D 36; Tindemans-Bericht, in BullEG, Beilage 1/76, S. 30. 33 Zu dieser Diskussion eingehend Schutz, S. 24 ff.; Stubb y JCMS 1996, S. 283 ff. 30

. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform

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Trotz dieser anhaltenden Debatte vergingen noch beinahe 20 Jahre, bis das Gemeinschaftsrecht einer mitgliedstaatlichen Pioniergruppe das erste Mal eine Ermächtigung zur Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft aussprach. Das Thema Differenzierung verlor ab Mitte der achtziger Jahre wieder an Relevanz, nachdem die herkömmliche Integrationsmethode eines einheitlichen Voranschreitens sämtlicher Mitgliedstaaten wieder Erfolge vorweisen konnte. Die konziliantere Haltung Großbritanniens nach Beilegung des Streits über den britischen Haushaltsbeitrag, 34 die 1986 erfolgreich abgeschlossene Süderweiterung der EWG und der unter Einfluss des Kommissionspräsidenten Jacques Delors wiedergefundene europäische Reformwille trugen dazu bei, die Phase der „Eurosklerose" zu überwinden. 35 Mit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 3 6 am 1. Juli 1987 gelang seit dem sog. Luxemburger Kompromiss von 1966 37 erstmals eine Rückkehr zu mehr Mehrheitsentscheidungen im Rat. 3 8 Bis zu den Verhandlungen des Vertrags von Maastricht erwiesen sich die Befürchtungen, in einer erweiterten EWG könne der für eine Integrationsvertiefung erforderliche Konsens aller Mitgliedstaaten nicht zu finden sein, als unbegründet.

5. Die Umsetzung des neuen Integrationsansatzes im Vertrag von Maastricht Der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 zielte weit über die bis dahin dominierenden wirtschaftlichen Aspekte der Integration hinaus und erweiterte die europäischen Aufbaubestrebungen um eine umfassende politische Dimension. 39 Neben erheblichen Neuerungen und Ergänzungen des Gemeinschaftsrechts 40 schuf er eine institutionalisierte intergouvernementale Zusammenarbeit in den Bereichen Gemeinsame 34 Auf dem Gipfeltreffen am 25./26. 6. 1984 in Fontainebleau gelang es, die seit Jahren offene Frage der Beitragsrückzahlungen an Großbritannien bis auf Weiteres zu lösen. Vgl. BullEG 6-84, Z. 1.1.9. 35 Zum neuen „Integrationsschub", der ab Mitte der 80er Jahre Wirkung zeigte, Freiburghaus, S. 155 f.; Pfetsch, S. 55 ff. 36 Einheitliche Europäische Akte vom 28. 2. 1986, BGBl. 1986 II 1102. 37 Nachdem es bei den Verhandlungen des Rats über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik im Jahr 1965 zu heftigen Auseinandersetzungen und der von Frankreich betriebenen „Politik des leeren Stuhls" gekommen war, nahm Frankreich nach dem 1966 getroffenen Luxemburger Kompromiss für sich ein faktisches Vetorecht in Anspruch, falls wichtige nationale Interessen auf dem Spiel standen. Vgl. hierzu Bleckmann, Europarecht, Rdnrn. 232 ff. 38 Zu den durch die EEA eingefügten Rechtsetzungsgrundlagen Meier, NJW 1987, S. 537 ff.; Sedemund/Montag, NJW 1987, S. 546 ff. 39 Zur Bedeutung des Maastrichter Vertrags für den Integrationsprozess vgl. Blanke, DÖV 1993, S. 412 ff.; Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 5 ff.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Außen- und Sicherheitspolitik (Art. J ff. EUV) sowie Justiz und Inneres (Art. Κ ff. EUV), die er mit den Europäischen Gemeinschaften unter dem gemeinsamen Dach einer neu begründeten Europäischen Union zusammenfasste. Ein Einverständnis aller Mitgliedstaaten über diese zunehmend in Kernbereiche nationaler Souveränität eindringenden Kompetenzerweiterungen ließ sich auf der Maastrichter Abschlusskonferenz unter Rückgriff auf die bis dahin üblichen punktuellen gemeinschaftsrechtlichen Ausnahme- und Übergangsregelungen nicht mehr erzielen. Die Pläne zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und das Vorhaben einer Erweiterung der gemeinschaftlichen Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik stießen bei einem Teil der Mitgliedsländer auf so grundlegende Vorbehalte, dass die genannten Integrationsschritte nur unter Aufgabe des bis dahin gewahrten Grundsatzes der Einheitlichkeit zu verwirklichen waren. Die Mitgliedstaaten gelangten zu einem Kompromiss, der auffällige Parallelen zu dem „neuen Lösungsansatz" aufweist, der beinahe zwanzig Jahre zuvor seitens Willy Brandts und Leo Tindemans' in die Diskussion eingebracht worden war: Diejenigen Länder, die schneller oder weiter voranschreiten wollten, sollten dies auch tun können und sich zu diesem Zweck des gemeinschaftlichen Rahmens bedienen dürfen. Die Mitgliedstaaten, die dazu nicht willens oder in der Lage waren, sollten nicht gezwungen sein, sich der formierenden Pioniergruppe anzuschließen. Ebenso wenig dürfte es den zurückbleibenden Mitgliedstaaten aber gestattet sein, auf den Integrationsfortgang weiterhin in herkömmlichem Umfang einzuwirken oder diesen gar zu behindern. Im Zuge der rechtlichen Verwirklichung dieser Vereinbarung bildeten sich so erstmals unterschiedliche mitgliedstaatliche Teilnehmerkreise, die in völlig unterschiedlichem Umfang an den in Angriff genommenen Kompetenzerweiterungen beteiligt waren. 41 Auf der einen Seite standen die Mitgliedstaaten, die über den Sockel der um den Binnenmarkt errichteten Gemeinschaftspolitiken hinausgehen wollten. Auf der anderen befanden sich die Länder, die hierdurch in einen Prozess zu geraten fürchteten, an dessen Ende ein zu weitgehender Souveränitätsverlust stand 4 2 40

Der Vertrag von Maastricht schuf die Rechtsgrundlagen für die Wirtschaftsund Währungsunion zwischen den Mitgliedstaaten. Er führte eine Unionsbürgerschaft ein und brachte in den Bereichen Sozialpolitik, Industriepolitik, Bildung, Transeuropäische Netze, Kultur, Gesundheit und Verbraucherschutz bemerkenswerte Neuerungen. Hierzu eingehend Oppermann/Classen, NJW 1993, S. 5 ff. 41 Vgl. Der Club von Florenz, S. 141; Freiburghaus, S. 157; Griller/Dr outsas/ Falkner/Forgó/Nentwich , S. 200. 42 Eine Ausnahme bildet insoweit Griechenland, das zu den vorgesehenen Kompetenzübertragungen in der Wirtschafts- und Währungsunion bereit gewesen wäre,

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Der Ausbau der sozialpolitischen Zielsetzungen und Handlungsbefugnisse konnte infolge britischer Vorbehalte nicht durch Ergänzungen des für alle Mitgliedstaaten geltenden EGV betrieben werden, sondern nur auf Grundlage zweier gesonderter Vereinbarungen. 43 Das erweiterte gemeinschaftliche Primärrecht und die Gesamtheit des auf seine Bestimmungen gestützten Rechts beanspruchten für Großbritannien in der Folgezeit keine Geltung. Im Gegenzug wurde der britische Ratsvertreter von den Beratungen und der Beschlussfassung ausgeschlossen, soweit die europäische Pioniergruppe auf die gemeinschaftlichen Organe, Verfahren und Mechanismen zurückgriff. Elf der damaligen zwölf EU-Mitglieder verschrieben sich so einem schnelleren Voranschreiten auf dem Weg zu einer Sozialunion, während das Vereinigte Königreich auf dem Sockel des EWG-Vertrags in seiner damaligen Fassung zurückblieb. Ein ähnlicher Kompromiss wurde im Hinblick auf die Überführung der nationalen Politiken in eine Wirtschafts- und Währungsunion getroffen. 44 Das Vereinigte Königreich und Dänemark erteilten der Erweiterung der vertraglichen Bestimmungen erst ihre Zustimmung, nachdem ihnen ein umfassendes sog. „Opt-out" zugesichert worden war. Schweden und Griechenland wurden im späteren Verlauf ebenfalls von der Währungsunion freigestellt, da beide Länder die anhand sog. Konvergenzkriterien gemessenen wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Teilnahme an der gemeinsamen Währung zunächst nicht erfüllten. Auch in der Wirtschafts- und Währungspolitik ging die beschränkte Pflichtenstellung der dispensierten Mitgliedstaaten mit einer Beschneidung ihres Einflusses auf den Integrationsfortlauf einher. Wichtige Ratsentscheidungen sind ausschließlich den an der Währungsunion beteiligten Ländern vorbehalten. Nur die in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion eingetretenen Mitgliedstaaten wirken an der Besetzung der Beschlussorgane des Europäischen Systems der Zentralbanken mit.

I I . Die Wesenszüge der neuen Differenzierungsform Der Vertrag über die Europäische Union ermächtigte einen Teil der Mitgliedstaaten dazu, den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union unter umfassendem Ausschluss der übrigen zu nutzen, um die Europäische Integration voranzutreiben. Hieraus resultierte eine Differenzierungsart, die mit den bisherigen Abweichungen von der einheitlichen Gelseine diesbezügliche Integrationsbefähigung aber nicht hinreichend unter Beweis stellen konnte. 43 Zur Maastrichter Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik siehe eingehend unten, Teil 1 B. 44 Zur Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion siehe eingehend unten, Teil 1 C. 3 Kellerbauer

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

tung des Gemeinschaftsrechts in Umfang und Bedeutung nicht vergleichbar ist. Sie ist im Schrifttum zu Recht als revolutionäre Neuheit bezeichnet worden. 45 Anhand der Unterschiede zu den bisherigen völkerrechtlich organisierten Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten einerseits und zu den herkömmlichen Differenzierungen innerhalb des Gemeinschaftsrechts andererseits kann veranschaulicht werden, durch welche besonderen Wesenszüge sich diese neue Differenzierungsform auszeichnet.

1. Die Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der EU a) Die herkömmlichen völkerrechtlichen Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten Formen engerer Zusammenarbeit eines Teiles der Mitgliedstaaten unter Ausschluss der übrigen existierten bereits in vielfältiger Form vor Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht. 46 Seit Begründung der EWG stand ihr die Wirtschaftsunion Benelux zur Seite, mittels welcher drei Mitgliedstaaten im Hinblick auf das Integrationsziel eines Gemeinsamen Markts dem gemeinschaftlichen Fortschritt voraneilten. 47 Auch das Europäische Wechselkurssystem, 48 und die Schengener Abkommen 4 9 sind populäre Beispiele, anhand derer deutlich wird, dass sich aus der Mitte der Europäischen Gemeinschaft heraus seit jeher Pioniergruppen dem europäischen Aufbauwerk zuwandten. 50 45

Vgl. Bribosia , CDE 2000, S. 57, 62: ,,[0]n a pu qualifier de ,révolutionnaire' les exemptions accordées par le traité de Maastricht"; Ehlermann , EUI Working Paper, RSC Nr. 95/21, S. 3: ,,[T]he Maastricht-Treaty has added ... two new and revolutionary forms of differentiation". 46 Vgl. Ehlermann , EuR 1997, S. 362, 364; Hofmann , EuR 1997, S. 713, 721; Lenz, in Lenz, Art. 11 EGV Rdnr. 3. 47 Die engere Zusammenarbeit der Benelux-Staaten diente der EWG insbesondere in den 50er und 60er Jahren als Vorbild. Art. 233 EWGV (Art. 306 EG) garantiert sowohl der Belgisch-Luxemburgischen Wirtschaftsunion von 1922 als auch dem 1948 gegründeten und 1958 ausgebauten Beneluxwirtschaftsraum Bestand und ungehemmte Entwicklung. Entgegenstehendes oder gleichartiges Recht des EGV verdrängt das der genannten regionalen Zusammenschlüsse nur dann, wenn es sich durch einen fortgeschritteneren Integrationsstand auszeichnet. Vgl. hierzu Krück, in Schwarze, Art. 306 EGV Rdnrn. 4 ff. Zur Bedeutung der Wirtschaftsunion Benelux als Antriebsfaktor für den gemeinschaftlichen Integrationsprozess vgl. Langeheine, EuR 1983, S. 227, 252. 48 Hierzu eingehend Scharrer, in Grabitz, S. 225, 233 ff. 49 Siehe hierzu eingehend unten, Teil 1 D.I.3. 50 Zu den vielen weiteren Beispielen herkömmlicher Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten, die mit den gemeinschaftlich verfolgten Zielen in Beziehung stehen, Lenaerts/Nuffel/Bray, S. 23 ff.; de Witte in de Burca/Scott, S. 31 ff.

A. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen Differenzierungsform

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Den erwähnten mitgliedstaatlichen Formen der Zusammenarbeit war jedoch stets gemeinsam, dass sie auf völkerrechtlicher Ebene und abseits des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft betrieben wurden. 51 Diese als „extern", 5 2 „außerinstitutionell" 53 oder „außervertraglich" 54 umschriebenen Kooperationen fußen weder im Unionsoder Gemeinschaftsrecht, noch führt ihr Betreiben zur Schaffung von Normen dieser Rechtsordnungen. Vielmehr findet prinzipiell das allgemeine Völkerrecht auf sie Anwendung, insbesondere das für völkerrechtliche Verträge geltende Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge ( W V K ) . 5 5 Die dem mitgliedstaatlichen Zusammenwirken zugrunde liegenden Vereinbarungen sind demnach beispielsweise den Vorschriften der Art. 39-41 W V K (Vertragsänderungen) und Art. 42-72 W V K (Ungültigkeit, Beendigung und Suspendierung von Verträgen) unterworfen. Sie gehorchen den traditionellen Auslegungsregeln, die sich für diese völkerrechtlichen Verträge im klassischen Sinne entwickelt und die in den Art. 31 ff. W V K ihren teilweisen Niederschlag gefunden haben. 56 Die zwischen den Mitgliedsländern vereinbarten Abkommen und das auf ihrer Grundlage geschaffene Recht sind weder unmittelbar innerstaatlich anwendbar noch genießen sie einen Vorrang im Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Rechten. Auch greifen die an diesen herkömmlichen völkerrechtlichen Kooperationen beteiligten Mitgliedstaaten nicht auf die Organe der Europäischen Gemeinschaft zurück, sondern schaffen im Bedarfsfall einen eigenen, an den Bedürfnissen ihres Zusammenwirkens orientierten institutionellen Rahmen. 57 51

Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 364; Hofmann , EuR 1997, S. 713, 721 f.; Lenaerts/Nuffel/Bray S. 23; Schutz, S. 224 f. 52 Becker, S. 47. 53 Schutz, S. 224 f. „Außerinstitutionell" bedeutet in diesem Zusammenhang fern des institutionellen Rahmens der EU/EG. 54 Vgl. den Bericht der portugiesischen Ratspräsidentschaft an den Europäischen Rat von Feira, CONFER 4750/00 vom 14. 6. 2000, S. 53. „Außervertraglich" meint, dass die wesentlichen rechtlichen Grundlagen in gesonderten völkerrechtlichen Vereinbarungen fern des EUV und EGV zu finden sind. 55 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. 5. 1969 (BGBl. 1985 II 926). Die WVK wurde noch nicht von allen EU-Mitgliedern ratifiziert. Ihre Bestimmungen sind aber dennoch in ihrer Mehrzahl auf die zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen anwendbar, da sie überwiegend Völkergewohnheitsrecht kodifizieren. Vgl. Graf Vitzthum, in Graf Vitzthum, Rdnr. 114. 56 Hiernach liegt der Schwerpunkt auf den objektiven Auslegungsmethoden. Vgl. Bleckmann, Völkerrecht, Rdnrn. 343 ff. 57 Allerdings bedienen sich die Mitgliedstaaten vereinzelt des EuGH, um die einheitliche Auslegung der zwischen ihnen geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen sicherzustellen. Vgl. beispielsweise Art. 6 des Auslegungsprotokolls zum Übereinkommen zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf dem Ge3*

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

b) Die seit dem Vertrag von Maastricht existierenden Kooperationen im Unionsrahmen Die durch den Vertrag von Maastricht begründeten und im Amsterdamer Vertrag fortentwickelten neuen Kooperationsformen zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass eine mitgliedstaatliche Pioniergruppe dazu ermächtigt wird, „die in [EGV und EUV] vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen in Anspruch [zu] nehmen". 58 Die Zusammenarbeit erfolgt „innerhalb des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Europäischen Union" 5 9 . Sie kann daher als gemeinschaftsintern oder innerinstitutionell oder auch als Kooperation innerhalb des Unionsrahmens bezeichnet werden. 60 Die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens der Europäischen Union hat zur Folge, dass das Integrationsvorhaben mit den Handlungsmitteln des Unions- und Gemeinschaftsrechts betrieben w i r d 6 1 und in seinem Verlauf den Vorgaben dieser Rechtsordnungen unterstellt ist. 6 2 Zwar ist denkbar, dass der europäischen Avantgarde zusätzliche Rechtsetzungskompetenzen zugebilligt werden oder dass in dem engeren Kreis modifizierte Verfahren der Beschlussfassung Verwendung finden. Im Übrigen ist ihr Handeln aber denselben geschriebenen und ungeschriebenen primär- wie sekundärrechtlichen Regeln der drei Unionssäulen 63 unterworfen, die auch bei einem biet des Ehe- und Familienrechts, ABl. EG 1998 Nr. C 221/20 oder Art. 4 des Auslegungsprotokolls zum Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG 1997 Nr. C 261/18. 58 Art. 43 Abs. 1 EU, Kernvorschrift der durch den Amsterdamer Vertrag eingefügten Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit. Eine beinahe wortgleiche Ermächtigung fand sich bereits in Ziffer 1 des Protokolls über die Sozialpolitik. Dieses wurde als Protokoll (Nr. 14) dem Unions- und dem Gemeinschaftsvertrag in der Maastrichter Fassung beigefügt. Die hier und im Folgenden angeführte Nummerierung der den Verträgen beigefügten Protokolle und Erklärungen ist nicht offiziell. 59 Art. 1 S. 2 Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union. 60 Zu dem teils abweichenden Verständnis dieser Begriffe im Schrifttum Curtin, in Ehlermann, S. 73, 74. 61 Art. 43 Abs. 1 EU zufolge bedienen sich die Mitgliedstaaten der „Verfahren und Mechanismen" des EGV und EUV. 62 Vgl. die Anordnung des Art. 1 S. 2 Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union: „Diese Zusammenarbeit erfolgt ... unter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft." Eine nach Titel VII EU begründete verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ist den Absätzen 4 der Art. 11 EG und Art. 40 EU zufolge den herkömmlichen Bestimmungen von EUV und EGV unterworfen. Die Präambel des Protokolls (Nr. 14) über die Sozialpolitik erklärte, dass die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Besitzstands durch die Differenzierung nicht berührt würden.

. Maastricht als Geburtsstätte einer neuen D i f f e r e n z i e r u n g s f o r m 3 7

herkömmlichen Tätigwerden der Europäischen Union oder Europäischen Gemeinschaft Anwendung finden. Die „Kunstgriffe und Techniken des Europarechts", 64 mittels derer sich die Rechtsgemeinschaft der EU verwirklicht, kommen uneingeschränkt zum Zuge. Dies gilt auch für die Besonderheiten der supranational strukturierten Gemeinschaftsrechtsordnung, 65 wenn ein Teil der Mitgliedstaaten im Bereich der ersten Unionssäule zusammenarbeitet. 66 Infolge der Inanspruchnahme des institutionellen Rahmens der Europäischen Union fungieren die in den Art. 4 und 5 EU genannten Organe als Handlungsträger der engeren mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit. Das Unionsorgan Europäischer Rat sowie die Gemeinschaftsorgane Europäisches Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof treten in den Dienst der Pioniergruppe. 67 Der E u G H 6 8 ist nach Maßgabe der Art. 220 ff. 63

Das in der Literatur mittlerweile gängige sog. „Tempelmodell" zur Illustrierung des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft wird auch den Darstellungen dieser Arbeit zugrunde gelegt. Hiernach stellt die Europäische Union das gemeinsame Dach über drei Pfeilern oder drei Säulen dar. Die erste und wichtigste Unionssäule bilden die drei Gemeinschaften (EGKS, EAG und EG). Der Titel V EU, die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU-Mitgliedstaaten, repräsentiert den zweiten Pfeiler. Als dritter Pfeiler der EU wird die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen angesehen, der Titel VI EU. Vgl. hierzu Geiger, Art. 1 EUV Rdnr. 8; Isaac, RtDE 2001, S. 45, 46 f. 64 Graf Vitzthum, in Graf Vitzthum, Rdnr. 40. 65 Welche Kriterien im Einzelnen für die Supranationalität der Gemeinschaftsrechtsordnung maßgeblich sind, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Zumeist werden angeführt: Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dessen unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, die Möglichkeit, einzelne Mitgliedstaaten im Wege von Mehrheitsentscheidungen im Einzelfall auch gegen deren Willen zu verpflichten sowie der breit und effektiv ausgestaltete Rechtschutz. Vgl. hierzu Klein, in Graf Vitzthum, Rdnr. 247; Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 891 ff.; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 115 ff. 66 Die übrigen beiden Unionspfeiler zeichnen sich durch eine intergouvernementale Struktur aus. Die dortige Beschlussfassung ist, soweit sie normativ-rechtsverbindliches Unionsekundärrecht erzeugt, als völkerrechtliche Rechtsetzung zu bewerten. Dennoch hebt sich die EU auch in ihnen durch eine zunehmende Verrechtlichung ihrer Handlungsformen, eine sich erweiternde Zuständigkeit des EuGH und eine allmähliche Aufweichung des Einstimmigkeitsprinzips von den herkömmlichen völkerrechtlichen Formen ab. Vgl. hierzu Griller, EuR - Beiheft 1 - 1999, S. 45, 55. 67 Nach h.M. ist der Europäische Rat als einziges genuines Unionsorgan anzusehen. Aufgrund der nach vorherrschender Ansicht fehlenden Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union, die Rechtseingriffe eines eigenen Organs in die Belange der Mitgliedstaaten oder Privater legitimieren könnte, werden dem Rat hiernach lediglich politische Funktionen zugeschrieben. Zur h.M. vgl. Streinz, Rdnr. 121a f.; Geiger, Art. 1 EUV, Rdrn. 7; Bleckmann, Europarecht Rdnr. 166; Stumpf in Schwarze, Art. 1 EUV Rdnrn. 5 u. 11. Zur Gegenauffassung: v. Bogandy/Nettesheim, NJW

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

EG (erste Unionssäule) bzw. des Art. 46 EU (zweite und dritte Unionssäule) zur Auslegung des geschaffenen Rechts, zur Kontrolle des Handelns der Gemeinschaftsorgane und zur Überprüfung der mitgliedstaatlichen Vertragstreue berufen, wobei er das entstehende Gemeinschaftsrecht nicht nach herkömmlichen völkerrechtlichen Grundsätzen, sondern im Lichte des „effet-utile" auslegt. 69 Die Nutzung des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union seitens eines Teils der Mitgliedstaaten hat demnach zur Folge, dass deren engere Kooperation wie eine Europäische Union im verringerten Format funktioniert. 70 2. Der umfassende Ausschluss eines Teils der Mitgliedstaaten Seit Begründung der gemeinschaftlichen Rechtsordnung gestattet es das Primär- und Sekundärrecht den Mitgliedstaaten im Einzelfall, hinter den im Grundsatz einheitlich geltenden Verpflichtungen zurückzubleiben. Der Europäische Integrationsprozess wurde bereits unter Rückgriff auf eine Vielzahl von Schutz- und Notstandsklauseln, Ausnahmen, Befreiungen und Übergangsregelungen in Angriff genommen und konnte auch in dessen weiterem Verlauf nur unter kontinuierlicher Inanspruchnahme dieser Hilfsmittel weiter vertieft werden. 71 Die Innovation der im Vertrag von Maastricht etab1995, S. 2324 ff.; Griller, EuR - Beiheft 1 - 1999, S. 45 ff.; Wichard, in Calliess, Art. 1 EGV Rdnrn. 9 ff. Da der Meinungsstreit über die Rechtsfähigkeit der EU für die vorliegende Untersuchung nur von nachgeordneter Bedeutung ist, wird der folgenden Darstellung die h.M. zugrunde gelegt, ohne zur Gegenauffassung Stellung zu nehmen. Dabei darf dennoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Vertrag von Nizza der bisherigen Mindermeinung weiter Auftrieb geben wird. Die neue Fassung des EUV spricht von „der Zuständigkeit der Union" (Art. 43 lit. d) EUV-Nizza), geht von der Existenz eines „Besitzstands der Union" (Art. 44 S. 5 EUV-Nizza) aus und erklärt im Plural „die Organe der Union" an internationale Übereinkünfte gebunden (Art. 24 Abs. 6 EUV-Nizza). Zudem werden Gemeinschaftsrechtsakte künftig im „Amtsblatt der Europäischen Union" (Art. 254 Abs. 1 und 2 EGV-Nizza) veröffentlicht. 68 Dem EuGH ist das Gericht erster Instanz beigeordnet, das für bestimmte Klagen im ersten Rechtszug zuständig ist (Art. 225 Abs. 1 EG). Soweit im Folgenden vom EuGH oder vom Gerichtshof die Rede ist, ist damit auch das Gericht erster Instanz gemeint, wenn es nach Art. 3 des Beschlusses 88/591 des Rats vom 24. 10. 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. EG 1988 Nr. L 319/2) zuständig ist. 69 Dabei gibt der EuGH derjenigen Auslegung den Vorzug, welche die Ziele der Gemeinschaft möglichst effektiv zu verwirklichen hilft. Zum effet-utile in der Rechtsprechung des EuGH vgl. Honseil, in FS Krejci, S. 1933 ff. 70 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 71. 71 Infolge der Beschränkung dieser Arbeit auf die seit dem Vertrag von Maastricht existierenden neuen Flexibilisierungsformen wird an dieser Stelle nicht näher

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Herten mitgliedstaatlichen Pioniergruppen ist daher im Hinblick auf die bereits zuvor im Gemeinschaftsrecht anzutreffenden Differenzierungen erklärungsbedürftig. Wie im Folgenden dargestellt wird, kam es erstmals mit Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union zu einem umfassenden Ausschluss einzelner Mitgliedstaaten von der weiteren Integrationsentwicklung. Ab dem 1. November 1993 fand die Fortentwicklung zweier für das europäische Aufbauwerk zentraler Gemeinschaftspolitiken in einem engeren Teilnehmerkreis statt. Das Zurückbleiben der übrigen Mitgliedsländer machte sich nicht nur in einer unbefristeten Freistellung von dem erweiterten Gemeinschaftsrecht bemerkbar, sondern schlug sich zugleich in beschränkten Einflussmöglichkeiten auf den Rechtsetzungsvorgang nieder. a) Die unbefristete Freistellung von der Fortentwicklung gemeinschaftlicher Politikbereiche Den herkömmlichen gemeinschaftlichen Differenzierungen ist in ihrer Mehrheit gemein, dass sie durch objektivierbare Umstände eine nachvollziehbare Rechtfertigung finden. 72 Insoweit werden insbesondere die unterschiedlichen sozioökonomischen Ausgangslagen der EU-Mitglieder ausschlaggebend dafür, ihnen divergierende Pflichtenstellungen einzuräumen. 73 Auch wird den Mitgliedstaaten seit jeher ein Abweichen von den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben gestattet, wenn dies zum Schutz einzeln genannter wichtiger Rechtsgüter im Ausnahmefall erforderlich ist. 7 4 Finden Ausnahmen von der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts ihre Rechtfertigung darin, dass sich ein Mitgliedsland in einem wirtschaftlichen Aufholprozess befindet oder im Interesse der Wahrung gemeinschaftsrechtlich anerkannter Rechtsgüter von der Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten suspendiert ist, so ist die verliehene Sonderstellung zugleich auf eine befristete Geltung angelegt. 75 Die Abweichungen rechtfertigen sich auf das breite Spektrum herkömmlicher Differenzierungen im Gemeinschaftsrecht eingegangen. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Tuytschaever, S. 7 ff. und S. 116 ff. sowie die Ausführungen bei Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 36 ff.; Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1279 ff.; Grabitz/Iliopoulos, S. 34 ff.; Ost, DÖV 1997, S. 495, 497. 72 Vgl. Becker EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 37; Kampmeyer, S. 187; Ost, DÖV 1997, S. 495, 497. 73 Vgl. hierzu die Beispiele aus dem Primär- und Sekundärrecht bei Langeheine, S. 113 ff.; Tuytschaever, S. 125 ff. 74 Zu den Schutz- und Notstandsklauseln im Gemeinschaftsrecht Becker, EuR Beiheft 1 - 1998, S. 29, 37; Tuytschaever, S. 129 f. 75 Vgl. Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1280; Langeheine EuR 1983, S. 227, 240; Ost, DÖV 1997, S. 495, 497.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

nur solange und nur insoweit, als der volkswirtschaftliche Rückstand andauert oder die Rücksichtnahme auf die betroffenen Schutzgüter eine besondere Behandlung erforderlich macht. Hierin liegen wichtige Unterschiede zu den im Verlaufe dieser Arbeit zu untersuchenden Kooperationsformen begründet. Denn für diese ist das politisch-subjektive Moment der entscheidende Hintergrund für die Herausbildung unterschiedlicher Pflichtenniveaus. 76 Weder das Ausschwenken Großbritanniens aus der um zusätzliche Handlungsbefugnisse erweiterten gemeinsamen Sozialpolitik, noch die Ausnahmestellungen der nicht in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eingetretenen Mitgliedsländer sind aus den unterschiedlichen wirtschaftlichen oder sozialen Ausgangspositionen dieser Mitgliedsländer heraus erklärbar. 77 Vielmehr liegen ihnen abweichende Präferenzen nationaler Politik und einzelstaatliche Vorbehalte gegenüber der Übertragung weiterer Hoheitsrechte zugrunde. Veranlasst aber der verminderte Integrationswille einen Teil der Mitgliedstaaten dazu, ein seitens der Übrigen in Angriff genommenes Integrationsvorhaben nicht mitzutragen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Abstand zu der voranschreitenden Avantgarde im Zuge einer Verbesserung der ökonomischen Lage verringern wird. 7 8 Vielmehr drohen sich die bezeichneten Ausnahmen von der einheitlichen Anwendung des Unionsund Gemeinschaftsrechts zu perpetuieren, soweit sich die zurückbleibenden Mitgliedstaaten nicht dazu angehalten sehen, ihre politischen Prioritäten im späteren Verlauf umzudefinieren. 79 Für die Neuartigkeit der Maastrichter Differenzierungsformen sind indes nicht allein deren potentielle Dauerhaftigkeit und das Fehlen objektiv-rechtfertigender Umstände kennzeichnend. Schließlich existierten bereits in der Vergangenheit Ausnahmefälle von Differenzierungen, welche diese beiden Merkmale aufwiesen. 80 Zumindest ebenso wesentlich sind die Reichweite 76 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 62; McGlynn, in Ehlermann, S. 85, 97; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 216 f. 77 Die einzige Ausnahme bildet insoweit Griechenland, das sich infolge des unfreiwilligen Verfehlens der nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten formulierten Maastrichter Konvergenzkriterien dem Euro zunächst nicht anschließen konnte. 78 Zur unbefristeten Natur der in Maastricht begründeten neuen Differenzierungen vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 60, 62; Griller/Droutsas/Forgó/Falkner/Nentwich S. 202; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 217; Curtin, in Ehlermann, S. 73, 77. 79 Ob eine Anziehungs- oder Fernwirkung der auf höherem Integrationsniveau stattfindenden Kooperationen eines Teils der Mitgliedstaaten darauf hinwirkt, dass sich die übrigen ihnen im späteren Verlauf anschließen, ist inzwischen zum Gegenstand umfassender Untersuchungen geworden. Vgl. hierzu ausführlich und m.w.N. Milner/Kölliker, S. 23 ff. 80 Unbefristete und nicht objektiv gerechtfertigte Differenzierungen sind seit jeher in den Protokollen anzutreffen, die dem EWGV im gegenseitigen Einvernehmen

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und die Bedeutung der durch den Vertrag über die Politische Union geschaffenen Flexibilisierung. Die herkömmlichen Differenzierungen waren stets punktueller Natur, marginale Abweichungen, die nicht an dem Grundkonsens rührten, die angestrebten Integrationsziele in letzter Konsequenz unter Beteiligung aller Mitgliedsländer zu vollziehen. 81 Sie stellten den Anspruch der gemeinschaftlichen Rechtsordnung auf einheitliche Anwendung in den Mitgliedstaaten nicht grundlegend in Frage, sondern waren als Randerscheinungen zu werten, die für den Integrationsprozess eine untergeordnete Bedeutung einnahmen. 82 Der Vertrag über die Europäische Union trieb dagegen die Vergemeinschaftung gemeinsamer Politikbereiche in ihrer Gesamtheit voran, ohne sich bezüglich des Umfangs oder der Richtung dieser Integrationsschritte auf einen gesamtgemeinschaftlichen Konsens stützen zu können. 83 Die gemeinsame Sozialpolitik sowie die Wirtschafts- und Währungspolitik - beides Kernbereiche der Europäischen Integration - wurden grundlegend erweitert, ohne dabei in ihrer Neugestaltung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten einheitliche Geltung zu entfalten. Das zur Entstehung gelangende, in seinem Anwendungsbereich auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkte Recht verdichtete sich so zu einer zusammenhängenden, eigenständigen Rechtsmasse, die neben den acquis communautaire trat, der sich im Zuge des gemeinschaftsweiten Integrationsprozesses mit Geltung für alle EU-Mitglieder herausgebildet hatte. 84 b) Der Ausschluss von der Mitgestaltung des Integrationsprozesses Nimmt ein Mitgliedsland für sich aus politisch-subjektiven Beweggründen in Anspruch, von den Rechtspflichten der weiteren Vergemeinschaftung eines gesamten Politikfelds dauerhaft ausgenommen zu werden, so müsste der Mitgliedstaaten beigefügt wurden. In diesen wurden auch Ausnahmen und Sondervorschriften dauerhafter Art normiert, die teils als Ausdruck der Rücksichtnahme auf nationale Sensibilitäten zu verstehen sind. Vgl. hierzu Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1281. Zum bekanntesten Beispiel, dem Protokoll „über den innerdeutschen Handel", das Sondervorschriften zugunsten der Bundesrepublik Deutschland beinhaltete, Tomuschat, EuR 1969, S. 298 ff. 81 Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich , S. 199; Schutz , S. 222. 82 Vgl. hierzu Curtin, CMLRev 1993, 17, 45; Kampmeyer, S. 185; Wank, RdA 1995, S. 10, 15. 83 Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgo/Nentwich, S. 199; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 62. 84 Zur Problematik der Herausbildung eines zweiten, beschränkt geltenden acquis communautaire und den daraus resultierenden rechtlichen Fragestellungen siehe eingehend unten, Teil 1 Β. III.2.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

dessen Forderung, an der Ausgestaltung der betroffenen Regelungsmaterien weiterhin in uneingeschränktem Umfang beteiligt zu werden, bei den Übrigen auf Unverständnis stoßen. Es liegt in diesem Fall nahe, den zurückbleibenden Mitgliedstaat von der Gestaltung desjenigen Rechts auszuschließen, dem er für sein Hoheitsgebiet die Geltung versagt. 85 Im Sinne dieser Logik einigten sich die EU-Mitglieder in Maastricht auf institutionelle Modifikationen, im Zuge derer mitgliedstaatliche Vertreter von der Beschlussfassung und von den Beratungen im Rat ausgeschlossen wurden. Der Vertrag über die Europäische Union schuf erstmals eine Differenzierungsform, welche die Mitwirkungsbefugnisse einzelner Mitgliedstaaten im gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren beschnitt. 86 Die der vorauseilenden Pioniergruppe nicht angehörenden Mitgliedstaaten erlangen ihren uneingeschränkten Einfluss auf die Rechtsetzungsvorgänge erst dann wieder, wenn sie sich gleich der Aufnahme eines EU-Beitrittskandidaten - nachträglich der europäischen Avantgarde anschließen. Die Sonderposition der freigestellten Mitgliedstaaten wird hierdurch zum zweischneidigen Schwert. Sie beschränkt das Vermögen, den künftigen Europäischen Integrationsprozess gleichberechtigt mitzugestalten. Infolgedessen stellt die neue Differenzierungsform zugleich einen Mechanismus zur Dynamisierung der Entscheidungsprozesse und zur Überwindung von Integrationsblockaden in der Europäischen Union dar. 87 Sie verhindert, dass diejenigen Mitgliedsländer, die in der Integration weiterzugehen willens und in der Lage sind, durch die Veto-Rechte oder die langsamere Gangart der übrigen in ihrem Vorgehen behindert oder blockiert werden. 3. Zusammenfassung Die in Maastricht geschaffene Neuform engerer mitgliedstaatlicher Kooperation unterscheidet sich von der herkömmlichen, völkerrechtlichen Zusammenarbeit eines Teils der Mitgliedstaaten durch die Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft bzw. neuerdings der Europäischen Union. Obgleich sie als gemeinschaftsrechtliche Differenzierung anzusehen ist, hebt sie sich von den bis dahin existierenden Differenzierungen dadurch ab, dass sie nicht punktueller und vorübergehender Natur ist, sondern den dauerhaften Ausschluss einzelner EU-Mitglieder von der Neugestaltung gesamter Gemeinschaftspoliti85

Vgl. Becker, S. 63. Vgl. Bribosia , CDE 2000, S. 57, 62: ,,[C]'était la première fois qu'une technique de différenciation ... comportait des conséquences sur le plan institutionnel". Vgl. auch Ehlermann , EuR 1997, S. 362, 366; Schutz, S. 224 f.; Tuytschaever , S. 24. 87 Vgl. Griller/Droutsas/F alkner /F orgó/N entwich, S. 202 f. 86

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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ken zur Folge hat. Dieser Ausschluss findet nicht nur in einer Freistellung von den erweiterten gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen ihren Ausdruck, sondern schlägt sich zugleich in einer Beschränkung der mitgliedstaatlichen Einflussmöglichkeiten im Rechtsetzungsverfahren nieder. Die neue Differenzierungsform erlaubt es demnach den integrationswilligen und leistungsfähigen Mitgliedstaaten, durch ihr Vorangehen die Richtung des Integrationsprozesses ohne Mitwirkung der Übrigen zu bestimmen. Seit dem Vertrag von Maastricht ist für die Rechts- und Pflichtenstellung eines Lands nicht mehr nur dessen Mitgliedschaft in der Europäischen Union von Belang. Zur Ermittlung seiner Stellung im Unions- und Gemeinschaftsrecht stellt sich zusätzlich die Frage, an welchen der unterschiedlichen Teilnehmerkreise voranschreitender und zurückbleibender Mitgliedstaaten es beteiligt ist. Es ist eine Teilung der Europäischen Union zu beobachten. Auf der einen Seite stehen die an dem Eintritt in das vertiefte Integrationsniveau beteiligten „Teilnehmerstaaten". Sie treiben den Integrationsprozess unter Inanspruchnahme zusätzlicher Rechtsetzungskompetenzen oder unter Ausschöpfung der bestehenden Handlungsermächtigungen voran und sind an das dergestalt geschaffene Recht nach den herkömmlichen vertraglichen Vorgaben gebunden. Eine zweite Gruppe, die als jene der „Nichtteilnehmerstaaten" bezeichnet werden kann, verbleibt dagegen auf dem vorherigen Integrationsstand. Sie wird erst im Falle eines „Beitritts" zu der vorauseilenden Avantgarde durch das erweiterte Recht berechtigt und verpflichtet und erst ab diesem Zeitpunkt an der Rechtsetzung im Rat beteiligt. Da für die im Verlauf dieser Arbeit zu untersuchende Neuform differenzierter Integration die Teilnahme oder Nichtteilnahme an den sich formierenden mitgliedstaatlichen Pioniergruppen im Mittelpunkt steht, wird sie im Folgenden als „teilnahmebezogene Differenzierung" bezeichnet.

B. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik Die gemeinsame Sozialpolitik, die in der Europäischen Integration bis zu diesem Zeitpunkt eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte, stand auf der Tagung des Europäischen Rats am 9. und 10. Dezember 1991 in Maastricht zeitweilig im Zentrum der Verhandlungen über die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft hin zu einer Europäischen Union. Elf der damaligen zwölf Mitgliedstaaten forderten, den neu zu schaffenden Staatenverbund mit einer erweiterten sozialpolitischen Dimension zu versehen. Nachdem Großbritannien dieses Ansinnen kategorisch abgelehnt hatte, kam es auf der Konferenz von Maastricht zu einem bis dahin einmaligen Kompromiss: Anstatt die Europäische Gemeinschaft in eine neue Entwicklungsstufe gemeinschaftlicher Sozialpolitik eintreten zu lassen, wurde nur elf der zwölf Mit-

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

gliedstaaten ein zusätzliches Gleis in Richtung einer Sozialunion eröffnet. Diese elf EU-Mitglieder durften in der Folgezeit die Organe, Verfahren und Mechanismen des EGV ohne Großbritannien in Anspruch nehmen. Sie ließen im Gegenzug den Inselstaat von den Rechten und Pflichten, die aus ihrem Zusammenwirken resultierten, unberührt. Aus dieser Vereinbarung erwuchs eine gemeinsame Sozialpolitik unterschiedlicher Integrationsstufen, deren neuartige rechtliche Konstruktion für die Amsterdamer Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit zum Vorbild wurde. 88 Ihr Beispiel wird im Folgenden herangezogen, um die Funktionsweise und die grundlegenden rechtlichen Fragen teilnahmebezogener Differenzierungen darzustellen. Ein erster Abschnitt skizziert die Entstehungsgeschichte und den Hintergrund der in Maastricht getroffenen sozialpolitischen Vereinbarungen. Anschließend wird untersucht, in welcher Form und mit welchen Konsequenzen sich die Mitgliedstaaten unter Ausschluss Großbritanniens des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft bedienten. Da die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik seit Überführung der erweiterten sozialpolitischen Bestimmungen in den EGV eine erste in sich abgeschlossene teilnahmebezogene Differenzierung darstellt, wird auch auf die Fragen eingegangen, die aus dem Bemühen um Wiederherstellung der gemeinschaftlichen Rechtseinheit resultieren.

I. Entstehungsgeschichte und Hintergrund 1. Die gemeinsame Sozialpolitik vor Maastricht als „Stiefkind" der Integration Die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik wurde seit jeher nicht nur durch die Bedeutung dieses Politikfelds für den souveränen Nationalstaat, sondern ebenso durch die Verschiedenartigkeit der sozialpolitischen Modelle und Ziel Vorstellungen der Mitgliedstaaten erschwert. 89 Dabei konnte sich bereits hinsichtlich der Grundsatzfrage, in welchem Umfang der fortschreitenden wirtschaftlichen Integration eine Harmonisierung der nationalen Sozialgesetzgebung zur Seite gestellt werden muss, über weite Strecken kein Einverständnis erzielen lassen. Der anfänglich insbesondere seitens Frankreichs verfochtene interventionistisch geprägte Standpunkt trug vor, mit dem Wettlauf um günstigere Standortbedingungen sei die Gefahr verbunden, dass sich die Mitgliedstaaten in ihren Sozialstandards ständig zu unterbieten versuchten, was letztendlich einen großflächigen Abbau des nationalen Sozialstaats begünstigen könne. 90 Der wirt88

Vgl. Becker, S. 51 f.; Griller/Droutsas/Forgó/F dlkner/Nentwich, S. 200 ff. Zu den traditionell unterschiedlichen sozialpolitischen Modellen der EU-Mitgliedstaaten Barnard in de Burca/Scott, S. 197, 203 f.; Freiburghaus, S. 165 ff. 89

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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schaftsliberalen Gegenposition zufolge sollten die verschiedenen Sozialsysteme der Mitgliedstaaten zum Zwecke eines Abbaus unnötiger Regulierung dagegen weitgehend unharmonisiert miteinander konkurrieren. 91 Letztere Auffassung konnte sich in den frühen Jahren der EWG stärker behaupten: Zwar wurde in den EWGV bereits 1957 ein Kapitel über eine gemeinsame Sozialpolitik eingefügt. Die damaligen Art. 117 ff. EWGV zielten aber nur auf eine Koordinierung der nationalen Sozialpolitik ab. 9 2 Noch bis zur Einheitlichen Europäischen Akte konnten sich die Mitgliedstaaten nicht darauf einigen, der EG originäre sozialpolitische Legislativermächtigungen zur Verfügung zu stellen. 93 Die Gestaltung einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik im eigentlichen Sinne war daher nur unter Rückgriff auf die weitgefassten allgemeinen Kompetenzgrundlagen der früheren Art. 100 und Art. 235 E W G V 9 4 möglich, deren Voraussetzungen zum Zweck dieser Bemühungen oft bis an die Grenze der Vertragserweiterung ausgelegt werden mussten. 95 Zwar machte sich ab Mitte der siebziger Jahren eine zunehmende Abkehr von der Erwartung bemerkbar, die erforderlichen sozialen Verbesserungen würden einer erfolgreichen wirtschaftlichen Integration notwendigerweise folgen. 96 Mit Beitritt des Vereinigten Königreichs trat aber ein Verfechter neoliberalen Gedankenguts zur EWG hinzu, der mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber einem „Europe sociale" den sozialpolitischen Konsens in der Gemeinschaft erschwerte. 97 Der „Thatcherism versus the social 90 Damit ist die Gefahr eines sog. „sozialen Dumpings" beschrieben. Vgl. dazu Freiburghaus, S. 165 f. 91 Darstellungen dieses Standpunkts finden sich bei Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1631; Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnrn. 1 f. Bei der Gründung der EWG machte ihn sich vornehmlich Deutschland zu eigen. 92 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 1631. 93 Vgl. Pitschas, DÖV 1992, S. 277, 282. Allerdings wiesen die übrigen vertraglichen Bestimmungen, insbesondere die zur Herstellung des freien Personenverkehrs, teils sozialpolitische Bezüge auf. Die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer war z.B. ein wichtiges Tätigkeitsfeld für die Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Vgl. hierzu Kampmeyer, S. 12 f. 94 Art. 94 und Art. 308 EG. Beide Artikel erfordern Einstimmigkeit im Rat. Eine Übersicht der auf Grundlage der beiden Rechtsetzungsermächtigungen ergangenen sozialpolitischen Rechtsakte findet sich bei Schuster, EuZW 1992, S. 178 f. 95 Zu dieser „großzügigen Handhabung von Rechtsetzungskompetenzen" Pechstein/Koenig, Kap. 8, Rdnr. 5. 96 Insoweit fand nach den Wirtschaftskrisen der 70er Jahre ein Umdenken in der EWG statt. Dies manifestierte sich insbesondere in dem sozialpolitischen Aktionsprogramm vom 21. 1. 1974 (ABl. EWG 1974 Nr. C 13/1). Vgl. zu dieser Entwicklung Bleckmann, Europarecht, Rdnrn. 2482 ff.; Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnr. 2. 97 Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das anglosächsische sozialpolitische Verständnis traditionell von dem romano-germanischen abweicht. Vgl. hierzu Barnard, in de Burca/Scott, S. 197, 203 ff.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

dimension" wurde für die gemeinsame Sozialpolitik der achtziger Jahre zum Hemmschuh. 98 Die EEA fügte mit dem damaligen Art. 118a E W G V 9 9 eine einzige spezifisch sozialpolitische Kompetenzgrundlage in die Verträge ein, die den Erlass von Rechtsakten mittels qualifizierter Mehrheit im Rat ermöglichte. 100 Der Artikel war jedoch auf Rechtsakte zur „Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt" beschränkt und sollte dazu dienen, „die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen". Die ebenfalls durch die Vertragsänderung hinzugetretene allgemeine Rechtsetzungsermächtigung des Art. 100a EWGV (Art. 95 EG) nimmt in ihrem Abs. 2 die Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich und damit von der Möglichkeit der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit aus. Da im Sozialbereich einstimmige Beschlüsse im Rat kaum zu erzielen waren, ging die Kommission trotz dieser Beschränkungen dazu über, sozialpolitische Harmonisierungsmaßnahmen auf die beiden genannten Rechtsgrundlagen zu stützen. Hierzu musste die Ausnahme vom Anwendungsbereich des damaligen Art. 100a EWGV sehr restriktiv und der Begriff der Arbeitsumwelt im damaligen Art. 118a EWGV besonders umfassend interpretiert werden, was beides seitens der Mitgliedstaaten Anlass zu Kritik b o t . 1 0 1 Bis zum Vertrag von Maastricht verhinderten demnach die spärlichen Handlungsbefugnisse der EWG und der fehlende sozialpolitische Konsens zwischen ihren Mitgliedern die Gestaltung einer umfassenden und sachlich geschlossenen Sozialpolitik. 1 0 2 Wichtige sozialpolitische Maßnahmen konn98

Die damalige konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher befürchtete, dass eine sozialstaatliche Weiterentwicklung der Gemeinschaft lediglich Probleme auf Gemeinschaftsebene transponieren würde, mit denen sich die Mitgliedstaaten mit weitreichender sozialer Gesetzgebung konfrontiert sahen. Vgl. hierzu Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125 f. 99 Die Bestimmung findet sich in abgewandelter Form im heutigen Art. 137 EG wieder. 100 Der ebenfalls eingefügte Art. 118b EWGV über den Dialog der Sozialpartner, durch den der Abschluss von Tarifvereinbarungen auf Gemeinschaftsebene ermöglicht wurde, verlieh der Gemeinschaft keine eigene Rechtsetzungsbefugnis. Die Art. 130a ff. EWGV über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt betrafen den Bereich der fördernden, nicht der regelnden Sozialpolitik. 101 Vgl. Watson , CMLRev 1993, S. 481, 485. Falkner, in Breuss/Griller, S. 79, 94 spricht in diesem Zusammenhang von einem „Rechtsgrundlagenspiel" der Kommission. Der EuGH schloss sich nach Klage Großbritanniens einer weiten Auslegung des Art. 118a EWGV an, indem er sich gegen die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation der Begriffe „Arbeitsumwelt", „Sicherheit" und „Gesundheit" wandte. Vgl. EuGH, Rs. 84/94 (Vereinigtes Königreich/Ministerrat), Slg. 1996-1, S. 5755. 102 Vgl. Koenig, EuR 1994, S. 175, 177 f.; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 179.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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ten in der Gemeinschaft nicht oder nur unter zweifelhafter Dehnung des Wortlauts der zur Verfügung stehenden Kompetenzgrundlagen in Angriff genommen werden. Zu Recht wurde die gemeinsame Sozialpolitik daher als „Stiefkind der Europäischen Integration" bezeichnet. 103

2. Die Verhandlungen in Maastricht: Der Kompromiss des „Opt-in der Elf" Mit dem Fortschreiten des Binnenmarktprogramms erreichten die Meinungsunterschiede über die sozialpolitische Rolle der Gemeinschaft Ende der 80er Jahre einen Höhepunkt. 104 Mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs stimmten die Mitgliedstaaten darin überein, dass die sozialpolitische Komponente zu weit hinter der wirtschaftlichen Dimension der Europäischen Integration zurückgeblieben sei und traten dafür ein, diese „soziale Schieflage" anlässlich der nächsten Vertragsänderung zu beheben. 105 Eine Ausweitung der Zielsetzungen und Handlungsmöglichkeiten der europäischen Sozialpolitik stand jedoch im grundsätzlichen Widerspruch zu dem in London verfolgten Konzept einer Deregulierung zur Stärkung der Wettbewerbsposition britischer Unternehmen. 106 Bereits der sog. EG-Sozialcharta, Ergebnis des Straßburger EG-Gipfels vom Dezember 1989, war das Vereinigte Königreich ferngeblieben, obgleich es sich lediglich um eine sehr allgemein gehaltene Erklärung ohne rechtliche Verbindlichkeit handelte. 107

103

Kampmeyer, S. 1. Vgl. Schutz, S. 175 ff. 105 In diesen Konsens stimmte schließlich auch Dänemark - entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung gegenüber der Übertragung sozialpolitischer Kompetenzen auf die europäische Ebene - ein. Deutschland und Frankreich drohten sogar an, weiteren wirtschaftlichen Integrationsschritten die Zustimmung zu versagen, wenn mit diesen keine substanziellen Fortschritte in der sozialen Dimension einhergingen. Vgl. hierzu Ringler, S. 183; Schutz, S. 178 f. 106 Sozialpolitische Fragen wie die der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, des Mutterschutzes oder des Kündigungsschutzes können insbesondere für mittlere Unternehmen von erheblicher Tragweite für die Wettbewerbsfähigkeit sein. Die Wettbewerbsfähigkeit britischer Unternehmen und die Attraktivität des Vereinigten Königreiches für ausländische Investoren wurden vom britischen Premierminister als Hauptgründe des britischen Ausscherens aus dem sozialpolitischen Konsens angegeben. Vgl. die Erklärung John Majors, zur Tagung des Europäischen Rats, abgegeben vor dem Unterhaus am 11. 12. 1991, abgedruckt in Europa-Archiv 1992, D 101— 105. 107 Vgl. die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer", vom 9. 12. 1989, KOM (89) 248. Rechtserheblichkeit konnte der Charta durch eine Berücksichtigung bei der Auslegung von verbindlichen Rechtsakten zukommen. Vgl. hierzu EuGH, Rs. 322/88 (Grimaldi), Slg. 1989, S. 4407, 4421. 104

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Während der Regierungskonferenz 1990/1991 über die Politische Union wurde der britische Widerstand gegen die Erweiterung der gemeinschaftlichen Sozialvorschriften bald zum zentralen Konfliktpunkt, der schließlich sogar die Vereinbarung des Maastrichter Vertragswerks insgesamt in Frage stellte. 108 Nachdem sich die britische Regierung jeglichen Entwürfen zur Änderung des Titels V I I I E G V 1 0 9 verschlossen gezeigt hatte, 1 1 0 verblieb den übrigen Mitgliedstaaten nur der Übergang in eine vertiefte Sozialpolitik ohne Beteiligung des Vereinigten Königreichs. In diesem Sinne regte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors an, Großbritannien von den beabsichtigten Ergänzungen der sozialpolitischen Vertragsbestimmungen im Wege eines „Opt-out" umfassend freizustellen. 111 Als der britische Premier John Major dies ablehnte, wendeten sich die Mitgliedstaaten einer andersgearteten rechtlichen Konstruktion zu. An Stelle eines Ausstiegs Großbritanniens schlugen Vertreter der deutschen und französischen Regierung den Eintritt der übrigen elf Mitgliedstaaten in eine neue Phase gemeinschaftlicher Sozialpolitik v o r . 1 1 2 Diesem erneuten Kompromissvorschlag, der als ein „Opt-in" aller Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens bezeichnet werden kann, erteilte der britische Regierungschef seine Zustimmung. Die Ergänzungen der gemeinschaftlichen Sozialpolitik wurden in zwei gesonderten Abmachungen festgeschrieben, während es dem Vereinigten Königreich gestattet war, auf dem Integrationsniveau der nahezu unveränderten sozialpolitischen Vorschriften des EGV zu verbleiben. 113 Der Europäische Rat fasste das Maastrichter Verhandlungsergebnis schließlich wie folgt zusammen: „Der Europäische Rat nimmt zur Kenntnis, dass elf Mitgliedstaaten auf dem durch die Sozialcharta von 1989 vorgezeichneten Weg weitergehen wollen. Zu diesem Zweck wurde vereinbart, dem Vertrag ein Protokoll über 108

Zum Gang der Verhandlungen unter dem Einfluss der britischen Position vgl. Europe Nr. 5627 vom 11. 12. 1991, S. 3; Corbett, JCMS 1992, S. 271, 286. 109 Soweit im Verlauf der vorliegenden Untersuchung ein Titel des EGV bezeichnet wird, bezieht sich diese Bezeichnung auf einen Titel des dritten Teils des EGV. 110 Zu den verschiedenen Kompromissentwürfen der niederländischen Ratspräsidentschaft, die dem britischen Standpunkt durch ein erweitertes Einstimmigkeitserfordernis im Sozialbereich entgegen zu kommen versuchten, vgl. Agence Europe Dokumente Nr. 1746/47 vom 10. 11. 1991, S. 7 ff.; Wank, RdA 1995, S. 10, 12. 111 Vgl. die Rede Jacques Delors vor dem Europäischen Parlament am 12. 12. 1991, abgedruckt in Europa-Archi ν 1992, D 109. Zu der vorgeschlagenen „Ausstiegslösung" vgl. auch Agence Europe Nr. 5634 vom 20. 12. 1991, S. 1. 112 Vgl. „Kohl, Major und das Treffen in Maastricht", in FAZ vom 11. 12. 1991, S. 2; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 180. 113 Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178, 180. Die alle Mitgliedstaaten betreffenden Änderungen des EGV beschränkten sich auf bloße Ziel- und Absichtserklärungen sowie auf Ergänzungen technischer Art. Hierzu eingehend Kampmeyer, S. 49 ff; Wank, RdA 1995, S. 10, 13.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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die Sozialpolitik beizufügen, das die Organe der Gemeinschaft verpflichtet, die erforderlichen Beschlüsse zu fassen und durchzuführen, und die Beschlussfassungsverfahren einer Anwendung durch elf Mitgliedstaaten anpasst". 114 I I . Die rechtliche Ausgestaltung des vereinbarten Opt-in 1. Überblick Die im Folgenden näher zu betrachtende rechtliche Umsetzung des dargestellten politischen Kompromisses verlief über zwei Vereinbarungen, die den EU-Mitgliedern mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs die Befugnis einräumten, den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zur Gestaltung einer erweiterten Sozialpolitik zu nutzen. Die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens verlief auf Grundlage des bis dahin geltenden geschriebenen wie ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts. Sie führte zur Schaffung weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen, die jedoch infolge ihres beschränkten Geltungsumfangs eine Sonderstellung im Gemeinschaftsgefüge einnahmen. Zum Zwecke der Nutzung der Gemeinschaftsorgane unter Ausschluss Großbritanniens einigten sich die Maastrichter Vertragsparteien auf Sonderregeln für den Rat, unterließen es aber im Übrigen, die Stellung und Funktionsweise der Organe im Vertragsgefüge zu modifizieren. Der britische Ausschluss machte sich daran bemerkbar, dass der Ratsvertreter des Vereinigten Königreichs an den Beratungen und Abstimmungen des engeren Teilnehmerkreises nicht teilnehmen durfte. Für einen späteren Eintritt Großbritanniens in das höhere sozialpolitische Integrationsniveau trafen die Mitgliedstaaten keine Vorkehrungen. Sie gelangten dagegen zu einer Vereinbarung, wer für die finanziellen Folgen des sozialpolitischen Sonderwegs aufzukommen hatte. 2. Das Protokoll und das Abkommen über die Sozialpolitik Ein „Protokoll über die Sozialpolitik" 1 1 5 enthielt die Rahmenregelung, welche die institutionellen und verfahrensrechtlichen Veränderungen gegenüber den allgemeinen vertraglichen Bestimmungen des EGV festlegte. In 114

Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs vom 9. und 10. 12. 1991 in Maastricht, abgedruckt in Europa-Archiv 1992, D 91 f. 115 Protokoll (Nr. 14) über die Sozialpolitik (BGBl. 1992 II 1313), geändert durch Beitrittsvertrag vom 24. 6. 1994 (BGBl. 1994 II 2022-2033) i.d.F. des Be4 Kellerbauer

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

der Präambel kam die Gesamtheit der EU-Mitglieder darin überein, dass alle Mitgliedstaaten außer Großbritannien auf dem durch die Sozialcharta von 1989 vorgezeichneten Wege voranschreiten wollten. Ziffer 1 Sozialprotokoll erteilte die ausdrückliche Zustimmung zu den in einem Abkommen über die Sozialpolitik 1 1 6 formulierten erweiterten sozialpolitischen Zielsetzungen und Kompetenzen und ermächtigte zum Zweck seiner Umsetzung zur Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und Mechanismen des EGVertrags. Dem Sozialprotokoll kam demnach die Funktion eines „institutionellen Adapters zwischen EG-Vertrag und Sozialabkommen" 117 zu. In dem Abkommen über die Sozialpolitik waren diejenigen sozialpolitischen Veränderungen und Neuerungen enthalten, die ursprünglich die Sozialvorschriften der Art. 117 ff. EWGV hätten ersetzen sollen. Seine Bestimmungen galten bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam nicht für Großbritannien, welches das Abkommen nicht unterzeichnet hatte. Die Mitgliedstaaten ratifizierten das Protokoll und das Abkommen über die Sozialpolitik zusammen mit dem Vertrag über die Europäische Union. Schweden, Finnland und Österreich traten mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union zum 1. Januar 1995 auch dem Sozialabkommen b e i . 1 1 8 Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam galt das Abkommen demnach für vierzehn der fünfzehn Mitgliedstaaten. 119

3. Die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft a) Die gemeinschaftliche Rechtsnatur des geschaffenen Primär- und Sekundärrechts Bestandteil der mit Großbritannien getroffenen Vereinbarung war es, die Erweiterungen der gemeinschaftlichen Sozialpolitik nicht in den EGV aufzunehmen, sondern in ein gesondertes Regelungswerk „auszulagern". 120 Diese Konstruktion erwies sich auf der Maastrichter Abschlusskonferenz als schlusses vom 1. 1. 1995 (ABl. EG 1995 Nr. L 1/1); im Folgenden auch als Sozialprotokoll bezeichnet. 116 Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik (BGBl. 1992 II 1314); im Folgenden auch als Sozialabkommen bezeichnet. 117 Koenig/Pechstein, Kap. 8, Rdnr. 13. 118 Vgl. Beitrittsvertrag vom 24. 6. 1994 (BGBl. 1994 II 2022-2033). 119 Diese elf bzw. vierzehn Mitgliedstaaten werden im Folgenden auch als „Abkommenstaaten" bezeichnet. 120 Vgl. Wank, RdA 1995, S. 10, 13.

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Wegbereiter des gebotenen politischen Kompromisses. Der juristische Betrachter sah sich dagegen mit der schwierigen Problematik ihrer gemeinschaftsrechtlichen oder völkerrechtlichen Zuordnung konfrontiert. 121 Die Mitgliedstaaten fügten das Sozialprotokoll entsprechend seiner Ziffer 3 dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bei, wodurch es zu einem Bestandteil des EG-Vertrags wurde. 1 2 2 Die Rechtsnatur des Sozialabkommens und des auf Grundlage seiner Rechtsetzungsermächtigungen erlassenen Sekundärrechts war im Schrifttum dagegen heftig umstritten. 123 aa) Das Sozialabkommen als gemeinschaftliches Primärrecht Für die gemeinschaftsrechtliche Natur des Sozialabkommens sprach dessen enge Verbindung mit dem Sozialprotokoll. 124 Letzteres ermächtigte in der Präambel ausdrücklich zu den nach Maßgabe des Sozialabkommens zu unternehmenden Integrationsbestrebungen und verfügte zusätzlich, dass das Abkommen dem Protokoll beizufügen sei. Auch fügte sich das Sozialabkommen infolge der häufigen Verweise auf die Vorschriften und Begrifflichkeiten des EGV erst durch Eingliederung in das gemeinschaftliche Primärrecht zu einem sinnvollen und funktionierenden Ganzen. 125 Es verwendete an mehreren Stellen die Termini „Mitgliedstaaten", „Rat", „Richtlinie" „Parlament", „Kommission" oder „Wirtschaftsund Sozialausschuss", ohne diesen einen eigenständigen Inhalt zuzuweisen. 1 2 6 Soweit das Sozialabkommen seinem Wortlaut nach nicht nur den Abkommenstaaten, sondern „der Gemeinschaft" als solcher sozialpolitische Ziele setzte, 127 sprach dies ebenfalls dagegen, es als gesonderten Vertrag des herkömmlichen Völkerrechts zu werten. Eine solche rechtliche Qualifikation hätte zugleich der einvernehmlichen Absicht der EU-Mitglieder widersprochen, den Mitgliedstaaten außer Großbritannien auf dem Gebiet der Sozialpolitik das gemeinschaftsrechtliche Handlungsinstrumentarium zur Verfügung zu stellen. 128 Denn ein nach den herkömmlichen völkerrechtlichen Regeln funktionierendes Abkommen hätte 121

Wank, RdA 1995, S. 10, 12 spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „Triumph der Diplomatie", aber einer „Niederlage der Gesetzgebungskunst". 122 Art. 236 EGV (Art. 311 EG) ordnet an, dass die dem EGV im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten beigefügten Protokolle Bestandteile des EG-Vertrags sind. Vgl. hierzu Geiger, Art. 311 EGV Rdnr. 2. 123 Vgl. Kampmeyer, S. 159 ff.; Ringler, S. 185 ff., jeweils m.w.N. 124 Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178, 181; Wank, RdA 1995, S. 10, 16. 125 Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178, 181; Wank, RdA 1995, S. 10, 16. 126 So insbesondere in den Art. 1-3 Sozialabkommen. 127 Vgl. Art. 1 Sozialabkommen. Ebenso wurden die in Art. 2 Sozialabkommen genannten Aufgaben der „Gemeinschaft" als Ganzes zugewiesen. 4*

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

den Abkommenstaaten nicht die Mittel des supranational strukturierten ersten Unionspfeilers an die Hand geben können. 1 2 9 Daher ging die h.M. zutreffend davon aus, dass das Sozialabkommen als Quelle gemeinschaftlichen Primärrechts zu qualifizieren w a r . 1 3 0

bb) Die Rechtsakte der Abkommenstaaten als gemeinschaftliches Sekundärrecht Die gemeinschaftsrechtliche Natur des Sozialabkommens sprach dafür, das auf seine Kompetenzgrundlagen gestützte Sekundärrecht ebenfalls als Gemeinschaftsrecht zu klassifizieren. 131 Hierfür konnte auch der Wortlaut der Ziffer 1 Sozialprotokoll ins Feld geführt werden, der die gemeinschaftlichen Organe, Verfahren und Mechanismen unverändert in den Dienst der Abkommenstaaten stellte. 1 3 2 Die Konsultationen und Entscheidungen des ohne Großbritannien bewerkstelligten sozialpolitischen Vorgehens fanden dem Abkommen zufolge in den Gemeinschaftsorganen und „auf Gemeinschaftsebene" statt, wobei „die Gemeinschaft" in Form von „Gemeinschaftsmaßnahmen" handelte. 133 Infolgedessen bestand kein Anlass, den nach Art. 2 Abs. 1 und 2 Sozialabkommen erlassenen Richtlinien eine andere Rechtsqualität zuzumessen, als den auf die Art. 118a oder Art. 100 EGV gestützten Maßnahmen. 134 Die elf und späteren vierzehn Mitgliedstaaten, die am Sozialabkommen teilnahmen, handelten daher nicht nur aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzgrundlagen, sondern ebenso in Form gemeinschaftlicher Rechtsakte im Sinne des damaligen Art. 189 EGV (Art. 249 E G ) . 1 3 5

128

Die Entstehungsgeschichte des Sozialabkommens lehrt, dass dieses an die Stelle einer Erweiterung des Titels VIII EGV treten sollte. Ihm waren die Rechtswirkungen zugedacht, die bestünden hätten, wenn seine Bestimmungen in den Vertrag selbst aufgenommen worden wären. Vgl. hierzu Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 128; Ringler, S. 187. 129 Zu den Unterschieden zwischen den Kooperationsformen des herkömmlichen Völkerrechts und dem mitgliedstaatlichen Tätigwerden unter Rückgriff auf das Handlungsinstrumentarium des Gemeinschaftsrechts siehe oben, Teil 1 A.II.l. 130 Vgl. Kampmeyer, S. 159 ff.; Ringler, S. 185 ff., jeweils m. w.N. 131 Vgl. Wank, RdA 1995, S. 10, 16. 132 Die Kommission stützte ihre Richtlinienvorschläge auf die im Sozialabkommen enthaltenen Rechtsetzungskompetenzen, das Europäische Parlament und der Wirtschafts- und Sozialausschuss wurden angehört und die vorgeschlagenen Maßnahmen schließlich vom Rat beschlossen. Abweichungen von den herkömmlichen verfahrensrechtlichen Vorschriften ergaben sich lediglich durch eine verstärkte Einbeziehung der europäischen Sozialpartner nach den Art. 2 bis 4 Sozialabkommen. 133 So die Art. Sozialabkommen. 134 Vgl. Buchner, RdA 1993, S. 193, 199.

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Das auf das Sozialabkommen gestützte Sekundärrecht war folglich im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft zu veröffentlichen und trat nach den üblichen gemeinschaftsrechtlichen Regeln in Kraft, ohne dass es einer Ratifizierung durch die nationalen Parlamente bedurfte. 136 Eine Missachtung der auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Richtlinien durch die Abkommenstaaten hätte eine herkömmliche Vertragsverletzung dargestellt, die ein Vertrags verletzungsverfahren gem. der Art. 169 bis 171 EGV (Art. 226 bis 228 EG) nach sich gezogen hätte. b) Der acquis communautaire als Ausgangspunkt der Abkommenstaaten Für die Rechtswirkungen des sozialpolitischen Vorgehens der Abkommenstaaten war ferner eine in der Präambel des Sozialabkommens anzutreffende Formulierung von gewichtiger Bedeutung: Die elf Mitgliedsländer beabsichtigten, von den erweiterten Rechtsetzungskompetenzen des Sozialabkommens Gebrauch zu machen, um die Sozialcharta von 1989 „ausgehend vom gemeinschaftlichen Besitzstand" umzusetzen. Zusätzlich dazu stellte die Präambel des Sozialprotokolls klar, dass die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Besitzstands durch die sozialpolitischen Vereinbarungen nicht berührt würden. Die wiederholte Bezugnahme auf den Begriff des gemeinschaftlichen Besitzstands, der auch als „acquis communautaire" bezeichnet wird, macht eine nähere Erläuterung des Terminus erforderlich, da dieser trotz seiner zentralen Bedeutung im Rechtsgefüge der Europäischen U n i o n 1 3 7 weder im EUV noch im EGV eine inhaltliche Bestimmung erfährt. Der gemeinschaftliche Besitzstand beschreibt die rechtliche Errungenschaft, die sich im Verlauf des Bestehens der Europäischen Gemeinschaften herausgebildet hat, deren Wahrung und Weiterentwicklung es bei der Fortentwicklung der Europäischen Integration zu sichern g i l t 1 3 8 und der sich neue Mitgliedstaaten bei ihrem Beitritt ebenso zu unterwerfen haben, wie dies seitens der bishe135

So die h.M. Vgl. Kampmeyer, S. 159 ff.; Ringler, S. 185 ff.; jeweils m.w.N. Dieser herrschenden Literaturmeinung schloss sich im späteren Verlauf implizit das Gericht erster Instanz an, in dem es einen Fall zur Entscheidung annahm, der das unter dem Sozialabkommen erlassene Sekundärrecht betraf. Vgl. Rs. T-135/96 (Union européenne de l'artisanat/Rat), Slg. 1998-11, S. 2335. 136 ygi Docksey/ Séché/ Currall, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Nach Art. 122 Protokoll (Nr. 14) Rdnr. 32; Wank, RdA 1995, S. 10, 14. 137

Zur Bedeutung des acquis communautaire eingehend Gialdino, CMLRev 1995, S. 1089 ff.; Pescatore, RtDE 1981, S. 617 ff. 138 Die Pflicht zur Wahrung und Weiterentwicklung des acquis communautaire ist unionsrechtlich in den Art. 2, Spgstr. 5, Art. 3 Abs. 1 EU sowie in Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU verankert.

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rigen Mitgliedsländer erfolgt i s t . 1 3 9 Er umfasst die Gesamtheit des geschriebenen wie ungeschriebenen gemeinschaftlichen Primär- und Sekundärrechts, einschließlich der von der Europäischen Gemeinschaft geschlossenen internationalen Verträge. 140 Auch der aus der Rechtsprechung des EuGH resultierende Interpretationsstand des Primär- und Sekundärrechts, samt der richterlichen Rechtsfortbildung, ist dem acquis communautaire zuzurechnen. 141 Durch „kühn vorwärtsweisende Grundsatzentscheidungen" 142 hat der EuGH die heute geltende gemeinschaftliche Rechtsordnung wesentlich mitgeprägt und zu deren Differenzierung vom herkömmlichen Völkerrecht in entscheidendem Maß beigetragen. 143 Wegweisend war hierbei das Urteil Van Gend & Loos im Jahre 1963, in dem der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht als „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts" charakterisierte und diesem unmittelbare Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten zusprach. 144 Dem folgte kurze Zeit darauf die Entscheidung Costa/E.N.E.L., die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht anerkannte. 145 Diesen Grundsätzen hat die spätere Rechtsprechung eine Vielzahl weiterer hinzugefügt, welche heute dem Fundament des acquis communautaire zuzurechnen sind. 1 4 6 139

Seit den ersten Anträgen auf Mitgliedschaft in der EWG ist die Verpflichtung der Beitrittskandidaten, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu übernehmen, als Quintessenz jeder Erweiterung zu begreifen. Vgl. hierzu bereits die Stellungnahme der Kommission zu den Anträgen des Königreichs Dänemark, Irlands, des Königreichs Norwegen und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland auf Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften, ABl. EG 1972 Nr. L 73, 3. Zur rechtlichen Grundlage dieser Übernahme Verpflichtung Krüßmann, ZEuS 2001, S. 217, 224 ff. 140 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 21; Pescatore , RtDE 1981, S. 617, 619 ff. 141 Vgl. Cremer, in Calliess/Ruffert, Art. 49 EUV Rdnr. 4; Pescatore , RtDE 1981, S. 617, 619 f. Einschränkend (nur Grundsatzentscheidungen) dagegen Gialdino, CMLRev 1995, S. 1089, 1098 f.; Ott, EuZW 2000, S. 293, 295 f. 142 Oppermann, Europarecht, Rdnr. 384. 143 Vgl. Ott, EuZW 2000, S. 293, 295 f.; Rodriguez Iglesias , NJW 1999, S. 1, 2. 144 Vgl. EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 3. 145 Vgl. EuGH, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1251. Zur Bedeutung dieser Entscheidung eingehend de Witte, in Craig/de Burca, S. 177, 178 ff. 146 Hierzu zählen beispielsweise die gemeinschaftsrechtlichen Regeln zur Anwendung nationalen Verwaltungsrechts im Gemeinschaftsrechtsvollzug (EuGH, verb. Rs. 105 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, S. 2633), die Vorlagepflicht nationaler Gerichte, die nicht befugt sind, selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane festzustellen (EuGH, Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, S. 4199) oder die Grundsätze zur Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die durch Verletzungen des Gemeinschaftsrechts zurechenbar verursacht werden (EuGH, verb. Rs. C 6/90 und 9/90 (Francovich), Slg. 1991-1, S. 5357; EuGH verb. Rs. 178, 179, 188, 189 und 190/94 (Dillenkofer), Slg. 1996-1, S. 4867; EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur, Factortame), Slg. 1996-1, S. 1029).

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Bestimmten Sozialabkommen und Sozialprotokoll den acquis communautaire zum unabänderlichen Ausgangspunkt der erweiterten sozialpolitischen Integrationsbestrebungen, so richteten sich die Rechtswirkungen des auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Sekundärrechts zugleich nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu den Wesenszügen des Gemeinschaftsrechts im Allgemeinen und zu den aus einer gemeinschaftlichen Richtlinie folgenden rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Besonderen. 147 Der Absicht, den auf das Sozialabkommen gestützten Rechtsakten im Verhältnis zu den Abkommenstaaten genau die Rechtswirkungen einzuräumen, die im Falle einer Aufnahme der erweiterten Kompetenzen in den EGV selbst bestanden hätten, verhalf die in Maastricht vereinbarte rechtliche Konstruktion uneingeschränkt zur Geltung. c) Die Erweiterung

des acquis communautaire durch die Abkommenstaaten

Indem die Abkommenstaaten in der Präambel des Sozialabkommens den acquis communautaire zum Ausgangspunkt ihres Handelns machten, brachten sie zugleich ihre Absicht zum Ausdruck, durch die Schöpfung neuen Gemeinschaftsrechts im späteren Verlauf über diesen hinauszugehen. Diese Erweiterung erfolgte einerseits durch die zusätzlichen Zielsetzungen und Handlungsbefugnisse, die das Sozialabkommen mit Wirkung für die „Gemeinschaft der E l f 4 normierte. Zum anderen traten neben den existierenden gemeinschaftlichen Besitzstand die Rechtsakte, die auf Grundlage der Rechtsetzungsermächtigungen des Abkommens zur Entstehung gelangten. Drittens konnte der EuGH zu diesem Primär- und Sekundärrecht Auslegungs- und Gültigkeitsentscheidungen fällen und dabei ungeschriebene Regeln des Gemeinschaftsrechts schaffen. aa) Das erweiterte Primärrecht des Sozialabkommens Die erweiterten primärrechtlichen Vorschriften waren dem Sozialabkommen zu entnehmen. Geleitet von dem Wunsch nach Umsetzung der Sozialcharta von 1989, 1 4 8 baute diese ohne Großbritannien getroffene Vereinba147 Vgl. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 128 f. Im Hinblick auf die Rechtswirkungen von Richtlinien sind die richterlichen Entscheidungen zur Pflicht richtlinienkonformer Auslegung von nationalem Recht (EuGH, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, S. 1891; EuGH, Rs. 106/89 (Marleasing), Slg. 1990-1, S. 4135), zur unmittelbaren Anwendung nicht fristgerecht umgesetzter Richtlinien (Hierzu grundlegend EuGH, Rs. 8/81 (Becker), Slg. 1982, 53) und zur mitgliedstaatlichen Schadensersatzpflicht bei unterbliebener oder unvollständiger Umsetzung (EuGH, verb. Rs. C 6/90 und 9/90 (Francovich), Slg. 1991-1, S. 5357) hervorzuheben. 148 ygi die Präambel des Sozialprotokolls und des Sozialabkommens.

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rung den Rahmen für eine gemeinschaftliche sozialpolitische Gestaltung erheblich aus. 1 4 9 Im Unterschied zu den sozialpolitischen Vorschriften des EG-Vertrags sollten nun nicht mehr allein die Mitgliedstaaten für die Sozialpolitik zuständig sein, sondern die Gemeinschaft 150 deren Tätigkeit unterstützen und ergänzen. 151 Art. 1 Satz 1 Sozialabkommen nannte die Verbesserung und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer nicht als alleiniges sozialpolitisches Z i e l , 1 5 2 sondern führte weitere und teils konkretisierte Zielsetzungen an. 1 5 3 Zugleich wurden der Gemeinschaft durch Art. 2 Abs. 2 und 3 Sozialabkommen in enumerativ aufgeführten Bereichen zusätzliche Rechtsgrundlagen zum Erlass von Richtlinien eingeräumt, die deutlich über die des EGV in seiner Maastrichter Fassung hinausgingen. Die sozialpolitische Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene wurde dadurch erheblich erleichtert, dass der Rat nun in nicht unwesentlichen Tätigkeitsfeldern Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit beschließen konnte. 1 5 4 Auf traditionell sensibleren und auf finanzträchtigeren Gebieten normierte Art. 2 Abs. 3 Sozialabkommen weitere Richtlinienkompetenzen, von denen allerdings nur im Wege der einstimmigen Beschlussfassung Gebrauch gemacht werden konnte. 1 5 5 Die drei 149 Zu den unterschiedlichen sozialpolitischen Vorschriften in EG-Vertrag und Sozialabkommen eingehend Buchner, RdA 1993, S. 193, 194 ff.; Kampmeyer, S. 48 ff.; Ringler, S. 199 ff. 150 Verwendung des Begriffs „Gemeinschaft" beschrieb das Sozialabkommen ausschließlich die Gemeinschaft der Abkommenstaaten, da das Vereinigte Königreich an der Vereinbarung nicht beteiligt war. 151 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Sozialabkommen. 152 So hingegen Art. 117 Abs. 1 EGV. 153 Die sozialpolitischen Ziele umfassten nun die Förderung der Beschäftigung, die Herstellung eines angemessenen sozialen Schutzes, den soziale Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen. 154 Der Erlass von Mindestvorschriften durch Richtlinien wurde durch Art. 2 Abs. 2 Sozialabkommen auf den folgenden Gebieten ermöglicht: Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeiter, Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, Herstellung von Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen der Gemeinschaft. Für den Richtlinienerlass galt das Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament. 155 Diese Gebiete umfassten die soziale Sicherheit und den sozialen Schutz der Arbeitnehmer, den Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung, die Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder und die finanziellen Beiträge zur Beschäftigungsförderung sowie zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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umstrittensten Materien der Sozialpolitik, nämlich Arbeitsentgelt, Koalitionsrecht und Arbeitskampf blieben gem. Art. 2 Abs. 6 Sozialabkommen weiterhin ausdrücklich von der Regelungskompetenz der Gemeinschaft ausgenommen. Ein Schwerpunkt des Sozialabkommens lag in der Verstärkung der Rolle der Europäischen Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene. 156 Die Kommission traf die Pflicht, deren Dialog mittels aller zweckdienlichen Maßnahmen zusätzlich zu erleichtern und deren Anhörung auf Gemeinschaftsebene zu fördern. 157 Den europäischen Sozialpartnern konnte nun die Durchführung von Richtlinien übertragen werden 1 5 8 und den zwischen ihnen auf Gemeinschaftsebene geschlossenen Vereinbarungen vermochte der Rat zur Durchsetzung zu verhelfen, soweit sie einen der in Art. 2 Sozialabkommen genannten Bereiche betrafen. 159 Neuerungen gingen von dem Sozialbkommen auch im Bereich der Gleichberechtigung von Mann und Frau aus. Art. 6 Sozialabkommen verpflichtete die Abkommenstaaten in seinem Abs. 1, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für gleiche Arbeit sicherzustellen und erweiterte in seinem Abs. 3 die Zulässigkeit des positiven Nachteilsausgleichs zugunsten des faktisch benachteiligten Geschlechts. 160

bb) Das auf Grundlage des Sozialabkommens erlassene Sekundärrecht Neben diesen dargestellten primärrechtlichen Ergänzungen wurde der sozialpolitische acquis communautaire in der Folgezeit um Sekundärrechtsakte erweitert, welche die Abkommenstaaten auf der Grundlage des Sozialabkommens erließen. Der den Rechtsgrundlagen des EGV in der Praxis ein156 Im Hinblick darauf beschränkte sich das für alle Mitgliedstaaten geltende Recht auf den „sozialen Dialog" des Art. 118b EGV. Vgl. hierzu Buchner, RdA 1993, S. 193, 199 f. 157 Eine allgemeine Pflicht zur Förderung der Anhörung der Sozialpartner auf Gemeinschaftsebene folgte aus Art. 3 Abs. 1 Sozialabkommen. Art. 3 Abs. 2 und 3 Sozialabkommen sah zusätzlich ein zweifaches obligatorisches Anhörungsverfahren im Vorfeld gemeinschaftlichen Handelns vor. Gem. Art. 3 Abs. 2 Sozialabkommen musste die Kommission die Sozialpartner zunächst zu der Frage anhören, wie eine Gemeinschaftsaktion ausgerichtet werden sollte. Hielt die Kommission schließlich eine Richtlinie für geboten, so war gem. Art. 3 Abs. 3 S. 1 Sozialabkommen eine weitere Anhörung der Sozialpartner zum Inhalt der in Aussicht stehenden Rechtsetzungsinitiative erforderlich. 158 Vgl. Art. 2 Abs. 4 Sozialabkommen. 159 Vgl. Art. 4 Abs. 2 Sozialabkommen. 160 Zur Bedeutung des in den heutigen Art. 141 Abs. 4 EG geschlechtsneutral übernommenen Art. 6 Abs. 3 Sozialabkommen Kenner, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 108, 120 f.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

geräumte Vorrang 161 und die Mitwirkungsrechte der europäischen Sozialpartner an der Rechtsetzung 162 hatten allerdings zur Folge, dass von den Rechtsetzungsermächtigungen des Sozialabkommens in nur geringem Umfang Gebrauch gemacht wurde. Nur vier Legislativakte wurden auf das Sozialabkommen gestützt: die Richtlinie 94/45/EG des Rats vom 22. September 1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, 163 die Richtlinie 96/34/ EG des Rats vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub, 164 die Richtlinie 97/ 80/EG des Rats vom 15. Dezember 1997 über die Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts 165 und die Richtlinie 97/81/EG des Rats vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP and EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. 166 Von den bezeichneten vier Rechtsakten wurden überdies nur die beiden Erstgenannten im Alleingang ohne das Vereinigte Königreich umgesetzt. Der Erlass der Richtlinien 97/ 80/EG und 97/81/EG erfolgte nach dem britischen Regierungswechsel, als der neue Premierminister Tony Blair bereits die Bereitschaft zur Aufhebung der britischen Sonderstellung hatte erkennen lassen. Obgleich den Abkommenstaaten während der Geltung des Sozialprotokolls eine von britischen Einwänden befreite Rechtsetzung ermöglicht war, kam dem unter Inanspruchnahme der erweiterten Kompetenzgrundlagen geschaffenen Sekundärrecht daher nur untergeordnete Bedeutung z u . 1 6 7 Unter Rückgriff auf die für alle Mitgliedstaaten geltenden Rechtsetzungsgrundlagen des EGV wurden in der gleichen Zeit wichtigere, wenn auch umstrittenere sozialpolitische Rechtsakte erlassen. 168 161

Siehe hierzu unten, Teil 1 B.III.2.a). Zur retardierenden Wirkung der Einbeziehung der Sozialpartner bei der Rechtsetzung auf Grundlage des Sozialabkommens Kenner, in Lynch/Neuwahl/ Rees, S. 108, 112. 163 ABl. EG 1994 Nr. L 254/64; im Folgenden auch als Betriebsratsrichtlinie bezeichnet. 164 ABl. EG 1996 Nr. L 145/4; im Folgenden auch als Richtlinie über den Elternurlaub bezeichnet. 165 ABl. EG 1998 Nr. L 14/6. 166 ABl. EG 1998 Nr. L 14/9. 167 Vgl. Kenner, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 108, 112; Shaw, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 85, 90. 168 Eine Darstellung der wichtigsten sozialpolitischen Rechtsakte, die während der Geltungsdauer des Sozialprotokolls auf Grundlage der Rechtsetzungsermächtigungen des EGV erlassen wurden, findet sich bei McGlynn, in Ehlermann, S. 85, 95 ff. 162

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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cc) Keine Erweiterungen durch Entscheidungen des EuGH Waren das Sozialabkommen und die auf dessen Rechtsgrundlagen gestützten Maßnahmen als Gemeinschaftsrecht zu qualifizieren, folgte aus Art. 164 EGV, dass der Europäische Gerichtshof für alle Streitigkeiten und Fragen, die sich aus der Auslegung und Anwendung des Abkommens ergaben, zuständig war. 1 6 9 Demnach waren Vorabentscheidungsverfahren, Untätigkeitsklagen, Vertragsverletzungsverfahren und Nichtigkeitsklagen im Hinblick auf das Sozialabkommen ebenso denkbar wie hinsichtlich des herkömmlichen Gemeinschaftsrechts. 170 Allerdings ist der Europäische Gerichtshof während der kaum länger als fünf Jahre währenden Gültigkeit des Sozialprotokolls nicht auf Rechtsfragen in Zusammenhang mit der in Maastricht getroffenen sozialpolitischen Vereinbarung eingegangen. 171 Auslegungs- und Gültigkeitsentscheidungen, die den acquis communautaire um ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht hätten bereichern können, ergingen zum Sozialabkommen nicht. d) Die Sonderstellung des geschaffenen Rechts infolge seiner beschränkten Geltung Obgleich das Sozialabkommen zur Schaffung von Gemeinschaftsrecht führte, das sich in seinen Wirkungen gegenüber den Abkommenstaaten nicht vom herkömmlichen Recht der ersten Unionssäule unterschied, nahm das geschaffene Recht infolge seines beschränkten Geltungsumfangs eine Sonderstellung in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung ein. Ebenso wie die Bestimmungen des Sozialabkommens selbst, galt auch das aus der erweiterten Sozialpolitik hervorgehende Sekundärrecht nicht für das Vereinigte Königreich. 1 7 2 Die erlassenen Richtlinien führten nur eine Harmonisierung der einzelstaatlichen Vorschriften von zunächst elf und später vierzehn der EU-Mitglieder herbei. Britische Staatsangehörige und britische Unternehmen unterlagen nur dann harmonisierten nationalen Vorschriften, wenn sie sich auf dem Hoheitsgebiet der Abkommenstaaten befanden bzw. dort ihren Sitz hatten. 173 Gegenüber britischen Behörden und Gerichten war 169

Gem. Art. 164 EGV (Art. 220 EG) ist dem EuGH die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung [des EGV]" zugewiesen. Hiervon sind alle Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung betroffen, die verbindliche Rechtswirkungen entfalten. Vgl. hierzu Schwarze, in Schwarze, Art. 220 EGV Rdnr. 11. Die Zuständigkeit des EuGH resultierte auch aus Ziffer 1 Sozialprotokoll, wo zum Zweck der Umsetzung des Sozialabkommens zur Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane ermächtigt wurde. 170 Vgl. Ringler, S. 198. 171 Vgl. Steinmeyer, RdA 2001, S. 10, 13. 172 Vgl. Ziffer 2 Satz 4 Sozialprotokoll.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

eine Berufung auf das Recht des Sozialabkommens ausgeschlossen. Diese waren gemeinschaftsrechtlich nicht dazu angehalten, den für die Abkommenstaaten zusätzlich geltenden gemeinschaftlichen Regeln bei der Auslegung und Anwendung britischen Rechts Beachtung zu schenken. Auch die auf das Recht des Sozialabkommens bezogenen Auslegungsund Gültigkeitsentscheidungen des EuGH konnten für Großbritannien keine Rechtswirkung entfalten. Wäre durch sie das Gemeinschaftsrecht um allgemeine Rechtsgrundsätze bereichert worden, hätten die übrigen Gemeinschaftsorgane und der Gerichtshof selbst diese bei ihrem Tätigwerden für die Gemeinschaft der Gesamtheit der EG-Mitglieder nicht zugrunde legen dürfen. 1 7 4 Eine Bindung der britischen nationalen Gerichte an die Entscheidungen, die der EuGH in seiner Eigenschaft als „Gerichtshof der Abkommenstaaten" hätte treffen können, hätte auch dann nicht bestanden, wenn diese Entscheidungen für die gemeinsame Sozialpolitik aller Mitgliedstaaten von Belang gewesen wären. 1 7 5 Das Abkommen über die Sozialpolitik führte daher zur Entstehung einer Sonderform von Gemeinschaftsrecht, das infolge seiner territorial beschränkten Geltung als „partielles Gemeinschaftsrecht" 176 oder „Sondergemeinschaftsrecht" 177 bezeichnet werden kann. In seiner Gesamtheit ließ sich dieses Recht als ein eigenständiger acquis communautaire begreifen, der von dem auch für Großbritannien geltenden gemeinschaftlichen Besitzstand zu unterscheiden war. 1 7 8 Dabei waren beide Besitzstände auf eine beständige, aber voneinander unabhängige Erweiterung um geschriebene und ungeschriebene Regeln des Gemeinschaftsrechts angelegt. Die sozialpolitischen Vereinbarungen des Vertrags von Maastricht verdeutlichen so ein bedeutsames Wesensmerkmal teilnahmebezogener Differenzierungen: Bedient sich eine Pioniergruppe von Mitgliedstaaten unter dauerhaftem Ausschluss der Übrigen des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft, so führt dies zur Herausbildung eines in seiner Gel173 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Protokolls über die Sozialpolitik, KOM (93) 600, 8. 174 Zwar gibt es im Gemeinschaftsrecht keine „rule of precedent", die den Gerichtshof an frühere Urteilsgrundsätze bindet. Jedoch besitzen diese Prinzipien für spätere Rechtssachen eine erhebliche Autorität, sodass ein ausdrückliches „overruling" nur äußerst selten zu beobachten ist. Vgl. hierzu Schuster, EuZW 1992, S. 178, 186. 175 Vgl. Whiteford, S. 202, 215. 176 Buchner, RdA 1993, S. 193, 198. 177 Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 135; Ringler, S. 192. 178 Vgl. Kenner, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 108. Koenig, EuR 1994, S. 175, 182 zufolge ließ das Sozialabkommen eine „autonome Sozialrechtsordnung" zur Entstehung gelangen. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 140 spricht von einer „Doppelspurigkeit gemeinschaftlicher Sozialpolitik".

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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tung auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkten und in seiner Folgeentwicklung getrennt zu betrachtenden acquis communautaire, 179 der eigenständig neben den für alle Mitgliedstaaten geltenden gemeinschaftlichen Besitzstand t r i t t . 1 8 0 Auf die Folgeprobleme, die aus der Koexistenz dieser beiden gemeinschaftlichen Rechtsgebilde resultieren, wird im Verlauf dieser Untersuchung an geeigneter Stelle eingegangen. 4. Die Inanspruchnahme des modifizierten institutionellen Rahmens der EG Ziffer 1 Sozialprotokoll ermächtigte die Abkommenstaaten dazu, sich zur Umsetzung des Sozialabkommens des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft zu bedienen. Das auf dieser Ermächtigung beruhende Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane für eine Europäische Gemeinschaft ohne Großbritannien wurde im Schrifttum überwiegend als Organleihe gewertet. 181 Berücksichtigt man, dass auf Grundlage des Sozialabkommens kein anderes Rechtssubjekt tätig wurde als die Europäische Gemeinschaft, 182 sollte stattdessen von einem Rechtsverhältnis gesprochen werden, das einer Organleihe funktional vergleichbar ist. 1 8 3 Schließlich zeichnet sich eine Organleihe dadurch aus, dass einem anderen Rechtsträger die Befugnis zur Nutzung des Organs eingeräumt w i r d . 1 8 4 Da Großbritannien eine Teilnahme an der sozialpolitischen Integrationsvertiefung der Abkommenstaaten abgelehnt hatte, mussten die Staats- und 179 Der in seiner Geltung auf die jeweilige europäische Avantgarde beschränkte zusätzliche gemeinschaftliche Besitzstand wird im Folgenden auch als „partieller acquis" oder „Sonderacquis" bezeichnet. 180 Der für alle Mitgliedstaaten geltende acquis communautaire wird im Folgenden auch als „gesamtgemeinschaftlicher Besitzstand" bezeichnet, wobei außer Betracht bleibt, dass auch das diesem zugehörige herkömmliche Gemeinschaftsrecht in seinem Geltungsbereich differenzierungsbedingte Beschränkungen kennt. 181 Vgl. Hailbronner in GS Grabitz, S. 125, 136; Koenig/Pechstein, Kap. 8 Rdnrn. 13 f.; Ost, DÖV 1997, S. 495, 500; Ringler, S. 194; Schuster, EuZW 1992, S. 178; Wank, RdA 1995, S. 10, 13. 182 Die im Sozialprotokoll und im Sozialabkommen angeordneten Abweichungen von den herkömmlichen Vorschriften des EGV waren nicht weitreichend genug, um den Willen zur Bildung einer selbständigen internationalen Organisation zum Ausdruck zu bringen. Daher war das nach Maßgabe des Sozialabkommens tätige Rechtssubjekt mit der Europäischen Gemeinschaft identisch. Vgl. hierzu im Zusammenhang mit den Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit Becker, S. 52, Fn. 213; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 108 f. 183 So Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 26 im Hinblick auf die entsprechende Ermächtigung in Art. 43 Abs. 1 EU. 184 Vgl. Becker, S. 52, Fn. 213; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 26.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Regierungschefs darüber befinden, wie sich dies auf die Zusammensetzung der Organe und auf deren Aufgabenbewältigung unter dem Sozialabkommen auswirken sollte. Die Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane ohne Großbritannien warf dabei Fragen auf, die der Vertrag von Maastricht zugleich für die künftigen Differenzierungen entsprechender Funktionsweise beantwortete. a) Die Beratung und Beschlussfassung ohne den britischen Ratsvertreter Das Sozialprotokoll regelte die Fragen der Zusammensetzung der Gemeinschaftsorgane im Rechtsetzungsverfahren nur unvollständig und unterließ abweichende Anordnungen bezüglich der Stellung und Funktionsweise der Organe im Vertragsgefüge. Es beschränkte sich auf die Formulierung von Sonderregeln, wenn der Rat auf Grundlage des Sozialabkommens beratend oder beschlussfassend tätig wurde. Gem. Ziffer 2 Sozialprotokoll wurde Großbritannien nicht beteiligt, wenn der Rat über Vorschläge beriet oder entschied, die ihm die Kommission auf der Grundlage des Sozialabkommens unterbreitete. Der Ausschluss des britischen Vertreters von den Beratungen im Rat warf die Frage auf, ob Großbritannien wenigstens als passiver Beobachter teilnehmen durfte oder gänzlich den Ratssitzungen fernbleiben musste. 185 Obgleich der Wortlaut von Ziffer 2 S. 1 Sozialprotokoll auch letztere Deutung zugelassen hätte, 1 8 6 wurde die Vorschrift in der Praxis dergestalt gehandhabt, dass die britische Delegation zwar an den Diskussionen nicht teilnahm, bei den Verhandlungen aber im Raum blieb. 1 8 7 Diese vertrauensbildende Verfahrensweise trug der Tatsache Rechnung, dass der Gemeinschaft an einer völligen Ausgrenzung einzelner Mitglieder nicht gelegen sein kann, zumal der gesamtgemeinschaftliche Integrationsprozess in unvermindertem Maß vom Wohlwollen und der Solidaritätsbekundung aller Mitgliedstaaten abhängt. Infolge der Aussetzung des britischen Ratsstimmrechts senkte sich die für einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss erforderliche Stimmenzahl in 185 Zu dieser Streitfrage Schuster, EuZW 1992, S. 178, 184; Wank, RdA 1995, S. 10, 17. 186 Ziffer 2 S. 1 Sozialprotokoll zufolge war Großbritannien bei den Beratungen aufgrund des Sozialabkommens „nicht beteiligt". Dabei konnte der Ausschluss Großbritanniens auch so verstanden werden, dass das Sozialprotokoll einen eigenständigen „Rat der Abkommenstaaten" zu konstituieren beabsichtigte, in dem Großbritannien erst gar nicht vertreten war. Zu dieser Lesart Schuster, EuZW 1992, S. 178, 184. 187 Vgl. Brinkmann, in Craig/Harlow, S. 239, 243; Falkner, in Breuss/Griller, S. 79, 90.

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Abweichung vom damaligen Art. 148 Abs. 2 EGV (Art. 205 Abs. 2 EG) ab. An Stelle einer bloßen Subtraktion der von Großbritannien normalerweise eingenommenen Sitze setzte Ziffer 2 S. 2 Sozialprotokoll die Mindeststimmenzahl auf 44 der dann möglichen 66 Stimmen herab. 1 8 8 Hierdurch wurde vermieden, dass die beiden stimmmächtigsten Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland zu nahe an eine Sperrminorität heranrückten, mit der die Erzielung einer qualifizierten Mehrheit verhindert werden konnte. 1 8 9 Die auch für das Sozialabkommen bedeutsame einstimmige Beschlussfassung im Rat wurde durch Ziffer 2 S. 3 Sozialprotokoll erleichtert, indem sich das Einstimmigkeitserfordernis nur auf die Einstimmigkeit der Ratsvertreter der Abkommenstaaten bezog. b) Die unveränderte Zusammensetzung der übrigen Gemeinschaftsorgane Keine Aussagen traf das Sozialprotokoll darüber, ob die Stellung der aus dem Vereinigten Königreich stammenden Kommissionsmitglieder, der in Großbritannien gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der britischen Organwalter in den sonstigen Gemeinschaftsinstitutionen bei Beratung, Annahme und Überprüfung der auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Rechtsakte eine Modifikation erfahren sollte. Aus dieser fehlenden Regelung konnte zwar ex contrario für die Beibehaltung der herkömmlichen institutionellen Regeln argumentiert werden. 1 9 0 Dieser Umkehrschluss war jedoch im Hinblick auf die Gemeinschaftsorgane fragwürdig, in denen die britischen Delegierten nach ihrer vertraglichen Stellung und Funktion nicht als unabhängige europäische Vertreter, sondern als Sachwalter britischer Interessen auftraten. Denn aufgrund des in Ziffer 1 Abs. 1 Sozialprotokoll vereinbarten Ausschlusses Großbritanniens von den erweiterten gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen des Sozialabkommens lag es nahe, dem Vereinigten Königreich über seine nationalstaatlichen Vertreter auch keinen Einfluss auf die Rechtsetzungsvorgänge zuzugestehen, die sich auf das Sozialabkommen stützten. 191 188

Nach dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens waren 52 der 77 möglichen Stimmen erforderlich. 189 Gemeinsam kamen Deutschland und Frankreich nur auf 20 der für eine Sperrminorität erforderlichen 23 Stimmen. 190 Vgl. Kampmeyer, S. 117; Koenig/Pechstein, Kap. 8 Rdnr. 15; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 213. 191 Vgl. Martenczuk, in Scholz, S. 187, 194: ,,[D]ie Legitimation der Organe der Union setzt ein Mindestmaß an Kongruenz zwischen den durch die Mitglieder der Organe direkt oder indirekt Vertretenen und den durch ihre Handlungen Betroffenen voraus." Ähnlich Ringler, S. 196 f.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Dass die Richter am Europäischen Gerichtshof nicht als Interessenvertreter einzelner Mitgliedstaaten anzusehen sind, stellt der EGV an verschiedenen Stellen klar. Deren Staatsangehörigkeit tritt im Unterschied zu den Rechtsprechungsorganen anderer internationaler Organisationen gänzlich in den Hintergrund. 192 Art. 221 E G 1 9 3 schreibt weder vor, dass die Richter überhaupt die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats innehaben müssen, noch wird die Zahl der einem Mitgliedstaat entstammenden Richter festgelegt. Das Richteramt am EuGH ist gem. Art. 223 EG überdies an die Garantie völliger Unabhängigkeit von mitgliedstaatlicher Beeinflussung gebunden. Es ist gem. Art. 220 EG ausschließliche Aufgabe der Mitglieder dieses Rechtsprechungsorgans, das Recht zu wahren, nicht dagegen mitgliedstaatliche Interessen zu vertreten. Allein nach ihrer Sachkunde ernannte und von mitgliedstaatlicher Beeinflussung unabhängige Mitglieder sind auch im Rechnungshof (Vgl. Art. 247 Abs. 2 S. 2 EG), im Wirtschafts- und Sozialausschuss (Vgl. Art. 258 Abs. 3 EG) und im Ausschuss der Regionen (Vgl. Art. 263 Abs. 3 EG) anzutreffen. Wurde den Abkommenstaaten die Ermächtigung zur Inanspruchnahme dieser Organe eingeräumt, bezog sie sich demnach auf die unmodifizierten institutionellen Strukturen des Gemeinschaftsvertrags. 194 Die Kommission ist als Kollegialorgan konzipiert, dessen Mitgliedern Verantwortung für ihr jeweiliges Ressort und nicht für die Interessen ihres Heimatlandes zugewiesen i s t . 1 9 5 Art. 213 Abs. 1 S. 1 EG zufolge sind die Kommissare allein nach ihrer Befähigung auszuwählen und müssen volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten. Diese Unabhängigkeit soll sie gem. Art 213 Abs. 2 S. 4 EG auch vor Beeinflussungen durch den Mitgliedstaat bewahren, dessen Staatsangehörigkeit sie innehaben. Die Kommissionsmitglieder fungieren nach Art. 213 Abs. 2 S. 2 EG ausdrücklich nicht als weisungsgebundene Vertreter der jeweiligen nationalen Regierungen, sondern sind als Hüter der Gemeinschaftsverträge und als „Motor der Integration" in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft tätig. 1 9 6 Im Hinblick darauf war auch ein Ausschluss der britischen Kommissare bei Gesetzesinitiativen, die sich auf das Sozialabkommen stützten, abzulehnen. 197 192

Vgl. Koenig, EuR 1994, S. 175, 187 f.; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 186. Die im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung der Gemeinschaftsorgane angeführten Vertragsartikel erfuhren durch den Vertrag von Amsterdam keine Änderungen, die für die im Folgenden getroffenen Aussagen von Belang sind. Infolgedessen wird auf die seit dem 1. 5. 1999 geltende Fassung des EGV Bezug genommen. 194 Vgl. Kampmeyer, S. 118. 195 Vgl. Schneider, in Breuss/Griller, S. 229, 251. 196 Vgl. Geiger, Art. 211 EGV Rdnr. 2. 193

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Das einzige Gemeinschaftsorgan, dessen unveränderte Besetzung in der differenzierten gemeinsamen Sozialpolitik zum Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten in der Literatur wurde, war das Europäische Parlament. 1 9 8 Gegen eine uneingeschränkte Mitwirkung der in Großbritannien gewählten Abgeordneten wurde angeführt, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments vom Staatsvolk der einzelnen Mitgliedsländer entsprechend der einzelstaatlichen Wahlrechtsmodalitäten gewählt worden waren, 1 9 9 wobei die Bestimmung der Zahl der in jedem Mitgliedstaat zu ernennenden Parlamentarier in Art. 190 Abs. 2 EG auch Erwägungen des politischen Kräfteverhältnisses in der Gemeinschaft erkennen lässt. 2 0 0 Das Fehlen eines egalitären Unionswahlrechts und die bislang ausgebliebene Herausbildung eines europäischen Staatsvolks 201 spreche dafür, dass die britischen Abgeordneten nur das Volk des Vereinigten Königreichs zu vertreten in der Lage seien, und deshalb im Bereich der Nichtbeteiligung dieses Mitgliedslands von der Abstimmung im Parlament ausgeschlossen werden müssten. 202 Der dargestellten Argumentation lässt sich jedoch entgegenhalten, dass weder das Fehlen eines einheitlichen Gemeinschaftsvolks noch die Wahl einer quotierten Anzahl von Parlamentsmitgliedern in den jeweiligen Mit197

Vgl. Schuster EuZW 1992, S. 178, 184; Wank, RdA 1995, S. 10, 17 f. Entsprechend äußerte sich Kommissionspräsident Jacques Delors auf dem Maastrichter Abschlussgipfel. Vgl. Agence Europe Nr. 5633 vom 19. 12. 1991, S. 11. 198 Ein Teil der Autoren trat dafür ein, die in Großbritannien gewählten Abgeordneten nur an den Beratungen teilnehmen zu lassen, von Abstimmungen dagegen auszuschließen. So etwa Huber, EuR 1996, S. 347, 359 f.; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 185; Wank, RdA 1995, S. 10, 18. In Anlehnung an die ausschließlich beratende Mitwirkung der Berliner Abgeordneten im Deutschen Bundestag vor dem 3. 10. 1990 (nach dem damaligen Art. 144 Abs. 2 GG) wurde dieser Ansatz auch als „Berliner Lösung" bezeichnet. Zu den Standpunkten in dieser Streitfrage Kampmeyer, S. 117 f. m.w.N. 199 Seit dem Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung vom 20. 9. 1976 (BGBl. 1977 II 734) werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments unmittelbar in den jeweiligen Mitgliedstaaten gewählt. Zu den bisherigen Bemühungen um eine einheitliche Gestaltung des dabei geltenden Wahl Verfahrens Schoo, in Schwarze, Art. 190 EGV Rdnrn. 19 ff. 200 Vgl. Ringler, S. 196 f. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 137 f. spricht von einer nationalen Prägung der demokratischen Legitimation der europäischen Abgeordneten. Vgl. auch Wank, RdA 1995, S. 10, 18. 201 Die herrschende Meinung in der Literatur verneint die Existenz eines europäischen Staatsvolks unter Verweis darauf, dass es an der notwendigen homogenen ethischen Herkunft, der gemeinsamen Sprache, dem Vorhandensein einer europäischen Nation und einer kollektiven europäischen Identität mangele. Vgl. hierzu Borau, S. 30 ff. m.w.N. 202 Vgl. Hailbronner, in GS Grabitz, 125, 137 f.; Ringler, S. 196 f. Kritisch auch Schuster, EuZW 1992, S. 178, 184. 5 Kellerbauer

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

gliedstaaten eine Verpflichtung der europäischen Parlamentarier gegenüber den einzelnen Staatsvölkern begründen soll. Gem. Art. 189 EG sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments zu Vertretern der Gesamtheit der in den Integrationsprozess einbezogenen Staatsvölker berufen. 203 Ihnen ist durch die Zuerkennung eines weisungsunabhängigen und freien Mandats eine gesamtgemeinschaftliche und keine auf ihren Herkunftsstaat beschränkte Verantwortlichkeit zugewiesen. 204 Auch in der europäischen Wirklichkeit erweist sich das Europäische Parlament als eine im Werden befindliche politische Einheit, in der die Staatsangehörigkeit seiner Mitglieder zunehmend in den Hintergrund tritt. 2 0 5 Die Europäischen Parlamentarier organisieren sich im Parlament nicht nach Mitgliedstaaten, sondern entsprechend ihrer politischen Grundausrichtung in Fraktionen. Aufgrund des nach Art. 19 Abs. 2 EG bei Wahlen zum Europäischen Parlament geltenden Wohnsitzprinzips können sie nicht mehr als alleinige Vertreter der Staatsangehörigen des Landes angesehen werden, in dem sie gewählt wurden. 2 0 6 Vielmehr müssen die Abgeordneten als Repräsentanten derjenigen Unionsbürgerinnen und -bürger gelten, die in dem betreffenden Mitgliedsland ihr Wahlrecht ausgeübt haben. 207 Eine Ausgrenzung der britischen Parlamentsmitglieder hätte die Gefahr heraufbeschworen, dieses nach einer europäischen Identität ringende Gemeinschaftsorgan faktisch zu renationalisieren. 208 Deshalb sprachen auch im Hinblick auf das Europäischen Parlament die besseren Argumente für eine Beibehaltung der herkömmlichen Besetzung während der sozialpolitischen Differenzierung. 2 0 9 Zu einer gerichtlichen Klärung der Mitwirkungsbefugnisse der britischen Abgeordneten kam es während der Existenz der Maastrichter Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik nicht, weshalb die Streitfrage durch 203

Vgl. Lenz, NJW 1996, S. 1328, 1329; Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnr. 15. Art. 4 Abs. 1 der Direktwahlakte vom 20. 9. 1976 (ABl. 1976 Nr. L. 278/1) zufolge sind die Abgeordneten weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden. Vgl. hierzu Schoo, in Schwarze, Art. 190 EGV Rdnr. 4. 205 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 44 EUV Rdnr. 4. 206 Zur Geltung des Wohnsitzprinzips bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Geiger, Art. 19 Rdnr. 4. 207 Vgl. Schneider, in Breuss/Griller, S. 239, 251. Zwar machen bislang nur wenige Unionsbürger von der Möglichkeit Gebrauch, an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Ausland teilzunehmen. Dennoch kommt dieser Option aufgrund ihres Symbolcharakters für die Entstehung einer europäischen „Legitimationsgemeinschaft" eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Vgl. hierzu Hatje, in Schwarze, Art. 19 EGV Rdnr. 17. 208 Vgl. Louis, in Manin/Louis, S. 33, 40. 209 Ebenso Kampmeyer, S. 117 f.; Koenig/Pechstein, Kap. 8 Rdnr. 15; Watson , CMLRev 1993, S. 481, 505. 204

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das Europäische Parlament selbst entschieden wurde. Dieses sprach sich im Januar 1994 mit großer Mehrheit für eine uneingeschränkte Beteiligung seiner britischen Mitglieder bei Voten unter dem Sozialprotokoll aus. 2 1 0 Gegen die hierdurch zum Ausdruck gebrachte Grundentscheidung wäre die vertragliche Normierung einer modifizierten Zusammensetzung dieses Gemeinschaftsorgans für die späteren Amsterdamer Differenzierungsformen politisch nur schwer durchsetzbar gewesen. Im Anschluss an den Vertrag von Maastricht setzte sich in Wissenschaft und Praxis die Ansicht durch, dass sich der für eine teilnahmebezogene Differenzierung kennzeichnende Nichtteilnehmerstatus eines Mitgliedslands allein in der Zusammensetzung des Rats der Europäischen Union widerspiegeln sollte. Die Organwalter der übrigen Gemeinschaftsinstitutionen haben nicht als Vertreter nationaler Einzelinteressen, sondern als unauflösbarer Bestandteil der im Gemeinwohl tätigen Gemeinschaftsinstitutionen zu gelten. 2 1 1 5. Die Finanzierungsregelung Die Weiterentwicklung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik seitens einer mitgliedstaatlichen Pioniergruppe warf die Frage auf, ob die sich aus dem schnelleren Voranschreiten ergebenden Ausgaben dem Gemeinschaftshaushalt zur Last fallen sollten oder aus besonderen Beiträgen der teilnehmenden Mitgliedstaaten finanziert werden müssten. Auf diese Frage fanden die Mitgliedstaaten eine Kompromisslösung, die für die späteren teilnahmebezogenen Differenzierungen wegweisend wurde. Ziffer 2 Abs. 3 Sozialprotokoll trennte die aus der Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane resultierenden Verwaltungskosten von den übrigen, als „operativ" zu beschreibenden Ausgaben, die aus der Nutzung der erweiterten Befugnisse des Sozialabkommens resultierten. Die erstgenannten Aufwendungen wurden aus dem Gemeinschaftshaushalt bestritten, während Großbritannien von den operativen Kosten des sozialpolitischen Sonderwegs freigestellt war. Finanzielle Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen nach Art. 2 Abs. 3 Spgstr. 5 Sozialabkommen hätten hiernach beispielsweise die Abkommenstaaten finanzieren müssen, während die aus der Verwaltung dieser Fördermittel erwachsenden Mehrkosten allen Mitgliedstaaten zur Last gefallen wären. Allerdings war der in Ziffer 2 Abs. 3 Sozialprotokoll gewählte Begriff „finanzielle Folgen" in seiner inhaltlichen Tragweite nur schwer eingrenz210 Vgl. Agence Europe Nr. 6151 vom 19. 1. 1994, S. 4; Agence Europe Nr. 6153 vom 21. 1. 1994, S. 4. 211 Vgl. Barnard , in de Bùrca/Scott, S. 197, 202; Brinkmann, in Craig/Harlow, S. 239, 243. 5*

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

bar und daher unklar. 2 1 2 Er durfte nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Vereinigte Königreich von den mittelbaren bzw. indirekten Folgekosten, die aus der Entstehung der unterschiedlichen Integrationsniveaus in der gemeinsamen Sozialpolitik resultieren konnten, freizustellen war. 2 1 3 Eventuell eintretende höhere Belastungen für britische Tochtergesellschaften infolge höherer Sozialkosten in den übrigen Mitgliedsländern sollten dem Vereinigten Königreich beispielsweise nicht ersetzt werden. 2 1 4 Angesichts dieser Unklarheiten ist die für die Differenzierungsform der verstärkten Zusammenarbeit getroffene präzisere Regelung zur Kostentragung begrüßenswert. 215 6. Die fehlende Beitrittsregelung Bereits unmittelbar nach der Konferenz von Maastricht wurde die Erwartung geäußert, Großbritannien werde sich alsbald dem Sozialabkommen anschließen und damit den übrigen Mitgliedstaaten auf das höhere Integrationsniveau folgen. 2 1 6 Allerdings wiesen weder das Sozialprotokoll noch das Sozialbkommen Vorschriften auf, die eine spätere Beteiligung Großbritanniens ermöglichte. Ein britischer Beitritt zum Sozialabkommen konnte daher nur im Wege des in Art. Ν EUV (Art. 48 EU) formulierten Vertragsänderungsverfahrens erfolgen. 217 Auch für einen britischen „Opt-in" in das aus der engeren sozialpolitischen Zusammenarbeit hervorgehende Sekundärrecht waren in Maastricht keine Vorkehrungen getroffen worden. Ziffer 2 Uabs. 3 Sozialprotokoll ordnete an, dass Rechtsakte des Rats, die auf Grundlage des Abkommens erlassen wurden, für das Vereinigte Königreich keine Geltung beanspruchten. Mit dieser primärrechtlichen Festschreibung war eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der erlassenen Richtlinien durch einen sekundärrecht212

Vgl. Koenig, EuR 1994, S. 175, 193. Vgl. Kampmeyer, S. 122; Pechstein/Koenig, Kap. 8, Rdnr. 28. 214 Kampmeyer, S. 122 weist zu Recht darauf hin, dass solche indirekten Kosten in einem gemeinsamen Markt, der in vielen Bereichen nur eine Mindestharmonisierung anstrebt und damit über das Sozialabkommen hinaus unterschiedliche Integrationsniveaus zulässt, nie gänzlich zu vermeiden sind. 215 Art. 44 Abs. 2 EU spricht von den „sich aus der Durchführung der Zusammenarbeit ergebenden Ausgaben" und schließt damit mittelbare Folgekosten unmissverständlich aus. 216 Von einem baldigen Nachfolgen Großbritanniens ging etwa der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag aus. Vgl. Agence Europe Nr. 5630 vom 14. 12. 1991, S. 6. Hintergrund war ein erwarteter Sieg der Labour Party bei den Unterhauswahlen im Vereinigten Königreich im April 1992. 217 So die h.M.; vgl. Kampmeyer, S. 145 f. m.w.N. 213

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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liehen Ratsbeschluss ausgeschlossen.218 Die betreffenden Rechtsakte mussten unter Rückgriff auf die allgemeinen Kompetenzgrundlagen des EGV neu erlassen werden, wollte man nicht warten, bis der angeordneten beschränkten Geltung durch eine vertragsändernde Regierungskonferenz abgeholfen werde.

III. Die aufgeworfenen Rechtsfragen der neuen Differenzierungsform Das Nebeneinander unterschiedlicher sozialpolitischer Rechtsetzungsgrundlagen in einer Europäischen Gemeinschaft mit dem Vereinigten Königreich und in einer solchen ohne den Inselstaat schien aus rechtlicher Sicht ebenso komplex wie die daraus folgende Möglichkeit koexistierender gemeinschaftlicher Besitzstände unterschiedlichen Geltungsumfangs. 219 Der sozialpolitische Sonderweg der Abkommenstaaten innerhalb des Gemeinschaftsrahmens warf eine Vielzahl diffiziler juristischer Fragen auf, von denen im Folgenden auf diejenigen eingegangen wird, die für die seit Maastricht existierende neue Differenzierungsform von besonderer Relevanz sind. Zum einen ist zu klären, ob die umfassende Freistellung Großbritanniens sowie der Ausschluss von Beratungen und Abstimmungen im Rat mit dem Unions- und Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. Zum anderen werden die potentiellen rechtlichen Folgewirkungen untersucht, die mit der Entstehung eines erweiterten, in seinem Geltungsanspruch aber auf eine mitgliedstaatliche Avantgarde beschränkten acquis communautaire einhergehen. 1. Die Vereinbarkeit mit den unions- und gemeinschaftsrechtlichen Grundprinzipien Als die Beiträge Willy Brandts und Leo Tindemans' gegen Ende der 70er Jahre eine Debatte um ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten und unterschiedlicher Integrationsstufen auslösten, begannen sich rechtswissenschaftliche Untersuchungen der Frage zuzuwenden, inwieweit die angedachten Erweiterungen der bis dahin existierenden Differenzierungen mit den Anforderungen des EWGV im Einklang stünden. 220 Dabei machten die 218

Zur Normenhierarchie im Gemeinschaftsrecht vgl. Schoo, in Schwarze, Art. 249 EGV Rdnr. 9; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 346 ff. 219 In einem offenen Brief des Vorsitzenden des Sozialausschusses des Europäischen Parlaments, van Velzen, an den früheren britischen Premierminister John Major wird von einem „nearly inextricable legal puzzle" gesprochen. Vgl. Agence Europe Nr. 5633 vom 19. 12. 1991, S. 11. 220 Zu den damaligen Untersuchungen Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1276 ff.; Eiden, Europa-Archiv 1984, S. 365, 366 ff.; Grabitz, in Bieber, S. 67, 73 ff.; Langeheine, EuR 1983, S. 227 ff; Weis, EuR 1977, S. 278 ff.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Autoren allerdings das zu diesem Zeitpunkt geltende Primärrecht in seiner unveränderten Form zum Maßstab ihrer Betrachtungen, gingen also davon aus, dass auch künftige Flexibilisierungen nur auf der Ebene des Sekundärrechts Einzug in die gemeinschaftliche Rechtsordnung halten würden. 2 2 1 Vor diesem Hintergrund wurde die Rechtmäßigkeit eines Europas abgestufter Integration teils gänzlich abgelehnt, 222 teils an die Beachtung weitreichender Beschränkungen geknüpft. 223 Der Vertrag von Maastricht verlieh der von ihm eingeführten neuen Differenzierungsform dagegen eine primärrechtliche Gestalt und unterwarf sie damit grundlegend anderen rechtlichen Anforderungen. Nach der Normenhierarchie wird die Gesamtheit des geltenden Primärrechts für sekundärrechtliche Differenzierungen zum Prüfungsmaßstab. 224 Die Vertragskonformität primärrechtlich verankerter Flexibilisierungen lässt sich dagegen nur anhand grundlegender Rechtsgrundsätze messen, wobei im Falle einer Unvereinbarkeit die Streitfrage in den Vordergrund tritt, inwieweit die vertragsändernden Mitgliedstaaten überhaupt an diese Grundprinzipien gebunden sind. 2 2 5 Die Rechtmäßigkeit der in Maastricht getroffenen sozialpolitischen Vereinbarungen sah sich vornehmlich in zweierlei Hinsicht Einwänden ausgesetzt: Die Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane seitens einer „Europäischen Gemeinschaft der Abkommenstaaten" rief im Hinblick auf das in Art. C EUV verankerte Unionsprinzip des einheitlichen institutionellen Rahmens Bedenken hervor. 2 2 6 Die Schöpfung eines eigenständigen sozial221

So vermutete Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1293 noch im Jahr 1984: „It seems ... safe to assume that the ,two speed4 concept will never become the subject matter of a formal Treaty amendment". Vor dem Hintergrund des damals geltenden Primärrechts erfolgten auch die Untersuchungen bei Eiden, Europa-Archiv 1984, S. 365, 366 ff.; Grabitz, in Bieber, S. 67, 73 ff.; Langeheine, EuR 1983, S. 227, 231 ff.; Weis, EuR 1977, S. 278 ff. 222 Vgl. etwa Weis, EuR 1977, S. 278, 283, demzufolge die sekundärrechtliche Herbeiführung eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten mit der Forderung nach „gemeinsamem Handeln" in der Präambel des EWGV unvereinbar sei. 223 Vgl. Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1288; Eiden, Europa-Archiv 1984, S. 365, 366 ff.; Langeheine, S. 61 ff. 224 Vgl. Schoo, in Schwarze, Art. 249 EGV Rdnr. 9; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 346 ff. 225 Insoweit führten die Maastrichter Vereinbarungen in der gemeinsamen Sozialpolitik zu einer Beschäftigung mit der Frage, inwieweit den Mitgliedstaaten die Befugnis verblieben ist, die Grundprinzipien des Gemeinschaftsvertrags aufzukündigen oder zu verändern. Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 51 f.; Kampmeyer, S. 181 f.; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 218 ff. 226 Vgl. Curtin, CMLRev 1993, S. 17, 29; Hilf, in Magiera/Siedentopf, S. 207, 213; Louis, in Manin/Louis, S. 33, 39; Tuytschaever, in de Burca/Scott, S. 173, 185.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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politischen acquis communautaire, der Großbritannien von seinem Anwendungsbereich ausnahm, ließ Zweifel an der Beachtung des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtseinheit angezeigt erscheinen. 227 a) Die Vereinbarkeit des Rückgriffs auf den modifizierten institutionellen Rahmen Für die in Maastricht vereinbarte Inanspruchnahme des institutionellen gemeinschaftlichen Rahmens seitens einer mitgliedstaatlichen Pioniergruppe fehlte es bis zu diesem Zeitpunkt im Integrationsprozess an Vorbildern. Die einzige Stellungnahme des EuGH, die zur Ermittlung der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit dieser organleihe-ähnlichen Vereinbarung herangezogen werden konnte, ließ sich dessen Gutachten vom 10. April 1992 zur Vereinbarkeit des EWR-Abkommens mit dem Gemeinschaftsrecht 228 entnehmen. Hierin erachtete der EuGH die ihn nach dem bezeichneten internationalen Übereinkommen selbst betreffende Organleihe als solange mit dem EWGV vereinbar, als „dadurch nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, wie sie im EWG-Vertrag ausgestaltet ist, verfälscht w i r d " . 2 2 9 Würde dieses Diktum auf die in Ziffer 1 Sozialprotokoll ausgesprochene Ermächtigung entsprechend angewandt, so gingen daraus keine begründeten Zweifel an deren Vereinbarkeit mit dem EGV hervor. Denn angesichts des verhältnismäßig geringen Zeitaufwands, den die Gemeinschaftsinstitutionen auf die Anwendung des Sozialabkommens verwendeten, konnte von einer Vernachlässigung ihres angestammten Aufgabenbereichs nach dem EG-Vertrag nicht gesprochen werden. 2 3 0 aa) Das Unionsprinzip des einheitlichen institutionellen Rahmens Einwände gegen die Nutzung der Gemeinschaftsorgane unter Ausschluss einzelner EU-Mitglieder könnten dagegen im Hinblick auf Art. C Abs. 1 E U V 2 3 1 geltend gemacht werden. Art. 3 Abs. 1 EU zufolge verfügt die Europäische Union über einen einheitlichen institutionellen Rahmen. 2 3 2 Dieser 227 Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 51 f.; Everting, CMLRev 1992, S. 1053, 1066; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 186; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 218 ff. Daneben machte ein Teil der Literatur Bedenken geltend, ob eine abgestufte soziale Integration mit dem Grundsatz der Wettbewerbsgleichheit vereinbar sei. Vgl. hierzu Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 2578; Coen, EuZW 1995, S. 50, 52; Ost, DÖV 1997, S. 495, 502. Da dem Grundsatz der Wettbewerbsgleichheit für die vorliegend untersuchte Differenzierungsform nur untergeordnete Bedeutung zukommt, findet er im Folgenden nur am Rande Berücksichtigung. 228 EuGH, Gutachten 1/92 (EWR II), Slg. 1992-1, S. 2825. 229 EuGH, Gutachten 1/92 (EWR II), Slg. 1992-1, S. 2825, 2843. 230 Vgl. Koenig/Pechstein, Kap. 8 Rdnr. 14.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

wurde durch den Vertrag über die Europäische Union als Grundprinzip des Unionsrechts geschaffen. 233 Die Einheitlichkeit des institutionellen Rahmens hat zum Inhalt, dass sich die Europäische Union sowohl bei ihrem Tätigwerden in der supranational ausgestalteten ersten Säule als auch bezüglich ihrer Aktivitäten in den intergouvernemental strukturierten zweiten und dritten Unionspfeilern der gleichen, in den Art. 4 und Art. 5 EU genannten Handlungsträger bedient. 2 3 4 Das gemeinsame Dach der Europäischen Union stützt sich demnach in allen seinen Säulen auf identische institutionelle Strukturen. 235 Durch diese Organidentität soll die Schaffung eines parallelen oder gar konkurrierenden institutionellen Rahmens ausgeschlossen und eine Verzahnung der einerseits supranational und andererseits völkerrechtlich strukturierten Politikbereiche ermöglicht werden. 2 3 6 bb) Die Beschränkung durch Ziffer 1 und 2 Sozialprotokoll Zu prüfen ist, ob die in Ziffer 1 Sozialprotokoll ausgesprochene Ermächtigung zur Inanspruchnahme des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft eine Beschränkung des in Art. 3 Abs. 1 EU verankerten Grundsatzes darstellt. Gegen eine solche Beschränkung könnte ins Feld geführt werden, dass sich die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik gerade durch die Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane von den herkömmlichen mit231 Art. C Abs. 1 EUV besteht seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam als Art. 3 Abs. 1 EU unverändert fort. Im Folgenden findet jeweils die neue Nummerierung Verwendung. 232 Zum einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union grundlegend Hilf, in Magiera/Siedentopf, S. 207 ff.; Zuleeg, EuR - Beiheft 2 - 1998, S. 151 ff.; ders. in FS Jaenicke, S. 899 ff. 233 yg| Jacqué, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. C Rdnr. 1 ff. Pechstein, EuR 1999, S. 1, 3 f. geht überdies davon aus, dass Art. 3 EU im Wege einer impliziten Vertragsänderung auch ungeschriebener Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts geworden ist, da die Bestimmung ansonsten die von ihr beabsichtigte Wirkung nicht erzielen könnte. 234

Vgl. Stumpf, in Schwarze, Art. 3 EUV Rdnrn. 3 ff.; Jacqué, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. C Rdnr. 2. 235 Dabei geht die h. M. davon aus, dass die Gemeinschaftsorgane seitens der Europäischen Union lediglich „geliehen" werden, ihrer Eigenschaft als Gemeinschaftsorgane also auch dann nicht verlustig werden, wenn sie im Rahmen der intergouvernemental strukturierten Unionspfeiler tätig sind. Lediglich der Europäische Rat ist demzufolge als eigenes „Unionsorgan" anzusehen, dem allerdings nur politische Funktionen zukommen. Vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rdnrn. 230c f. sowie Stumpf, in Schwarze, Art. 5 EUV Rdnr. 9, jeweils m. w. N. 236 Vgl. Blanke, in Calliess/Ruffert, Art. 3 EUV Rdnr. 1; Geiger, Art. 3 EUV Rdnr. 9; Jacqué, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. C Rdnr. 2.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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gliedstaatlichen Kooperationen außerhalb des Unionsrahmens abhob. Schließlich wurde den an einer Erweiterung der sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten interessierten EU-Mitgliedern im Vertrag von Maastricht die Nutzung der gemeinschaftlichen Organe ermöglicht, anstatt sie mit der Notwendigkeit zu konfrontieren, ein gesondertes und potentiell konkurrierendes institutionelles Gefüge zu kreieren. Allerdings ließe diese Argumentation unberücksichtigt, dass das Sozialprotokoll durch den teilweisen Ausschluss des Vereinigten Königreichs eine Modifikation des institutionellen gemeinschaftlichen Rahmens anordnete. Ziffer 2 Sozialprotokoll zufolge beriet und beschloss der Rat ohne den britischen Vertreter, wenn er nach Maßgabe des Sozialabkommens tätig war. Einem Rat, der seine Aufgaben unter Ausschluss des britischen Regierungsvertreters wahrnimmt, kann aber keine vollständige Identität mit dem Rat der Europäischen Gemeinschaft zuerkannt werden. 2 3 7 Das Gemeinschaftsorgan, das sich rechtsetzend der erweiterten Handlungsermächtigungen des Sozialabkommens bediente, war demnach ein anderes als die in Art. 5 EU bezeichnete Gemeinschaftsinstitution. Die Inanspruchnahme der in den Ziffern 1 und 2 Sozialprotokoll ausgesprochenen Ermächtigung führte daher in der ersten Säule der Europäischen Union zur Koexistenz ähnlicher, aber nicht identischer Organe. Dies deutet auf eine Beschränkung und Verletzung des Grundsatzes des einheitlichen institutionellen Rahmens hin. cc) Die Vereinbarkeit mit der Zielsetzung des Unionsprinzips Zur Vereinbarkeit mit diesem Unionsprinzip könnte dagegen eine teleologische Auslegung des Art. 3 Abs. 1 EU führen. Schließlich ist die Einheitlichkeit des institutionellen Rahmens im Hinblick auf die ihm zukommende Funktion als zielorientiertes Prinzip zu verstehen. 238 Die Einheitlichkeit des institutionellen Rahmens bezweckt Art. 3 Abs. 1 EU zufolge, „die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen [der Union] zur Erreichung ihrer Ziele unter gleichzeitiger Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes [sicherzustellen]". Sie zielt demnach darauf ab, das Unionshandeln in den verschiedenen Säulen konzeptionsgeleitet zu koordinieren und den acquis communautaire vor Hemmnissen und Rückschritten zu bewahren. 239 Soll die angeordnete Organidentität aber bezwecken, 237

Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 137 führt zu Recht aus: „Der Rat der Elfergemeinschaft ist nicht der Rat der Gemeinschaft." Vgl. auch Kampmeyer, S. 120. 238 Vgl. Blanke, in Calliess/Ruffert, Art. 3 EUV Rdnrn. 3 ff.; Hatje, in Schwarze, Art. 3 EUV Rdnr. 5. 239 Vgl. Hilf, in Magiera/Siedentopf, S. 207; Zuleeg, EuR - Beiheft 2 - 1998, S. 151, 154.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

das Tätigwerden der EU-Handlungsträger dergestalt zielorientiert aufeinander abzustimmen, so muss hinterfragt werden, ob diesem Zweck durch das Sozialprotokoll überhaupt zuwidergehandelt wurde oder ob ihm hierdurch nicht umgekehrt entsprochen wurde. Nimmt ein Mitgliedsland aus Gründen nationaler Politik für sich in Anspruch, von den Rechtspflichten der weiteren Vergemeinschaftung eines gesamten Politikbereichs umfassend und dauerhaft ausgenommen zu werden, so ist der Ausschluss seiner Interessensvertreter im gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren als sachlogische Konsequenz zu begreifen. Eine unbeschränkte Mitgestaltungsbefugnis des britischen Ratsvertreters an den sozialpolitischen Entscheidungen, denen Großbritannien für sein Hoheitsgebiet jegliche Geltung versagt hatte, wäre für die übrigen Mitgliedstaaten nicht akzeptabel gewesen. 240 Als Alternative zu der in den Ziffern 1 und 2 Sozialprotokoll vorgesehenen Inanspruchnahme eines in seiner Zusammensetzung modifizierten Rats kam daher lediglich die Schaffung eines gänzlich eigenständigen institutionellen Gefüges seitens der Abkommenstaaten in Betracht. Dies wäre aber aus Sicht der Unionsziele gegenüber einem Rückgriff auf den institutionellen Rahmen der EU nachteilig gewesen. 241 Schließlich sind die auf die gemeinschaftlichen Belange verpflichteten Gemeinschaftsorgane Garant dafür, dass sich das Tätigwerden einer Pioniergruppe an den Zielen der Europäischen Union und nicht allein an den Interessen der beteiligten Mitgliedstaaten ausrichtet. Überdies bilden die Gemeinschaftsinstitutionen im Rahmen dieses vertragsintern differenzierten Vorgehens „institutionelle Brücken", die es den Teilnehmer- und Nichtteilnehmerstaaten der europäischen Avantgarde ermöglicht, ihre jeweiligen Interessen zu Gehör zu bringen und ihr Verhalten aufeinander abzustimmen. 2 4 2 Sie werden entsprechend der Kohärenzverpflichtung des Art. 3 EU darum bemüht sein, ein harmonisches Zusammenspiel der auf den unterschiedlichen Integrationsebenen unternommenen Aktionen zu fördern 2 4 3 und die Nichtteilnehmerstaaten letztlich auf eine Beteiligung an der höheren Integrationsstufe hinzuführen. 244 Der Zweck des Grundsatzes des einheitlichen institutionellen Rahmens, unabgestimmtes, widersprüchliches oder sich konterkarierendes Unionshandeln zu vermeiden, wird durch den Rückgriff auf das teils modifizierte gemeinschaftliche institutionelle Gefüge daher nicht geschmälert, sondern umgekehrt gefördert. 245 Dem genannten Unionsprinzip wird insoweit durch 240

Vgl. Huber, EuR 1996, S. 347, 359. Vgl. Burón , RVAP 1999, S. 209, 217; Der Club von Florenz, S. 149 ff.; Pechstein/König, Kap. 8 Rdnrn. 16 ff. 242 Vgl. Burón, RVAP 1999, S. 209, 217; Der Club von Florenz, S. 149 f. 243 Vgl. Der Club von Florenz, S. 150. 244 Vgl. Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnr. 19. 241

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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den Verzicht auf die Errichtung eines eigenständigen institutionellen Gefüges Rechnung getragen. 246 Der in den Ziffern 1 und 2 Sozialprotokoll ermöglichte Rückgriff einer mitgliedstaatlichen Pioniergruppe auf die Gemeinschaftsorgane ist daher mit Art. 3 Abs. 1 EU vereinbar. 247

b) Die Vereinbarkeit

des beschränkt geltenden Gemeinschaftsrechts

aa) Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Rechtseinheit Die Europäische Gemeinschaft ist als Rechtsgemeinschaft ausgestaltet. 248 In ihr leistet das Recht einen essentiellen Beitrag zur Integration. 249 Bedeutung und Wirkungskraft des Gemeinschaftsrechts in der durch die Gemeinschaftsverträge geschaffenen supranationalen Rechtsordnung sind aber davon abhängig, dass sich dessen Regeln im gesamten Gemeinschaftsgebiet einheitliche Geltung verschaffen können. 2 5 0 Der EGV macht deutlich, dass er auf eine einheitliche Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten abzielt. Die gemeinschaftliche Verordnung hat gem. Art. 249 EG „allgemeine Geltung ... und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat". Den Mitgliedstaaten ist es nur gemeinsam gestattet, die territoriale Geltung des Gemeinschaftsrechts zu modifizieren. 251 Nach Art. 220 EG ist allein der EuGH letztinstanzlich befugt, über die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu ent245 Ehlermann , EUI Working Paper, RSC Nr. 95/21, S. 24 führt zu Recht aus: „The respect of the principle of institutional unity requires in the first place that Member States which want to intensify integration and cooperation among themselves accept to operate through common institutions". Vgl. hierzu auch Ost, DÖV 1997, S. 495, 502. 246 Vgl. Kampmeyer, S. 121 f. 247 Vgl. Der Club von Florenz, S. 149 f.; Ehlermann, EUI Working Paper, RSC Nr. 95/21, S. 24; Kampmeyer, S. 121 f.; Ost, DÖV 1997, S. 495, 502; a.A. Curtin, CMLRev 1993, S. 17, 29; Hilf in Magiera/Siedentopf, S. 207, 213. 248 Vgl. EuGH, Gutachten 1/91 (EWR I), Slg. 1991-1, S. 6079, 6102: EWGV als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft". Vgl. hierzu ausführlich Zuleeg, NJW 1994, S. 545 ff. 249 Zur Bedeutung des „einigenden Bands des Rechts" für die Europäischen Gemeinschaft vgl. Zuleeg, NJW 1994, S. 545 ff.; Everting, CMLRev 1992, 1053, 1071 f. 250 Vgl. Hatje, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 7; Streinz, Europarecht Rdnr. 147; Langeheine, EuR 1983, S. 227, 240. 251 Dies folgt für die Bestimmungen des EGV aus Art. 48 und Art. 49 EU. Der Geltungsbereich des gemeinschaftlichen Sekundärrechts kann gegen den Willen eines Mitgliedstaats (im Wege von Mehrheitsentscheidungen im Rat oder durch Rechtsetzung der übrigen Gemeinschaftsorgane) gem. Art. 5 Abs. 1 EG nur dort modifiziert werden, wo eine primärrechtliche Handlungsermächtigung dies zulässt.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

scheiden, um so die Wahrung des Rechts zu sichern. 252 Dabei dient insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EG dazu, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. 253 In der Literatur herrscht Einigkeit, dass die angeführten Bestimmungen nur als positiv-rechtliche Belege eines darüber hinausgreifenden allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Rechtseinheit zu verstehen sind. 2 5 4 Auch der EuGH verweist in seiner Rechtsprechung auf dieses Grundprinzip, das er als Gebot der Gleichheit und der Solidarität in der Europäischen Gemeinschaft ansieht. 255 Gelangt das Gemeinschaftsrecht nicht unterschiedslos in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung, so wird das mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten gestört und die mitgliedstaatliche Solidaritätsverpflichtung grundsätzlich in Frage gestellt. 256 Auch die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht und die Gleichheit der Unionsbürger in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung können im Fall ungleichmäßiger Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen nicht mehr gewährleistet werden. 2 5 7 Aufgrund dieser elementaren Bedeutung ist der Grundsatz der Rechtseinheit ein „Herzstück der Gemeinschaftsrechtsordnung". 258 bb) Die Beschränkung durch das partielle Recht Die sozialpolitischen Vereinbarungen der Maastrichter Regierungskonferenz hatten zur Folge, dass der erweiterte acquis communautaire auf dem Gebiet der Sozialpolitik nicht in allen Mitgliedstaaten Geltung beanspruchte. Die Nutzung des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemein252

Vgl. EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 3, 25; EuGH, Rs. 314/85 (Foto-Frost), Slg. 1987, S. 4199, 4231. 253 So bereits EuGH, Rs. 166/73 (Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide), Slg. 1974, S. 33, 38; EuGH, Rs. 107/76 (Hoffmann-La Roche/Centrafarm), Slg. 1977, 957, 972. 254 Vgl. Hatje, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 7; Langeheine, EuR 1983, S. 227, 240; Oppermann, DVB1. 1994, S. 901, 906. Vgl. auch Nettesheim, in GS Grabitz, S. 447 ff. 255 Vgl. EuGH, Rs. 39/72 (Kommission/Italien), Slg. 1973, S. 101, 124; EuGH, Rs. 265/78 (Ferweda), Slg. 1980, S. 617, 628; EuGH, Gutachten 1/76 (Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt), Slg. 1977, S. 741, 759; Zugleich sieht der EuGH dieses Grundprinzip in Art. 10 EG verankert; vgl. EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251, 1270. 256 Vgl. EuGH, Rs. 39/72 (Kommission/Italien), Slg. 1980, S. 617, 628; EuGH, Gutachten 1/76 (Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt), Slg. 1977, S. 741, 759. 257 Vgl. EuGH, Rs. 94/71 (Schlüter), Slg. 1972, S. 307, 319 f.; EuGH, Rs. 39/72 (Kommission/Italien), Slg. 1973, S. 101, 124. 258 Oppermann, DVB1. 1994, S. 901, 906.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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schaft ohne britische Beteiligung führte zur Entstehung von Gemeinschaftsrecht, das in seinem Anwendungsbereich auf die Mitgliedstaaten beschränkt war, die sich an dem Sozialabkommen beteiligten. Die einheitliche Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts wurde damit Beschränkungen unterworfen, die sich als unzulässige Durchbrechungen und Verletzungen des Grundsatzes der Rechtseinheit darstellen könnten. Für die Vereinbarkeit von Sozialprotokoll und Sozialabkommen mit dem Grundsatz der Rechtseinheit wurde angeführt, dass das genannte Prinzip im Vorhinein auf keine unbeschränkte Verwirklichung angelegt ist, sondern vielmehr hinsichtlich seines Anspruchs auf eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts seit jeher Ausnahmen zugesteht. 259 Schließlich war der Grundsatz der Rechtseinheit seit Begründung der gemeinschaftlichen Rechtsordnung nie undurchbrochen verwirklicht, sondern durch Schutzklauseln, Ausnahmen, Befreiungen und Übergangsregelungen relativiert. 2 6 0 Allerdings lassen sich die herkömmlichen, in Umfang und Bedeutung nachrangigen Differenzierungen nicht mit jener umfassenden Sonderstellung vergleichen, die der Maastrichter Vertrag Großbritannien im Hinblick auf das erweiterte Recht der gemeinsamen Sozialpolitik zubilligte. Die Beschränkung des Sozialabkommens auf eine Gemeinschaft ohne das Vereinigte Königreich betraf einen Politikbereich in seiner Gesamtheit, der überdies aufgrund seiner Bedeutung für den zwischenstaatlichen Handel und den Wettbewerb auf dem gemeinsamen Markt als Kernbereich der Europäischen Integration anzusehen i s t . 2 6 1 Der Ausschluss Großbritanniens aus der erweiterten Sozialpolitik barg gerade die Gefahren, die das Gebot der Rechtseinheit abzuwenden bezweckt: Das Beharren der Regierung in London auf niedrigeren arbeits- und sozialrechtlichen Mindeststandards, das den britischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen sollte, 2 6 2 setzte sich dem Vorwurf eines sozialen Dumping auf Kosten der übrigen EU-Mitglieder aus und gefährdete die Solidarität in der Europäischen Union. 2 6 3 Zugleich wurde die Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten und die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der EU da259

Vgl. Kampmeyer, S. 183, Langeheine, EuR 1983, S. 228, 240. Vgl. Kampmeyer, S. 183. 261 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 2578; Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 139 f. 262 Ygi Erklärung des britischen Premierministers John Major zur Tagung des Europäischen Rats, abgegeben vor dem Unterhaus am 11. 12. 1991, gekürzt abgedruckt in Europa-Archiv 1992, D 101-105. 263 Hailbronner, in GS Grabitz FS, S. 125, 140 warf zu Recht die Frage auf: „Mit welchem Recht wird man von anderen Mitgliedstaaten die strikte Einhaltung des Vertragsrechts verlangen können, wenn für einige Mitgliedstaaten Sonderprivilegien gelten, die sich noch dazu in ökonomischen Wettbewerbsvorteilen auswirken können?" Ähnlich die Bedenken bei Huber, EuR 1996, S. 347, 357. 260

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

durch in Frage gestellt, dass sich die Gemeinschaft in eine sozialen Mindeststandards verpflichtete Elfergemeinschaft und eine vornehmlich an wirtschaftlichen Zielen orientierte Zwölfergemeinschaft aufzuspalten drohte. 2 6 4 Es ist daher festzustellen, dass die im Maastrichter Vertrag getroffenen sozialpolitischen Vereinbarungen eine elementare Relativierung des Grundsatzes der Rechtseinheit mit sich brachten, die ihrem Gewicht nach mit den bis dahin existierenden Beschränkungen dieses Grundprinzips nicht zu vergleichen war. 2 6 5 Infolgedessen kam ein Teil des Schrifttums zu dem Ergebnis, das Sozialprotokoll stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtseinheit dar. 2 6 6 Entsprechend wandte sich ein Teil der Literatur der Frage zu, ob den Mitgliedstaaten bei Vertragsänderungen Grenzen gezogen seien, die durch die im Maastrichter Vertrag verankerten sozialpolitischen Vereinbarungen überschritten worden waren. 2 6 7

cc) Die Rechtfertigung durch Überwindung des Integrationsstillstands Die Mitgliedstaaten sind aber unabhängig von ihrer im Einzelnen strittigen Stellung als „Herren der Verträge" 268 zu elementaren Beschränkungen des Grundsatzes der Rechtseinheit befugt, falls sie sich hierbei in den Dienst der Ziele des EG-Vertrags stellen. 269 Denn dieses Rechtsprinzip stellt keinen Selbstzweck dar, sondern muss sich der Erfüllung der vertraglichen Ziele unterordnen. 270 Ist ein Fortschritt im Sinne einer harmonischen Integrationsentwicklung unter Verweis auf den Grundsatz der Rechtseinheit nicht zu ver264

Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 52; Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 139 f. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Folgen der uneinheitlichen Geltung der Richtlinie über den Elternurlaub für Erziehende in der EU. Vgl. hierzu „opt-out means UK parents lose out", in Labour Research 01/1996, S. 15 ff. 265 Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 52; Ringler, S. 192. 266 Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 51 f.; Everling, CMLRev 1992, S. 1053, 1066; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 186; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 217. 267 Vgl. Coen, EuZW 1995, S. 50, 51 f.; Huber, EuR 1996, S. 356; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 186; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 218 ff. 268 Mit der Bezeichnung der EU-Mitglieder als „Herren der Verträge" wird die vorherrschende Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedstaaten die Gemeinschaftsverträge als völkerrechtliche Abkommen abgeschlossen haben und damit auch in der weiteren Entwicklung des Integrationsprozesses befugt bleiben, das Gemeinschaftsrecht nach herkömmlichen völkerrechtlichen Grundsätzen (vgl. Art. 54 lit. b) WVÜ) ihrem Belieben nach abzuändern. Vgl. hierzu Cremer, in Calliess/Ruffert, Art. 48 EUV Rdnrn. 4 ff. m. w. N. Zur Gegenansicht, die von einem veränderungsfesten Kern des Gemeinschaftsrechts ausgeht, Vedder/Folz, in Grabitz/ Hilf, Art. 48 EUV Rdnrn. 14 ff. m.w.N. 269 Vgl. Becker, S. 76 f.; Kampmeyer, S. 192 f. 270 Vgl. Becker, S. 76 f.; Constantineso RtDE 1997, S. 751, 753; Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnr. 11.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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wirklichen, so darf dieser nicht entgegen den Notwendigkeiten des politischen Prozesses für unantastbar erklärt werden. 271 Vielmehr können die Mitgliedstaaten zulässigerweise auch grundlegend von ihm abweichen, wenn sich das vertragliche Ziel einer weiteren Vertiefung der Europäischen Integration 2 7 2 in einer Europäischen Union fortlaufend wachsender Heterogenität nicht anders verwirklichen lässt. 273 Es ist in diesem Fall Aufgabe der Mitgliedstaaten, zwischen dem Grundsatz der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts und der erstrebten Erweiterung des gemeinschaftlichen Besitzstands im Einzelfall abzuwägen. 274 Dabei ist angesichts des politischen Charakters dieser Grundentscheidung davon auszugehen, dass den Mitgliedsländern ein weiter Ermessensspielraum zugebilligt i s t . 2 7 5 In Maastricht diente der in Form von Sozialprotokoll und Sozialabkommen gefundene Ausweg aus den festgefahrenen Verhandlungen dazu, eine Blockade des Integrationsprozesses zu überwinden und einem voraussehbaren Ausweichen auf herkömmliche Formen völkerrechtlicher Zusammenarbeit außerhalb des Unionsrahmens zuvorzukommen. 276 In ihrem Dilemma zwischen Stagnation bei Wahrung des Grundsatzes der Rechtseinheit und gemeinschaftsrechtlicher Fortentwicklung um den Preis der Beschränkung dieses Grundprinzips haben sich die Mitgliedstaaten im Vertrag über die Europäische Union für die letztgenannte Möglichkeit entschieden. 277 Dabei deuten sowohl der durch das Sozialabkommen erzielte Integrationsfortschritt als auch der sich schließlich als vorübergehend erweisende Ausschluss Großbritanniens darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Abwägungsentscheidung die einzubeziehenden Belange gebührend gewichtet haben. Die EU-Mitgliedsländer machten daher in Maastricht zulässigerweise von ihrer Befugnis Gebrauch, den Grundsatz der Rechtseinheit hinter das vertragliche Ziel einer Vertiefung der Europäischen Integration zurücktreten zu lassen. 278 271 Vgl. Kampmeyer , S. 200 f. Vgl. auch Shaw , in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 85, 106: ,,[T]he ,constitution' of the EU is an evolving rather than a fixed entity, with even the most basic principles still capable of redefinition". 272 Zum Vertragziel der Herstellung „einer immer engeren Union der Völker Europas" und der vertraglich formulierten Absicht, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen", vgl. Art. 1 Abs. 2 EU sowie die Präambel EG. 273 Vgl. Becker, S. 76 f.; Kampmeyer, S. 192 f. 274 Vgl. Becker, S. 76 f.; Kampmeyer, S. 192. 275 Vgl. Becker, S. 76. Zur gebotenen Zurückhaltung des EuGH in Fragen politischer Gestaltung Schwarze, in Schwarze, Art. 220 EGV Rdnr. 32. 276 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 366; Kampmeyer, S. 192 f. 277 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 366. 278 Vgl. Becker, S. 76 f.; Constantineso RtDE 1997, S. 751, 753; Kampmeyer, S. 192 f.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

2. Die Folgeprobleme der Schaffung eines partiellen acquis communautaire Folge der erweiterten, in ihrem Geltungsbereich aber auf die Gemeinschaft der Abkommenstaaten beschränkten Handlungsbefugnisse des Sozialabkommens war die fortschreitende Herausbildung eines gesonderten acquis communautaire, der neben den gesamtgemeinschaftlich geltenden Besitzstand trat. Die aus dieser Koexistenz zweier gemeinschaftlicher Rechtsgebilde unterschiedlichen territorialen Geltungsumfangs folgenden Problemstellungen wurden erstmals zum Gegenstand eingehender Erörterungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur. 2 7 9 Dabei kritisierte das Schrifttum vornehmlich, dass sich die beiden sozialpolitischen Besitzstände voneinander unabhängig fortentwickeln würden, was die Kluft zwischen Großbritannien und den übrigen Mitgliedstaaten weiter vergrößern könne. 2 8 0 In diesem Zusammenhang wurden insbesondere einem nicht abgestimmten Tätigwerden des EuGH auf den beiden Integrationsstufen nachteilhafte Wirkungen zugeschrieben. 281 Da ein Gleichlauf der Auslegungsmaßstäbe in den mit verschiedener Geschwindigkeit vorangetriebenen gemeinschaftlichen Arbeits- und Sozialrechtsordnungen nicht auf Dauer zu gewährleisten werden könne, sei mit der unterschiedlichen Interpretation gleichlautender Begriffe und auf längere Sicht mit der Herausbildung abweichender rechtlicher Grundprinzipien zu rechnen. 282 Daneben wurden Befürchtungen laut, dass die Koexistenz zweier gemeinschaftlicher Besitzstände im Falle von Überlagerungen und Kollisionen zu widersprechenden gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und somit zu Rechtsunsicherheit in der Gemeinschaft führen werde. 2 8 3 Tatsächlich ließ sich ein Eintritt dieser befürchteten Auswirkungen während der Gültigkeit des Sozialprotokolls nicht verifizieren. 284 Weder kam es zu Kollisionen zwischen gesamtgemeinschaftlichem und partiellem 279 Vgl. hierzu Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 139 f.; Koenig, EuR 1994, S. 175, 188 ff.; Pechstein/Koenig, Kap. 8, Rdnrn. 16 ff.; Ringler, S. 198 f.; Schuster, EuZW 1992, S. 178, 185 ff.; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 213 ff. 280 Vgl. Koenig, EuR 1994, S. 175, 188 ff.; Ringler, S. 198 f.; Steinmeyer, RdA 2001, S. 10, 13. 281 Vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 179, 186; Wank, RdA 1995, S. 10, 17; Whiteford, ELR 1993, S. 202, 214 ff. 282 Vgl. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 139; Schuster, EuZW 1992, S. 179, 186. 283 Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 53. 284 Shaw, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 85, 104 stellt diesbezüglich fest: „The potential difficulties generated by the Social Policy Agreement remain mere speculation, as no legal challenges have so far arisen which raise this issue." Vgl. hierzu auch Solis, S. 45.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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Recht, 2 8 5 noch ergingen Entscheidungen des EuGH, die den sozialpolitischen acquis der Abkommenstaaten richterrechtlich fortentwickelt und damit vom gesamtgemeinschaftlichen Besitzstand entfremdet hätten. 2 8 6 Die Koexistenz der beiden gemeinschaftlichen Besitzstände warf in der Praxis letztlich nur zwei Problemstellungen auf. Zum einen musste das Rangverhältnis zwischen den konkurrierenden Rechtsetzungsgrundlagen des EGV einerseits und des Sozialabkommens andererseits geklärt werden. Zum anderen stand die Frage im Raum, ob der erweiterte partielle acquis communautaire dem Rechtsbestand hinzuzurechnen sei, der von EU-Beitrittskandidaten zu übernehmen ist. a) Die Konkurrenz

der sozialpolitischen Rechtsetzungsermächtigungen

Nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht standen dem Gemeinschaftsgesetzgeber in der gemeinsamen Sozialpolitik „zwei eigenständige und sich ergänzende Rechtsgrundlagen" zur Verfügung. 287 Sozialpolitische Richtlinien ließen sich einerseits auf den für alle Mitgliedstaaten geltenden EG-Vertrag stützen, wodurch sich ihr räumlicher Geltungsbereich nach Art. 227 EGV (Art. 299 EG) bestimmte. Andererseits konnten sie auf Grundlage der Handlungsermächtigungen des Sozialabkommens ergehen, was die Vorteile der Nutzungsmöglichkeit erweiterter Gemeinschaftskompetenzen und der erleichterten Beschlussfassung im Rat mit sich brachte, zugleich aber bedeutete, dass kein Handeln für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten möglich war. Da die Kompetenzgrundlagen von EGV und Sozialabkommen auch zum Erlass inhaltsgleicher Rechtsakte ermächtigten, traten sie gezwungenermaßen in ein Konkurrenzverhältnis zueinander. 288 In der gemeinschaftlichen Rechtsetzungspraxis musste daher die Frage nach ihrem Rangverhältnis beantwortet werden, was zugleich eine Aussage über den Vorrang der partiellen oder der gesamtgemeinschaftlichen Integrationsmethode implizierte. 285 Für einen Kollisionsfall hätten die Präambeln von Sozialprotokoll und Sozialabkommen eine eindeutige Kollisionsregel zugunsten des für alle Mitgliedstaaten geltenden acquis communautaire bereitgehalten. 286 Vgl. Steinmeyer, RdA 2001, S. 10, 13. 287 Kommission, Mitteilung über die Anwendung des Protokolls über die Sozialpolitik, KOM (93) 600, 8. 288 Inhaltsgleiche Rechtsgrundlage fanden sich zum einen in Art. 118a EGV, der wie Art. 2 Abs. 1 Spgstr. 1 Sozialabkommen auf die Verbesserung der Arbeitsumwelt im Interesse der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer abzielte. Zum anderen konnte anstatt auf das Sozialabkommen auf die allgemeinen Rechtsgrundlagen des EGV zurückgegriffen werden. Insbesondere auf Grundlage der Art. 100 und 235 EGV (Art. 94 und 308 EG) waren in der Vergangenheit eine Vielzahl sozialpolitischer Maßnahmen ergangen. 6 Kellerbauer

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Dem Sozialprotokoll war zu dieser Vorrangfrage lediglich in seiner Präambel zu entnehmen, dass „die Bestimmungen [des EGV], welche die Sozialpolitik betreffen und Bestandteil des gemeinschaftlichen Besitzstands sind, [durch das Sozialprotokoll und das Sozialabkommen] nicht berührt werden". Hieraus folgte, dass die Handlungsermächtigungen des EGV durch die des Sozialabkommens nicht verdrängt wurden, obgleich unter Rückgriff auf die herkömmlichen Verfahren die in den Art. 2 bis 4 Sozialabkommen vorgeschriebene Einbeziehung der Europäischen Sozialpartner umgangen werden konnte. 2 8 9 Eine grundsätzlicher Vorrang der Rechtsetzungsgrundlagen des EGV ließ sich der Formulierung dagegen nicht entnehmen. Dennoch ging die herrschende Meinung in der Literatur von einem ultima-ratio-Gebot zugunsten einer Rechtsetzung mit Gültigkeit für die Gesamtheit der EG-Mitgliedstaaten aus. 2 9 0 Für diesen Vorrang lässt sich anführen, dass ein gesamtgemeinschaftliches Vorgehen der in EGV und EUV formulierten Absicht, eine immer engere Union aller Mitgliedstaaten zu errichten, 2 9 1 ebenso besser gerecht wird wie der im Gemeinschafts vertrag zum Ausdruck gebrachten Entschlossenheit, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Mitgliedstaaten durch ein „gemeinsames Handeln" zu sichern. 292 Auch Art. C Abs. 1 EUV (Art. 3 Abs. 1 EU), der zur „Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstands" aufruft, lässt sich für einen Vorrang der Rechtsgrundlagen des EGV ins Feld führen. 293 Des Weiteren stehen die einen einheitlichen und gemeinsamen Integrationsfortschritt fordernden gemeinschaftsrechtlichen Grundprinzipien einer gemeinsamen Sozialpolitik unterschiedlicher Integrationsstufen entgegen, falls ein differenziertes Vorgehen für die Überwindung von Integrationsblockaden nicht notwendig i s t . 2 9 4 Schließlich lässt sich zur Beschränkung 289

Zur Möglichkeit der Umgehung der Europäischen Sozialpartner durch Rückgriff auf die herkömmlichen Rechtsgrundlagen des EGV vgl. Schuster, EuZW 1992, S. 178, 187; Wank, RdA 1995, S. 10, 23. 290 Vgl. Buchner, RdA 1993, S. 193, 198; Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 132; Kenner, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 108, 110; Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnr. 18; Wank, RdA 1995, S. 10, 23; a.A. Schuster, EuZW 1992, S. 178, 187: Kein grundsätzlicher Vorrang der Kompetenzgrundlagen des EGV. 291 Vgl. die Präambeln des EUV und des EGV. 292 So bereits Weis, EuR 1977, S. 278 ff., unter Berufung auf EuGH, Gutachten 1/76 (Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt), Slg. 1977, S. 741. Ähnlich Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1288: ,,[T]he goals of the Treaty establish a sort of presumption in favor [sic] of uniformity". Vgl. hierzu auch Langeheine, S. 71 f. 293 Nichts deutet darauf hin, dass Art. 3 EU einen gemeinschaftlichen Besitzstand meint, der in seiner Geltung auf eine europäische Avantgarde beschränkt ist. Vgl. hierzu Pechstein/Koenig, Kap. 8 Rdnrn. 16 ff. 294 Vgl. Ehlermann, EUI Working Paper RSC Nr. 95/21, S. 14 f.; Kampmeyer, S. 129.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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dieser Grundsätze dort keine Rechtfertigung finden, wo alle Mitgliedstaaten in die Rechtsetzung einbezogen werden können. 2 9 5 Für einen Nachrang der Rechtsetzungsermächtigungen des Sozialabkommens sprachen daher das Prinzip der Rechtseinheit, 296 der Grundsatz der Wettbewerbsgleichheit in OQH OQR der Gemeinschaft und das Prinzip der mitgliedstaatlichen Solidarität. Eine rechtliche Klärung durch den EuGH erfuhr die Vorrangfrage während der Geltung des Sozialabkommens nicht. Daher blieb die Entscheidung über die Rangfolge der Kompetenzgrundlagen der Praxis überlassen, wobei der Vorgehensweise der für die Gesetzesinitiativen verantwortlichen Kommission vorrangige Bedeutung zukam. Die Kommission wandte sich zunächst gegen einen allgemeinen Vorrang des EG-Vertrags, indem sie bekannt gab, sie werde je nach Einzelfall unter Berücksichtigung grundsätzlicher Erwägungen entscheiden, auf welche Kompetenzgrundlage zurückzugreifen ihr vorzugswürdig erscheine. 299 Tatsächlich war aber zu beobachten, dass sie stets darum bemüht war, sozialpolitische Rechtsakte auf eine Handlungsermächtigung des EGV zu stützen, bevor sie eine Initiative auf Grundlage des Sozialabkommens einbrachte. 300 Auch bei den Mitgliedstaaten machte sich aus Sorge um eine Perpetuierung der sozialpolitischen Spaltung der EU ein deutliches Misstrauen gegenüber einer intensiven Inanspruchnahme der zusätzlichen Rechtsgrundlagen bemerkbar. 301 Obgleich bei Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht eine Vielzahl vorgeschlagener sozialpolitischer Richtlinien blockiert im Ministerrat lag, bevorzugten die Mitgliedstaaten mehrheitlich den mühsameren Verhandlungsweg, der unter Einbeziehung Großbritanniens auf eine Verpflichtung der Gesamtheit der 295

S. 129. 296

Vgl. Ehlermann, EUI Working Paper RSC Nr. 95/21, S. 14 f.; Kampmeyer,

Siehe hierzu oben, Teil 1 B.III.l.b). Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 2578; Coen, EuZW 1995, S. 50, 52; Ost, DÖV 1997, S. 495, 502. 298 Sowohl die Präambel des EUV als auch Art. 2 EG bezeichnen die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten als Grundlage der Europäischen Union. Zum Solidaritätsprinzip im Unions- und Gemeinschaftsrecht Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, S. 185 ff.; Ukrow, in Calliess/Ruffert, Art. 2 EGV Rdnr. 24. Zur Beeinträchtigung dieses Prinzips durch die Differenzierung in der Maastrichter Sozialpolitik Hailbronner, in GS Grabitz FS, S. 125, 140; Kampmeyer, S. 129; Koenig, EuR 1994, S. 175, 184. 299 Vgl. die Mitteilung der Kommission über die Anwendung des Protokolls über die Sozialpolitik, KOM (93) 600, 8. Als zu berücksichtigende Erwägungen nannte sie insbesondere die Art des Vorschlags, den Standpunkt der Sozialpartner, die Absicht, allen Arbeitnehmern in der Gemeinschaft die Bestimmungen zugute kommen zu lassen und die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens aller Mitgliedstaaten. 300 Vgl. Falkner, in Breuss/Griller, S. 79, 93; Ringler, S. 190. 301 Vgl. Barnard, in de Bùrca/Scott, S. 197, 203; Steinmeyer, RdA 2001, S. 10, 13. 297

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

EU-Mitglieder abzielte. 302 Trotz einer fehlenden ausdrücklichen vertraglichen Normierung wurde somit für die Gemeinschaftspraxis eine ultimaratio-Regel zum Nachteil der Kompetenzgrundlagen des Sozialabkommens maßgeblich. b) Die Bedeutung des partiellen Rechts für EU-Kandidatenländer Keine ausdrückliche Regelung traf das Sozialprotokoll über die Bedeutung des nur für die Abkommenstaaten geltenden sozialpolitischen Gemeinschaftsrechts im Fall einer Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die Europäische Union. Der Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens während der Geltungsdauer der sozialpolitischen Differenzierung warf die Frage auf, ob die Pflicht zur Übernahme des acquis communautaire auch den Sonderacquis des Sozialabkommens umfassen werde. Hiergegen sprach die Anordnung in der Präambel von Sozialabkommen und Sozialprotokoll. Ihr zufolge sollte der gesamtgemeinschaftliche Besitzstand von den beiden sozialpolitischen Vereinbarungen unberührt bleiben. Gegen eine Übernahmeverpflichtung ließ sich auch die in Maastricht gewählte Differenzierungskonstruktion anführen. Die Maastrichter Vertragsparteien hatten sich auf ein Opt-in der elf Abkommenstaaten geeinigt, nachdem der Vorschlag eines Opt-out Großbritanniens nicht die Zustimmung der britischen Regierung gefunden hatte. Folglich war die Europäische Gemeinschaft auf dem bis dahin erzielten Integrationsniveau des Titels V I I I EGV stehen geblieben. Dieser Integrationsstand musste für die Verhandlungen zum Beitritt zur Europäischen Union maßgeblich sein und nicht die auf ein gesondertes Abkommen gestützte Integrationsvertiefung eines Teils der Mitgliedstaaten. Zum Streitpunkt wurde das beschriebene Rechtsproblem freilich nicht. Bei der Aufnahme Österreichs, Finnlands und Schwedens in die Europäische Union wurde die Mitunterzeichnung des Sozialabkommens allgemein akzeptiert, ohne dass über eine Verpflichtung zur Übernahme des erweiterten sozialpolitischen Besitzstands Streitfragen entbrannt wären. 3 0 3

IV. Die Beendigung der sozialpolitischen Differenzierung Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik ist die einzige teilnahmebezogene Differenzierungsform im bisherigen Integrationsprozess, die durch das vollständige Aufschließen aller zurückbleibenden Mitglied302

Vgl. Falkner, in Breuss/Griller, S. 79, 92 f. 303 ygi de Zwaan, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 1998, S. 107, 117.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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Staaten zu einer Wiederherstellung der gemeinschaftlichen Rechtseinheit führte. Sie bietet Gelegenheit, die Beweggründe der Entscheidung Großbritanniens für ein Aufschließen zu den übrigen Mitgliedstaaten zu hinterfragen und die rechtlichen Probleme einer Zusammenführung der zwischenzeitlich getrennten gemeinschaftlichen Besitzstände darzustellen. 1. Der britische „Beitritt" zum Sozialabkommen Bei den britischen Parlamentswahlen am 1. Mai 1997 erzielte die Labour Party einen Wahlsieg und erlangte eine deutliche parlamentarische Mehrheit. Die neue Regierung unter Premierminister Tony Blair versprach einen Wandel in der nationalen Sozialpolitik und bekannte sich zu den erweiterten europäischen Sozialvorschriften, die nun als vernünftiges Gleichgewicht zwischen sozialer Verantwortung und wirtschaftlicher Effizienz betrachtet wurden. 3 0 4 Infolge der veränderten britischen Position konnte auf dem Europäischen Gipfel in Amsterdam am 16. und 17. Juni 1997 beschlossen werden, das Abkommen über die Sozialpolitik in den EGV zu integrieren und diesem für die Gesamtheit der EU-Mitgliedstaaten Wirksamkeit zu verleihen. 305 Die Vorschriften des Sozialabkommens wurden teilweise modifiziert in Art. 117 ff. EGV eingearbeitet und sind nun im 1. Kapitel des neuen Titels X I „Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend" enthalten. 3 0 6 Gleichzeitig verfügte der Vertrag von Amsterdam in seinem Art. 2 Ziffer 58 die Aufhebung von Sozialprotokoll und Sozialabkommen. Die in der Gemeinschaft geltenden Sozialbestimmungen wurden damit konsolidiert, die Situation konkurrierender Rechtsgrundlagen beseitigt. Die erweiterten gemeinschaftlichen Handlungsbefugnisse gelten seit dem 1. Mai 1999 auch für das Vereinigte Königreich. 2. Die Ausweitung der beschränkt geltenden Richtlinien Großbritannien erklärte auch seine Zustimmung zu den bereits auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Richtlinien sowie zu allen weiteren Maßnahmen, die vor Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam auf das Abkommen gestützt würden. 3 0 7 304

Vgl. Falkner, in Breuss/Griller, S. 79, 92 f. Vgl. Europäischer Rat von Amsterdam vom 16./17. 6. 1997, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEU 6-1997, Z. 1.8.13. 306 Zu den neuen Vorschriften eingehend Steinmeyer, RdA 2001, S. 10, 11 ff. 307 Vgl. Europäischer Rat von Amsterdam 16./17. 6. 1997, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEU 6-1997, Z. 1.8.13. 305

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Mangels einer Beitrittsklausel zugunsten des Vereinigten Königreiches war eine Ausweitung der auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Sekundärrechtsakte aber nur im Wege eines erneuten Erlasses möglich. Sog. „Ausdehnungsrichtlinien" verschafften dem partiellen Recht im Vereinigten Königreich Geltung. 3 0 8 Sie wurden auf Art. 100 EGV (Art. 94 EG) gestützt, unter dem Hinweis, dass die für Großbritannien nicht geltenden sozialpolitischen Richtlinien unmittelbar nachteilhafte Auswirkungen auf das Funktionieren des Gemeinsamen Markts hätten. 309 Noch vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags brachte die Kommission die entsprechenden Richtlinienvorschläge ein, die schnell und reibungslos das Rechtsetzungsverfahren passierten. 310 Im Hinblick auf die Signalwirkung für spätere Differenzierungen ist hervorzuheben, dass eine Neuverhandlung der auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Maßnahmen nicht stattfand. Diese wurden vielmehr inhaltlich unverändert in ihrem Anwendungsbereich um das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs erweitert, wobei man der Regierung in London eine Frist von 2 Jahren zur Umsetzung einräumte. 311 Großbritannien gelang es nicht, seinen Beitritt von Bedingungen abhängig zu machen, die einen nachträglichen Einfluss auf das entstandene Recht ermöglicht hätten. Obgleich sich damit die Modifikation der auf das Sozialabkommen gestützten Richtlinien auf eine bloße Ausweitung ihres Geltungsbereichs beschränkte, ließen sich auch in deren angestammten Wirkungskreis Konsequenzen für die Rechtsanwendung nicht vermeiden. Dies lässt sich an der Europäischen Betriebsratsrichtlinie aufzeigen, die gemeinschaftsweit grenzüberschreitend operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen die Einrichtung einer Arbeitnehmervertretung aufträgt, welche die Arbeitnehmerinteressen bei länderübergreifenden Belangen vertreten soll. 3 1 2 Solange das Vereinigte Königreich vom Geltungsbereich dieser Richtlinie ausgenom308 Dies waren die Richtlinie 97/74/EG vom 15. 12. 1997, ABl. EG 1998 Nr. L 10/22, zur Ausdehnung der Betriebsratsrichtlinie; die Richtlinie 97/75/EG vom 15. 12. 1997, ABl. EG 1998 Nr. L 10/24, zur Ausdehnung der Richtlinie über den Elternurlaub; die Richtlinie 98/23/EG vom 7. 4. 1998, ABl. EG 1998 Nr. L 131/10, zur Ausdehnung der Richtlinie 97/81/EG sowie die Richtlinie 98/52/EG vom 13. 7. 1998, ABl. EG 1998 Nr. L 205/66, zur Ausdehnung der Richtlinie 97/80/EG. 309 Vgl. etwa die vierte Begründungserwägung der Richtlinie 98/52/EG des Rats vom 13. 7. 1998, ABl. 1998 Nr. L 205/66 zur Ausdehnung der Richtlinie 97/80/ EG. 310 Vgl. Solis, S. 45, Fn. 150. 311 Die Ausdehnungsrichtlinie 97/74/EG vom 15. 12. 1997 verpflichtete Großbritannien beispielsweise dazu, die Betriebsratsrichtlinie bis zum 15. 12. 1999 zu implementieren. 312 Zur Europäischen Betriebsratsrichtlinie und deren Umsetzung in den Mitgliedstaaten eingehend Schiek, RdA 2001, S. 218 ff.; Kolvenbach, NZA 2000, S. 518 ff.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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men war, wurden die in Großbritannien beschäftigten Arbeitnehmer nicht berücksichtigt, wenn es nach Art. 2 Abs. 1 lit. 1 der Betriebsratsrichtlinie zu ermitteln galt, ob ein Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe als „gemeinschaftsweit operierend" in ihren Anwendungsbereich f i e l . 3 1 3 Die Erweiterung des Wirkungsbereiches der Betriebsratsrichtlinie wirkte sich daher nicht nur auf die in Großbritannien ansässigen wirtschaftlichen Akteure aus. Vielmehr unterlagen infolge der Ausdehnung zugleich weitere kontinentaleuropäische Unternehmen und Unternehmensgruppen, die im Vereinigten Königreich Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften besaßen, der rechtlichen Verpflichtungen zur Einrichtung eines Betriebsrats. Die Ausweitung des partiellen acquis communautaire auf Großbritannien verursachte hierdurch Rückwirkungen auf die bereits an der Integrationsvertiefung beteiligten Abkommenstaaten. 314 Trotz dieses Umstellungsaufwands gelang durch den Vertrag von Amsterdam eine „rückstandslose" und damit zufriedenstellende Beseitigung der Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik, sodass die sich zunächst als dauerhaft darstellende Durchbrechung der gemeinschaftlichen Rechtseinheit einen „glücklichen Ausgang" fand. 3. Die Anziehungswirkung der erweiterten Sozialpolitik auf Großbritannien Ausschlaggebender Faktor für die Beendigung der Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik war der durch den britischen Regierungswechsel bewirkte Kurswechsel in London. Für die vorliegende Untersuchung ist von Interesse, ob auch eine Fern- oder Anziehungswirkung der voraneilenden europäischen Pioniergruppe einen Einfluss auf die britische Beitrittsentscheidung genommen hat. Die anfänglichen Erwartungen und Befürchtungen wiesen zunächst in die umgekehrte Richtung. Infolge der beschränkten Geltung der im Sozialabkommen vereinbarten Sozial- und Arbeitsvorschriften wurde mit Wettbewerbsvorteilen für den britischen Produktionsstandort gerechnet, die dem Vereinigten Königreich als Nutznießer eines „sozialen Dumping" die Vor313

Die Pflicht zur Einrichtung europäischer Betriebsräte obliegt nach der Betriebsratsrichtlinie den Unternehmen und Unternehmensgruppen, die zumindest 1000 Arbeitnehmer in zumindest zwei verschiedenen Mitgliedstaaten der EU beschäftigen, wobei in mindestens zwei Betrieben bzw. Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer beschäftigt werden müssen. Großbritannien galt insoweit zunächst nicht als Mitgliedstaat. Vgl. hierzu Kolvenbach,, RdA 1994, S. 279, 282; Ruoff, BB 1997, S. 2478, 2479. 314 Den Abkommenstaaten musste durch die „Ausweitungsrichtlinie" 97/74/EG aufgegeben werden, ihre nationalen Vorschriften dem erweiterten Anwendungsbereich der Betriebsratsrichtlinie anzupassen. Vgl. Kilian, RdA 2001, S. 166, 167.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

zugswiirdigkeit seiner Sonderrolle vor Augen führen und die übrigen Mitgliedstaaten von der Untunlichkeit ihres Vorgehens überzeugen würde. 3 1 5 Tatsächlich machten die ohne Teilhabe Großbritanniens erlassenen und umgesetzten Richtlinien aber deutlich, dass die europäischen Volkswirtschaften so eng verflochten sind, dass das rechtliche Opt-out eines EU-Mitgliedstaats diesen keineswegs umfassend von den tatsächlichen Auswirkungen gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung freizustellen vermag. 3 1 6 Zur Illustrierung dieser Aussage kann erneut auf die europäische Betriebsratsrichtlinie Bezug genommen werden. Obgleich diese Richtlinie im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreiches nicht anwendbar war und vom House of Commons nicht in nationales Recht umgesetzt wurde, entfaltete sie für die Unternehmen auf der britischen Insel tatsächliche Auswirkungen, die nicht nennenswert hinter dem Umsetzungserfolg in der restlichen EU zurückblieben. 317 Denn zum einen waren auch die im Vereinigten Königreich ansässigen gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen dazu aufgefordert, für ihre in den übrigen Mitgliedstaaten befindlichen Vertretungen die Vorgaben der Betriebsratsrichtlinie zu befolgen. 3 1 8 Zum anderen orientierten sich viele der im Vereinigten Königreich ansässigen wirtschaftlichen Akteure auch hinsichtlich ihrer in Großbritannien beschäftigten Arbeitnehmer an der Betriebsratsrichtlinie, ohne hierzu gesetzlich verpflichtet zu sein. 3 1 9 Die Betriebe nahmen aufgrund der erwarteten Rechtsetzung in den übrigen Mitgliedstaaten mehrheitlich für die Gesamtheit ihrer Filialen die Möglichkeit in Anspruch, diejenigen freiwilligen Vereinbarungen 320 zu schließen, die sie von den aus der Richtlinie resultierenden Verpflichtungen freizustellen vermochten. 321 Einige Betrachter ka315

Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 140 erwartete einen „Pull-Effekt zum Nachteil anderer Mitgliedstaaten". Ein solcher machte sich während der Existenz der sozialpolitischen Differenzierung nicht bemerkbar. Vgl. hierzu Solis, S. 45. 316 Vgl. Barnard, in de Burca/Scott, S. 197, 203; Brinkmann, in Craig/Harlow, S. 239, 260; Ehlermann, EUI Working Paper RSC Nr. 95/21, S. 17; McGlynn, in Ehlermann, S. 85, 99. 317 Vgl. Brinkmann, in Craig/Harlow, S. 239, 260. 318 Aufgrund dieser Verpflichtung fiel trotz des britischen Opt-out bereits eine beachtliche Anzahl britischer Unternehmen und Unternehmensgruppen mit ihren kontinentaleuropäischen Zweigniederlassungen bzw. Tochtergesellschaften in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Vgl. hierzu Kilian, RdA 2001, S. 166, 167; Kolvenbach, RdA 1994, S. 279, 282 f. 319 Vgl. Kilian, RdA 2001, S. 166, 167, Fn. 10. 320 Um ihre rasche Umsetzung zu gewährleisten, nahm Art. 13 der Betriebsratsrichtlinie Unternehmen und Unternehmensgruppen, in denen bereits eine Vereinbarung über eine Arbeitnehmervertretung bestand, von ihrem Anwendungsbereich aus, soweit die Vereinbarung vor der innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie in Kraft gesetzt werden konnte und sich die Beteiligten auf deren Fortgeltung verständigten. Vgl. hierzu Gaul, NJW 1995, S. 228, 231.

Β. Die Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik

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men schließlich zu dem Ergebnis, dass von den multinationalen Unternehmen, die potentiell in den Anwendungsbereich der Richtlinie fielen, gerade die britischen diejenigen waren, die von der geschilderten Option mit am häufigsten Gebrauch machten. 322 Ferner trug zur unionsweiten Geltung der Betriebsratsrichtlinie der Umstand bei, dass die Mehrheit der kontinentaleuropäisch ansässigen Unternehmen ihre Angestellten in den britischen Zweigstellen an den gebildeten Betriebsräten teilhaben ließen. 3 2 3 Demnach machte die Realität einer wirtschaftlich hoch integrierten Europäischen Gemeinschaft deutlich, dass sich ein einzelnes Mitgliedsland nur schwer den Wirkungen gemeinschaftlicher Rechtsetzung entziehen kann, falls diese Regeln mit Bedeutung für die gemeinschaftliche Wirtschaftsordnung aufstellt. Das Vereinigte Königreich geriet so in die missliche Lage, auf seinem Hoheitsgebiet von Gemeinschaftsrecht betroffen zu sein, an dessen inhaltlicher Ausgestaltung es infolge seines Opt-out nicht beteiligt gewesen war. Es entstand ein Ungleichgewicht zwischen der tatsächlichen Einwirkung der sozialpolitischen Richtlinien auf das britische Hoheitsgebiet und den fehlenden Einflussmöglichkeiten des britischen Ratsvertreters bei deren Erlass. Dieses ließ sich auch durch den späteren Beitritt zum Sozialabkommen nicht mehr beheben, da das bereits erlassene Recht ohne inhaltliche Neuverhandlungen auf das Vereinigte Königreich ausgeweitet wurde. Der britische „Beitritt" zu der erweiterten gemeinschaftlichen Sozialpolitik lag somit im wohlverstandenem Interesse des Vereinigten Königreichs. Er wurde durch eine Anziehungswirkung der voranschreitenden Pioniergruppe begünstigt.

V. Bewertung Die sozialpolitischen Vereinbarungen von Maastricht in Gestalt des Protokolls und des Abkommens über die Sozialpolitik dienten dazu, die festgefahrene Verhandlungssituation auf der Gipfelkonferenz in Maastricht zu überwinden. Die für das europäische Aufbauwerk als Ganzes wichtigen Fortschritte in Richtung einer sozialeren Union waren nur über einen Kompromiss zu erzielen, der es dem Mitgliedstaat Großbritannien erlaubte, eine weitergehende Integration im Sozialbereich für sein Hoheitsgebiet auszuschließen. Die rechtliche Umsetzung dieses Kompromisses war in mancherlei Hinsicht unausgereift. Die „Auslagerung" der Flexibilisierungskonstruktion in 321

Vgl. Kolvenbach, NZA 2000, S. 518, 525. Vgl. „EWCs Directive comes into force", in European Industrial Relations Review 1996, S. 11. 323 Vgl. Docksey/Séché/Curral , in Groeben/Thiesing/Ehlermann, nach Art. 122 Protokoll (Nr. 14) Rdnr. 35; Ruoff, BB 1997, S. 2478, 2479. 322

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

zwei gesonderte Vereinbarungen verursachte Unklarheiten im Hinblick auf ihre gemeinschaftsrechtliche Zuordnung. Auch widersprach der Ausschluss des britischen Vertreters von den Beratungen im Rat dem Ziel einer möglichst engen Einbindung Großbritanniens in das vertiefte sozialpolitische Integrationsniveau der an dem Sozialabkommen beteiligten Mitgliedstaaten. Ferner erschwerte das Fehlen einer Beitrittsklausel die Wiedereingliederung des Inselstaats in die erweiterte gemeinschaftsrechtliche Pflichtenstellung. Ungeachtet dessen bewies die Maastrichter Sozialpolitik als erstes Anwendungsbeispiel teilnahmebezogener Differenzierung, dass sich die Verfahren, Organe und Mechanismen des Gemeinschaftsvertrags zur Inanspruchnahme durch eine europäische Pioniergruppe eignen. Die Nutzung des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft ermöglichte es, den Abkommenstaaten das auf seine Effizienz erprobte gemeinschaftliche Handlungsinstrumentarium an die Hand zu geben. Durch Inanspruchnahme der Gemeinschaftsorgane konnte die Schaffung konkurrierender institutioneller Strukturen vermieden und die Abstimmung zwischen den Abkommenstaaten und Großbritannien erleichtert werden. Dabei realisierten sich die prognostizierten Gefahren einer abgestuften Sozialpolitik während der Geltungsdauer des Sozialprotokolls nicht. Dass Beeinträchtigungen des gemeinschaftlichen Gefüges unterblieben, war der Zurückhaltung bei den angeordneten institutionellen Modifikationen zu verdanken. Der Ausschluss britischer Repräsentanten machte vor dem Europäischen Parlament, der Kommission und dem EuGH Halt und ließ somit die Autorität und die supranationale Ausrichtung dieser Gemeinschaftsorgane unangetastet. Auch Wettbewerbsverzerrungen auf dem gemeinsamen Markt und Beeinträchtigungen der mitgliedstaatlichen Solidarität machten sich nicht bemerkbar. Zwar relativierte die britische Sonderstellung das Prinzip der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts in der gemeinsamen Sozialpolitik. In der Gemeinschaftsrechtsordnung als Ganzes blieb das Prinzip dagegen eine unangefochtene Selbstverständlichkeit. Der Grundsatz der Rechtseinheit erwies sich als flexibles Prinzip, das sich zur Vermeidung von Stagnationen im Integrationsverlauf den Notwendigkeiten des politischen Prozesses anzupassen vermochte. Wichtig für die Bedeutung teilnahmebezogener Differenzierungen bei den späteren Vertragsverhandlungen war die Nachteilhaftigkeit der „Außenseiterposition", die Großbritannien durch sein Ausscheren aus dem sozialpolitischen Konsens der übrigen Mitgliedsländer einnahm. Anstatt von niedrigeren sozialen Standards zu profitieren, wurde der Inselstaat durch das Verhalten seiner wirtschaftlichen Akteure wider Willen in das kontinentaleuropäisch gestaltete Arbeitsrecht mit einbezogen. Erst durch einen Beitritt zum Sozialabkommen gewann die neue britische Regierung unter Tony Blair den Einfluss auf gemeinschaftliche Rechtsetzungsvorgänge wieder,

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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die mit Wirkung für das Vereinigte Königreich, aber ohne dessen Beteiligung betrieben wurden. Mit den sozialpolitischen Vereinbarungen von Maastricht erlangte der Begriff eines Europas verschiedener Geschwindigkeiten daher den Klang eines Druckmittels: Dort, wo die aktiven Mitgliedstaaten auf Entscheidungsblockaden stoßen, bietet sich deren Umgehung durch ein flexibilisiertes Vorgehen an. Integrationsfortschritte im engeren Teilnehmerkreis definieren im Erfolgsfall den künftigen acquis communautaire, dem sich die anfänglichen Nichtteilnehmerstaaten im späteren Verlauf nur unverändert und ohne Nachverhandlungen anschließen können. Der drohende Verlust der Möglichkeit, den weiteren Integrationsverlauf gleichberechtigt mitzugestalten, hält dazu an, sich erfolgsversprechenden Weiterentwicklungen des europäischen Rechts nicht entgegenzustellen.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion Am 1. Januar 1999 kam es mit Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu der monetären Vereinigung von elf EU-Mitgliedern. Ab dem 1. Januar 2001 werden zwölf der derzeitigen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Währung, den Euro, besitzen. Damit verwirklicht sich ein Integrationsziel, dem infolge seiner weitreichenden Bedeutung für den europäischen Einigungsprozess ein hoher Stellenwert 324

einzuräumen ist." Eine gemeinsame Währung kann als wesentlicher Baustein eines vollendeten Binnenmarkts betrachtet werden, der die Risiken und Kosten der Wechselkursschwankungen zwischen den europäischen Währungen zu vermeiden hilft und die Markttransparenz in der Gemeinschaft verbessert. 325 Die Währungsunion verhindert, dass einzelne Mitgliedstaaten aus der Abwertung ihrer Währung Wettbewerbsvorteile ziehen und andere eine währungspolitische Dominanz in der Europäischen Union auszuüben in der Lage sind. 3 2 6 Ebenso ist davon auszugehen, dass das gemeinsame Zahlungsmittel eine verstärkte währungspolitische Unabhängigkeit der EuroZone von den USA und eine stärkere Position der EG in der globalen Finanzarchitektur herbeiführen w i r d . 3 2 7 Das wichtigste Motiv für die Schaf324 Zur Bedeutung der Wirtschafts- und Währungsunion für den Europäischen Integrationsprozess Healey, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 87 ff.; Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 982 ff. 325 Zu den erwarteten ökonomischen Vorteilen der gemeinschaftlichen Währungsunion Dornbusch/ Jacquet, International Affairs 2000, S. 89, 90 ff.; Simon, in Baimbridge/Burkitt/Whyman, S. 169, 171 ff. 326 Vgl. Freiburghaus, S. 235 f.; Olesti-Rayo, Whittier Law Review, S. 625, 630 f.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

fung einer Wirtschafts- und Währungsunion sind in den Augen der Integrationsbefürworter allerdings die politischen Integrationsschübe, die von dieser Bündelung nationaler Kompetenzen erwartet werden. 328 Seit jeher spielt die Wirtschafts- und Währungspolitik auch als Forschungsfeld differenzierter Integration eine wichtige Rolle. 3 2 9 Bereits für Willy Brandt und Leo Tindemans stand sie im Zentrum der Überlegungen um Modelle und Formen differenzierter Integration. Bis heute hat die Beschäftigung der wissenschaftlichen Literatur mit den Differenzierungen dieses Politikbereichs nicht nachgelassen. 330 Seit dem 1. November 1993 findet dieses Interesse einen neuen Bezugspunkt. Indem der Vertrag von Maastricht es einem Teil der Mitgliedstaaten gestattete, sich an der zu errichtenden Wirtschafts- und Währungsunion nur eingeschränkt zu beteiligen, schuf er ein zweites Anwendungsbeispiel teilnahmebezogener Differenzierung, das für die späteren Flexibilisierungen des Unions- und Gemeinschaftsrechts ebenso wegweisend wurde wie die Vereinbarungen in der gemeinsamen Sozialpolitik. 3 3 1 Auch in der Wirtschafts- und Währungspolitik ist seither eine mitgliedstaatliche Avantgarde anzutreffen, die den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Europäischen Union in Anspruch nimmt, um ohne die übrigen EU-Mitglieder das Europäische Aufbauwerk voranzutreiben. Dabei hebt sich die Differenzierung in der W W U durch ihre rechtliche Ausgestaltung und ihren Hintergrund von der Flexibilisierung in der gemeinsamen Sozialpolitik ab. Anstatt der voranschreitenden Pioniergruppe in einem gesonderten Protokoll die Ermächtigung zur Nutzung der Organe, Verfahren und 327

S. 273. 328

Vgl. Stevens, in Haseler/Reland, S. 93 ff.; Zilioli/Selmayr,

CMLRev 1999,

Nach dem sog. monetaristi sehen Ansatz bildet die Währungsunion nicht den Abschluss der Integration (so der sog. Krönungsansatz), sondern ein Instrument zu ihrer Erreichung und Beschleunigung. Vgl. hierzu Tichy, in Breuss/Griller, S. 105, 106. Zu den Erwartungen, die Währungsunion werde als Wegbereiter politischer Integration fungieren, auch Der Club von Florenz, S. 145; Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427 f. 329 Vgl. Scharrer, in Grabitz, S. 225, 226 ff. 330 Zu den Ansätzen von Brandt und Tindemans siehe oben, Teil 1 A.I. 2. und 3. Zu den zahlreichen Beiträgen der jüngeren Differenzierungsliteratur Beaumont/Walker , in Beaumont/Walker, S. 169 ff.; Crespo, Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. 29 ff.; Missiroli, The International spectactor 1998, S. 101 ff.; Olesti-Rayo, Whittier Law Review 1999, S. 625 ff.; La Serre , Politique Étrangère 1999, S. 31 ff.; Usher , The Cambridge Yearbook of European Legal Studies 1998, S. 39 ff. 331 Auch die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion wird in der Literatur zu Recht als Vorläufer der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit begriffen. Vgl. hierzu Bender, ZaöRV 2001, S. 729, 756 ff.; Griller/Dr outsas/Falkner/ F or gó/Ή entwich, S. 199 ff.; La Serre , Politique Etrangère 1999, S. 21, 31; Tuytschaever , in de Bùrca/Scott, S. 173, 176.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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Mechanismen des EGV auszusprechen, wurde umgekehrt den zurückbleibenden EU-Mitgliedern erlaubt, hinter dem gemeinschaftlichen Integrationsfortschritt zurückzubleiben. Dieses Zurückbleiben ist überdies in der W W U nicht nur durch politische Vorbehalte vor einem weiteren mitgliedstaatlichen Souveränitätsverzicht erklärbar. Vielmehr können die anspruchsvoll gesetzten wirtschaftlichen Eintrittsvoraussetzungen bewirken, dass sich Mitgliedstaaten entgegen ihres Willens nicht am Euro beteiligen können. Damit wird neben der Integrationsbereitschaft auch die Integrationsfähigkeit zum Differenzierungsfaktor. Während viele der aus einer teilnahmebezogenen Differenzierung resultierenden Rechtsfragen bereits im Zusammenhang mit der Maastrichter Sozialpolitik erörtert werden konnten, bietet die in Titel V I I EG verankerte Differenzierung Gelegenheit, auf einen weiteren Problemkomplex der neuen Differenzierungsform einzugehen. Die Europäische Gemeinschaft ist seit Eintritt in die dritte Stufe der W W U mit zusätzlichen Kompetenzen im Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten ausgestattet. Darüber hinaus hält der Titel V I I EG auch ausdrückliche Handlungsbefugnisse bereit, mittels welcher die EG gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen aufzutreten und Verträge zu schließen in der Lage ist. Diese Ermächtigungen zum Außenhandeln treffen aber nur den Teil der Mitgliedstaaten, der bereits in das höhere Integrationsniveau eingetreten ist. Hierdurch gelangt eine differenzierte gemeinschaftliche Außenvertretung zur Entstehung, deren Problemstellungen im Folgenden eingehend erörtert werden. Bevor sich die Darstellungen der rechtlichen Ausgestaltung der Differenzierung und den aus ihr erwachsenden Rechtsfragen zuwenden, werden zunächst das dreistufige Konzept der W W U und der Hintergrund für die in ihr anzutreffenden unterschiedlichen Integrationsstufen skizziert.

I. Der Delors-Plan und seine Verwirklichung für einen Teil der EU-Mitglieder 1. Die drei Stufen der Wirtschafts- und Währungsunion Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Fortentwicklungen der Wirtschafts- und Währungspolitik im rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union 3 3 2 beruhen auf einem 1989 veröffentlichten Bericht des früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der die Er332 Bereits das 1979 errichtete Europäische Währungssystem (EWS) wurde wiederholt von dem Voranschreiten einer mitgliedstaatlichen Pioniergruppe angetrieben. Die für sein Funktionieren grundlegenden Bestimmungen waren aber nicht gemeinschaftsrechtlicher Natur, sondern beruhten auf zwei Abkommen zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten, die ohne Mitwirkung der Gemeinschaftsorgane ge-

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

richtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in drei Stufen vorsah. 333 Die Kernziele des Delors-Plans wurden durch den Vertrag von Maastricht in den neu eingefügten Artikel 102a bis 109m EGV (Art. 98 bis Art. 124 EG) berücksichtigt und ließen sich im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts für die Mehrheit der EU-Mitglieder verwirklichen. 3 3 4 In der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 335 wurde insbesondere eine vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der EU, eine engere Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik zwischen den Mitgliedstaaten und eine gleichmäßige Teilnahme aller Währungen am EWS angestrebt. 336 Die zweite Stufe 3 3 7 diente vornehmlich der Gewährleistung der Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken und der Herstellung eines erhöhten Maßes an wirtschaftlicher Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten. 338 Zum 1. Januar 1994 wurde überdies das Europäische Währungsinstitut (EWI) errichtet, das den Eintritt in die dritte Stufe vorbereitete. 339 Mit Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Januar 1999 3 4 0 war für die teilnehmenden Mitgliedstaaten ein weitreichender Verlust nationaler Zuständigkeiten an die Europäische Gemeinschlossen wurden. Zu diesen frühen Entwicklungen Freiburghaus, S. 226 ff.; Scharrer,, in Grabitz, S. 225 ff. 333 Vgl. den Bericht zur Wirtschafts- und Währungsunion in der EG, sog. DelorsPlan, vorgelegt vom Ausschuss zur Prüfung der Wirtschafts- und Währungsunion am 17. 4. 1989, abgedruckt in Europa-Archiv 1989, S. D 283 ff. 334 Zum Erfolg des Delors-Plans trugen die historischen Ereignisse der politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen im östlichen Teil Europas maßgeblich bei. Infolge der sich abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands war es insbesondere ein französisches Anliegen, das erstarkende Nachbarland in einen noch engeren Integrationsprozess einzubinden und die währungspolitische Dominanz der Deutschen Bundesbank zu beenden. Vgl. „La Communauté d'abord", in Le Monde vom 8. 12 1989, S. 1; „Bonn fait une concession importante sur la construction européenne", in Le Monde vom 8. 12. 1989, S. 1. 335 Der Beginn der ersten Stufe wurde auf den 1. 7. 1990 festgelegt. Vgl. Europäischer Rat in Madrid vom 26./27. 6. 1989, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEG 6-1989, Z. 1.1.11. 336 Vgl. Streinz, Europarecht, Rdnr. 884. 337 Die zweite Stufe begann gem. Art. 109 e Abs. 1 EGV (Art. 116 Abs. 1 EG) ohne weitere Beschlussfassung am 1. 1. 1994. 338 Ygi Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 1011 ff. 339

Zu den Aufgaben des EWI im Einzelnen vgl. Art. 109f EGV (Art. 117 EG). Über den Eintritt in die dritte Stufe zum 1.1. 1999 entschied der Rat unter entsprechender Anwendung des Art. 109j Abs. 4 S. 2 i.V.m. Abs. 2 EGV. Vgl. Entscheidung des Rats vom 3. 5. 1998 gemäß Artikel 109j Absatz 4 des Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. L 139/30. Deshalb blieb ohne Belang, ob der in Art. 109j Abs. 4 S. 1 EGV (Art. 121 Abs. 4 S. 1 EG) angeordnete automatische Eintritt als verbindlich aufzufassen war. 340

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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schaft verbunden, der sich zudem in unumkehrbarer Weise vollzog. 3 4 1 Die geldpolitische Verantwortung ging von den beteiligten nationalen Zentralbanken auf das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), Dachinstitution der Europäischen Zentralbank (EZB) und der in das ESZB integrierten nationalen Zentralbanken, über. 3 4 2 Die Wechselkurse zwischen den teilnehmenden Währungen wurden auf der Grundlage des Art. 1091 Abs. 4 S. 1 EGV (Art. 123 Abs. 4 S. 1 EG) unwiderruflich festgelegt und der Euro zunächst für den bargeldlosen Zahlungsverkehr eingeführt, bis die gemeinsame Währung auch im Bargeldbereich ab dem 1. Januar 2002 zum einzigen Zahlungsmittel in den Teilnahmeländern w i r d . 3 4 3 Die Teilnahme an der dritten Stufe der W W U führt nicht nur zur Einbuße der nach einzelstaatlichen Bedürfnissen ausgerichteten nationalen Geldpolitik. Auch die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten, die für deren gesamtwirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung ist, muss im Interesse der Stabilität der gemeinsamen Währung gewichtige Beschränkungen hinnehmen. In diesem Zusammenhang ist die in Art. 104 EG (Art. 104c EGV) normierte Pflicht zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite hervorzuheben. 344 Ein Stabilitäts- und Wachstumspakt, der eine nachhaltige fiskalische Disziplin auch nach Eintritt in die dritte Stufe sicherstellen soll, schränkt den haushaltspolitischen Handlungsspielraum der betroffenen Staaten weiter ein. 3 4 5 2. Die Hintergründe der Differenzierung Angesichts der Anforderungen, welche die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion an das Integrationsvermögen und den Integrationswillen der an ihr beteiligten Staaten stellt, zeichnete sich bereits während der Verhandlungen des Vertrags über die Europäische Union ab, dass auch in diesem Politikbereich neue Differenzierungsformen zur Anwendung kom341 Im Protokoll (Nr. 24) über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion bestimmen die Mitgliedstaaten die Unumkehrbarkeit des Übergangs der Gemeinschaft zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Art. 4 EG spricht überdies von einer „unwiderrufliche[n] Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung". 342 Vgl. Art. 105 Abs. 2 EGV (Art. 105 Abs. 2 EG). Hierzu eingehend Seidel, Integration 1998, 197, 205 f. 343 Die nationalen Währungen sollen spätestens am 1. 7. 2002 ihre Gültigkeit verlieren. Vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rdnr. 890. 344 Der Sicherung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten dienen ferner die Art. 101 und Art. 102 EG, die eine monetäre Finanzierung von öffentlichen Defiziten der Mitgliedstaaten und einen bevorrechtigten Zugang ihrer öffentlichen Einrichtungen zu Finanzinstituten verbieten. 345 Vgl. die Entschließung des Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt, ABl. EG 1997 Nr. C 263/1. Hierzu ausführlich Hahn, JZ 1997, S. 1133 ff.

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1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

men müssten. 346 Zwar kommt in der Präambel des E U 3 4 7 , in Art. 2 erster Spgstr. E U 3 4 8 und in Art. 4 Abs. 2 E G 3 4 9 die Einigung der Maastrichter Vertragsparteien zum Ausdruck, dass die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht nur das Ziel einzelner Mitgliedstaaten, sondern ein Vorhaben der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit darstellt. 350 Zugleich weist der durch den Vertrag über die Europäische Union erweiterte Titel V I I EG aber zwei grundlegende Flexibilisierungselemente auf, die schließlich vier der EU-Mitglieder zum 1. Januar 1999 nicht in die Endstufe der W W U eintreten ließen. Politische Vorbehalte gegen den Verlust an nationaler Souveränität einerseits und das Zurückbleiben hinter den wirtschaftlichen Eintrittsvoraussetzungen andererseits führten zu einem Opt-out Großbritanniens und Dänemarks und zu einer umfassenden Ausnahmeregelung zugunsten Griechenlands und Schwedens. a) Die politischen Vorbehalte in Dänemark und Griechenland In Dänemark stieß die angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion in der Öffentlichkeit auf Misstrauen. Die dänische Bevölkerung lehnte sie infolge der befürchteten Integrationsdynamik in Richtung einer weiteren Staatswerdung Europas mehrheitlich ab. 3 5 1 Vor diesem Hintergrund 352 ließ sich die Regierung bei den Maastrichter Abschlussverhandlungen in einem 346

Zum Verlauf der Maastrichter Verhandlungen über die WWU eingehend Schutz, S. 187 ff. 347 Die Mitgliedstaaten zeigen sich „[entschlossen, die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, die im Einklang mit [dem EU-]Vertrag eine einheitliche, stabile Währung einschließt". 348 Die Union setzt sich die „Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe [des EU-]Vertrags umfasst", zum Ziel. 349 Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Europäischen Gemeinschaft umfasst „die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung". 350 Auch dem Protokoll (Nr. 24) über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts· und Währungsunion zufolge wird ein Eintritt der Gemeinschaft als solcher in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion erstrebt und dieses Vorhaben von allen Mitgliedstaaten respektiert. 351 Zu den Wurzeln des Integrationsskeptizismus in Dänemark und dem Hintergrund der ablehnenden Grundhaltung gegenüber dem Euro Schumacher/Schymik, Politische Studien 2000, S. 30 ff. 352 Nach der dänischen Verfassung (§ 20 Grundloven) erfordert die Übertragung nationaler Souveränität auf internationale Organisationen die Abhaltung eines verbindlichen Volksentscheids, falls der auf die Souveränitätsübertragung gerichtete Gesetzesentwurf nicht die Zustimmung einer 5/6-Mehrheit im Parlament (Folketings) erhält.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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„Protokoll über einige Bestimmungen betreffend Dänemark" 3 5 3 eine Ausnahmeregelung einräumen, von der sie durch rechtzeitige Mitteilung an den Rat Gebrauch machen konnte. 3 5 4 Als am 2. Juni 1992 die dänische Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht negativ ausfiel, nutzte Kopenhagen auf der Sitzung des Europäischen Rates in Edinburgh vom 12. Dezember 1992 diese Opt-out-Option. 355 Seither profitiert Dänemark von einer primärrechtlich verankerten und dauerhaft geltenden Freistellung, die das Land von der Mehrheit der mit Eintritt in die dritte Stufe der W W U anwendbaren Vorschriften entbindet. 356 Der Versuch der damaligen dänischen Regierung Rasmussen, die Nation in einer weiteren Volksabstimmung am 28. September 2000 für den Euro zu gewinnen, scheiterte erneut an den Ressentiments in der Bevölkerung. 357 In Großbritannien wurde die traditionell distanzierte Haltung gegenüber einer zu engen kontinentaleuropäischen Anbindung zum Hauptmotiv dafür, die weitreichenden Integrationsschritte der Wirtschafts- und Währungsunion nicht mit zu vollziehen. 358 Der britische Premier John Major erklärte sich bereits zu Beginn der Maastrichter Vertragsverhandlungen nur gegen Zubilligung einer umfassenden Freistellung dazu bereit, die wirtschafts- und währungspolitischen Bestimmungen des EGV zu erweitern. 359 In einem Protokoll wurde dem Vereinigten Königreich zugesichert, nur nach Beschluss seiner Regierung und seines Parlaments in die dritte Stufe der Wirtschafts· und Währungsunion eintreten zu müssen. 360 Großbritannien machte im Oktober 1997 von dieser Opt-out-Möglichkeit Gebrauch, indem es dem Rat seine fehlende Teilnahmeabsicht mitteilte. 3 6 1 Seither ist London bezüglich des Stufenplans der W W U eine umfassende Sonderstellung eingeräumt, die über die Dänemarks noch hinausgeht. 353

Im Folgenden auch als Protokoll Nr. 26 bezeichnet. Ziffer 1 und 2 Protokoll Nr. 26 zufolge musste Dänemark seine fehlende Bereitschaft zur Teilnahme an der dritten Stufe dem Rat notifizieren. 355 Vgl. Beschluss des Europäischen Rats vom 11./12. 12. 1992, Abschnitt B, ABl. EG 1992 Nr. C 348/2. 356 Vgl. Ziffer 2 Protokoll Nr. 26. 357 Die dänische Bevölkerung lehnte die Einführung des Euro mit einer Mehrheit von 53,2 zu 46,8 Prozent ab. Zu den Hintergründen dieser Ablehnung Schumacher/ Schmyk, Politische Studien 2000, S. 30, 35 ff. 358 Vgl. Meier-Walser, Politische Studien 2000, S. 55, 56 ff.; Schutz, S. 188 ff. Zu den befürchteten wirtschaftlichen Nachteilen einer britischen Beteiligung am Euro Burkitt, European Business Review 1997, S. 263 f.; Dornbusch/ Jacquet, International Affairs 2000, S. 89 ff. 359 Vgl. Schutz·, S. 192. 360 Ygi d a s Protokoll (Nr. 25) über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, im Folgenden auch als Protokoll Nr. 25 bezeichnet. 354

361

Vgl. Agence Europe Nr. 7088 vom 27./28. 10. 1997, S. 9.

7 Kellerbauer

98

1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

b) Das Verfehlen der Eintrittsvoraussetzungen durch Griechenland und Schweden Ein zweites Differenzierungselement der Wirtschafts- und Währungsunion fand nicht in den mitgliedstaatlichen Vorbehalten gegenüber der drohenden Einbuße nationaler Souveränität seinen Ursprung. Die Maastrichter Vertragsparteien hatten sich vor allem auf deutsches Drängen hin darauf geeinigt, die Teilnahme an der gemeinsamen Währung an bestimmte ökonomische Voraussetzungen zu knüpfen, die ein Mindestmaß an Homogenität der wirtschaftlichen Lage in den beteiligten Ländern sicherstellen sollen. 3 6 2 Jeder Mitgliedstaat muss seine Eignung zum Eintritt in die dritte Stufe anhand anspruchsvoll gesetzter Kriterien in den Bereichen Inflationsrate, Haushaltsdefizit, Gesamtverschuldung, Währungsstabilität und Zinssätze unter Beweis stellen. 363 Trotz des im Rahmens dieser wirtschaftlichen Zielwerte verbleibenden politischen Interpretationsspielraums 364 war Griechenland nicht in der Lage, auch nur eines der in Art. 109j Abs. 1 EGV formulierten Kriterien zu erfüllen. 3 6 5 Der Rat musste daher am 3. Mai 1998 gem. Artikel 109j Absatz 4 EGV beschließen, dass Griechenland die Voraussetzungen für eine Teilnahme an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nicht erfüllte. 3 6 6 Dem Mitgliedstaat wurde eine Ausnahmeregelung von der Mehrheit der zum 1. Januar 1999 anwendbaren Vorschriften gewährt. 367 Hierdurch wurde die erste und bislang einzige Form teilnahmebezogener Differenzierung begründet, für welche die volkswirtschaftliche Lage eines Mitgliedslands, also dessen Integrationsfähigkeit, ursächlich war. 3 6 8 Die zum 3. Mai 1998 getroffene Ratsentschließung stellte auch im Hinblick auf Schweden die Nichterfüllung der Eintrittsvoraussetzungen fest 362

S. 13.

Vgl. „Bonn besteht auf klaren Bedingungen", in FAZ vom 27. 11. 1991,

363 Dabei sind den Artikeln 109j und 109k EGV (121 und 122 EG) die Voraussetzungen für die Teilnahme an der dritten Stufe und das Verfahren zur Überprüfung ihrer Beachtung zu entnehmen, während ein Protokoll (Nr. 21) die Konvergenzkriterien näher bestimmt. Hierzu eingehend Tichy, in Breuss/Griller, S. 105, 108 ff. 364 Zu den Möglichkeiten einer „flexiblen" oder „politischen" Auslegung der Konvergenzkriterien Patterson , in Ehlermann, S. 101, 106 f. 365 Zu der schweren wirtschaftlichen Hypothek, mit der Griechenland bereits in die Verhandlungen des Maastrichter Vertrags gegangen war, Papaschinopoulou, Politische Studien 2000, S. 43, 44 f. 366 Vgl. Entscheidung 98/317/EG des Rats vom 3. 5. 1998 gemäß Artikel 109j Absatz 4 des Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. L 139/30. Die Entscheidung fand unter Beteiligung aller Ratsmitglieder mit qualifizierter Mehrheit statt. 367 Vgl. Entscheidung 98/317/EG des Rats vom 3. 5. 1998, ABl. EG 1998 Nr. L 139/30.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

99

und gewährte eine zweite Freistellung von den Vorschriften der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. 369 Das Verfehlen der Teilnahmebedingungen beruhte im Fall Schwedens allerdings nicht auf dem mangelnden wirtschaftlichen Integrationspotential des Landes. 3 7 0 Vielmehr hatte Stockholm die Statuten der Schwedischen Reichsbank nicht den Erfordernissen der Art. 107, 108, 109j Abs. 1 S. 2 EGV (Art. 108, 109, 121 Abs. 1 S. 2 EG) angepasst 371 und sich entgegen der Anforderungen des Art. 109j Abs. 1 S. 3 Spgstr. 4 EGV (Art. 121 Abs. 1 S. 3 Spgstr. 4 EG) nicht am Wechselkursmechanismus des EWS beteiligt. 3 7 2 Schweden verfehlte mithin die Voraussetzungen zur Teilnahme an der W W U absichtlich und aus politischen Beweggründen, 373 was einer mehrheitlichen Ablehnung der gemeinsamen Währung in Bevölkerung und politischer Führung zuzuschreiben i s t . 3 7 4

II. Die rechtliche Ausgestaltung 1. Die Freistellung zugunsten der Nichtteilnehmerstaaten Die rechtliche Ausgestaltung der Differenzierung in der W W U unterschied sich in einem Punkt grundlegend von dem im Sozialprotokoll angewandten Konzept. Den an einer Vertiefung der gemeinsamen Sozialpolitik gelegenen EU-Mitgliedern war es durch das Sozialprotokoll gestattet worden, sich des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft ohne Beteiligung des Vereinigten Königreichs zu bedienen. 368

In Griechenland bestand im Zeitpunkt der Ratsentscheidung 98/317/EG ein breiter nationaler Konsens zugunsten einer Teilnahme am Euro. Vgl. hierzu Papaschinopoulou, Politische Studien 2000, S. 43 f. 369 Vgl. Entscheidung 98/317/EG des Rats vom 3. 5. 1998, ABl. EG 1998 Nr. L 139/34. 370 Vgl. Olesti-Rayo, Whittier Law Review 1999, S. 645, 635. 371 Den genannten Vorschriften zufolge müssen die nationalen Zentralbanken unabhängig sein und ihr Präsident für eine Periode von mindestens 5 Jahren gewählt werden. Vgl. Art. 14 des Protokolls (Nr. 18) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, im Folgenden auch als ESZB-Satzung bezeichnet. 372 Vgl. hierzu den Konvergenzbericht der Kommission, KOM (98) 1999, 30 ff. Allerdings ist eine formelle Teilnahme am EWS-Wechselkursmechanismus für den Eintritt eines Mitgliedstaats in die dritte Stufe der WWU nicht erforderlich. Vgl. hierzu Potacs, in Schwarze, Art. 124 EGV Rdnr. 1. 373 Vgl. Beaumont/Walker, in Beaumont/Walker, S. 169, 177 f.; Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 459. 374 Für die schwedische Ablehnung des Euro steht eine traditionelle Skepsis vor zu engen europäischen Bindungen und vor einem „europäischen Zentralismus" im Vordergrund. Hierzu eingehend Muschick, Politische Studien 2000, S. 19 ff. τ

100 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Es kann insoweit von einer positiven Differenzierung gesprochen werden, in deren Verlauf einer Pioniergruppe die Ermächtigung zum schnelleren Voranschreiten zuteil wurde. 3 7 5 Im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion griff der Vertrag von Maastricht dagegen zu einer anderen Konstruktion, um einer mitgliedstaatlichen Avantgarde die Inanspruchnahme der Organe, Mechanismen und Verfahren des EG-Vertrags zu ermöglichen. Die Maastrichter Vertragsparteien konnten sich darauf einigen, die grundsätzlich für alle EU-Mitglieder geltenden Bestimmungen des Titels V I I EG um zusätzliches Primärrecht zu erweitern. 376 Dass dieses erweiterte Recht im Verhältnis zu einem Teil der Mitgliedsländer nicht in vollem Umfang zur Anwendung gelangte, bewerkstelligte man durch besondere Freistellungstatbestände. Während die Europäische Gemeinschaft zum 1. Januar 1999 auf Grundlage erweiterter vertraglicher Bestimmungen in eine neue Stufe der gemeinsamen Wirtschaftsund Währungspolitik eintrat, wurde es Großbritannien, Schweden, Dänemark und Griechenland im Wege einer „negativen Differenzierung" gestattet, diese Integrationsvertiefung nicht mit zu vollziehen. 3 7 7 Im Hinblick auf den Umfang dieser negativen Differenzierung sind die Opt-out-Positionen Großbritanniens und Dänemarks von den Ausnahmeregelungen zu unterscheiden, die jenen Ländern zugebilligt werden, welche die Voraussetzungen für einen Eintritt in die dritte Stufe verfehlen. a) Die vorübergehende Ausnahmeregelung bei Verfehlen der Eintrittsvoraussetzungen aa) Die von der Freistellung betroffenen Bestimmungen Die Mitgliedsländer, die sich - wie Griechenland - zur Erfüllung der Konvergenzkriterien nicht in der Lage sehen oder sich - wie Schweden zur Verwirklichung der Teilnahmevoraussetzungen nicht bereit zeigen, wurden nach Art. 109j Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 (und werden zukünftig nach Art. 122 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 EG) als „Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt" durch Ratsentscheidung von der Mehrzahl der seit dem 1. Januar 1999 geltenden Vorschriften der W W U freigestellt. 378 Sie 375

Zu dem Begriffspaar „positive und negative Differenzierung" Tuytschaever, S. 121 ff.; Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1283. 376 Vgl. Curtin, CMLRev 1993, S. 17, 58 f.; Estorff/Molitor, in Groeben/Thiesing/Ehlermann/Thiesing, Art. 109k Rdnr. 1. 377 Zu diesem DifferenzierungsVerständnis der Freistellungstatbestände in der WWU Curtin, CMLRev 1993, S. 17, 58 f.; Tuytschaever, S. 121 f. 378 Zu diesen Vertragsbestimmungen eingehend Estorff/Molitor, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 109k Rdnr. 1.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

101

behalten trotz des Eintritts der Gemeinschaft in die Endstufe der Wirtschafts· und Währungsunion ihre nationalen Währungen und sind weiterhin befugt, ihre eigene Geldpolitik zu betreiben. 379 Die Nichtteilnehmerstaaten bewahren sich die Befugnis, über den Wechselkurs ihrer Währungen zu bestimmen, obgleich dieser auch von ihnen gem. Art. 124 EG als eine Angelegenheit gemeinsamem Interesses zu behandeln i s t . 3 8 0 Überdies entfalten die Rechtsakte mit Außenwirkung, welche die EZB zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach Art. 110 EG erlassen kann, für die freigestellten Mitgliedstaaten keine Geltung. 3 8 1 Im Bereich der Wirtschaftsunion sind die Mitgliedstaaten von Sanktionen zur Durchsetzung der Haushaltsdisziplin befreit. 3 8 2 Bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten ist es ihnen weiterhin gestattet, Schutzmaßnahmen nach Maßgabe der Art. 119 und 120 EG zu ergreifen. 383 Obwohl die Mitgliedstaaten, denen eine Ausnahmeregelung gewährt wurde, nicht von allen Verpflichtungen der Wirtschafts- und Währungsunion freigestellt sind, 3 8 4 bleiben sie damit von den wesentlichen Bestimmungen, deren Geltung den Eintritt in die dritte Stufe kennzeichnet, unberührt. bb) Die grundsätzliche Pflicht zum Eintritt in die dritte Stufe Die Bezeichnung des vierten Kapitels des Titels V I I EG („Übergangsbestimmungen") weist daraufhin, dass die Freistellung des Art. 122 Abs. 3 als vorübergehend konzipiert ist. In diesem Sinne trifft die Kommission und die EZB gem. Art. 122 Abs. 2 EG zumindest alle zwei Jahre die Pflicht, ein Prüfungsverfahren einzuleiten, welches die Teilnahmefähigkeit der Länder mit Ausnahmeregelung erneut untersuchen soll. Der transitorische Charakter der Ausnahmeregelung lässt sich für eine prinzipielle Verpflichtung der freigestellten Staaten anführen, auf einen entsprechenden Ratsbeschluss hin auch gegen ihren Willen in die dritte Stufe der W W U einzutreten. 385 Nur vor dem Hintergrund einer solchen Verpflichtung ist 379

Vgl. Art. 122 Abs. 3 i.V.m. Art. 105 Abs. 1, 2, 3 und 5 sowie Art. 106 EG. Kompetitive Abwertungen der nationalen Währungen gegenüber Währungen der übrigen Mitgliedstaaten sind demnach beispielsweise unzulässig. Zu den Beschränkungen der mitgliedstaatlichen Wechselkurspolitik aus Art. 124 EG eingehend Smits, in Groeben/Thiesing/Ehlermann Art. 109m Rdnrn. 1 ff. Weitere Beschränkungen ergeben sich für die Mitgliedstaaten, die dem zum 1.1. 1999 geschaffenen neuen Wechselkursmechanismus beigetreten sind. 381 Vgl. Art. 122 Abs. 3 i.V.m. Art. 110 EG. 382 Vgl. Art. 122 Abs. 3 i.V.m. Art. 104 Abs. 9 und 11 EG. 383 Vgl. die Abs. 4 der Art. 119 und 120 EG. 384 Beispielsweise muss die EZB gem. Art. 105 Abs. 4 EG auch von den Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelung zu allen nationalen Entwürfen von Rechtsvorschriften im Zuständigkeitsbereich der EZB gehört werden. Zu den übrigen Verpflichtungen der dritten Stufe, von denen keine Freistellung erfolgt, Estorff/Molitor, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 109k Rdnr. 1. 380

102 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

auch erklärbar, weshalb Kommission und EZB unabhängig vom Vorliegen eines mitgliedstaatlichen Antrags dazu angehalten sind, die Eintrittsvoraussetzungen der freigestellten Staaten zu überprüfen. 386 Für eine Teilnahmepflicht spricht ferner das Protokoll (Nr. 24) über den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in dem sich alle Mitgliedstaaten, denen kein Opt-out gewährt wurde, zum gemeinschaftlichen Bemühen verpflichten, die Endstufe der W W U zu erreichen. 387 Die Aussage Schwedens, unabhängig von der Erfüllung der Eintrittsvoraussetzungen der Währungsunion fernbleiben zu wollen, wurde demnach zu Recht von der Kommission als mit den Verträgen unvereinbar zurückgewiesen. 388 Die rechtliche Obligation zum Eintritt in die dritte Stufe wird freilich dadurch relativiert, dass ein Verfehlen der für einen Eintritt in Art. 121 Abs. 1 EG geforderten Voraussetzungen von keinem Gemeinschaftsorgan auf seine Absichtlichkeit überprüfbar i s t . 3 8 9 Auch fehlt es in Art. 122 EG an verbindlichen Fristen, innerhalb welcher ein Mitgliedsland den Anschluss an die Währungszone finden muss. b) Die dauerhafte

Opt-out-Stellung Dänemarks und Großbritanniens

Im Unterschied zu der nach Art. 122 Abs. 1 EG durch Ratsbeschluss zu gewährenden Ausnahmeregelung ist die primärrechtlich zugebilligte Optout-Position Dänemarks und Großbritanniens auf eine unbefristete Geltungsdauer angelegt. Ihre Aufhebung ist nach den Protokollen Nr. 25 und Nr. 26 von einer entsprechenden Willensbekundung beider Länder abhäng i g . 3 9 0 Die Mitgliedstaaten sind somit keiner Teilnahmeverpflichtung unterworfen, sondern profitieren von einer permanenten Sonderstellung, die der des Vereinigten Königreichs nach dem Protokoll über die Sozialpolitik vergleichbar ist. Während sich das dänische Opt-out darin erschöpft, dass die Vorschriften der dritten Stufe nicht zur Anwendung gelangen, von denen auch die Länder mit einer Ausnahmeregelung gem. Art. 122 Abs. 3 EG ausgenommen 385

Vgl. Manin , in Manin/Louis, S. 9, 15; Potacs, in Schwarze, Art. 122 EGV Rdnr. 2. 386 j m p a u dgj. opt-out-Staaten Großbritannien und Dänemark ist dagegen ein Antrag erforderlich, was im Umkehrschluss auf eine Eintrittspflicht der Mitgliedstaaten, denen eine Ausnahmeregelung gewährt wurde, hindeutet. Vgl. Bothe/Bünger/Estorff,\ in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 109j Rdnr. 51. 387 Ygi 388 Vgl. S. 2. 389 Vgl. 390 Vgl.

Weber/Rennpferdt, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 1091 Rdnr. 4. „Sweden to hold back from EMU", in Financial Times vom 29. 5. 1997, Beaumont/Walker , in Beaumont/Walker, S. 169, 178. Ziffer 10 Protokoll Nr. 25; Ziffer 4 Protokoll Nr. 26.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und W ä h r u n g s u n i o n 1 0 3

sind, 3 9 1 betrifft die britische Freistellung nach den Ziffern 4 bis 9 Protokoll Nr. 25 darüber hinaus weitere Vertragsbestimmungen. 392 Art. 108 EG, der bereits in der zweiten Stufe darauf hinwirkt, den nationalen Zentralbanken Unabhängigkeit von behördlichen Weisungen zu gewährleisten, gilt für Großbritannien ebenso wenig wie die in Art. 109 ausgesprochene Verpflichtung, das innerstaatliche Recht dem gemeinschaftlichen Währungsrecht anzupassen. Auch das in Art. 104 Abs. 1 EG aufgestellte Gebot zu solider Haushaltsführung findet auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung. 3 9 3 London ist zusätzlich von der Pflicht aus Art. 105 Abs. 4 EG befreit, der zufolge die EZB zu Entwürfen nationaler Rechtsvorschriften in ihrem Aufgabenbereich zu hören ist. Dem Vereinigten Königreich ist damit eine umfassende Sonderstellung eingeräumt, bei der dem Stufenplan Delors' keine Beachtung geschenkt wird. 2. Der verringerte Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der dritten Stufe Mit Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion trat die Gemeinschaft als Ganzes in eine neue Integrationsstufe ein, hinter der einzelne EU-Mitglieder zurückblieben. Eine Ermächtigung zur Nutzung der Organe der Europäischen Gemeinschaft, die in Ziffer 1 Sozialprotokoll zum Zweck der Umsetzung des Sozialabkommens erteilt worden war, musste den an der dritten Stufe der W W U beteiligten Mitgliedstaaten daher nicht gesondert eingeräumt werden. Sie folgte aus den in Maastricht beschlossenen Ergänzungen im EGV. Schließlich sind die der Gemeinschaft im EGV zugewiesenen Aufgaben gem. Art. 7 EG von den Gemeinschaftsorganen wahrzunehmen. Die Maastrichter Vertragsparteien beugten sich auch bei der Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion der Logik, dass die umfassende Freistellung einzelner EU-Mitglieder von den Rechtspflichten einer Integrationsvertiefung mit vermindertem Einfluss bei deren Ausgestaltung einhergehen muss. Dies macht sich daran bemerkbar, dass die nicht in die dritte Stufe eingetretenen Mitgliedstaaten bei bestimmten Entscheidungen von der Beschlussfassung im Rat ausgeschlossen sind und überdies bei der Beset391

Vgl. Ziffer 3 Protokoll Nr. 26. Die Bestimmungen des EGV, die auf Großbritannien nicht anwendbar sind, werden einzeln in Ziffer 5 Protokoll Nr. 26 aufgeführt. Ziffer 8 Protokoll Nr. 26 nimmt den Inselstaat überdies von vielen Artikeln der ESZB-Satzung aus. Hierzu eingehend Flores , in Groeben/Thiesing/Ehlermann, nach Art. 109m Protokolle (Nr. 11) und (Nr. 12), Rdnrn. 15 ff. 393 Stattdessen ruft Art. 116 Abs. 4 EG nur zu dem Bemühen auf, öffentliche Defizite zu vermeiden. 392

104 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

zung der Beschlussorgane des ESZB kein Mitspracherecht besitzen. Im Europäischem Parlament sind die in den Nichtteilnehmerstaaten gewählten Abgeordneten dagegen nach den herkömmlichen vertraglichen Vorgaben an den Entscheidungsprozessen beteiligt. a) Der Ausschluss vom Stimmrecht im Rat Die Ratsvertreter der nicht an der gemeinsamen Währung beteiligten Mitgliedsländer sind ebenso von der Ausübung ihres Stimmrechts ausgeschlossen, wie dies im Sozialprotokoll für Großbritannien vorgesehen w a r . 3 9 4 Dieser Ausschluss betrifft konsequenterweise die Gesamtheit der Bestimmungen, auf deren Grundlage nur Beschlüsse ohne Geltung für diese Staaten gefasst werden können. 3 9 5 Zur Erzielung einer qualifizierten Mehrheit genügen im Rat dann zwei Drittel der nach Art. 205 Abs. 2 EG zu gewichtenden Stimmen der teilnehmenden Ratsvertreter, die Einstimmigkeit bezieht sich nur auf die an der Währungsunion beteiligten Mitgliedstaaten. 396 Die Nichtteilnehmerstaaten können folglich an wichtigen währungspolitischen Entscheidungen nicht partizipieren. So erfolgte bereits die Bestimmung der unwiderruflich fixierten Wechselkurse der teilnehmenden Währungen zueinander sowie zur gemeinsamen Währung ohne Mitwirkung deren Vertreter. 397 Noch höheres Gewicht kommt der Aussetzung des Ratsstimmrechts dann zu, wenn die Gemeinschaft nach Maßgabe des Art. I l l EG ihre Außenbeziehungen zu Drittstaaten und internationalen Gremien gestaltet. Nach Art. I l l EG ist die Rolle der für das Gemeinschaftsinteresse eintretenden Kommission abgeschwächt, während dem Rat gewichtiger Einfluss zukommt. 3 9 8

394 Vgl. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG; Ziffer 7 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG. 395 Vgl. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG; Ziffer 7 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG. 396 Vgl. Art. 122 Abs. 5 S. 2 EG; Ziffer 7 S. 2 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 5 S. 2 EG. 397 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 2866/98 des Rats vom 31. 12. 1998 über die Umrechnungskurse zwischen dem Euro und den Währungen der Mitgliedstaaten, die den Euro einführen, ABl. EG 1998 Nr. L 359/1. Die Verordnung erging auf Grundlage des Art. 123 Abs. 4 EG. 398 Hierzu eingehend unten, Teil 1 C.III.2.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

105

b) Kein Ausschluss von den Beratungen im Rat Die Euro-12-Gruppe als Beratungsforum Anders als das Sozialprotokoll ordnen die Bestimmungen zur Wirtschafts· und Währungsunion keinen Ausschluss mitgliedstaatlicher Vertreter von den Beratungen im Rat a n . 3 9 9 Die Ratsmitglieder der Nichtteilnehmerstaaten dürfen sich an den Besprechungen, die sich im Vorfeld währungspolitischer Beschlüsse im Rat entspannen, beteiligen. Diese Einbeziehung ist im Hinblick auf ihre vertrauensbildende Wirkung der Regelung in Ziffer 2 Sozialprotokoll vorzuziehen. Sie erleichtert eine Koordination des gemeinschaftlichen Vorgehens mit den wirtschafts- und währungspolitischen Entscheidungen der nicht in die dritte Stufe eingetretenen Mitgliedstaaten und macht deutlich, dass ein Verbleiben auf dem vorherigen Integrationsniveau keine Ausgrenzung zur Folge hat. Die Vorteile der Beteiligung der Nichtteilnehmerstaaten an den Beratungen im Rat drohen jedoch entwertet zu werden, falls die für die Euro-Zone wesentlichen Unterredungen in Einrichtungen außerhalb dieses Gemeinschaftsorgans verlegt werden. Die sog. „Euro-12-Gruppe", die auch als „Euro-12-Rat" bezeichnet w i r d , 4 0 0 stellt ein Gremium dar, das in seiner Funktion als Beratungsforum mit dem Rat der Europäischen Union konkurriert. 4 0 1 Die Bildung der Euro-12-Gruppe wurde anlässlich des Europäischen Rats von Luxemburg vom 12. und 13. Dezember 1997 vereinbart. 402 In ihr treffen sich die Minister der dem gemeinsamen Währungsgebiet angehörenden Staaten in regelmäßigen Abständen, insbesondere im Vorfeld der Sitzungen des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister (ECOFIN-Rat), „um Fragen zu erörtern, die im Zusammenhang mit ihrer gemeinsam getragenen Verantwortung für die gemeinsame Währung stehen." 403 Dabei werden die Kommission und gegebenenfalls die Europäische Zentralbank, nicht aber die zu399

Vgl. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG; Ziffer 7 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 5 S. 1 EG. Die angeordneten institutionellen Modifikationen beschränken sich jeweils auf eine Aussetzung des Stimmrechts im Rat. 400 Die Bezeichnung Euro-12-Rat ist allerdings missverständlich, da es sich gerade nicht um einen Teil des Rats der Europäischen Union handelt. 401 Vgl. Tuytschaever, in de Burca/Scott, S. 173, 188. 402 Ygi die Entschließung des Europäischen Rats vom 13. 12. 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109b des EG-Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. C 35/3. Frankreich verband mit der Gründung der Euro-12-Gruppe die Absicht, ein politisches Gegengewicht zu der unabhängigen EZB zu schaffen. Vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rdnr. 896. 403 Entschließung des Europäischen Rats vom 13. 12. 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109b des EG-Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. C 35/3.

106 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

ständigen Minister der Nichtteilnehmerstaaten geladen. 404 Letztere besitzen in diesem Gremium nicht einmal eine Beobachterrolle. 405 Nur falls Themen von generellem Interesse zur Diskussion stehen, haben alle 15 Mitgliedsländer das Recht, an den Beratungen teilzunehmen. 406 Allerdings ist mangels einer entsprechenden Vereinbarung bislang offen, welche Angelegenheiten als solche anzusehen sind. Zwar stellt die Euro-12-Gruppe nur ein informelles Diskussionsforum dar, das aus rechtlicher Sicht die Stellung des ECOFIN-Rats als einzig zuständigem Entscheidungsgremium nicht in Frage stellen darf. 4 0 7 Dennoch können dort die Positionen der am Euro beteiligten Staaten bereits dergestalt verhandelt und abgesteckt werden, dass den Beratungen im ECOFINRat keine Bedeutung mehr für die anschließende Beschlussfassung zukommt. Dieser Möglichkeit wird dadurch Vorschub geleistet, dass die Euro12-Gruppe hinter verschlossener Türe tagt und daher die Tragweite der abgehaltenen Besprechungen nur schwer nachprüfbar ist. Vorschlägen, die im Rahmen der Euro-12-Gruppe zu erörternden Themen auszuweiten, begegnen die Opt-out-Staaten daher zu Recht mit Misstrauen. 408 c) Der Verlust personalpolitischen Einflusses

im ESZB

Aufgrund der weitreichenden geldpolitischen Kompetenzen des ESZB und dessen Unabhängigkeit von den mitgliedstaatlichen Regierungen ist die Besetzung seiner Beschlussorgane für die Gestaltung der Währungspolitik in der Euro-Zone von großer Bedeutung. Das ESZB wird von zwei der Be404

Gegen diese Vereinbarung meldeten die heutigen Nichtteilnehmerstaaten, allen voran Großbritannien, anfänglich heftigen Widerstand an. Vgl. hierzu „Britain rejects EMU club proposal", in Financial Times vom 10. 12. 1997, S. 1; „Europe's single currency. An insiders club", in the Economist vom 6. 12. 1997, S. 34. 405 Deshalb musste der britische Schatzkanzler Gordon Brown das erste förmliche Euro-11-Treffen im Juni 1998 verlassen, nachdem er es in seiner Funktion als Vertreter des britischen Vorsitzes eröffnet hatte, vgl. „UK Tastes Life Outside the Euro Club", in Financial Times vom 5. 6. 1998, S. 4. 406 ygi di e Entschließung des Europäischen Rats vom 13. 12. 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109b des EG-Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. C 35/3. 407

Vgl. Streinz, Europarecht, Rdnr. 896. Zu den ablehnenden Reaktionen auf die Vorschläge der finnischen Ratspräsidentschaft, die Euro-12-Gruppe solle sich künftig in einem formelleren Rahmen abspielen und sich zudem auch generellen Fragen der Beschäftigungs- und Steuerpolitik annehmen, vgl. „Finland hatches plan to boost power of Euro-11", in European Voice vom 3. bis 9. 6. 1999, S. 1. Zu den jüngsten Vorschlägen der Kommission, aus der Eurogruppe eine formelle Entscheidungsinstanz für die Eurozone zu machen, vgl. Mitteilung der Kommission, ein Projekt für die Europäische Union, KOM (2002), 247 Ziffer 1.1. 408

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

107

schlussorgane der EZB, dem EZB-Rat und dem Direktorium, geleitet (Art. 107 Abs. 3 EG). Das EZB-Direktorium umfasst den Präsidenten, den Vizepräsidenten der EZB und vier weitere Mitglieder (Art. 112 Abs. 2 lit. a) EG). Im EZB-Rat sind außer den Mitgliedern des Direktoriums die Präsidenten der teilnehmenden nationalen Zentralbanken vertreten (Art. 112 Abs. 1 EG). Der EZB-Rat stellt das oberste Entscheidungsorgan des ESZB dar. In ihm werden die maßgeblichen geldpolitischen Beschlüsse gefasst, während das Direktorium die getroffenen Entscheidungen ausführt und die nationalen Zentralbanken beaufsichtigt. 409 Die Regierungen der nicht am Euro beteiligten Mitgliedsländer wirken an der Ernennung des EZB-Direktoriums nicht m i t . 4 1 0 Die Mitglieder des Direktoriums müssen überdies Staatsangehörige der in die Währungsunion eingetretenen Mitgliedstaaten sein. 4 1 1 Nur die Zentralbankpräsidenten der Euro-Staaten sind im EZB-Rat vertreten. 412 Die Nichtteilnehmerstaaten können mithin keinen personalpolitischen Einfluss auf die Entscheidungen des ESZB und deren anschließende Umsetzung ausüben. Zudem wird die Geldpolitik der ESZB nur mit Rücksicht auf die Belange der Mitgliedstaaten betrieben, die der gemeinsamen Währungszone angehören. 413 Allerdings existiert ein drittes Beschlussorgan der EZB, der Erweiterte Rat, in dem die währungspolitischen Interessen der Nichtteilnehmerstaaten Gehör finden können. d) Der Erweiterte Rat als Bindeglied zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern Die Bildung des Erweiterten Rats wird durch Art. 123 Abs. 3 EG i.V.m. Art. 45 ESZB-Satzung angeordnet. In ihm sind gem. Art. 45.2 ESZB-Satzung der Präsident und Vizepräsident der EZB sowie die Präsidenten der nationalen Zentralbanken aller Mitgliedstaaten vertreten. In der Hauptsache ist der Erweiterte Rat für die Aufgaben verantwortlich, die vor der Errich409 Zu den Aufgaben und Kompetenzen von Direktorium und EZB-Rat Hüde, in Calliess/Ruffert, Art. 112 EGV Rdnrn. 1 ff.; Seidel, Integration 1998, S. 197, 204 f. 410 Vgl. Art. 123 Abs. 1 Spgstr. 2 EG; Ziffer 7 Abs. 2 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 123 Abs. 1 Spgstr. 2 EG. 411 Vgl. Art. 122 Abs. 3 EG i.V.m. Artikel 43.3 und Art. 11.2 ESZB-Satzung; Ziffer 8 Protokoll Nr. 25 i.V.m. Art. 11.2 ESZB-Satzung; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 3 EG i.V.m. Artikel 43.3 und Art. 11.2 ESZB-Satzung. 412 Vgl. Art. 122 Abs. 3 EG i.V.m. Artikel 43.4 und Art. 10.1 ESZB-Satzung; Ziffer 8 Protokoll Nr. 25 i.V.m. Art. 10.1 ESZB-Satzung; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 3 EG i.V.m. Artikel 43.4 und Art. 10.1 ESZB-Satzung. 413 Vgl. Art. 122 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 und 2 EG; Ziffer 8 Protokoll Nr. 25 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 und 2 EG; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 und 2 EG.

108 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

tung der EZB dem Europäischen Währungsinstitut oblagen und die im Verhältnis zu den Nichtteilnehmerstaaten weiterhin wahrzunehmen sind. 4 1 4 Dabei stellt die ESZB-Satzung klar, dass seine Befugnisse nicht in die Zuständigkeit des EZB-Rats für die ausschließlich an der Euro-Währungszone auszurichtenden geldpolitischen Entscheidungen übergreifen. 415 Trotz dieser beschränkten Kompetenzen erlaubt der Erweiterte Rat eine Abstimmung zwischen den Nationalbankpräsidenten der teilnehmenden und der nichtteilnehmenden Staaten und sorgt für die Unterrichtung seiner Vertreter über die Beschlüsse des EZB-Rats. 4 1 6 Dies ist von hoher Bedeutung, da die Aussprachen in den Sitzungen des EZB-Rats vertraulich sind und nur auf dessen Entscheidung hin der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. 417 Der Erweiterte Rat fungiert daher als wichtiges Informationsund Koordinationsforum, das eine Einbindung der Nichtteilnehmerstaaten in das höhere geldpolitische Integrationsniveau der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht. Er trägt somit seinen Teil dazu bei, dass sich die währungspolitische Spaltung in der Europäischen Union nicht vertieft. 3. Der nachträgliche Eintritt in die dritte Stufe der WWU Im Unterschied zu der fehlenden Beitrittsregelung des Sozialprotokolls räumt die Differenzierungskonstruktion der W W U den Nichtteilnehmerstaaten die Möglichkeit ein, sich ohne Vertragsänderung dem höheren Integrationsniveau anzuschließen. Art. 122 EG und die Protokolle Nr. 25 und 26 halten für einen nachträglichen Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion Regeln bereit. Dabei ist zwischen den Mitgliedstaaten, denen nach Art. 122 Abs. 1 EG eine Ausnahmeregelung gewährt wurde und den beiden Opt-out-Staaten zu unterscheiden. Während die Aufhebung der nach Art. 122 Abs. 1 EG erteilten Ausnahmeregelung nicht von einer Willensäußerung der betroffenen Mitgliedsländer abhängt, sehen die Protokolle Nr. 25 und 26 einen Eintritt Dänemarks und Großbritanniens in die dritte Stufe nur dann vor, wenn sich die beiden Mitgliedstaaten dazu bereit erklären. 414

Vgl. Art. 47.1 i.V.m. Art. 44 ESZB-Satzung. Zu den Aufgaben und Befugnissen des Erweiterten Rats eingehend Weber, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, nach Art. 109 m Satzung ESZB und EZB Artikel 47, Rdnrn. 2 ff. 415 Die Mitwirkungsrechte des Erweiterten Rats sind auf die in Art. 47 der ESZB-Satzung abschließend aufgezählten Befugnisse beschränkt. Er ist überdies gem. Art. 45.1 ESZB-Satzung ausdrücklich nur „unbeschadet des Art. 107 Abs. 3 [EG]" in seine Funktion als drittes Beschlussorgan eingesetzt. Art. 107 Abs. 3 EG legt fest, dass das ESZB alleinig vom EZB-Rat und dem Direktorium geleitet wird. 416 Ygi ψ 6 \ ) 6 Υ ; i n Groeben/Thiesing/Ehlermann, nach Art. 109 m Satzung ESZB und EZB Artikel 47, Rdnrn. 1 ff. 417

Vgl. Art. 10.4 ESZB-Satzung.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

a) Der Eintritt

109

durch Aufhebung der Ausnahmeregelung

Die Mitgliedstaaten, denen infolge des Verfehlens der Konvergenzkriterien nach Art. 122 Abs. 1 EG eine Ausnahmeregelung gewährt wurde, sollen sich an der dritten Stufe der W W U beteiligen, sobald sie die erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllen. Zu diesem Zweck verpflichtet Art. 122 Abs. 2 EG den Rat dazu, nicht nur auf deren Antrag, sondern zumindest einmal alle zwei Jahre über die Aufhebung der Ausnahmeregelung zu befinden. Er entscheidet unter Beachtung der Verfahrensvorschriften des Art. 122 Abs. 2 EG unter Beteiligung der Gesamtheit seiner Mitglieder mit qualifizierter Mehrheit. 4 1 8 Dabei muss er sich ausschließlich davon leiten lassen, ob die in Art. 121 Abs. 1 EG genannten Voraussetzungen für einen Eintritt in die dritte Stufe vorliegen. 419 Eine positive Entscheidung führt zur Aufhebung der Ausnahmeregelungen und zum unwiderruflichen Eintritt in die dritte Stufe der WWU. Das erste Beispiel eines Beitritts durch Erreichung der Konvergenzkriterien gibt Griechenland, das nachträglich in die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion eintrat. Ermöglicht wurde der griechische Anschluss an die Euro-Zone durch eine Politik strikter wirtschafts- und haushaltspolitischer Sanierung, die das Land seit 1996 einer Erfüllung der Konvergenzkriterien schrittweise näher brachte. 420 A m 19. Juni 2000 beschloss der Rat in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, die Ausnahmeregelung für Griechenland aufzuheben und das Land ab dem 1. Januar 2001 in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion aufzunehmen. 421 Die Gefahr einer dauerhaften Spaltung der Union in konvergenzfähige und konvergenzunfähige Mitglieder ist durch diesen Beitritt des zunächst einzigen Lands, das die Voraussetzungen zum Eintritt in die dritte Stufe unfreiwillig verfehlt hatte, gebannt. Infolge der wohlwollenden Interpretation der Konvergenzkriterien nehmen im gegenwärtigen Zeitpunkt alle Mitgliedstaaten, die den Euro als gemeinsames Zahlungsmittel einführen wollten, auch an der W W U t e i l . 4 2 2 Im Zuge der geplanten EU-Erweiterung werden 418

Der Ratsentscheidung gehen Berichte von Kommission und EZB voraus, in denen zur Befähigung zum Eintritt in die dritte Stufe Stellung genommen wird. Der Rat entscheidet auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments. 419 Vgl. Art. 122 Abs. 2 i.V.m. Art. 121 Abs. 1 EG. 420 Zu den seit 1996 unternommenen Konvergenzbemühungen der griechischen Regierung Simitris Papaschinopoulou, Politische Studien 2000, S. 43, 45 ff. 421 Entscheidung des Rats vom 19. 6. 2000 gemäß Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Einführung der Einheitswährung durch Griechenland am 1.1. 2001, ABl. EG 2000 L 167/19 ff. Die Entscheidung erging auf eine vorherigen Antrag Griechenlands vom 9. 3. 2000; vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7673 vom 10. 3. 2000, S. 5.

110 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

allerdings eine Vielzahl mittel- und osteuropäischer Staaten der Europäischen Union beitreten, die aufgrund ihrer realökonomischen Abweichungen langfristig dem Kreis der Nichtteilnehmerstaaten zugerechnet werden müssen. Hierbei wird sich auch bemerkbar machen, dass die Eintrittsvoraussetzungen für ein später hinzustoßendes Mitgliedsland schwieriger zu erfüllen sind als für einen Staat, der sich an der gemeinsamen Währungszone bereits seit Anbeginn beteiligt. 4 2 3 Daher muss kritisch betrachtet werden, dass der Titel V I I EG keinen spezifischen Beihilfe- oder „Aufholmechanismus" vorsieht, der den Staaten, welche die Voraussetzungen einer Teilnahme an der gemeinsamen Währung auch dauerhaft nicht zu erfüllen in der Lage sind, eine hinreichende Unterstützung bieten könnte. 4 2 4 Dahingehende Pläne Jacques Delors' hatten bei den Maastrichter Vertragsänderungen unter den Mitgliedstaaten nicht die notwendige Zustimmung gefunden. 425 b) Der Eintritt

durch Verzicht auf die Opt-out-Stellung

Großbritannien und Dänemark sind hinsichtlich des Eintritts in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion keinem Automatismus unterworfen. Das Verfahren zur Aufhebung der Ausnahmeregelungen nach 122 Abs. 2 EG wird nur auf dänischen Antrag bzw. auf britische Notifikation hin eingeleitet. 426 Erst ab diesem Zeitpunkt verläuft der Übergang in die dritte Stufe für die Opt-out-Staaten nach den gleichen Regeln wie für die nach Art. 122 Abs. 1 EG freigestellten EU-Mitglieder. Da im Fall Großbritanniens und Dänemarks mit einer Erfüllung der wirtschaftlichen Konvergenzkriterien gerechnet werden kann, ruht die Entscheidung über einen Anschluss an das höhere Integrationsniveau ausschließlich in ihrer Hand. 422 Unerwünschte Folge der laxen Handhabung der Eintrittsvoraussetzungen ist allerdings, dass die realwirtschaftliche Konvergenz in der Euro-Zone ebenso gering ist wie in der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit. Eine optimale europäische Währungsunion müsste nach den meisten empirischen Studien bei weitem weniger Mitgliedstaaten umfassen als die gegenwärtig beteiligten. Hierzu eingehend Tichy, in Breuss Griller, S. 105, 108 ff. m.w.N. 423 Vgl. Crespo, Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. 29, 35; Tichy, in Breuss/Griller, S. 105, 107. 424 Lediglich der nach Art. 161 Abs. 2 EG errichtete Kohäsionsfonds zielt darauf ab, die Heranführung der ärmeren Mitgliedstaaten an das Niveau der Gemeinschaft im Interesse einer baldigen Verwirklichung der WWU zu fördern. Die Ausstattung des Fonds für den Zeitraum 2000-2006 beträgt allerdings derzeit nur 18 Mrd. Euro, was bei den Strukturschwächen der mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer als unbedeutende Summe betrachtet werden muss. Vgl. hierzu Ρ riebe, in Schwarze, Art. 161 EGV Rdnrn. 44 f. 425 Der damalige Kommissionspräsident plante eine erhebliche Ausweitung der Regional- und Strukturfonds zugunsten der noch nicht WWU-reifen EU-Mitglieder. Vgl. hierzu Tichy, in Breuss/Griller, S. 105, 106 f. 426 Vgl. Ziffer 4 Protokoll Nr. 26; Ziffer 10 Protokoll Nr. 25.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

111

Beweist sich die gemeinsame Währung als Erfolgsprojekt, so ist allerdings davon auszugehen, dass die beiden Staaten unter den erheblichen Zugzwang eines sog. „Re-Opt-in" geraten werden. 4 2 7 Denn der Opt-out aus der einheitlichen Währungszone ist mit erheblichen politischen und wirtschaftlichen Nachteilen verbunden. Diese resultieren einerseits aus der Nichtteilhabe an den Vorteilen des Euro. 4 2 8 Zum anderen daraus, dass die Wirkungen des neu entstandenen währungspolitischen Gravitationszentrums vor Großbritannien und Dänemark nicht Halt machen werden. Bereits in der Anfangsphase der gemeinsamen Währung wirken wichtige Entscheidungen des ESZB auch auf die an der dritten Stufe unbeteiligten Mitgliedstaaten ein, ohne dass die betreffenden Länder personalpolitischen Einfluss auf die Besetzung seiner Beschlussorgane nehmen können. 4 2 9 Die Nichtteilnehmerstaaten werden ihre Währungspolitik oftmals an der Europäischen Zentralbank ausrichten müssen, ohne bei ihrer Geldpolitik Berücksichtigung zu finden. 4 3 0 Auch sehen sich die Unternehmen der nicht in die dritte Stufe eingetretenen Mitgliedstaaten, die in der Euro-Zone Handel treiben, zunehmend dazu gezwungen, ihre An- und Verkäufe in der neuen Währung abzuwickeln. 4 3 1

III. Die aufgeworfenen Rechtsfragen: Die differenzierten Außenkompetenzen 1. Der partielle acquis communautaire der dritten Stufe der WWU Anhand der Differenzierung in der gemeinsamen Sozialpolitik wurde aufgezeigt, dass die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft seitens einer mitgliedstaatlichen Avantgarde zur Koexistenz zweier sich unabhängig voneinander fortentwickelnder gemeinschaftlicher Besitzstände unterschiedlichen territorialen Geltungsumfangs führen kann. Auch in der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ist die Herausbildung eines zusätzlichen partiellen acquis communautaire zu 427

Vgl. Beaumont/Walker , in Beaumont/Walker, S. 169, 190; Healey, in Lynch/ Neuwahl/Rees, S. 87, 104 ff.; Tuytschaever, in de Burca/Scott, S. 174, 192. 428 Die Senkung der Transaktionskosten bei grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivitäten wie Handel, Direktinvestitionen oder Tourismus, die Wechselkurssicherheit und die erhöhte Preistransparenz kommen ausschließlich den wirtschaftlichen Akteuren aus den teilnehmenden Mitgliedstaaten zugute. Hierzu eingehend Simon, in Baimbridge/Burkitt/Whyman, S. 169, 171 ff. 429 Vgl. Stevens, in Haseler/Reland, S. 93, 96. 430 Vgl. Healey, in Lynch/Neuwahl/Rees, S. 87, 105; Stevens, in Haseler/Reland, S. 93, 96. 431 Vgl. Muschiclc, Politische Studien 2000, S. 19, 26; Simon, in Baimbridge/Burkitt/Whyman, S. 169, 173 ff.

112 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

beobachten. Er gelangt dadurch zur Entstehung, dass ein Teil der Mitgliedstaaten von der Mehrzahl der ab Eintritt in die dritte Stufe anwendbaren Vertragsbestimmungen freigestellt wird. Im Unterschied zu den erweiterten Kompetenzen des Sozialabkommens finden sich allerdings zu den zusätzlichen Handlungsbefugnissen der dritten Stufe der W W U keine parallelen Rechtsgrundlagen, auf Grundlage derer mit Wirkung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten inhaltsgleiches Recht erlassen werden könnte. Ein Rangoder Konkurrenzproblem zwischen gesamtgemeinschaftlicher und partieller Rechtsetzung stellt sich für die Euro-Zone daher nicht. Die gemeinschaftsrechtliche Ergänzung eines gemeinsamen Politikbereichs, deren Geltung sich auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkt, wirft dagegen auch für die W W U die Frage auf, ob der erweiterte Rechtsbestand seitens der Drittstaaten, die eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben, übernommen werden muss. Eine Antwort muss für die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion anders ausfallen als für den sozialpolitischen Sonderacquis des Sozialabkommens. Nach der Regelungskonzeption der Maastrichter Vertragsbestimmungen hat es sich die Europäische Union zum Ziel gesetzt, unter Beteiligung aller ihrer Mitglieder ein einheitliches Währungsgebiet zu schaffen. 432 Daran ändert die Freistellung einzelner Mitgliedstaaten von den erweiterten Bestimmungen des Titels V I I EG nichts. Die EU-Beitrittskandidaten müssen sich diesem Integrationsziel anschließen und das zum Zweck seiner Erreichung geschaffene Gemeinschaftsrecht bei ihrem Beitritt übernehmen. Entsprechend hat der Europäische Rat von Kopenhagen klargestellt, dass eine EU-Mitgliedschaft nur für die Kandidatenländer in Betracht kommt, die sich die Ziele der W W U zu Eigen machen können. 4 3 3 Angesichts dessen wird ein Opt-out nach dem Vorbild des Vereinigten Königreichs und Dänemarks bei den Beitrittsverhandlungen nicht zu erzielen sein. 4 3 4 Auf einem anderen Gebiet wirft die Differenzierungsregelung des Titels V I I EG rechtliche Fragen auf, die sich in der gemeinsamen Sozialpolitik nicht stellten. Sie räumt der in die dritte Stufe der W W U eingetretenen Europäischen Gemeinschaft im Außenverhältnis zu Drittstaaten und internationalen Organisationen die Befugnis ein, ihre wirtschafts- und währungspolitischen Beziehungen zu gestalten. Dabei gestattet Art. I l l EG die Nutzung gemeinschaftlicher Außenkompetenzen in der Weise, dass die Europäische Gemeinschaft zwar zu einem Tätigwerden nach außen befugt ist, die Aus432

Vgl. Abs. 8 Präambel EU, Art. 2 Spgstr. 1 EU, Art. 4 Abs. 2 EG. Vgl. Europäischer Rat von Kopenhagen vom 21./22. 6. 1993, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEG 6-1993, Z. 1.13.13. 434 Nicht verhindern lässt sich allerdings, dass die neuen Mitgliedsländer durch ein freiwilliges oder unbeabsichtigtes Verfehlen der Konvergenzkriterien dauerhaft den Status eines Mitgliedstaats einnehmen, für den eine Ausnahmeregelung gilt. 433

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und W ä h r u n g s u n i o n 1 1 3

Übung dieser Handlungsbefugnisse aber nur im Verhältnis zu den am höheren Integrationsniveau beteiligten Mitgliedstaaten Wirkungen zu entfalten bestimmt sind. Die aus diesen differenzierten gemeinschaftlichen Außenkompetenzen resultierenden Problemstellungen werden im Folgenden aufgezeigt und, soweit möglich, einer Lösung zugeführt. 2. Die Außenkompetenzen des Art. I l l EG Seit dem 1. Januar 1999 sind der Europäischen Gemeinschaft in Art. 111 EG ausdrückliche Kompetenzen eingeräumt, mittels welcher sie ihren Standpunkt und ihre Interessen in der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt zu vertreten in der Lage i s t . 4 3 5 Art. I l l EG erteilt die Befugnis zum Abschluss völkerrechtlicher Vereinbarungen auf währungspolitischem Gebiet, zur Festlegung von Vorgaben für die gemeinschaftliche Wechselkurspolitik im Verhältnis zu Drittstaaten und zur nichtvertraglichen Vertretung der Wirtschafts- und Währungsunion auf internationaler Ebene. 4 3 6 Art. 111 Abs. 1 EG (förmliche Vereinbarungen 437 über ein Wechselkurssystem gegenüber Drittlandswährungen) und Art. 111 Abs. 3 EG (Vereinbarungen im Zusammenhang mit Währungsfragen oder Devisenregelungen) regeln das Verfahren und die gemeinschaftlichen Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Vereinbarungen mit Drittstaaten und internationalen Organisationen. Dabei ist die Organkompetenz des Rats gegenüber der allgemeineren Bestimmung des Art. 300 EG wesentlich gestärkt, während sich die Rolle der Kommission deutlich abschwächt. 438 Das in Art. 300 EG anzutreffende Verhandlungsmonopol der Kommission wird teils durchbrochen 4 3 9 und deren vorherige Empfehlung ist für den Abschluss dieser Abkommen nicht durchweg erforderlich. 440 435

Aufgrund der sich dem Wortlaut des Art. 133 Abs. 3 EG annähernden Formulierung in Art. I l l EG ist davon auszugehen, dass Art. I l l EG nicht nur Verfahrensfragen regelt, sondern der Gemeinschaft in den betroffenen Materien Kompetenzen zum Handeln nach außen verleiht. Vgl. Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273, 295 f. 436 Ungeachtet der Verortung des Art. 111 EG im zweiten Kapitel des Titels VII EG („Die Währungspolitik") ist den Abs. 4 und 5 der Vorschrift zu entnehmen, dass sie auch wirtschaftspolitische Aspekte der gemeinschaftlichen Außenkompetenzen zum Gegenstand hat. Vgl. Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, S. 440. 437 Der Begriff „förmliche Vereinbarungen" bezeichnet nur Abkommen, denen völkerrechtliche Verbindlichkeit zukommt. Der Abschluss formloser Absprachen über die Wechselkurspolitik, etwa in internationalen Gremien wie der G7, unterliegt den Regeln des Art. 111 Abs. 4 EG. Vgl. Martenczuk ZaöRV 1999, S. 93, 98. 438 Hierzu eingehend Lebullenger, RtDE 1998, S. 459, 461 ff.; das Europäische Parlament ist nur im Wege einer Anhörung zu beteiligen, wenn Abkommen nach Maßgabe des Art. 111 Abs. 1 EG geschlossen werden. 8 Kellerbauer

114 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Nach Art. 111 Abs. 2 EG ist der Rat dazu befugt, allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik gegenüber den Drittlandswährungen aufzustellen, mit denen kein Wechselkurssystem besteht. 441 Auch hier ist der Rat nicht auf eine vorherige Empfehlung der Kommission angewiesen, sondern kann auch auf Empfehlung der EZB hin tätig werden. 4 4 2 Art. 111 Abs. 4 EG betrifft das Handeln der Gemeinschaft bei sonstigen Fragen, deren Behandlung auf internationaler Ebene von besonderer Bedeutung für die W W U sind, insbesondere die Vertretung der Wirtschafts- und Währungsunion in internationalen Gremien und internationalen Organisationen. 4 4 3 Insoweit beschließt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB, wobei er unter Berücksichtigung der aus den Art. 99 und 105 EG folgenden Zuständigkeiten zu entscheiden hat, ob die Gemeinschaftsorgane, die EZB oder die Mitgliedstaaten zur gemeinschaftlichen Vertretung befugt sind. 4 4 4 Die Kompetenzen des Art. I l l EG sind für die Gestaltung der gemeinschaftlichen Außenbeziehungen von hoher Bedeutung. 445 Trotz dieses Stellenrangs gilt der Artikel nicht im Verhältnis zur Gesamtheit der EU-Mitglieder, sondern nur gegenüber den an der Wirtschafts- und Währungsunion beteiligten Mitgliedstaaten. 446 Der Gemeinschaft ist in Art. I l l EG nicht die Befugnis eingeräumt, im Außenverhältnis zu Drittstaaten und 439 Der Rat kann gem. Art. 111 Abs. 1 EG auch der EZB das Verhandlungsmandat erteilen oder den Ratsvorsitz mit der Vertretung beauftragen. Vgl. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 94. Im Fall des Abs. 3 muss die Kommission allerdings zumindest an den Verhandlungen in vollem Umfang beteiligt werden. 440 Der Rat kann nach Art. 111 Abs. 1 EG auch auf Empfehlung der EZB tätig werden. 441 Zu diesen allgemeinen Orientierungen und der strittigen Frage ihrer Verbindlichkeit gegenüber dem ESZB Potacs, in Schwarze, Art. 111 EGV Rdnr. 5; Weiß, EuR 2002, S. 165, 183 ff. Der Europäische Rat hat indes erklärt, von Art. 111 Abs. 2 EG würde nur unter außergewöhnlichen Umständen, wie im Fall eindeutiger Wechselkurs Verzerrungen, Gebrauch gemacht. Vgl. Entschließung des Europäischen Rats vom 13. 12. 1997 über die wirtschaftspolitische Koordinierung in der dritten Stufe der WWU und zu den Artikeln 109 und 109b des EG-Vertrags, ABl. EG 1998 Nr. C 35/3. 442 Die Wechselkurspolitik der Euro-Zone im Verhältnis zu Drittstaaten lässt sich nach Maßgabe der Art. 111 Abs. 1 und Abs. 2 EG somit unter gänzlicher Umgehung der Kommission betreiben. 443 Art. 111 Abs. 4 ist insoweit lex specialis zu Art. 302 EG, der ebenfalls die Beziehungen der Gemeinschaft zu internationalen Organisationen zum Gegenstand hat. Vgl. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 100. 444 Hierzu eingehend Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 101. 445 Vgl. Lebullenger, RtDE 1998, S. 459 f.; Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273 f. 446 Vgl. Art. 122 Abs. 3 EG; Ziffer 5 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 3 EG.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

115

internationalen Organisationen mit Wirkung für die Gesamtheit ihrer Mitglieder zu agieren. 447 Art. 111 Abs. 4 EG ermöglicht es im Bereich des nichtvertraglichen gemeinschaftlichen Außenhandelns demzufolge nicht, auch mit Geltung für die Nichtteilnehmerstaaten eine gemeinsame Position zu beziehen. Den Gemeinschaftsorganen und der EZB ist es nach Art. 111 Abs. 4 EG vielmehr nur im Verhältnis zu den am Euro beteiligten Ländern gestattet, die Gemeinschaft in internationalen Gremien und Organisationen zu vertreten. 448 Großbritannien, Dänemark und Schweden bleibt es dagegen grundsätzlich ungenommen, ihren Standpunkt in Wirtschafts- und Währungsfragen abweichend zu definieren. 449 Auch die in Art. 111 Abs. 1 und 3 EG eingeräumten Kompetenzen zum Abschluss internationaler Abkommen gelten nur im Verhältnis zu den an der Endstufe der W W U beteiligten Mitgliedstaaten. Diese differenziert geltenden gemeinschaftlichen Vertragsabschlusskompetenzen werfen besondere Fragen auf, die im Folgenden eingehend dargestellt werden. 3. Die Folgen differenzierter Kompetenzen zum Abschluss internationaler Verträge a) Überblick über die Problemstellung Die auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkte Geltung des Art. 111 Abs. 1 und 3 EG führt zu der widersprüchlich anmutenden Konsequenz, dass mitgliedstaatliche Zuständigkeiten zum Abschluss internationaler Vereinbarungen neben der ausschließlichen gemeinschaftlichen Zuständigkeit inhaltsgleicher Art fortbestehen können. W i l l die Europäische Gemeinschaft in der Wirtschafts- und Währungspolitik völkerrechtliche Verträge schließen, die für die Gesamtheit ihrer Mitglieder verpflichtend sind, kann es die Rücksichtnahme auf diese verbleibenden mitgliedstaatlichen Außenkompetenzen erforderlich machen, sich einer Neuform gemischter Abkommen zu bedienen. Schließt die Gemeinschaft dagegen Abkommen, deren Bindungs447 Vgl. Art. 122 Abs. 3 EG; Ziffer 5 Protokoll Nr. 25; Ziffer 2 Protokoll Nr. 26 i.V.m. Art. 122 Abs. 3 EG. 448 Vgl. Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, 445 f. 449 Grenzen setzt diesem mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Gemeinschaftstreue. Im Bereich der Wechselkurspolitik gilt darüber hinaus Art. 124 EG, der die Nichtteilnehmerstaaten dazu verpflichtet, die Wechselkurse als Angelegenheit gemeinsamen Interesses zu betrachten. Zu den Beschränkungen aus Art. 10 EG siehe unten, Teil 1 C.III.3.d)cc). Zu Art. 124 EG eingehend Estorff/Molitor, in Groeben/Thiesing/Ehlermann Art. 109k Rdnr. 6; Smits, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 109m Rdnrn. 1 ff.

8*

116 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Wirkung sich auf die Mitglieder der Euro-Zone beschränken, so bleibt es den Nichtteilnehmerstaaten gestattet, auch völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, die zu den erweiterten gemeinschaftlichen Handlungsbefugnissen der W W U im Widerspruch stehen. Diese Verpflichtungen können bei einem späteren Eintritt in die dritte Stufe der W W U zum Hindernis werden. b) Die differenzierten Vertragsabschlusskompetenzen nach Art. 111 Abs. 1 und 3 Soweit das Gemeinschaftsrecht anordnet, dass die auf Grundlage der Art. 111 Abs. 1 und Abs. 3 EG geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen weder für die Mitgliedstaaten, denen eine Ausnahmeregelung gewährt wurde, noch für Großbritannien und Dänemark Geltung beanspruchen, muss diese Geltungsbeschränkung zunächst auf ihre völkerrechtliche Wirkung untersucht werden. Zu prüfen ist, ob nur die an der gemeinsamen Währungszone beteiligten Mitgliedstaaten die Erfüllung der nach Art. 111 Abs. 1 und 3 EG geschlossenen Verträge schulden. Der Euro-Zone der 12 Euro-Teilnehmerstaaten wird im EGV nirgends eine internationale Rechtspersönlichkeit zugewiesen. 450 Das auf Grundlage der Art. 111 Abs. 1 und 3 EG handelnde Völkerrechtssubjekt ist daher die Europäische Gemeinschaft als solche. 451 Für dieses ist nun aber entsprechend der in Art. 27 W V K kodifizierten völkergewohnheitsrechtlichen Regel anzunehmen, dass es sich grundsätzlich nicht auf sein internes Recht berufen kann, um sich seinen vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen. 452 Die zwischen der EG und einzelner ihrer Mitglieder im EGV vereinbarten Freistellungen stellen für den Vertragspartner eine res inter alios acta dar, die ihn nicht zu interessieren braucht. 453 Im Außenverhältnis treffen die eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen daher die Europäische Gemeinschaft als Ganze unter Einschluss aller ihrer Mitglieder. 4 5 4 Soll diese Konsequenz vermieden werden, so muss eine hinreichende Offenlegung der innergemeinschaftlichen Kompetenzbeschränkung gegenüber den kontrahierenden Völkerrechtsubjekten erfolgen. 455 Um der gemeinschafts450 Vgl. Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273, 274 f. Völkerrechtlich wäre eine solche Zuweisung überdies nur gegenüber den Drittstaaten beachtlich, welche die Existenz dieser Völkerrechtssubjektivität anerkennen. Vgl. Graf Vitzthum, in Graf Vitzthum, Rdnr. 120. 451 Vgl. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 96. 452 Ähnlich Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 96. Vgl. auch Krück, in Schwarze, Art. 300 EGV Rdnr. 44. 453 Zum Grundsatz des „pacta tertiis nec nocent nec prosunt" und dessen Geltung als Völkergewohnheitsrecht Graf Vitzthum, in Graf Vitzthum, Rdnr. 120\ Ipsen, Völkerrecht § 12 Rdnr. 23. 454 Vgl. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 96.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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rechtlichen Freistellung der Nichtteilnehmerstaaten auch auf völkerrechtlicher Ebene zur Geltung zu verhelfen, sind die handelnden Gemeinschaftsorgane zu dieser Offenlegung bei Vertragsabschluss verpflichtet. 456 c) Die Entstehung einer Neuform gemischter Abkommen Strebt die Gemeinschaft eine Bindung der Gesamtheit ihrer Mitglieder an, so muss sie die Nichtteilnehmerstaaten durch Abschluss eines gemischten Abkommens in die intendierte internationale Vereinbarung mit einbeziehen. Unter gemischten Abkommen versteht man Abkommen mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen, an denen auf der einen Seite neben der Gemeinschaft auch die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien beteiligt sind. 4 5 7 Diese Abkommen sind notwendig, wenn sich der Gegenstand einer internationalen Vereinbarung nicht genau mit jenen Sachmaterien deckt, die in die Außenzuständigkeit der Gemeinschaft fallen, die betreffende Vereinbarung also sowohl Bereiche gemeinschaftlicher wie mitgliedstaatlicher Zuständigkeit erfasst. 458 Dies ist insbesondere im Bereich konkurrierender Kompetenzen der Fall, wo neben der Gemeinschaft zunächst auch ihre Mitglieder für ein Sachgebiet zuständig bleiben. 4 5 9 Ehlermann hatte bereits 1984 vorausgesehen, dass die Schaffung gemeinschaftlicher Handlungsbefugnisse, auf deren Grundlage ein Tätigwerden nur mit Wirkung für einen Teil der Mitgliedstaaten möglich ist, zur Entstehung einer neuen Form gemischter Abkommen führen würde. 4 6 0 Auch differenzierte gemeinschaftliche Außenkompetenzen, die zum Handeln nur mit Geltung für einen Teil der Mitgliedstaaten berechtigen, haben die Koexistenz gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Außenzuständigkeiten im selben Sachbereich zur Folge. 4 6 1 Anders als bei der herkömmlichen Form gemischter Abkommen konkurrieren hier aber nicht gemeinschaftliche Außen455

Vgl. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 96 f. Der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet die Gemeinschaftsorgane bei ihrem Tätigwerden zur Beachtung der verbliebenen mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten. Vgl. Kahl, in Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rdnrn. 50 ff.; Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnr. 52. 457 Vgl. Geiger, Art. 300 EGV Rdnr. 32; Streinz, Europarecht, Rdnr. 428. 458 Vgl. Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnr. 25; Tomuschat, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 Rdnr. 9. 459 Das Vorliegen paralleler Kompetenzen von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten oder die Erforderlichkeit einer mitgliedstaatlichen Beteiligung bei der Durchführung eines Abkommens sind die weiteren herkömmlichen Anwendungsfelder gemischter Abkommen. Vgl. hierzu Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnr. 25. 460 Vgl. Ehlermann, MichLRev 1984, S. 1274, 1278. 461 Die Koexistenz gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge kann überdies aus differenzierten gemein456

118 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

kompetenzen mit den Vertragsabschlusskompetenzen, die der Gesamtheit der Mitgliedstaaten verblieben sind. Vielmehr stehen den im Verhältnis zu einem Teil der Mitgliedstaaten existierenden differenziert-ausschließlichen gemeinschaftlichen Außenkompetenzen die verbleibenden mitgliedstaatlichindividuellen Vertragsabschlußkompetenzen der am höheren Integrationsniveau unbeteiligten EU-Mitglieder gegenüber. 462 Die Gemeinschaft der mitgliedstaatlichen Avantgarde und die übrigen Mitgliedsländer besitzen keine konkurrierende, sondern gleichrangige Kompetenzen, die aber jeweils territorial beschränkt sind. 4 6 3 Infolge dieser Unterschiede muss untersucht werden, ob die Wirkung differenziert-gemischter Abkommen mit der herkömmlicher gemischter Vereinbarungen identisch ist. Im Hinblick auf die völkerrechtliche Bindungswirkung der herkömmlichen gemischten Abkommen ist anerkannt, dass sowohl für die Europäische Gemeinschaft als auch für deren Mitgliedstaaten eine Verpflichtung über die gesamte sachliche Breite des Vertragswerks hinweg entsteht. 464 Diese umfassende Bindung ist Folge des im internationalen Rechtsverkehr geltenden allgemeinen Vertrauensgrundsatzes (venire contra factum proprium). 4 6 5 Soweit auf besondere Kompetenzverteilungsregeln nicht gesondert hingewiesen wird, stellen diese eine für den Vertragspartner unbeachtliche res inter alios acta dar 4 6 6 Auf die hier untersuchte Neuform gemischter Abkommen lässt sich dieser Gedanke inhaltsgleich übertragen. Den Vertragspartner braucht die aus der Differenzierungsregelung des Titels V I I EG resultierende territoriale Beschränkung gemeinschaftlicher Außenkompetenzen nicht zu interessieren. Sie stellt aus seiner Sicht ebenfalls eine res inter alios acta dar. Wird auf die territorialen Grenzen gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Außenkompetenz bei Vertragsabschluss nicht hingewiesen, werden die Europäische Gemeinschaft und sämtliche ihrer Mitglieder über das gesamte territoriale Anwendungsfeld des Vertragswerks hinweg völkerrechtlich verpflichtet. Was die gemeinschaftsinterne Bindung der unter Beteiligung der WWUNichtteilnehmerstaaten geschlossenen gemischten Abkommen anbelangt, schaftlichen Innenkompetenzen resultieren. Dies folgt aus der AETR-Rechtsprechung des EuGH. Siehe hierzu sogleich unten, Teil 1 C.III.3.d)aa). 462 vgl Tuytschaever, in Lejeune, S. 405, 406. 463

Vgl. Tuytschaever, S. 173 f. Vgl. Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnr. 26 m.w.N.; Streinz, Europarecht, Rdnr. 429. 465 Gemeinschaft und Mitgliedstaaten treten bei Vertragsschluss einheitlich auf und müssen sich diese Einheitlichkeit auch völkerrechtlich zurechnen lassen. Vgl. Streinz, Europarecht, Rdnr. 429. Vgl. auch Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnr. 26, mit m. w. N. zu anderen Begründungsansätzen. 466 Vgl. Geiger, Art. 300 EGV Rdnr. 34; Streinz, Europarecht, Rdnr. 429. 464

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

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sind die unterschiedlichen Zuständigkeitsbereiche dagegen ebenso zu berücksichtigen wie bei herkömmlichen gemischten Abkommen. Soweit Gemeinschaftsabkommen im Umfang ihres völkerrechtlich verbindlichen Inhalts integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung werden, 467 betrifft dies bei gemischten Abkommen nur die Teile, die in den Bereich gemeinschaftlicher Kompetenz fallen 4 6 8 Beteiligen sich die Nichtteilnehmerstaaten einer partiellen Integrationsvertiefung im Wege eines gemischten Abkommens an der Ausübung der ihnen gegenüber nicht geltenden erweiterten gemeinschaftlichen Außenkompetenzen, können demnach für ihr Hoheitsgebiet prinzipiell nur völkerrechtliche und keine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen resultieren 4 6 9 Allerdings treffen die Europäische Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten auch hier die einander obliegende gemeinschaftsrechtliche Pflicht, zum Zwecke der ordnungsgemäßen Vertragserfüllung koordiniert zusammenzuwirken. 470 Schließlich folgt diese Verpflichtung aus Art. 10 E G , 4 7 1 einer Bestimmung, die auf die Teilnehmerstaaten und die Nichtteilnehmerstaaten der Währungsunion Anwendung findet. d) Der differenzierte Zuwachs ausschließlicher Gemeinschaftskompetenzen Die Erweiterung der gemeinschaftlichen Befugnisse zum Abschluss völkerrechtlicher Abkommen steht in einer Wechselbeziehung zu den verbleibenden Außenzuständigkeiten der EU-Mitgliedstaaten. Der Erwerb von Außenkompetenzen durch die Europäische Gemeinschaft kann mit einer Ausschlusswirkung für die mitgliedstaatlichen Vertragsabschlusskompetenzen einhergehen. 472 Erlangt die Europäische Gemeinschaft nur im Verhältnis zu den in die dritte Stufe der W W U eingetretenen Mitgliedstaaten zusätzliche Außenkompetenzen, muss demnach geklärt werden, welche Konsequenzen sich hieraus für die Zuständigkeiten der am gemeinsamen Währungsraum beteiligten und der dem Euro bislang fernbleibenden Mitgliedstaaten ergeben. 467

Vgl. hierzu Krück, in Schwarze, Art. 281 EGV Rdnr. 24; Tomuschat, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 EGV Rdnrn. 57 ff. 468 Vgl. Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnr. 69; Tomuschat, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 EGV Rdnr. 77; a.A. Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 1402. 469 Vgl. Tuytschaever, in Lejeune, S. 405, 406. 470 Vgl. hierzu für herkömmliche gemischte Abkommen Geiger, Art. 300 EGV Rdnr. 35; Streinz, Europarecht, Rdnr. 430. 471 Vgl. EuGH, Gutachten 1/94 (WTO), Slg. 1994-1, S. 5267, 5420; Geiger, Art. 300 EGV Rdnr. 35. 472 Hierzu eingehend Tomuschat, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 EGV Rdnrn. 3 ff.

120 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

aa) Der fortschreitende Außenkompetenzverlust der WWU-Teilnehmerstaaten Gem. Art. 111 Abs. 5 EG haben auch die in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eingetretenen Mitgliedstaaten weiterhin „das Recht, unbeschadet der Gemeinschaftszuständigkeit und der Gemeinschaftsvereinbarungen über die Wirtschafts- und Währungsunion in internationalen Gremien Verhandlungen zu führen und internationale Vereinbarungen zu treffen". Hieraus folgt, dass die der Europäischen Gemeinschaft in Art. 111 Abs. 1-4 EG eingeräumten Außenkompetenzen a priori nicht ausschließlicher Natur sind. 4 7 3 Vielmehr bleiben auch die Teilnehmerstaaten befugt, internationale wirtschafts- und währungspolitische Vereinbarungen zu treffen 4 7 4 Sie verlieren diese Befugnis nur dort, wo die Gemeinschaft Regelungsgegenstände durch auswärtiges Tätigwerden an sich zieht. 4 7 5 Dass unabhängig von der Ausübung gemeinschaftlicher Außenkompetenzen mit einer fortschreitenden Verringerung der Vertragsabschlusskompetenzen der an der Euro-Zone beteiligten Mitgliedstaaten zu rechnen ist, haben die Maastrichter Vertragsparteien in einer Erklärung deutlich gemacht, die dem Vertrag über die Europäische Union beigefügt wurde. Die damalige Erklärung (Nr. 10) zu den Artikeln 109, 130r und 130 y EGV (Artikel 111, Abs. 5, 174 Abs. 4 Uabs. 2 und Art. 181 EG) lautet wie folgt: „Die Konferenz vertritt die Auffassung, dass Artikel 109 Abs. 5, Artikel 130r Abs. 4 Uabs. 2 und Art. 130 y nicht die Grundsätze berühren, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes in der AETR-Rechtssache ergeben". In der Rechtssache A E T R 4 7 6 formulierte der EuGH zum einen Grundsätze über die Parallelität von gemeinschaftlichen Innen- und Außenkompe473

Vgl. Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, 443; Tuytschaever , S. 171; Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273, 317; a.A. Martenczuk, ZaöRV 1999, S. 93, 105 sowie ausführlich Weiß, EuR 2002, S. 165, 173 ff. m.w.N: Ausschließliche gemeinschaftliche Außenkompetenz auf dem Gebiet der Währungspolitik. 474 Zwar werden die in Art. 105 Abs. 2 EG beschriebenen währungspolitischen Kompetenzen im engeren Sinne nach innen wie nach außen vom ESZB wahrgenommen. Handlungsspielraum verbleibt den Mitgliedstaaten dagegen z.B. bei der Verwaltung von Arbeitsguthaben in Fremdwährungen (Art. 105 Abs. 3 EG) oder bei der Aufsicht über Finanzinstitute (Art. 105 Abs. 6 EG). Vgl. hierzu Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, 443; Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273, 317 ff. 475 Nutzt die Gemeinschaft eine ihr zukommende Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge, ist es den Mitgliedstaaten aufgrund Art. 10 Abs. 2 EG verwehrt, Verpflichtungen einzugehen, die den kontrahierten Engagements zuwiderlaufen. Vgl. hierzu Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnr. 50; Krück, in Schwarze, Art. 300 EGV Rdnr. 5. 476 EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, S. 263.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und W ä h r u n g s u n i o n 1 2 1

tenzen. 477 Nach dem AETR-Urteil ergibt sich eine Zuständigkeit zum Abschluss internationaler Abkommen „nicht nur aus einer ausdrücklichen Erteilung durch den Vertrag sondern sie kann auch aus anderen Vertragsbestimmungen und aus in ihrem Rahmen ergangenen Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane fließen." 4 7 8 Der Gemeinschaft kommen dort sog. implizite Vertragsabschlusskompetenzen zu, wo sie zum Erlass von Rechtsakten im gemeinschaftsinternen Bereich befugt i s t . 4 7 9 Für die Wirtschaftsund Währungsunion bedeutet dies, dass der Gemeinschaft nicht nur auf den in Art. I l l EG bezeichneten Gebieten Außenkompetenzen eingeräumt sind, sondern zugleich dort, wo sie nach den Art. 98-110 EG zur Ausübung von Kompetenzen im Innenbereich befugt i s t . 4 8 0 Der EuGH traf in der AETR-Rechtssache des Weiteren Aussagen über das Konkurrenzverhältnis zwischen den gemeinschaftlichen und den mitgliedstaatlichen Außenkompetenzen. Ob die aus den Zuständigkeiten im gemeinschaftsinternen Bereich folgenden Vertragsabschlusskompetenzen ausschließlicher Natur sind oder ob und bis zu welchem Zeitpunkt den Mitgliedstaaten die Befugnis verbleibt, dort selbst völkerrechtliche Verträge zu schließen, machte der Gerichtshof vom Umfang der Ausübung gemeinschaftlicher Innenkompetenzen abhängig. 481 Die EG erlangt eine ausschließliche externe Zuständigkeit, wenn sie „zur Verwirklichung einer vom Vertrag vorgesehenen Politik Vorschriften erlassen hat, die in irgendeiner Form gemeinsame Rechtsvorschriften vorsehen". 482 Der EuGH präzisierte in seinem Gutachten 1/94: „Nach dem Urteil AETR verlieren die Mitgliedstaaten, ob einzeln oder gemeinsam handelnd, das Recht zum Eingehen von Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten nur in dem Maße, wie gemeinsame Rechtsnormen erlassen werden, die durch diese Verpflichtungen beeinträchtigt werden können. Nur in dem Maße, wie gemeinsame Vorschriften auf interner Ebene erlassen werden, wird die externe Zuständigkeit der Gemeinschaft zu einer ausschließlichen". 483 Mit Inanspruchnahme der gemein477

Hierzu eingehend Geiger, Art. 300 EGV Rdnrn. 3 ff.; Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnrn. 5 ff. 478 EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 263, 274 f. 479 EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 263, 274 f., bestätigt u.a. durch EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, 1279; EuGH, Gutachten 1/76 (Stilllegungsfonds für die Binnenschiffahrt), Slg. 1977, S. 741. Im Gutachten 1/94 ergänzte der EuGH allerdings einschränkend, dass der Zuwachs an Außenkompetenzen prinzipiell davon abhängt, dass die Gemeinschaft bereits durch Rechtsakt von ihrer Innenkompetenz Gebrauch gemacht hat. Vgl. EuGH, Gutachten 1/94 (WTO), Slg. 1994-1, S. 5267, 5413 ff. 480 Vgl. Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, 443; Zilioli/Selmayr , CMLRev 1999, S. 273, 290 ff. Auch hier gilt das grundsätzliche Erfordernis einer vorherigen Ausübung der Innenkompetenzen. 481 Vgl. EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, S. 263, 275 f. 482 EuGH, Urteil vom 31. 3. 1971, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, 274, 275.

122 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

schaftlichen Innenkompetenzen wird demnach - bei hinreichendem Verdichtungsgrad der gemeinschaftsrechtlichen Normierung 4 8 4 - aus der zuvor konkurrierenden eine ausschließliche gemeinschaftliche Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Vereinbarungen. 485 Ein Verlust externer Kompetenzen der Mitgliedstaaten resultiert demzufolge nicht nur aus der Inanspruchnahme gemeinschaftlicher Außenkompetenzen. Er tritt ebenfalls ein, wenn die Gemeinschaft von den ihr eingeräumten Innenkompetenzen durch Rechtsakt - in nicht notwendigerweise abschließender Weise - Gebrauch macht. 4 8 6 Hieraus folgt für die Wirtschafts- und Währungsunion, dass sich die Außenkompetenzen der an ihr unbeschränkt beteiligten Mitgliedstaaten in dem Maß verringern, in dem von den erweiterten gemeinschaftlichen Befugnissen des Titels V I I EG im innergemeinschaftlichen Bereich Gebrauch gemacht w i r d . 4 8 7 bb) Die Problematik verbleibender Außenkompetenzen der WWU-Nichtteilnehmerstaaten Großbritannien, Dänemark und Schweden sind von der Mehrzahl der seit Eintritt in die dritte Stufe der W W U geltenden gemeinschaftlichen Kompetenzen des Titels V I I EU freigestellt. Macht die Gemeinschaft im Innenbereich von diesen Handlungsermächtigungen Gebrauch, kann es daher im Verhältnis zu den drei Ländern zu keinem Verlust mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nach der AETR-Rechtsprechung kommen 4 8 8 Sofern die Nichtteilnehmerstaaten nicht im Wege gemischter Abkommen in die Ausübung der sich erweiternden gemeinschaftlichen Außenkompetenzen eingebunden werden, können sie auch in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft im Verhältnis zu den Teilnehmerstaaten der einheitlichen Währungszone ausschließliche Vertragsabschlusskompetenzen erlangt, weiterhin völkerrechtliche Verträge schließen. 483

EuGH, Gutachten 1/94 (WTO), Slg. 1994-1, S. 5267, 5411. Eine abschließende Regelung ist nach der Rechtsprechung des EuGH hierfür nicht erforderlich. Es genügt, wenn ein Gebiet bereits weitgehend von Gemeinschaftsrechtsvorschriften erfasst ist. Vgl. EuGH, Gutachten 2/91 (ILO), Slg. 1993-1, S. 1061, 1080 f. Allerdings reichen interne Teilregelungen nicht dafür aus, eine gemeinschaftliche Exklusivkompetenz zu begründen. Vgl. EuGH, Gutachten 1/94 (WTO), Slg. 1994-1, S. 5267, 5418. 485 Vgl. hierzu in der Literatur Krück, in Schwarze, Art. 300 EGV Rdnrn. 5 ff.; Schmalenbach, in Calliess/Ruffert, Art. 300 EGV Rdnrn. 8 ff.; Tomuschat, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 EGV Rdnrn. 5 ff. 486 Vgl. Krück, in Schwarze, Art. 300 EGV Rdnr. 5. 487 Vgl. Dutheil de la Rochère , YEL 1999/2000, S. 427, 443; Tuytschaever , S. 172; Zilioli/Selmayr , CMLRev 1999, S. 273, 290 ff. 488 y g l Thun-Hohenstein , in Breuss/Griller, S. 211, 224; Tuytschaever , S. 172. 484

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und W ä h r u n g s u n i o n 1 2 3

Diese verbleibende Vertragsabschlussbefugnis der Nichtteilnehmerstaaten ist im Hinblick auf einen späteren Übergang in die dritte Stufe der W W U problematisch. Schließlich kann sie bis zum Eintritt in das höhere Integrationsniveau dazu genutzt werden, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, die mit den sich kontinuierlich erweiternden gemeinschaftlichen Außenkompetenzen im Widerspruch stehen. Da die allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätze gebieten, dass die zwischenzeitlich eingegangenen völkerrechtlichen Obligationen gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen durch einen Eintritt in die dritte Stufe nicht berührt werden, 4 8 9 können diese Verpflichtungen einer Teilnahme an der W W U hinderlich werden. Im Folgenden ist daher zu prüfen, ob es den an der gemeinsamen Währungszone unbeteiligten Mitgliedstaaten nach Art. 10 EG aufgetragen ist, bei der Ausübung ihrer verbleibenden Zuständigkeiten auf die sich erweiternden gemeinschaftlichen Außenkompetenzen der Wirtschaftsund Währungsunion Rücksicht zu nehmen. cc) Der Einfluss des Art. 10 EG nach der Rechtssache Kramer In Art. 10 EG kommt ein allgemeiner Rechtsgrundsatz zum Ausdruck, der sowohl den Mitgliedstaaten als auch den Gemeinschaftsorganen gegenseitige Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung auferlegt. 490 Die aus Art. 10 Abs. 2 EG folgenden Unterlassungspflichten können den Mitgliedstaaten auch bei der Gestaltung ihrer Außenbeziehungen Beschränkungen auferlegen. 491 Welche Schranken den Mitgliedstaaten aus Art. 10 EG Abs. 2 EG bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen zum Abschluss völkerrechtlicher Abkommen gezogen sind, konkretisierte der EuGH unter anderem in seinem Urteil Kramer vom 14. Juli 1976. 4 9 2 Gegenstand dieser Rechtssache war die Frage, ob die Mitgliedstaaten der damaligen EWG dazu befugt seien, ein internationales Übereinkommen über die Fischerei im Nordostatlantik zu schließen, welches die Erhaltung der Fischbestände und die Rationalisierung der Fischerei im Nordostatlantischen Ozean und den anliegenden Gewässern sicherstellen sollte. 4 9 3 Als sich der Gerichtshof mit dieser Streitfrage befasste, hatte die 489

Die Erweiterung des gemeinschaftlichen Kompetenzbereichs durch Eintritt in die dritte Stufe stellt aus Sicht des Vertragspartners eine res inter alios acta dar. Vgl. hierzu Seidl-Hohenveldern/Loibl, Rdnrn. 0704 f. 490 Zum „Grundsatz der Gemeinschaftstreue" eingehend Bleckmann, Europarecht, Rdnrn. 677 ff.; Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnrn. 1 ff; Kahl, in Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rdnrn. 6 ff. 491 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnr. 50 m.w.N. 492 EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279. 493 Vgl. EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279 ff. Zum Hintergrund dieser Rechtssache näher Graf Vitzthum, AöR 1986, S. 33, 54 ff.

124 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Gemeinschaft auf dem betreffenden Gebiet ihre Handlungsbefugnisse im Innenbereich noch nicht in vollem Umfang wahrgenommen. Der EuGH erklärte daher, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich weiterhin befugt seien, internationale Verpflichtungen zur Erhaltung der biologischen Schätze des Meers einzugehen. 494 Zugleich verwies der Gerichtshof jedoch auf die Akte über die Beitrittsbedingungen und die Anpassung der Verträge von 1972, 4 9 5 welche in ihrem Art. 102 festschrieb, dass der Rat spätestens ab dem sechsten Jahr nach dem Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands die Voraussetzungen für die Ausübung des Fischfangs im Hinblick auf den Schutz der Fischbestände und die Erhaltung der biologischen Schätze des Meeres festlegen sollte. 4 9 6 Aus diesem Rechtsetzungsauftrag war im Lichte der AETR-Rechtsprechung zu folgern, dass der verbleibenden mitgliedstaatlichen Zuständigkeit nur Übergangscharakter zukam. 4 9 7 Deshalb gelangte der EuGH unter Verweis auf die Verpflichtungen aus Art. 10 EG zu der Schlussfolgerung, dass die Mitgliedstaaten bereits im Urteilszeitpunkt gehalten waren, „keine Verpflichtungen zu übernehmen, welche die Gemeinschaft bei der Ausführung der ihr in Artikel 102 der Beitrittsakte übertragenen Aufgabe behindern könnten" 4 9 8 Er wies darauf hin, dass die Mitgliedstaaten schon zu diesem Zeitpunkt zu einem gemeinsamen Vorgehen verpflichtet seien. 499 Der Übergangscharakter der mitgliedstaatlichen Kompetenz zum Abschluss internationaler Abkommen bedingte demnach unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue, dass sich die Mitgliedstaaten der Ausübung einer ihnen an sich verbliebenen Außenkompetenz zu enthalten hatten. 5 0 0 Die Ausnahmeregelung, die den Mitgliedstaaten gewährt wird, welche die Voraussetzungen zum Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nicht erfüllen, ist keiner zeitlich bestimmten Befristung unterworfen. Auch kann ein Übergang in das erweiterte gemeinschaftliche Kompetenzniveau durch ein absichtliches Verfehlen der Beitrittskriterien dauerhaft verhindert werden. Angesichts dieser Unterschiede verbietet es sich, die Leitsätze des Urteils Kramer auf die nach Art. 122 Abs. 1 EG freigestellten Mitgliedstaaten wortgleich anzuwenden. 501

494

EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1312. ABl. EG 1972 Nr. L 73/1. Die Akte war gemäß ihres Artikels 1 Bestandteil des Beitrittsvertrags mit Großbritannien, Irland und Dänemark. 496 Vgl. EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1312. 497 Vgl. EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1312 f. 498 EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1313. 499 Vgl. EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1313. 500 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 10 EGV Rdnr. 50; Tuytschaever, S. 175. 501 Vgl. Tuytschaever, S. 176. 495

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

Dennoch ist die Freistellung dieser Länder ebenfalls auf vorübergehende Geltung angelegt. Mit uneingeschränkter Beteiligung an der W W U gelten die erweiterten ausschließlichen Gemeinschaftskompetenzen des vertieften Integrationsniveaus auch für sie, sodass eine Ausübung der bis dahin verbliebenen mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten ausscheidet. Deshalb ist die in der Rechtssache Kramer zum Ausdruck kommende Pflicht zur Rücksichtnahme auf die künftigen ausschließlichen externen Kompetenzen der Gemeinschaft im Grundsatz auch für die Mitgliedstaaten von Belang, denen nach Art. 122 Abs. 1 EG eine Ausnahmeregelung zugestanden i s t . 5 0 2 Sie können zwar weiterhin von den ihnen verbliebenen Außenkompetenzen Gebrauch machen, solange der genaue Zeitpunkt des Eintritts in die dritte Stufe nicht feststeht. Dabei dürfen sie aber die Verpflichtungen, die aus einem späteren Eintritt in die dritte Stufe der W W U resultieren könnten, nicht gänzlich außer Acht lassen. 503 Eine Rücksichtnahme auf die sich erweiternden gemeinschaftlichen Zuständigkeiten der W W U kann darin ihren Ausdruck finden, dass bereits bei Abschluss der internationalen Abkommen möglichen späteren völkerrechtlichen Pflichtenkollisionen vorgebeugt wird. Gem. Art. 30 Abs. 2 W V K können in internationale Vereinbarungen Klauseln aufgenommen werden, die später eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen den Vorrang einräumen. 504 Entsprechend kann ein EU-Mitglied auf die Einfügung von Rücktritts- oder Vorrangklauseln drängen, die es ihm im Falle eines späteren Eintritts in die dritte Stufe der W W U ermöglichen, sich von den eingegangenen Obligationen zu lösen oder diesen Nachrang zukommen zu lassen. 505 Die Mitgliedstaaten, denen nach Art. 122 Abs. 1 EG eine Ausnahmeregelung zugestanden ist, sind durch Art. 10 EG zumindest zu dem Bemühen angehalten, auf die Aufnahme solcher Vertragsklauseln hinzuwirken. Die Opt-out-Stellung Großbritanniens und Dänemarks ist nicht auf vorübergehende Geltung angelegt. Vielmehr ist es in das Belieben der beiden Mitgliedstaaten gestellt, von ihrer „Re-Opt-in-Option" im späteren Verlauf Gebrauch zu machen. Im Hinblick auf die ihnen verbleibenden wirtschaftsund währungspolitischen Außenkompetenzen lassen sich dem Urteil Kramer demzufolge keine entsprechenden Rücksichtnahmeverpflichtungen entnehmen. Das Gemeinschaftsrecht trifft für beide Länder keine Vorkehrungen, um das Eingehen völkerrechtlicher Engagements zu verhindern, die mit einem späteren Eintritt in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion im Widerspruch stehen. Entscheiden sich Großbritannien und Däne502

Vgl. Tuytschaever, S. 176. Ähnlich Tuytschaever, S. 176. 504 Vgl. hierzu Ipsen, Völkerrecht, § 12 Rdnr. 18. 505 Ygj Tutyschaever, in Lejeune, S. 405, 407 im Hinblick auf einen nachträglichen Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit nach Titel VII EU. 503

126 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

mark zu einem späteren Zeitpunkt, von ihrer Sonderstellung abzurücken, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die mit Eintritt in die dritte Stufe der W W U auch für sie geltenden ausschließlichen externen Zuständigkeiten der Gemeinschaft mit zuvor eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen konfligieren. dd) Die analoge Anwendung des Art. 307 EG In einem solchen Konfliktfall kommt auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene eine analoge Anwendung des Art. 307 EG in Betracht. Art. 307 EG regelt das Schicksal völkerrechtlicher Verträge, die vor dem Beitritt zu der Europäischen Union mit Drittstaaten und internationalen Organisationen geschlossen wurden und die aufgrund der erworbenen EU-Mitgliedschaft mit gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen in Konflikt treten. 5 0 6 Die Bestimmung gelangt auf völkerrechtliche Vereinbarungen entsprechend zur Anwendung, die geschlossen wurden, bevor die Europäische Gemeinschaft eine ausschließliche Regelungszuständigkeit über den Vertragsgegenstand erlangt hat. 5 0 7 Folgerichtig ist die Vorschrift auch dann analog anzuwenden, wenn der Erwerb ausschließlicher gemeinschaftlicher Außenkompetenzen im Verhältnis zu einem Mitgliedstaat aus dessen späterem Eintritt in ein vertieftes Integrationsniveau resultiert. 508 Als Rechtsfolge ist Art. 307 Abs. 1 EG im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht zu entnehmen, dass die vor Eintritt in das höhere Integrationsniveau eingegangenen Verpflichtungen im Verhältnis zu Drittstaaten und internationalen Organisationen weiter Geltung beanspruchen. 509 Ferner ordnet Art. 307 Abs. 2 S. 1 EG an, die bestehende Kollision durch Verhandlungen mit dem Vertragspartner oder in sonstiger völkerrechtskonformer Weise zugunsten des Gemeinschaftsrechts zu beheben. Dabei sind die übrigen Mitgliedstaaten gem. Art. 307 Abs. 2 S. 2 EG gegebenenfalls zur Hilfeleistung verpflichtet. Freilich wird in manchen Konfliktkonstellationen auch ein konzertiertes Zusammenwirken aller Mitgliedstaaten nichts daran ändern können, dass ein neu in die dritte Stufe der W W U eingetretener Mitgliedstaat seiner erweiterten gemeinschaftsrechtlichen Pflichtenstellung zunächst nicht in uneingeschränktem Maß gerecht werden kann.

506

Vgl. Geiger, Art. 307 EGV Rdnr. 1. Vgl. Krück, in Schwarze, Art. 308, Rdnr. 15. 508 Ygi Tuytschaever, in Lejeune, S. 405, 406 f. 507

509

Vgl. Zilioli/Selmayr, CMLRev 1999, S. 273, 320. Die aus den internationalen Abkommen erwachsenden Rechte können von den Mitgliedstaaten dagegen nicht mehr beansprucht werden, vgl. EuGH, Rs. 473/93 (Kommission/Luxemburg), Slg. 1996-1, S. 3207, 3259; EuGH, Rs. 124/95 (Centro-Com), Slg. 1997-1, S. 81, 130 f.

C. Die Differenzierung in der Wirtschafts- und Währungsunion

127

4. Zusammenfassung Bis zur Teilnahme aller Mitgliedstaaten an der Endstufe der W W U ist den EU-Mitgliedern die Möglichkeit eingeräumt, auf internationaler Bühne nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Stimmen zu Wirtschafts- und Währungsfragen Stellung zu nehmen. Sie können auf diesem Feld sich widersprechende internationale Verpflichtungen eingehen. Die differenzierte Außenvertretung der Wirtschafts- und Währungsunion birgt daher die Gefahr, dass der mit Eintritt in die dritte Stufe verbundene Zuwachs an Einfluss und Gestaltungskraft der Europäischen Union auf internationaler Ebene mit einer Zersplitterung der gemeinschaftlichen Außenrolle einhergeht. Diesem Risiko wird dadurch Vorschub geleistet, dass die nicht an der Währungsunion beteiligten Mitgliedsländer weder über ihr Stimmrecht im Rat noch über die Besetzung der EZB Einfluss ausüben können, wenn die Europäische Union in Wirtschafts- und Währungsfragen ihre Haltung nach außen definiert und geltend macht. Diese fehlende Einflussmöglichkeit erschwert es ihnen, den gemeinschaftlichen Standpunkt als den ihrigen zu betrachten und mitzutragen.

IV. Bewertung Die rechtliche Ausgestaltung der differenzierten Wirtschafts- und Währungsunion ist ausgereifter als die der Maastrichter Sozialpolitik. Die Mitgliedstaaten der Euro-Zone verbleiben auf dem Boden des EGV, anstatt in einem gesonderten Abkommen mit den notwendigen Handlungsbefugnissen ausgestattet zu werden. Die Einbindung der Nichtteilnehmerstaaten gelingt im Wege der Beteiligung an den Beratungen im Rat und durch Schaffung des Erweiterten Rats als zusätzlichem währungspolitischem Informationsund Koordinationsforum besser als nach dem Sozialprotokoll. Gleichzeitig geht die Differenzierung in der W W U in ihrer Bedeutung über die Flexibilisierung in der gemeinsamen Sozialpolitik hinaus und ist in ihren Gefahren schwerer eingrenzbar. Sie greift in die Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft ein und führt auf den internationalen Wirtschafts· und Finanzmärkten, wo sich die Stärke der Europäischen Gemeinschaft in ihrer Geschlossenheit misst, zu Uneinheitlichkeit in Recht und in Gestaltungsvermögen. An Stelle einer gemeinsamen Währung, die für die Herausbildung einer europäischen Identität 5 1 0 in den Augen des Unionsbürgers entscheidende Aufbauarbeit leisten könnte, schafft sie ein Zahlungsmittel, dessen sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten bis auf weiteres 510

Zu Bedeutung und Inhalt des Begriffs Europäische Identität im Integrationsprozess Graf Vitzthum, EuR 2002, S. 1 ff.

128 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

nur in einem Teil der Mitgliedsländer bedienen können. Vor allem aber unterscheidet sich die partielle Integrationsvertiefung des Titels V I I EG dadurch vom sozialpolitischen Opt-in der Abkommenstaaten, dass sie die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgerichteten Konvergenzkriterien vor den Eintritt in die dritte Stufe der W W U stellt und damit das Integrationsvermögen der EU-Mitglieder zum Differenzierungsfaktor werden lässt. Dabei bleibt offen, wie ein dauerhafter Ausschluss zurückbleibender, ökonomisch schwächerer Länder vermieden werden kann. Wo die beschränkte Wirtschaftskraft eine Teilnahme an der Währungsunion nicht zulässt, kann eine Anziehungswirkung, die in der Maastrichter Sozialpolitik auf Großbritannien spürbar wurde, auch längerfristig keine Wiederannäherung der unterschiedlichen Integrationsniveaus herbeiführen. Dies ist im Hinblick auf den erwarteten Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten bedenklich, zumal der Mitgliedschaft an der gemeinsamen Währung eine derart hohe politische Bedeutung beigemessen wird, dass für diese Staaten ein dauerhaftes Fernbleiben einer unakzeptablen Herabstufung in eine Mitgliedschaft zweiter Klasse gleichkäme. Im Hinblick auf die strukturschwächeren Kandidatenländer droht nicht nur die Gefahr der Perpetuierung, sondern sogar die einer Vertiefung der wirtschafts- und währungspolitischen Spaltung der Europäischen Union in unterschiedliche Teilnehmerkreise. Schließlich sind von keinem anderen Integrationsschritt größere „spill-over-Effekte" in Richtung einer verstärkten politischen Integration zu erwarten als von dem Eintritt in die Währungsunion. Die differenzierte Wirtschafts- und Währungsunion droht auf diese Weise einen Kreislauf partieller Integration in Gang zu setzen, von dem die Mitgliedstaaten abgehängt werden könnten, die zur Erfüllung der Konvergenzkriterien nicht in der Lage sind.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres Mit Vereinbarung des Vertrags von Amsterdam erklärten sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union „entschlossen, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährung der Sicherheit ihrer Bürger durch den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu fördern". 511 Diese Entschlossenheit zur Herstellung uneingeschränkter Personenfreizügigkeit in der Europäischen Union und zur Schaffung der hierfür erforderlichen innen- und justizpolitischen Rahmenbedingungen hatte den Mitgliedsländern bis zu diesem Zeitpunkt gefehlt. Sie war ausschließlich im Kreis einer europäischen Avantgarde anzutreffen, die seit Mitte der achtziger Jahre das Integrationsziel eines schrankenlosen Binnenmarkts mit den Mitteln des herkömmlichen Völkerrechts in Angriff nahm. Erst das zum 1. Mai 511

Präambel Abs. 11 EU.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

129

1999 in Kraft getretene Vertrags werk verlegte die auf Grundlage zweier sog. „Schengener Abkommen" betriebene Zusammenarbeit in den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union. Der Amsterdamer Vertrag fügte dem EGV ferner einen neuen Titel über „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr" hinzu. Dies ermöglicht es für die Zukunft, die gemeinsamen mitgliedstaatlichen Bemühungen um Freizügigkeit und innere Sicherheit im rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union zu konzentrieren. Ein Handeln mit Wirkung für alle Mitgliedstaaten ist in den neu geschaffenen Kompetenzbereichen indes auf absehbare Zeit nicht möglich. Irland, Dänemark und Großbritannien willigten in die Erweiterungen des EUV und EGV nur unter der Bedingung ein, dass ihnen eine umfassende Freistellung von den neuen Handlungsermächtigungen zugebilligt werde. Die Amsterdamer Vertragsparteien mussten daher auch in der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik auf die neue Differenzierungsform zurückgreifen, die bereits in der gemeinsamen Sozialpolitik sowie in der Wirtschafts- und Währungsunion Verwendung gefunden hatte. Der neu begründete Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wurde zu einem Raum des differenzierten Rechts. Er tritt als weiteres Anwendungsbeispiel teilnahmebezogener Differenzierung in das Blickfeld der vorliegenden Untersuchung. Bevor im Folgenden eingehend auf seine rechtliche Ausgestaltung und die Sonderregelungen zugunsten Dänemarks, Irlands und Großbritanniens eingegangen wird, sind zunächst anhand der innerhalb und außerhalb des Gemeinschaftsrahmens angestrengten Bemühungen um einen Abbau der Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedstaaten die Entstehungsgeschichte und der Hintergrund dieser Differenzierung zu skizzieren.

I. Entstehungsgeschichte und Hintergrund 1. Die Verknüpfung zwischen Personenfreizügigkeit und Justiz- und Innenpolitik Die Verwirklichung des uneingeschränkten Personenverkehrs in der Europäischen Union ist mit der Herausbildung einer gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik eng verknüpft. Die Polizeikontrollen und Zollformalitäten an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten sind für die Kriminalitätsbekämpfung und die Migrationspolitik von großer Bedeutung. Eine fortschreitende Aufhebung der Binnengrenzen hat den Wegfall eines Fahndungsfilters zur Folge und macht eine Intensivierung der Zusammenarbeit in der Verbrechensverhütung und in der Verbrechensbekämpfung erforderlich. Zugleich bedingt der Abbau der Grenzkontrollen die Vereinheitlichung des mitgliedstaatlichen Vorgehens gegenüber Drittstaatsangehörigen, da die Ein9 Kellerbauer

130 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

haltung unterschiedlicher nationaler Regelungen nur noch schwer kontrolliert werden kann. Ferner ist aufgrund der erhöhten Mobilität der Unionsbürger mit verstärkt auftretenden grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten zu rechnen, weshalb eine verbesserte Koordination in zivilrechtlichen Angelegenheiten angezeigt ist. Eine vollständige Beseitigung der Grenzkontrollen impliziert daher eine Bündelung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen in nationalstaatlich hoch sensiblen Bereichen der Justiz- und Innenpolitik, um die Funktion der Binnengrenzen zu kompensieren. 512 Hieraus erklärt sich, weshalb sich das Vorhaben einer vollständigen Beseitigung der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten als eines der schwierigsten Unterfangen des bisherigen Integrationsprozesses erwies. 2. Freizügigkeit, Justiz und Inneres in EG und EU bis zum Vertrag von Amsterdam Der EWG-Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung beschränkte sich darauf, wirtschaftlich motivierte Personenbewegungen innerhalb der Gemeinschaft zu fördern, und enthielt keine Kompetenzen zur vollständigen Beseitigung der Binnengrenzen. 513 Erst seit der Pariser Gipfelkonferenz 1974 traten Überlegungen hinzu, der Personenfreizügigkeit unter der Leitperspektive eines „Europas der Bürger" eine zusätzliche politische Dimension zu verleihen. 514 Die Gemeinschaft gelangte aber in deren Umsetzung zunächst nicht über eine einheitliche Gestaltung der Reisepässe hinaus. 515 Den darauf aufbauenden Bemühungen der Kommission, zwischen der Passunion und dem Abbau der Grenzkontrollen ein Junktim herzustellen, war kein Erfolg beschieden. 516 Die Mitgliedstaaten befürchteten ein übermäßiges Sicherheitsdefizit, wenn nicht vor einer Aufhebung der Grenzkontrollen die notwendigen kompensatorischen Maßnahmen vereinbart würden. 5 1 7 Wichtig waren daher die neuen Impulse für die Entwicklung einer Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik, die vom Europäischen Rat in Fontainebleau 512 Zu diesen kompensatorischen Maßnahmen eingehend Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 585; Heimann, S. 2. 513 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 48 EWGV), das freie Niederlassungsrecht (Art. 52 EWGV) und der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 59 EWGV) betreffen ökonomisch motivierte Personenbewegungen. Vgl. hierzu Heimann, S. 2 f. 514 Vgl. den Bericht der Kommission vom 3. 7. 1975 über die Möglichkeit der „Zuerkennung besonderer Rechte", BullEG 7-1975, S. 5 ff., 23 ff.; Kommuniqué der Konferenz der Regierungschefs am 9./10.12.1974 in Paris, BullEG 12-1974, S. 8 f. 515 Während eine Vereinheitlichung der Form der nationalen Reisedokumente gelang, scheiterten weitergehende Ziele trotz Anregung unterschiedlichster Rechtsinstrumente an Widerständen im Rat. Vgl. Freiburghaus, S. 202 ff.; Knelangen, S. 102. 516 Vgl. Freiburghaus, S. 203 f. 517 Vgl. hierzu Freiburghaus, S. 203 f.; Knelangen, S. 103 f.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

131

am 25. und 26. Juni 1984 ausgingen. 518 Sie ließen sich indes in der EWG nicht umsetzen, weil die Mehrheit der Mitgliedstaaten weiterhin Vorbehalte gegenüber einer gemeinschaftsweiten Abschaffung der Personenkontrollen an den Grenzen hatte und ein Teil der EWG-Mitglieder die Zusammenarbeit in der Gemeinschaft nicht über wirtschaftliche Bereiche hinaus erweitern wollte. 5 1 9 Auch die Kompetenzerweiterungen der Einheitlichen Europäischen Akte brachten in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Justiz und Inneres keinen Durchbruch. Zwar wurde dem EWGV ein Art. 8a Abs. 2 (Art. 14 Abs. 2 EG) hinzugefügt, der den Binnenmarkt als einen „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist", definiert. Großbritannien interpretierte den Zusatz „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags" aber dergestalt, dass sich die vertraglich gewährleistete Freizügigkeit auf Angehörige der Mitgliedstaaten beschränke und damit im Hinblick auf EWG-Ausländer weiterhin Kontrollen an den Grenzen gestattet seien. 520 Da der Rat zur Umsetzung des Art. 8a Abs. 2 EWGV nur im Wege einstimmiger Beschlussfassung rechtsetzend tätig werden konnte, 5 2 1 setzte sich diese Lesart durch. Im Bereich Justiz und Inneres behielten sich die Mitgliedstaaten die wesentlichen Kompetenzen in einer dem EWGV beigefügten Erklärung ausdrücklich v o r . 5 2 2 Erst nach dem politischen Umbruch in Osteuropa, der einen Anstieg der Zuwanderer- und Flüchtlingsströme und eine Ausdehnung organisierter internationaler Kriminalität befürchten ließ, überwog der zunehmende Bedarf an Zusammenarbeit das mitgliedstaatliche Bedürfnis nach Souveränitäts518 Vgl. Europäischer Rat von Fontainebleau vom 25726. 6. 1985, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, BullEG 6-1984, Z. 1.1.1 ff.; hierzu Schmahl, ZEuS 2001, S. 201, 203. 519 Die für einen Abbau der Grenzkontrollen erforderlichen kompensatorischen Maßnahmen im Bereich Justiz und Inneres waren insbesondere mit den europapolitischen Konzeptionen Großbritanniens, Dänemarks und Griechenlands unvereinbar. Vgl. hierzu Freiburghaus, S. 205, Knelangen, S. 102 f. 520 Vgl. Knelangen, S. 107 f. 521 Art. 100a EWGV (Art. 95 EG) schloss in Abs. 2 die Freizügigkeit von seinem Anwendungsbereich und damit von der Möglichkeit qualifizierter Mehrheitsentscheidung im Rat aus. Daher konnte nur auf die Art. 100 EWGV (Art. 94 EG) und Art. 235 EWGV (Art. 308 EG) zurückgegriffen werden, die beide Einstimmigkeit im Rat erfordern. 522 Die Allgemeine Erklärung (Nr. 6) zu den Art. 13-19 der EEA brachte zum Ausdruck, dass die neuen Vertragsbestimmungen „in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten [berühren], diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sie zur Kontrolle der Einwanderung aus dritten Ländern sowie zur Bekämpfung von Terrorismus, Kriminalität, Drogenhandel und unerlaubtem Handel mit Kunstwerken und Antiquitäten für erforderlich halten". *

132 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

wahrung. Der Vertrag von Maastricht stellte die mitgliedstaatliche Kooperation in der Innen- und Justizpolitik auf eine neue rechtliche Basis und gliederte sie in den einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union ein. Titel V I des neu geschaffenen EUV, die Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, schuf einen eigenen Rahmen, in dem die Themen der zahlreichen vom Rat in der Vergangenheit eingesetzten Minister- und Beamtengruppen aufgegriffen und nach Regel und Form strukturiert wurden. 5 2 3 Diese Einfassung blieb allerdings völkerrechtlicher Natur und wies nur zögerliche Annäherungen an die Funktionsweise der supranational strukturierten ersten Säule auf. 5 2 4 Dabei lag es nicht zuletzt am durchweg geltenden Erfordernis einstimmiger Beschlussfassung, dass sich die Ergebnisse des dritten Unionspfeiler überwiegend in rechtlich unverbindlichen gemeinsamen Standpunkten, Entschließungen und Empfehlungen erschöpften. 525 Im Bereich der ersten Säule erstreckte sich die Tätigkeit der Gemeinschaft nun zwar auf „Maßnahmen hinsichtlich der Einreise in den Binnenmarkt und des Personenverkehrs in den Binnenmarkt gemäß Art. 100c [EGV]" (Art. 3 lit. d) EGV). Eine Ermächtigungsgrundlage zur Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen wurde in den EGV aber nicht eingefügt. Lediglich in einem Teilbereich der Visapolitik konnten sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinschaftliche Kompetenzerweiterung in Art. 100c EGV verständigen. 526 Zum eigentlichen Forum des Integrationsfortschritts wurde daher bis zum Vertrag von Amsterdam die völkerrechtlich strukturierte sog. „Schengener Kooperation" eines engeren Kreises von Mitgliedstaaten. In ihr wurde unter Beteiligung einer wachsenden Anzahl von Mitgliedsländern das gemeinschaftliche Ziel der Schaffung eines Binnenmarkts ohne Grenzkontrollen seiner Verwirklichung näher gebracht und die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vorangetrieben. 523

Art. Κ. 1 EUV erklärte die Bereiche Asylpolitik, Kontrolle der Außengrenzen, Bekämpfung der Drogenabhängigkeit und der grenzüberschreitenden Kriminalität, justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie Teilbereiche der Einwanderungspolitik zu Angelegenheiten gemeinsamen Interesses. Zur Abstimmung der Vorgehensweise auf diesen Gebieten konnte der Rat gemeinsame Standpunkte festlegen, gemeinsame Maßnahmen annehmen oder Übereinkommen ausarbeiten, die anschließend den Mitgliedstaaten zur Ratifikation empfohlen wurden. Vgl. hierzu Heimann, S. 9 ff. 524 Die Kommission erhielt für manche Bereiche ein Initiativrecht, das sie mit den Mitgliedstaaten teilte. Das Europäische Parlament wurde lediglich zu den wichtigsten Aspekten der Tätigkeit gehört. Die Zuständigkeit des EuGH war davon abhängig, dass er als Schiedsgericht für die Auslegung von Abkommen für zuständig erklärt wurde. Vgl. hierzu Heimann, S. 13. 525 Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich , S. 444; Lipsius, ELR 1995, 235, 249. 526 Vgl. hierzu Heimann, S. 8.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

133

3. Der Schengen-Prozess als Forum des Integrationsfortschritts a) Die beiden Schengener Abkommen A m 14. Juni 1985 traten Deutschland und Frankreich sowie die BeneluxLänder in dem Luxemburger Weinort Schengen zusammen und unterzeichneten ein Übereinkommen „betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen". 527 Hierin wurde vereinbart, die langwierigen Formalitäten an den Grenzen durch sporadische, stichprobenartige Kontrollen (sog. „spot-checks") zu ersetzen. 528 Für das abschließende Ziel eines vollständigen Abbaus der Grenzkontrollen schuf das Abkommen bereits ein Grundgerüst der erforderlichen kompensatorischen Maßnahmen. 529 In den darauffolgenden fünf Jahren befassten sich verschiedene Expertengruppen mit der näheren Ausarbeitung der weiter zu ergreifenden Schritte. 530 Deren Arbeit mündete in das am 19. Juni 1990 unterzeichnete Schengener Durchführungsabkommen (SDÜ), 5 3 1 das in 142 Artikeln die institutionelle Struktur und die notwendigen Rechtsgrundlagen zur völligen Abschaffung der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen den Unterzeichnerstaaten vorsah. 532 Es verpflichtete die beteiligten Länder zum vollständigen Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen (Art. 2 Abs. 1 SDÜ) und zu deren Verlegung an die Außengrenzen, wo sie nach gemeinsamen Grundsätzen gestaltet wurden (Art. 3 bis 8 SDÜ). Zugleich enthielt das SDÜ einen umfassenden Katalog von Ausgleichsmaßnahmen, die den Wegfall der Filterfunktion der Grenzkontrollen zu kompensieren bestimmt waren und dabei in zentrale Bereiche der nationalen Politik innerer Sicherheit eingriffen. Das Einreise- und Visumrecht wurde vereinheitlicht (Art. 9 bis 27 SDÜ) und die Zuständigkeit für die 527

Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik, betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. 6. 1985 (GMB1. 1986, 79), auch als Erstes Schengener Abkommen bezeichnet. 528 Ygi A r t ι bi s 6 u n c i Art. 11 bis 16 Erstes Schengener Abkommen. 529

Vgl. Art. 8 und 9 sowie Art. 17 bis 20 Erstes Schengener Abkommen. Diese Vorschriften betrafen den Aufbau einer gemeinsamen Kontrolle an den Außengrenzen, die polizeiliche Zusammenarbeit gegen grenzüberschreitende Kriminalität und die Behandlung von EWG-Ausländern nach einheitlichen Grundsätzen. 530 Vgl. Mazzi-Zissis, in Ehlermann, S. 47, 48. 531 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, (BGBl. 1993 II 1010), sog. Schengener Durchführungsabkommen. 532 Zu den Bestimmungen des SDÜ eingehend Knelangen, S. 114 ff.; Mazzi-Zissis, in Ehlermann, S. 47, 49 ff.

134 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Behandlung von Asylbegehren einer gemeinsamen Regelung zugeführt. 533 Die Schengen-Staaten einigten sich auf eine Intensivierung der polizeilichen Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen Informationsaustausch, grenzüberschreitende Observation und Nacheile (Art. 39 bis 47 SDÜ). Justizielle Zusammenarbeit bei der Rechtshilfe (Art. 48 bis 58 SDÜ), Vereinbarungen zur Auslieferung und Überstellung von Straftätern (Art. 59 bis 69 SDÜ) sowie die Zusammenarbeit bei der Drogenbekämpfung (Art. 70 bis 76 SDÜ) traten ergänzend hinzu. Besondere Wertschätzung seitens der Mitgliedstaaten erhielt in der Folgezeit das Schengener Informationssystem (SIS), eine zentrale Personen- und Objektdatenbank, auf welche die Polizeibehörden der Vertragsstaaten direkten Zugriff besitzen. (Art. 92 bis 119 SDÜ). Die genannten Bestimmungen und die auf ihrer Grundlage ergangenen Rechtsakte und Beschlüsse bilden den sog. Schengen-Besitzstand. Er ist für die derzeitige Rechtslage von großer Bedeutung, da er durch den Vertrag von Amsterdam überwiegend in das Unions- und Gemeinschaftsrecht überführt wurde. b) Die beteiligten Mitgliedstaaten Die Schengener Kooperation Frankreichs, Deutschlands und der Benelux-Länder veranlasste im späteren Verlauf beinahe die Gesamtheit der heutigen EU-Mitgliedsländer zu einem Beitritt. 5 3 4 Mit der zunehmenden Inkraftsetzung des S D Ü 5 3 5 entstand so unter Beteiligung einer wachsenden Anzahl von Mitgliedstaaten ein Raum der Freizügigkeit und der inneren Sicherheit. Nur Großbritannien und Irland lehnen bis heute eine uneingeschränkte Mitwirkung ab. Beide Staaten verbindet bereits seit dem Jahre 1922 ein einheitliches Reisegebiet, in welchem die systematischen Grenzkontrollen durch sog. „spot-checks" ersetzt wurden. Aufgrund dieser „common travel area" ist die Haltung beider Länder gegenüber einer vollständigen Aufhe533

Art. 28 bis 38 SDÜ. Hierbei blieb das materielle Asylrecht unangetastet. Zu den sukzessiven Beitritten der EU-Mitglieder und den darüber hinaus geschlossenen Kooperations- und Assoziierungsabkommen mit den EWR-Staaten Norwegen und Island Kuijper, CMLRev 2000, S. 345, 350. 535 Das SDÜ unterscheidet in Art. 139 zwischen Inkrafttreten und Inkraftsetzen. Letzteres beschreibt den Zeitpunkt, von dem an die Mitgliedstaaten das Abkommen tatsächlich anzuwenden verpflichtet sind. Während das SDÜ bereits am 1.9. 1993 in Kraft trat, waren Dänemark, Schweden und Finnland die letzten EU-Mitgliedstaaten, für die das SDÜ am 25. 3. 2001 in Kraft gesetzt wurde. Vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 7930 vom 24. 3. 2001, Ζ. 19. Zum zweistufigen Implementationsverfahren des SDÜ Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 602 f. 534

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

135

bung der EU-Binnengrenzen eng verknüpft. 5 3 6 Die irische Regierung stellte jüngst klar, dass ihre Zurückhaltung gegenüber dem Schengen-Prozess auf ihre Verpflichtungen gegenüber Großbritannien zurückzuführen i s t . 5 3 7 Das Vereinigte Königreich hält an der Aufrechterhaltung seiner Grenzkontrollen fest, weil es diese als einzig effektives und daher notwendiges Mittel zur Kontrolle von Einwanderung sowie zur Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität ansieht. 538 Nach Ansicht des britischen Innenministeriums rechtfertige sich deren Fortbestand sowohl durch die geographische Lage als auch durch die Tradition des Landes, wobei den Grenzen zugleich ein hoher Grad an persönlicher Freiheit innerhalb des Königreichs zu verdanken sei. 5 3 9 c) Die Defizite der intergouvernementalen

Struktur

Obwohl die Schengener Zusammenarbeit eng an den gemeinschaftlichen Integrationsprozess angebunden wurde, 5 4 0 stellte das Schengener Durchführungsabkommen einen klassischen internationalen Vertrag dar, der ein gesondertes institutionelles Gefüge schuf. 5 4 1 Diese herkömmliche völkerrecht536 Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 380 beschreibt Irland als ,,de[n] Gefangene[n] britischer Positionen". 537 Vgl. hierzu die Äußerungen der irischen Regierung, abgedruckt in „Schengen and the United Kingdom's Border Controls", House of Lords, Select Committee on the European Union, Session 1998-99, 7 t h report, S. 7. 538 Vgl. „Fairer, Faster and Firmer - A Modern Approach to Immigration and Asylum", Home Office, Juli 1998, S. 14. Im Internet veröffentlicht unter http://official-documents.co.uk/document/cm40/4018/4018.htm. 539 Vgl. „Fairer, Faster and Firmer - A Modern Approach to Immigration an Asylum", Home Office, Juli 1998, S. 14. 540 w i e a u s ( ΐ 6 η Präambeln der beiden Schengener Abkommen hervorging, verstand sich der Schengener Verbund als Mittel zur Durchführung einer gemeinschaftsrechtlichen Zielsetzung. Gem. Art. 140 SDÜ konnten nur EG-Mitgliedstaaten am SDÜ beteiligt sein. Das Schengen-Recht trat hinter den gemeinschaftsrechtlichen Fortschritt zurück oder passte sich diesem an (Art. 134 SDÜ, Art. 142 SDÜ). Zur Anbindung des SDÜ an das Gemeinschaftsrecht vgl. di Fabio , DÖV 1997, S. 89, 92; Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 604; Knelangen, S. 125. 541 Hauptorgan war der Exekutivausschuss, in dem jeder Mitgliedstaat mit einem Sitz vertreten war und der für die Überwachung der Anwendung des SDÜ sorgte (Art. 131 bis 133 SDÜ). Der Exekutivausschuss konnte Sachverständige hinzuziehen und Arbeitsgruppen einsetzen, die aus Vertretern der Verwaltungen der Vertragsparteien zusammengesetzt waren (Art. 132 Abs. 4 SDÜ). Unterstützt wurde der Exekutivausschuss durch ein Sekretariat, sowie durch eine gemeinsame Kontrollinstanz, welche die technische Unterstützung des Schengener Informationssystems im Interesse des Datenschutzes überwachte (Art. 115 Abs. 1 SDÜ). Dagegen setzte das SDÜ keine gemeinsame Rechtsprechungsinstanz ein. Auch eine eigene Schengener Kontrollinstanz parlamentarischer Art wurde nicht begründet. Hierzu eingehend Mazzi-Zissis, in Ehlermann, S. 47, 49 ff.

136 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

liehe Struktur wies Defizite auf, die sich durch ein Vorgehen im Rahmen der EWG hätten vermeiden lassen. 542 Während die Rechtsetzung in der Gemeinschaft über zu veröffentlichende Kommissionsvorschläge verläuft und die Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments für öffentlich zugängliche Debatten und ergänzende demokratische Legitimation sorgen, zeichnete sich der völkerrechtliche Schengen-Prozess durch weitreichende Intransparenz und einen Mangel an parlamentarischer Kontrolle aus, 5 4 3 wobei sich beide Defizite durch die umfangreiche, teils unter Ausschluss von Parlamenten und Öffentlichkeit vollzogene Ausschusstätigkeit noch weiter ausprägten. 544 Es fehlte an einer gerichtlichen Kontrolle durch ein dem EuGH vergleichbares Organ, das für die einheitliche Auslegung des geschaffenen Rechts und für den Rechtsschutz der Bürger hätte sorgen können. 5 4 5 Dies war besonders bedenklich, da die Schengener Kooperation in den grundrechtssensiblen Bereichen polizeiliche Zusammenarbeit, Asyl und Einwanderung Regelungen erließ. Darüber hinaus erwiesen sich die völkerrechtlichen Handlungsinstrumente und das im Exekutivausschuss durchweg anzuwendende Einstimmigkeitsprinzip im Vergleich zu den gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungsverfahren als schwerfällig und wenig effizient. 5 4 6 Nicht zuletzt erfuhr die Schengener Kooperation deshalb Kritik, weil sie die Gemeinschaftsorgane umging und hierdurch den gemeinschaftlichen Rahmen schwächte. 547

542

Zur Kritik im Schrifttum an den Defiziten der völkerrechtlich strukturierten Schengener Zusammenarbeit vgl. Curtin, in Ehlermann, S. 73, 75; Hailbronner/ Thiery, EuR 1998, S. 583, 584; Mazzi-Zissis, in Ehlermann, S. 47, 55 f.; of Saltaire, in den Boer, S. 121, 122 ff.; Shaw, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 85, 101. 543 Das Europäische Parlament blieb im Schengener Verbund ohne Rechte. Die Beteiligung der nationalen Parlamente erfolgte in der Regel durch Berichterstattung durch die Regierungen, insbesondere in den Fällen, in denen die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments betroffen war, häufig aber ex post. Vgl. hierzu Knelangen, S. 121. 544 Vgl. Freiburghaus, S. 216; Mazzi-Zissis, in Ehlermann, S. 47, 55 f.; of Saitaire, in den Boer, S. 121, 122 ff. 545 Für den individuellen Rechtsschutz verwies das SDÜ ausschließlich auf die nationale Gerichtsbarkeit, was die Klärung der Rechtslage für den Bürger dann erschweren konnte, wenn fremde Behörden auf Grundlage des SDÜ in seine Rechte eingriffen. Vgl. hierzu Knelangen, S. 121 f. 546 Vgl. Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 613; Wiedmann, in Schwarze, Art. 61 Rdnr. 16. 547 Vgl. Huber, EuR 1996, S. 347, 351 f.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

137

4. Die Amsterdamer Reformen im Bereich Justiz und Inneres Die Regierungskonferenz 1996/1997 stand angesichts der dürftigen Ergebnisse in der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik 5 4 8 und in Anbetracht der beachtlichen Fortschritte, die durch die Schengen-Staaten erzielt worden waren, vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen mussten der Europäischen Union durch Kompetenzerweiterungen die Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden, die sie zur Bewältigung der ihr gestellten Aufgaben im Bereich Justiz und Inneres benötigte. Dies wurde durch die Einfügung des neuen Titels IV EG („Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr") bewerkstelligt, der die gemeinsame Justiz- und Innenpolitik auf eine neue rechtliche Grundlage stellte. Zum anderen mussten die Konsequenzen daraus gezogen werden, dass ein Teil der Mitgliedstaaten auf den stockenden gemeinschaftlichen Integrationsfortschritt seit geraumer Zeit eine Antwort auf völkerrechtlicher Ebene gefunden hatte. Dies geschah durch Eingliederung der Organe des SDÜ in das institutionelle Gefüge der E U 5 4 9 und durch Überführung des SchengenBesitzstands in den Unionsrahmen. Ein „Protokoll (Nr. 2) zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union" 5 5 0 schafft hierfür die rechtlichen Grundlagen. Beide Reformschritte fanden auf der Regierungskonferenz 1996/1997 zunächst nicht die Zustimmung Dänemarks, Großbritanniens und Irlands. 551 Sie konnten daher nur dadurch erzielt werden, dass sich die Mitgliedstaaten auf die Aufnahme weitreichender Differenzierungen verständigten. Diese Differenzierungen werden im Folgenden näher dargestellt. 552 548

Vgl. hierzu den Bericht der mit der Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996/1997 betrauten Reflexionsgruppe, im Internet veröffentlicht unter http:// www.europarl.eu.int/enlargement/cu/agreements/reflex2_de.htm , erster Teil unter I. B. Zur entsprechenden Bewertung in der Literatur Griller/Droutsas/Falkner /Forgó / Nentwich, S. 444; Lipsius, ELR 1995, 235, 249. 549 Der Rat trat an die Stelle des Exekutivausschusses. Das Schengen-Sekretariat wurde durch Ratsbeschluss in das Generalsekretariat des Rats integriert. Vgl. hierzu den Boer , MJ 2000, S. 336, 338. 550 Im Folgenden auch als Schengen-Protokoll bezeichnet. 551 Die Ablehnung Dänemarks lag darin begründet, dass der dänischen Regierung nach dem gescheiterten ersten Referendum zum Maastrichter Vertrag die Hände gebunden waren. Eine Vergemeinschaftung der Bereiche Justiz und Inneres erfordert seither eine 5/6 Mehrheit des Folketings und ist damit nach den innenpolitischen Kräfteverhältnissen faktisch ausgeschlossen. Vgl. hierzu Knelangen, S. 261. Zum Hintergrund der britischen und irischen Ablehnung siehe oben, Teil 1 D.I.3.b). 552 Nicht eingegangen wird dagegen auf die differenziert ausgestaltete Zuständigkeit des EuGH im Rahmen der Bestimmungen des Titels VI EU. Für das Verfahren der Vorabentscheidung auf Vorlage nationaler Gerichte (Art. 35 Abs. 1 bis 4 EU)

138 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

II. Das Opt-out aus dem Titel IV EG Der neu eingefügte Titel IV EG räumt der Gemeinschaft nun die ausdrückliche Befugnis zur vollständigen Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen e i n . 5 5 3 Flankierend treten begleitende Handlungsbefugnisse in den Bereichen Außengrenzkontrollen, Asyl, Einwanderung sowie Kriminalitätsbekämpfung und -Verhütung hinzu, die größtenteils aus der früheren dritten Unionssäule überführt wurden. 5 5 4 Zwar wird der neu geschaffene Titel I V EG infolge vielfältiger Kautelen, Bedingungen und Ausnahmeregelungen nicht vollständig dem Standard des herkömmlichen Gemeinschaftsrechts gerecht. 555 Ungeachtet dessen bedeutet seine Entstehung einen erheblichen gemeinschaftlichen Kompetenzzuwachs, der die Handlungsmöglichkeiten der EG in diesem Bereich auf eine neue Grundlage stellt. 5 5 6 1. Die primärrechtlichen Ermächtigungen zum Opt-out Dänemark, Großbritannien und Irland wurde für diese erweiterten gemeinschaftlichen Kompetenzen eine umfassende Sonderstellung eingeräumt, die der Großbritanniens im Hinblick auf das Sozialabkommen vergleichbar ist. Die Amsterdamer Vertragsparteien bedienten sich dabei der bereits in der Wirtschafts- und Währungsunion praktizierten negativen Flexibilisierungsmethode des Opt-out. In zwei Protokollen 557 werden die drei Länder ermächtigt, hinter dem sich erweiternden acquis communautaire der Europäischen Gemeinschaft zurückzubleiben. bedarf es im dritten Pfeiler der besonderen Anerkennung der gerichtlichen Zuständigkeit durch den jeweiligen Mitgliedstaat. Vgl. hierzu Böse, in Schwarze, Art. 35 EUV Rdnrn. 2 ff.; Brechmann, in Calliess/Ruffert, Art. 35 EUV Rdnrn. 2 ff. 553 Der Abbau der Grenzkontrollen betrifft nach der Klarstellung des Art. 62 Nr. 1 EG nunmehr ausdrücklich auch Staatsangehörige dritter Länder. Zu den Handlungsermächtigungen in Titel IV EG eingehend Heimann, S. 18 ff. 554 Vgl. Art. 61 lit. a)-d) EG. Im neuen Titel IV EG finden sich überdies Bestimmungen zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen. Jeweils ist ein Binnenmarktbezug erforderlich. 555 Gem. Art. 67 Abs. 1 EG kann der Rat bis zum 1. 5. 2004 grundsätzlich nur einstimmig beschließen, die Mitgliedstaaten besitzen ein Initiativrecht. Der EuGH ist gem. Art. 68 EG nur in modifizierter und beschränkter Weise zur Kontrolle des Titels IV berufen. Vgl. hierzu Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 586 f.; Wessels, Integration 1997, S. 117, 122. 556 Vgl. Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 585; Wiedmann, in Schwarze, Art. 61 EGV Rdnr. 10. 557 Protokoll (Nr. 4) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands, im Folgenden als ProtUK/IRL bezeichnet, und Protokoll (Nr. 5) über die Position Dänemarks, im Folgenden als ProtDK bezeichnet.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

139

Art. 69 EG i.V.m. Art. 2 ProtDK nimmt Dänemark von den Vorschriften des im Amsterdamer Vertrag neu geschaffenen Titels I V EG ebenso aus wie von den auf Grundlage dieses Titels beschlossenen Maßnahmen, den nach diesem Titel vereinbarten internationalen Übereinkünften und den Entscheidungen des EuGH, welche die bezeichneten Vorschriften, Maßnahmen oder Übereinkünfte betreffen. Das dänische Opt-out betrifft allerdings nicht den Titel I V EG in seiner Gesamtheit. Nach Art. 4 ProtDK beteiligt sich Dänemark an Maßnahmen zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der EU-Außengrenzen visapflichtig sind, und an Maßnahmen zur einheitlichen Visagestaltung. Beides betrifft Zuständigkeiten, die der Gemeinschaft bereits nach dem Maastrichter Vertrag in Art. 100c EGV zukamen. Art. 4 ProtDK vermeidet demnach einen Rückschritt von den Kompetenzen, die der Gemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht bereits eingeräumt waren. Das britische und das irische Opt-out sind dagegen umfassend: Gemäß Art. 69 EG i.V.m. Art. 2 ProtUK/IRL betreffen sie die Gesamtheit der Vorschriften des Titels IV EG, die auf Grundlage dieser Vorschriften vereinbarten Maßnahmen und internationalen Abkommen und die zu dem erweiterten Gemeinschaftsrecht ergehenden EuGH-Urteile. Die Opt-out-Technik wurde hier von den Amsterdamer Vertragsparteien genutzt, um von dem bereits für alle Mitgliedstaaten geltenden acquis communautaire Abstriche zu machen. 558 Die Gestaltung einer alle Mitgliedstaaten betreffenden gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik ist bis zu einem „Re-Opt-in" Dänemarks, Irlands und Großbritanniens auch nicht in Ansätzen möglich. 2. Die institutionellen Modifikationen Die umfassende Sonderstellung der drei Opt-out-Staaten geht ebenso mit einem Verlust an Einflussmöglichkeiten auf die gemeinschaftliche Rechtsetzung einher, wie dies im Zuge der Maastrichter teilnahmebezogenen Differenzierungen der Fall war. Die drei Länder beteiligen sich gem. Art. 1 S. 1 ProtUK/IRL und Art. 1 ProtDK nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach Titel IV EG vorgeschlagen werden. In ihren Art. 1 S. 2 und 3 bestimmen das ProtUK/IRL und das ProtDK eine Veränderung der herkömmlichen Abstimmungsregeln im Rat. Diese entspricht der Modifikation, die in Art. 44 Abs. 1 S. 2-A EU beim Tätigwerden einer verstärkten Zusammenarbeit zur Anwendung gelangt. 559 Einstimmig zu fassende 558

Kritisch hierzu Kortenberg, CMLRev 1998, S. 833, 837. Vgl. de Zwaan, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 1998, S. 107, 110. 559

140 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Beschlüsse kommen hiernach zustande, wenn jene EU-Mitglieder übereinstimmen, die durch die auf Grundlage des Titels IV EG beschlossenen Maßnahmen gemeinschaftsrechtlich verpflichtet werden. Im Falle von Mehrheitsentscheidungen werden die Stimmen der Opt-out-Staaten nicht berücksichtigt. Es findet eine Absenkung der erforderlichen Stimmenzahl unter Berücksichtigung der in Art. 205 Abs. 2 EG vorgesehenen Gewichtung statt. Ein Ausschluss der Nichtteilnehmerstaaten von den Beratungen im Rat ist nicht vorgesehen. Der britische und der irische Ratsvertreter können allerdings an der Beschlussfassung mitwirken, falls Großbritannien bzw. Irland nach Art. 3 Abs. 1 ProtUK/IRL rechtzeitig von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen, sich an einer nach Titel IV EG zu beschließenden Maßnahme im Vorfeld zu beteiligen. 3. Die Re-Opt-in-Möglichkeiten der Opt-out-Staaten Irland und Großbritannien ist es gestattet, sich an den einzelnen auf Titel IV EG gestützten gemeinschaftlichen Rechtsakten sowohl im Vorfeld als auch nach Zustandekommen der Maßnahmen zu beteiligen. Dänemark kann dagegen nur insgesamt auf seine Sonderstellung verzichten, wodurch die Gesamtheit der unter Titel IV EG erlassenen Rechtsakte für den nordischen Staat Geltung erlangt. Eine solche „Gesamt-Opt-in-Möglichkeit" ist Irland als dritte Option zusätzlich eingeräumt. a) Der Verzicht Dänemarks auf seine Sonderstellung Nach Art. 7 ProtDK kann Dänemark den übrigen Mitgliedstaaten jederzeit mitteilen, dass es von seinem Opt-out „insgesamt oder zum Teil keinen Gebrauch mehr machen will". Dabei wird die teilweise Verzichtsmöglichkeit erst im Hinblick auf die Systematik des ProtDK verständlich. Das Wort „Teil" bezieht sich auf die unterschiedlichen Teile des ProtDK. Teil I I ProtDK betrifft das dänische Opt-out aus den Beschlüssen und Maßnahmen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge aufweisen, während Teil I ProtDK das dänische Opt-out aus Titel IV EG und Dänemarks Sonderstellung gegenüber den Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands in der ersten Säule regelt. Daher ist das Art. 7 ProtDK so zu verstehen, dass Dänemark nur von einem der beiden Teile des Protokolls als ganzes Abstand nehmen kann. 5 6 0 Die Möglichkeit eines einzelaktsbezogenen Opt-in ist dem Land dagegen 560

Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich

, S. 247 f.; Tuytschaever , S. 80.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

141

nicht eingeräumt. 561 Verzichtet der nordische Mitgliedstaat auf die in Teil I ProtDK festgeschriebene Opt-out-Position, entfalten ab diesem Zeitpunkt die Vorschriften des Titels I V EG, die nach diesem Titel beschlossenen Maßnahmen und die im Bereich der ersten Säule beschlossenen Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands für Dänemark gemeinschaftsrechtliche Bindungswirkung. 562 b) Die Re-Opt-in-Möglichkeiten

Großbritanniens und Irlands

aa) Die Möglichkeit zur Beteiligung im Vorfeld einer Maßnahme Großbritannien und Irland ist nach Art. 3 Abs. 1 ProtUK/IRL die Möglichkeit eingeräumt, sich an allen Maßnahmen des Titels IV EG zu beteiligen, die noch in ihrer Entstehung begriffen sind. Im Falle einer rechtzeitigen Mitteilung an den Ratspräsidenten ist den beiden Ländern die gleichberechtigte und in gleichem Umfang verpflichtende Mitwirkung gestattet, ohne dass zuvor eine Entscheidung der Gemeinschaftsorgane oder der übrigen Mitgliedstaaten ergehen müsste. 563 Diese anfängliche Beteiligungsoption entspricht einer ultima-ratio-Regel zu Lasten des differenzierten Vorgehens, da sie einer Rechtsetzung unter Beteiligung der Opt-out-Staaten praktisch den Vorrang einräumt. Dies könnte dazu führen, dass die beiden Inselstaaten ihre anfängliche Opt-in-Befugnis dazu nutzen, die seitens der übrigen EU-Mitglieder betriebene Rechtsetzung zu behindern. Deshalb schützt Art. 3 Abs. 2 ProtUK/ IRL die Teilnehmerstaaten davor, dass die sog. „Pre-Opt-in-Möglichkeit" zur Blockade des Integrationsfortschritts zweckentfremdet wird: Führt die Beteiligung Großbritanniens oder Irlands zu einer unangemessenen Verzögerung der Entscheidungsfindung, kann der Rat die beabsichtigte Maßnahme ohne Mitwirkung der beiden Länder und damit wiederum nach den in Art. 1 Abs. 1 S. 2 und 3 ProtUK/IRL normierten Abstimmungsregeln annehmen. 564 Diese Regelung ist von erheblicher Bedeutung, da sie den Nutzen der teilnahmebezogenen Differenzierung zur Überwindung von Integrationsblockaden trotz der den Nichtteilnehmerstaaten zugebilligten Möglichkeit zur Vorfeldbeteiligung bewahrt. Es ist bedauerlich, dass eine entsprechende Regelung nicht in die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit des Titels V I I EU aufgenommen wurde. 561

Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 97. Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 97. 563 Art. 3 Abs. 1 S. 1 ProtUK/IRL stellt insoweit keine Bedingungen auf, sondern ordnet an, dass das Opt-in „dem betreffenden Staat daraufhin gestattet ist". 564 Ygj Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich , S. 466; Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 599. 562

142 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

bb) Die Möglichkeit zum nachträglichen Re-Opt-in Falls sich das Vereinigte Königreich oder Irland an einer auf Titel I V EG gestützten Maßnahme erst nach deren Zustandekommen beteiligen möchten, ist den beiden Mitgliedsländern eine zweite, nachträgliche Opt-in-Möglichkeit eingeräumt. Für einen nachträglichen Beitritt gelten allerdings weitergehende Erfordernisse als die bloße Mitteilung der Beteiligungsabsicht. Gem. Art. 4 ProtUK/IRL ist ein Beitrittsantrag erforderlich, der das allgemeine Beitrittsverfahren verstärkter Zusammenarbeit nach Art. 11 Abs. 3 EG erfolgreich durchlaufen muss. 5 6 5 In diesem Verfahren ist die zentrale Verfahrensstellung der Kommission einem Beitritt förderlich. Sie gewährleistet, dass eine Teilnahme nicht an politischen Vorbehalten einzelner Ratsmitglieder scheitert. Nachverhandlungen bereits erlassener Rechtsakte werden den Opt-inStaaten im Beitrittsverfahren des Art. 11 Abs. 3 EG nicht zugestanden. 566 Vielmehr ist das geschaffene Recht in der Ausgestaltung zu übernehmen, die es unter Ausschluss der Nichtteilnehmerstaaten erhalten hat. Ziehen Großbritannien und Irland die nachträgliche Beitrittsmöglichkeit der PreOpt-in-Option des Art. 3 Abs. 1 ProtUK/IRL vor, verlieren sie daher ihren Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der zu übernehmenden Maßnahme. Dieser „Sanktionsgehalt" eines späteren Beitritts wirkt vor allem bei wichtigen Rechtsakten auf eine Beteiligung im Vorfeld hin. cc) Die „Gesamt-Opt-in-Möglichkeit" Irlands Eine dritte, nachträgliche „Gesamt-Opt-in-Möglichkeit" wurde auf der Amsterdamer Regierungskonferenz Irland, nicht aber Großbritannien eingeräumt. Gem. Art. 8 ProtUK/IRL kann Irland dem Präsidenten des Rats schriftlich mitteilen, dass es auf eine Fortgeltung des ProtUK/IRL als Ganzes verzichten will. Macht Irland von dieser Option Gebrauch, nimmt der Inselstaat künftig wie die übrigen Mitgliedsländer an den auf Titel I V EG gestützten Maßnahmen teil. Eine rechtzeitige Mitteilung an den Präsidenten des Rats ist für die Mitwirkung an Rechtsakten und Beschlüssen nach Titel I V EG ab diesem Zeitpunkt nicht mehr erforderlich. Die auf Irland beschränkte Geltung des Art. 8 ProtUK/IRL macht deutlich, dass Irland einer umfassenden Beteiligung an den Maßnahmen nach Titel IV EG eher zuneigt als das Vereinigte Königreich. In einer von der Amsterdamer Regierungskonferenz zur Kenntnis genommenen Erklärung 565

Zum Beitrittsverfahren nach Art. 11 Abs. 3 EG siehe unten, Teil 2 C.II.l.b)aa). 566 Siehe hierzu unten, Teil 2 C.II.l.a)bb).

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

143

brachte Irland seine Bereitschaft zum Ausdruck, von seinem Recht zur Beteiligung an der Annahme von Maßnahmen nach Titel IV EG soweit Gebrauch zu machen, wie dies mit der Aufrechterhaltung der einheitlichen Reiseverkehrszone mit dem Vereinigten Königreich vereinbar i s t . 5 6 7 4. Die Finanzierungsregelung Art. 5 ProtUK/IRL und Art. 3 ProtDK zufolge sind das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark von den finanziellen Folgen der nach Titel I V EG erlassenen Maßnahmen befreit, an denen sie sich infolge ihres Optout nicht beteiligen. Lediglich die Verwaltungskosten für die Gemeinschaftsorgane, die sich aus der Nutzung des in Amsterdam neu geschaffenen Titels ergeben, fallen allen Mitgliedstaaten nach den herkömmlichen Regeln zur Last. Diese Aufteilung entspricht der Kostenregelung in Ziffer 2 S. 4 Sozialprotokoll. 5. Der geschaffene Sonderacquis und dessen Folgewirkungen Auch die Nutzung des Titels IV EG unter Freistellung der EU-Mitglieder Dänemark, Irland und Großbritannien führt zur Entstehung eines gemeinschaftsrechtlichen Besitzstandes, der sich infolge seiner auf einen Teil der Mitgliedsländer beschränkten Geltung von dem herkömmlichen acquis communautaire unterscheidet. Dies zwingt erneut zu einer Beschäftigung mit den Fragestellungen, die aus dem Nebeneinander zweier gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgebilde resultieren. Dem ProtkDK und dem ProtDK/IRL können auf diese Fragen zum Teil Antworten entnommen werden. Sollten sich die beiden Besitzstände zueinander in Widerspruch setzen, ist Art 2 ProtUK und Art. 2 ProtDK/IRL eine Kollisionsregel zu entnehmen. Das nach Titel I V EG geschaffene und nur einen Teil der Mitgliedstaaten bindende Recht gilt diesen Bestimmungen zufolge im Verhältnis zu Irland, Dänemark und Großbritannien nicht als Teil des Gemeinschaftsrechts. Es ist demnach gegenüber dem Recht, das für die Gemeinschaft aller Mitglieder gemeinschaftsrechtliche Bindungswirkung entfaltet, nachrangig. 5 6 8 567 Vgl. die Erklärung Irlands zu Artikel 3 des Protokolls über die Position des Vereinigten Königreiches und Irlands. 568 Dieser Nachrang folgt zugleich aus Art. 2 ProtUK/IRL und Art. 2 ProtDK, denen zufolge die Rechte und Pflichten der an der Nutzung des Titels IV EG unbeteiligten Staaten durch das partielle Sonderrecht nicht berührt werden. Darf die gemeinschaftsrechtliche Rechts- und Pflichtenstellung Irlands, Großbritanniens und Dänemarks durch das partielle Recht keine Abänderung erfahren, muss es im Kollisionsfall nachrangig sein.

144 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Die Konsequenzen partieller Rechtsetzung nach Titel IV EG für die Übernahmeverpflichtungen der EU-Kandidatenländer sind ebenfalls in den Art. 2 ProtUK/IRL und Art. 2 ProtDK geregelt. Den beiden Artikeln zufolge berühren die ohne Mitwirkung der Opt-out-Staaten zustande gekommenen Vorschriften, Maßnahmen oder Entscheidungen in keiner Weise den gemeinschaftlichen Besitzstand. Dieser auf Titel IV EG aufbauende „Sonderacquis" wird daher bei den anstehenden Beitrittsverhandlungen nicht dem Pflichtenumfang hinzugerechnet, der für die Kandidatenländer maßgeblich ist. Im Verlaufe der ohne Geltung für Großbritannien, Dänemark und Irland erfolgenden Rechtsetzung nach Titel IV EG dürften sich asymmetrische Folgewirkungen auf das Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nicht vermeiden lassen. Im Hinblick darauf, dass die in ProtDK und ProtUK/IRL gewählte Opt-out-Konstruktion, mit der in der W W U anzutreffenden Differenzierungskonstruktion identisch ist, wird im Hinblick auf die hieraus resultierenden Rechtsprobleme auf die Ausführungen zur Wirtschafts- und Währungsunion verwiesen. 569

III. Die verstärkte Zusammenarbeit der Schengen-Staaten im Unionsrahmen Der Vertrag von Amsterdam überführt den Schengen-Besitzstand in den Unionsrahmen, um ihm die Eigenschaft von Unions- oder Gemeinschaftsrecht zu verleihen. Hierdurch soll für die Zukunft eine auf diese Rechtsnatur aufbauende Weiterentwicklung ermöglicht und den Defiziten der intergouvernementalen Struktur der Schengen-Kooperation abgeholfen werden. Die Überführung und die Weiterentwicklung unterliegen jeweils eigenen Regeln, die in mehreren dem EGV beigefügten Protokollen enthalten sind. Gemeinsam schaffen sie ein Normengeflecht, dass durch seine Komplexität die Schwierigkeit des Unterfangens verdeutlicht, eine langjährig auf völkerrechtlicher Ebene betriebene mitgliedstaatliche Zusammenarbeit im rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union fortzuführen. Die Rechtssituation wird dadurch weiter verkompliziert, dass Großbritannien, Irland und Dänemark nicht oder nur mit Einschränkungen und Vorbehalten an der überführten Schengener Kooperation beteiligt sind.

569

Siehe hierzu oben, Teil 1 C.III.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

145

1. Die Überführung des Schengen-acquis a) Die Methode der Überführung

des Schengen-acquis

Als Methode zur Überführung des Schengen-acquis einigten sich die Mitgliedstaaten darauf, zunächst die zur Überführung bestimmten Bestandteile des Schengen-Besitzstands zu definieren, um diese in einem zweiten Schritt jeweils den geeigneten Rechtsgrundlagen in EUV und EGV zuzuweisen. 570 Der Sonderstellung Irlands und Großbritanniens wird dadurch Rechnung getragen, dass die Überführung des Schengen-acquis als verstärkte Zusammenarbeit zwischen den übrigen Mitgliedsländern ausgestaltet ist. Werden als Bestimmungsort der Überführung Rechtsgrundlagen der ersten Säule gewählt, gelten überdies für Dänemark Sonderregeln. aa) Die Definition des Schengen-acquis Bereits die Bestimmung dessen, was als Schengen-Besitzstand in den Unionsrahmen Einzug halten sollte, förderte Schwierigkeiten zu Tage. Das Schengen-Protokoll definiert das im Laufe der intergouvernementalen Zusammenarbeit akkumulierte Recht in seinem Anhang nicht genau, sondern behält dessen nähere Bestimmung dem Rat v o r . 5 7 1 Deshalb herrschte bis zu dieser verbindlichen Feststellung völlige Unklarheit über den genauen Umfang des Schengen-Rechts. 572 Selbst im Zeitpunkt der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags stand den nationalen Parlamenten keine präzise Textfassung der zu überführenden Rechtsakte zur Verfügung. Die Intransparenz und die unzulängliche Einbindung der Parlamente, die der intergouvernementalen Schengener Zusammenarbeit vorgeworfen worden waren, machten sich erneut bemerkbar. 573 Durch einstimmigen Ratsbeschluss der 13 Schengen-Staaten vom 20. Mai 1999 auf Grundlage des Art. 2 Abs. 1 Uabs. 2 S. 1 Schengen-Protokoll wurde schließlich der zu überführende Besitzstand im Einzelnen definiert und dessen Publikation im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vereinbart. 574 Der dem Beschluss beigefügte Anhang A enthält nun ein Verzeichnis aller Rechtsakte, die nunmehr als Schengen-Besitzstand der 570

Zu den Regeln zur Überführung des Schengen-aquis eingehend den Boer, MJ 2000, S. 336, 337 ff. 571 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Uabs. 2 Schengen-Protokoll. 572 Dies galt insbesondere im Hinblick auf Rechtsakte des Exekutivausschusses und anderer Organe, da diese zumeist unveröffentlicht geblieben waren. Vgl. Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 608; Monar, ELR 1998, S. 320, 333. 573 Kritisch auch Monar, in den Boer, S. 21, 31; of Saltaire, in den Boer, S. 121, 125. 10 Kellerbauer

146 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Überführung in den Unionsrahmen und der dortigen Weiterentwicklung unterliegen. 575 bb) Die Zuweisung einer Kompetenzgrundlage Die von der Überführung des Schengen-acquis betroffenen Kompetenzgrundlagen befinden sich sowohl in der ersten Säule als auch im verbleibenden Titel V I EU des dritten Unionspfeilers. 576 Die Wahl des Überführungsorts bestimmt die intergouvernementale oder supranationale Natur des entstehenden Rechts, was nicht zuletzt für die Prüfungskompetenz des EuGH von großer Bedeutung i s t . 5 7 7 Gleichzeitig determiniert die gewählte Rechtsgrundlage, in welcher Weise sich die Weiterentwicklung der überführten Vorschrift vollziehen wird. Die Weiterentwicklung des SchengenBesitzstands stützt sich auf die Rechtsgrundlagen, denen der jeweilige Teil des acquis bei seiner Überführung zugewiesen wurde. 5 7 8 Die Zuweisung der Rechtsgrundlagen ist gem. Art. 2 Uabs. 2 S. 1 Schengen-Protokoll allein dem Rat vorbehalten. Er entscheidet einstimmig und zwar - interessanterweise - in der Besetzung der Gesamtheit seiner 15 Vertreter. 5 7 9 Die juristische Methode, die zum Zwecke der Überführung des 574 Beschluss 1999/435/EG des Rats vom 20. 5. 1999 zur Bestimmung des Schengen-Besitzstands zwecks Festlegung der Rechtsgrundlage für jede Bestimmung und jeden Beschluss, die diesen Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union, ABl. EG 1999 Nr. L 176/1. Die Entscheidungen, die vom Schengener Exekutivausschuss als vertraulich eingestuft wurden, werden gem. Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses 1999/435/EG dagegen nicht im Amtsblatt der EG veröffentlicht. 575 Nach der bezeichneten Ratsentscheidung ist nicht die Gesamtheit des Schengen-acquis von einer Überführung betroffen. Bestimmungen, die gegenstandslos geworden sind und die nicht rechtsverbindlich wurden sowie Bestimmungen, die in einen Bereich fallen, der weder von der Tätigkeit der EG, noch von den Zielen der EU erfasst ist, unterliegen nicht der Überführung. Vgl. lit. a)-d) der vierten Begründungserwägung des Beschlusses 1999/435/EG sowie dessen Anhang B. 576 Im Bereich des EGV sind sie vornehmlich in dem neugeschaffenen Titel IV EG (Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) aufzufinden. Teile des Schengen-acquis wurden aber auch auf andere Rechtsetzungsermächtigungen gestützt. 577 Die Zuständigkeiten des EuGH richten sich in der dritten Säule nach Art. 35 EU, in der ersten Säule nach den durch Art. 68 EG teils modifizierten Art. 220 ff. EG. 578 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 93. 579 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Uabs. 2 S. 2 Schengen-Protokoll. Die Einflussmöglichkeiten Großbritanniens und Irlands, die beide von der Überführung zunächst aufgrund ihrer Ausnahmestellung nicht betroffen sind, rechtfertigt sich im Hinblick auf die Möglichkeit eines späteren Beitritts. Vgl. Bribosia CDE 2000, S. 57, 91.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

147

Besitzstandes in den Unionsrahmen gewählt wurde, soll sicherstellen, dass der im Laufe der Schengener Kooperation geschaffene acquis unangetastet bleibt und nicht durch Neuverhandlungen eine Verfremdung erfährt. 580 Die Überführung erfordert daher keine Durchführung des in der jeweiligen Rechtsgrundlage vorgesehenen Verfahrens. 581 Es genügt ein einstimmiger Ratsbeschluss. Der Rat kann daher ohne Beteiligung der übrigen Gemeinschaftsorgane aus völkerrechtlichen Vereinbarungen höherrangiges Unionsund Gemeinschaftsrecht schaffen. 582 Diese Vorgehensweise hat im Europäischen Parlament und im Schrifttum zu Recht Kritik erfahren. 583 Durch sie wird die im Verlauf des intergouvernementalen Schengen-Prozesses beanstandete Umgehung der Gemeinschaftsorgane im Unionsrahmen fortgesetzt. Die Zuweisung unions- oder gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgrundlagen ist für den größten Teil des Schengen-Besitzstands mit Beschluss vom 20. Mai 1999 erfolgt. 5 8 4 Die Teile des Schengen-acquis, für die keine Rechtsgrundlage bestimmt wurde, beanspruchen seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam als im Rahmen des Titels I V EU erlassenes Unionsrecht Geltung. 5 8 5 Seit dem 1. Mai 1999 ist der Schengen-acquis deshalb in jedem Fall als Recht des dritten Unionspfeilers für die an der Überführung beteiligten Mitgliedstaaten bindend. 5 8 6

580

Vgl. Hailbronner/Thiery, EuR 1998, S. 583, 606; Heimann, S. 74. So die h.M. Vgl. Curtin, in Ehlermann, S. 73, 79; Epiney, in Breuss/Griller, S. 127, 138; Roben, in Grabitz/Hilf, Vor Art. 61 EGV Rdnr. 10; a.A. Wiedmann, in Schwarze, Art. 61 EGV Rdnr. 26, demzufolge eine Transformation in Gemeinschaftsrecht den Neuerlass in Form von Gemeinschaftsrechtsakten erfordert. Hiernach hätte die Festlegung der Rechtsgrundlage allerdings wenig praktische Bedeutung. 582 Der EuGH ist allerdings gem. Art. 2 Abs. 1 Uabs. 3 Schengen-Protokoll beteiligt. 583 Vgl. Europäisches Parlament, Entschließung zum Schengen-Besitzstand, ABl. EG 1999 Nr. C 279/429; Curtin, in Ehlermann, S. 73, 79; Kuijper, CMLRev 2000, S. 345, 365; Monar, in den Boer, S. 21, 30 f. 584 Vgl. Beschluss des Rats vom 20. 5. 1999 zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union, ABl. EG 1999 Nr. L 176/17. Hierzu eingehend den Boer, MJ 2000, S. 336, 339; Wiedmann, in Schwarze, Art. 61 EGV Rdnr. 20. 585 Dies folgt aus Art. 2 Abs. 1 Uabs. 4 Schengen-Protokoll. Vgl. Epiney, in Breuss/Griller S. 127, 136. 586 Vgl. Art. 2 Uabs. 1 S. 1 Schengen-Protokoll. Allerdings räumt Art. 2 Abs. 2 Schengen-Protokoll dem Rat die Möglichkeit ein, auf das spätere Inkraftsetzen des SDÜ in den später beigetretenen Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen. 581

10*

148 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

b) Die Freistellung Dänemarks von der Überführung in der ersten Unionssäule Dänemarks Sonderstellung bei der Überführung des Schengen-acquis erklärt sich daraus, dass sich dieses an den Schengener Abkommen beteiligte Mitgliedsland zwar an der Überführung und Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands zu beteiligen bereit erklärt hat, eine supranationale Ausgestaltung seiner Beteiligung aber ablehnt. 587 Überführt der Rat Teile des Schengen-acquis auf eine Kompetenzgrundlage des EGV, kommt dem entstehenden Recht gem. Art. 3 Schengen-Protokoll für Dänemark keine gemeinschaftsrechtliche Bindungswirkung zu. Es bleibt bei der Rechts- und Pflichtenstellung, die ohne die Überführung bestanden hätte, wodurch die Anordnung der unionsrechtlichen Geltung in Art. 2 Abs. 1 Uabs. 4 Schengen-Protokoll wirksam w i r d . 5 8 8 Eine gemeinschaftsrechtliche Bindungswirkung mit entsprechender Kompetenz des EuGH tritt gegenüber Dänemark mithin nicht ein. Der im Übrigen auf parlamentarische Demokratie und Transparenz besonders bedachte nordische Mitgliedstaat gibt demnach einer herkömmlichen völkerrechtlichen Gestaltung den Vorzug, die in beiden Punkten hinter den gemeinschaftsrechtlichen Ansprüchen zurückbleibt. c) Die Ermächtigung zur verstärkten Zusammenarbeit ohne die Nicht-Schengen-Staaten Die darüber hinausgehende Sonderstellung, die das Schengen-Protokoll den Mitgliedstaaten Großbritannien und Irland einräumt, ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse. Unabhängig davon, ob der Schengen-acquis in den ersten oder dritten Unionspfeiler überführt wird, ist dieser auf die beiden bereits an den Schengener Abkommen unbeteiligten Inselstaaten gem. Art. 4 Abs. 1 Schengen-Protokoll zunächst nicht anwendbar. Um den übrigen Mitgliedstaaten die Nutzung des Unions- und Gemeinschaftsrahmens zu gestatten, vollzieht sich die Überführung gem. Art. 1 Abs. 1 Schengen-Protokoll als eine verstärkte Zusammenarbeit eines Teils der Mitgliedstaaten. 589 Je nachdem, ob der Rat die erste oder die dritte 587

Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 384; Heimann, S. 69. Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 92 f. 589 An der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt sind gem. Art. 1 Schengen-Protokoll alle Mitgliedsländer außer Irland und Großbritannien. Dänemark gilt trotz seines beschränkten Engagements in der ersten Säule als Teilnehmer der engeren Schengen-Kooperation im Unionsrahmen. Allerdings wirkt Dänemark aufgrund Art. 3 Schengen-Protokoll nur nach den Regeln über eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule an dieser mit. 588

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

149

Säule zum Bestimmungsort des Schengen-Transfers macht, wird eine verstärkte Zusammenarbeit im ersten oder dritten Unionspfeiler begründet. Art. 1 Abs. 1 Schengen-Protokoll schuf demnach bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam den ersten praktischen Anwendungsfall des neuen Differenzierungsinstruments. 590 Allerdings unterscheidet sich die nach Art. 1 Abs. 1 Schengen-Protokoll begründete verstärkte Zusammenarbeit in zwei wesentlichen Punkten von der allgemeinen Form engerer Zusammenarbeit, die unter Rückgriff auf Art. 43 EU zur Entstehung gelangt. Die Differenzierungsklausel des Titels V I I EU zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die Bestimmung des Anwendungsbereichs und des genauen Teilnehmerkreises der Pioniergruppe einem Ratsbeschluss auf Ebene des Sekundärrechts überlässt. 591 Das Schengen-Protokoll bestimmt hingegen primärrechtlich, welche Mitgliedstaaten an der Überführung des Schengen-acquis beteiligt sind und welchem Regelungsgegenstand sich diese Länder anzunehmen haben. Insoweit kommt die nach Art. 1 Abs. 1 Schengen-Protokoll begründete verstärkte Zusammenarbeit der im Sozialprotokoll ausgesprochenen Gestattung zur Umsetzung des Sozialabkommens näher als der durch Ratsbeschluss zu erteilenden Ermächtigung nach Titel V I I E U . 5 9 2 Art. 1 Schengen-Protokoll sowie die Abs. 5 der Art 40 EU und Art. 11 EG machen ferner deutlich, dass die zur Überführung des Schengen-acquis begründete verstärkte Zusammenarbeit anderen Regeln als den des Titels V I I EU unterstellt ist. Art. 1 Schengen-Protokoll spricht eine selbständige Ermächtigung zugunsten der in ihm genannten Staaten aus, den institutionellen und rechtlichen Rahmen der Europäischen Union zum Zweck der Überführung des Schengen-Besitzstands in Anspruch zu nehmen. Die Befugnis zur Nutzung der Organe, Verfahren und Mechanismen des EGV und EUV steht daher nicht unter dem Vorbehalt der Befolgung der umfangreichen Bedingungen, Gebote und Prinzipien, die in den Abs. 1 der Art. 43, 40 EU und Art. 11 EG festgehalten sind. 5 9 3 Art. 11 EG und Art. 40 EU stellen vielmehr in ihren Abs. 5 für die erste bzw. dritte Unionssäule klar, dass diese Anforderungen für die nach Art. 1 Schengen-Protokoll begründete verstärkte Zusammenarbeit nicht gelten. Durch diese Freistellung von den allgemeinen Bedingungen verstärkter Zusammenarbeit wird vermieden, 590

Schließlich beanspruchen die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands gem. Art. 2 Abs. 1 Uabs. 4 Schengen-Protokoll seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam als im Rahmen des Titels IV EU erlassenes Unionsrecht Geltung. 591 Siehe hierzu unten, Teil 2 A.I.2. 592 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 89. 593 Vgl. Böse, in Schwarze, Art. 40 EUV Rdnr. 6.

150 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

dass sich die Schengener Kooperation im Unionsrahmen zu den Anforderungen des Titels V I I EU in Widerspruch setzt. 5 9 4 Daher muss sie trotz fehlender ausdrücklicher Erwähnung auch für die Erfordernisse des Art. 43 Abs. 1 EU gelten. 5 9 5 d) Die Beitrittsmöglichkeiten

der Nicht-Schengen-Staaten

aa) Das Erfordernis der einstimmigen Genehmigung des Beitritts Auch der Beitritt zu der nach Art. 1 Abs. 1 eingesetzten verstärkten Zusammenarbeit erfährt durch das Schengen-Protokoll eine Ausgestaltung, die von den allgemeinen Beitrittsregeln des Titels V I I EU abweicht. An die Stelle der in den Art. 40 Abs. 3 EU und Art. 11 Abs. 3 EG detailliert normierten beitrittsförderlichen Verfahren unter Beteiligung der Kommission und des Europäischen Parlaments 596 tritt das auf den Rat konzentrierte und wenig permissive Beitrittsverfahren des Art. 4 Schengen-Protokoll. Irland und das Vereinigte Königreich können Art. 4 Schengen-Protokoll zufolge zwar jederzeit beantragen, dass einzelne oder alle Bestimmungen des überführten Schengen-acquis auf sie Anwendung finden sollen. Über die beantragte Teilnahme entscheidet anschließend aber allein der Rat, und zwar gem. Art. 4 Uabs. 2 Schengen-Protokoll einstimmig. Dieses Einstimmigkeitserfordernis wurde auf Drängen Spaniens in das Schengen-Protokoll aufgenommen 597 und führte bereits im Anschluss an die Amsterdamer Regierungskonferenz zu heftigen Kontroversen. 598 Eine von den Vertragsparteien angenommene „Erklärung (Nr. 45) zu Artikel 4 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen 594

Insbesondere das in Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG normierte Verbot von Wettbewerbsverzerrungen wäre nicht mit der Errichtung von Schengen-Außengrenzen innerhalb der Gemeinschaft vereinbar, da das Vorhandensein von Grenzkontrollen für die unternehmerische Umwelt von hoher Bedeutung ist. Vgl. hierzu Griller/Droutsas/Falkner/Förgo/Nentwich, S. 213. 595 Ansonsten wäre ein Widerspruch mit den in Art. 43 Abs. 1 EU genannten Anforderungen die Folge. Bereits die Beitrittsregelung des Art. 4 Uabs. 2 Schengen-Protokoll ist mit dem in Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU ausgesprochenen Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit nicht vereinbar. Vgl. hierzu Curtin, in Ehlermann, S. 73, 76; Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich , S. 213; Kortenberg,, CMLRev 1998, S. 833, 842. 596 Zum Beitrittsverfahren nach Art. 40 Abs. 3 EU und Art. 11 Abs. 3 EG siehe ausführlich unten, Teil 2 C.II.l.b). 597 Vgl. Agence Europe Nr. 7014 vom 11. 7. 1997, S. 2. Hintergrund war der britisch-spanische Streit um Gibraltar. 598 Großbritannien und Irland vertraten die Ansicht, man habe sich auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit geeinigt. Vgl. Agence Europe Nr. 7014 vom 11. 7. 1997, S. 2.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

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der Europäischen Union" ist darum bemüht, die Brisanz dieser Abstimmungsregel zu verringern. Der Rat wird in dieser Erklärung „ersucht", vor der Entscheidung über einen Beitrittsantrag die Stellungnahme der Kommission einzuholen. Zugleich wird in ihr die Verpflichtung der SchengenStaaten ausgesprochen, die größtmöglichen Anstrengungen zu unternehmen, um dem irischen oder britischen Antrag so weit als möglich gerecht zu werden. Diese politischen Absichtserklärungen stellen jedoch nicht in Abrede, dass jeder der an der Überführung des Schengen-acquis beteiligten Mitgliedstaaten einen britischen oder irischen Opt-in verhindern kann. 5 9 9 Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU, der für die allgemeine Form verstärkter Zusammenarbeit eine prinzipielle Zugänglichkeit für die Nichtteilnehmerstaaten vorschreibt, findet im Schengen-Protokoll keine Entsprechung. Vielmehr besteht die Gefahr, dass das faktische Vetorecht der Schengen-Staaten gegen eine britische oder irische Beteiligung als Druckmittel zur Durchsetzung nationaler Interessen missbraucht w i r d . 6 0 0 bb) Der Beitritt „à la carte" Großbritanniens Rechtfertigen lässt sich das Einstimmigkeitserfordernis in Art. 4 Uabs. 2 Schengen-Protokoll allenfalls im Hinblick auf die Gefahr einer möglichen Zerstückelung des Schengen-Besitzstands durch selektive Teilbeitritte im Sinne eines „pick-and-choose". Im Gegensatz zu den Beitrittsregelungen in Titel V I I E G 6 0 1 und Titel V I I E U 6 0 2 gestattet das Schengen-Protokoll eine einzelaktsbezogene Beteiligung am überführten Schengen-Besitzstand, die einen Beitritt „à la carte" möglich macht. Die Schengen-Staaten haben ein nachvollziehbares Interesse daran, dass sich Irland und Großbritannien nicht als „Trittbrettfahrer" gerieren, indem sie ausschließlich die für sie vorteilhaften Aspekte des Schengen-acquis herauswählen und dabei die Kohärenz der Gesamtregelung beeinträchtigen. Der inzwischen erfolgte britische Beitritt zu Teilen des Schengen-acquis veranschaulicht diese Problematik. 603 Großbritannien stellte am 20. Mai 1999 einen formellen Antrag auf teilweisen Beitritt zum Schengen-Besitz599

Vgl. de Zwaan, Cambridge Yearbook of European Legal Studies 1998, S. 107, 114. 600 Kritisch insoweit auch Monar, in den Boer, S. 21, 33. 601

Zum nachträglichen Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion vgl. Art. 122 Abs. 2 EG; Ziffer 10 Protokoll Nr. 25; Ziffer 4 Protokoll Nr. 26. 602 Zum nachträglichen Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit vgl. Art. 40 Abs. 3 EU und Art. 11 Abs. 3 EG. 603 Vgl. hierzu den Boer, MJ 2000 S. 336, 349 f.; Kuijper, CMLRev 2000 S. 345, 354 f.

152 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

stand gem. Art. 4 Schengen-Protokoll. 604 Der Antrag benannte diejenigen Artikel des SDÜ und des darauf gestützten Schengen-acquis, an welchen Großbritannien teilzunehmen bereit war, und beschrieb im Einzelnen die Modalitäten der von London angestrebten Mitwirkung. 6 0 5 Bezüglich der Vorschriften, deren Anwendung auf eine Abschaffung der britischen Grenzkontrollen hingewirkt hätte, signalisierte London keinerlei Teilnahmebereitschaft. Insoweit überwogen weiterhin Bedenken, die Kontrollen seien im Kampf gegen die Großkriminalität unverzichtbar. 606 Trotz kritischer Reaktionen einzelner Schengen-Staaten607 entsprach der Rat am 29. Mai 2000 dem Beitrittsgesuch Großbritanniens weitestgehend. 6 0 8 Hierdurch kommt es im Hinblick darauf, dass der Schengen-acquis ursprünglich in den Dienst der unbeschränkten Personenfreizügigkeit gestellt wurde, zu einem dem Zweck des Schengen-Prozesses widersprechenden Ergebnis. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs betrifft die sicherheitspolitischen Ausgleichsmaßnahmen, die herkömmlich darauf abzielten, eine restlose Abschaffung der Grenzkontrollen zu ermöglichen. 609 604 Ygi d a s Schreiben des britischen Innenministers Jack Straw an die Ratspräsidentschaft vom 20. 5. 1999 (Dokument Nr. 8562/99, Schengen 56), abgedruckt in „UK Participation in the Schengen acquis", House of Lords, Select Committee on the European Union, Session 1999-2000, 5 t h report, S. 16 f. Bereits am 12. 3. 1999 hatte Großbritannien im Rat für Justiz und innere Angelegenheiten die Bereitschaft zum Teilbeitritt angekündigt. Vgl. Agence Europe Nr. 7424 vom 15. 3. 1999, S. 8. 605 Ygi Schreiben des britischen Innenministers Jack Straw an die Ratspräsidentschaft vom 20. 5. 1999 (Dokument Nr. 8562/99, Schengen 56), Annex 1-3. Beabsichtigt war die Teilnahme an der verstärkten polizeilichen Zusammenarbeit, vornehmlich in den Bereichen Informationsaustausch, grenzüberschreitende Observation und Nacheile (Art. 39 bis 44, 46 bis 47 SDÜ), an den Bestimmungen über die gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen, dem Verbot der Doppelbestrafung, der Auslieferung und Übertragung der Vollstreckung von Straftätern (Art. 48 bis 58 SDÜ), am Kampf gegen Betäubungsmittel (Art. 70 bis 76 SDÜ), am Schengener Informationssystem (Art. 92 bis 119 SDÜ) und an den Bestimmungen über den Datenschutz (Art. 126 bis 130 SDÜ). Der Antrag wurde am 9. 7 und 6. 10. 1999 durch zwei Schreiben erweitert, die den Wunsch nach Beteiligung an weiteren Bestimmungen des acquis zum Ausdruck brachten. Vgl. „UK Participation in the Schengen acquis", House of Lords, Select Committee on the European Union, Session 19992000, 5 t h report, S. 21 ff. 606 Ygi di e Äußerungen der Vertreterin des britischen Innenministeriums vor dem Ausschuss für Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments, abgedruckt in Agence Europe Nr. 7451 vom 23. 4. 1999, S. 7. 607 Insbesondere Spanien verwies bei Ankündigung der britischen Teilnahmeabsicht darauf, dass die Schengener Übereinkommen ein Ganzes seien und nicht in ein Schengen à la carte zerteilt werden dürften. Vgl. Agence Europe Nr. 7424 vom 13. 3. 1999, S. 8. 608 Ygi Beschluss des Rats vom 29. 5. 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden, ABl. EG 2000 Nr. L 131/43 ff.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

153

Dennoch wird der britische Teilbeitritt der Einheitlichkeit des Gemeinschafts- und Unionsrechts zum Vorteil gereichen. Großbritannien verpflichtete sich im Gegenzug, sich an der Weiterentwicklung jener Teile des überführten Schengen-acquis zu beteiligten, die für den Inselstaat für anwendbar erklärt wurden. 6 1 0 Überdies veranlasste die britische Partizipation auch Irland dazu, sich Teilen des überführten Schengen-acquis anzuschließen. 611 Ferner besteht die Hoffnung, dass der Einbindung in Teilbereiche des Schengen-acquis eine schrittweise Beteiligung der beiden Inselstaaten an den übrigen Komponenten des Besitzstands nachfolgen wird. Der zuständige Ausschuss des House of Lords wies bereits im März 1999 auf die erheblichen Nachteile der britischen Sonderposition hin und zeigte auf, dass in den zentralen Bereichen des Schengen-Besitzstands (polizeiliche Zusammenarbeit, Abschaffung der Grenzkontrollen und Visa, Asyl und Einwanderungspolitik) gewichtige Argumente für eine unbeschränkte britische Teilnahme sprechen. 612 Der damals vorgelegte Bericht verlieh insbesondere der Befürchtung Ausdruck, der verminderte Einfluss des Vereinigten Königreichs auf die gemeinschaftlichen Entwicklungen im Bereich Justiz und Inneres könne dazu führen, dass die Prioritäten der übrigen Mitgliedstaaten in weitaus stärkerem Maße Berücksichtigung fänden als die britischen Belange. 613 2. Die Weiterentwicklung des Schengen-acquis a) Die Methode der Weiterentwicklung

des Schengen-acquis

Während die Überführung des Schengen-acquis dessen inhaltlich unveränderte Übernahme in das Unions- und Gemeinschaftsrecht bezeichnet, ist unter der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands dessen Veränderung und Erweiterung auf Grundlage der Handlungsermächtigungen des EUV und des EGV zu verstehen. Vorschläge und Initiativen zu dieser Fortentwicklung unterliegen gem. Art. 5 Abs. 1 Uabs 1 Schengen-Protokoll „den 609

Kritisch insoweit auch Heimann, S. 66. Allerdings merken Hailbronner/ Thiery, EuR 1998, S. 583, 612 zu Recht an, dass den sog. Ausgleichsmaßnahmen des Schengener Abkommens längst nicht mehr nur kompensatorische Funktion zukommt. 610 Vgl. Beschluss des Rats vom 29. 5. 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden, ABl. EG 2000 Nr. L 131/47. 611 Vgl. hierzu den Boer, MJ 2000, S. 336, 350. 612 Vgl. „Schengen and the United Kingdom's Border Controls", House of Lords, Select Committee on the European Union, Session 1998-99, 7 t h report, S. 16 ff. 613 Vgl. „Schengen and the United Kingdom's Border Controls", House of Lords, Select Committee on the European Union, Session 1998-99, 7 t h report, S. 18.

154 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

einschlägigen Bestimmungen der Verträge". Dies bedeutet insbesondere, dass auch die Kommission und das Europäische Parlament entsprechend der Vorgaben der jeweiligen Handlungsermächtigung an der Rechtsetzung beteiligt sind. Im Stadium der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands kommen daher die Vorteile zur Geltung, die der institutionelle Rahmen der Europäischen Union der herkömmlichen völkerrechtlichen Zusammenarbeit im Hinblick auf Transparenz und demokratische Legitimation voraushat. Ein einheitlicher Integrationsfortschritt aller Mitgliedstaaten ist indes infolge der umfassenden Sonderregelungen zugunsten Dänemarks, Großbritanniens und Irlands auch bei dieser innerinstitutionellen Zusammenarbeit nicht gewährleistet. b) Die Freistellung Dänemarks von der Weiterentwicklung in der ersten Unionssäule Artikel 5 ProtDK zufolge schließt sich Dänemark einer Weiterentwicklung des Schengen-acquis in der ersten Säule nur an, falls es sich innerhalb von sechs Monaten dafür entscheidet, die getroffenen Ratsbeschlüsse in sein innerstaatliches Recht umzusetzen. Im Falle dieser Umsetzung ist Dänemark den an der Weiterentwicklung beteiligten Mitgliedstaaten überdies nur völkerrechtlich verpflichtet. 614 Entscheidet sich der nordische Schengen-Staat gegen eine völkerrechtliche Bindungswirkung, kann dies den Erfolg der beschlossenen Fortentwicklung innerhalb des binnengrenzfreien Schengen-Raums entscheidend beeinträchtigen. 615 Die übrigen SchengenStaaten prüfen dann gem. Art. 5 Abs. 2 ProtDK, welche Maßnahmen sie zu treffen gedenken. Ihre Antwort kann bis zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen zu Dänemark gehen. 616 Dies wäre ein empfindlicher Rückschlag für die Errungenschaften des Schengen-Prozesses. Allerdings ist anzunehmen, dass Dänemark nur in Ausnahmefällen eine völkerrechtliche Bindung an die getroffenen Weiterentwicklungsbeschlüsse ablehnen w i r d . 6 1 7 614 Diese in Art. 5 Abs. 1 S. 2 ProtDK angeordnete völkerrechtliche Verpflichtungswirkung ist als unionsrechtliche Verpflichtung der dritten Unionssäule zu werten, die nach Maßgabe des Art. 35 EU justiziabel ist. Schließlich wäre es nicht einleuchtend, weshalb nur der überführte, nicht aber der weiterentwickelte SchengenBesitzstand für Dänemark als Unionssekundärrecht gelten sollte. Vgl. hierzu Heimann, S. 69, m.w.N. sowie die Gegenauffassung bei Bribosia, CDE 2000, S. 57, 94: ,,[M]ême statut que le droit de Schengen dans son cadre intergouvernemental hors Union." 615 Bestimmungen zur Einreise von Staatsangehörigen dritter Länder können beispielsweise für den grenzfreien Schengen-Raum sinnvoll nur einheitlich getroffen werden. Auch eine polizeiliche Zusammenarbeit zur Bekämpfung organisierter Kriminalität, die an der dänischen Grenze Halt machen müsste, wäre aufgrund der ungehinderten Möglichkeit, diese Grenze zu überschreiten, weniger erfolgreich. 616 Vgl. Heimann, S. 69.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

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c) Die Ermächtigung zur verstärkten Zusammenarbeit ohne die Nicht-Schengen-Staaten Großbritannien und Irland sind von der Bindung an Beschlüsse zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands zunächst ebenso befreit wie von der Bindung an den überführten Schengen-acquis. Gem. Art. 5 Uabs. 2 Schengen-Protokoll sind die beiden Inselstaaten an den betreffenden Fortentwicklungen in der ersten und dritten Säule nur dann beteiligt, wenn sie dem Ratspräsidenten ihre Bereitschaft zur Teilnahme rechtzeitig mitteilen. Um den übrigen Mitgliedstaaten die Nutzung des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Europäischen Union ohne die beiden Inselstaaten zu ermöglichen, greift das Schengen-Protokoll in seinem Art. 5 Abs. 1 Uabs. 2 erneut auf das Differenzierungsinstrument der verstärkten Zusammenarbeit zurück. Auch hier wird die verstärkte Zusammenarbeit primärrechtlich begründet, ohne dass es eines Einsetzungsbeschlusses seitens des Rats bedürfte, der nach Beachtung der in Art. 40 Abs. 2 EU und Art. 11 EG Abs. 2 EG normierten Verfahren zu erteilen wäre. 6 1 8 Fraglich ist, ob auch die in Art. 5 Abs. 1 Uabs. 2 Schengen-Protokoll ausgesprochene Ermächtigung eine Befreiung von den herkömmlichen, in den Art. 43, 40 EU und Art. 11 EG vorgesehenen Bedingungen, Geboten und Prinzipien impliziert oder ob sich die verstärkte Zusammenarbeit zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands im Hinblick auf diese Anforderungen den „einschlägigen Bestimmungen der Verträge" zu unterwerfen h a t 6 1 9 Für eine Freistellung von den herkömmlichen Anforderungen des Titels V I I EU spricht, dass der in Art. 40 Abs. 5 EU und Art. 11 Abs. 5 EG ausgesprochene Schengen-Vorbehalt keine Unterscheidung zwischen der Überführung und der Weiterentwicklung des Schengen-acquis trifft. Ebenso wenig deutet der Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 Uabs. 2 Schengen-Protokoll darauf hin, dass die im Interesse der Fortentwicklung der Schengener Kooperation erteilte Ermächtigung hinter der zurückbleibt, die in Art. 1 Schengen-Protokoll zum Zwecke der Überführung des Schengen-acquis eingeräumt wird. Vor allem aber werden sich beide nach dem Schengen-Proto617

Vgl. Kortenberg, CMLRev 1998, S. 833, 840. Zur verstärkten Zusammenarbeit werden gem. Art. 5 Uabs. 2 Schengen-Protokoll die in Art. 1 Schengen-Protokoll genannten Mitgliedstaaten ermächtigt, also auch Dänemark. Die Ermächtigung gilt auch für Großbritannien und Irland, falls die beiden Länder sich rechtzeitig für eine Beteiligung an der Weiterentwicklung entscheiden. 619 Eine Geltung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ordnet Art. 5 Abs. 1 Schengen-Protokoll im Hinblick auf die Vorschläge und Initiativen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands an. 618

156 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

koll begründeten Formen verstärkter Zusammenarbeit gleichermaßen mit den Anforderungen des Titels V I I EU in Widerspruch setzen. Kämen diese zur Anwendung, so wäre die beabsichtigte Fortbildung des Schengen-acquis im Unionsrahmen nahezu ausgeschlossen. Deshalb ist davon auszugehen, dass die nach Art. 5 Abs. 1 Uabs. 2 Schengen-Protokoll begründete verstärkte Zusammenarbeit von den Voraussetzungen der Art. 43 Abs. 1, 40 Abs. 1 EU, Art. 11 Abs. 1 EG freigestellt i s t . 6 2 0 d) Die Beitrittsmöglichkeiten

der Nicht-Schengen-Staaten

Während Großbritannien und Irland ein Beitritt zu dem überführten Schengen-acquis nur nach einstimmigem Ratsbeschluss gestattet ist, ist ihnen eine Beteiligung an den Beschlüssen zur Weiterentwicklung des Schengen-acquis nach Art. 5 Uabs. 2 Schengen-Protokoll jederzeit erlaubt, wenn sie ihre Bereitschaft zur Teilnahme im Vorfeld der Beschlussfassung mitteilen. Diese Option entspricht der uneingeschränkten Beteiligungsmöglichkeit jedes Mitgliedstaats in der Gründungsphase einer verstärkten Zusammenarbeit nach den allgemeinen Vorschriften des Titel V I I E U . 6 2 1 Entscheiden sich Großbritannien und Irland dagegen nicht für eine Teilnahme an den in Entstehung begriffenen Maßnahmen, so stellt sich die Frage, nach welchem Verfahren sich die beiden Nichtteilnehmerstaaten den Schengen-Weiterentwicklungen nachträglich anschließen können. Das Schengen-Protokoll trifft hierzu keine Aussagen. 622 Eine Antwort erschließt sich aus Art. 5 Abs. 1 Schengen-Protokoll. Diesem Artikel zufolge ist die Weiterentwicklung des Schengen-acquis als Sonderform verstärkter Zusammenarbeit ausgestaltet. Mangels spezialgesetzlicher Regelung kommen daher die Beitrittsregelungen der allgemeinen Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit des Titels V I I EU zur Anwendung. 6 2 3 Je nach Unionspfeiler, in der sich die Weiterentwicklung des Schengen-acquis vollzieht, gelten die detaillierten und beitrittsfreundlich ausgestalteten Verfahrensvorschriften des Art. 11 Abs. 3 EG bzw. des Art. 40 Abs. 3 E U . 6 2 4 Hier620

Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 94; Griller/Droutsas/Falkner/Forgo/Nentwich, S. 515. 621 Die Beitrittsverfahren der Art. 11 Abs. 3 EG bzw. Art. 40 Abs. 3 EU finden nur Anwendung, wenn sich ein Mitgliedstaat nicht bereits bei der Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit, sondern erst danach zu einer Beteiligung entschließt. Siehe hierzu unten, Teil 2 C.II.l.a). 622 Die Beitrittsregelung zur Überführung des Schengen-acquis ist aufgrund ihrer Stellung in Art. 4 Schengen-Protokoll auf die Weiterentwicklungsbestimmung des Art. 5 Schengen-Protokoll nicht anwendbar. 623 A.A. Heimann, S. 68, der für eine analoge Anwendung des Art. 4 Abs. 2 Schengen-Protokoll eintritt. 624 Siehe hierzu eingehend unten, Teil 2 C.II.l.b).

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

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durch ist ausgeschlossen, dass die einzelstaatlichen Interessen der SchengenStaaten bei einem Beitrittsgesuch zum ausschlaggebenden Entscheidungskriterium werden. Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten Irlands und Großbritanniens können sich allerdings aus der engen Verflechtung zwischen der Überführung des Schengen-acquis und dessen Weiterentwicklung ergeben. Die Mitwirkung an den Fortentwicklungen des Schengen-Besitzstands ist zwar rechtlich ohne vorherigen Beitritt zu dem in den Unionsrahmen überführten Teil des Besitzstands möglich, auf dem die Weiterentwicklung beruht. 6 2 5 Faktisch wird das Ineinandergreifen der geregelten Materien aber oft zugleich eine Beteiligung an dem überführten Schengen-Recht erfordern, 6 2 6 weshalb sich das in Art. 4 Schengen-Protokoll normierte Einstimmigkeitserfordernis auch auf die Teilnahme an den Schengen-Weiterentwicklungen auswirkt. 3. Die institutionellen Modifikationen und die Finanzierungsregelung Keine Regelungen enthalten die acht Artikel des Schengen-Protokolls darüber, in welcher Weise sich die Nichtbeteiligung Großbritanniens und Irlands auf deren Einflussmöglichkeiten im Rechtsetzungsverfahren auswirkt. Insoweit kommt erneut zum Tragen, dass sowohl die Überführung des Schengen-acquis wie dessen Weiterentwicklung als Sonderformen verstärkter Zusammenarbeit ausgestaltet sind. 6 2 7 Hieraus folgt, dass die in Art. 44 EU angeordneten Modifikationen auf die Beschlussfassung im Rat Anwendung finden. Als qualifizierte Mehrheit gilt gem. Art. 44 Abs. 1 S. 3 EU der nach Art. 205 Abs. 2 EG zu ermittelnde Anteil der gewichteten Stimmen jener Ratsmitglieder, deren Mitgliedstaaten an der verstärkten Zusammenarbeit teilnehmen. 628 Entsprechend Art. 44 Abs. 1 S. 4 EU erfordert ein einstimmig zu treffender Beschluss nicht die Stimmen des britischen und irischen Rats Vertreters, ausgenommen die beiden Mitgliedstaaten schließen sich nach Art. 5 Uabs. 2 Schengen-Protokoll der Beschlussfassung im Vorfeld an. Ein Ausschluss des britischen oder irischen Vertreters von den Beratungen im Rat ist nicht vorgesehen. Auch Vorschriften zur Kostentragung sind im Schengen-Protokoll nicht enthalten. Deshalb gelten die allgemeinen Bestimmungen des Titels V I I EU für die Finanzierung der aus der Überführung und Weiterentwicklung des 625

Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, S. 93; Heimann, S. 67. Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/NentwicK S. 517. 627 Vgl. Art. 1 bzw. Art. 5 Schengen-Protokoll. 628 Nach Art. 205 Abs. 2 EG sind 62 der 87 Stimmen erforderlich. Für einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss bedarf es demnach etwa 71, 26% (62 χ 100 : 87) der abgegebenen gewichteten Stimmen. 626

158 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Schengen-Besitzstands resultierenden Kosten. Art. 44 Abs. 2 EU bürdet den enger kooperierenden Mitgliedstaaten die operativen Kosten ihres Vorgehens auf, soweit der Rat nicht einstimmig Abweichendes bestimmt. Nur die erhöhten Verwaltungskosten der Gemeinschaftsorgane fallen dem gemeinschaftlichen Haushalt zur Last. 4. Die Sonderstellung des Schengen-acquis und die daraus resultierenden Fragen a) Der Schengen-acquis als gesondertes Rechtsgebilde im Unionsrahmen Nimmt ein Teil der Mitgliedstaaten den rechtlichen Rahmen der EU unter Ausschluss der übrigen zur Rechtsetzung in Anspruch, kommt dem entstehenden Recht infolge seiner beschränkten Geltung eine Sonderstellung gegenüber dem Besitzstand zu, dessen Geltung sich auf die Gesamtheit der EU-Mitglieder erstreckt. Diese Besonderheit ist auch dem Schengen-Besitzstand zu eigen, der ohne Geltung für Großbritannien und Irland in den Unionsrahmen überführt und dort weiterentwickelt wird. Er ist zwar je nach Unionspfeiler, in den der Schengen-acquis überführt wurde, als Unionsoder Gemeinschaftsrecht anzusehen, entfaltet aber für die beiden Inselstaaten zunächst keine Bindungswirkung. 629 Das in den Unionsrahmen überführte Schengen-Recht ist zugleich aus weiteren Gründen von den übrigen Unions- und Gemeinschaftsrechtsakten, die auf Titel I V EG oder Titel V I EU gestützt werden, zu unterscheiden. 630 Sowohl die Ausnahmeregelungen wie die späteren Beteiligungsoptionen zugunsten Irlands, Großbritanniens und Dänemarks sind für Weiterentwicklungen des Schengen-Besitzstands anders geregelt als für einen von der vorherigen Überführung unabhängigen Rückgriff auf die Rechtsgrundlagen von EUV und EGV. Zudem betrifft die Assoziation der Nicht-EU-Mitglieder Island und Norwegen nur die Überführung und Fortentwicklung des Schengen-Besitzstands. 631 Es wird daher in Zukunft stets zu unterscheiden sein, ob eine Maßnahme als Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands anzusehen ist oder ob es sich um eine davon unabhängige Inanspruchnahme der vertraglichen Handlungsermächtigungen handelt. 6 3 2 629

Darüber hinaus ist Dänemark nach Art. 3 Schengen-Protokoll bzw. Art 5 ProtDK nicht mit gemeinschaftsrechtlicher Wirkung an die Bestandteile des Schengen-acquis gebunden, die in die erste Säule überführt oder dort weiterentwickelt werden. 630 Vgl. Monar, in den Boer, S. 21, 32 f. 631 Zur Assoziation Islands und Norwegens nach Art. 6 Schengen-Protokoll Kuijper, CMLRev 2000, S. 354, 355 f.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

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Der Rat hat angeordnet, dass Rechtsakte, die kraft eines Vorschlags oder einer Initiative zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands erlassen werden, in den Erwägungsgründen einen Hinweis auf das Schengen-Protokoll enthalten müssen. 633 Dies geschieht, „damit Rechtssicherheit gewährleistet ist und die zum Schengen-Protokoll gehörenden Bestimmungen jederzeit angewendet werden können". 6 3 4 Wann ein Rechtsetzungsvorhaben als Weiterentwicklung des Schengen-acquis anzusehen ist und wann eine davon unabhängige Inanspruchnahme der unions- und gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundlagen im Bereich Inneres und Justiz vorliegt, wird aber in der Praxis oft nur schwer zu entscheiden sein, 6 3 5 zumal ein Teil des SchengenBesitzstands unveröffentlicht und geheim geblieben i s t . 6 3 6 Resultat der Überführung und Weiterentwicklung der Schengener Zusammenarbeit im Unionsrahmen ist daher ein Rechtsgebilde, das infolge seiner Sonderstellung zum Gegenstand von Unklarheiten und Streitigkeiten werden kann. 6 3 7 b) Die Erweiterung des von Kandidatenländern zu übernehmenden acquis communautaire Auch die im Schengen-Protokoll begründete teilnahmebezogene Differenzierung wirft die Frage auf, ob der in seiner Geltung auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkte gemeinschaftsrechtliche und unionsrechtliche „Sonderacquis" von den Ländern zu übernehmen ist, die der Europäischen Union beitreten wollen. Hierzu trifft Art. 8 Schengen-Protokoll eine ausdrückliche Anordnung: „Bei den Verhandlungen über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die Europäische Union gelten der Schengen-Besitzstand 632

Kuijper, CLMRev 2000, S. 345, 352 wirft daher zu Recht die Frage auf, ob es in Zukunft eine neue Kategorie von Gemeinschaftsrecht, das sog. „buildingupon-Schengen-law" geben wird. Monar, in den Boer, S. 21, 32 f. spricht von der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen „Schengen and non-Schengen legal acts". 633 Vgl. Beschluss 1999/436/EG des Rats vom 20. 5. 1999 zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union, ABl. EG 1999 Nr. L 176/18. 634 Beschluss 1999/436/EG des Rats vom 20. 5. 1999, ABl. EG 1999, Nr. L 176/ 17. 635 So auch die Einschätzung bei Bribosia, CDE 2000, S. 57, 95 f.; Kuijper, CMLRev 2000, 345, 353; Tuytschaever, S. 80. 636 Beschlüsse des Schengener Exekutivausschusses, die als vertraulich eingestuft wurden, sind nicht im Amtsblatt der EG veröffentlicht. Vgl. Schengen-Besitzstand gem. Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses 1999/435/EG des Rats vom 20. 5. 1999 ABl. EG 2000, Nr. L 239/10. 637 Vgl. ofSaltaire, in den Boer, S. 121, 124.

160 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

und weitere Maßnahmen, welche die Organe im Rahmen seines Anwendungsbereiches getroffenen haben, als ein Besitzstand, der von allen Staaten, die Beitrittskandidaten sind, vollständig zu übernehmen ist". Den im Schengen-Protokoll zur Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und Mechanismen der Verträge ermächtigten Mitgliedstaaten wird folglich die Befugnis ausgesprochen, den von Kandidatenländern zu übernehmenden acquis communautaire im Verlaufe ihrer Zusammenarbeit zu erweitern. Für die Kandidatenländer macht Art. 8 Schengen-Protokoll dagegen deutlich, dass sie bei den Verhandlungen nicht mit der Zubilligung der Sonderstellung rechnen können, die Großbritannien, Irland und Dänemark bei den Amsterdamer Vertragsverhandlungen für sich in Anspruch genommen haben. 638 c) Die Folgewirkungen

des Schengen-acquis

Keine Aussagen trifft das Schengen-Protokoll im Hinblick auf die übrigen Fragestellungen, die aus der Schaffung eines unions- und gemeinschaftsrechtlichen Besitzstands resultieren, der durch seinen beschränkten Geltungsbereich im Rechtsgefüge der EU eine gesonderte Stellung einnimmt. Für die denkbaren Fälle eines Widerspruchs zwischen dem „Schengener Sonderacquis" und dem für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten geltenden Unions- und Gemeinschaftsrecht finden sich im Schengen-Protokoll keine hinlänglichen Kollisionsregeln. 639 Ebenso wenig widmet sich das Schengen-Protokoll der Frage, welche Auswirkungen die Überführung und Weiterentwicklung des Schengen-acquis auf das Kompetenzgefüge der Europäischen Gemeinschaft haben wird. Dabei ist als Folge der umfassenden Entstehung beschränkt geltenden gemeinschaftlichen Sekundärrechts gerade damit zu rechnen, dass der Gemeinschaft im Verhältnis zu einem Teil ihrer Mitgliedstaaten ausschließliche Kompetenzen zum Abschluss internationaler Vereinbarungen zuwachsen. 640 Da diese Fragestellungen im Schengen-Protokoll nicht der erforderlichen Klärung zugeführt werden, ist davon auszugehen, dass sie aus den allgemei638

Vgl. Griller/Droutsas/Falkner/Forgó/Nentwich, S. 518. Kritisch zu der insoweit ungleichen Behandlung der bisherigen und künftigen Mitgliedsländer La Serre , Politique Étrangère 1999, S. 21, 29. 639 Der Präambel des Schengen-Protokolls zufolge sind die Bestimmungen des Schengen-Besitzstands nur insoweit anwendbar, als sie mit den Rechtsvorschriften der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft vereinbar sind. Hiermit ist für den Kollisionsfall ein Nachrang des überführten Schengen-Besitzstands angeordnet, ohne jedoch das Konkurrenzverhältnis zu den Rechtsakten zu klären, die in Weiterentwicklung des Schengen-acquis auf unions- und gemeinschaftsrechtliche Handlungsermächtigungen gestützt werden. 640 Vgl. Kuijper, CMLRev 2000, S. 345, 364 f.

D. Die Differenzierungen im Bereich Justiz und Inneres

161

nen Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit heraus eine Lösung erfahren müssen. Auf sie wird daher im zweiten Teil dieser Arbeit eingegangen.

IV. Bewertung Dem außerhalb des Unionsrahmens stattfindenden Schengen-Prozess war eine defizitäre demokratische Legitimation, die Umgehung parlamentarischer Kontroll- und richterlicher Rechtsschutzmechanismen sowie mangelnde Transparenz in den Entscheidungsstrukturen vorzuwerfen. Diese Unzulänglichkeiten rechtfertigen die Bemühungen, die Integrationsbestrebungen im Bereich Freizügigkeit, Justiz und Inneres in den Unionsrahmen zu verlegen und sie dort unter Ausbau der gemeinschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zu konzentrieren. Andererseits legt eine eingehende Untersuchung der in Amsterdam vereinbarten unions- und gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzerweiterungen ein Normengeflecht frei, das durch seine Komplexität weiterer Intransparenz Vorschub leistet. Die Amsterdamer Vertragsparteien haben den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht nur in zwei unterschiedlich strukturierten Unionspfeilern rechtlich verankert, sondern zugleich unter Rückgriff auf unterschiedliche Differenzierungskonstrukte flexibilisiert. Dies führt zu einem kaum noch überschaubaren Nebeneinander von Optout-, Opt-in- und Re-Opt-in-Regelungen, aus denen sich nur schwer entnehmen lässt, in welchem Umfang Großbritannien, Irland und Dänemark in den unionsinternen Schengenprozess und in die gemeinsame Justiz- und Innenpolitik jeweils eingebunden sind. Entsprechend diffizil ist für den Unionsbürger in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu ermitteln, welchen gemeinschaftsrechtlichen Eingriffsbefugnissen er sich ausgesetzt sieht und welche Rechtsschutzmöglichkeiten ihm gegen diese zur Verfügung stehen. Diese Einbußen an Klarheit und Übersichtlichkeit im Europäischen Recht sind in der Justiz- und Innenpolitik besonders kritikwürdig. Die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York von den westlichen Demokratien erlassenen sog. „Sicherheits- und Anti-Terror-Gesetze" rufen in Erinnerung, in welchem empfindlichen Gleichgewicht die rechtstaatlichen Werte Freiheit und Sicherheit stehen. 641 Gerade in dem besonders grundrechtssensiblen Bereich der inneren Sicherheit muss das staatliche 641

Eine besonders drastische Beschränkung von Freiheitsrechten bewirkt der USamerikanische „U.S. PATRIOT Act". Dieses Paragrafenwerk senkt die Hürden für Durchsuchungsbefehle beträchtlich und erweitert die Zulässigkeit des Abhörens von Telefonaten, auch zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten. Verdächtige Ausländer können bis zu einem halben Jahr ohne Anklage inhaftiert bleiben, falls der Justizminister eine „Gefahr für die Sicherheit der Nation" feststellt. Vgl. hierzu 11 Kellerbauer

162 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Handeln für den Bürger und die parlamentarischen Vertretungen durchsichtig, verständlich und damit nachprüfbar bleiben. Transparenz und Bürgernähe - beides Ansprüche, an denen sich die Europäische Union gem. Art. 1 Abs. 2 EU messen lassen will - sind von erheblicher Tragweite dafür, dass die Freiheit der Unionsbürger im europäischen Raum der Sicherheit und des Rechts in hinreichendem Maß gewährleistet bleiben wird.

E. Abschließende Bewertung zum ersten Teil Es ist dem im Vertrag von Maastricht erstmals umgesetzten neuen Differenzierungskonzept zu verdanken, dass die wichtigsten Integrationsvorhaben des vergangenen Jahrzehnts nicht an einzelstaatlichen Vorbehalten gegen die Übertragung weiterer Hoheitsrechte in souveränitätssensiblen Politikfeldern gescheitert sind. Anhand der bisherigen Anwendungsbeispiele wird deutlich, dass von teilnahmebezogenen Differenzierungen ein zweifaches Vertiefungspotential auf den Europäischen Integrationsprozess ausgeht. Zum einen führt die abgestufte Form des Integrationsfortschritts zu einer Dynamisierung der Entscheidungsprozesse im Kreis der voranschreitenden Teilgruppe. Der Avantgarde wird es ohne Behinderung durch die integrationsskeptischen Mitgliedstaaten ermöglicht, das Europäische Primär- und Sekundärrecht fortzuentwickeln. Ferner übt das vertiefte Integrationsniveau auf die zurückbleibenden Mitgliedstaaten eine Zugkraft aus, die den gesamtgemeinschaftlichen Integrationsprozess beflügeln kann. Die wirtschaftlichen Interdependenzen und politischen Interessensverflechtungen in der EU wirken darauf hin, dass die Folgen gemeinschaftlicher Harmonisierungsmaßnahmen nicht an den Grenzen ihres Geltungsbereichs Halt machen. Die Nichtteilnehmerstaaten werden in die Auswirkungen gemeinschaftlicher Rechtsetzungsvorgänge einbezogen, auf die sie nur im Wege eines „Re-Opt-in" Mitgestaltungsmöglichkeiten zurückgewinnen können. . Auch wenn sich das geschilderte Vertiefungspotential nicht realisiert, weist das Vorgehen einer Avantgarde innerhalb des Unionsrahmens gegenüber dem herkömmlichen völkerrechtlichen Zusammenwirken mitgliedstaatlicher Teilgruppen Vorzüge auf. Die Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und Mechanismen von EUV und EGV gestattet es, die Effizienz des gemeinschaftlichen Handlungsinstrumentariums in den Dienst des Integrationsvorhabens zu stellen, das Potential und die Ambitionen der Avantgarde enger an die Ziele der Europäischen Union zu binden und die Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten der unterschiedlichen Integrationsstufen zu „Ein Rechtsstaat läuft Amok", in der Süddeutschen Zeitung vom 29. 11. 2001, S. 11.

E. Abschließende Bewertung zum ersten Teil

163

verbessern. Sie ermöglicht ein Maß an parlamentarischer Beteiligung und an Individualrechtschutz, das im Rahmen der klassischen völkerrechtlichen Kooperationsformen nicht gewährleistet ist. Gefahren weist die neue Differenzierungsform für die Einheitlichkeit des gemeinschaftlichen Rechtsraums auf. Die Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten und die Gleichbehandlung ihrer Staatsangehörigen wird in Frage gestellt, wenn sich einzelne EU-Mitglieder den für den bisherigen Integrationsverlauf kennzeichnenden „package deals" verweigern und sich nur den für sie vorteilhaften rechtlichen Bindungen der unions- und gemeinschaftsrechtlichen Zusammenarbeit anzuschließen bereit erklären. Werden sie zu „Trittbrettfahrern" der Vergünstigungen des weiteren Integrationsfortschritts, ohne ihrerseits den Interessen der übrigen Mitgliedsländer durch Zugeständnisse und Kompromisse entgegenzukommen, beeinträchtigt dies die Solidarität zwischen den Ländern des europäischen Staatenverbunds. Von den im Laufe der vorliegenden Untersuchung dargestellten Differenzierungen gehen bisher allerdings keine nachteiligen Auswirkungen auf den Zusammenhalt in der Europäischen Union aus. Eine Zersplitterung des einheitlichen Rechtsraums macht sich nicht bemerkbar. Mit Ausnahme des britischen und irischen Opt-out aus den Handlungsbefugnissen der gemeinsamen Visapolitik führten die bisherigen Differenzierungen auch zu keinen Aufweichungen des bestehenden acquis communautaire. Eine verallgemeinernde Aussage, teilnahmebezogene Differenzierungen könnten die Rechtseinheit und den Zusammenhalt in der Europäischen Union nicht beeinträchtigen, wäre anhand der bisherigen Anwendungsbeispiele allerdings voreilig. Bislang stützte sich der partielle Integrationsfortschritt jeweils auf eine starke Mehrheit von EU-Mitgliedern und versetzte die Nichtteilnehmerstaaten in die Position von Außenseitern. Die Erfahrungswerte der untersuchten Flexibilisierungen erlauben keine Aussagen darüber, ob von mitgliedstaatlichen Kleingruppen, die den rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU in Anspruch nehmen, Gefahren einer europäischen Desintegration ausgehen. Ferner ist derzeit kein Mitgliedstaat aufgrund seines unzureichenden wirtschaftlichen Potentials von einer engeren mitgliedstaatlichen Kooperation ausgeschlossen. Den Differenzierungen liegt ausnahmslos eine fehlende politische Bereitschaft zugrunde. Erst das ökonomische und soziale Gefälle in einer um die Kandidatenländer Mittelund Osteuropas erweiterten Europäischen Union wird zeigen, welche Risiken von teilnahmebezogenen Differenzierungen ausgehen, die im mangelnden Integrationspotential einzelner EU-Mitglieder ihren Hintergrund finden. Ein dauerhaftes Zurückbleiben der Beitrittsanwärter hinter den heutigen EU-Mitgliedern könnte einer Spaltung der Europäischen Union in „arme" und „reiche" Mitgliedstaaten Vorschub leisten, die sich Kandidatenländer durch ihren Beitritt gerade zu überwinden versprechen. 11*

164 1. Teil: Der Vertrag von Maastricht und die bisherigen Anwendungsfelder

Ein Nachteil der neuen Differenzierungsform macht sich bereits jetzt bemerkbar. Die Unions- und Gemeinschaftsrechtsordnung verliert durch die Zunahme von Differenzierungen an Transparenz. Die Komplexität des Europäischen Rechts nimmt weiter zu, was seine Akzeptanz bei den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten erschwert. Differenziertes Recht schafft für den juristischen Betrachter neue rechtliche Problemstellungen - für den Unionsbürger ein schwer verständliches Geflecht an Ausnahme- und Sonderbestimmungen.

Zweiter Teil

Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten Mit Einführung der „Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit" des Titels V I I EU stellt der Amsterdamer Vertrag die im Verlaufe des ersten Teils dieser Arbeit eingehend untersuchte Neuform differenzierter Integration auf eine neue rechtliche Grundlage. Seit dem 1. Mai 1999 gestatten es die Art. 43 bis 45 EU, Art. 40 EU und Art. 11 EG den Mitgliedstaaten in verallgemeinerter Form, innerhalb des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union zu kooperieren, um auf diese Weise in einem engeren Teilnehmerkreis die Europäische Integration voranzubringen. Den genannten Artikeln wird für künftige teilnahmebezogene Differenzierungen zu entnehmen sein, in welchem Umfang und nach Maßgabe welcher Vorgaben mitgliedstaatliche Pioniergruppen zur Nutzung der Organe, Verfahren und Mechanismen des Unions- und Gemeinschaftsvertrags befugt sind. Im Folgenden werden zunächst die Entstehungsgeschichte und die Wesenszüge des im Vertrag von Amsterdam geschaffenen und im Vertrag von Nizza reformierten Differenzierungsinstruments dargestellt. Im Anschluss daran wird das komplexe Regelungswerk des Titels V I I EU auf seine Funktionsweise und seine mögliche Handhabung in der Praxis untersucht. Zu diesem Zweck widmen sich die Ausführungen jeweils getrennt dem für die Begründung, die anschließende Durchführung und die Folgewirkungen einer verstärkten Zusammenarbeit geltenden Recht.

A. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform I. Die generalklauselartige Differenzierung des Vertrags von Amsterdam Der Vertrag von Maastricht hatte in vitalen Feldern der Europäischen Integration mitgliedstaatlichen Pioniergruppen den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union zur Verfügung gestellt und damit für weitere Differenzierungen im Unions- und Gemeinschaftsrechts wichtige Präzedenzfälle geschaffen. 642 Allerdings hatten dem Voranschreiten der 642

Vgl. Deubner, in Ehlermann S. 117, 126; Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 366.

166

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Avantgarden in der Wirtschafts- und Währungsunion und der gemeinsamen Sozialpolitik primärrechtlich verankerte Ermächtigungen zugrunde gelegen, die den Anwendungsbereich und Adressatenkreis der partiellen Integrationsbestrebungen klar eingrenzten. 643 Im späteren Verlauf wurden Forderungen nach einer Differenzierungsform laut, die von diesen Eingrenzungen befreit werden sollte. 1. Die Regierungskonferenz 1996/1997 Weniger als zwölf Monate nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht begannen bereits die Vorbereitungen für eine nächste vertragsändernde Regierungskonferenz, die im Unionsvertrag auf das Jahr 1996 anberaumt worden w a r . 6 4 4 Im Juni 1994 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs auf dem Europäischen Rat von Korfu, den Verhandlungen eine umfassende Vorbereitungsphase voranzustellen, während der eine hochrangig besetzte sog. „Reflexionsgruppe" damit beauftragt wurde, Vorschläge zu den notwendigen Vertragsreformen zu erarbeiten. 645 In dieser Vorbereitungsphase war es vornehmlich einem deutschen Beitrag zu verdanken, dass die Diskussion um Formen differenzierter Integration in neue Bahnen gelenkt wurde und schließlich in innovativer Gestalt in die Amsterdamer Vertragsverhandlungen Einzug hielt. 6 4 6 Entscheidende Impulse gingen von dem sog. „Schäuble/Lamers-Papier" aus, das die CDU/ CSU Fraktion des Deutschen Bundestags am 1. September 1994 veröffentlichte. 6 4 7 Die Unionspolitiker regten mit Blick auf die anstehende EU-Erweiterung die Kreation eines beschleunigten Integrationswegs innerhalb der 643

Vgl. Schutz, S. 282. Vgl. Art. Ν Abs. 2 EUV. Die Verhandlungen wurden am 29. 3. 1996 in Turin unter italienischer Ratspräsidentschaft offiziell eröffnet, durchliefen die irische Ratspräsidentschaft und fanden ihren politischen Abschluss mit dem Treffen des Europäischen Rats in Amsterdam vom 16.-18. 6. 1997. Zum Verlauf der Regierungskonferenz vor dem Hintergrund differenzierter Integration ausführlich Stubb, in Neunreither/Wiener, S. 153 ff. 645 Die Reflexionsgruppe setzte sich aus persönlichen Vertretern der Außenminister der Mitgliedstaaten, dem Kommissionspräsidenten und zwei Vertretern des Europäischen Parlaments zusammen. Vgl. BullEU, 6-1994, Z. 1.25. Den Beratungen kam für die späteren Vertragsreformen große Bedeutung zu. Vgl. zum Ganzen Freiburghaus, S. 126. 646 Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass zuvor bereits das Europäische Parlament wichtige Anregungen in die Differenzierungsdebatte eingebracht hatte. Die europäischen Abgeordneten hatten sich am 10. 2. 1994 für einen EU-Verfassungsentwurf stark gemacht, der in seinem Art. 46 darauf abzielte, den Unionsrahmen generell für mitgliedstaatliche Pioniergruppen zu öffnen. Vgl. Europäisches Parlament, Entschließung vom 10. 2. 1994 über die Verfassung der Europäischen Union, ABl. EG 1994 Nr. C 61/165. 644

Α. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform

167

Europäischen Union an, der von einem Kern der integrationsfähigsten und -bereitesten Mitgliedstaaten beschritten werden sollte. 6 4 8 Im Unterschied zu den Maastrichter Differenzierungen in der Wirtschafts- und Währungsunion und der gemeinsamen Sozialpolitik sollte die Kerngruppe dabei in ihrem Vorgehen nicht mehr auf einzelne Integrationsfelder beschränkt sein. Vielmehr empfahlen die Autoren, die Methode eines Vorgehens in unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten für die Gesamtheit der gemeinschaftlichen Politikbereiche zu sanktionieren und zu institutionalisieren, um so der Herausbildung intergouvernementaler Formen der Zusammenarbeit zuvorzukommen. 6 4 9 Mit diesem Vorstoß löste das Schäuble/Lamers-Papier eine Welle kontrovers geführter politischer Diskussionen in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten aus, die bis zur Konferenz zur Überprüfung des Maastrichter Vertrags reichte. 6 5 0 Die Reflexionsgruppe empfahl den Staats- und Regierungschefs die Frage nach einer Erschließung neuer Differenzierungskonzepte zur Erörterung an. 6 5 1 Der zum Ende der spanischen Ratspräsidentschaft angefertigte Endbericht der Reflexionsgruppe deutete aber noch darauf hin, dass die in dem Gremium vertretenen Delegationen überwiegend für ein konservatives und in der Gemeinschaftsorthodoxie verharrendes Differenzierungsmodell eintraten: „Flexibilität sollte ... nur im Einzelfall zugelassen werden, ... nur vorübergehender Art sein [und] - wie in der Vergangenheit - in der Union nur möglich sein, ... wenn alle sich damit einverstanden erklärt haben". 6 5 2 Eine Zugrundelegung dieser Restriktionen hätte eine Fortentwicklung der Maastrichter Differenzierungsformen ausgeschlossen.653 Dem in der Reflexions647

Schäuble/Lamers, „Überlegungen zur Europäischen Politik", auszugsweise abgedruckt in FAZ vom 8. 9. 1994, S. 7. Benannt wurde das Papier nach den Unionspolitikern Wolfgang Schäuble und Karl Lamers, zwei der ingesamt sechs Autoren. 648 Dieser Kern sollte aus den Gemeinschaftsgründerstaaten abzüglich Italien bestehen, weiteren Mitgliedstaaten aber offen stehen. Schäuble/Lamers, in FAZ vom 8. 9. 1994, S. 7. Die Vorstellung eines exklusiven Kerns, der noch dazu zunächst das Gründungsland Italien ausschloss, wurde von Außenminister Fischer in seinem späteren Differenzierungsplädoyer als „Geburtsfehler" des Unionsentwurfes bezeichnet. Vgl. Joschka Fischer, „Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration" Rede am 12. 5. 2000 in der HumboldtUniversität in Berlin, im Internet veröffentlicht unter http://www.auswaertigesamt.de/www/de/infoservice/download/pdf/reden/2000/r000512a.pdf, S. 8. 649 Vgl. Schäuble/Lamers Papier, abgedruckt in FAZ vom 8. 9. 1994, S. 7. 650 Zu den Reaktionen, die das Schäuble/Lamers-Papier in Politik und Wissenschaft hervorrief, vgl. Schutz, S. 384 ff.; Stubb, in Neunreither/Wiener, S. 153 ff. 651 Vgl. Bericht der Reflexionsgruppe, Messina 2. 6. 95, Brüssel, 5. 12. 95; Ziffer 13; im Internet veröffentlicht unter http://www.europarl.eu.int/enlargement/cu/ agreements/reflex3_de. htm. 652 Bericht der Reflexionsgruppe, Messina 2. 6. 95, Brüssel, 5. 12. 95; Ziffer 13; im Internet veröffentlicht unter http://www.europarl.eu.int/enlargement/cu/agreements/reflex3_de.htm.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

gruppe zum Ausdruck kommenden Misstrauen lagen Bedenken zugrunde, eine weitere Flexibilisierung könne dem Zerfall des gemeinschaftlichen Besitzstandes Vorschub leisten, die Zersplitterung der Rechtseinheit in der Union fördern und zu einer Relativierung des institutionellen Gefüges beitragen. 654 Auch befürchteten die traditionell integrationsskeptischen EUMitglieder und die wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten, als Nichtteilnehmer weiterer Pioniergruppen vom Integrationsfortschritt dauerhaft „abgekoppelt" zu werden. 655 Trotz dieser Vorbehalte lenkte ein deutsch-französischer Vorschlag, der zum Gipfel in Madrid im Dezember 1995 präsentiert wurde, die Verhandlungen wieder auf jene innovative Bahnen, die ihnen das Schäuble/LamersPapier gewiesen hatte. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident Jacques Chirac setzten sich in einem gemeinsamen Brief an die Mitglieder des Europäischen Rats für ein Konzept „verstärkter Zusammenarbeit" e i n . 6 5 6 „Zeitweilige Schwierigkeiten eines Partners, Schritt zu halten, dürfen die Handlungsfähigkeit der Union und ihre Möglichkeiten, Fortschritte zu erzielen, nicht beeinträchtigen. Aus diesem Grunde erachten wir es im Lichte der bisherigen Erfahrungen und Beispiele für wünschenswert und möglich, in den Vertrag eine allgemeine Klausel einzufügen, die Staaten, die dies wünschen und dazu in der Lage sind, die Möglichkeit eröffnet, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens der Union eine verstärkte Zusammenarbeit zu entwickeln."657 Diese deutsch-französische Initiative erteilte den im Endbericht der Reflexionsgruppe befürworteten Beschränkungen eine eindeutige Absage. Sie zielte darauf ab, einem engeren Kreis von EU-Mitgliedern nicht nur im Ein653 Bereits im Maastrichter Vertrag betraf das Voranschreiten einer Europäischen Avantgarde zwei gemeinschaftliche Politikbereiche in ihrer Gesamtheit. Überdies war den zurückbleibenden Mitgliedstaaten keine gerichtlich überprüfbare Frist zum Wiederaufschließen gesetzt. 654 Zum Hintergrund der in der Reflexionsgruppe geäußerten Bedenken Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 127 ff.; Janning, Integration 1997, S. 285, 287 ff.; Europäisches Parlament, Entschließung vom 17. 5. 1995 über die Funktionsweise des Vertrags über die Europäische Union im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, ABl. EG Nr. C 151/61 f. 655 Vgl. Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 131; Freiburghaus , S. 135; Janning , Integration 1997, S. 285, 289. 656 Schreiben des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten, Helmut Kohl und Jacques Chirac, an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rats, den spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales, veröffentlicht am 6. 12. 1995 in Bonn und Paris, abgedruckt in Internationale Politik 1996, S. 81. 657 Schreiben des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Staatspräsidenten, Helmut Kohl und Jacques Chirac, an den amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rats, den spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzales, veröffentlicht am 6. 12. 1995 in Bonn und Paris, abgedruckt in Internationale Politik 1996, S. 81.

Α. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform

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zelfall, sondern in verallgemeinerter Form zu ermöglichen, den Rahmen der Europäischen Union zu Integrationsfortschritten zu nutzen. Dabei sollte es die Aufnahme einer allgemeinen Klausel ermöglichen, den Handlungsspielraum der Pioniergruppe nicht mehr von vorneherein vertraglich einzugrenzen, sondern im Einzelfall flexibel nach den Bedürfnissen des Integrationsprozesses auszurichten. Gemeinsam mit späteren Konkretisierungen seitens des deutschen und des französischen Außenministers 658 nahm dieser deutsch-französische Beitrag bestimmenden Einfluss auf den Fortgang der Verhandlungen. 659 Dass er sich im Verlaufe der Regierungskonferenz in seinen Grundelementen als konsensfähig erwies, war vornehmlich der schwierigen Verhandlungssituation mit dem Vereinigten Königreich 6 6 0 und dem unbefriedigenden Vorankommen der in Aussicht genommenen Reformen 661 zuzuschreiben. Auch die Einsicht, dass ein Vorgehen in Teilgruppen nach dem Schengener Muster intergouvernementaler Zusammenarbeit dem einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union und der Solidarität ihrer Mitglieder noch weniger zuträglich wäre, trug zum Erfolg der deutsch-französischen Initiative b e i . 6 6 2 658

Vgl. den gemeinsamen Diskussionsbeitrag des deutschen und des französischen Außenministers, Klaus Kinkel und Hervé de Charette, für die Regierungskonferenz zur verstärkten Zusammenarbeit, veröffentlicht am 18. 10. 1996 in Bonn und Paris, abgedruckt in Internationale Politik 1997, S. 72 ff. 659 Ferdinando Riccardi , Agence Europe Nr. 6844 vom 31. 10. 1996, S. 2 bezeichnet das deutsch-französische Dokument über die verstärkte Zusammenarbeit als „Wendepunkt der Regierungskonferenz zur Revision des Vertrags von Maastricht". 660 Aufgrund des nach der BSE-Krise verhängten Einfuhrverbots für britisches Rindfleisch drohte der britische Premier John Major damit, die konstruktive Zusammenarbeit in der Gemeinschaft insgesamt aufzukündigen. Die Bedeutung von Differenzierungen als möglicher Ausweg aus institutionellen Lähmungen, die einzelne Regierungen zu verursachen imstande sind, wurde damit offenkundig. Vgl. hierzu Missiroli, WEU Occasional Paper 6, S. 7; Usher , ICLQ 1997, S. 243, 260. 661 Zum schwierigen und teils unbefriedigenden Verhandlungsverlauf der Regierungskonferenz 1996/1997 Burón , RVAP 1999, S. 209, 216; Freiburghaus, S. 128. Die sich abzeichnenden sog. „left-overs" unbewältigter institutioneller Erneuerung waren insbesondere deshalb bedenklich, weil sich die Europäische Union bereits 1993 zu einem baldestmöglichen Beitritt der ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas bekannt hatte. 662 j m Verlauf der Verhandlungen setzte sich unter den Mitgliedsländern die Ansicht durch, dass sich Formen engerer Zusammenarbeit besser innerhalb als außerhalb des Unionsrahmens entfalten sollten. Vgl. die Feststellungen des irischen Vorsitzes, CONFER 2500/96 vom 5. 12. 1996. Das Grundsatzpapier der Kommission „Flexibilität/Verstärkte Zusammenarbeit", abgedruckt in Agence Europe Dokumente Nr. 2022 vom 29. 1. 1997, S. 1 f., verlieh der Befürchtung Ausdruck, dass sich Flexibilität außerhalb des EGV und des EUV vollziehen würde, falls in die Verträge keine weiterreichenden Differenzierungsmöglichkeiten eröffneten. Vgl. zum Ganzen auch Janning, Integration 1997, S. 285, 286; La Serre , Politique Etrangère 1999, S. 21, 23; Ehlermann , EuR 1997, S. 362, 368.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

2. Das Verhandlungsergebnis Die von Helmut Kohl und Jacques Chirac geforderte allgemeine Klausel hielt schließlich in einen neuen Titel V I I EU, „Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit" Einzug. Gemeinsam mit zwei säulenspezifischen Klauseln in EUV und EGV regeln die Vertragsartikel des neuen Titels erstmals in allgemeiner Form, zu welchen Zwecken, unter welchen Bedingungen, nach welchen Verfahren und mit welchen Rechtsfolgen eine mitgliedstaatliche Pioniergruppe auf den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union zugreifen darf. Die primärrechtlich ausgesprochene Ermächtigung beschränkt sich nicht mehr darauf, einem bezeichneten Teilnehmerkreis den Unionsrahmen zur Wahrnehmung bestimmter Integrationsaufgaben zur Verfügung zu stellen. Vielmehr ist die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit weder auf einzelne Politikbereiche beschränkt, noch zielt sie auf die Freistellung bestimmter Mitgliedstaaten ab. Zugleich schlug sich die bereits in der Reflexionsgruppe zum Ausdruck gebrachte Ablehnung gegenüber einer substantiellen Ausweitung der existierenden Differenzierungsformen im Verhandlungsergebnis nieder. Angesichts der schwer vorhersehbaren rechtlichen wie politischen Konsequenzen konnte sich das neue Differenzierungsinstrument nur unter der Bedingung durchsetzen, dass es durch eine Kombination von normativen Schranken und prozeduralen Hemmnissen entschärft würde. Den an der Bildung einer verstärkten Zusammenarbeit interessierten Mitgliedstaaten steht der Unionsrahmen nur dann zur Verfügung, falls ihre Kooperation einer Vielzahl von Geboten, Bedingungen und Prinzipien genügen kann. Überdies behält der Vertrag von Amsterdam jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit vor, die Nutzung des Titels V I I EU unter Berufung auf „wichtige Gründe der nationalen Politik" gänzlich zu verhindern. Unabhängig von der Ausübung dieses Vetorechts darf eine verstärkte Zusammenarbeit ferner nicht in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur Anwendung gelangen.

II. Die Reform der Differenzierungsklauseln durch den Vertrag von Nizza Die Mitgliedstaaten waren in Amsterdam zu der Einsicht gelangt, mit dem vereinbarten Vertragswerk nicht alle Reformen bewirkt zu haben, die für die geplante Erweiterung der Europäischen Union notwendig waren. Daher wurde dem EU-Vertrag ein Protokoll beigefügt, das für die Folgezeit eine erneute Überarbeitung der Bestimmungen von EUV und EGV vorsah. 663 A m 663 v g L d a s Protokoll (Nr. 7) über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union. Art. 2 zufolge sollten die Verhandlungen spätestens ein

Α. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform

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3. und 4. Juni 1999 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs in Köln, bereits im darauffolgenden Jahr die angestrebten Vertragsänderungen vorzunehmen. 664 Die erforderlichen Verhandlungen sollten Ende 2000 auf dem Europäischen Rat von Nizza zum Abschluss gebracht werden. 665 Der Auftrag der Regierungskonferenz erstreckte sich aber zunächst nur auf die Themen, welche die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Gemeinschaftsorgane betrafen. 666 Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit waren in den ersten Monaten der seit dem 14. Februar 2000 tagenden Regierungskonferenz kein offizieller Gegenstand der Verhandlungen. Auch stellte die mit einer Ergänzung der Tagesordnung befasste finnische Ratspräsidentschaft nach Konsultationen mit den Mitgliedstaaten mehrheitlichen Widerstand dagegen fest, die Flexibilisierungsklauseln einer Überarbeitung zu unterziehen. 667 Im Verlaufe der portugiesischen Ratspräsidentschaft konnten sich die Befürworter einer Neufassung der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit aber mit ihrem Standpunkt durchsetzen. 668 Sie verwiesen darauf, dass eine Reform des Titels V I I EU angesichts der anstehenden EU-Erweiterung auf bis zu 27 Mitgliedstaaten als unbedingte Notwendigkeit angesehen werden müsse. 669 Die jedem Mitgliedstaat zustehende Vetomöglichkeit Jahr vor dem Zeitpunkt aufgenommen werden, zu dem die Zahl der EU-Mitglieder zwanzig überschreitet. 664 Vgl. Europäischer Rat von Köln vom 374. 6. 1999, BullEU 6-1999, Z. 1.21.52. 665 Vgl. Europäischer Rat von Köln vom 374. 6. 1999, BullEU 6-1999, Z. 1.21.52. 666 Dies waren die Größe und Zusammensetzung der Europäischen Kommission, die Stimmenwägung im Rat und die Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat. Vgl. Europäischer Rat von Köln vom 374. 6. 1999, BullEU 6-1999, Z. 1.21.53. 667 Die finnische Regierung stellte auf der Regierungskonferenz 2000 insoweit rückblickend fest:„[A] clear preference emerged for not taking this issue on the agenda of the IGC"; CONFER 4723/00 vom 7. 3. 2000, S. 17. Neben den bereits aus der Regierungskonferenz 1996/1997 bekannten Bedenken der Differenzierungsgegner lag dieser Ablehnung die Besorgnis zugrunde, der kontroverse Gegenstand könne die planmäßige Abhandlung der zentralen Themen der Regierungskonferenz und damit den Zeitplan für die EU-Erweiterung gefährden. Vgl. CONFER 4723/00 vom 7. 3. 2000, S. 17; Rodrigues, RMCUE 2001, S. 11, 12. 668 Erörtert wurde eine Überarbeitung der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit bereits anlässlich der informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Sintra am 14. /15. 4. 2000 und auf den Azoren am 677. 5. 2000. Der offizielle Beschluss, die Tagesordnung zu erweitern, wurde auf dem Europäischen Rat in Feira am 19720. 6. 2000 gefasst. Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Feira vom 19720. 6. 2000, in Bulletin Quotidien Europe Dokumente, Nr. 2195 vom 22. 6. 2000, S. 2. 669 Vgl. Europäische Kommission, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM (2000) 34, 35; deutsch-italienisches Positionspapier, CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 2 ff.; Memorandum der Benelux-Länder; CONFER 4787/00 vom 18. 10. 2000, S. 5 f.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

und das Erfordernis einer Teilnahme von zumindest der Hälfte der EU-Mitglieder würden nach den Erweiterungsrunden zu unverhältnismäßigen Einengungen führen, die der Flexibilisierungsklausel jeglichen praktischen Nutzen nehmen könnten. 6 7 0 Der Überzeugungskraft dieser Argumente leistete die Besorgnis vor einer Zunahme mitgliedstaatlicher Kooperationen außerhalb des Unionsrahmens Vorschub. Sollte die Amsterdamer Regelung das Voranschreiten in Pioniergruppen im Übermaß erschweren, so könnten sich die an einer engeren Kooperation interessierten EU-Mitglieder zu einem Ausweichen auf außerinstitutionelle Sonderwege veranlasst sehen, die auch den an der Avantgarde unbeteiligten Mitgliedstaaten nachteilhafter erschienen als ein Vorgehen innerhalb der Europäischen Union. 6 7 1 Dahingehende Befürchtungen wurden geschürt, als der deutsche Außenminister Joschka Fischer und der französische Staatspräsident Jacques Chirac im Mai und Juni ihre europapolitischen Zukunftsvisionen in die öffentliche Diskussion einbrachten. 672 Beide Politiker sprachen sich für eine Avantgarde (Fischer) bzw. eine Pioniergruppe (Chirac) aus, die zwar in einem ersten Schritt auf das Flexibilisierungsinstrument der verstärkten Zusammenarbeit zurückgreifen solle, die sich aber, soweit erforderlich, auch fern des EUV und EGV mit den notwendigen Handlungsmitteln ausstatten könne. 6 7 3 Das damit implizierte Drohpotential einer höheren Attraktivität außervertraglicher Kooperationen wurde - wie bereits im Zuge der Regierungskonferenz 1996 - erneut zu einem entschei670 Vgl. Europäische Kommission, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM (2000) 34, 35 f.; deutsch-italienisches Positionspapier, CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 4; Memorandum der Benelux-Länder; CONFER 4787/00 vom 18. 10. 2000, S. 6. 671 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 115 f.; Stubb, in Best/Gray/Stubb, S. 145, 153. 672 Vgl. Joschka Fischer, „Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration", Rede am 12. 5. 2000 in der HumboldtUniversität in Berlin. Im Internet veröffentlicht unter http://www. aus waertigesamt.de/www/de/infoservice/download/pdf/reden/2000/r000512a.pdf. Jacques Chirac, „Notre Europe", Rede am 27. 6. 2000 vor dem deutschen Bundestag in Berlin. Im Internet veröffentlicht unter http://www.elysee.fr/disc/disc_.htm . Fischer wies in seiner Rede darauf hin, dass er sich nicht als Bundesaußenminister, sondern als „Privatmann" äußere. 673 So Präsident Chirac im Hinblick auf die vorgeschlagene Pioniergruppe:„Ce groupe ouvrirait la voie en s'appuyant sur la nouvelle procédure de coopération renforcée définie par la CIG et en nouant, si nécessaire, des coopérations hors traité". Auch für Außenminister Fischer konnte der Rückgriff auf die Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit nur einen ersten Zwischenschritt zu der angestrebten „politischen Union" darstellen. Bereits in der zweiten Etappe sollten jene Mitgliedstaaten, die enger als andere kooperieren wollen, einen neuen europäischen Grundvertrag schließen und damit außerhalb des herkömmlichen Unionsrahmens, unter Bildung eigener Institutionen voranschreiten.

Α. Entstehungsgeschichte, Wesenszüge und Reform

173

denden Antrieb für die Ausweitung unionsinterner Flexibilisierungsformen. 6 7 4 Zum Europäischen Rat von Feira folgerte die portugiesische Ratspräsidentschaft, dass „die Erleichterung des Rückgriffs auf die verstärkte Zusammenarbeit ... das beste Mittel dagegen [ist], dass einige Mitgliedstaaten versucht sein können, außerhalb des Vertrags Zusammenarbeiten zu entwickeln, was der Kohärenz des Handelns der Union abträglich wäre." 6 7 5 Nach Aufnahme auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz konzentrierten sich die Verhandlungen zur Reform der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit auf drei Punkte: 6 7 6 Das Verfahren zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit sollte durch eine Streichung der mitgliedstaatlichen Vetomöglichkeit permissiver gestaltet werden, wobei zugleich eine Verbesserung der Verfahrensstellung von Kommission und Parlament angestrebt wurde. Es galt ferner, die einer engeren Kooperation gesetzten materiellen Bedingungen zu lockern und dabei die an der Zusammenarbeit zu beteiligende Mindestteilnehmerzahl herabzusetzen. Schließlich traten die Flexibilisierungsbefürworter dafür ein, den Anwendungsbereich des Titels V I I EU auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auszuweiten. Der Vertrag von Nizza führt in allen genannten Bereichen zu Fortschritten. Er bestimmt die Abschaffung des mitgliedstaatlichen Vetorechts und eine Stärkung des Einflusses von Kommission und Parlament im Einsetzungsverfahren. Die zahlreichen Hindernisse einer verstärkten Zusammenarbeit werden verringert, wobei sich auch die Vorschläge einer Reduzierung der Mindestteilnehmerzahl durchsetzten. Die Mitgliedstaaten konnten sich ferner darauf einigen, den Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit auch in der zweiten Säule einen Anwendungsbereich zu verschaffen. I I I . Die Regelungsstruktur der Bestimmungen 1. Nach dem Vertrag von Amsterdam Die Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über eine verstärkte Zusammenarbeit folgen in ihrem Aufbau den während der Regierungskonferenz 1996/1997 von deutsch-französischer Seite eingebrachten Anregungen in einer Gestalt, die auf einen Umsetzungsentwurf der irischen Ratspräsidentschaft zurückgeht. 677 Positiv- oder Negativlisten von Politikbereichen, 674

Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 116; Giering/Janning , Integration 2001, S. 146, 147. 675 Vgl. CONFER 4750/00 vom 14. 6. 2000, S. 53. 676 Vgl. Giering/Janning, Integration 2001, S. 146, 147; Hatje, EuR 2001, S. 143, 160. 677 Vgl. Schutz, S. 471 ff.

174

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

in denen eine verstärkte Zusammenarbeit zulässig bzw. ausgeschlossen ist, konnten sich unter den Konferenzteilnehmern nicht durchsetzen. 678 Statt dessen gab man einer generellen und zwei flankierenden säulenspezifischen Klauseln den Vorrang, die eine generelle Erlaubnis zu verstärkter Zusammenarbeit aussprechen, diese aber einer Vielzahl prozessualer und materieller Erfordernisse unterstellen. Der Vertrag über die Europäische Union wurde um einen Titel V I I mit der Bezeichnung „Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit" ergänzt. Dieser Titel enthält die Rahmenvorschriften für alle drei Unionssäulen. Er regelt die Voraussetzungen und Grundprinzipien verstärkter Zusammenarbeit (Art. 43 EU), die Modifikation der Beschlussfassung im Rat (Art. 44 Abs. 1 EU), die Kostentragung (Art. 44 Abs. 2 EU) und ein Recht des Europäischen Parlaments auf regelmäßige Unterrichtung (Art. 45 EU). Handlungsbefugnisse verleiht Titel V I I EU erst in Verbindung mit zwei spezielleren Artikeln, die durch Art. 43 Abs. 1 lit. h) EU in die Regelung einbezogen werden: Art. 11 EG, der für den ersten Unionspfeiler Gültigkeit beansprucht, und Art. 40 EU, der für die dritte Säule zusätzliche Anordnungen trifft. In der zweiten Säule findet die Flexibilisierungsermächtigung nach derzeitiger Rechtslage keine Anwendung. Die Abs. 1 der Art. 11 EG und Art. 40 EU enthalten weitere säulenspezifische Anforderungen, an denen sich eine verstärkte Zusammenarbeit bei ihrer Begründung und späteren Durchführung orientieren muss. Die Abs. 2 der beiden Artikel schreiben das jeweils unterschiedlich ausgestaltete Verfahren zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit fest. Den Abs. 3 sind die ebenfalls voneinander abweichenden Verfahrensvorschriften zum späteren Beitritt der Mitgliedstaaten zu entnehmen, die sich an einer engeren Kooperation zunächst nicht beteiligt haben. Die Art. 11 Abs. 4 EG und Art. 40 Abs. 4 EU unterstellen eine verstärkte Zusammenarbeit während ihrer Durchführung den allgemeinen vertraglichen Bestimmungen der jeweiligen Unionssäule, wobei Art. 40 Abs. 4 EU überdies Sonderregelungen für die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs trifft. 2. Nach dem Vertrag von Nizza Durch den Vertrag von Nizza werden die bislang in den Art. 40 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG geregelten Voraussetzungen mit denen des Art. 43 Abs. 1 EU in einem neuen Titel V I I EUV-Nizza zusammengefasst. 679 Sie werden so „vor die Klammer gezogen" und beanspruchen künf678

Vgl. Tuytschaever, S. 47 f. Der neue Titel VII EUV-Nizza enthält nun statt drei sechs Artikel: 43, 43a, 43b, 44, 44a und 45 EUV-Nizza. 679

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

175

tig für alle Unionspfeiler einheitliche Geltung. 6 8 0 Diese materiellen Anforderungen sind dann in einem neuen Art. 43 EUV-Nizza zu finden, wobei nur das sog. „ultima-ratio-Erfordernis" des derzeitigen Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU - unter Hervorhebung seiner besonderen Bedeutung - in den gesonderten Art. 43a EUV-Nizza ausgegliedert wird. Im Übrigen unterliegen die Art. 11 EG und Art. 40 EU nur insoweit einer Veränderung, als die Beitrittsregelungen jeweils in einen eigenen Art. I I a EGV-Nizza bzw. Art. 40b EUV-Nizza „ausgelagert" werden und die Verfahrensvorschriften zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule künftig in einem Art. 40a EUV-Nizza enthalten sind. Eine beachtenswerte Modifikation der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit bewirkt der Vertrag von Nizza, indem er dem Flexibilisierungsinstrument auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur Anwendbarkeit verhilft. Die Art. 27a bis Art. 27e EUV-Nizza enthalten künftig Bestimmungen über die Voraussetzungen, das Einleitungsund Beitrittsverfahren und die zulässigen Handlungsmittel einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Unionssäule und geben dem Generalsekretär des Rats besondere Pflichten zur Wahrung der Kohärenz der Unionsaktivitäten auf.

B. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit Die Ermächtigungsklausel des Art. 43 EU stellt die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht in das Belieben der interessierten Mitgliedstaaten. Vielmehr ist eine Genehmigung erforderlich, die zur Inanspruchnahme der vertraglichen Organe, Verfahren und Mechanismen ermächtigt. 681 Die Genehmigung wendet sich ähnlich der positiven Differenzierungskonstruktion in der Maastrichter Sozialpolitik an die integrationsvertiefenden Mitgliedstaaten. Letzteren wird ein Voranschreiten gestattet, anstatt den übrigen EU-Mitgliedern - wie den Opt-out-Staaten in der W W U - das Zurückbleiben hinter dem Integrationsfortschritt zu erlauben. Die Erteilung der Genehmigung erfolgt durch einen Beschluss des Rats unter Beachtung der für die Unionspfeiler unterschiedlich ausgestalteten Einsetzungsverfahren. 682 Mit EUV und EGV vereinbar ist sie nur, wenn sie auf die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit abzielt, die mit 680 Eine Ausnahme bildet insoweit lediglich der im zweiten Pfeiler verortete Art. 27 a EUV-Nizza, der weitere materielle Anforderungen an eine verstärkte Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik stellt. 681 Vgl. Art. 43 Abs. 1 lit. h) EU a. E. 682 Art. 43 Abs. 1 lit. h) EU i.V.m. Art. 40 Abs. 2 EU für den dritten Unionspfeiler bzw. i.V.m. Art. 11 Abs. 2 EG für den ersten Unionspfeiler.

176

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

den Anforderungen des Art. 43 Abs. 1 EU sowie, je nach Säule, mit den Erfordernissen des Art. 40 Abs. 1 EU bzw. des Art. 11 Abs. 1 EG im Einklang steht. Im Folgenden werden zunächst die materiellen Voraussetzungen zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit dargestellt, um anschließend auf die Einsetzungsverfahren in der jeweiligen Unionssäule einzugehen. Obgleich sich die Untersuchung dabei an der stärker säulenspezifisch ausgeprägten Regelungsstruktur des Amsterdamer Vertrags orientiert, wird der Bedeutungswandel, den die Bestimmungen bei Inkrafttreten des Vertrags von Nizza erfahren werden, in die Erörterungen mit einbezogen. Die zu erwartenden Modifikationen der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit werden jeweils im Anschluss an die Darstellung der gegenwärtigen Rechtslage auf ihren Inhalt und ihre Tragweite untersucht.

I. Die Voraussetzungen für alle Säulen Art. 43 Abs. 1 EU in der Amsterdamer Fassung formuliert einen Katalog von sieben positiven Voraussetzungen, die für die erste wie die dritte Säule Geltung beanspruchen und damit gleichsam einen „allgemeinen Teil" verstärkter Zusammenarbeit darstellen. Der Vertrag von Nizza überführt drei weitere Voraussetzungen aus den derzeit geltenden Art. 11 Abs. 1 EG und Art. 40 EU in diese Rahmenregelung und vereinheitlicht damit die Anforderungen an eine verstärkte Zusammenarbeit in den unterschiedlichen Unionspfeilern. Nach Inkrafttreten dieses jüngsten Vertrags wird ein zehn Voraussetzungen umfassender Katalog auf die verstärkte Zusammenarbeit in allen drei Säulen der Europäischen Union Anwendung finden. 1. Das Gebot der Förderung der Unionsziele und -interessen a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU zufolge muss eine verstärkte Zusammenarbeit darauf ausgerichtet sein, die Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und diesen zu dienen. Hierdurch kommen zum einen Vorgaben über die zulässige Zielrichtung einer verstärkten Zusammenarbeit zum Ausdruck. Die engere Kooperation muss sich an dem Integrationsprogramm orientieren, das in den Zielbestimmungen von EUV und EGV seinen Ausdruck gefunden hat. 6 8 3 Dabei ist daran zu erinnern, dass diese vertraglichen Vorgaben stets Fortschritte der 683

Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 757; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 17.

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

177

Union und Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit anvisieren. Eine Zusammenarbeit, die den vertraglich bestimmten Zielen und Interessen dauerhaft nur im Hinblick auf die verstärkt zusammenarbeitenden Staaten zuträglich wäre, würde den Anforderungen des Art. 43 EU mithin nicht gerecht. 684 Zum anderen lässt sich dem Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU ein Verbot all jener Maßnahmen entnehmen, die - wenn auch räumlich eingegrenzt - hinter den bisherigen Entwicklungsstand der Union zurückführen. 685 Wie Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU setzt auch lit. a) den jeweiligen status quo der Integrationserrungenschaft als Grenze, die durch die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedsländer nicht unterschritten werden darf. Die Gesamtheit des acquis communautaire wird damit ebenso zum Ausgangspunkt der mitgliedstaatlichen Pioniergruppe, wie dies nach der Präambel des Sozialabkommens der Fall war. Die Differenzierungsform der verstärkten Zusammenarbeit kann daher nicht dafür genutzt werden, um Beitrittskandidaten, die zu einer Vollmitgliedschaft in der EU aus politischen oder ökonomischen Gründen nicht bereit bzw. in der Lage sind, im Wege einer Teilmitgliedschaft an Teilbereichen des acquis communautaire zu beteiligen. 686 Die Frage, ob eine verstärkte Zusammenarbeit den Zielen und Interessen der Europäischen Union zu Vorteil gereicht, ist vornehmlich politischer Natur. Dem Rat muss bei ihrer Beurteilung ein beträchtlicher Beurteilungsspielraum eingeräumt werden. 687 Ohnehin lässt es Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU genügen, wenn eine verstärkte Zusammenarbeit „darauf ausgerichtet ist", den Unionsbelangen zu dienen, ohne einen tatsächlichen Eintritt der positiven Auswirkungen zu fordern. Die Bestimmung ist daher im Sinne einer negativen Evidenzkontrolle zu handhaben. Nur wenn eine verstärkte Zusammenarbeit offenkundig ungeeignet erscheint, die Unionsziele und -interessen zu fördern, scheitert sie bereits an Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU. Ansonsten ist davon auszugehen, dass die strengen Anforderungen des Titels V I I EU und die Einbeziehung der den Unions- und Gemeinschaftszielen verpflichteten Gemeinschaftsorgane für eine hinreichende Beachtung der zu fördernden Belange sorgen werden. 684

Vgl. Kotzias, in Breuss/Griller, S. 1, 25. Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 372; Kortenberg, CMLRev 1998, S. 833, 845; Martin/N anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 685

221.

686

Vgl. Giering/Janning, Integration 2001, S. 149 f. Art. 220 EG zufolge ist der EuGH mit der Wahrung des Rechts befasst. Eine Kompetenz zur politischen Gestaltung ist ihm nicht zugedacht. Dem Rat ist daher bei der Würdigung von Sachverhalten, die an der Grenze zwischen Politik und Recht zu verorten sind, ein weiter, gerichtlich nicht überprüfbarer Gestaltungsspielraum eingeräumt. Vgl. hierzu Bleckmann, Europarecht, Rdnrn. 861 ff.; Schwarze, in Schwarze, Art. 220 EGV Rdnr. 32. 687

12 Kellerbauer

178

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

b) Die Änderungen durch den Vertrag

von Nizza

Nach dem neuen Art. 43 lit. a) EUV-Nizza muss eine verstärkte Zusammenarbeit künftig zusätzlich darauf ausgerichtet sein, den „Integrationsprozess [in Union und Gemeinschaft] zu stärken". Die Ergänzung geht auf eine gemeinsame deutsch-italienische Initiative zurück. 6 8 8 Sie soll „als zusätzliche Sicherung gegen eine Proliferation verstärkter Zusammenarbeiten, die sich schädlich auf den Integrationsprozess der Union insgesamt auswirken könnte", dienen. 6 8 9 Ob diese zusätzliche Wendung in der Praxis Auswirkungen zeigen wird, erscheint zweifelhaft. Bereits die derzeit geltende Pflicht zur Förderung der Unionsziele und -interessen bringt den gerichtlich ohnehin nur beschränkt überprüfbaren Anspruch zum Ausdruck, dass eine verstärkte Zusammenarbeit die Dynamik des europäischen Aufbauwerkes zu stärken verpflichtet ist. Daher liegt die Annahme nahe, dass der Ergänzung des Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU eher ein verhandlungspolitisches Manöver zugrunde lag, welches die Befürchtungen der Flexibilisierungsskeptiker durch zusätzliche klangvolle Absichtserklärungen zu zerstreuen beabsichtigte. 2. Der Schutz des einheitlichen institutionellen Rahmens Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU macht jeder verstärkt zusammenarbeitenden Pioniergruppe die Beachtung des einheitlichen institutionellen Rahmens der Europäischen Union zur Pflicht. Eine verstärkte Zusammenarbeit ist demnach stets eine mitgliedstaatliche Kooperation unter Rückgriff auf die bestehende institutionelle Architektur der Europäischen U n i o n . 6 9 0 Die Neuschöpfung paralleler und potentiell konkurrierender Organe ist unzulässig. 6 9 1 Dieses Verbot wirkt einer institutionellen Zersplitterung innerhalb der Europäischen Union entgegen und ermöglicht eine Abstimmung der verschiedenen Integrationsinitiativen unter dem gemeinsamen Dach des Staatenverbunds. Fraglich ist, ob Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU auch der Bildung informeller Gremien entgegensteht, an deren Bildung zum Zweck der intensivierten Absprache zwischen den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten ein Interesse bestehen könnte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Präzedenzfall des Euro-12-Rats, in dem die Mitglieder der Euro-Zone 688

Formuliert in einem deutsch-italienischen Positionspapier, CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 5. 689 Vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 5. 690 Vgl. Burón , RVAP 1999, S. 209, 217. 691 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 758; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 18.

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

179

ihre Vorgehensweise koordinieren. Eine Antwort auf diese Frage erschließt sich aus dem Art. 44 Abs. 1 S. 2 EU. Er räumt den Nichtteilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit ausdrücklich die Befugnis ein, sich an den im engeren Teilnehmerkreis stattfindenden Beratungen zu beteiligen. 692 Könnten die einschlägigen Besprechungen in informelle Foren verlegt werden, sähen sich die Nichtteilnehmerstaaten dieser Berechtigung beraubt. Die durch Art. 44 Abs. 1 S. 2 EU bezweckte vertrauensbildende Transparenz verstärkter Zusammenarbeit würde unterlaufen. Deshalb gilt das Verbot institutioneller Parallelstrukturen auch für informelle Gremien. 693 3. Die Wahrung des acquis communautaire Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU schützt „den Besitzstand der Gemeinschaft und die nach Maßgabe der sonstigen Bestimmungen [von EUV und EGV] getroffenen Maßnahmen" vor Beeinträchtigungen durch eine verstärkte Zusammenarbeit. Dieser Schutz des acquis communautaire geht über die in Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU normierte Pflicht zur Beachtung der vertraglichen Grundsätze hinaus. 6 9 4 Im Bereich der Europäischen Gemeinschaften betrifft er die Gesamtheit des geschriebenen und ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts. 695 Der in Art. Abs. 1 43 lit. e) EU gewählte Plural („genannten Verträge") macht deutlich, dass auch der Besitzstand der Europäischen Union, also das primäre Unionsrecht und die auf diesem basierenden Beschlüsse und Rechtsakte, dem zu schützenden acquis communautaire zuzurechnen i s t . 6 9 6 Zugleich erschließt sich aus der weit gewählten Formulierung „nicht beeinträchtigt", dass sich eine verstärkte Zusammenarbeit nicht nur rechtlicher, sondern ebenso tatsächlicher negativer Einflüsse auf das in der Europäischen Union geltende Recht zu enthalten hat. 6 9 7 692

Zu der im Hinblick hierauf weniger eindeutigen Regelung in Titel VII EG siehe oben, Teil 1 C.II.2.b). 693 Die von Bribosia, CDE 2000, S. 57, 105 vorgeschlagene verstärkte Zusammenarbeit zur Schaffung eines „Conseil informel d'euro" verstößt daher gegen Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU. 694 Die nach Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU geschützten Grundsätze betreffen im EGV den entsprechend titulierten ersten Teil. Im EUV unterliegt zumindest der erste Titel (Gemeinsame Bestimmungen) dem Schutz der Bestimmung. Vgl. hierzu Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 145. 695 Zu den Bestandteilen des acquis communautaire siehe oben, Teil 1 B.II.3.b). 696 Entsprechend soll im Folgenden der Begriff des acquis communautaire entgegen seinem Wortsinn auch die unionsrechtlichen Bindungen bezeichnen, die sich in der zweiten und dritten Säule herausgebildet haben. Zu diesem Begriffsverständnis Cremer, in Calliess/Ruffert, Art. 49 EUV Rdnr. 4. 697 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 21. 12*

180

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Angesichts des umfassenden Schutzgehalts des Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU ist ein Teil der übrigen Schutz- und Verbotsvorschriften der Art. 43 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG redundant. Die Pflicht zur Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens der Europäischen Union (Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU) und das Verbot der Diskriminierung zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten (Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG) sind gem. Art. 3 Abs. 1 EU bzw. gem. Art. 12 EG Bestandteil des gemeinschaftlichen Besitzstands. Gleiches gilt für den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG), der gem. Art. 5 Abs. 1 EG Teil des gemeinschaftlichen Primärrechts und damit Teil des acquis communautaire i s t . 6 9 8 Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU wird dazu führen, dass sich eine verstärkte Zusammenarbeit nur auf den Feldern entfalten kann, in denen es bislang an einer umfassenden gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung mangelt. 6 9 9 Als Beispiele können die Bereiche Gesundheit, Bildung oder Kultur angeführt werden. 7 0 0 Allerdings werden auf den genannten Gebieten die spärlich gesäten gemeinschaftlichen Handlungsbefugnisse einer verstärkten Kooperation enge Grenzen ziehen, zumal Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG ausdrücklich verbietet, eine verstärkte Zusammenarbeit mit zusätzlichen Rechtsetzungsgrundlagen auszustatten. 4. Die Subsidiarität verstärkter Zusammenarbeit a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Gem. Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU darf eine verstärkte Zusammenarbeit nur „als letztes Mittel herangezogen [werden], wenn die Ziele [von EUV und EGV] mit den darin festgelegten einschlägigen Verfahren nicht erreicht werden konnten". Die Vorschrift enthält zunächst eine abstrakte Aussage über die Rangordnung verstärkter Zusammenarbeit im Verhältnis zu der herkömmlichen Integrationsmethode des einheitlichen Voranschreitens aller EU-Mitglieder. Gem. Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU ist ein Vorgehen der E U - 1 5 7 0 1 stets vorran698

Umgekehrt ist der in Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU angeordnete Schutz des acquis communautaire zugleich Gegenstand der Ziele und Grundsätze des EUV (Art. 2 Spgstr. 5 EU, Art. 3 Abs. 1 EU), weshalb den Art. 43 Abs. 1 lit. a) und b) ebenfalls die Pflicht zu entnehmen ist, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu wahren. 699 Vgl. Kortenberg, CMLRev 1998, S. 833, 849; Rafols, Revista de Derecho Communitario Europeo 2001, S. 145, 165. 700 Vgl. Kortenberg, CMLRev 1998, S. 833, 849. 701 Das herkömmliche Tätig werden der Gemeinschaftsorgane und des Europäischen Rats in EU und EG unter Einbeziehung aller Mitgliedstaaten wird im Folgenden auch vereinfachend als ein Handeln oder Vorgehen der „EU-15" bezeichnet.

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

181

gig gegenüber einem Rückgriff auf Titel V I I E U . 7 0 2 Der Integrationsfortschritt aller EU-Mitglieder bleibt demnach die Regel, die verstärkte Zusammenarbeit zwischen ihnen die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. 703 Die neue Differenzierungsmöglichkeit soll Blockaden im Integrationsprozess zu überwinden helfen, nicht aber die Suche nach einem unionsweiten Konsens verzichtbar machen. 704 Ferner macht Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU die Inanspruchnahme des Flexibilisierungsinstruments des Titels V I I EU im Einzelfall davon abhängig, dass „die Ziele der ... Verträge mit den darin festgelegten einschlägigen Verfahren nicht erreicht werden konnten". 7 0 5 Dieser Wortlaut stellt auf die vertraglichen Ziele ab, die im Wege der einschlägigen Verfahren nicht erreicht werden können. Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU bezieht sich dagegen nicht auf einzelne Maßnahmen, deren Vornahme unter Einbeziehung aller Mitgliedstaaten nicht möglich ist. Die Bestimmung gebietet daher nicht, dass eine verstärkte Zusammenarbeit nur Rechtsakte erlassen darf, die zuvor in den herkömmlichen Rechtsetzungsverfahren gescheitert sind. 7 0 6 Ein solches Gebot würde das Vorgehen einer engeren Kooperation auch unzumutbar verzögern. Vielmehr ist dem Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU als EinsetzungsVoraussetzung einer verstärkten Zusammenarbeit zu entnehmen, dass die in Angriff genommenen vertraglichen Ziele auf Ebene der EU-15 nicht zu verwirklichen sein dürfen. Eine solche Stagnation im Integrationsprozess lässt sich anhand des vorausgegangenen oder angekündigten Abstimmungsverhaltens der Ratsmitglieder beurteilen, ohne hierfür eine Vielzahl von Rechtsetzungsverfahren anstrengen zu müssen. In dem Umfang, in welchem der Rat das Scheitern der herkömmlichen Integrationsmethode feststellt, können mitgliedstaatliche Pioniergruppen anschließend zu einer verstärkten Zusammenarbeit ermächtigt werden. 707 702 y gi Griller/Droutsas/ F alkner/ F orgó/N entwich, S. 207; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 25. 703 Vgl. Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 145. 704 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 19. 705 Hinsichtlich der konkreten Vorgaben des Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU stößt die Ungenauigkeit seines Wortlauts im Schrifttum auf einhellige Kritik. Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 134; Burón , RVAP 1999, S. 209, 218; Ehlermann , EuR 1997, S. 362, 372 f.; Martin/N anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 221. 706 So aber die h.L. Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 49; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 69; Griller/Droutsas/Falkner/F or,gó/N entwich, S. 210 f.; Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 462. 707 Ähnlich nun die Erwägungen bei Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 159. Ausdrücklich ablehnend dagegen Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 49. Einigkeit besteht in der Literatur zu Recht darüber, dass dem

182

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

b) Die Konkretisierung

durch den Vertrag

von Nizza

Das ultima-ratio-Erfordernis des Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU gehörte im Verlaufe der Regierungskonferenz 2000 zu den strittigsten Reformpunkten der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit. Die französische Ratspräsidentschaft hatte unter Verweis auf die Ungenauigkeit seines Aussagegehalts und die Gefahr rechtlicher Streitigkeiten dessen Streichung angeregt. 7 0 8 Letztlich durchsetzen konnte sich der Standpunkt, der für eine Verbesserung der praktischen Handhabbarkeit der Vorschrift durch eine Konkretisierung ihrer prozessualen Bedeutung eintrat. 7 0 9 Für die Zulässigkeit eines Rückgriffs auf das Differenzierungsinstrument der verstärkten Zusammenarbeit ist nach dem künftig geltenden Art. 43a EUV-Nizza ausschlaggebend, ob „der Rat zu dem Schluss gelangt ist, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge nicht in einem vertretbaren Zeitraum verwirklicht werden können". In diesem neuen Wortlaut verdeutlicht sich der Aussagegehalt, welcher der derzeit geltenden Fassung bereits bei richtiger Interpretation zu entnehmen ist. Für die Zulässigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit ist entscheidend, dass der Rat zu der Schlussfolgerung gelangt ist, ein Vorgehen unter Einbeziehung aller Mitgliedstaaten sei nicht erfolgversprechend. Diese Konklusion muss sich gerade nicht auf einzelne Rechtsakte beziehen, sondern auf die mit der verstärkten Zusammenarbeit angestrebten Ziele. Dabei ist es durchaus denkbar, dass eine verstärkte Zusammenarbeit nach Vorbild der bisherigen teilnahmebezogenen Differenzierungen in der Währungs- oder Sozialpolitik auf eine maßgebliche Erweiterung eines gesamten gemeinschaftlichen Politikbereichs abzielt. Die Neufassung des Art. 43a EUV-Nizza macht demnach deutlich, dass der Rat abstrakt zu beurteilen befugt ist, ob und in welchem Umfang von einem Scheitern der herkömmlichen Integrationsmethode auszugehen i s t . 7 1 0 Rat bei der Einschätzung der Aussichtslosigkeit unionsweiter Lösungen aufgrund des politischen Charakters der zu treffenden Bewertung ein beträchtlicher Beurteilungsspielraum einzuräumen ist. Vgl. hierzu Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 19; Janning, Integration 1997, S. 285, 287; Ruffert, in Calliess/Ruffert, Art. 43a EUV. 708 Vgl. CONFER 4761/00 vom 18. 7. 2000, S. 2. Deutschland und Italien unterstützten dieses Ansinnen aus denselben Überlegungen heraus. Vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 4. 709 Hierfür hatte sich insbesondere das Europäische Parlament stark gemacht. Es trat für die Festsetzung genauer Fristen ein, innerhalb welcher im Rat gemeinschaftsumfassende Lösungen angestrebt werden müssten. Vgl. die Entschließung A5-0288/2000 des Europäischen Parlaments zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 6. 710 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 136.

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

183

Zugleich unterstreicht die Formulierung des Art. 43a EUV-Nizza, dass dem Rat bei seiner Einschätzung ein beträchtlicher Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Seine Bewertung muss nicht notwendigerweise mit der Realität, wie sie sich für die übrigen Gemeinschaftsorgane darstellt, übereinstimmen. Es genügt der Vorschrift zufolge, wenn der Rat „zu dem Schluss gelangt ist", dass sich das mit einer verstärkten Zusammenarbeit verfolgte Vertragsziel nicht auf Ebene der Gesamtgemeinschaft verwirklichen lässt. Zuletzt ist auf eine weitere Änderung des Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU hinzuweisen. Kriterium für das Scheitern einer unionsweiten Lösung ist nach dem bisherigen Wortlaut der Vorschrift, dass die „Ziele der genannten Verträge" 7 1 1 nicht mit den herkömmlichen Verfahren erreicht werden können. Der neue Art. 43a EUV-Nizza stellt demgegenüber auf die „mit der Zusammenarbeit angestrebten Ziele" ab. Da sich eine verstärkte Zusammenarbeit aber nach bisheriger wie nach neuer Rechtslage an den jeweiligen Unionsund Gemeinschaftszielen auszurichten hat, 7 1 2 führt diese Modifikation zu keinen Veränderungen in der Sache. 5. Die Mindestanzahl teilnehmender Mitgliedstaaten a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU bestimmt als Mindestteilnehmerzahl einer verstärkten Zusammenarbeit die numerische Mehrheit der Mitgliedstaaten, derzeit also acht. Eine Unterscheidung nach Größe oder Einwohnerstärke findet dabei nicht statt, vielmehr fallen alle EU-Mitglieder gleichermaßen ins Gewicht. Zweck der fixierten Mindestanzahl ist es, der Bildung von verfestigten Kleingruppen vorzubeugen, die dank ihres Zusammenhalts die Integration dauerhaft in eine von ihnen gewählte Richtung vorantreiben könnten. 7 1 3 Das Erfordernis des Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU lässt sich auch aus der Überlegung heraus rechtfertigen, dass nur Kooperationen einer starken Mehrheit 711

Gemeint sind EGV und EUV, d. Verf. Dies folgt nach derzeitiger Rechtslage aus Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU und Artikel 40 Abs. 1 EU, nach Inkrafttreten des Vertrags von Nizza aus Artikel 43 Abs. 1 lit. a), Art. 40 Abs. 1 und Art. 27a Abs. 1 EUV-Nizza. 713 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 69. Die beschriebene Gefahr bestünde insbesondere beim Zusammengehen eines sog. „harten Kerns" von Mitgliedstaaten, der sich in einzelnen Politikbereichen durch eine besondere Konvergenz auszeichnen und damit die übrigen dauerhaft von der Mitgestaltung des Integrationsprozesses ausschließen könnte. Vgl. hierzu J arming, Integration 1997, S. 285, 289. Der „feste Kern der Fünf 4, der gemäß des Kerneuropaansatzes des Schäuble/Lamers-Papiers durch Frankreich, Deutschland und die Benelux gebildet werden sollte, war vielen Teilnehmern der Regierungskonferenz 1996/1997 insoweit ein mahnendes Beispiel. 712

184

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

der EU-Mitglieder dazu in der Lage sind, das Funktionieren und die Vorzüge ihres Vorgehens unter Beweis zu stellen und die Minderheit unter den Zugzwang einer Teilnahme zu setzen. 714 Da die Verwaltungskosten der im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit tätigen Gemeinschaftsorgane in den allgemeinen Haushalt der EG eingehen, 715 schützt das Erfordernis einer Mindestteilnehmerzahl zudem vor dem finanziellen Mehraufwand, der entstünde, wenn Kleinstgruppen den institutionellen Rahmen der EU für sich in Anspruch nehmen könnten. 7 1 6 Begrüßenswerte Konsequenz des derzeitigen Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU ist es, dass jede verstärkte Zusammenarbeit auf dem ihr zugewiesenen Terrain notwendigerweise allein den Kurs angibt, da das Erfordernis der numerischen Mehrheit die Bildung eines zweiten Kreises rivalisierender Teilnehmerstaaten ausschließt. 717 b) Die Änderungen durch den Vertrag

von Nizza

Die Absenkung der in Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU als Mindestmaß festgeschriebenen Mehrheit teilnehmender Mitgliedstaaten gehörte im Hinblick auf die anstehende EU-Erweiterung zu den unumstrittenen Reformpunkten des Vertrags von Nizza. Bereits kurz nachdem die verstärkte Zusammenarbeit offiziell auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz 2000 gesetzt wurde, zeichnete sich bei der Mehrheit der Delegationen ein diesbezüglicher Konsens a b . 7 1 8 Anschließend standen die Verringerung der Mindestteilnehmerzahl auf ein Drittel der Mitgliedstaaten 719 oder deren zahlenmäßig fixierte Festsetzung auf acht Mitgliedstaaten 720 zur Debatte. Letzterer Ansatz setzte sich schließlich aus Gründen der einfacheren praktischen Handhabung bei sukzessiven Erweiterungen durch und hielt in einem neuen Art. 43 lit. g) EUV-Nizza Einzug. Sollte der Vertrag von Nizza planmäßig in Kraft treten, so wird es bereits ab dem Beitritt der ersten Kandidatenländer auch einer Avantgarde, die hinter der numerischen Mehrheit der EU-Mitglieder zurückbleibt, gestattet sein, eine verstärkte Zusammenarbeit zu begründen. In einer erweiterten 714

Vgl. Baldwin/Berglôf/Giavazzi/Widgrén , S. 50. Vgl. Art. 44 Abs. 2 EU. 716 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 137. 717 Vgl. Ehlermann , EuR 1997, S. 362, 373; Hofmann , EuR 1997, S. 713, 723. 718 Vgl. CONFER 4750/00 vom 14. 6. 2000, S. 53. 719 Vgl. Europäische Kommission, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM (2000) 34, 13; Europäisches Parlament, Entschließung A5-0288/ 2000 zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 7. 720 Hierfür hatten sich insbesondere Belgien sowie Deutschland und Italien stark gemacht. Vgl. CONFER 4765/00 vom 28. 8. 2000, S. 2; CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 4. 715

Β. Die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit

185

Europäischen Union wird es den bisherigen Mitgliedsländern somit möglich sein, ohne eine Beteiligung der Beitrittsländer von Titel V I I EU Gebrauch zu machen. 721 Ab diesem Zeitpunkt ist zugleich die Koexistenz mehrerer konkurrierender Gruppen verstärkter Zusammenarbeit im gleichen Sachgebiet denkbar. Denn es können mehr als nur eine Gruppe von jeweils acht Mitgliedstaaten mit der gleichen Materie befasst werden. Die Gefahr einer Zersplitterung der Union in eine Mehrzahl voneinander unabhängig tätig werdender Pioniergruppen wird dadurch erhöht. 7 2 2 6. Der Schutz der nichtteilnehmenden Mitgliedstaaten a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Nach Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU dürfen durch eine verstärkte Zusammenarbeit die Zuständigkeiten, Rechte, Pflichten und Interessen der an ihr unbeteiligten Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt werden. Das Verbot von Zuständigkeitsbeeinträchtigungen zielt auf den Schutz vor den Kompetenzverschiebungen ab, die aus der Rechtsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit resultieren können. 7 2 3 Der genannte Artikel stellt klar, dass sich mitgliedstaatliche Kompetenzverluste auf die Teilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit beschränken müssen. Soweit Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU überdies nicht nur die Rechts- und Pflichtensphäre, sondern zugleich die Interessen der Nichtteilnehmerstaaten vor Beeinträchtigungen durch eine verstärkte Zusammenarbeit schützt, sieht sich die Bestimmung in der Literatur berechtigter Kritik ausgesetzt. 724 Denn der Begriff der Interessenbeeinträchtigung ist aufgrund seiner Weite und Subjektivität nur schwer eingrenzbar 725 und könnte dahingehend interpretiert werden, dass einzelne Mitgliedstaaten beliebige Gründe nationaler Politik gegen eine verstärkte Zusammenarbeit ins Feld zu führen berechtigt sind. Dabei werden die Nichtteilnehmerstaaten infolge der engen Verflechtung der mitgliedstaatlichen Belange und insbesondere aufgrund der 721

Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 156 wertet dies als Indiz dafür, dass in Nizza bereits an die Bildung mitgliedstaatlicher Pioniergruppen unter Ausschluss der vornehmlich wirtschaftsschwächeren Beitrittkandidaten gedacht wurde. 722 Kritisch zur Neuregelung des Art. 43 lit. g) EUV-Nizza deshalb Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 155 f. 723 Siehe hierzu eingehend unten, Teil 2 D.III. 724 Vgl. Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 145; Weatherill , in o'Keeffe/Twomey, S. 21, 27. 725 Dies gilt in noch stärkerem Maße für die englische Sprachfassung. Dort wird im Zusammenhang mit den zu schützenden Interessen das Verb „to affect" gebraucht, das im Deutschen auch mit „berühren" übersetzt werden kann.

186

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

wechselseitigen wirtschaftlichen Interdependenzen in der Europäischen Union in vielen Fällen eine Einwirkung in ihre Interessensphäre vorbringen können. 7 2 6 Um den Nichtteilnehmerstaaten über Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU keine beliebigen Blockademöglichkeiten zu eröffnen, muss das Verbot einer Interessenbeeinträchtigung in Zusammenschau mit der Bestimmung des Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU betrachtet werden. 7 2 7 Beide Vorschriften konkretisieren die gegenseitigen mitgliedstaatlichen Rücksichtnahmepflichten aus Art. 10 Abs. 2 S. 2 EG im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Teilnehmerund Nichtteilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit. 728 Eine verstärkte Zusammenarbeit darf nach Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU nicht zu einer Interessenbeeinträchtigung der an ihr unbeteiligten Mitgliedsländer führen, ihrerseits aber von diesen gem. Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU nicht ohne Anlass behindert werden. Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU verbietet es, nationale Interessen dergestalt geltend zu machen, dass hierdurch eine verstärkte Zusammenarbeit ungerechtfertigt oder über Gebühr beeinträchtigt würde. Nur falls die Begründung oder Fortführung einer engeren Kooperation in unverhältnismäßiger Weise in die Interessen der Nichtteilnehmerstaaten eingreift, wird gegen Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU verstoßen, was die Nichtteilnehmerstaaten dazu berechtigt, gegen die Einsetzungs- und Durchführungsbeschlüsse im Wege der Nichtigkeitsklage (Art. 230 EG) vor dem EuGH vorzugehen. b) Die Änderungen durch den Vertrag

von Nizza

Im Verlaufe der Regierungskonferenz 2000 konnten sich die dargestellten Bedenken gegen einen Schutz der Nichteilnehmerstaaten vor Interessenbeeinträchtigungen durchsetzen. 729 Nach dem neuen Art. 43 Abs. 1 lit. h) EUV-Nizza muss eine verstärkte Zusammenarbeit künftig nur noch die Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der an ihr nicht beteiligten Mitgliedstaaten beachten.

726 V

Weatherill in o'Keeffe/Twomey, S. 21, 27. g l Vgl. Burón , RVAP 1999, S. 209, 218; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 22; Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 167 f. 728 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 373; Martin/N anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 221. 729 Wortführer waren Deutschland und Italien sowie das Europäische Parlament. Vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 4; Entschließung A5-0288/2000 des Europäischen Parlaments zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 8. 727

. Die

r ü n g einer verstärkten Zusammenarbeit

187

7. Die Offenheit verstärkter Zusammenarbeit für die Nichtteilnehmerstaaten Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU räumt den an einer verstärkten Zusammenarbeit zunächst unbeteiligten Mitgliedstaaten die grundsätzliche Befugnis ein, sich dieser im späteren Verlauf jederzeit anzuschließen. Der hierin zum Ausdruck gebrachte Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit soll ebenso wie das Erfordernis einer Mindestanzahl teilnehmender Mitgliedstaaten (Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU) der Bildung sog. „harter Integrationskerne" innerhalb der Union vorbeugen und davor schützen, dass einzelne Mitgliedstaaten unter alleiniger Gestaltung des künftigen Integrationskurses eine Hegemonialstellung in der EU einnehmen. 730 Auf Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU wird im Zusammenhang mit den Regeln zum Beitritt von Nichtteilnehmerstaaten näher eingegangen.

II. Die zusätzlichen Voraussetzungen für die erste Säule Um das hohe Integrationsniveau der Europäischen Gemeinschaft nicht durch übermäßige Differenzierung zu gefährden, erweitert Art. 11 Abs. 1 EG die Anforderungen des Art. 43 Abs. 1 EU um fünf zusätzliche Voraussetzungen. Die verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Unionssäule wird durch einen zusätzlichen Negativkatalog begrenzt. Diesem zufolge ist ein Rückgriff auf den Flexibilisierungsmechanismus in bestimmten Bereichen des ersten Pfeilers von vorneherein ausgeschlossen731 und überdies dann unzulässig, wenn von der Zusammenarbeit näher bestimmte missbilligte Wirkungen ausgehen. 732 1. Der Ausschluss im Bereich ausschließlicher Zuständigkeit Gem. Art. 11 Abs. 1 lit. a) EG kann eine verstärkte Zusammenarbeit dort nicht begründet werden oder durchgeführt werden, wo die Europäische Gemeinschaft ausschließlich zuständig ist. Hierdurch soll die Entstehung abgestufter Integrationsniveaus in den Regelungsmaterien ausgeschlossen werden, die ihre besondere Bedeutung für den Europäischen Integrationsprozess dadurch unterstreichen, dass in ihnen die Gemeinschaft von vorneherein als einzig zuständiger Akteur eingesetzt i s t . 7 3 3 730

Vgl. Cavia , Cuadernos Europeos de Deusto 2000, S. I l l , 146; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 23. 731 Vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. a), c) und d) EG. 732 Vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. b) und e) EG. 733 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 760; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnrn. 6 f.

188

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Eine ausschließliche gemeinschaftliche Zuständigkeit liegt dort vor, wo die Gemeinschaft unabhängig von ihrem vorherigen Tätigwerden als alleinig zuständige Instanz zu betrachten ist, während die Mitgliedstaaten schon durch die bloße Existenz gemeinschaftlicher Kompetenzen ihre Handlungsbefugnisse einbüßen. 734 Die der Gemeinschaft als ausschließlich zugewiesenen Zuständigkeiten sind im EGV nicht ausdrücklich benannt, sondern müssen den jeweiligen Kompetenzvorschriften im Wege der Auslegung entnommen werden. 735 Der h.M. zufolge fallen insbesondere die gemeinsame Handelspolitik, die Festlegung des gemeinsamen Zolltarifs, die Erhaltung der Fischbestände, der grenzüberschreitende Verkehr, das interne Organisations· und Verfahrensrecht der Gemeinschaft und die Sachbereiche Währungspolitik und gemeinsamer Binnenmarkt in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft. 736 2. Das Verbot der Beeinträchtigung von Gemeinschaftsaktivitäten a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Nach Art 11. Abs. 1 lit. b) EG darf eine verstärkte Zusammenarbeit die Politiken, Aktionen und Programme der Gemeinschaft nicht beeinträchtigen. Die Gemeinschaftspolitiken haben im dritten Teil des Gemeinschaftsvertrags ihre rechtliche Ausformung gefunden und sind insoweit bereits Komponenten des gemeinschaftlichen Besitzstands. 737 Das Verbot des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG deckt sich daher teils mit dem durch Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU geforderten Schutz des acquis communautaire. Soweit lit. b) dagegen auch die Gemeinschaftsaktionen und -programme vor Beeinträchtigungen bewahrt, ist die Bestimmung weiter gezogen als die Besitzstandsschutzklausel des Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU. Aktionen und Programme erschöpfen sich nicht in bereits bestehenden rechtlichen Bestimmungen, sondern umfassen auch in Angriff genommene Maßnahmen, die erst in der Zukunft eine rechtliche Ausprägung erfahren werden. 738 Die dynamische Formulierung des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG erlaubt demnach auch den Schutz erst in der Entwicklung befindlichen gemeinschaftlichen Handelns. 739 734

Vgl. Calliess, in Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV Rdnrn. 28 ff.; Streinz, Europarecht, Rdnr. 130. 735 Vgl. Geiger, Art. 5 Rdnr. 7. 736 Vgl. Calliess, in Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV Rdnr. 26 m.w.N.; Lienbacher, in Schwarze, Art. 5 Rdnr. 14. 737 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 8. 738 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 760. 739 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 760.

. Die

r ü n g einer verstärkten Zusammenarbeit

189

Anders als die englische Sprachfassung 740 macht die deutsche Version des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG zwar durch die Wortwahl „beeinträchtigen" deutlich, dass nur negative Einflüsse von den geschützten Gütern fernzuhalten sind. 7 4 1 Dennoch stellt das Beeinträchtigungsverbot aufgrund seines schwer eingrenzbaren Gegenstands eine erhebliche Beschränkung dar, die im Falle einer extensiven Auslegung der Vorschrift den Flexibilisierungsmechanismus der verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule gänzlich lahm legen kann. 7 4 2 Bei der Interpretation des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG ist daher einer Grundentscheidung der EU-Mitglieder Rechnung zu tragen, welche in der Aufnahme der Vertragsbestimmungen des Titels V I I EU zum Ausdruck kommt. Die Mitgliedstaaten haben der von Frankreich und Deutschland angeregten allgemeinen Differenzierungsklausel auch im ersten Unionspfeiler eine Existenzberechtigung zugesprochen. Eine Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG, die der Entfaltung verstärkter Zusammenarbeit im Bereich des EGV per se entgegenstünde, wäre mit dem Willen der Amsterdamer Vertragsparteien unvereinbar. b) Die Änderungen durch den Vertrag

von Nizza

Der Vertrag von Nizza führt zu einer Streichung des derzeit geltenden Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG. Der zukunftsgerichtete Schutzgehalt der Vorschrift zugunsten gemeinschaftlicher Aktionen und Programme wird damit restlos aufgehoben. Mit dem neuen Art. 43 lit. e) EUV-Nizza wird statt dessen ein - nun für alle Säulen geltendes - Beeinträchtigungsverbot normiert, das sich auf zwei Politikbereiche beschränkt. Betroffen sind der Binnenmarkt im Sinne des Art. 14 Abs. 2 EGV-Nizza sowie der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt nach Titel X V I I Ex-Nizza. 7 4 3 Ein Ausschluss des Binnenmarkts aus dem Anwendungsbereich verstärkter Zusammenarbeit war bereits im Zuge der Regierungskonferenz 1996/1997 erwogen worden, um zu verdeutlichen, dass dieses Fundament des gemeinschaftlichen Integrationsprozesses nicht durch Differenzierungen erschüttert werden darf. 7 4 4 Art. 14 Abs. 2 EGV-Nizza, auf den der neue Art. 43 lit. e) 740

Dort wird das Verb „to affect" gebraucht, das im Deutschen auch mit „berühren" übersetzt werden kann. 741 Vgl. Griller /Droutsas/ F alkner/F orgó/N entwich, S. 209; Thun-Hohenstein, S. 119, Fn. 15. 742 Vgl. Burón, RVAP 1999, S. 209, 221; Griller/Dr outsas/Falkner /Forgó /Nentwich, S. 209; Nomden, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 31, 40. 743 Insbesondere Spanien hatte auf den besonderen Schutz dieser beiden Politikbereiche gedrängt. Er wurde für den Wegfall des mitgliedstaatlichen Vetorechts im Verfahren zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit zur Bedingung gemacht.

190

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

EUV-Nizza Bezug nimmt, beschreibt den Binnenmarkt als einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des EGV gewährleistet ist. Die genannten Vertragsbestimmungen und das auf ihnen fußende Sekundärrecht sind als Teil des acquis communautaire freilich bereits durch Art. 43 lit. b) und c) EUV-Nizza einem umfassenden Schutz unterstellt. 745 Gleiches lässt sich über das Verbot einer Beeinträchtigung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der Gemeinschaft sagen. Gem. Art. 43 lit. e) EUV-Nizza gilt es nur in dem Umfang, in dem die gemeinschaftliche Kohäsionspolitik in Titel X V I I EGV-Nizza ihre rechtliche Ausformung gefunden hat. Der derzeitige Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG wird folglich durch eine Bestimmung ersetzt, der im Hinblick auf die bereits existierenden Beeinträchtigungsverbote kein rechtlich relevanter Aussagegehalt zukommt. 7 4 6 3. Der Ausschluss der Unionsbürgerschaft a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Nach Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG darf eine verstärkte Zusammenarbeit nicht die Unionsbürgerschaft betreffen. Die Unionsbürgerschaft soll die persönliche Verbundenheit zwischen den Staatsbürgern der Mitgliedstaaten fördern und zur Herausbildung einer europäischen Identität beitragen. 747 Daher ist es wünschenswert, dass sich ihre Fortentwicklung mit Wirkung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten vollzieht. Ferner verhindert das Verbot von Differenzierungen im Bereich der Unionsbürgerschaft, dass die mit einer zunehmenden rechtlichen Verkomplizierung einhergehenden Einbußen an Transparenz und Bürgernähe auf den zweiten Teil des EG übergreifen, der für den Unionsbürger besonders relevant ist. 744 Die Aufnahme einer zusätzlichen Schutzklausel zugunsten des Binnenmarkts erschien den Verhandlungsdelegationen aber schließlich angesichts der Beeinträchtigungsverbote in Art. 11 Abs. 1 lit. a) und lit. b) EG entbehrlich. Vgl. hierzu Curtin, in Ehlermann, S. 73, 77. 745 Vgl. Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 165. 746 Dem Verweis auf die Vorschriften des Titels XVII EGV-Nizza über die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts kann dagegen eine politische Signalwirkung entnommen werden. Er ist als Mahnung an die verstärkt zusammenarbeitenden EU-Mitglieder zu verstehen, einer dauerhaften Abkoppelung der wirtschaftsschwächeren Mitgliedstaaten entgegenzuwirken. 747 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 17 EGV Rdnr. 1. Vgl. auch den zweiten Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft, KOM (97) 230, 2.

. Die

r ü n g einer verstärkten Zusammenarbeit

191

Der Ausschluss des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG betrifft das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EG, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen (Art. 19 EG), das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz im Ausland (Art. 20 EG) und das Petitions- und Beschwerderecht der Unionsbürger vor den in Art. 21 EG bezeichneten Einrichtungen. b) Die Streichung durch den Vertrag

von Nizza

Der Vertrag von Nizza hebt den Ausschluss verstärkter Zusammenarbeit im Bereich der Unionsbürgerschaft auf. Im Verlaufe der Regierungskonferenz 2000 setzte sich die Ansicht durch, dass es den daran gelegenen Mitgliedstaaten gestattet sein sollte, den übrigen EU-Mitgliedern durch eine Fortentwicklung der Art. 17 bis 21 EGV-Nizza mit gutem Beispiel voranzugehen. 748 Nach Inkrafttreten des Vertrags von Nizza ist es den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten beispielsweise gestattet, den in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Unionsbürgern ein Wahlrecht nicht nur auf kommunaler, sondern ebenso auf nationaler Ebene zuzubilligen. 749 Ein Rückgriff auf die Evolutivklausel des Art. 22 EGV-Nizza, mittels welcher der Gemeinschaft im vereinfachten Verfahren Handlungsbefugnisse zur Weiterentwicklung der Unionsbürgerschaft eingeräumt werden können, 7 5 0 wäre einer engeren Kooperation dagegen durch das Kompetenzschaffungsverbot des Art. 43 lit. d) EUV-Nizza verwehrt. 751 Zwar wird durch die Schutzklausel zugunsten des acquis communautaire (Art. 43 lit. b) EUV-Nizza) und durch das Verbot von Integrationsrückschritten (Art. 43 lit. a) EUV-Nizza) verhindert, dass im Verlaufe einer verstärkten Zusammenarbeit von den bisherigen Rechten der Unionsbürger Abstriche gemacht werden. Dennoch wird mit Eintritt der neuen Rechtslage die Gefahr verbunden sein, dass die EU-Mitgliedstaaten in ihrem Auftreten vor dem Bürger an Geschlossenheit einbüßen. Von noch größerer Bedeutung wird dann sein, welche Auslegung und Anwendung 748

In diesem Sinne hatten insbesondere Deutschland und Italien während der Verhandlungen argumentiert. Vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 6. Ähnlich äußerte sich das Europäische Parlament in seiner Entschließung A5-0288/2000 zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 11. 749 Voraussetzung ist allerdings, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungen dies gestatten. In Deutschland ist die Ansicht vorherrschend, dass das nach Art. 20 Abs. 2 GG zur Ausübung von Staatsgewalt berufene Volk das deutsche Volk ist. Vgl. hierzu BVerfGE 83, 37, 50 ff.; Sommermann, in v. Mangoldt/Klein/Starck, Rdnrn. 142 ff. m.w.N. 750 Vgl. hierzu Hatje, in Schwarze, Art. 22 EGV Rdnrn. 1 ff. 751 Siehe hierzu unten, Teil 2 B.II.5.

192

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

das Verbot der Diskriminierung (Art. 12 EG) erfahren wird.

aus Gründen der

Staatsangehörigkeit

4. Das Verbot der Diskriminierung zwischen Unionsbürgern a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Nach Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG darf eine verstärkte Zusammenarbeit keine Diskriminierung zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten begründen. Die Teilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit dürfen ihre besondere Rechts- und Pflichtenstellung nicht ins Feld führen, um sich dem für die Gemeinschaft zentralen Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG zu entziehen. 752 Auch durch diese Beschränkung soll der Unionsbürger vor den nachteiligen Konsequenzen der erweiterten Flexibilisierungsmöglichkeiten des Amsterdamer Vertrags geschützt werden. Darf im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit die Staatsangehörigkeit nicht zum Anknüpfungspunkt eines individualbegünstigenden Rechtsakts werden, so folgt daraus, dass sich die gewährten Begünstigungen im gleichem Maße auf die Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten erstrecken müssen, die in den sachlichen Anwendungsbereich einer solchen Regelung fallen. 7 5 3 Die eingeräumten Vorteile dürfen nicht auf die Staatsangehörigen der an der Kooperation beteiligten Mitgliedstaaten beschränkt werden, sondern müssen sich potentiell der Gesamtheit der Unionsbürger mitteilen. 7 5 4 Für die Praxis ist davon auszugehen, dass sich die Mehrheit der seitens einer verstärkten Zusammenarbeit gewährten materiellen oder immateriellen Vergünstigungen an den Bedürfnissen und Verhältnissen der Staatsangehörigen orientieren werden, deren Mitgliedstaaten an der Kooperation beteiligt sind. Die genannten Vorteile dürften zumeist denjenigen Personen zugute kommen, die sich im Staatsgebiet der Teilnehmerstaaten aufhalten oder die zu diesen Ländern anderweitig in einer besonderen Beziehung stehen. Daher wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob auch Rechtsakte einer verstärkten Zusammenarbeit, die nach anderen Unterscheidungsmerkmalen als dem der Staatsangehörigkeit Begünstigungen gewähren, als sog. mittelbare oder verschleierte Ungleichbehandlungen in den Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG fallen. Mittelbare Ungleichbehandlungen werden nach der Rechtsprechung des EuGH durch solche Maßnahmen bewirkt, die zwar nicht ausdrücklich auf 752

Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 9; Zur hervorgehobenen Bedeutung des Diskriminierungsverbots des Art. 12 EG im Gemeinschaftsrecht vgl. Houloubeck, in Schwarze, Art. 12 EGV Rdnr. 4; Rossi, EuR 2000, S. 197, 198. 753 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 9. 754 Vgl. Ukrow, ZEuS 1998, S. 141, 146.

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die Staatsangehörigkeit ihrer Adressaten abstellen, die aber „durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen". 7 5 5 Wohnt einer Maßnahme die beschriebene Wirkung inne, so muss anhand der Rechtsprechung des EuGH geprüft werden, ob die festgestellte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen ist. Eine mittelbare Ungleichbehandlung stellt hiernach dann keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dar, wenn ihr objektive Umstände zugrunde liegen und die Ungleichbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit der Rechtsvorschrift zulässigerweise verfolgt w i r d . 7 5 6 Als objektiver Umstand, der eine mittelbare Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag, bietet sich im Rahmen des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG auch die Förderung der mit der verstärkten Zusammenarbeit verfolgten gemeinschaftlichen Ziele an. Bereits die durch das Schengener Durchführungsabkommen bewirkten Diskriminierungen zu Lasten der Staatsangehörigen der Nicht-Schengen-Staaten waren deshalb mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren, weil das SDÜ durch den Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Vertragsstaaten die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarkts (Art. 14 Abs. 2 EG) vorantrieb. 757 Die teils in der Literatur vorgebrachten einschränkenden Auslegungsvorschläge, 758 die in dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG keine Stütze finden, sind angesichts dieser Rechtfertigungsmöglichkeit entbehrlich. b) Die Streichung durch den Vertrag

von Nizza

Der Vertrag von Nizza ordnet eine Streichung des derzeitigen Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG an. Dies darf nicht zu der Annahme verleiten, dass die verstärkte Zusammenarbeit zukünftig von dem gemeinschaftsrechtlich zentralen Verbot von Diskriminierungen zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten entbunden sein wird. Vielmehr ist die Aufhebung des 755

EuGH, Rs. 29/95 (Pastoors), Slg. 1997-1, S. 300, 306. Vgl. auch EuGH, Rs. 22/80 (Boussac), Slg. 1980, S. 3427, 3436; EuGH, Rs. 41/84 (Pinna), Slg. 1986, S. 1, 25. Mittelbare Ungleichbehandlungen können beispielsweise aus der Anknüpfung am Wohnort, aus einem Niederlassungserfordernis oder aus der Forderung bestimmter Sprachkenntnisse resultieren. Vgl. hierzu Epiney, in Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV Rdnr. 13. 756 Vgl. EuGH, Rs. 274/96 (Bickel), Slg. 1998-1, S. 7637, 7645 f.; C-29/95, EuGH, Rs. 29/95 (Pastoors), Slg. 1997-1, S. 300, 306 ff.; EuGH, Rs. 398/92 (Mund & Fester), Slg. 1994-1, S. 467, 479. 757 Vgl. Epiney, in Breuss/Griller, S. 127, 131. 75 8 Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 129 schlägt vor, das Diskriminierungsverbot des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG so zu handhaben, dass es nur Diskriminierungen zwischen den Staatsangehörigen der an der verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Staaten verbietet. Ahnlich Tuytschaever, S. 57. 13 Kellerbauer

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Pflicht zur Beachtung der vertraglichen Bestimmungen und des Besitzstands der Gemeinschaft (Art. 43 lit. b) und lit. c) EUV-Nizza) ohnehin die Geltung des inhaltsgleichen Diskriminierungsverbots in Art. 12 EGV-Nizza zur Folge hat. 7 5 9 Eine Veränderung der Rechtslage wird daher mit der Aufhebung des Art. 11 Abs. 1 lit. c) EG nicht verbunden sein. 7 6 0 5. Das Kompetenzschaffungsverbot Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG zufolge darf eine verstärkte Zusammenarbeit nicht die Befugnisse überschreiten, die der Europäischen Gemeinschaft durch den EGV zugewiesen sind. Wollen sich die kooperierenden Mitgliedstaaten zusätzlicher Kompetenzen bedienen, die der Gemeinschaft primärrechtlich nicht eingeräumt sind, so macht dies eine Änderung der vertraglichen Grundlagen unter Einbeziehung aller EU-Mitglieder erforderlich. 761 Den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten ist es demzufolge nicht gestattet, sich außerhalb des in Art. 48 EU vorgesehenen Vertragsänderungsverfahrens mit zusätzlichen Befugnisnormen auszustatten. Das Flexibilisierungsinstrument des Titels V I I EU legitimiert nur zur Ausschöpfung des Integrationspotentials, das den bereits existierenden gemeinschaftlichen Handlungsbefugnissen innewohnt. 7 6 2 Eine Fortentwicklung der Europäischen Union in Richtung eines verfassten Bundesstaats wird unter Rückgriff auf die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit daher ebenso wenig zu realisieren sein wie eine Ausstattung der Wirtschafts- und Währungsunion mit zusätzlichen Harmonisierungsbefugnissen. 763 Fraglich ist, ob dem Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG darüber hinaus ein Verbot zu entnehmen ist, sich im engeren Teilnehmerkreis einer verstärkten Zusammenarbeit der Kompetenzgrundlage des Art. 308 EG zu bedienen. Hier759 In der Endphase der Regierungskonferenz 2000 wies der Rechtsberater des Rats auf unnötige Wiederholungen in den Flexibilisierungsbestimmungen hin und erinnerte daran, dass die in Art. 43 lit. b) EUV-Nizza ausgesprochene Verpflichtung zur Beachtung der Verträge bereits die Wahrung der Gesamtheit des Primär- wie Sekundärrechts umfasst. Vgl. Dokument SN 5447/00 vom 3. 12. 2000, S. 1. 760 A.A. offenbar Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 129 f. 761 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 761; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 10. 762 Kritisch hierzu das Europäische Parlament, Entschließung A5-0288/2000 zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 11; Giering/Janning, Integration 2001, S. 146, 152. 763 Auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt hätte aufgrund des Kompetenzerweiterungsverbots nicht mittels einer verstärkten Zusammenarbeit vereinbart werden können. Vgl. hierzu Tuytschaever, in de Burca/Scott, S. 173, 190.

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für könnte angeführt werden, dass Art. 308 EG in der Literatur teils als „Kompetenzergänzungsvorschrift" bezeichnet w i r d 7 6 4 und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil sogar als „potentielle Kompetenzerweiterungsvorschrift" beschrieben wurde. 7 6 5 Trotz dieser missverständlichen Benennungen ist der Rückgriff auf Art. 308 EG aber als Ausübung bestehender Gemeinschaftskompetenzen zu werten. 7 6 6 Zwar knüpft Art. 308 EG nicht an einer bestimmten Regelungsmaterie, sondern an den Zielen der Gemeinschaft an, wodurch er breitere Kompetenzräume eröffnet als die übrigen Handlungsermächtigungen des EGV. Deshalb erwächst aus Art. 308 EG aber keine Kompetenzerweiterungsbefugnis, sondern lediglich die Möglichkeit zur Nutzung jenes „Kompetenzreservoirs", das die Vertragsparteien der Gemeinschaft bei deren Gründung zur Verfügung gestellt haben und das sich im Verlaufe späterer Vertragsrevisionen durch eine Erweiterung der gemeinschaftlichen Ziele vergrößert hat. 7 6 7 Im Lichte dessen wird das Kompetenzerweiterungsverbot des Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten nicht daran hindern, sich des Art. 308 EG ebenso zur Rechtsetzung zu bedienen wie der übrigen Kompetenzgrundlagen des E G V . 7 6 8 6. Das Verbot von Handelsbeschränkungen und Wettbewerbsverzerrungen a) Die Regelung des Vertrags

von Amsterdam

Nach Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG darf eine verstärkte Zusammenarbeit keine Diskriminierung oder Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Die Wettbewerbsbedingungen zwischen den EU-Mitgliedern dürfen nicht verzerrt werden. Im Bereich des Warenverkehrs wird so der Gefahr vorgebeugt, dass eine verstärkte Zusammenarbeit die Wiedereinführung von Behinderungen bei grenzüberschreitenden Transaktionen zur Folge hat. Wettbewerbsrechtlich bezweckt die Vorschrift, einer Abschottung einzelner Mitgliedstaaten vom gemeinsamen Markt vorzubeugen und die Entstehung von Wettbewerbsvorteilen zugunsten von Waren aus bestimmten Mitgliedstaaten zu verhindern. 7 6 9 Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG wirkt hierdurch auch der Besorgnis entge76 4

Geiger, Art. 308 EGV Rdnr. 1. Vgl. BVerfGE 89, 155, 196. 766 Vgl. Bungenberg, EuR 2000, S. 879, 886; Krück, in Schwarze, Art. 308 EGV Rdnr. 3. 767 Vgl. Bungenberg, EuR 2000, S. 879, 887; Streinz, Europarecht, Rdnr. 121. 768 Vgl. Gaja, CMLRev 1998, S. 855, 863; Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 172. 769 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 761. 765

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

gen, verstärkte Zusammenarbeit könnte als Mittel eines verschleierten Protektionismus missbraucht werden. Trotz dieser billigenswerten Motive erwächst aus der extensiven Formulierung des Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG die Gefahr, den Anwendungsbereich verstärkter Zusammenarbeit zu sehr zu beschränken. 770 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass in der ersten Säule kaum eine verstärkte Zusammenarbeit denkbar ist, die ohne Auswirkungen auf die Handelsströme oder den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten bleibt. 7 7 1 Eine restriktive Handhabung des Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG würde der allgemeinen Differenzierungsklausel daher auch die Mehrzahl ihrer nicht-wirtschaftlichen Einsatzfelder entziehen. 772 Dies lässt sich daran veranschaulichen, dass Gemeinschaftsrichtlinien in der Sozial-, Gesundheits-, und Umweltpolitik sowie im Bereich des Verbraucherschutzes in der Vergangenheit deswegen auf die Kompetenzgrundlagen der Art. 94, 95 EG gestützt werden konnte, weil dort unterschiedliche Rechtszustände in den Mitgliedstaaten Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt befürchten ließen. 7 7 3 Eine enge Auslegung des Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG muss abgelehnt werden, um einen völligen Ausschluss verstärkter Zusammenarbeit in der ersten Säule zu vermeiden. 774 Zudem ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine nach Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG per se missbilligte Handelsbeschränkung oder Wettbewerbsverzerrung nicht im Einzelfall dadurch zu rechtfertigen ist, dass einer verstärkten Zusammenarbeit im Gegenzug positive Auswirkungen auf den Integrations770 Vgl. Thun-Hohenstein, S. 119 f.; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 11. WeatherilU in Usher, S. 1, 11 weist zu Recht darauf hin, dass die sozialpolitische Differenzierung des Maastrichter Vertrags den Anforderungen des Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG nicht hätte genügen können. 771 Vgl. Griller/Dr outsas/Falkner /For gó/N entwich, S. 215; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 11; WeatherilU in o'Keeffe/Twomey, S. 21, 28. 772 So läuft auch eine verstärkte Zusammenarbeit im kulturellen Bereich Gefahr, sich in einer durch Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG missbilligten Weise auf den Wettbewerb in der Gemeinschaft auszuwirken. Hierzu eingehend Weatherill, in de Bùrca/ Scott, S. 237, 242 ff. Entsprechendes gilt für den Bereich der Umweltpolitik. Vgl. hierzu Müller-Brandeck-Bocquet, Integration 1997, S. 292, 294 f. 773 Vgl. hierzu die Beispiele bei WeatherìlU in o'Keeffe/Twomey, S. 21, 28 f. Allerdings ist der EuGH in seinem Urteil zur Tabakwerbeverbots-Richtlinie einer ausufernden Auslegung des Art. 95 EG im Bereich Gesundheit entgegengetreten. Die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder möglicher Wettbewerbsverzerrungen genügen nicht, um auf Grundlage des Art. 95 EG mitgliedstaatliches Recht anzugleichen. Vgl. EuGH, Rs. C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat), Slg. 2000-1, S. 8419 ff. 774 Vgl. Thun-Hohenstein, S. 120. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 11 tritt für eine Auslegung der Sperrklausel ein, die ihren Anwendungsbereich auf rechtliche Diskriminierungen und spürbare Handelsbeeinträchtigungen beschränkt.

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prozess oder die Gemeinschaftsziele zukommen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass den sonstigen vertraglichen Bestimmungen zum Schutz der Grundfreiheiten und des Wettbewerbs im Binnenmarkt ebenfalls geschriebene und ungeschriebene Ausnahmetatbestände innewohnen. Diese gestatten es den Mitgliedstaaten, von der gemeinschaftsrechtlich verfassten Wirtschaftsordnung abzuweichen, wenn sie dafür im Einzelfall rechtfertigende Umstände, insbesondere die Existenz höherrangiger Interessen anführen können. 7 7 5 Entsprechend ist es naheliegend, auch den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten zu gestatten, den Handel oder den Wettbewerb in der EU beeinträchtigenden Einflüssen zu unterwerfen, soweit die Kooperation der Förderung gemeinschaftsrechtlich anerkannter Interessen wie dem Umweltschutz (Art. 6 EG), der Bewahrung und Förderung kultureller Vielfalt (Art. 151 EG), der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung (Art. 152 EG) dient und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt bleibt. 7 7 6 b) Die Änderungen durch den Vertrag

von Nizza

Durch den Vertrag von Nizza wird der Wortlaut des bisherigen Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG in zweierlei Weise abgeändert. Zum einen erfolgt eine Umstellung der Wortfolge, sodass der Begriff „Diskriminierung" in Zukunft an „Handel zwischen den Mitgliedstaaten" angrenzt. Hierdurch wird gegenüber der Amsterdamer Version klargestellt, dass sich das Diskriminierungsverbot nicht auf eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten, sondern auf den Handel zwischen denselben bezieht. 777 Zum anderen wird in der deutschen Sprachfassung das Wort „Beschränkung" durch „Behinderung" ersetzt. 778 Nachdem an das Vorliegen einer Handelsbehinderung strengere Anforderungen zu stellen sind als an das Vorhandensein 775 Vgl. etwa die Ausnahmebestimmungen und Schutzklauseln in den Art. 30, Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1, Art. 81 Abs. 3, Art. 87 Abs. 2 und 3 EG. Für die Entwicklung sog. „immanenter Schranken" der vier Grundfreiheiten wurde die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Cassis de Dijon" wegweisend, der zufolge Hemmnisse für den gemeinschaftlichen Binnenhandel dann hinnehmbar sind, falls sich deren Notwendigkeit aus zwingenden Erfordernissen, insbesondere solcher der wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbräucherschutzes, rechtfertigt. Vgl. EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, S. 649, 662. Vgl. auch die bereits zuvor in der Van Binsbergen-Entscheidung (EuGH, Rs. 33/74, Slg. 1974 (Van Binsbergen), S. 1299, 1309 f.) entwickelten ungeschriebenen Möglichkeiten zur Beschränkung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit. 776 Vgl. Weatherill, in de Burca/Scott, S. 237, 253. 777 Der bisherige Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG ist insoweit missverständlich und hat zu entgegengesetzten Lesarten geführt. So etwa bei Bribosia, CDE 2000, S. 57, 67.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

einer Handelsbeschränkung, muss die Schwelle der unzulässigen Beeinträchtigung künftig höher angesetzt werden. 7 7 9 Die Substanz des derzeitigen Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG bleibt im neuen Art. 43 lit. f) EUV-Nizza dagegen erhalten. Trotz der Veränderungen bedeutet daher auch der den Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG ersetzende Art. 43 lit. f) EUV-Nizza eine erhebliche Beschränkung für eine verstärkte Zusammenarbeit, die überdies künftig in allen drei Säulen gelten wird.

III. Die zusätzlichen Voraussetzungen für die dritte Säule Die zusätzlichen Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammenarbeit bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind in Art. 40 Abs. 1 EU zu finden. Die Bestimmung ersetzt den Maastrichter Art. K.7 EUV. Letzterem zufolge stand Titel V I EUV der Begründung oder Entwicklung von außerinstitutionellen engeren Kooperationen zwischen den Mitgliedstaaten nicht entgegen, soweit diese das mitgliedstaatliche Zusammenwirken in der dritten Unionssäule nicht behinderten. Die Ermächtigung zur verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule tritt somit an die Stelle der zuvor explizit gestatteten mitgliedstaatlichen Kooperation außerhalb des Unionsrahmens. 780 Art. 40 Abs. 1 EU erweitert die in Art. 43 Abs. 1 EU formulierten Voraussetzungen nur um drei Anforderungen und lässt somit deutlich mehr Raum für Differenzierungen als Art. 11 Abs. 1 EG. Hieraus folgt, dass die dritte Unionssäule in höherem Maße der neuen Flexibilisierungsklausel geöffnet wurde, als dies im Bereich des EGV geschehen i s t . 7 8 1 Entsprechend sind auch die Voraussetzungen des Art. 43 Abs. 1 EU dann weniger streng zu handhaben, wenn sie auf eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule zur Anwendung gelangen. 782

778

In der englischen Version wird „does not constitute a restriction of trade" durch „does not constitute a barrier to trade" ersetzt. Die französische Sprachfassung „ne constitue ... une entrave aux échanges" bleibt dagegen unverändert. 779 Ebenso Wiedmann, EuR 2001, S. 185, 209: „Der engeren Kooperation stehen nur noch europäische Handelsbehinderungen entgegen, nicht mehr bloße Handelsbeschränkungen", erstere Hervorhebung d. Verf. 780 Hieraus leitet ein Teil der Literatur ab, dass die herkömmliche völkerrechtliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Aufgabenbereich des dritten Unionspfeilers künftig nur noch eingeschränkt zulässig ist. Siehe hierzu unten, Teil 2 D.V. 781 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 759; Tuytschaever, S. 167. 782 Eine solche, nach Säulen differenzierende Handhabung des Art. 43 Abs. 1 EU erwägt auch Tuytschaever, S. 167.

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1. Die Wahrung der Zuständigkeit der Gemeinschaft Gem. Art. 40 Abs. 1 lit. a) EU muss eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft wahren. Ein inhaltsgleiches Gebot lässt sich der Rechsprechung des EuGH zufolge dem Art. 47 EU entnehmen. 783 In der sog. „Flughafentransitentscheidung" erklärte sich der Gerichtshof nach Art. L lit. c) i.V.m. Art. M EUV (Art 46 lit. e) i.V.m. Art. 47 EU) für zuständig, darüber zu wachen, dass die Handlungen, die der Rat auf eine unionsrechtliche Handlungsermächtigung stützt, nicht in jene Zuständigkeiten übergreifen, welche die Bestimmungen des EG-Vertrags der Europäischen Gemeinschaft zuweisen. 784 Der Gerichtshof prüft den Inhalt des geschaffenen Unionsrechts anhand der Kompetenzgrundlagen des EGV um festzustellen, ob nicht eigentlich die Gemeinschaft zum Erlass der betreffenden Vorschriften zuständig gewesen wäre. 7 8 5 Demzufolge ist der im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit beschließende Rat sowohl aus Art. 40 Abs. 1 lit. a) EU als auch aus Art. 47 EU dazu verpflichtet, nur solche Rechtsakte auf eine Handlungsermächtigung der dritten Säule zu stützen, für die nicht eine der Kompetenzgrundlagen des EGV einschlägig ist. Handelt er dieser Verpflichtung zuwider, so verstößt er gegen Art. 47 EU und gegen Art. 40 Abs. 1 lit. a) EU. Dem EuGH ist dann nach Art. 46 lit. e) i.V.m. Art. 47 EU sowie nach Art. 46 lit. c) i.V.m. Art. 40 Abs. 4 Uabs. 2, Abs. 1 E U 7 8 6 die Zuständigkeit eingeräumt, die entstehenden Rechtsakte für nichtig zu erklären. 2. Die Wahrung der Ziele des Titels V I EU Art. 40 Abs. 1 lit. a) EU fordert des Weiteren, dass eine verstärkte Zusammenarbeit die Ziele des Titels V I EU wahren muss. Im Unterschied zum ersten Unionspfeiler werden die engeren Kooperationen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen dagegen nicht explizit auf eine Nutzung der dort existierenden Kompetenzgrundlagen beschränkt. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten in der dritten Säule über die dort formulierten Handlungsbefugnisse hinauszugehen befugt sind. 7 8 7 Denn 783 Vgl. EuGH, Rs. 170/96 (Transit auf Flughäfen), Slg. 1998-1, S. 2763. Es ist von Interesse, dass die Entscheidung nach Abschluss der Regierungskonferenz 1996/1997 getroffen wurde. 784 Vgl. EuGH, Rs. 170/96 (Transit auf Flughäfen), Slg. 1998-1, S. 2763, 2788. 785 Vgl. EuGH, Rs. 170/96 (Transit auf Flughäfen), Slg. 1998-1, S. 2763, 2788. 786 Zur Zuständigkeit des EuGH für eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule siehe unten, Teil 2 C.III.2.b).

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

der nach Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU als Grundsatz des EU-Vertrags zur Anwendung gelangende Art. 5 EU bindet ein mit Rechtseingriffen einhergehendes Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane auch im Bereich der intergouvernemental strukturierten EU-Säulen an das Vorhandensein einzelner Befugnisnormen. 788 3. Das Gebot schnellerer Fortentwicklung Nach Art. 40 Abs. 1 lit. b) EU muss eine verstärkte Zusammenarbeit weiter bezwecken, dass sich die Europäische Union rascher zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entwickelt. Hierdurch wird entsprechend des Rückschrittsverbots des Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU klargestellt, dass eine verstärkte Zusammenarbeit nur ein Mittel zur schnelleren Zielverwirklichung, nicht dagegen eine Legitimation zum Zurückfallen hinter den unionsweit erreichten Standard darstellen darf. Dabei ist die Eignung zur schnelleren Verwirklichung der Unionsziele auch hier Gegenstand einer politischen Bewertung, die seitens des EuGH nur auf evidente Einschätzungsfehler hin überprüft werden kann. 4. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza Die in Art. 40 Abs. 1 EU niedergelegten Voraussetzungen zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule erfahren durch den Vertrag von Nizza keine Abänderung. Dennoch erhöhen sich die dortigen Einsetzungsanforderungen erheblich, da sich die Mehrheit der zuvor in Art. 11 Abs. 1 EG festgehaltenen Vorschriften künftig in dem für alle Säulen geltenden Art. 43 EUV-Nizza wiederfinden.

IV. Die zusätzlichen Voraussetzungen des Vertrags von Nizza für die zweite Säule Der Vertrag von Nizza weitet den Anwendungsbereich verstärkter Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) aus. Die hierbei geltenden prozessualen und materiellen Regeln waren während der Regierungskonferenz 2000 besonders umstritten. 789 Die grundsätzlichen Vorbehalte einzelner Mitgliedstaaten ge787 So aber Milner/Kölliker, S. 14, die einer verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule Handlungsbefugnisse eingeräumt sehen, denen nur durch die Zielbestimmung des Art. 29 Abs. 1 EU Grenzen gesetzt sind. 788 Vgl. Stumpf in Schwarze, Art. 5 EUV Rdnr. 1; Wichard, in Calliess/Ruffert, Art. 5 EUV Rdnr. 3. 789 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 132.

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gen eine weitere Flexibilisierung der zweiten Unionssäule 790 spiegeln sich in den zusätzlichen Voraussetzungen des Art. 27a Abs. 1 EUV-Nizza wider. Sie kommen ferner in einer Reihe weiterer Beschränkungen zum Ausdruck, die den Handlungsspielraum einer verstärkten Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sichtlich einengen. 1. Die zusätzlichen Voraussetzungen Die allgemeinen Voraussetzungen verstärkter Zusammenarbeit der Art. 43-43b EUV-Nizza werden im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch vier Gebote erweitert, die in einem neuen Art. 27a Abs. 1 EUV-Nizza zu finden sind. Art. 27a Abs. 1 S. 1 EUV-Nizza zufolge muss eine engere Kooperation in der zweiten Säule zum Ziel haben, „die Werte der gesamten Union zu wahren und ihren Interessen zu dienen, unter Behauptung der Identität der Union als kohärenter Kraft auf internationaler Ebene". Hierdurch wird erneut bekräftigt, dass die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten nicht im Eigeninteresse tätig sein dürfen, sondern die Belange der Europäischen Union als Ganzes zu fördern verpflichtet sind. 7 9 1 Zudem klingt die Pflicht zur Wahrung der Kohärenz des außenpolitischen Unionshandelns an, welche als Leitmotiv der Differenzierungsregelung in der zweiten Säule bezeichnet werden kann. 7 9 2 Weiter ist es einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Säule gem. Art. 27 a Abs. 1 S. 2 Spgstr. 1 EUV-Nizza aufgetragen, „die Grundsätze, die Ziele, die allgemeinen Leitlinien und die Kohärenz der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die im Rahmen dieser Politik gefassten Beschlüsse [zu beachten]". Der rechtliche und politische Besitzstand, der sich im zweiten Unionspfeiler herausgebildet hat, bestimmt demnach den Spielraum und die Grenzen einer dort begründeten engeren Zusammenarbeit. Eine inhaltsgleiche Auflage lässt sich bereits den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 43 EUV-Nizza entnehmen. 793 Ferner hat eine verstärkte Zusammenarbeit in der zweiten Säule gem. Art. 27a Abs. 1 Spgstr. 2 EUV-Nizza die Zuständigkeiten der Europäischen 790 Großbritannien, Schweden, Dänemark und Irland machten gegen eine weitere Flexibilisierung in der zweiten Säule grundsätzliche Bedenken geltend. Vgl. hierzu die Aussagen des französischen Außenministers in Agence Europe Nr. 7792 vom 6. 9. 2000, S. 4 sowie die Ausführungen bei Regelsberger, Integration 2001, S. 156, 159 f. 791 Dies folgt bereits aus Art. 43 lit. a) EUV-Nizza. Zur Redundanz der Vorschrift vgl. Rafols, Revista de Derecho Communitario Europeo 2001, S. 145, 162. 792 Vgl. Rafols, Revista de Derecho Communitario Europeo 2001, S. 145, 161 f. Vgl. auch den neuen Art. 45 EUV-Nizza. 793 Siehe hierzu oben, Teil 2 B.I.l. bis 3.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Gemeinschaft zu beachten. Wie in der dritten Säule darf auch hier nicht in den Zuständigkeitsbereich des supranational strukturierten Unionspfeilers eingegriffen werden. 7 9 4 Dabei wird eine genaue Unterscheidung zwischen den Tätigkeitsfeldern der GASP und den vornehmlich wirtschaftspolitisch geprägten Außenkompetenzen der EG in der Praxis nicht immer einfach fallen. 7 9 5 Art. 27a Abs. 1 Spgstr. 3 EUV-Nizza macht den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten schließlich die Beachtung der „Kohärenz zwischen der Unionspolitik insgesamt und dem außenpolitischen Handeln der Union" zur Pflicht. Dieses Kohärenzgebot folgt bereits aus Art. 3 Abs. 2 EUV-Nizza. 7 9 6 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zusätzlichen Voraussetzungen des Art. 27a Abs. 1 EUV-Nizza einer verstärkten Zusammenarbeit keine Grenzen aufzeigen, die in ihrem rechtlichen Gehalt über die des Art. 43 EUV-Nizza hinausgehen. Die wiederholt ausgesprochene Pflicht zu abgestimmtem und widerspruchsfreiem Handeln ist aufgrund ihres politischen Charakters nur eingeschränkt justiziabel, weshalb ihr vorrangig politische Bedeutung zukommen w i r d . 7 9 7

2. Die weiteren Beschränkungen Die Sorge um die Glaubwürdigkeit und Kohärenz der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hatte dazu geführt, dass die allgemeine Differenzierungsklausel in der zweiten Säule nicht zur Definition neuer politischer Zielsetzungen, sondern nur auf der Ebene der anschließenden Durchführung nutzbar gemacht wurde. 7 9 8 Der Vertrag von Nizza stuft die 794 Art. 40 Abs. 1 EUV-Nizza zufolge ist eine verstärkte Zusammenarbeit im dritten Pfeiler nur „unter Wahrung der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft" zulässig. 795 Zu den Handlungsbefugnissen der Mitgliedstaaten im zweiten Unionspfeiler in Abgrenzung zu den Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft MüllerBrandeck-Bocquet, in Schubert/Müller-Brandeck-Bocquet, S. 29 ff. 796 Art. 3 Abs. 2 EUV-Nizza ist gem. Art. 43 lit. b) EUV-Nizza von den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten zu beachten. 797 Ebenso Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 185. 798 Der belgischen Verhandlungsdelegation zufolge bot der Mechanismus konstruktiver Enthaltung (Art. 23 Abs. 1 UAbs. 2 EU) hinreichend Flexibilität auf der Ebene der Zieldefinition. Vgl. CONFER 4765/00 vom 28. 8. 2000, S. 4. Diese Auffassung wurde von der französischen Ratspräsidentschaft aufgegriffen und zur Grundlage der weiteren Verhandlungen gemacht. Vgl. CONFER 4780/00 vom 5. 10. 2000, S. 4. Deutschland und Italien hatten sich dagegen gegen diese Einschränkung gewandt. Vgl. CONFER 4783 vom 6. 10. 2000, S. 4 ff. Vgl. zum Ganzen auch Rafols, Revista de Derecho Communitario Europeo 2001, S. 145, 184.

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verstärkte Zusammenarbeit in der zweiten Säule gem. Art. 27b S. 1 EUVNizza auf eine „verstärkte Vollzugszusammenarbeit" 799 herab, die auf eine Ausführung der Beschlüsse beschränkt ist, die zuvor auf Ebene der EU-15 gefasst wurden. Im späteren Verlauf der Regierungskonferenz 2000 wurden zusätzlich die beiden hochrangigeren Handlungsinstrumente der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik, die „Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien" (Art. 13 Abs. 1 EUV-Nizza) und die durch den Vertrag von Amsterdam neu eingefügten „gemeinsamen Strategien" (Art. 13 Abs. 2 EUV-Nizza) von der verstärkten Zusammenarbeit ausgenommen. Eine verstärkte Zusammenarbeit in der zweiten Säule kann gem. Art. 27b EUV-Nizza ausschließlich begründet werden, um die Durchführung der nachgeordneten Handlungsformen „gemeinsame Aktionen" und „gemeinsame Standpunkte" (Art. 14 und 15 EUV-Nizza) zu betreiben. Für die Durchführungsmaßnahmen dieser beiden Handlungsformen sieht der zweite Unionspfeiler ohnehin eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat v o r . 8 0 0 Die verstärkte Zusammenarbeit im zweiten Pfeiler wird somit auf die Felder begrenzt, auf denen eine Dynamisierung der Entscheidungsprozesse am wenigsten erforderlich ist. 8 0 1 Art. 27b S. 2 EUV-Nizza fügt dem Handlungsbereich einer engeren mitgliedstaatlichen Kooperation in der zweiten Unionssäule eine dritte Beschränkung hinzu. Eine verstärkte Zusammenarbeit „kann nicht Fragen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen betreffen." Die am Rande der Regierungskonferenz lautgewordenen Vorschläge, verstärkte Zusammenarbeit zu Rüstungskooperationen im engeren Kreis zu nutzen, 8 0 2 sind infolge dieser Beschränkung gegenstandslos.

V. Das Einsetzungsverfahren für die erste Säule 1. Die Regelung des Vertrags von Amsterdam Das Verfahren zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule ist in Art. 11 Abs. 2 EG geregelt. Es nimmt grundsätzlich in einem Antrag der interessierten Mitgliedstaaten seinen Ausgangspunkt. Die beteiligten Gemeinschaftsorgane sind Kommission (Vorschlagsrecht), Europäisches Parlament (Recht auf Anhörung) und Rat (Beschlussfassung). 799

Hatje, EuR 2001, S. 143, 162. Vgl. Art. 23 Abs. 2 Spgstr. 2 EUV-Nizza. Vgl. aber die „Vetomöglichkeit" des Art. 23 Abs. 2 Uabs. 2 EUV-Nizza. 801 Vgl. hierzu die Kritik bei Giering/Janning, Integration 2001, S. 146, 151; Rafols, Revista de Derecho Communitario Europeo 2001, S. 145, 187. 802 Vgl. hierzu Regelsberger, Integration 2001, S. 156, 159. 800

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Grundsätzlich wird der zu einer verstärkten Zusammenarbeit ermächtigende Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit gefasst. Im Sonderfall des Vorliegens „wichtiger Gründe nationaler Politik" kann jedoch jedes Ratsmitglied die Einsetzung verstärkter Zusammenarbeit mittels eines ihm faktisch zugebilligten Vetorechts verhindern. a) Der Antrag der interessierten

Mitgliedstaaten

Die Mitgliedstaaten, die an einer verstärkten Zusammenarbeit interessiert sind, richten gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 3 S. 1 EG zunächst einen Antrag an die Kommission. Über den notwendigen Inhalt dieses Antrags macht der EGV keine Angaben. Aus dem Erfordernis einer anschließenden Prüfung seitens der Kommission ist jedoch zu schließen, dass der Antrag zumindest die Angaben enthalten muss, die für die Beurteilung seiner Zulässigkeit nach den Art. 43 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG erforderlich sind. 8 0 3 Ferner ist davon auszugehen, dass der Antrag die Unterstützung von mindestens der Hälfte der Mitgliedstaaten finden muss, um so die Beachtung des Art. 43 Abs. 1 lit. d) EG zu dokumentieren. 804 b) Das alleinige Vorschlagsrecht

der Kommission

Im Anschluss an den mitgliedstaatlichen Antrag ist der Kommission in der ersten Säule das alleinige Recht eingeräumt, einen Vorschlag zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit einzubringen. Hierdurch kommt ihr bei der Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle zu, die sich durch ihre Funktion als Hüterin der Verträge und Vertreterin des Gemeinschaftsinteresses rechtfertigt. Kommt die Kommission einem Antrag auf Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht nach, so muss sie diese Unterlassung gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 3 S. 2 EG begründen. Dabei ist von Interesse, ob die Kommission auch ohne einen vorherigen mitgliedstaatlichen Antrag die Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit anregen kann. 8 0 5 Hierfür spricht der Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 EG, der die Zulässigkeit des zur Zusammenarbeit ermächtigenden Ratsbeschlusses lediglich vom Vorliegen eines vorherigen Kommissionsvorschlags und von der Anhörung des Europäischen Parlaments abhängig macht. Die Möglichkeit eines Antrags ist in Art. 11 Abs. 2 Uabs. 3 S. 1 EG nur als eine zusätzliche Befugnis („können") der Mitgliedsländer vorge803 804 805

Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 13. Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 50 f. Zu dieser Möglichkeit ablehnend Tuytschaever, S. 59 f.

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sehen. Zugleich entspricht es der traditionellen Rolle der Kommission als „Motor der Integration", 806 ihr die Möglichkeit zuzubilligen, von sich aus die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts in Gang zu halten, falls sich auf Ebene der EU-15 Integrationshemmnisse ergeben. Aufgrund der Bedeutung des Initiativrechts für das Zustandekommen und den Inhalt einer verstärkten Zusammenarbeit 807 muss ferner geklärt werden, in welchem Umfang die Kommission bei der Unterbreitung und inhaltlichen Ausgestaltung ihres Vorschlages an die Voraussetzungen der Art. 43 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG gebunden ist. Gesteht man der Kommission einen Beurteilungsspielraum zu, kann der EuGH die Rechtmäßigkeit ihres Vorschlages oder dessen Unterlassung nicht in vollem Umfang anhand der bezeichneten Vorschriften überprüfen. 808 Für das Vorliegen einer Beurteilungsmarge lässt sich die Vorschrift des Art. 11 Abs. 2 Uabs. 3 S. 1 EG ins Feld führen. Sie spricht nur eine Möglichkeit, nicht aber eine Verpflichtung der Kommission zur Einbringung eines Vorschlags aus, ohne dabei die Ablehnungsbefugnis an das Nichtvorliegen der Einsetzungsvoraussetzungen zu knüpfen. 8 0 9 Soweit die Kommission aber zur gänzlichen Unterlassung ihrer Initiative befugt ist, muss ihr erst recht auch bei deren inhaltlicher Ausgestaltung ein Freiraum zukommen. Ferner weisen die Klauseln der Art. 43 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG in ihrer Mehrzahl Formulierungen auf, die erst mittels Prognosen über den künftigen integrationspolitischen Verlauf Aussagen über die Zulässigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit erlauben. 810 Ob eine in der Entstehung begriffene Pioniergruppe den Zielen der Union zu dienen in der Lage ist (Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU), die Interessen der Nichtteilnehmerstaaten zu wahren vermag (Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU) oder ohne nachteilige Auswir806 Ygi hierzu Oppermann, Europarecht, Rdnr. 353; Streinz, Europarecht, Rdnr. 292. 807 Die Bedeutung des Initiativmonopols der Kommission erschöpft sich nicht darin, die Einleitung einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule zu ermöglichen. Vielmehr präjudiziert der Inhalt des Vorschlags die Möglichkeiten, Ziele und Grenzen der jeweiligen Kooperation. 808 Eine Befassung des Gerichtshofs mit der Einsetzungsinitiative der Kommission kann entweder aus einer Untätigkeitsklage (Art. 232 EG) der an einer verstärkten Zusammenarbeit interessierten Mitgliedstaaten resultieren oder umgekehrt auf eine Nichtigkeitsklage (Art 230 EG) der Mitgliedstaaten, welche die Einsetzungsvoraussetzungen als nicht erfüllt ansehen, zurückgehen. 809 „Die Mitgliedstaaten ... können einen Antrag an die Kommission richten, die dem Rat einen entsprechenden Vorschlag vorlegen kann". Hervorhebung d. Verf. 810 Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 15 spricht insoweit zu Recht von juristisch „weichen" Voraussetzungen, die bereits ihrem Wortlaut nach einen erheblichen Beurteilungsspielraum eröffnen. Ähnlich Thun-Hohenstein, in Kirg, S. 122, 130: Politisches Ermessen der Kommission infolge Unschärfe der Kriterien.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

kungen auf Gemeinschaftsaktionen bleibt (Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG), lässt sich im Begründungsstadium nur unter Zubilligung einer politischen Einschätzungsprärogative beurteilen. 811 Demnach lässt sich feststellen, dass die Entscheidung der Kommission, ob und unter welchen Bedingungen die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Anforderungen von EUV und EGV vereinbar ist, regelmäßig nur im Fall offenkundiger Ermessensfehler einer Korrektur durch den EuGH zugänglich i s t . 8 1 2 Dass dabei dem Rat nicht nach der allgemeinen Vorschrift des Art. 208 EG die Befugnis zusteht, die Kommission zur Unterbreitung einer ihm genehmen Einsetzungsinitiative zu veranlassen, 813 lässt sich dem Art. 44 Abs. 1 S. 1 EU entnehmen. Der genannte Artikel lässt die allgemeinen Regeln des EGV zwar auf die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit, nicht dagegen auf das Verfahren zu deren Einsetzung zur Anwendung gelangen. c) Das Anhörungsrecht des Parlaments Die Stellung des Europäischen Parlaments im Einleitungsverfahren der ersten Säule beschränkt sich auf ein bloßes Anhörungsrecht. Rat und Kommission sind nicht verpflichtet, die Ablehnung einer verstärkten Zusammenarbeit durch das Europäische Parlament bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. 814 Da die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit diese unbedeutende Position der europäischen Parlamentarier auf das 811 Gibt die Kommission dagegen als Grund für die Ablehnung ihres Vorschlags an, die verstärkte Zusammenarbeit beträfe einen in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallenden Bereich (Art. 11 Abs. 1 lit. a) EG), kann der Gerichtshof seinem Verständnis des ausschließlichen Zuständigkeitsbereichs der Gemeinschaft Geltung verschaffen. Eine vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit gilt auch für die Erfordernisse des Art. 43 Abs. 1 lit. b) und lit. d). Vgl. zum Ganzen Hatje, in Schwarze, Art. 11 Rdnr. 14. 812 Vgl. Martin/N anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 224; Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 179; Thun-Hohenstein, in Kirg, S. 122, 130. Zu den Ausnahmen siehe soeben. 813 Art. 208 EG ist nach h.M. zu entnehmen, dass der Rat die Kommission mit grundsätzlich verbindlicher Wirkung zur Vorlage von Vorschlägen auffordern kann. Vgl. hierzu Geiger, Art. 208 EGV Rdnr. 2; Hix, in Schwarze, Art. 208 EGV Rdnrn. 6 f. m. w. N. 814 Als Reaktion auf diese schwache Stellung im Einsetzungsverfahren forderte das Europäische Parlament, „dass die Kommission sich bezüglich des ersten Pfeilers verpflichten sollte, ihren Vorschlag für eine verstärkte Zusammenarbeit zurückzuziehen, falls das Europäische Parlament eine negative Stellungnahme abgibt". Europäisches Parlament, Entschließung zur Umsetzung des Vertrags von Amsterdam: Bedeutung der verstärkten Zusammenarbeit, ABl. EG 1998 Nr. C 292/144.

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Einsetzungsverfahren beschränken, spielt der Standpunkt dieses Gemeinschaftsorgans im späteren Verlauf der engeren Kooperation gleichwohl eine gewichtige Rolle. Das Rechtsetzungsverfahren einer verstärkten Zusammenarbeit richtet sich nämlich nach den herkömmlichen Vorschriften im ersten Pfeiler, 815 sodass in vielen Regelungsmaterien die Vorhaben des engeren Teilnehmerkreises vom Europäischen Parlament verzögert oder verhindert werden können.

d) Der Mehrheitsbeschluss

im Rat und die Vetomöglichkeit

Auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments kommt es gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 EG schließlich dem Rat zu, mit qualifizierter Mehrheit die Ermächtigung für eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Säule zu erteilen. Der Rat beschließt unter Beteiligung der Gesamtheit seiner Vertreter, wobei die Stimmen seiner Mitglieder nach Maßgabe des Art. 205 EG gewichtet werden. Da der Beschluss zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule ohne die Mitwirkung einer Mindestzahl von zehn Mitgliedstaaten gefasst werden kann, 8 1 6 ist es möglich, dass die bevölkerungsstärksten Mitgliedstaaten gegen den Willen der übrigen eine verstärkte Zusammenarbeit begründen. 817 Um die hervorgehobene Verfahrensstellung der Kommission in der ersten Säule zu wahren, muss dem Rat die Befugnis abgesprochen werden, im Wege der einstimmigen Beschlussfassung von dem vorausgegangenen Kommissionsvorschlag inhaltlich abzuweichen. 818 Anderenfalls fände eine Angleichung an das Einsetzungsverfahren in der dritten Säule statt, in welchem die Stellungnahme der Kommission dem Rat lediglich eine Orientierungshilfe bei seiner Entscheidung bietet. Dies stünde zu der Intention der Vertragsparteien, die supranationale erste Säule durch ein Initiativmonopol der Kommission zusätzlich vor nachteiligen Auswirkungen der neuen Differenzierungsform zu schützen, im Widerspruch. Als angefochtenste Bestimmung des Einsetzungsverfahrens kann Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG gelten. 8 1 9 Die vornehmlich auf britisches Drängen hin 815

Vgl. Art. 11 Abs. 4 EG. Vgl. Art. 205 Abs. 2 Spgstr. 1 EG. Dem Einsetzungsbeschluss des Rats muss gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 EG notwendigerweise ein Kommissionsvorschlag vorausgehen. 817 Dieser Möglichkeit steht allerdings nach derzeit geltender Rechtslage die Vetomöglichkeit jedes Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG entgegen. 818 Art. 250 Abs. 1 EG findet keine Anwendung, da gem. Art. 44 Abs. 1 S. 1 EU die herkömmlichen institutionellen Bestimmungen des EGV nur auf die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit, nicht aber auf das Verfahren ihrer Begründung anwendbar sind. 816

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

aufgenommene Vorschrift 820 räumt jedem Mitgliedstaat zum Schutz seiner nationalen Interessen ein faktisches Vetorecht ein, das erkennbare Parallelen zum sog. „Luxemburger Kompromiss" von 1966 aufweist. 821 Jedem Ratsmitglied ist es hiernach gestattet, sich unter Berufung auf „wichtige Gründe nationaler Politik" dem Beschluss zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit zu widersetzen. 822 Zwar können die übrigen Mitgliedstaaten gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 S. 2 EG durch qualifizierten Ratsbeschluss darauf hinwirken, den in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagenden Rat mit der Angelegenheit zu befassen. Dieses mit besonderem politischen Gewicht ausgestattete Gremium beschließt dem bezeichneten Artikel zufolge jedoch einstimmig und ist daher nicht in der Lage, sich über die geltend gemachten mitgliedstaatlichen Einwände hinwegzusetzen. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG räumt daher einem Mitgliedstaat, der bereits einem gesamtgemeinschaftlichen Rechtsetzungsvorhaben seine Mitwirkung versagt hat, zugleich die Möglichkeit ein, die nach Titel V I I EU angestrengten partiellen Integrationsfortschritte zu vereiteln. Dies stellt den Nutzen der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit als Mechanismus zur Überwindung von Integrationsblockaden erheblich in Frage, zumal es ausschließlich der Beurteilung eines einzelnen Mitgliedstaats unterliegt, die aus der Gestaltung seiner nationalen Politik resultierenden Gründe im Einzelfall als wichtig zu bewerten. 823 Macht ein Mitgliedstaat von seinem Recht aus Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 Gebrauch, so verbleibt den übrigen nur der Versuch, ihn auf dem Rat der Staats- und Regierungschefs im Wege des politischen Dialogs zur Aufgabe seiner Haltung zu bewegen. Dabei mag es sich als vorteilhaft erweisen, dass der sich auf seine Vetomöglichkeit berufende Mitgliedstaat gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EG die Gründe seines Verhaltens offen legen muss. 819 Zur einhelligen Kritik in der Literatur vgl. Constantinesco, RtDE 1998, S. 751, 764 f.; Müller-Brandeck-BocqueU Integration 1997, S. 292, 294; La Serre , Politique Étrangère 1999, S. 21, 24 f. 820 Zur Entstehungsgeschichte des Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG vgl. Agence Europe Nr. 6955 vom 16. 4. 1997, S. 2. Von Interesse ist, dass auch der neue britische Regierung Blair bei den Verhandlungen der Regierungskonferenz 1996/1997 auf der Veto-Möglichkeit bestand. Vgl. hierzu Duff \ S. 194. 821 Zum Luxemburger Kompromiss Bleckmann, Europarecht, Rdnrn. 232 ff. 822 Macht ein Ratsmitglied insoweit Einwände geltend, so erfolgt gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG keine Abstimmung. Der Ratsvorsitz muss dann zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen. 823 Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 50; Martenczuk ZEuS 1998, S. 447, 466; Ukrow, ZEuS 1998, S. 141, 149. Für eine gerichtliche Überprüfbarkeit der vorgebrachten wichtigen Gründe nationaler Politik durch den EuGH tritt dagegen Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 762 ein.

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2. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza a) Die Streichung des Veto-Rechts Im Verlaufe der Regierungskonferenz 2000 fand der Vorschlag einer Streichung der in Art. 11 Abs. 1 Uabs. 2 EG eingeräumten Vetomöglichkeit schließlich die Zustimmung aller mitgliedstaatlichen Vertreter. 824 Auf Wunsch Großbritanniens werden die Mitgliedstaaten allerdings weiterhin befugt sein, den Europäischen Rat mit etwaigen Meinungsverschiedenheiten über die Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit zu befassen. 8 2 5 Als Atavismus des jetzigen Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG wird daher die Regelung des Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EGV-Nizza verbleiben. Ihr zufolge muss auf Verlangen jedes einzelnen Mitgliedstaats 826 die Frage nach der Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit dem Europäischen Rat vorgelegt werden, bevor der Rat der Europäischen Union mit qualifizierter Mehrheit über sie beschließen kann. Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit über die tatsächliche Aufhebung der Vetomöglichkeit wurde dem Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EGV-Nizza ein klarstellender Satz 2 hinzugefügt. Diesem zufolge beschließt der Rat nach Befassung des Europäischen Rats ausdrücklich gemäß dem in Art. 11 Abs. 1 Uabs. 1 EGV-Nizza festgelegten Verfahren, also mit qualifizierter Mehrheit und ohne Vetorecht der einzelnen Ratsmitglieder. Nach Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EGV-Nizza können differenzierungskritische Mitgliedstaaten daher nur noch einen Aufschub erreichen, die Begründung verstärkter Zusammenarbeit aber auf rechtlichem Weg nicht verhindern. 827 824 Für eine Streichung der Vetomöglichkeit hatte sich bereits vor Beginn der Regierungskonferenz die Kommission stark gemacht. Vgl. die Stellungnahme der Kommission vom 26. 1. 2000, Institutionelle Reform für eine erfolgreiche Erweiterung, KOM (2000) 34, 36. Nach Beginn der Vertragsverhandlungen machten sich das Europäische Parlament (vgl. die Entschließung A5-0288/2000 zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 12), Deutschland und Italien (vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 4) sowie die Benelux-Länder (vgl. CONFER 4787/00 vom 19. 10. 2000, S. 5) zu den Wortführern dieser Verfahrensmodifikation. 825 Nach dem derzeit geltenden Art. 11 Abs. 2 Uabs. EG kann nicht der Europäische Rat, sondern der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs zusammentretende Rat der Europäischen Union befasst werden. Nur im Europäischen Rat ist zusätzlich der Kommissionspräsident vertreten. Vgl. Art. 4 Uabs. 2 EU. 826 Nach dem bislang geltenden Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG setzt die Befassung des Europäischen Rats dagegen einen Mehrheitsbeschluss des Rats der Europäischen Union voraus. 827 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 139; Hatje , EuR 2001, S. 143, 163; Rafols , Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 181. 14 Kellerbauer

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

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b) Die Einführung

des parlamentarischen

Zustimmungserfordernisses

Das Europäische Parlament hatte sich im Verlaufe der Regierungskonferenz wiederholt dafür eingesetzt, das Erfordernis einer parlamentarischen Zustimmung in das Einsetzungsverfahren aufzunehmen. 828 Dieser Forderung wurde im Vertrag von Nizza für die erste Säule teilweise stattgegeben. Neben der fortgeltenden allgemeinen Pflicht zur Anhörung des Europäischen Parlaments in Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 S. 1 EGV-Nizza bedarf künftig die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit gem. Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 EGV-Nizza dann der Zustimmung der Mehrheit der europäischen Parlamentarier, wenn sie Regelungsmaterien betrifft, bei denen das Europäische Parlament im Verfahren der Mitentscheidung gem. Art. 251 EG zu beteiligen i s t . 8 2 9 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass sich das Parlament aus grundsätzlichen Erwägungen heraus bei Regelungsmaterien, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen befugt ist, gegen die Zulässigkeit verstärkter Zusammenarbeit ausgesprochen hat. 8 3 0 Bliebe das Parlament dieser Auffassung treu, so müsste es sich gerade in den Bereichen, in denen ihm nach Art. 11 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 EGV-Nizza ein besonderer Einfluss auf das Einsetzungsverfahren eingeräumt wurde, einer verstärkten Zusammenarbeit prinzipiell entgegenstellen. Schließlich beschließt der Rat im Verfahren der Mitentscheidung grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit. 8 3 1 VI. Das Einsetzungsverfahren für die dritte Säule 1. Die Regelung des Vertrags von Amsterdam Das Verfahren zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule ist in Art. 40 Abs. 2 EU geregelt. Es gleicht der Einsetzungsprozedur in der ersten Säule insoweit, als es ebenfalls in einem Antrag der interessierten Mitgliedstaaten seinen Ausgangspunkt nimmt und die Mitwirkung von Kommission, Rat und Europäischem Parlament erfordert. Entspre828

Vgl. Europäisches Parlament, Entschließung A5-0288/2000 vom 25. 10. 2000, Z. 13; Entschließung vom 13. 4. 2000, ABl. EG 2000 Nr. C 40/415. 829 Eine Übersicht der Rechtsgrundlagen, die seit dem Vertrag von Amsterdam dem Mitentscheidungsverfahren unterliegen, findet sich bei Schoo, in Schwarze, Art. 251 EGV Rdnr. 6. 830 Ygj Die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Regierungskonferenz vom 13. 3. 1997, ABl. EG 1999 Nr. C 115/167. 831 Zum Mitentscheidungsverfahren ausführlich Streinz, Europarecht, Rdnrn. 451 ff.

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chend ihrer intergouvernementalen Struktur konzentriert sich das Begründungsverfahren in der dritten Säule aber auf den Rat. Der Kommission ist kein Initiativrecht zugebilligt. Ihr muss gem. Art. 40 Abs. 2 Uabs. 1 EU lediglich die Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden. Ebenso wenig besteht eine Pflicht zur Anhörung des Europäischen Parlaments. Die Europaabgeordneten haben gem. Art. 40 Abs. 2 Uabs. 1 Hs. 2 EU nur einen Anspruch darauf, dass ihnen der mitgliedstaatliche Antrag zugeleitet wird. Es kommt nach Art. 40 Abs. 2 Uabs. 1 EU ausschließlich dem Rat zu, über die beantragte Ermächtigung mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. Mangels eines vorausgegangenen Kommissionsvorschlags ist dabei neben einer Mindestanzahl von 62 der nach Art. 205 Abs. 2 EG zu gewichtenden Stimmen auch die Zustimmung von zumindest zehn der Ratsmitglieder erforderlich. 832 Gem. Art. 40 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EU ist es jedem Mitgliedstaat auch in der dritten Unionssäule gestattet, die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit „aus wichtigen Gründen der nationalen Politik" zu verhindern. Anders als in Art. 11 Abs. 2 Uabs. 2 EG ist für diesen Streitfall aber keine Anrufung des in Zusammensetzung des Staats- und Regierungschefs tagenden Rats der Europäischen Union vorgesehen. Vielmehr räumt Art. 40 Abs. 2 Uabs. 2 S. 2 EU die Möglichkeit ein, die Angelegenheit an den einstimmig beschließenden Europäischen Rat zu verweisen. Nur in Letzterem ist gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EU auch der Präsident der Kommission vertreten und zwar nach h.M. als gleichberechtigtes Mitglied mit Anwesenheitsund Stimmrecht. 833 Es ist daher davon auszugehen, dass auch der Kommissionspräsident sein Stimmrecht dazu nutzen kann, die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit zu vereiteln. Von Bedeutung wird dies, wenn das den Einsetzungsbeschluss behindernde EU-Mitglied auf Drängen der übrigen von den geltend gemachten Gründen nationaler Politik abrückt. Werden hierbei Kompromisse getroffen, die in den Augen der Kommission den Interessen der Europäischen Union zuwiderlaufen, kann der Kommissionspräsident der intendierten engeren Kooperation seine Zustimmung versagen. Die ihm hierbei zukommende Vetomöglichkeit, die in der Praxis nur bei besonders umstrittenen Differenzierungsvorhaben eine Rolle spielen wird, führt zu einer Aufwertung der ansonsten schwachen Stellung der Kommission im Einsetzungsverfahren der dritten Säule.

832

Insoweit ordnet Art. 40 Abs. 2 Uabs. 3 EU an, was sich auch aus einem Verweis auf Art. 205 EG ergeben hätte. 833 Vgl. Stumpf,; in Schwarze, Art. 4 EUV Rdnr. 12; Wichard, in Calliess/Ruffert, Art. 4 EUV Rdnr. 7, jeweils m.w.N. 1*

212

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

2. Die Änderungen durch den Vertrag von Nizza Durch den Vertrag von Nizza wird das Verfahren zur Einleitung einer verstärkten Zusammenarbeit im dritten Unionspfeiler dem der ersten Säule angenähert. Die an einer Ermächtigung zur Begründung einer engeren Kooperation interessierten Mitgliedstaaten ersuchen gem. Art. 40a Abs. 1 S. 1 EUV-Nizza künftig zunächst die Kommission darum, einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen. 834 Gem. Art. 40a Abs. 1 S. 2 EUV-Nizza kann dieser Antrag unter Mitteilung der maßgeblichen Gründe abgelehnt werden. Im Unterschied zum Einsetzungsverfahren in der ersten Säule müssen sich die Antragssteiler aber mit einer solchen Ablehnung nicht abfinden. Art. 40a Abs. 1 S. 3 EUV-Nizza zufolge können sie vielmehr nun ihrerseits dem Rat die verweigerte Initiative unterbreiten. Der Rat entscheidet daraufhin gem. Art 40a Abs. 2 S. 1 EUV-Nizza mit qualifizierter Mehrheit, und zwar entweder über den von der Kommission vorgelegten Vorschlag oder über die mitgliedstaatliche Initiative. Im letzteren Fall ist entsprechend des derzeit geltenden Art. 40 Abs. 2 Uabs. 3 S. 2 EU davon auszugehen, dass für einen Beschluss die Zustimmung von mindestens zehn der Ratsmitglieder erforderlich i s t . 8 3 5 Auch in der dritten Säule wird es den Mitgliedstaaten künftig nicht mehr möglich sein, die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit „aus wichtigen Gründen der nationalen Politik" zu verhindern. Allerdings ist es den Rats Vertretern nach Art. 40a Abs. 2 Uabs. 2 EUV-Nizza weiterhin gestattet, den Europäischen Rat mit der Angelegenheit zu befassen. 836 Künftig ist diese Option für die Mitgliedstaaten von Bedeutung, welche die Bildung der sich formierenden Pioniergruppe verhindern wollen. Sie können im Europäischen Rat auf die Überzeugungskraft ihrer Position setzen oder die Entstehung der engeren Kooperation durch dessen Befassung zumindest hinauszögern. Im Verlaufe der Regierungskonferenz 2000 blieb unbeachtet, dass der Wegfall der Vetomöglichkeit des Art. 40 Abs. 2 Uabs. 2 S. 1 EU zugleich eine Schwächung der Kommission mit sich bringt. Dem Stimmrecht des 834

Der derzeit geltende Art. 40 Abs. 2 Uabs. 1 EU deutet dagegen darauf hin, dass der mitgliedstaatliche Einsetzungsantrag an den Rat gerichtet werden muss. Eine eindeutige Aussage ist ihm im Hinblick darauf allerdings nicht zu entnehmen. 835 Dies entspricht der Anordnung des Art. 205 Abs. 2 EG Spgstr. 2 für Ratsbeschlüsse ohne vorausgehenden Vorschlag der Kommission in der ersten Säule. 836 Nach dem bislang geltenden Art. 40 Abs. 2 Uabs. 2 EU kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, dass die Streitfrage um die Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit an den Europäischen Rat verwiesen wird. Gem. Art. 40a Abs. 2 S. 3 EUV-Nizza kann dagegen jedes Ratsmitglied dessen Befassung bewirken.

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r ü n g einer verstärkten Zusammenarbeit

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Kommissionspräsidenten im Europäischen Rat wird künftig in besonders strittigen Fällen kein Einfluss mehr auf die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit zukommen. Ferner ist von Interesse, dass der Vertrag von Nizza auch die Rolle des Parlaments im Einsetzungsverfahren der dritten Säule stärkt, obgleich sich hier die Forderung nach einem Zustimmungserfordernis nicht einmal teilweise durchsetzten konnte. An Stelle der durch Art. 40 Abs. 2 EU angeordneten Zuleitung des mitgliedstaatlichen Einsetzungsantrags wird den Europäischen Parlamentariern in Art. 40a Abs. 2 S. 1 EUV-Nizza künftig ein formelles Anhörungsrecht zugestanden.

VII. Das Einsetzungsverfahren des Vertrags von Nizza für die zweite Säule Das Verfahren zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Säule ist in Art. 27c EUV-Nizza geregelt. Es weist Parallelen zum Einsetzungsverfahren in der dritten Unionssäule vor dessen Reform durch den Vertrag von Nizza auf. Entsprechend der intergouvernementalen Struktur der zweiten Säule werden der Kommission und dem Europäischen Parlament in Art. 27c EUVNizza nur unbedeutende Mitwirkungsrechte eingeräumt. Die Rolle der beiden Gemeinschaftsorgane erschöpft sich in einem Recht darauf, dass der Rat ihnen den mitgliedstaatlichen Einsetzungsantrag zur Unterrichtung übermittelt (Art. 27c Uabs. 2 S. 1 EUV-Nizza). Ein formelles Anhörungsrecht des Europäischen Parlaments besteht nicht. 8 3 7 Im Anschluss ist allein die Kommission dazu aufgerufen, zur Kohärenz der beabsichtigten Zusammenarbeit mit dem Handeln der EU-15 Stellung zu nehmen (Art. 27c Uabs. 2 S. 2 EUV-Nizza). Hierdurch kommt die Kommission ihrer Verpflichtung aus Art. 45 EUV-Nizza nach, gemeinsam mit dem Rat die Abstimmung zwischen den partiellen und unionsweiten Integrationsbemühungen sicherzustellen. Die Entscheidung über die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Säule liegt ausschließlich beim Rat, der nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 2 Uabs. 2 und 3 EUV-Nizza zu beschließen hat (Art. 27c Uabs. 2 S. 3 EUV-Nizza). Durch Verweis auf Art. 23 Abs. 2 Uabs. 2 EUVNizza wird jedem Mitgliedstaat die Veto-Möglichkeit eingeräumt, die nach dem Amsterdamer Vertrag bei der Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten und dritten Säule zur Anwendung gelangt. 838 Das neue 837

Vgl. Hatje, EuR 2001, S. 143, 162. Nach 23 Abs. 2 Uabs. 2 EUV-Nizza kann jeder Mitgliedstaat die Abstimmung unter Berufung auf wichtige Gründe der nationalen Politik verhindern. Der 838

214

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Differenzierungsinstrument wird daher mit derselben Blockierungsmöglichkeit in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt, von der die EU-Mitglieder nach gegenwärtiger Rechtslage in den übrigen Unionssäulen Gebrauch machen können.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit Für die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit stellt sich an erster Stelle die Frage, welchen Regeln des Gemeinschafts- und Unionsrechts der Handlungsspielraum und die Grenzen einer verstärkten Zusammenarbeit zu entnehmen sind. Ferner wird im Folgenden dargestellt, unter welchen Voraussetzungen und nach welchem Verfahren die zunächst an der engeren Kooperation unbeteiligten Mitgliedstaaten die Möglichkeit besitzen, sich der Pioniergruppe anzuschließen. Zu Ende dieses Abschnitts wird darauf eingegangen, welche Prüfungskompetenzen dem EuGH bei der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zukommen.

I. Die anwendbaren Regeln und Beschränkungen Eine verstärkte Zusammenarbeit unterliegt während ihrer Durchführung im Grundsatz den allgemeinen primärrechtlichen Regeln der Unionssäule, in der sie begründet wurde. Abweichendes ordnet Titel V I I EU für das Verfahren der Beschlussfassung im Rat und hinsichtlich der Pflichten zur Unterrichtung des Europäischen Parlaments an. Zudem unterliegen die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten zusätzlichen Grenzen, die über die Schranken hinausgehen, die dem herkömmlichen Handeln im Unionsrahmen unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten gesetzt sind. Für die EUMitglieder, die sich an der eingesetzten Pioniergruppe nicht beteiligen, gilt ein besonderes Behinderungsverbot. 1. Der Grundsatz der Geltung der allgemeinen Regeln a) Die verstärkte Zusammenarbeit als EU bzw. EG „im verkleinerten Format" Den Art. 43 Abs. 1 S. 1, Art 40. Abs. 1 S. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 S. 1 EG zufolge sind die Mitgliedstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit zur Inanspruchnahme „der in EGV und EUV vorgesehenen" Handlungsverfahren und -mechanismen ermächtigt. Bereits in dieser Formulierung klingt an, Rat kann mit qualifizierter Mehrheit verlangen, dass die Frage zur einstimmigen Beschlussfassung an den Europäischen Rat verwiesen wird.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

215

dass der Rückgriff auf den institutionellen und rechtlichen Rahmen der EU unter Geltung der Regeln des EGV und des EUV abläuft, die auch für das Tätigwerden der EU-15 maßgeblich sind. 8 3 9 Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten schreiben die grundsätzliche Geltung der allgemeinen Vertragsbestimmungen daneben an verschiedener Stelle ausdrücklich fest: Gem. Art. 11 Abs. 4 EG gelten für die Rechtsakte und Beschlüsse einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule die Gesamtheit der einschlägigen Vorschriften des EGV, sofern die Art. 43, 44 EU oder der Art. 11 EG nicht anderweitige Anordnungen treffen. Unter einem vergleichbaren Vorbehalt erklärt Art. 40 Abs. 4 EU die Vertragsartikel der dritten Säule auf eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen für anwendbar. Zuletzt verfügt Art. 44 Abs. 1 S. 1 EU mit Wirkung für die engeren Kooperationen in beiden Unionssäulen, dass die einschlägigen institutionellen Bestimmungen des EUV und des EGV bei der Annahme von Rechtsakten und Beschlüssen zum Zuge kommen. Demnach bedienen sich die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten der gleichen Rechtsgrundlagen und der gleichen Handlungsinstrumente, die der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft auch unter Zugrundelegung der einheitlichen Integrationsmethode zur Verfügung stehen. 8 4 0 Prinzipiell gelten die Gesamtheit der Verfahrens- und Formvorschriften, die auch in den herkömmlichen Rechtsetzungsverfahren zur Anwendung gelangen. 841 Dies hat insbesondere zur Folge, dass die Gemeinschaftsorgane in deren herkömmlicher Zusammensetzung und entsprechend der in der jeweiligen Handlungsermächtigung vorgesehenen Vorgaben 842 an einer verstärkten Zusammenarbeit mitwirken. 8 4 3 Sind für die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Grundsatz die allgemeinen Regeln von EUV und EGV maßgeblich, so funktioniert diese wie eine Europäische Union oder Europäische Gemeinschaft „ i m verkleinerten Format". 8 4 4

839

Vgl. Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 168. Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 72. 841 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 20; Lenz, in Lenz, Art. 11 EGV Rdnr. 22. 842 Z.B. Vorschlagsrecht der Kommission, Anhörung des Europäischen Parlaments, die Zusammenarbeit mit ihm oder seine Mitentscheidung, Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses oder des Ausschusses der Regionen. 843 Vgl. Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 169 f. Zu den Ausnahmen siehe unten, Teil 2 C.I.2. 844 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 71. 840

216

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

b) Die Unabänderlichkeit

der anzuwendenden allgemeinen Regeln

Die in Art. 40 Abs. 4, Art. 44 Abs. 1 S. 1 EU und Art. 11 Abs. 4 EG getroffenen Anordnungen können als Regeln des Primärrechts weder durch den Ratsbeschluss zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit noch durch die im Verlaufe einer verstärkten Zusammenarbeit gefassten Durchführungsbeschlüsse eine Abänderung erfahren. Daher gelten von dem Grundsatz, dass auf eine verstärkte Zusammenarbeit die herkömmlichen vertraglichen Vorschriften Anwendung finden, nur dort Ausnahmen, wo diese in den Verträgen vorgesehen sind oder im Wege einer Vertragsänderung nach Art. 48 EU normiert werden. 845 Im Übrigen ist es einer verstärkten Zusammenarbeit nicht gestattet, von den in EUV und EGV geregelten Vorgaben abzuweichen. 846 Die Möglichkeit, über das neue Differenzierungsinstrument auch die Entscheidungsverfahren der Europäischen Union weiterzuentwickeln, ist damit ausgeschlossen.847 Falls eine Handlungsermächtigung den Erlass von Maßnahmen nur im Wege einstimmiger Beschlussfassung erlaubt, sind weder die an einer verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten noch die EU-Mitglieder in ihrer Gesamtheit dazu befugt, dieses Erfordernis für die Rechtsetzung im engeren Teilnehmerkreis zu modifizieren. Ebenso wenig können die verstärkt kooperierenden Mitgliedstaaten in Form von Verordnungen tätig werden, wo die einschlägigen Kompetenzgrundlagen des EGV nur die Handlungsform der Richtlinie vorsehen. Dieses unabänderliche Korsett der allgemeinen Bestimmungen ist im Hinblick darauf, dass sich das Integrationspotential einer Avantgarde im Unionsrahmen auch in deren Bereitschaft zur effizienterer Verfahrensgestaltung ausdrückt, kritisch zu betrachten. 848 Im Verlauf der Regierungskonferenz 2000 wurde erwogen, den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten die Möglichkeit zuzugestehen, ihre intern geltenden Regeln den Bedürfnissen entsprechend abzuändern. Der Vorsitz hinterfragte, ob bei Vorliegen eines Einverständnisses aller beteiligten Mitgliedstaaten nicht Abweichungen von den allgemeinen Vorschriften zugelassen werden sollten, wie etwa die Möglichkeit der Ausweitung einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit oder eine längere Vorsitzdauer 845 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 120 f.; Janning/Giering, Integration 2001, S. 146, 150 f. 846 Vgl. Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 120 f. 847 Vgl. Janning, in Weidenfeld, S. 203, 212. 848 Ebenso Janning/Giering, Integration 2001, S. 146, 150 f. Der Club von Florenz, S. 153 weist zu Recht darauf hin, dass die Anziehungskraft einer Avantgarde auf die an ihr unbeteiligten Mitgliedstaaten auch davon abhängt, dass die Pioniergruppe durch eine effizientere Organisation und verbesserte Funktionsweise Alternativen zu den herkömmlichen Entscheidungsstrukturen in der Union aufzuzeigen vermag.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

217

im Rat. 8 4 9 Da sich diese Initiative schließlich nicht durchsetzen konnte, wird der Vertrag von Nizza insoweit keine Änderungen der derzeitigen Rechtslage herbeiführen.

2. Die anwendbaren Sonderregeln a) Die institutionellen

Modifikationen

aa) Der Ausschluss der Nichtteilnehmerstaaten im Rat Soweit die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit vom Grundsatz der Geltung der allgemeinen Regeln Ausnahmen machen, betreffen diese zuvörderst die mitgliedstaatlichen Einflussmöglichkeiten im Rat. Entsprechend der übrigen in dieser Arbeit untersuchten teilnahmebezogenen Differenzierungen nehmen auch bei der Rechtsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit nur die Ratsvertreter der dem höheren Integrationsniveau angehörenden Mitgliedstaaten an der Beschlussfassung teil (Art. 44 Abs. 1 S. 2 EU). Im Fall der einstimmigen Beschlussfassung werden ausschließlich die Stimmen der Ratsmitglieder berücksichtigt, deren Mitgliedstaaten an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt sind (Art. 44 Abs. 1 S. 4 EU). An den vorausgehenden Beratungen im Rat dürfen sich dagegen die Ratsvertreter aller Mitgliedstaaten beteiligen. 850 Statt dem Modell des Maastrichter Sozialprotokolls wurde insoweit dem Vorbild der differenzierten Wirtschafts· und Währungsunion gefolgt. Die Vermeidung eines völligen Ausschlusses einzelner Mitgliedstaaten im Rat ist angesichts des Ziels ihrer baldmöglichsten Wiedereinbindung sinnvoll. bb) Die abweichenden Abstimmungsregeln im Rat Als qualifizierte Mehrheit im Rat einer verstärkten Zusammenarbeit gilt gem. Art. 44 Abs. 1 S. 3 EU der in Art. 205 Abs. 2 EG festgelegte Anteil der gewichteten Stimmen der Ratsvertreter, deren Mitgliedstaaten an der engeren Kooperation teilnehmen. Nach Art. 205 Abs. 2 EG sind 62 der 87 Stimmen erforderlich. Für einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss bedarf es demnach etwa 71, 26% (62 χ 100 : 87) der abgegebenen Stimmen. 8 5 1 Vor849

Vgl. CONFER 4761/00 vom 18. 7. 2000, S. 4. So die ausdrückliche Anordnung in Art. 44 Abs. 1 S. 2 EU. 851 Berücksichtigt man den sog. „Kompromiss von Ioannina", demzufolge der Rat besondere Anstrengungen zu unternehmen verpflichtet ist, um zu Lösungen zu gelangen, die mit mindestens 65 der Stimmen im Rat angenommen werden können, ergibt sich ein noch weitgehenderes Erfordernis von etwa 74, 71% der Stimmen. Zum Kompromiss von Ionannina Geiger, Art. 205 EGV Rdnrn. 16 ff. 850

218

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

schritten über eine Auf- oder Abrundung dieser Zahl finden sich in Art. 44 EU nicht. Dies kann jedoch für den Erfolg oder das Scheitern eines Beschlusses im Einzelfall ausschlaggebend sein. 8 5 2 Auffallend ist, dass der für einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss erforderliche Stimmanteil damit deutlich über dem liegt, der sich aus den institutionellen Modifikationen der teilnahmebezogenen Differenzierungen des Maastrichter Vertrags ergibt. In der gemeinsamen Sozialpolitik und der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion waren bzw. sind nämlich jeweils nur etwa zwei Drittel der abgegebenen gewichteten Stimmen erforderlich. 8 5 3 Das Fortbestehen der in Art. 205 Abs. 2 EG vorgesehenen Stimmengewichtung im Rat bei gleichzeitiger Verringerung der abstimmungsberechtigten Mitgliederzahl lässt überdies die Stimmen der größeren Staaten einen überproportionalen Einfluss ausüben. 854 Dies gilt insbesondere dann, wenn die übrigen Teilnehmerstaaten eine geringe Bevölkerungszahl aufweisen und daher im Rat ein geringes Stimmgewicht aufbringen. Sind Beschlüsse nach dem EGV ohne vorhergehenden Kommissionsvorschlag zu fassen, normiert Art. 205 Abs. 2 EG das Erfordernis der Zustimmung von mindestens zehn, also zwei Dritteln der Mitgliedstaaten. Aus der grundsätzlichen Geltung der allgemeinen Vorschriften folgt die Aufrechterhaltung dieses Proporzes für die Beschlussfassung einer verstärkten Zusammenarbeit. 855 In dem erwähnten Fall müssen die abgegebenen Stimmen demnach die Zustimmung von mindestens zwei Drittel der an der Pioniergruppe beteiligten Mitglieder umfassen. cc) Die Geltung der allgemeinen Regeln für die übrigen Organe Im Einklang mit den im ersten Teil dieser Arbeit untersuchten Differenzierungsformen ordnet Art. 44 EU für die übrigen Gemeinschaftsorgane keine abweichenden Regeln über die Zusammensetzung oder Beschlussfassung an. Alle Organwalter besitzen daher im Europäischen Parlament, der Kommission, dem EuGH und dem Rechnungshof die herkömmlichen Mitwirkungsrechte, wenn diese Organe für eine verstärkte Zusammenarbeit 852 Vgl. hierzu die Zahlenbeispiele bei Griller /Droutsas/ F alkner /For gó/N entwich, S. 228 f. Die Autoren treten stets für eine Aufrundung ein. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum diese Frage in Ermangelung vertraglicher Vorgaben nicht den verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten selbst zur Regelung überlassen werden sollte. 853 Vgl. Ziffer 2 S. 2 Sozialprotokoll bzw. Art. 122 Abs. 5 EG. 854 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 72. 855 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 72. Der Vertrag von Nizza stellt dies in Art. 44 Abs. 1 S. 3 EUV-Nizza klar.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

219

ihre Befugnisse wahrnehmen. Damit wurde insbesondere den im Vorfeld der Regierungskonferenz 1996/1997 erneut laut gewordenen Forderungen des Europäischen Parlaments Rechnung getragen, an der Rechtsetzung verstärkter Zusammenarbeit in institutioneller Einheit mitzuwirken. 8 5 6 Da im vornherein nicht bestimmbar ist, welche Mitgliedstaaten nach Titel V I I EU enger zusammenarbeiten werden, kann die Beibehaltung der herkömmlichen Einflussmöglichkeiten der aus den Nichteilnehmerstaaten stammenden europäischen Abgeordneten allerdings weitaus gewichtigere Folgen haben, als dies im Verlauf der bislang zu beobachtenden teilnahmebezogenen Differenzierungen der Fall war. Während bisher maximal ein größerer Mitgliedstaat an den im Unionsrahmen gebildeten europäischen Pioniergruppen nicht teilnahm, kann eine verstärkte Zusammenarbeit gem. Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU auch nur aus acht der bevölkerungsschwächsten EU-Mitgliedern gebildet werden. Werden Letztere auf Grundlage des Titels V I I EU rechtsetzend tätig, verdanken deutlich mehr als zwei Drittel der abstimmungsberechtigten Abgeordneten ihr Mandat der Wahl in einem Mitgliedstaat, für den die erlassenen Rechtsakte keine Geltung beanspruchen. 8 5 7 Die in den Nichtteilnehmerstaaten gewählten Parlamentarier besitzen in diesem und ähnlich gelagerten Fällen eine komfortable Mehrheit, mit der sie die verstärkte Zusammenarbeit in die von ihnen gewünschte Richtung beeinflussen und im Anwendungsbereich des Verfahrens der Mitentscheidung (Art. 251 EG) blockieren können. 8 5 8 Die dargestellte Marginalisierung der den Teilnehmerstaaten entstammenden Abgeordneten wird sich nach den zu erwartenden EU-Beitrittsrunden noch verschärfen, wenn der neue Art. 43 lit. g) EUV-Nizza die Mindestteilnehmerzahl einer verstärkten Zusammenarbeit auf acht fixiert. Ab diesem Zeitpunkt ist es denkbar, dass Europaabgeordnete aus 27 Mitgliedsländern auf einen Rechtsetzungsvorgang einwirken, der für weniger als ein Drittel der EU-Mitglieder bindende Wirkung entfaltet. 859 Unter Berücksichtigung der legitimationsabstützenden Funktion, die dem Europäischen Parlament bei den Rechtset856 ygi Europäisches Parlament, Entschließung vom 17. 5. 1995 zur Funktionsweise des Vertrags über die Europäische Union im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996, ABl. EG 1995 Nr. C 151/62; Entschließung vom 16. 7. 1998 zur Umsetzung des Vertrags von Amsterdam, ABl. EG 1998 Nr. C 292/143. 857 Vgl. die Zahlenbeispiele bei Griller/Droutsas/Falkner/F orgó/N entwich, S. 232. 858 Der Club von Florenz, S. 152 spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von „absurden Ergebnissen". Ähnlich die Kritik bei Griller/Droutsas/Falkner/Forgó / Ν entwich, S. 232. Der institutionelle Ausschuss des Europäischen Parlaments schlägt für die dargestellten Fälle vor, unbillige Abstimmungsergebnisse mit Mitteln der Geschäftsordnungshoheit auszuschließen. Vgl. den Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen de Vigo/Tsatsos über den Vertrag von Amsterdam vom 5. 11. 1997, (C4 - 0538/97), S. 239.

220

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

zungsvorgängen in der EU zukommt, 8 6 0 spricht bei solchen Beteiligungskonstellationen auch das Demokratieprinzip gegen die Beibehaltung der herkömmlichen Abstimmungsregeln. 861 b) Die besonderen Unterrichtung s - und Koordinationspflichten In Ergänzung zu der herkömmlichen Aufgabenstellung der Gemeinschaftsorgane ordnet Art. 45 EU an, dass der Rat und die Kommission das Europäische Parlament über den Verlauf der existierenden verstärkten Kooperationen unterrichten müssen. Dem Parlament kommt hierdurch eine zusätzliche Kontroll- und Überwachungszuständigkeit zu, die neben die Kompetenzen tritt, die ihm nach den allgemeinen Verfahrensvorschriften eingeräumt sind. 8 6 2 Mit Inkrafttreten des Vertrags von Nizza wird diese Informationsverpflichtung gegenüber dem Parlament aufgehoben. Statt dessen verpflichtet der neue Artikel 45 EUV-Nizza den Rat und die Kommission zu der gemeinsamen Bemühung, die Kohärenz der unter dem Dach der Europäischen Union betriebenen Integrationsvorhaben sicherzustellen. Den beiden Gemeinschaftsorganen fällt die Aufgabe zu, für eine Abstimmung der verschiedenen partiellen und gesamtgemeinschaftlichen Integrationsbestrebungen zu sorgen. Dieser Auftrag wird sich nach der Neuregelung des Art. 43 lit. g) EUV-Nizza dadurch erschweren, dass im gleichen Sachbereich künftig konkurrierende Teilnehmerkreise eine verstärkte Zusammenarbeit begründen können. 8 6 3 Eine weitere Abweichung von den herkömmlich anzuwendenden Vorschriften ordnet der Vertrag von Nizza in einem neuen Art. 27d EUV-Nizza für die zweite Säule an. Den Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik trifft die Pflicht, das Europäische Parlament und alle Ratsmitglieder vollumfänglich über den Verlauf einer verstärkten Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu unterrichten. Dies soll der Kohärenz und Geschlossenheit der in unterschiedlichen 859 Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 156 beschreibt die Aufrechterhaltung der herkömmlichen Abstimmungsregeln im Europäischen Parlament für diesen Fall zutreffend als unhaltbar. 860 Ygi hierzu das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 89, 155, 185 f. 861 Vgl. Huber, EuR 1996, S. 347, 360. 862 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 72. 863 In der nach künftiger Rechtslage zulässigen Koexistenz konkurrierender Kooperationen im selben Sachbereich sieht Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 138 das Hauptmotiv für die veränderte Pflichtenstellung von Kommission und Rat in Art. 45 EUV-Nizza.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

221

mitgliedstaatlichen Teilnehmerkreisen betriebenen europäischen Außenpolitik dienen. 8 6 4 Ein Einfluss auf die Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit oder den Beitritt zu einer solchen kommt dem Hohen Vertreter dagegen nicht zu. c) Das Verbot zur Behinderung einer verstärkten

Zusammenarbeit

Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit unterwerfen auch die an einer engeren Kooperation unbeteiligten Mitgliedstaaten besonderen rechtlichen Vorgaben. Letztere beschränken sich allerdings auf die Normierung einer spezifischen Unterlassenspflicht in Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU. Die Nichtteilnehmerstaaten sind hiernach verpflichtet, der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht im Weg zu stehen. Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU ist als Konkretisierung des in Art. 10 EG verankerten Grundsatzes der Gemeinschaftstreue zu verstehen, 865 der aufgrund seiner Verortung in dem auf alle Unionssäulen anwendbaren Titel V I I EU nicht nur im supranationalen Pfeiler Wirkung entfaltet. Allerdings ist die Formulierung des Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU ähnlich allgemein gehalten wie die des Art. 10 EG. Konkrete Aussagen über den Inhalt dieser Pflicht zur NichtStörung lassen sich daher nur für den jeweiligen Einzelfall treffen. 866 3. Die besonderen Grenzen Gelten für eine verstärkte Zusammenarbeit im Grundsatz die allgemeinen unions- und gemeinschaftsrechtlichen Vertragsbestimmungen, ist sie damit auch all den rechtlichen Beschränkungen unterworfen, die im Falle eines Vorgehens der EU-15 Geltung beanspruchen. In zweifacher Hinsicht ist der Handlungsspielraum der verstärkt kooperierenden Mitgliedstaaten darüber hinaus enger gezogen als der, welcher für ein Vorgehen unter Einbeziehung der Gesamtheit der EU-Mitglieder maßgeblich ist. Zum einen setzen die in den Art. 43 Abs. 1 EU, 40 Abs. 1 EU und 11 Abs. 1 EG normierten Bedingungen einer verstärkten Zusammenarbeit besondere Grenzen, die nicht nur auf deren Begründung, sondern 864

So die Erwägungen des deutsch-italienischen Positionspapiers, das für die Einfügung des Artikel 27d EUV-Nizza plädiert hatte. Vgl. CONFER 4783/00 vom 6. 10. 2000, S. 5. 865 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 373; Martin /Ή anelar es, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 221 f. 866 Sehr weitgehend im Hinblick hierauf Gaja, CMLRev 1998, S. 833, 868, demzufolge das Gebot der NichtStörung auch die Pflicht enthalte, die kompetitiven Vorteile, die aus der Nichtteilnahme an einer verstärkten Zusammenarbeit resultieren, nicht über Gebühr auszunutzen.

222

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

ebenso auf deren anschließende Durchführung Anwendung finden. Zum anderen ist einer verstärkten Zusammenarbeit die Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union nur in dem Umfang gestattet, in dem sie durch Ratsbeschluss dazu ermächtigt wurde. a) Die aus den Einsetzungsvoraussetzungen

folgenden Beschränkungen

Art. 43 Abs. 1 EU zufolge muss „die Zusammenarbeit" den in den Art. 43 Abs. 1 EU, Art. 40 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG formulierten Anforderungen genügen. Hierbei klingt an, dass der Anwendungsbereich der in den genannten Artikeln enthaltenen Voraussetzungen nicht auf das Verfahren zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit beschränkt ist. Der Wortlaut deutet vielmehr darauf hin, dass diese Anforderungen gleichermaßen für die Begründung wie für die anschließende Durchführung der Kooperation zum Rechtsmäßigkeitsmaßstab werden. 867 Hierfür spricht auch, dass sich oftmals erst im Verlauf der Rechtsetzungstätigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit feststellen lässt, ob diese mit den Art. 43 Abs. 1 EU, Art. 40 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG im Einklang steht. Wettbewerbsverzerrungen und Handelsbeeinträchtigungen (Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG), Beeinträchtigungen von Gemeinschaftspolitiken, -aktionen oder -Programmen (Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG), eine Überschreitung der Gemeinschaftskompetenzen (Art. 11 Abs. 1 lit. d) EG) sowie eine Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Besitzstands (Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU) stellen sich zumeist bei der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit ein, ohne dass der Eintritt dieser vertraglich missbilligten Wirkungen bereits im Zeitpunkt des Einsetzungsbeschlusses vorhersehbar wäre. Auch der in Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU normierte Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit wird sich vornehmlich dann Beeinträchtigungen ausgesetzt sehen, wenn der Beitritt der Nichtteilnehmerstaaten in der weiteren Entwicklung einer engeren Kooperation erschwert oder verhindert wird. b) Die durch den Einsetzungsbeschluss gezogenen Grenzen Gem. Art. 43 Abs. 1 lit. h) EU sind die an einer verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten nur in dem Umfang einer ordnungsgemäß erteilten Ermächtigung zur Inanspruchnahme der Verfahren, Mechanismen und Organe von EUV und EGV befugt. Dem ermächtigenden Einsetzungs867

In der französischen Sprachfassung könnte der Zusatz „envisagée" dafür angeführt werden, dass nur die in Angriff genommene und nicht die tatsächlich durchgeführte Zusammenarbeit den bezeichneten Anforderungen genügen muss. Eine entsprechende Formulierung findet sich aber weder in der englischen noch in der niederländischen Version.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

223

beschluss des Rats kommt es daher zu, den zulässigen Handlungsspielraum und damit zugleich die genaueren Grenzen einer verstärkten Zusammenarbeit festzulegen. 868 Dabei finden sich weder in den allgemeinen Bestimmungen der Art. 43 ff. EU noch in den säulenspezifischen Vorschriften des ersten und dritten Pfeilers Aussagen darüber, wie konkret der Anwendungsbereich einer verstärkten Zusammenarbeit formuliert werden muss. Soll dem Ratsbeschluss zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit eingrenzende Funktion zukommen, ist jedoch zu fordern, dass dieser eine hinreichende Bestimmtheit aufweist. 869 Eine Blankovollmacht zu einem Integrationsvorhaben beliebigen Inhalts wäre auch mit dem ultima-ratio-Erfordernis des Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU nicht vereinbar. Wenn eine verstärkte Zusammenarbeit nur als letztes Mittel bei Scheitern unionseinheitlicher Lösungen zulässig ist, dann darf zu ihr nur in einem zeitlichen und sachlichen Umfang ermächtigt werden, in dem der Rat das Fehlschlagen einer die Gesamtheit der Mitgliedstaaten einbeziehenden Lösung prognostizieren kann. Besteht ein Interesse daran, eine verstärkte Zusammenarbeit im späteren Verlauf über die ursprünglich erteilte Ermächtigung hinaus auszuweiten, muss der Rat zunächst erneut feststellen, dass sich über die Integrationsschritte in den dortigen Bereichen kein Konsens aller Mitgliedstaaten erzielen lässt. Anschließend bedarf es einer Erweiterung der Ermächtigung, bei der die gleichen materiellen und prozeduralen Regeln zur Anwendung kommen wie bei ihrer erstmaligen Erteilung. 8 7 0 Überschreiten die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten die Grenzen, die ihr durch den Einsetzungsbeschluss gesetzt sind, sind sie zur Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und Mechanismen von EGV und EUV nicht ermächtigt. Ihr Handeln stellt eine Vertragsverletzung dar, der vor dem EuGH im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 227-229 EG) Einhalt geboten werden muss. Die Rechtsakte, deren Erlass sich als Überschreitung der erteilten Ermächtigung darstellen, können sich auf keine der in EGV und EUV enthaltenen Handlungsbefugnisse stützen. Sie sind deshalb infolge eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 EG bzw. Art. 5 EU rechtswidrig.

868

Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 49 f.; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 74; Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnrn. 25 f. 869 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 26. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 74 fordert eine Eingrenzung des Handlungsbereichs „de manière extrêmement précise". 870 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnrn. 25 f.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

c) Die Zulässigkeit der Ausübung von Außenkompetenzen Im Unterschied zu Art. 111 EG, der den in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eingetretenen Mitgliedstaaten ausdrücklich die Befugnis ausspricht, im Namen der Europäischen Gemeinschaft Außenkompetenzen auszuüben, enthalten die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit keine Aussagen darüber, ob es der europäischen Pioniergruppe in der ersten oder dritten Säule gestattet ist, sich der Befugnisnormen von EUV und EGV zu bedienen, die zu einem Handeln gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen ermächtigen. 871 Die Antwort auf diese Frage erfordert eine Unterscheidung zwischen den unterschiedlich strukturierten Unionspfeilern. Da die Europäische Union nach h.M. kein Völkerrechtssubjekt ist, muss in der dritten Säule nur geklärt werden, ob die Mitgliedstaaten die dortigen Außenkompetenzen 872 zu nutzen berechtigt sind. 8 7 3 Für eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Säule ist dagegen zusätzlich zu prüfen, ob sich die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten bei ihrem Handeln der Völkerrechtspersönlichkeit der Europäischen Gemeinschaft bedienen dürfen. aa) Die grundsätzliche Zulässigkeit Für die Zulässigkeit der Wahrnehmung von Außenbefugnissen lässt sich in der ersten wie in der dritten Säule die prinzipielle Geltung der allgemeinen vertraglichen Bestimmungen anführen. 874 Weder Art. 11 Abs. 4 EG noch Art. 40 Abs. 4 EU lassen darauf schließen, dass die Vertragsartikel, die der Gemeinschaft oder den im Namen der Europäischen Union handelnden Mitgliedstaaten Außenkompetenzen einräumen, 875 von der angeordneten Geltung der herkömmlichen Vorschriften ausgenommen sind. 871

Die Mitgliedstaaten haben dieser Frage bei der Regierungskonferenz 1996/ 1997 trotz ihrer offenkundigen Relevanz keine Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. hierzu Tuytschaever, in Lejeune, S. 405. Der Vertrag von Nizza lässt die verstärkte Zusammenarbeit auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur Anwendung kommen, woraus für die zweite Säule begriffsnotwendig die Zulässigkeit der Ausübung von Außenkompetenzen folgt. Im Hinblick auf die Rechtslage in der ersten und dritten Säule trifft er dagegen keine Aussagen. 872 Gemeint ist die Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Art. 24 EU, die aus der Verweisung in Art. 38 EU erwächst. Dabei handelt es sich streng genommen um eine Handlungsbefugnis der zweiten Unionssäule, die im dritten Unionspfeiler zur Verfügung steht. Vgl. hierzu Thun-Hohenstein, in Breuss/Griller, S. 211, 215 f. 873 Bejahtenfalls sind nach h.M. allein die Mitgliedstaaten Adressat der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten, die im Namen der EU begründet werden. Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 1 EUV Rdnr. 1 sowie zur Gegenauffassung Wichard, in Calliess/Ruffert, Art. 1 Rdnr. 13, jeweils m.w.N. 874 ygi Griller/Droutsas/Falkner/F orgó/N entwich, S. 273.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

225

Für eine grundsätzliche Befugnis der verstärkt kooperierenden Avantgarde, internationale Abkommen mit Drittstaaten und internationalen Organisationen vereinbaren zu dürfen, lässt sich auch ein Vergleich mit den übrigen vertraglich normierten teilnahmebezogenen Differenzierungen anführen. 876 Die differenzierten Außenkompetenzen der Wirtschafts- und Währungsunion nach Art. I l l EG beweisen, dass der Europäischen Union ein internationales Tätigwerden mit Wirkung nur für einen Teil ihrer Mitgliedstaaten nicht fremd i s t . 8 7 7 Ebenso machen Art. 2 ProtUK/IRL und Art. 2 ProtDK durch die Freistellung Irlands, Großbritanniens und Dänemarks von den nach Titel IV EG geschlossenen internationalen Abkommen deutlich, dass sie von einer gemeinschaftlichen Vertragsabschlusskompetenz im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedstaaten ausgehen. 878 Daher ist festzustellen, dass die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten grundsätzlich zur Ausübung von Außenkompetenzen befugt sind. 8 7 9 Die aus der Wirtschafts- und Währungsunion bekannte Problematik differenzierter Außenkompetenzen wird sich demnach auch im Rahmen der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit stellen. Mangels anderslautender Bestimmungen gilt die für die erste Säule in Art. 11 Abs. 4 EG angeordnete Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften auch für Art. 281 EG. In Art. 281 EG kommt der Wille der Mitgliedstaaten zum Ausdruck, der Europäischen Gemeinschaft Völkerrechtsfähigkeit zuzuerkennen. 880 Deshalb darf sich auch eine verstärkte Zusammenarbeit, die im Einsetzungsbeschluss zur Ausübung von Außenkompetenzen ermächtigt wurde, der Völkerrechtspersönlichkeit der Europäischen Gemeinschaft bedienen. 881 Ihr Tätigwerden führt zu einer Verpflichtung der 875

In der ersten Säule sind dies die Vertragsartikel, denen die expliziten wie impliziten Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zu entnehmen sind, im Bereich der dritten Säule Art. 38 EU i.V.m. Art. 24 Uabs. 2 EU. 876 Vgl. Ehlermann, EUI Working Paper, RSC Nr. 95/21, S. 12 f.; Thun-Hohenstein, in Breuss/Griller, S. 211, 214. 877 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 379 f. 878 Vgl. Thun-Hohenstein, in Breuss/Griller, S. 211, 214. 879 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 379 f.; Griller/Droutsas/ Fdlkner/ Forgó/ Nentwich, S. 273 f.; Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 468; Thun-Hohenstein, in Breuss/Griller, S. 211, 214. 880 Vgl. EuGH, Rs. 22/70 (AETR), Slg. 1971, S. 263, 274. 881 Allerdings könnte die Anwendbarkeit des Art. 281 auch so interpretiert werden, dass durch die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit jeweils eine neues, selbständiges Völkerrechtssubjekt zur Entstehung gelangen soll. Hiergegen spricht jedoch, dass sich eine verstärkte Zusammenarbeit nach dem Willen der Amsterdamer Vertragsparteien nicht verselbstständigen und vom Handeln der EG entfremden soll. Auch deshalb ist sie im Prinzip denselben Vorschriften unterworfen wie die unter Einbeziehung aller Mitgliedstaaten tätige EG. Vgl. hierzu Becker, S. 52, Fn. 213; Bribosia, CDE 2000, S. 57, 108. 15 Kellerbauer

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Europäischen Gemeinschaft und nicht wie in der dritten Unionssäule nur zur Bindung der handelnden Mitgliedstaaten. bb) Die geltenden Beschränkungen Grenzen für die Ausübung von Außenkompetenzen ergeben sich aus den allgemeinen Anforderungen der Art. 43 Abs. 1 EU, Art. 40 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG. Die wichtigste Beschränkung stellt insoweit Art. 11 Abs. 1 lit. a) EG dar, der einer verstärkten Zusammenarbeit alle Regelungsmaterien vorenthält, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen. Damit ist die gemeinsame Handelspolitik als der am stärksten außenbezogene Politikbereich der ersten Säule dem Anwendungsbereich des Flexibilisierungsinstruments von vornherein entzogen. 882 In Anbetracht der weitreichenden politischen und rechtlichen Bedeutung, die einem Auftreten im Namen von EU und EG im völkerrechtlichen Rechtsverkehr zukommt, ist überdies denkbar, dass der Rat zur Ausübung von Außenkompetenzen im Beschluss zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit erst gar nicht ermächtigt.

II. Der Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit Eine verstärkte Zusammenarbeit unterteilt die Europäische Union in Teilnehmer- und Nichtteilnehmerstaaten. Eine Möglichkeit zur Aufhebung dieser Spaltung ist das spätere Aufschließen der Letzteren zu dem Integrationsniveau, das sich die europäische Avantgarde erschlossen hat. Da einem Vorgehen der Gesamtheit der EU-Mitgliedstaaten nach den Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit ein grundsätzlicher Vorrang eingeräumt ist, ist davon auszugehen, dass die Beitrittsvorschriften eine zunehmende Beteiligung an den nach Titel V I I EU begründeten Pioniergruppen favorisieren. Insbesondere wird die Kommission auf einen Beitritt der ursprünglich nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten hinwirken, um so die Rechtseinheit in den betroffenen Gemeinschaftspolitiken wieder herzustellen. 883 1. Die Beitritts Voraussetzungen Im Unterschied zu den im ersten Teil dieser Arbeit untersuchten Differenzierungen enthalten die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit detaillierte Verfahrensregeln, denen zu entnehmen ist, wie ein anfänglicher Nichtteilnehmerstaat im späteren Verlauf zu der Avantgarde hinzusto882 883

Vgl. Griller/Droutsas/FaIkner/For gó/Nentwich, S. 273. Vgl. Müller-Brandeck-Bocquet, Integration 1997, S. 292, 294 f.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

227

ßen kann. Bevor im Folgenden auf diese säulenspezifisch normierten Beitrittsverfahren eingegangen wird, werden zunächst die materiellen Beitrittsregeln des Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU dargestellt. Letztere sind auf eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten und in der dritten Säule gleichsam anwendbar. a) Die materiellen Regeln Das Verfahren zur Aufnahme beitrittswilliger Mitgliedstaaten wird von zwei materiellen Prinzipien regiert, die beide in Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU enthalten sind. Im Vordergrund steht der Grundsatz der Offenheit, demzufolge es jedem Mitgliedstaat gestattet ist, sich einer verstärkten Zusammenarbeit sowohl im Begründungsstadium wie in ihrem späteren Verlauf anzuschließen. Der Beitritt zu einer bereits initiierten Kooperation ist jedoch an die ebenso grundlegende Bedingung geknüpft, dass sich das beitrittsinteressierte EU-Mitglied dem Einsetzungsbeschluss und dem zwischenzeitlich geschaffenen Besitzstand unterwirft. aa) Der Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit Gem. Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU muss eine verstärkte Zusammenarbeit allen Mitgliedstaaten offen stehen. Eine Beteiligung kann im Begründungsstadium keinem Mitgliedstaat verweigert werden. 8 8 4 Auch im späteren Verlauf muss es allen Nichtteilnehmerstaaten gestattet sein, sich der verstärkten Zusammenarbeit anzuschließen, wenn die Bereitschaft und Fähigkeit vorhanden ist, den Einsetzungsbeschluss zu befolgen und den im Verlaufe der verstärkten Zusammenarbeit entstandenen acquis communautaire zu überneh885

men. In Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU kommt ein Grundprinzip zum Ausdruck, das bereits in den übrigen teilnahmebezogenen Differenzierungen in unterschiedlicher Ausprägung aufzufinden war und das sich als Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit beschreiben lässt. 8 8 6 Vereinbarungen 884 Infolgedessen kann sich in diesem Zeitpunkt auch ein Mitgliedsland anschließen, das die verstärkte Zusammenarbeit später zu blockieren beabsichtigt. Eine dem Art. 3 Abs. 2 Prot/UK/IRL vergleichbare Vorschrift, die für diesen Missbrauchsfall eine Beschlussfassung ohne den blockierenden Teilnehmerstaat ermöglicht, findet sich in den Bestimmungen des Titels VII EU nicht. Vgl. hierzu die Kritik bei Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 141. 885 Die Unterscheidung zwischen der uneingeschränkten Zulässigkeit einer anfänglichen Teilnahme und dem nur unter weiteren Bedingungen möglichen späteren Beitritt wird durch den Vertrag von Nizza verdeutlicht. Art. 43b EUV-Nizza stellt in einem gesonderten Satz 1 klar, dass eine verstärkte Zusammenarbeit bei ihrer Begründung allen Mitgliedstaaten offen steht. 15*

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

der Teilnehmerstaaten, ihre Kooperation einem bestimmten Kreis von Mitgliedsländern vorzubehalten, sind nach diesem Prinzip unzulässig und unwirksam. 8 8 7 Auch darf der zu übernehmende Beitrittsacquis nicht so gestaltet werden, dass er den Anschluss der übrigen Mitgliedstaaten unnötig erschwert oder behindert. 888 Jedes beitrittswillige EU-Mitglied kann zum Zwecke der Durchsetzung des Grundsatzes der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit den Europäischen Gerichtshof anrufen. 889 bb) Die Pflicht zur Übernahme des entstandenen Besitzstands Der nachträgliche Beitritt zu einer bereits begründeten verstärkten Zusammenarbeit ist gem. Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU einer grundsätzlichen Bedingung unterstellt. Materielles Beitrittserfordernis ist die Verpflichtung, „dem Grundbeschluss und den in jenem Rahmen bereits gefassten Beschlüssen nach[zu]kommen." 890 Der beitrittswillige Mitgliedstaat muss demzufolge die Bereitschaft aufbringen, sich den im Einsetzungsbeschluss zum Ausdruck gebrachten Zielsetzungen und Inhalten des jeweiligen Integrationsvorhabens anzuschließen. Überdies muss er sowohl willens als auch fähig sein, dem seit der Begründung der verstärkten Zusammenarbeit akkumulierten Gemeinschafts- oder Unionsrecht auch in seinem Hoheitsbereich zur Geltung zu verhelfen. 891 Den Gemeinschaftsorganen ist es grundsätzlich verwehrt, einem Mitgliedstaat die Teilnahme zu ermöglichen, wenn dieser nicht dazu in der Lage ist, den aus diesem Besitzstand resultierenden Verpflichtungen nachzukommen. 892 886

Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 373: „Buchstabe g) formuliert das ... essentielle Prinzip der Offenheit". Vgl. auch Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 141; Hatje , in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 29. 887 Vgl. Ukrow , ZEuS 1998, S. 141, 146. 888 Vgl. Ukrow , ZEuS 1998, S. 141, 146. 889 Dies folgt aus Art. 46 lit. c) EU. 890 Dabei ist die Beschränkung dieser Verpflichtung auf die Beschlüsse verstärkter Zusammenarbeit bei Auslassung des Worts „Rechtsakte" auf ein Redaktionsversehen zurückzuführen. Lit. g) meint den gesamten Besitzstand, der sich im Verlauf einer verstärkten Zusammenarbeit herausgebildet hat. Vgl. Thun-Hohenstein, S. 115, Fn. 5. 891 Die Pflicht, dem geschaffenen Besitzstand Geltungsvorrang vor nationalem Recht und unmittelbare Wirksamkeit einzuräumen, betrifft nicht die Rechtsakte, die aus einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten und dritten Säule hervorgehen. 892 Der Beitritt hätte ansonsten die Geltung vertraglicher Verpflichtungen zur Folge, denen der beigetretene Staat nicht nachzukommen in der Lage wäre. Einen gewissen Handlungsspielraum erlangen Rat und Kommission allerdings dadurch, dass sie durch Erlass sog. „spezifischer Regeln" Übergangsregelungen normieren können. Hierin erteilte Ausnahmen und Befreiungen ermöglichen den Beitritt eines Mitgliedstaats, dem die Übernahme des Sonderacquis nicht sofort möglich ist.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

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Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit sehen nicht die Möglichkeit vor, das im engeren Teilnehmerkreis geschaffene Recht bei einem Beitritt nachzuverhandeln. Die Nichtteilnehmerstaaten können keinen nachträglichen Einfluss auf das ohne ihre Mitwirkung gestaltete Recht nehmen, das ab dem Beitrittszeitpunkt auch für sie gilt. Einem verspäteten Beitritt wohnt insoweit auch in der teilnahmebezogenen Differenzierung des Titels V I I EU ein „Sanktionsgehalt" inne, der dazu veranlassen wird, die Entscheidung zur Nichtteilnahme an erfolgsversprechenden Pioniergruppen zu überdenken. Der in Art. 43 Abs. 1 lit. g) letzter Halbsatz EU gewählte Plural 8 9 3 macht überdies deutlich, dass der von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Besitzstand als Ganzes zu übernehmen ist. Ein Beitritt nach Art. 40 Abs. 3 EU oder Art. 11 Abs. 3 EG ist demnach stets ein Beitritt zu den betreffenden Integrationsfortschritten in ihrer Gesamtheit. 894 Ein beitrittsinteressierter Mitgliedstaat kann nicht einzelne Maßnahmen „herausbrechen", um damit der engeren Kooperation nur in Einzelbereichen seine Zustimmung zu erteilen. Ein „pick and choose", das zu einer „coopération à la carte" führen könnte, ist im Gegensatz zu den einzelaktsbezogenen Opt-in-Möglichkeiten im differenzierten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgeschlossen.895 cc) Das Fehlen von Aufholmechanismen Das Integrationsniveau der Europäischen Gemeinschaft stellt besondere Anforderungen an das technische, administrative und wirtschaftliche Potential ihrer Mitglieder. Im Hinblick darauf läuft die rechtlich in Art. 43 Abs. 1 lit. g) EU abgesicherte Beitrittsmöglichkeit Gefahr, sich gegenüber den Mitgliedstaaten entwertet zu sehen, die infolge ihrer sozioökonomischen Situation zur integralen Übernahme des akkumulierten Besitzstands außerstande sind. Manchen Ländern dürfte das für eine Teilnahme erforderliche „Aufholen" nur dann möglich sein, wenn sie zusätzliche technische oder finanzielle Unterstützung erhalten. Ein spezifischer „Aufholmechanismus" zugunsten der hinter einer verstärkten Zusammenarbeit zurückbleibenden Mitgliedstaaten ist in den vertraglichen Bestimmungen aber nicht enthalten, obgleich ein solcher bereits von der Reflexionsgruppe empfohlen 896 und im späteren Verlauf der Ver893

„den ... bereits gefassten Beschlüssen", Hervorhebung d. Verfassser. Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 33, der die Möglichkeit eines teilweisen Beitritts zu einer verstärkten Zusammenarbeit wegen ihrer fehlenden Erwähnung in den vertraglichen Bestimmungen ablehnt. 895 Zu den Opt-in-Möglichkeiten nach Art. 3 ProtUK/IRL und Art. 5 SchengenProtokoll siehe oben, Teil 1 D.II.3.b)aa) bzw. D.III.2.d). 894

230

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

handlungen der Regierungskonferenz vom Europäischen Parlament gefordert wurde. 8 9 7 Der Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit vermag daher vor allem im Hinblick auf wirtschaftsschwächere Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas keine Gewähr dafür bieten, dass einzelne EU-Mitglieder nicht entgegen ihres Willens dauerhaft vom Integrationsfortschritt abgekoppelt werden. 898 Diesem Manko wird auch der Vertrag von Nizza trotz entsprechender Anregungen während seiner Verhandlung 899 nicht abhelfen. Zwar bestimmt der neue Art. 43b S. 3 EUV-Nizza, dass die „Kommission und die an einer verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten ... dafür Sorge [tragen], dass eine möglichst große Zahl von Mitgliedstaaten zur Beteiligung angeregt wird". In dieser Formulierung kommt jedoch keine Rechtspflicht zu materieller Unterstützung, sondern nur eine Bekräftigung der zwischen den Mitgliedstaaten existierenden allgemeinen Solidaritätspflicht zum Ausdruck. 9 0 0 b) Die prozeduralen Regeln aa) Das Beitrittsverfahren für die erste Säule Das Verfahren des Beitritts zu einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule ist in Art. 11 Abs. 3 EG geregelt. Es nimmt gem. Art. 11 Abs. 3 S. 1 EG seinen Ausgang darin, dass der interessierte Mitgliedstaat seine Beitrittsabsicht gegenüber dem Rat und der Kommission erklärt. Aus Art. 11 Abs. 3 S. 2 EG ist zu schließen, dass es sich bei dieser Erklärung um einen formellen Beitragsantrag handelt. 901 Innerhalb von drei Monaten nach Eingang dieses Antrags legt die Kommission dem Rat eine Stellungnahme vor, um ihn über ihre Haltung zu dem Beitrittsgesuch in Kenntnis 896

Die Reflexionsgruppe hatte eine Unterstützung der zurückbleibenden Mitgliedsländer mittels „Ad-hoc-Maßnahmen" angeregt. Vgl. den Bericht der Reflexionsgruppe, Messina, 2. 6. 95, Brüssel, 5. 12. 95, Z. 15. Im Internet veröffentlicht unter http://www.europarl.eu.int/enlargement/cu/agreements/reflex3_de.htm . 897 Das Parlament empfahl die „Gewährung von Solidaritätsleistungen für die Länder, die an einer Teilnahme interessiert sind, damit sie die objektiven Kriterien erfüllen können". Vgl. die Entschließung zur Regierungskonferenz vom 13. 3. 1997, ABl. EG 1997 Nr. C 115/167. 898 Kritisch insoweit auch Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 55; Edwards, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 121, 135; Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 379. 899 Ein Unterstützungsmechanismus wurde von Griechenland befürwortet. Vgl. CONFER 4719/00 vom 3. 3. 2000, S. 8. 900 Ähnlich Rafols, Re vista de Derecho Comunitario Europeo, 2001, S. 145, 161. 901 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 30.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

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zu setzen (Art. 11 Abs. 3 S. 1 EG a.E.). In diesem Informationsrecht 902 erschöpft sich die Rolle des Rats im Verfahren des Art. 11 Abs. 3 EG. Ihm ist beim Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit in der ersten Säule kein Entscheidungsrecht eingeräumt. Dieses ruht vielmehr ausschließlich in den Händen der Kommission. Sie beschließt gem. Art. 11 Abs. 3 S. 2 EG innerhalb von vier Monaten, vom Tag der Mitteilung des Beitrittsantrags an gerechnet, über den Antrag und über die spezifischen Regelungen, die ihr für einen Beitritt notwendig erscheinen. Die hervorgehobene Stellung der Kommission ist dadurch zu rechtfertigen, dass sie unvoreingenommener als der Rat zu beurteilen vermag, ob ein Beitritt im Interesse der EU als Ganzes liegt. Dem Europäischen Parlament kommt im Betrittsverfahren keine Funktion zu. Die Amsterdamer Vertragsparteien haben ihm in der ersten wie in der dritten Säule nicht einmal ein Anhörungsrecht gewährt. Da der Vertrag von Nizza die Verfahrensregeln über den Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit nicht abändern wird, müssen die europäischen Parlamentarier diese untergeordnete Rolle als dauerhaft akzeptieren. 903

bb) Das Beitrittsverfahren für die dritte Säule Auch in der dritten Säule macht der beitrittsinteressierte Mitgliedstaat sowohl dem Rat als auch der Kommission von seiner Beitrittsabsicht Mitteilung, woraufhin die Kommission dem Rat innerhalb von drei Monaten eine Stellungnahme zukommen lässt (Art. 40 Abs. 3 S. 1 EU). In dieser Stellungnahme, der gegebenenfalls eine Empfehlung für die spezifischen Regelungen beigefügt ist, die der Kommission beitrittsförderlich erscheinen, erschöpft sich jedoch im dritten Unionspfeiler die Verfahrensstellung der Kommission. Es ist hier der Rat, der gem. Art. 40 Abs. 3 S. 2 EU das alleinige Entscheidungsrecht über den Beitritt und die zu dessen Zweck zu erlassenden spezifischen Regelungen besitzt. Er beschließt mit qualifizierter Mehrheit, wobei die Stimmen der Nichtteilnehmerstaaten außer Betracht bleiben (Art. 40 Abs. 3 S. 4 i.V.m. Art. 44 Abs. 1 S. 2 EU). Trotz der untergeordneten Rolle der stärker am Gemeinschaftsinteresse orientierten Kommission ist das Verfahren insoweit beitrittsfreundlich ausge902

Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 30 weist zu Recht darauf hin, dass die Vorlage der Stellungnahme an den Rat nach dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 3 EG als zwingende Verfahrensvoraussetzung anzusehen ist. 903 Das Europäische Parlament hatte hingegen während der Regierungskonferenz 2000 gefordert, eine Kongruenz zwischen dem Verfahren zur Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit und dem Beitrittsverfahren herzustellen. Vgl. die Entschließung A5-0288/2000 zur verstärkten Zusammenarbeit vom 25. 10. 2000, Z. 19.

232

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

staltet, als es dem Rat lediglich eine Zurückstellung, nicht aber eine endgültige Ablehnung eines Beitrittsantrags gestattet. 904 Die interessierten Mitgliedstaaten dürfen gem. Art. 40 Abs. 3 S. 3 EU stets nur für eine begrenzte Zeit abgewiesen werden. Ein negativer Bescheid muss daher nicht nur die für die Ablehnung maßgeblichen Gründe, sondern zugleich den Zeitpunkt für dessen erneute Überprüfung angeben (Art. 40 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 EU). Einem Beitritt der interessierten Nichtteilnehmerstaaten ist auch die Annahmefiktion des Art. 40 Abs. 3 S. 3 EU förderlich. Dieser zufolge ist eine Zurückstellung des Beitrittsantrags nur innerhalb von vier Monaten nach seiner Mitteilung möglich. Lässt der Rat diese Frist verstreichen, gilt der Antrag als angenommen. Dabei ist zu hinterfragen, ob sich die Annahmefiktion des Art 40 Abs. 3 S. 3 EU lediglich auf den Beitrittsantrag des Mitgliedstaats oder ebenfalls auf die von der Kommission vorgeschlagenen spezifischen Regelungen bezieht. Geht man von Letzterem aus, so beraubt ein Verstreichenlassen der Frist den Rat auch seiner Einflussmöglichkeiten auf die inhaltliche Ausgestaltung der Beitrittsregelung. 905 Der Wortlaut des Art. 40 Abs. 3 S. 3 EU lässt sich für ein solches Auslegungsergebnis ins Feld führen: Die als angenommen geltende Entscheidung des Rats umfasst gem. Art. 40 Abs. 3 S. 2 EU sowohl den Antrag als auch die bezeichneten spezifischen Regelungen. Auch die ratio der Vorschrift, die darauf abzielt, den Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit bei entscheidungshemmender Unschlüssigkeit im Rat zu erleichtern, spricht für eine Erstreckung der Annahmefiktion auf die spezifischen Regelungen, welche die Kommission als beitrittsförderlich angeregt hat. Erweist sich der Rat hinsichtlich des Beitrittantrags nicht rechtzeitig als beschlussfähig, liegt die Entscheidung über die spezifische Regelung der Einzelheiten des Beitritts ebenso in den Händen der Kommission wie dies in der ersten Säule der Fall i s t . 9 0 6 cc) Das Beitrittsverfahren des Vertrags von Nizza für die zweite Säule Das in Art. 27e EUV-Nizza geregelte Verfahren des Betritts zu einer verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Säule entspricht weitestgehend dem des Art. 40b EUV-Nizza für die dritte Unionssäule. Es kommt aus904 Über andere Entscheidungsmöglichkeiten als die Annahme oder die zeitlich befristete Zurückstellung verfügt der Rat nach der ausdrücklichen und abschließenden Regelung des Art. 40 Abs. 3 S. 2 und 3 EU nicht. Eine Ablehnungsbefugnis widerspräche der ratio der Vorschrift. Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 764; Martenczuk,, ZEuS 1998, S. 447, 470. 905 Zur Bedeutung der spezifischen Regeln bei der näheren Ausgestaltung eines Beitritts siehe unten, Teil 1 C.II.2.a)bb). 906 Vgl. Böse, in Schwarze, Art. 40 EUV Rdnr. 4; Thun-Hohenstein, S. 124.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

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schließlich dem Rat zu, mit qualifizierter Mehrheit über den Beitritt und die den Beitritt ermöglichenden spezifischen Regelungen zu entscheiden (Art. 27e Uabs. 1 S. 3 EUV-Nizza). Das Verfahren gestaltet sich dadurch beitrittsfreundlich, dass dem Rat lediglich eine befristete Zurückstellung, aber keine endgültige Ablehnung des Beitrittsantrags gestattet ist (Art. 27e Uabs. 1 S. 3 EUV-Nizza). Die für den Rat unverbindliche Stellungnahme der Kommission enthält in der zweiten Säule keine Empfehlung der spezifischen Regelungen, welche die Kommission für einen Beitritt notwendig hält. Insoweit weicht Art. 27e Uabs. 1 S. 2 EUV-Nizza von Art. 40b Uabs. 1 S. 1 EUV-Nizza ab. Beschließt der Rat über den Beitrittsantrag, so gelten auch nicht die Abstimmungsregeln des Art. 44 Abs. 1 EUV-Nizza, die gem. Art. 40b Uabs. 2 EUV-Nizza für das Beitrittsverfahren in der dritten Säule zur Anwendung kommen. Vielmehr gilt gem. Art. 27e Uabs. 2 EUV-Nizza der Art. 23 Abs. 2 Uabs. 3 EUV-Nizza, in dem keine Verweisung auf die Abstimmungsregeln des Art. 44 EUV-Nizza enthalten ist. Daraus folgt, dass der Rat im zweiten Pfeiler mit der Gesamtheit seiner Mitglieder über einen Antrag auf Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit zu entscheiden hat. Die Position der an einer verstärkten Zusammenarbeit nicht beteiligten Mitgliedstaaten wird hierdurch gestärkt. 2. Die Rechtsfolgen des Beitritts a) Die Rechtsfolgen für den beigetretenen Mitgliedstaat aa) Die Geltung der aus der Zusammenarbeit folgenden Rechte und Pflichten Der Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit hat für den beitretenden Mitgliedstaat zur Folge, dass dessen Vertreter im Rat uneingeschränkt an der Beschlussfassung zu beteiligen ist. Andererseits trifft den beigetretenen Mitgliedstaat die Pflicht, dem Einsetzungsbeschluss und dem aus der verstärkten Zusammenarbeit hervorgegangenen Recht nachzukommen, um sich nicht zu seinen aus EUV und EGV resultierenden vertraglichen Pflichten in Widerspruch zu setzen. 907 Infolge der grundsätzlichen Anwendbarkeit der allgemeinen Vertragsbestimmungen auf die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten stellt ein Beitritt unter Missachtung des im Verlauf der engeren Kooperation geschaffenen Rechts eine Vertragsverletzung dar, die einer Missachtung von herkömmlichem Unions- oder Gemeinschaftssekundärrecht gleichsteht. Einem solchen Verstoß muss in der ersten Säule durch ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 bis 228 EG begegnet werden. 9 0 8 907

Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 82.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

bb) Die Ausnahme- und Übergangsbestimmungen durch „spezifische Regelungen" Die Beitrittsentscheidung kann durch die Kommission (erster Pfeiler) bzw. den Rat (dritter Pfeiler) mit sog. „spezifischen Regelungen" versehen werden. 909 Über den Inhalt dieser spezifischen Regelungen treffen EUV und EGV keine näheren Aussagen. Das Wesen dieser Regelungen erschließt sich aus der Funktion, die ihnen nach dem Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit zuzuweisen ist: Sie sollen den Nichtteilnehmerstaaten einen Übergang zu der Beteiligung an einer engeren Kooperation erleichtern oder erst ermöglichen. Bereits die Ausweitung der auf Grundlage des Sozialabkommens erlassenen Richtlinien auf Großbritannien hatte erfordert, dem Inselstaat besondere Umsetzungsfristen einzuräumen, die von den ursprünglichen Vorgaben der Rechtsakte abwichen. 910 Entsprechend dieses Vorbilds können auch die nach Art. 11 Abs. 3 EG und Art. 40 Abs. 3 EU zu erlassenden spezifischen Regelungen Ausnahme- und Übergangsregelungen enthalten, die den beitrittsinteressierten Mitgliedstaaten den Weg zur schrittweisen Übernahme des entstandenen Besitzstands ebnen. 911 Sie entsprechen insoweit der ratio der Übergangsregeln, die den EU-Beitrittskandidaten zugebilligt werden, um ihre Aufnahme nicht unter Insistieren auf eine sofortige Übernahme des gesamten acquis communautaire unnötig zu verzögern und zu erschweren. 912 Allerdings kann den beitrittsinteressierten Nichtteilnehmerstaaten ebenso wie den Kandidatenländern abverlangt werden, zunächst ohne Mitgliedstatus die Voraussetzungen zu schaffen, die zur Erfüllung der mit einem Beitritt anfallenden Verpflichtungen erforderlich sind. 9 1 3 Dies hat für 908 Freilich müsste die Kommission in ihrer Rolle als Hüterin der Verträge einen verfrühten Beitritt bereits im Beitritts verfahren zu verhindern suchen. Vgl. hierzu Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 31. 909 Vgl. Art. 11 Abs. 3 S. 2 EG sowie Art. 40 Abs. 3 S. 1 EU. 910 Siehe hierzu oben, Teil 1 B.IV.2. 911 Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 31. 912 Zu den Wesenszügen der Übergangsregelungen, die Kandidatenländern beim Beitritt zur EU gewährt werden, Becker, S. 21 ff. Soweit diese Übergangsregelungen zugleich dem Schutz der bisherigen Mitgliedstaaten, insbesondere vor einer befürchteten „Überschwemmung" ihrer Arbeitsmärkte dienen, sind sie allerdings kein zulässiges Vorbild für die beitrittserleichternden spezifischen Regelungen des Titels VII EU. Die Mitgliedstaaten der EU sind durch Solidaritätspflichten verbunden, welche die Kandidatenländer noch nicht umfasst. Es wäre überdies mit dem Grundsatz der Offenheit verstärkter Zusammenarbeit nicht vereinbar, die Vorzüge der Beteiligung an einer verstärkten Zusammenarbeit einem Teil der Mitgliedstaaten aus einzelstaatlichen Interessen heraus vorzuenthalten. 913 Zu den Heranführungsstrategien im Hinblick auf die Staaten Mittel- und Osteuropas Wessels, in Maurer/Lippert, S. 349, 364 ff.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

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die betroffenen Länder den Nachteil, dass sie von der Mitgestaltung des Integrationsprozesses zunächst ausgeschlossen bleiben. Ab welchem Stadium der „Beitrittsreife" schließlich ein Anschluss an eine verstärkte Zusammenarbeit unter Gewährung von Ausnahme- und Übergangsregelungen zu gestatten ist, ist eine Entscheidung politischer Natur, die in das Ermessen der entscheidungsbefugten Gemeinschaftsorgane gestellt ist. Allerdings muss hinsichtlich des Umfangs und der Dauer der bewilligten Derogationen auf die Funktionstüchtigkeit verstärkter Zusammenarbeit Rücksicht genommen werden. 9 1 4 Es wäre mit dem Behinderungsverbot des Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU unvereinbar, solchen Mitgliedstaaten durch spezifische Regelungen in den Kreis der zusammenarbeitenden Länder zu verhelfen, die mit den bereits entstandenen und sich im weiteren Verlauf weiterentwickelnden rechtlichen Verpflichtungen auf längere Sicht nicht Schritt halten können. b) Die Rechtsfolgen für die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten Mangels abweichender vertraglicher Anordnungen ist davon auszugehen, dass eine verstärkte Zusammenarbeit ihre Integrationsbestrebungen nach einem erfolgten Beitritt in unveränderter Weise fortführen wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Teilnahme weiterer Mitgliedsländer auf ihr Recht keine Auswirkungen hat. Anhand der Europäischen Betriebsratsrichtlinie wurde aufgezeigt, wie sich die Wirkungsweise von Rechtsakten dadurch verändern kann, dass weitere Mitgliedstaaten nachträglich in deren Anwendungsbereich einbezogen werden. 915 Haben die verstärkt zusammenarbeitenden EU-Mitglieder mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen völkerrechtliche Verträge geschlossen und bei Vertragsschluss deren Anwendungsbereich auf die Gemeinschaft der kooperierenden Mitgliedstaaten beschränkt, gelten diese Verträge nicht automatisch auch für die beitretenden Mitgliedstaaten, sondern begründen für Letztere zunächst weder Rechte noch Pflichten. 916 Durch den Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit können daher Neuverhandlungen auf internationaler Ebene erforderlich werden, soweit in die betreffenden Abkommen nicht bereits bei Abschluss Klauseln aufgenommen wur914

Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 31, demzufolge die Kommission im Beitrittsverfahren der ersten Säule darauf hinwirken muss, eine verstärkte Zusammenarbeit funktionsfähig zu erhalten. 915 Siehe hierzu oben, Teil 1 B.IV.2. 916 Aus Sicht des Vertragspartners ist der Beitritt eine „res inter alios acta", die ihn nicht zu interessieren braucht. Vgl. hierzu Seidl-Hohenveldern/Loibl, Rdnrn. 0704 f.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

den, die deren territorialen Geltungsbereich bei späteren Beitritten entsprechend ausweiten. 917 Besonderheiten gelten dann, wenn sich einer verstärkten Zusammenarbeit alle anfänglich unbeteiligten Mitgliedstaaten anschließen. Mit dem Beitritt des letzten Nichtteilnehmerstaats ist nicht mehr die ursprüngliche Pioniergruppe, sondern wiederum die Europäische Union oder Europäische Gemeinschaft unter Zugrundelegung der herkömmlichen einheitlichen Integrationsmethode tätig. 9 1 8 In diesem Falle ist daher von einer Beendigung der verstärkten Zusammenarbeit auszugehen. 919

III. Die Zuständigkeit des EuGH Für die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit ist von großer Bedeutung, welche Zuständigkeiten dem EuGH während ihres Verlaufs eingeräumt sind. Zum einen entscheiden diese Kompetenzen darüber, inwieweit der EuGH dazu imstande ist, auf die Beachtung der zahlreichen Verbote, Vorgaben und Prinzipien hinzuwirken, die in den Art. 43 bis 45 EU, Art. 40 EU und Art. 11 EG normiert sind. Zum anderen kann die Zuständigkeit der europäischen Richter zum Gelingen einer verstärkten Zusammenarbeit beitragen, indem sie im Verhältnis zu den an ihr beteiligten Mitgliedern die einheitliche Auslegung und Anwendung, sowie die richterliche Fortbildung des geschaffenen Rechts gewährleistet. 920 Die richterlichen Befugnisse, über eine verstärkte Zusammenarbeit und das durch diese geschaffene Recht zu urteilen, richten sich für eine engere Kooperation in der ersten Unionssäule nach den allgemeinen Vertragsbestimmungen des EGV. Im Bereich des EUV erschließen sich die Zuständigkeiten des EuGH dagegen aus Art. 46 lit. b) und c) EU. Dabei zwingt Art. 46 EU lit. c) i.V.m. Art. 40 Abs. 4 EU zu einer Unterscheidung zwischen den allgemeinen Vertragsbestimmungen der dritten Säule und den in Art. 40 Abs. 1 bis 3 EU sowie Art. 43 bis 45 EU enthaltenen Vorschriften, die spezifische Regeln für eine verstärkte Zusammenarbeit aufstellen. Die Bestimmungen des Vertrags von Nizza zur verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule (Art. 27a bis 27e EUV-Nizza) werden keiner gerichtlichen Kontrolle zugänglich sein. 917

Diese Methode ist in der bisherigen Vertragsabschlusspraxis der Europäischen Gemeinschaft in bisherigen Beitrittsrunden bereits erprobt. Vgl. hierzu Tuytschaever, in Lejeune, S. 405, 406 f. 918 Vgl. Thun-Hohenstein, S. 127. 919 Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 55; Thun-Hohenstein, S. 127. 920 Zur Bedeutung der oft vorwärtsweisenden Rechtsprechung des EuGH in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung vgl. Oppermann, Europarecht, Rdnr. 372; Rodriguez Iglesias , NJW 1999, S. 1, 2 f.; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 494 f.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

237

In der Praxis wird das Ausmaß richterlichen Tätigwerdens wesentlich davon abhängen, in welcher Weise die an einer verstärkten Zusammenarbeit nicht beteiligten EU-Mitglieder die engere Kooperation und die aus ihr resultierenden Rechtsakte vor dem EuGH anzugreifen befugt sind. Im Folgenden gilt es daher ebenso zu hinterfragen, ob die Nichtteilnehmerstaaten in herkömmlichem Umfang vor dem Europäischen Gerichtshof klagebefugt sind oder ob ihnen für Rechtsakte, die sie nicht in ihrer Rechtstellung berühren, eine Klagebefugnis abgesprochen werden muss. 1. Die Zuständigkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Säule Gem. Art. 220 EG obliegt es dem Gerichtshof, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EGV zu sichern. 921 Die Rechtschutzgewährung durch den EuGH bemisst sich in der ersten Säule nach den Einzelzuständigkeiten, die in den Art. 226 ff. EG aufgeführt sind. 9 2 2 Sie ist als umfassend zu bewerten. 923 Art. 11 EG unterliegt als Bestimmung des gemeinschaftlichen Primärrechts in uneingeschränktem Maße der Auslegungshoheit des EuGH. In welcher Weise die europäischen Richter über das von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Sekundärrecht zu urteilen befugt sind, lässt sich Art. 11 Abs. 4 EG entnehmen. Dieser ordnet die Geltung der einschlägigen Bestimmungen des EGV an, soweit die Art. 43 und 44 EU nichts Abweichendes bestimmen. Da die Art. 43 und 44 EUV zur Zuständigkeit des EuGH im ersten Pfeiler keine Aussagen treffen, sind die Vorschriften des EGV über die richterlichen Zuständigkeiten und Verfahren in vollem Umfang anwendbar. 924 Demnach kann der EuGH die aus einer verstärkten Zusammenarbeit hervorgehenden Rechtsakte etwa im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 230 EG) auf ihre Rechtmäßigkeit untersuchen; er kann im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 EG) über deren Auslegung und Gültigkeit entscheiden; im Fall ihrer Missachtung durch einen 921

Die Sicherung der Wahrung des Rechts obliegt dem EuGH dabei entgegen der zu engen Formulierung des Art. 220 EG nicht nur betreffend der Gründerverträge, sondern hinsichtlich aller Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts. Vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rdnr. 330. 922 Die Amtshaftungsklage ist in Art. 235 i.V.m. 288 Abs. 2 EG geregelt, das Gutachtenverfahren über die Vereinbarkeit von geplanten Abkommen mit dem Gemeinschaftsrecht in Art. 300 Abs. 6 EG. 923 Zum Rechtsschutz in der Gemeinschaftsrechtsordnung Oppermann, Europarecht, Rdnrn. 709 ff.; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 330 ff. 924 Abweichungen von den Art. 220 ff. EG ergeben sich aus Art. 68 Abs. 1 und 2 EG, falls sich eine verstärkte Zusammenarbeit auf Rechtsgrundlagen des Titels IV EG stützt. Vgl. hierzu Geiger, Art. 68 EGV Rdnrn. 1 f.

238

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Teilnehmerstaat kann ein Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 bis 228 EG) angestrengt werden. Für eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten Säule muss ferner untersucht werden, ob der EuGH auch im herkömmlichem Umfang befugt ist, die Art. 43 bis 45 EU auszulegen und auf ihre Befolgung hin zu überprüfen. Der Einleitungssatz des Art. 11 Abs. 1 EG gibt hierüber Aufschluss. Er verweist auf die Art. 43 und 44 E U 9 2 5 und bezieht damit beide Artikel in die Zuständigkeit des EuGH mit e i n . 9 2 6 Zum gleichen Ergebnis führt die ausdrückliche Anordnung des Art. 46 lit. c) EU, wonach die Bestimmungen des EGV über die Zuständigkeit des EuGH auch für den Titel V I I EU gelten. 9 2 7 2. Die Zuständigkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit in der dritten Säule Im Bereich der dritten Säule, deren Bestimmungen entsprechend ihrer intergouvernementalen Struktur nur nach Maßgabe des Art. 46 EU der Gerichtsbarkeit des EuGH unterliegen, ist bei der gerichtlichen Kontrolle verstärkter Zusammenarbeit zu differenzieren. Die Zuständigkeiten des EuGH bemessen sich einerseits nach Art. 46 lit. c) EU. Dieser räumt den europäischen Richtern für die Bestimmungen des EUV eine umfassende Prüfungskompetenz ein, die spezifische Regeln über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten aufstellen. Für die allgemeinen Bestimmungen der dritten Säule kommt dem EuGH gem. Art. 46 lit. b) EU dagegen nur die in Art. 35 EU formulierte Sachzuständigkeit zu. a) Die unbeschränkte Zuständigkeit für die spezifischen Flexibilisierungsbestimmungen Auf eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen finden zunächst die für alle Unionssäulen geltenden Artikel 43 bis 45 EU Anwendung. Dass der EuGH nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlich geregelten Zuständigkeiten und 925 In Art. 11 Abs. 1 EG wird zur Inanspruchnahme der im EGV vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen nur „vorbehaltlich der Artikel 43 und 44 des Vertrags über die Europäische Union" ermächtigt. 926 Vgl. Thun-Hohenstein, S. 116. 927 Über Art. 46 lit. c) EU wird dabei auch die Vorschrift des Art. 45 EU in die Prüfungskompetenz des EuGH mit einbezogen. Der Zusatz „nach Maßgabe des Artikels 11 [EG]" ist im Hinblick darauf, dass Art. 11 EG die Kompetenzen des Gerichtshofes keinen Einschränkungen oder Bedingungen unterstellt, als Redaktionsversehen zu sehen. Vgl. hierzu Fennelly, in den Boer/Guggenbühl/Vanhoonacker, S. 69, 78.

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

239

Verfahren über deren Auslegung und Beachtung zu urteilen befugt ist, folgt aus Art. 46 lit. c) EU. Die in Art. 46 lit. c) EU angeordnete umfassende Prüfungskompetenz des EuGH gilt über die Verweisung auf Art. 40 Abs. 4 Uabs. 2 EU auch für die Abs. 1 bis 3 des Art. 40 E U . 9 2 8 Diese drei Absätze formulieren die materiellen Voraussetzungen für die Begründung und Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit und regeln das Einsetzungs- und Beitrittsverfahren. Der EuGH ist demnach nach Maßgabe der Bestimmungen über den gemeinschaftlichen Rechtschutz dazu berufen, die Einsetzung und Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit in der dritten Säule sowie einen Beitritt zu dieser anhand der Bestimmungen der Art. 40 Abs. 1 bis 3 EU zu messen. 929 Die Beschränkungen und Modifikationen, die nach Art. 35 EU für die Befugnisse des EuGH im dritten Pfeiler gelten, bleiben insoweit unangewendet. 930 Insbesondere stehen Vorabentscheidungsverfahren nicht unter dem in Art. 35 Abs. 2 und 3 EU normierten Vorbehalt einer vorherigen mitgliedstaatlichen Anerkennungserklärung. 931 So sind beispielsweise auch die letztinstanzlichen nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten, die dem EuGH keine Vorabentscheidungskompetenz für die dritte Säule eingeräumt haben, nach Art. 234 Abs. 3 zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn sie Zweifel an der richtigen Auslegung der in Art. 40 EU niedergelegten Bestimmungen haben. 9 3 2 b) Die beschränkte Zuständigkeit für die allgemeinen Bestimmungen der dritten Säule Im Bereich des Art. 40 Abs. 4 EU bestimmt sich die Rechtschutzgewährung des Europäischen Gerichtshofs nicht nach den in den Art. 226 ff. EG aufgeführten Zuständigkeiten, sondern nach Art. 35 EU. Art. 40 Abs. 4 EU lässt auf eine verstärkte Zusammenarbeit im dritten Unionspfeiler die allge928

Gem. Art. 46 lit. c) EU gelten die Vorschriften des EGV betreffend der Zuständigkeit des EuGH „nach Maßgabe ... des Artikels 40 [EU]". Art. 40 Abs. 4 Uabs. 2 EU konkretisiert, dass sie auf die Abs. 1-3 des Art. 40 EU Anwendung finden. 929 Vgl. Griller/Dr outsas/ F alkner/ F orgó/N entwich, S. 235. 930 Da die in Art. 40 Abs. 1 EU genannten Voraussetzungen auch auf die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit Anwendung finden, ist die Aussage verfehlt, die Durchführungsbeschlüsse einer verstärkten Zusammenarbeit seien nur nach Maßgabe des Art. 35 EU durch den EuGH überprüfbar. So aber Thun-Hohenstein, S. 117. 931 Im vorabentscheidungsähnlichen Verfahren des Art. 35 EU ist dagegen eine mitgliedstaatliche Anerkennungserklärung für die Zuständigkeit des EuGH erforderlich. Vgl. hierzu Brechmann, in Calliess/Ruffert, Art. 35 EUV Rdnr. 3. 932 Vgl. Thun-Hohenstein, S. 117.

240

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

meinen Vorschriften der Art. 2 9 ^ 1 EU zur Anwendung kommen. Über die Auslegung und Beachtung dieser allgemeinen Bestimmungen der dritten Säule entscheidet der EuGH daher nur nach Maßgabe der in Art. 35 EU normierten Verfahren. Hierdurch wird vermieden, dass dem EuGH über die Tätigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit für die allgemeinen Vorschriften der dritten Säule zusätzliche Kompetenzen zuwachsen. Mitgliedstaatlichen Verstößen gegen das von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Recht kann insoweit nicht mit einem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 bis 228 EG), sondern nur mit einem Streitbeilegungsverfahren (Art. 35 Abs. 7 EU) begegnet werden. 933 Bestehen Zweifel darüber, ob die von den enger kooperierenden Staaten erlassenen Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse gegen die Art. 29^4-1 EU verstoßen, sind die nationalen Gerichte nur dann zur Vorlage an den EuGH berechtigt und verpflichtet, wenn der Mitgliedstaat eine Zuständigkeit des EuGH nach Art. 35 EU Abs. 2 und 3 anerkannt hat. 3. Die unbeschränkte Klagebefugnis der Nichtteilnehmerstaaten Keine Regelung treffen die Bestimmungen des Titels V I I EU für die Frage, ob die Nichtteilnehmerstaaten in herkömmlicher Weise klagebefugt sind, um gegen eine Verletzung vertraglicher Bestimmungen durch eine verstärkte Zusammenarbeit vor dem EuGH vorzugehen. Dies ist unstreitig, wenn ein Nichtteilnehmerstaat vor dem Gerichtshof eine Verletzung der Bestimmungen der Art. 40, 43, 44 EU oder des Art. 11 EG zu rügen beabsichtigt. Schließlich bestimmen diese Artikel die Regeln und Grenzen einer verstärkten Zusammenarbeit im Interesse der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit 934 sowie zur Wahrung der Rechtsstellung der an der Zusammenarbeit nicht beteiligten EU-Mitglieder. 9 3 5 Verletzt eine verstärkte Zusammenarbeit dagegen sonstige Vorschriften des Unions- und Gemeinschaftsrechts, ohne hierbei die Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der an ihr nicht beteiligten Mitgliedstaaten zu missachten, 936 so wird im Schrifttum teils angezweifelt, ob die Nichtteilnehmerstaaten diese Verstöße in herkömmlichem Umfang vor dem EuGH geltend machen können. 9 3 7 Sie befänden sich im Hinblick auf die einer verstärkten 933

Zum Streitbeilegungsverfahren des Art. 35 Abs. 7 EU Böse, in Schwarze, Art. 35 EUV Rdnrn. 11 f. 934 Vgl. etwa Art. 43 Abs. 1 lit. a) bis e) EU; Art. 11 lit. a) bis e) EG. 935 Vgl. etwa Art. 43 Abs. 1 lit. f) und lit. g) EU. 936 Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU verpflichtet überdies dazu, die Interessen der Teilnehmerstaaten nicht zu beeinträchtigen. Allerdings findet insoweit eine Abwägung mit den legitimen Interessen der verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten statt. Siehe hierzu oben, Teil 2 B.I.ö.a).

C. Die Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit

241

Zusammenarbeit entstammenden Rechtsakte in einer Situation, die der Drittstaaten im Verhältnis zu EG-Recht vergleichbar sei. 9 3 8 Deshalb müssten sie entsprechend Art. 230 Abs. 4 EG als sog. „nicht privilegierte Klagebefugte" 9 3 9 behandelt werden, denen nur bei unmittelbarem und individuellem Betroffensein gestattet ist, mit der Nichtigkeitsklage gegen Gemeinschaftsrecht vorzugehen. 940 Einem gerichtlichen Vorgehen gegen eine Integrationsvertiefung, an welchem der klagende Mitgliedstaat selbst die Mitwirkung verweigert hat, stünde überdies der Einwand des venire contra factum proprium und das Fehlen jedweden Gegenseitigkeitsverhältnisses entgegen.

941

Gegen dieses Vorbringen muss eingewendet werden, dass auch in einer Europäischen Union unterschiedlicher Integrationsniveaus die üblichen unions- und gemeinschaftsrechtlichen Solidaritäts- und Loyalitätspflichten zwischen den EU-Mitgliedern ungemindert fortbestehen. 942 Eine Analogie zu Art. 230 Abs. 4 EG ist demnach bereits deshalb nicht angebracht, weil sich die an einer verstärkten Zusammenarbeit unbeteiligten Mitgliedstaaten und die an der Europäischen Union nicht beteiligten Drittstaaten in keiner vergleichbaren Situation befinden. Darüber hinaus verkennt die dargestellte Argumentation die Bedeutung, die den von einer innerinstitutionellen Kooperation begangenen Vertragsverstößen für die Gesamtheit der EU-Mitglieder zukommt. Infolge der Inanspruchnahme der Organe, Verfahren und Mechanismen von EUV und EGV können diese Vertragsverletzungen sowohl Funktionsweise wie Glaubwürdigkeit des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union insgesamt in Frage stellen. Auch wenn die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten in gegenseitigem Einvernehmen gegen Grundprinzipien des Unions- oder Gemeinschaftsrechts verstoßen, hat dies eine Entwertung des sich ansonsten durch die Rechtstreue seiner Mitglieder auszeichnenden Staatenverbundes der Europäischen Union zur Folge. Daher besitzen stets auch die Nichtteilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit ein berechtigtes Interesse daran, dass 937

Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 82; Gaja, CMLRev. 1998, S. 855, 867; Usher , ICLQ 1997, S. 243, 270 f. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 136 und Ringler, S. 193 f. traten während der Geltungsdauer der differenzierten Sozialpolitik für eine Beschränkung der britischen Klagebefugnis ein. 938 Vgl. Usher, ICLQ 1997, S. 243, 270 f. 939 Zum Begriff des nicht privilegierten Klagebefugten Geiger, Art. 230 EGV Rdnr. 13; Streinz, Europarecht, Rdnr. 515. 940 Vgl. Usher , ICLQ 1997, S. 243, 270 f. 941 Vgl. Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 136; Ringler, S. 193 f. 942 Zum Solidaritätsprinzip im Unions- und Gemeinschaftsrecht Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, S. 185 ff.; Ukrow, in Calliess/Ruffert, Art. 2 EGV Rdnr. 24. Zur allgemeinen Loyalitätspflicht aus Art. 10 EG vgl. Geiger, Art. 10 EGV Rdnrn. 4 ff. 16 Kellerbauer

242

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

eine nach Titel V I I EU gegründete Pioniergruppe die vertraglichen Vorgaben beachtet. Diesem Interesse können sie unabhängig von einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit durch Anstrengung der in Art. 35 EU und in den Art. 227 ff. EG normierten Verfahren vor dem EuGH Geltung verschaffen. 943 Dies schließt nicht aus, dass die Inanspruchnahme dieser Rechtschutzmöglichkeiten im Einzelfall gegen das in Art. 43 Abs. 2 S. 2 EU normierte Behinderungsverbot verstoßen kann. Ein solcher Verstoß liegt vor, wenn weder die Belange der Europäischen Union noch die des klagenden Mitgliedstaats einer nennenswerten Beeinträchtigung ausgesetzt sind und die Klage nur deshalb erhoben wird, um die verstärkte Zusammenarbeit zu behindern.

D. Die Rechtswirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit Die vorliegende Untersuchung näherte sich bereits im ersten Teil mehrfach den Problemstellungen, die daraus hervorgehen, dass sich ein Teil der Mitgliedstaaten umfassend des rechtlichen Rahmens der Europäischen Union bedient, die übrigen EU-Mitglieder von den Konsequenzen dieses Handelns aber ausgeschlossen sind. Im Folgenden werden auch für das neue teilnahmebezogene Differenzierungsinstrument des Titels V I I EU ausführlich die Rechts- und Folgewirkungen erörtert, die aus einem Tätigwerden mitgliedstaatlicher Pioniergruppen resultieren. Dafür gilt es in einem ersten Schritt, die Eigenarten des im engeren Teilnehmerkreis geschaffenen Rechts zu bestimmen. Ausgehend davon wird geklärt, in welcher Konkurrenz das von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Recht zu dem herkömmlichen Besitzstand der EU und EG steht. Eventuelle Auswirkungen dieser Rechtsetzung auf das Kompetenzgefüge in der Europäischen Gemeinschaft werden im Anschluss erörtert. Eine kurze Darstellung dieses Abschnitts ist ferner den finanziellen Folgen einer verstärkten Zusammenarbeit gewidmet. In engem Zusammenhang mit den Folgen der neuen Bestimmungen steht die abschließend zu behandelnde Streitfrage, ob mit der Normierung des Titels V I I EU eine gemeinschaftsrechtliche Beschränkung völkerrechtlicher Kooperationsformen zwischen den Mitgliedstaaten einhergeht.

I. Die Eigenschaften des geschaffenen Rechts Zur Ermittlung der Besonderheiten der von einer verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind die Rechtswirkungen darzustellen, die 943

Vgl. Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 175 f.

D. Die Rechtswirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

243

diese Maßnahmen im Verhältnis zu den an der Kooperation beteiligten und gegenüber den hieran unbeteiligten EU-Mitgliedern entfalten. 1. Die Wirkung gegenüber den Teilnehmerstaaten Was im vorausgegangenen Abschnitt zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit festzustellen war, lässt sich in gleicher Weise zu den Rechtswirkungen der ihr entstammenden Maßnahmen sagen. Art. 40 Abs. 4 EU und Art. 11 Abs. 4 EG zufolge bestimmen sich diese Rechtswirkungen im Grundsatz nach den allgemeinen Vorschriften der ersten und dritten Säule. Dabei beschränkt sich die prinzipielle Geltung der auch sonst anzuwendenden Vorschriften nicht auf die geschriebenen Regeln des Unionsund Gemeinschaftsrechts. Vielmehr hat die engere Kooperation ebenso den gemeinschaftlichen Besitzstand in seiner Gesamtheit zum Ausgangspunkt, wie dies in der Präambel des Sozialabkommens für die sozialpolitische Pioniergruppe angeordnet w a r . 9 4 4 Die Wirkungen des von einer verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechts werden demnach auch von den ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen bestimmt, die der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung herausgearbeitet hat. In der ersten Säule sind die an einer verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten und deren innerstaatliche Stellen insbesondere verpflichtet, den Anwendungsvorrang des unter ihnen geschaffenen Sekundärrechts vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht zu sichern, 945 das nationale Recht gemeinschaftskonform auszulegen, 946 die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlich angeordneten Regeln durch wirksame Sanktionsnormen sicherzustellen 947 und dem Bürger Schäden zu ersetzen, die er durch eine hinreichend qualifizierte Verletzung subjektiv-rechtlicher Vorschriften erlitten hat. 9 4 8 Für die Rechtswirkungen der Sekundärrechtsakte einer verstärkten Zusammenarbeit gelten daher die Aussagen entsprechend, die zu den Richt944

Dies folgt für eine verstärkte Zusammenarbeit aus Art. 43 Abs. 1 lit. b) und lit. e) EU. 945 Vgl. EuGH, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1251, 1270; EuGH, Rs. 106/77 (Simmenthai II), Slg. 1978, S. 629, 643 ff. 946 Vgl. EuGH, Rs. 14/83 (von Colson und Kamann), Slg. 1984, S. 1891, 1909, EuGH, verb Rs. 71, 72 und 73/94 (Eurim-Pharm/Beiersdorf), Slg. 1996-1, S. 3603, 3617. 947 Vgl. EuGH, Rs. 50/76 (Amsterdam Bulb), Slg. 1977, S. 137, 150; EuGH, Rs. 68/88 (Kommission/Griechenland), Slg. 1989, S. 2965, 2985. Zu den Voraussetzungen mitgliedstaatlicher Haftung präzisierend EuGH, Rs. 392/93 (The Queen/H. M. Treasury), Slg. 1996-1, S. 1631, 1667 ff. 948 Vgl. EuGH, verb. Rs. 46/93 und 48/93 (Brasserie du Pêcheur, Factortame), Slg. 1996-1, S. 1029, EuGH verb. Rs 6/90 und 9/90; EuGH, verb. Rs. 6/90 und 9/90 (Francovich), Slg. 1991-1, S. 5357, 5413 ff. 16*

244

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

linien der differenzierten Sozialpolitik gemacht wurden. Im Verhältnis zu den Teilnehmerstaaten wohnen ihnen die exakt gleichen Verpflichtungen inne, welche für die bisherigen Unions- und Gemeinschaftsakte im Verhälthis zur Gesamtheit der EU-Mitglieder kennzeichnend sind. 9 4 9 Im Hinblick darauf besitzt die in Art. 43 Abs. 2 S. 1 EU formulierte Anwendungspflicht hur klarstellende Funktion. 9 5 0 2. Der beschränkte Geltungsbereich In der Formulierung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 EU klingt an, dass die an einer verstärkten Zusammenarbeit nicht beteiligten Mitgliedstaaten durch das geschaffene Sekundärrecht weder berechtigt noch verpflichtet werden. 9 5 1 Die Rechtsetzung im engeren Teilnehmerkreis darf sich überdies nach der ausdrücklichen Anordnung des Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU nicht auf deren Rechts- und Pflichtenstellung auswirken. Für den Geltungsumfang der von einer verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Maßnahmen gelten daher ebenfalls die Ausführungen entsprechend, die zu der Rechtsetzung auf Grundlage des Sozialabkommens gemacht wurden. 9 5 2 Die betreffenden Rechtsakte sind nur für die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten verbindlich und haben gegebenenfalls nur in diesen Staaten unmittelbare Geltung. 9 5 3 Die Verwaltung und die Gerichte der Nichtteilnehmerstaaten können das Sekundärrecht einer verstärkten Zusammenarbeit außer Acht lassen. 3. Die unions- und gemeinschaftsrechtliche Qualität Bereits die Untersuchung der in Ziffer 1 Sozialprotokoll ausgesprochenen Ermächtigung zur Nutzung der gemeinschaftlichen Organe, Verfahren und Mechanismen ergab, dass eine differenzierte Rechtsetzung unter Inanspruchnahme des rechtlichen wie institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft Rechtsakte zur Entstehung bringt, die sich weder 949

Vgl. Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 172; Thun-Hohenstein, S. 121. 950 Vgl. Hatje , in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 27. 951 Gem. Art. 44 Abs. 2 S. 1 EU wenden die Mitgliedstaaten die Rechtsakte und Beschlüsse einer verstärkten Zusammenarbeit nur an, „soweit sie betroffen sind". 952 Siehe hierzu oben, Teil 1 B.II.3.d). 953 Vgl. Becker, S. 52; Ruffert, in Calliess/Ruffert, Art. 43 EUV Rdnr. 22. Durch den Vertrag von Nizza wird diese beschränkte Geltung in Art. 44 Abs. 2 S. 2 EUVNizza ausdrücklich erwähnt. Die ebenfalls erwogene klarstellende Ergänzung des Art. 249 Abs. 2 EG konnte sich dagegen nicht durchsetzen. Vgl. CONFER 4798/00 vom 9. 11. 2000, S. 5.

D. Die Rechtsirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

245

durch das Verfahren ihrer Entstehung noch durch ihre Bindungswirkung von herkömmlichem Gemeinschaftsrecht unterscheiden. 954 Entsprechendes lässt sich für die Nutzung der gleichgearteten Ermächtigungsklausel des Titels V I I EU feststellen: Das von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Recht stützt sich auf die Kompetenzgrundlagen des ersten und dritten Unionspfeilers. Es geht aus denselben Rechtsetzungsverfahren hervor wie die unter Beteiligung der Gesamtheit der Ratsmitglieder erlassenen Rechtsakte. Auch seine Rechtswirkungen im Verhältnis zu den Teilnehmerstaaten bestimmen sich nach den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des acquis communautaire, die auch für das herkömmliche Unions- und Gemeinschaftsrecht bestimmend sind. Daher muss das aus einer verstärkten Zusammenarbeit hervorgehende Recht in der dritten Säule als abgeleitetes Unionsrecht und in der ersten Säule als sekundäres Gemeinschaftsrecht qualifiziert werden. 955 Der beschränkte Geltungsumfang erzwingt allerdings auch hier eine Unterscheidung vom herkömmlichen Unions- und Gemeinschaftsrecht. Die dem Titel V I I EU entstammenden Rechtsakte müssen durch die Bezeichnungen „partielles Sekundärrecht" oder „sekundäres Sonderrecht" besonders gekennzeichnet 956 und in ihrer Folgeentwicklung einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden. Wie im Verlauf der bereits untersuchten teilnahmebezogenen Differenzierungen bringen sie in Verbindung mit den Auslegungs- und Gültigkeitsentscheidungen des EuGH, die zu der engeren Kooperation ergehen, einen gesonderten rechtlichen Besitzstand hervor. 9 5 7 Für diesen „acquis communautaire der verstärkten Zusammenarbeit" finden im Folgenden erneut die Begriffe „partieller Besitzstand" und „Sonderacquis" Verwendung.

II. Die Auswirkungen des geschaffenen Rechts auf den Besitzstand der EU-15 Die Koexistenz von zwei in ihrem Geltungsbereich verschiedenen, in ihren Rechtswirkungen als Unions- und Gemeinschaftsrecht aber identischen Rechtsgebilden konfrontiert den Betrachter erneut mit den juristischen 954

Siehe hierzu oben, Teil 1 B.II.3.a)bb). Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 53; Bribosia, Revue du Droit de l'Union Européenne 2001, S. I l l , 151; Ruffert , in Calliess/Ruffert, Art. 43 EUV Rdnr. 22. 956 Ähnlich Hatje , in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 23; Ruffert , in Calliess/Ruffert, Art. 43 EUV Rdnr. 22. 957 Schließen die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten internationale Abkommen mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen, so sind auch diese dem Besitzstand der verstärkten Zusammenarbeit hinzuzurechnen. 955

246

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Problemstellungen, die für eine teilnahmebezogene Differenzierung typisch sind. 9 5 8 Da das Recht der beiden Besitzstände für den gleichen Sachverhalt unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen kann, müssen die Bestimmungen des Titels V I I auf Kollisionsregeln befragt werden. Ferner ist zu klären, ob der in seiner Geltung territorial beschränkte gemeinschaftsrechtliche und unionsrechtliche „Sonderacquis" für die Länder von Bedeutung sein wird, die der Europäischen Union beizutreten gewillt sind. 1. Die Vorrangfrage im Kollisionsfall Nach Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit werden sich sowohl der gesamtgemeinschaftliche wie der partielle Besitzstand durch eine jeweilige Nutzung der Rechtsetzungsermächtigungen des EUV und EGV beständig erweitern. Zwei Kollisionsmöglichkeiten der beiden Rechtsgebilde sind daher denkbar: Zum einen können die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten Rechtsakte erlassen, die sich zu dem gesamtgemeinschaftlichen acquis communautaire in Widerspruch setzen. Zum anderen kann die EU15 von den Rechtsgrundlagen in EUV und EGV in einer Weise Gebrauch machen, die dem bereits existierenden partiellen Sonderacquis zuwiderläuft. a) Kollisionsfall

durch Rechtsetzung verstärkter

Zusammenarbeit

Die zunächst angesprochene Kollisionsmöglichkeit ist in den vertraglichen Bestimmungen ausdrücklich geregelt. Es ist einer verstärkten Zusammenarbeit durch Art. 43 Abs. 1 lit. b) und lit. e) EU untersagt, den acquis communautaire der EU-15 durch widersprechendes Sekundärrecht zu beeinträchtigen. 959 Die Ermächtigung zur Inanspruchnahme der in EUV und EGV vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen stößt dort an ihre Grenzen, wo sie in einer Weise genutzt wird, die dem bereits bestehenden Unions- und Gemeinschaftsrecht zuwiderläuft. Der Erlass von Sekundärrecht erfolgt in diesem Falle ohne Kompetenzgrundlage, da Art. 43 Abs. 1 EU nicht dazu ermächtigt, die in EUV und EGV enthaltenen Handlungsbefugnisse in dieser Weise in Anspruch zu nehmen. 960

958

Siehe hierzu oben, Teil 1 B.III.2. und C.III. Vgl. Hatje, in Schwarze, Art. 43 EUV Rdnr. 21; Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 462. Ruffert, in Calliess/Ruffert, Art. 43 Rdnrn. 13 f. 960 Zum vergleichbaren Fall einer Überschreitung der Grenzen des Einsetzungsbeschlusses siehe oben, Teil 2 C.I.3.a). 959

D. Die Rechts Wirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

b) Kollisionsfall

247

durch Rechtsetzung der EU-15

Die EU-15 kann ihrerseits einen Widerspruch zwischen den koexistierenden Besitzständen herbeiführen, indem sie Rechtsakte erlässt, die dem partiellen Sonderacquis zuwiderlaufen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Rechtsetzung auch gegen den Willen der verstärkt zusammenarbeitenden Staaten denkbar ist, falls sich die EU-15 auf Rechtsgrundlagen stützt, welche die Beschlussfassung im Rat mit qualifizierter Mehrheit vorsehen. 961 Dem Wortlaut des Art. 43 Abs. 1 lit. b) und e) EU kann nicht mit hinreichender Bestimmtheit entnommen werden, ob bereits wirksam erlassenes partielles Sekundärrecht auch in diesem Kollisionsfall zurückzutreten hat. Allerdings kann das ultima-ratio-Erfordernis in Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU dafür angeführt werden, dem unionsweit geltenden acquis auch insoweit einen umfassenden Vorrang einzuräumen. Denn sobald die Europäische Union oder die Europäische Gemeinschaft unter Einbeziehung der Gesamtheit ihrer Mitglieder zum Erlass eines Rechtsakts gelangt, beweist dies, dass das Kriterium des Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU hinsichtlich der geregelten Materie nicht erfüllt ist. Die seitens des Rats getroffene Feststellung der Untunlichkeit eines einheitlichen Vorgehens nach der herkömmlichen Integrationsmethode muss als widerlegt gelten. Ginge man umgekehrt davon aus, dass die Rechtsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit den Handlungsspielraum der EU-15 einenge, so müsste der Beschluss zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht nur als Ermächtigung zur Nutzung des Unionsrahmens, sondern zugleich als eine Übertragung von Regelungskompetenzen auf diese Kooperation verstanden werden. 9 6 2 Deren Einsetzung würde einen Kompetenzverlust der EU-15 implizieren, der sich beim Erlass partiellen Sekundärrechts vertiefend konkretisiert. Die rege Rechtsetzungstätigkeit einer oder mehrerer Gruppen verstärkter Zusammenarbeit zöge eine zunehmende Beschränkung des unionsweit geltenden Rechtsetzungsvermögens nach sich, die bis zur völligen Handlungsunfähigkeit der EU-15 führen könnte. Eine solche Verlagerung der Europäischen Integrationsbestrebungen in Pioniergruppen ver961 Die Rechtsetzung der EU-15 entgegen des Willens einer verstärkt zusammenarbeitenden Gruppe von Mitgliedstaaten ist insbesondere dann denkbar, wenn der Beschlussfassung im Rat ein vorheriger Kommissionsvorschlag vorangeht und die Pioniergruppe durch vornehmlich kleinere Mitgliedstaaten gebildet wird. 962 Von diesem Verständnis scheint Bribosia, Revue du Droit de L'Union Europènne 2001, S. I l l , 150 auszugehen. Ihm zufolge ist die partielle Sekundärrechtsetzung verstärkter Zusammenarbeit als vorrangig zu betrachten, soweit sie sich in den Grenzen des Einsetzungsbeschlusses bewegt. Um wieder auf Ebene der EU-15 Recht setzen zu dürfen, soll zunächst eine Einigung aller Mitgliedstaaten erforderlich sein.

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

248

stärkter Zusammenarbeit würde dem in Art. 43 Abs. 1 lit. c) EU normierten Regel-Ausnahmeverhältnis diametral zuwiderlaufen. Daher ist festzuhalten, dass dem unionsweit geltenden acquis auch gegenüber dem bereits existierenden Recht einer verstärkten Zusammenarbeit ein uneingeschränkter Vorrang eingeräumt ist. Die lex posterior Regel ist im Verhältnis der beiden koexistierenden Besitzstände nicht anwendbar. 963 Die Rechtsetzung mit Wirkung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten kann das partielle Sonderrecht einer verstärkten Zusammenarbeit vielmehr jederzeit durch widersprechende Regelungen außer Kraft setzen.

c) Die Bedeutung des Vorrangs für die Entscheidungen des EuGH Der Primat des unionsweit geltenden Rechts betrifft den acquis communautaire in seiner Gesamtheit. Er ist mithin auch für die Rechtsprechung des EuGH von Bedeutung, die zu dem Sekundärrecht der beiden Besitzstände ergeht. Urteilt der EuGH über das von einer verstärkten Zusammenarbeit geschaffene Recht, ist er an alle Entscheidungen gebunden, die er zuvor in seiner Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan der EU-15 gefällt hat. Die aus seiner Rechtsprechung folgenden Grundsätze, Auslegungs- und Weitmaßstäbe sind in ihrem aktuellen Stand für sämtliche Gemeinschaftsorgane bindend, die nach Maßgabe der Vorschriften des Titels V I I EU in den Dienst einer partiellen Integrationsvertiefung treten. Umgekehrt verbieten es die dargestellten Vorrangregeln, dass der EuGH die nur einen Teil der Mitgliedstaaten betreffenden gerichtlichen Entscheidungen in seine Erwägungen mit einbezieht, wenn er über das herkömmliche Unions- oder Gemeinschaftsrecht urteilt. Dennoch wird sich in der Praxis nicht vermeiden lassen, dass die zu dem partiellen Sekundärrecht ergehende Rechtsprechung auf den unionsweit geltenden Besitzstand zurückwirkt. 9 6 4 Insbesondere rechtsdogmatische Umwälzungen ergingen in der Vergangenheit nicht aufgrund der den Gerichtsentscheidungen zugrunde liegenden Sachgebietsregelungen, sondern durch die Interpretation übergreifender Strukturschichten. Daher ist anzunehmen, dass wichtige Entscheidungen, die nicht allein an Besonderheiten des Einzelfalls anknüpfen, im späteren Verlauf in ähnlicher Form für das gesamtgemeinschaftlich geltende Recht ergehen werden, zumal sich die Rechtsetzung in den beiden Integrationsniveaus auf identische Rechtsgrundlagen und Rechtsetzungsverfahren stützt. Bedeutsame Urteile des im Rahmen einer 963

Ebenso, aber mit einer anderen als der hier angeführten Begründung, Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 53; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 24. 964 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den koexistierenden Besitzständen in der Maastrichter Sozialpolitik bei Hailbronner, in GS Grabitz, S. 125, 138 f.

D. Die Rechtsirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

249

verstärkten Zusammenarbeit tätigen EuGH werden somit trotz ihrer beschränkten Geltung stets Vorbote für entsprechende Entscheidungen auf Ebene der EU-15 sein. Teils wird sich so ein Gleichlauf der Auslegungsmaßstäbe und Rechtsgrundsätze ermöglichen lassen, der einer Distanzierung zwischen Teil- und Gesamtrechtsordnung entgegenwirkt. Eine verstärkte Zusammenarbeit wird sich ferner als Laboratorium für die richterliche Rechtsfortbildung nützlich erweisen. 2. Die Erweiterung des von Kandidatenländern zu übernehmenden acquis communautaire Die Schaffung partiellen Gemeinschafts- und Unionsrechts kann für diejenigen Staaten, die sich der Europäischen Union anschließen wollen, erweiterte Verpflichtungen zur Folge haben, da sie bei ihrem Beitritt zur vollständigen Übernahme des acquis communautaire verpflichtet sind. Ob sich diese Übernahmeverpflichtung auch auf den Sonderacquis erstreckt, der bis zum Beitrittszeitpunkt von den existierenden Pioniergruppen verstärkter Zusammenarbeit geschaffen wurde, scheinen die Bestimmungen des Titels V I I EU offen zu lassen. Das Fehlen einer ausdrücklichen Anordnung ist aber in Anbetracht der Aussage in Art. 8 Schengen-Protokoll aufschlussreich. Art. 8 Schengen-Protokoll beschreibt den in den Unionsrahmen überführten und dort weiterentwickelten Schengen-Besitzstand als „Besitzstand, der von allen Staaten, die Beitrittskandidaten sind, vollständig zu übernehmen ist". Die in den Unionsrahmen überführte Schengener Kooperation stellt eine Sonderform verstärkter Zusammenarbeit dar. 9 6 5 Die Regelung in Art. 8 Schengen-Protokoll hat nur dann Berechtigung, wenn eine Rechtsetzung unter Inanspruchnahme der allgemeinen Ermächtigung zu verstärkter Zusammenarbeit des Titels V I I EU nicht ohnehin eine Erweiterung des Beitrittsacquis zur Folge hat. Daher ist aus Art. 8 Schengen-Protokoll im Gegenschluss zu folgern, dass die Inanspruchnahme der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit keine Erweiterung des von den EU-Beitrittskandidaten zu übernehmenden acquis communautaire zeitigt. Die partielle Sekundärrechtsetzung wirkt insoweit nicht auf den Besitzstand der EU-15 zurück. 9 6 6 Der Vertrag von Nizza wird dieses Ergebnis bekräftigen: Art. 44 Abs. 1 S. 5 EUV-Nizza zufolge sind die aus einer verstärkten Zusammenarbeit hervorgehenden Rechtsakte und Beschlüsse „nicht Bestandteile des Besitzstands der U n i o n " . 9 6 7 965

Vgl. Art. 1 und Art. 5 Schengen-Protokoll. Vgl. Herrnfeld, in Schwarze, Art. 49 EUV Rdnr. 15; Rafols, Revista de Derecho Comunitario Europeo 2001, S. 145, 172 f.; Thun-Hohenstein, S. 122; a. Α. Philippart , JCMS 1999, S. 87, 91. 966

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Diese zusätzliche Klarstellung ist im Hinblick auf die angespannte wirtschaftliche Lage in den mittel- und osteuropäischen Staaten sinnvoll. Bereits den derzeitigen acquis communautaire zu schultern, wird für diese Länder eine gewichtige Herausforderung darstellen. Es würde als falsches Signal verstanden, diese Übernahmeverpflichtungen um einen partiellen Besitzstand zu erweitern, von dem nicht einmal die bisherigen EU-Mitglieder in ihrer Gesamtheit betroffen sind.

III. Die Auswirkungen auf das Kompetenzgefüge in der EG Die Wahrnehmung gemeinschaftlicher Rechtsetzungsermächtigungen kann nach der sog. AETR-Doktrin des EuGH dazu führen, dass der EG in den sekundärrechtlich geregelten Sachbereichen ausschließliche Zuständigkeiten zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge zuwachsen. 968 Ebenso ist anerkannt, dass der Erlass von EG-Rechtsakten im Bereich konkurrierender Gemeinschaftszuständigkeit einen Verlust mitgliedstaatlicher Regelungskompetenzen bewirken kann. 9 6 9 Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gebietet, „dass ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären." 9 7 0 Im Anwendungsbereich gemeinschaftlicher Rechtsakte wird insoweit die EG grundsätzlich allein für die Anpassung und Veränderung des Gemeinschaftsrechts zuständig. 971 Angesichts dieser Rechtswirkungen muss hinterfragt werden, in welcher Weise der Erlass beschränkt geltenden Gemeinschaftssekundärrechts durch eine verstärkte Zusammenarbeit Auswirkungen auf das gemeinschaftliche Kompetenzgefüge hat. Diese Frage muss für die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten und die an ihr unbeteiligten Mitgliedstaaten unterschiedlich beantwortet werden. 1. Der auf die Teilnehmerstaaten beschränkte Kompetenzverlust Das aus einer verstärkten Zusammenarbeit hervorgehende Sonderrecht ist für die an ihr unbeteiligten Mitgliedstaaten nicht bindend. Die Nichtteilnehmerstaaten sind überdies nach Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU ausdrücklich davor 967

Zur Bedeutung der beinahe identischen Formulierung in Art. 2 ProtUK/IRL und Art. 2 ProtDK siehe Teil 1 D.II.5. 968 Siehe hierzu die Ausführungen zu den differenzierten Außenkompetenzen in der Wirtschafts- und Währungsunion, Teil 1 C.III.3. 969 Vgl. Calliess, in Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV Rdnrn. 28 ff.; Streinz, Europarecht, Rdnrn. 132 f. 970 EuGH, Rs. 106/77 (Simmenthai II), Slg. 1978, S. 629, Rdnrn. 17 f. 971 Vgl. Calliess, in Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV Rdnrn. 28 ff.

D. Die Rechtsirkungen und Folgen verstärkter Z u s a m m e n a r b e i t 2 5 1

geschützt, durch das partielle Recht in ihren Zuständigkeiten beschränkt zu werden. Für sie kann ein Verlust mitgliedstaatlicher Kompetenzen an die Gemeinschaft daher erst in dem Zeitpunkt eintreten, in dem sie sich durch einen Beitritt dem aus der verstärkten Zusammenarbeit hervorgehenden Besitzstand anschließen. 972 Die Europäische Gemeinschaft kann daher im Verhältnis zu den Nichtteilnehmerstaaten durch die Rechtsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit keine ausschließlichen Kompetenzen erlangen. In Betracht käme aber ein Zuwachs ausschließlicher gemeinschaftlicher Zuständigkeiten, der sich auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den an der engeren Kooperation beteiligten Mitgliedstaaten beschränkt. Hierfür lässt sich anführen, dass eine verstärkte Zusammenarbeit den gleichen geschriebenen wie ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Regeln unterworfen ist wie die EG-15. Soweit der EuGH den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus den Art. 10 Abs. 2 EG und 249 EG unter Verweis auf den Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat, 9 7 3 muss dieser auch im Kreis der enger kooperierenden Mitgliedstaaten gelten. 9 7 4 Auch den Teilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit ist es dann verwehrt, die von ihnen betriebene Integrationsvertiefung entgegen ihrer Gemeinschaftstreuepflicht aus Art. 10 EG durch den Erlass konfligierenden nationalen Rechts oder durch den Abschluss widersprechender völkerrechtlicher Verträge in Frage zu stellen. Dass der Gemeinschaft ein ausschließlicher Kompetenzzuwachs im Verhältnis zu nur einem Teil ihrer Mitglieder nicht fremd ist, beweisen die Bestimmungen über die differenzierten Außenkompetenzen in der Wirtschaftsund Währungsunion. 975 Demnach ist festzuhalten, dass die Rechtsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit im Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zu Kompetenzverschiebungen führt, die sich in ihren Wirkungen auf die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten EU-Mitglieder beschränken. 976

972

Vgl. Becker, EuR - Beiheft 1 - 1998, S. 29, 53; Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 379 f.; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 27. 973 Vgl. EuGH, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, S. 1251, 1269 ff. 974 Ähnlich Bribosia, CDE 2000, S. 57, 75 f. 975 Siehe hierzu oben, Teil 1 C.III.3. 976 Vgl. Bribosia, CDE 2000, S. 57, 75 f.; Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 379 f.; Lenz, in Lenz, Art. 11 EGV Rdnr. 23; Thun-Hohenstein, in Breuss/Griller, S. 211, 224. Ablehnend im Hinblick auf die nachteiligen Konsequenzen für die Einheitlichkeit der gemeinschaftlichen Außenvertretung dagegen Becker, EuR - Beiheft 1 1998, S. 29, 53 f.; Hatje, in Schwarze, Art. 11 EGV Rdnr. 28.

252

2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

2. Die Problematik der verbleibenden Kompetenzen der übrigen EU-Mitglieder Verbleiben den Nichtteilnehmerstaaten einer verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen Zuständigkeiten zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge, in denen die Europäische Gemeinschaft im Verhältnis zu den Teilnehmerstaaten ausschließliche Außenkompetenzen erlangt, so folgt daraus eine Problematik, die bereits aus der differenzierten Außenvertretung der Wirtschafts- und Währungsunion bekannt i s t . 9 7 7 Die Nichtteilnehmerstaaten besitzen weiterhin die Befugnis, auch solche völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, die bei einem später angestrebten Anschluss an die Pioniergruppe zum beitrittserschwerenden Hindernis werden können. Daher muss geprüft werden, ob die Nichtteilnehmerstaaten durch ihre mitgliedstaatliche LoyalitätsVerpflichtung aus Art. 10 EG dazu angehalten sind, bei der Ausübung ihrer Außenkompetenzen auf etwaige künftige Beitrittsverpflichtungen Rücksicht zu nehmen. Die zeitlich befristete Natur der mitgliedstaatlichen Außenkompetenzen, die nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils Kramer zur Grundlage dafür wurde, die per se fortbestehenden Vertragsabschlusskompetenzen der EUMitglieder mit einem faktischen Ausübungsverbot zu belegen, 978 ist jedoch für die Stellung der an einer verstärkten Zusammenarbeit unbeteiligten Mitgliedstaaten nicht kennzeichnend. Vielmehr ist es ausschließlich dem politischen Willen dieser Länder überantwortet, durch einen Beitrittsantrag die in Art. 11 Abs. 3 EG oder Art. 40 Abs. 3 EU normierten Beteiligungsverfahren in Gang zu setzen. Die Nichtteilnehmerstaaten sind ferner durch Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU vor einem unfreiwilligen Kompetenzverlust geschützt. Insoweit befinden sie sich in einer Position, die der Stellung der Opt-out-Staaten Großbritannien und Dänemark im Hinblick auf einen Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion entspricht. Ein permanentes Fernbleiben von den nach Titel V I I EU begründeten Pioniergruppen ist unions- wie gemeinschaftsrechtlich zulässig und angesichts des weiten potentiellen Anwendungsbereichs des neuen Flexibilisierungsinstruments in vielen Fällen wahrscheinlich. Daher folgen aus dem Zuwachs ausschließlicher gemeinschaftlicher Außenkompetenzen im Verhältnis zu den an einer verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten auch im Hinblick auf Art. 10 EG keine Beschränkungen des außenpolitischen Handlungsspielraums der Nichtteilnehmerstaaten. Wollen sich Letztere einer verstärkten Zusammenarbeit anschließen und stehen diesem Beitritt vorbehaltlos eingegangene völkerrechtliche Verpflichtungen entgegen, ist die Vorschrift des Art. 307 EG analog anzuwenden. 979 977 978

Siehe hierzu oben, Teil 1 C.III.3. Vgl. EuGH, verb. Rs. 3, 4 und 6/76 (Kramer), Slg. 1976, S. 1279, 1313.

D. Die Rechtsirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

253

IV. Die Finanzierungsregelung Die Regelung der finanziellen Folgen einer verstärkten Zusammenarbeit folgt dem Vorbild des Protokolls über die Sozialpolitik. Art. 44 Abs. 2 EU unterscheidet zwischen den operativen Ausgaben und den allgemeinen Verwaltungskosten. Während Letztere allen Mitgliedstaaten nach Maßgabe des gemeinschaftlichen Haushaltsrechts zur Last fallen, treffen Erstere nur die an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Länder. Einigen sich die Teilnehmerstaaten beispielsweise auf besondere Förderprogramme, müssen die zu vergebenden Mittel als operative Ausgaben nur von ihnen aufgebracht werden. Der Kostenaufwand, der durch Verwaltung und Prüfung dieser Förderprogramme durch die Kommission, den Rechnungshof und gegebenenfalls den Gerichtshof entsteht, fällt unter die Verwaltungskosten und damit allen Mitgliedstaaten zur Last. Dem Rat kommt nach Art. 44 Abs. 2 EU die Befugnis zu, diese Finanzierungsregel im Einzelfall durch einstimmigen Ratsbeschluss der Gesamtheit der Ratsmitglieder 980 abzuändern. Der Vertrag von Nizza setzt vor diesen haushaltsrelevanten Beschluss das Erfordernis einer Anhörung des europäischen Parlaments (Art. 44a EUV-Nizza). Dabei ist nach bisheriger wie nach künftiger Rechtslage fraglich, ob der Rat durch diese Abänderungsbefugnis nur die operativen Ausgaben dem gemeinsamen Haushalt auferlegen kann oder ob er auch die Verwaltungskosten auf die Teilnehmerstaaten zu beschränken vermag. Da sich die Verwaltungskosten der Organe nur schwer nach dem Integrationsniveau aufteilen lassen, auf dem die Organe tätig sind, besteht sinnvollerweise nur die erstgenannte Möglichkeit. 9 8 1

V. Die Beschränkung völkerrechtlicher Kooperationsformen Im bisherigen Verlauf des zweiten Teils der Untersuchung wurde den Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit in ihrer Bedeutung für solche mitgliedstaatlichen Kooperationen Aufmerksamkeit geschenkt, die innerhalb des Unionsrahmens, also unter Inanspruchnahme der in EUV und 979

Vgl. Tuytschaever, in Lejeune, S. 405, 407. Siehe hierzu auch die Ausführungen zur differenzierten Außenvertretung in der Wirtschafts- und Währungsunion, Teil 1 C.III.3.d)dd). 980 Obgleich die Einbeziehung der Gesamtheit der Ratsvertreter bei der Festlegung abweichender Finanzierungsmodalitäten als Selbstverständlichkeit erscheint, fügt der Vertrag von Nizza in Art. 44a EUV-Nizza insoweit eine klarstellende Ergänzung ein: ,,[D]urch einstimmigen Beschluss sämtlicher Ratsmitglieder", Hervorhebung d. Verf. 981 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 375.

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

EGV vorgesehenen Organe, Verfahren und Mechanismen angestrengt werden. Daneben stellt sich die Frage, ob der Amsterdamer Flexibilisierungsklausel zugleich Folgen für die Zulässigkeit völkerrechtlich organisierter Formen mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit zukommt, die sich außerhalb des Unionsrahmens bewegen. 982 Ein Teil des Schrifttums vertritt die Auffassung, dass diese außerinstitutionellen Kooperationen seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam unzulässig seien, soweit sich die Mitgliedstaaten statt der herkömmlichen völkerrechtlichen Handlungsmittel der neuen Differenzierungsmöglichkeiten des Titels V I I EU bedienen könnten. 983 Soweit das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nunmehr einen speziellen rechtlichen Rahmen für partielle Integrationsvertiefungen anbiete, seien die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG) auch dazu verpflichtet, sich nur dieses Rahmens zu bedienen. 984 Schließlich hätten die Amsterdamer Vertragsparteien die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit gerade deshalb in den EUV und EGV eingefügt, um die als nachteilig empfundenen Formen der Zusammenarbeit außerhalb der Europäischen Union zu begrenzen. 985 Dieser Meinung in der Literatur ist darin beizupflichten, dass der Wunsch nach einer Eindämmung außerinstitutioneller Formen mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit mit dazu beitrug, die Bestimmungen über die verstärkte Zusammenarbeit in die Verträge aufzunehmen. 986 Dennoch erscheint zweifelhaft, ob sich das bezeichnete Anliegen in dem neuen Titel V I I EU auch hinreichend niedergeschlagen hat. 9 8 7 Der Wortlaut der Art. 43 EU, 982

Die aus dem herkömmlichen Gemeinschaftsrecht zu folgernden Grenzen völkerrechtlich organisierter Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sind dagegen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Der EuGH ging in seiner bisherigen Rechtsprechung von einer grundsätzlichen gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit dieser Kooperationen aus. Vgl. hierzu EuGH, Rs. 44/84 (Urteil Hurd/Jones), Slg. 1986, S. 29, 81 ff. Hierzu eingehend Kort, JZ 1997, S. 640 ff.; de Witte, in de Burca/Scott, S. 31 ff. 983 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 755; Martenczuk, ZEuS 1998, 447, 464; Martin/Nanclares, Revista de Derecho Communitario Europeo 1998, S. 205, 220 f. 984 Vgl. Constantinesco, RtDE 1997, S. 751, 755. 985 Vgl. Martenczuk, ZEuS 1998, S. 447, 464. Ähnlich Ost, DÖV 1997, S. 495, 502 f., der zufolge die Integrationsförderlichkeit der allgemeinen Flexibilisierungsklausel von dem Ausschluss völkerrechtlicher Kooperationsmöglichkeiten außerhalb des Unionsrahmens abhängt. 986 Siehe hierzu oben, Teil 2 A.I.l. 987 Während der Regierungskonferenz 1996/1997 waren Anregungen zur Aufnahme eines Vertragsartikels, der die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit außerinstitutioneller Kooperationsformen regeln sollte, kein Erfolg beschieden. Vgl. hierzu Kotzias, in Breuss/Griller, S. 1, 24.

D. Die Rechtsirkungen und Folgen verstärkter Zusammenarbeit

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Art. 40 EU und Art. 11 EG deutet vielmehr darauf hin, dass sich die mitgliedstaatlichen Delegationen auf den weitreichenden Souveränitätsverzicht, den eine Beschränkung der herkömmlichen völkerrechtlichen Kooperationsmöglichkeiten mit sich gebracht hätte, nicht haben einigen können. 9 8 8 Titel V I I EU offeriert einem Teil der Mitgliedstaaten unter den in ihm näher formulierten Voraussetzungen ausdrücklich die Möglichkeit, 9 8 9 die Organe, Verfahren und Mechanismen von EUV und EGV in den Dienst ihrer Kooperation zu stellen. Eine Verpflichtung zur Nutzung des EU-Handlungsinstrumentariums kommt in seinen Vorschriften gerade nicht zum Ausdruck. 9 9 0 Eine solche Verpflichtung würde im Hinblick auf den durch Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU beschränkten Anwendungsbereich des neuen Flexibilisierungsinstruments auch zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Da die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit an eine Mindestteilnehmerzahl von acht Mitgliedstaaten geknüpft i s t , 9 9 1 müsste es einer geringeren Zahl von Mitgliedstaaten weiterhin unbeschränkt offen stehen, ihre an den Unionszielen orientierte Kooperation außerhalb des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union zu betreiben. Schließlich liegt das völkerrechtliche Tätigwerden einer solchen Kleingruppe gem. Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit. 992 Es ist aber schwer einzusehen, 988

Vgl. Griller/Dr outsas/ F alkner /For gó/N entwich, S. 234. „können ... in Anspruch nehmen", Hervorhebung d. Verf. Auch die englische und französische Wortfassungen „may" bzw. „peuvent" sind insoweit eindeutig. 990 Vgl. Grille r/Droutsas/Fa Ikner/Fo r gó/N entwich, S. 234; Hofmann, EuR 1999, S. 713, 727 f.; Solis, S. 29. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Scheitern eines Änderungsvorschlags, der seitens des Vertreters des Europäischen Parlaments Elmar Brök in die Verhandlungen der Regierungskonferenz 2000 eingebracht wurde. Der EVP-Parlamentarier hatte angeregt, den bisherigen Wortlaut „können" in ein „müssen" abzuändern. Eine entsprechende Formulierung im Vertrag von Nizza hätte klarstellen sollen, dass in Fragen europäischer Integration keine anderen Wege beschritten werde dürfen als die innerhalb des Unionsrahmens. Der Vorschlag konnte sich aufgrund seiner weitreichenden Konsequenzen nicht durchsetzen. Vgl. hierzu Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Dokument PE 294.706, S. 5; nicht veröffentlicht. 991 Unter Zugrundelegung der gegenwärtigen Anzahl von 15 Mitgliedstaaten. Da der Vertrag von Nizza vor der nächsten Erweiterungsrunde in Kraft treten dürfte, ist davon auszugehen, dass es entsprechend der zahlenmäßigen Festsetzung in Art. 43 Abs. 1 lit. g) EUV-Nizza bei dieser Mindestteilnehmerzahl bleiben wird. 992 Anders nur, wenn man davon ausginge, dass auch Kooperationen von einer Gruppe von sieben oder weniger Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich des Titels VII EU fielen. In diesem Fall dürften sich mitgliedstaatliche Kleingruppen weder unter Inanspruchnahme des rechtlichen und institutionellen Rahmens der EU noch unter Rückgriff auf die herkömmlichen Mittel des Völkerrechts den Zielen der Europäischen Union oder dem Schutz ihrer Interessen widmen. Dies würde die völ989

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

warum die Integrationsbestrebungen einer größeren Anzahl von Mitgliedstaaten weitergehenderen Beschränkungen unterliegen sollten als die Verfolgung der Unionsziele seitens einer kleineren mitgliedstaatlichen Pioniergruppe. 993 Daher ist festzuhalten, dass den integrationswilligen Mitgliedstaaten auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam in herkömmlichem Umfang die Möglichkeit offen steht, die in EUV und EGV beschriebenen Ziele im Wege völkerrechtlich organisierter Kooperationen ihrer Verwirklichung näher zu bringen. 9 9 4 Hieraus folgt jedoch nicht, dass den Bedingungen des Titels V I I EU für die völkerrechtliche Zusammenarbeit eines Teils der Mitgliedstaaten keine Bedeutung zukommt. Die Vorgaben, Verbote und Prinzipien der Art. 43, Art. 40 EU und Art. 11 EG stellen sich auch als Konkretisierungen der aus Art. 10 EG resultierenden allgemeinen Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten dar. Die kooperierenden EU-Mitglieder werden sich daher im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrags nicht völlig von den Anordnungen dieser Vertragsartikel befreien können. 9 9 5

E. Abschließende Bewertung zum zweiten Teil Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit normieren eine generalklauselartige Differenzierungsermächtigung, die künftig auf einheitliche und detaillierte Weise regelt, unter welchen Voraussetzungen, nach Maßgabe welcher rechtlichen Vorgaben und mit welchen Folgen sich mitgliedstaatliche Pioniergruppen des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union bedienen dürfen. Das unabgestimmte Nebeneinander unterschiedlicher Flexibilisierungskonstrukte, welches zur mangelnden Transparenz der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik maßgeblich beigetragen hat, wird für die Zukunft vermieden. Die Mehrheit der Problemstellungen, die das Vorgehen auf unterschiedlichen Integrationsstufen im Unionsrahmen aufwirft, erfährt in Titel V I I EU eine zufriedenstellende Lösung. Die detailliert geregelten Einsetzungsverkerrechtliche Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten aber angesichts der weit formulierten Unionsziele in schwer zu rechtfertigendem Umfang beschränken. Vgl. hierzu Tuytschaever, S. 53; Weatherill, in o'Keeffe/Twomey, S. 21, 34 f. 993 Die Normierung des Erfordernisses einer Mindestteilnehmerzahl in Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU ist schließlich gerade vor dem Hintergrund zu sehen, dass beim Vorgehen in Kleingruppen nachteilige Auswirkungen auf den Integrationsprozess wahrscheinlicher sind. Siehe hierzu oben, Teil 1 B.I.5.a). 994 Vgl. Griller/Droutsas/FaIkner/Fo rgó/N entwich, S. 234; Hofmann, EuR 1999, S. 713, 727 f.; Oppermann, Europarecht, Rdnr. 534; Solis, S. 29. 995 Vgl. Ehlermann, EuR 1997, S. 362, 372; ähnlich Hatje, in Schwarze, Art. 44 EUV Rdnr. 28; Hofmann, EuR 1999, S. 713, 728.

E. Abschließende Bewertung zum zweiten Teil

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fahren stellen vor die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit eine transparente Prozedur, die es nicht nur den Mitgliedstaaten, sondern auch der Kommission und dem Europäischen Parlament gestatten, das zulässige Maß der weiteren Flexibilisierung des europäischen Rechts zu steuern. Die Regeln über den Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit garantieren, dass über die Beteiligung der Nichteilnehmerstaaten nicht nach Maßgabe einzelstaatlicher Interessen entschieden wird. Sie verbürgen aber umgekehrt, dass es einen „Beitritt à la carte" nach Vorbild des britischen Opt-in zum überführten Schengen-Recht nicht geben wird. Dem EuGH sind für die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit umfangreiche Zuständigkeiten eingeräumt, die in der ersten und dritten Unionssäule eine Beachtung der neuen Vorschriften sicherstellen und eine einheitliche Auslegung und Anwendung des im Verlauf der Kooperation geschaffenen partiellen Rechts gewährleisten. Unterschiedlich zu bewerten sind die vielfältigen prozeduralen und materiellen Schranken, die dem neuen Differenzierungsinstrument gesetzt wurden. Ein Teil der in Art. 43 Abs. 1 EU, Art. 40 Abs. 1 EU und Art. 11 Abs. 1 EG normierten Voraussetzungen sind im Hinblick auf die Gefahren einer übermäßigen Differenzierung sinnvoll. So schützen das Rückschrittsverbot des Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU, die Pflicht zur Wahrung des acquis communautaire in Art. 43 Abs. 1 lit. e) EU und der umfassende Vorrang des unionsweit geltenden Rechts gem. Art. 43 Abs. 1 lit. b), lit. c) EU und lit. e) vor einer Zersplitterung der gemeinschaftlichen Rechtseinheit. Das Verbot der Errichtung paralleler institutioneller Strukturen in Art. 43 Abs. 1 lit. b) EU beugt einer Relativierung des einheitlichen institutionellen Rahmens vor. Art. 43 Abs. 1 lit. a) EU fördert den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten der unterschiedlichen Integrationsstufen, indem er sie auf die gemeinsamen Unionsziele verpflichtet. In den übrigen Begrenzungen, die der Einsetzung und Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit gesetzt sind, spiegelt sich dagegen die fortbestehende grundsätzliche Ablehnung einzelner Mitgliedstaaten gegenüber der nicht länger primärrechtlich eingegrenzten Flexibilisierungsmöglichkeit des Titels V I I EU. Der Zweck dieser Bestimmungen liegt teils allein darin, das neue Differenzierungsinstrument zu behindern oder zu blockieren. So wird es den enger kooperierenden Mitgliedstaaten grundlos verwehrt, dort zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat überzugehen, wo EGV und EUV Einstimmigkeit erfordern. Auch ist die jedem Mitgliedsland in Art. 40 Abs. 2 EU und Art. 11 Abs. 2 EG zugestandene Veto-Möglichkeit gegen die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit nicht zu rechtfertigen, da den Nichtteilnehmerstaaten bereits nach Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU ein hinreichender und justiziabler Schutz ihrer Belange garantiert ist. Zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der Bestimmungen über eine verstärkte 17 Kellerbauer

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

Zusammenarbeit führen schließlich die ausufernden Verbote in Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG (Verbot der Beeinträchtigung von Gemeinschaftspolitiken, -aktionen und -programmen), in Art. 11 Abs. 1 lit. e) EG (Verbot von Handelsbeschränkungen und Wettbewerbsverzerrungen) und in Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU (Verbot der Beeinträchtigung der Interessen der Nichtteilnehmerstaaten). Obgleich sich erst im Zuge der Auslegung und Handhabung der Regeln des Titels V I I EU durch den Rat, die Kommission und letztlich den EuGH zuverlässige Aussagen über das ihnen innewohnende Maß an Flexibilisierung treffen lassen, deuten diese Einschränkungen darauf hin, dass der Spielraum verstärkter Zusammenarbeit so weit verengt ist, dass der Erlass normativ-verbindlicher Rechtsakte kaum möglich sein wird. Die auf dem Gipfel von Nizza hervorgetretenen Konfliktlinien und Interessenskollisionen, die auch vor den sechs EWG-Gründungsmitgliedern nicht Halt machten, lassen darauf schließen, dass derzeit kein „europäisches Gravitationszentrum" erhöhter Interessenskonvergenz vorhanden ist, auf das eine verstärkte Zusammenarbeit gestützt werden könnte. 9 9 6 Dennoch ist den EU-Mitgliedern im Vertrag von Nizza eine grundlegende Reform der Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit gelungen. Nicht zuletzt dem Drohpotential außervertraglicher Kooperationsformen ist es zu verdanken, dass eine Lockerung der prozeduralen und materiellen Beschränkungen erzielt werden konnte. Die deutlichste Verbesserung wird der Vertrag von Nizza bei seinem Inkrafttreten für den Einsetzungsbeschluss zur Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit herbeiführen. Indem er das mitgliedstaatliche Veto-Recht gegen eine verstärkte Zusammenarbeit in der ersten und dritten Säule beseitigt, könnte sich das Differenzierungsinstrument künftig in seiner ihm seit Anbeginn zugedachten Funktion zur Überwindung von Integrationsblockaden als nützlich erweisen. Allerdings wird diese Errungenschaft dadurch relativiert, dass die verstärkt zusammenarbeitenden Mitgliedstaaten weiterhin nicht zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen übergehen können, wo dies den vertraglichen Vorgaben für die EU-15 widerspricht. Dort, wo die Verträge die einstimmige Beschlussfassung im Rat vorsehen - dies sind die Bereiche, in denen eine Dynamisierung der Entscheidungsprozesse durch Flexibilisierung am dringlichsten erforderlich ist - wird es auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Nizza jedem Mitgliedstaat gestattet sein, sich einer verstärkten Zusammenarbeit bei ihrer Begründung anzuschließen, um sie in der Folgezeit zu blockieren. 996 Auf dem Gipfel in Nizza machte sich insbesondere ein Ausfall der deutschfranzösischen Führungsrolle bemerkbar. Hierzu eingehend Schild, Aktuelle Frankreich-Analysen, Februar 2001, S. 2 f. Ohne Deutschland und Frankreich als Antriebsfaktor ist die Bildung einer europäischen Avantgarde aber wenig wahrscheinlich.

E. Abschließende Bewertung zum zweiten Teil

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Was die materiellen Voraussetzungen zur Einsetzung und Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit anbelangt, sind in Nizza zwar Fortschritte erzielt worden. Zu nennen sind insbesondere die Aufhebung des Art. 11 Abs. 1 lit. b) EG, die Herabsetzung des Quorums einer Mehrheit zusammenarbeitender Mitgliedstaaten in Art. 43 Abs. 1 lit. d) EU und die Streichung des Schutzes mitgliedstaatlicher Interessen in Art. 43 Abs. 1 lit. f) EU. Die zentralen Beschränkungen der Art. 11 Abs. 1 lit. d) und e) EG bleiben dagegen nicht nur im Wesentlichen unverändert erhalten, sondern werden in ihrem Anwendungsbereich zudem auf die verstärkte Zusammenarbeit in allen Unionssäulen erweitert. Weit hinter den Erwartungen zurück bleibt die Ausweitung des Anwendungsbereichs verstärkter Zusammenarbeit auf die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik. In Anbetracht der dort geltenden mitgliedstaatlichen Vetomöglichkeit, der Beschränkung verstärkter Zusammenarbeit auf die Durchführung der niederrangigen GASP-Handlungsinstrumente und des Ausschlusses in Bereichen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen ist der praktische Nutzen der Neuregelung gering. Die seit dem Kosovo-Konflikt bemerkbare neue Dynamik in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik 997 kann unter diesen Bedingungen nicht durch europäische Pioniergruppen genutzt oder umgekehrt gefördert werden. Auf der Regierungskonferenz 2000 überwog demnach weiterhin das Anliegen, den Handlungsspielraum der bislang noch nicht erprobten Differenzierungsklauseln möglichst eng zu begrenzen. Im Hinblick auf die fortbestehenden Beschränkungen verstärkter Zusammenarbeit ist davon auszugehen, dass dem neuen Differenzierungsmechanismus trotz seines potentiell weitreichenden Anwendungsfeldes auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Nizza weniger Bedeutung zukommen wird als den politikbereichsbezogenen Differenzierungsformen in der Wirtschafts- und Währungsunion sowie in der Justiz- und Innenpolitik. Das größte Verdienst der Regelung über die verstärkte Zusammenarbeit liegt daher unverändert in der durch sie bewirkten Anerkennung des Stellenwerts teilnahmebezogener Differenzierungen für den Integrationsprozess. Das Voranschreiten unter Ausschluss einzelner Mitgliedstaaten, bislang im rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU ein primärrechtlich zu genehmigender Ausnahmefall, ist durch die Bestimmungen des Titels V I I EU zu einer legitimen Integrationsmethode geworden. Die Attraktivität, die erforderlich ist, um das Integrationspotential mit997

Der Eindruck der begrenzten Handlungsfähigkeit der EU im Kosovo und während der Balkan-Konflikte hat die Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beflügelt. Seit der beiden EU-Gipfeltreffen des Jahres 1999 in Köln und Helsinki macht sich die Bereitschaft bemerkbar, das Handlungspotential der EU im zweiten Pfeiler spürbar zu erweitern. Zu dieser jüngeren Entwicklung Duke, European Foreign Affairs Review 2001, S. 155 ff.; Freiburghaus, S. 285 f. 17*

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2. Teil: Die Bestimmungen zwischen den Mitgliedstaaten

gliedstaatlicher Pioniergruppen künftig im Unionsrahmen zu bündeln, weisen die Differenzierungsklauseln indes nicht auf. Von hoher Tragweite bleibt daher die fortbestehende gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit außervertraglicher Kooperationsmöglichkeiten. Gem. Art. 43 Abs. 1 EU „können" sich mitgliedstaatliche Gruppen der neuen Differenzierungsklauseln bedienen, um das europäische Aufbauwerk unter Rückgriff auf die vertraglichen Organe, Verfahren und Mechanismen voranzubringen. Ein schnelleres Voranschreiten in Richtung einer politischen Union wird einer Avantgarde dagegen nur gelingen, wenn sie sich - wie von Joschka Fischer und Jacques Chirac angeregt - außerhalb des EUV und des EGV erweiterte Handlungsmöglichkeiten erschließt.

Zusammenfassung 1. Der Begriff der Differenzierung im europäischen Integrationsprozess bezeichnet die Existenz von Unions- oder Gemeinschaftsrecht, das den Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Umfang Rechte und Pflichten einräumt bzw. auferlegt. Vor dem Hintergrund der wachsenden sozioökonomischen Heterogenität in der Europäischen Union und als Antwort auf die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Vorstellungen über die Stoßrichtung und das Schrittmaß des Integrationsprozesses haben die EU-Mitgliedstaaten im Vertrag von Maastricht ein neues Differenzierungskonzept umgesetzt. Auf Grundlage einer primärrechtlichen Ermächtigung bedient sich eine Gruppe verstärkt kooperierender Mitgliedstaaten des rechtlichen und institutionellen Rahmens der EU zur Erweiterung des Unions- und Gemeinschaftsrechts. Die übrigen EU-Mitglieder werden durch das geschaffene Recht weder berechtigt noch verpflichtet. Sie verzichten darauf, über ihre Vertreter auf die Entscheidungsfindung im engeren Teilnehmerkreis einzuwirken und erlangen ihren herkömmlichen Einfluss auf das Rechtsetzungsverfahren erst zurück, wenn sie sich im Wege der Übernahme des erweiterten Rechtsbestands dem höheren Integrationsniveau anschließen. Die rechtliche Verwirklichung des neuen Differenzierungskonzepts führt zur Bildung unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Teilnehmerkreise, die in völlig unterschiedlichem Umfang an der in Angriff genommenen Fortentwicklung zentraler Unions- und Gemeinschaftspolitiken beteiligt sind. Es ist daher von „teilnahmebezogenen Differenzierungen" zu sprechen. 2. Umgesetzt wurde das neue Differenzierungskonzept bis zum heutigen Zeitpunkt in der gemeinsamen Sozialpolitik, in der Wirtschafts- und Währungsunion sowie in der sich herausbildenden gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik. Diese Anwendungsbeispiele gestatten Aufschlüsse über die Hintergründe, Chancen, Risiken und rechtlichen Problemstellungen teilnahmebezogener Differenzierung. Der Erkenntnisgewinnung sind jedoch Grenzen gesetzt, da bestimmte Formen des neuen Konzepts bislang nicht zur Anwendung gelangten. Der differenzierte Integrationsfortschritt wurde stets von einer starken Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten getragen. Kleingruppen, die den rechtlichen und institutionellen Rahmen der EU für sich in Anspruch nehmen, haben sich nicht gebildet. Ferner blieb bisher kein Mitgliedstaat aufgrund seiner unzureichenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dauerhaft hinter den übrigen zurück. Erst das ökonomische und soziale Gefalle in einer um die Kandidatenländer Mittel- und Osteuropas erweiter-

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Zusammenfassung

ten EU wird zeigen, welche Gefahren von teilnahmebezogenen Differenzierungen ausgehen, denen ein mangelndes Integrationspotential zugrunde liegt. 3. Eine Differenzierung unter Rückgriff auf den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europäischen Union erweist sich gegenüber der Kooperation einzelner Mitgliedstaaten auf Grundlage klassischer internationaler Verträge als vorteilhaft. Die Inanspruchnahme des rechtlichen Rahmens ermöglicht es, das auf seine Effizienz erprobte gemeinschaftliche Handlungsinstrumentarium für eine Integrationsvertiefung nutzbar zu machen. Eine Ausrichtung der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit an den Interessen und Zielen der Europäischen Union wird begünstigt. Die Einbeziehung der Gemeinschaftsorgane wirkt der Schaffung konkurrierender institutioneller Strukturen entgegen. Sie erleichtert die Abstimmung zwischen den an der Integrationsvertiefung beteiligten und den an ihr unbeteiligten Mitgliedstaaten und garantiert ein Maß an parlamentarischer und gerichtlicher Kontrolle, das in herkömmlichen völkerrechtlichen Kooperationsformen nicht anzutreffen ist. 4. Teilnahmebezogene Differenzierungsformen üben ein zweifaches Vertiefungspotential auf den Europäischen Integrationsprozess aus. Widerstreitende Auffassungen der EU-Mitglieder über Tempo und Zielrichtung des Integrationsprozesses lähmen und blockieren nicht länger die Entscheidungsverfahren. Dies hat eine Dynamisierung der Rechtsetzungsverfahren im Kreis der voranschreitenden Mitgliedstaaten zur Folge. Im Hinblick auf die zurückbleibenden EU-Mitglieder ist eine Anziehungs- oder Fernwirkung des differenzierten Integrationsfortschritts bemerkbar. Infolge der wirtschaftlichen Interdependenzen und der politischen Interessensverflechtungen in der Europäischen Union lassen sich die Auswirkungen von Unions- und Gemeinschaftsrecht nicht auf einen differenzierten Geltungsbereich begrenzen. Die in ihren Einwirkungsrechten auf den weiteren Integrationsverlauf beschnittenen Mitgliedstaaten geraten daher unter den Zugzwang, Einfluss auf Rechtssetzungsvorgänge zurückzuerlangen, die mit faktischer Wirkung für ihr Staatsgebiet, aber ohne ihre herkömmlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten betrieben werden. Es ist dem Zusammenspiel beider Vertiefungsmechanismen zuzuschreiben, dass die bedeutsamsten Integrationsvorhaben des vergangenen Jahrzehnts unter Verwendung teilnahmebezogener Differenzierungsformen verwirklicht wurden. 5. Die Umsetzung des neuen Differenzierungskonzepts führt zu elementaren Beschränkungen des Grundsatzes der Rechtseinheit, die nicht mit den herkömmlichen Differenzierungen vergleichbar sind. Die umfassende Freistellung einzelner Mitgliedstaaten von der Weiterentwicklung gesamter Politikbereiche kann die Gleichbehandlung der EU-Mitglieder und ihrer Staatsangehörigen in Frage stellen und Gefahren für den Zusammenhalt in der

Zusammenfassung

Europäischen Union bergen. In Gemeinschaftspolitiken mit engem Binnenmarktbezug sind Beschränkungen des zwischenstaatlichen Handels und Verzerrungen der gemeinschaftlichen Wettbewerbsbedingungen mögliche Folgen der Relativierung der Einheitlichkeit des gemeinschaftlichen Rechtsraums. Der Grundsatz der Rechtseinheit steht mit dem Vertragsziel der Fortführung des Integrationsprozesses in einem Spannungsverhältnis. Die Mitgliedstaaten sind - unabhängig von der ihnen als „Herren der Verträge" zukommenden Vertragsrevisionsbefugnis - zu weitreichenden Beschränkungen dieses Grundsatzes befugt, wenn sich einem Stillstand im Europäischen Aufbauwerk nicht anders abhelfen lässt. Dabei ist ihnen ein weit gespannter Ermessensspielraum zugebilligt, um den Zielkonflikt zwischen Stagnation bei Wahrung der Rechtseinheit und Fortentwicklung um den Preis der Beschränkung des Grundprinzips durch eine Konkordanz zu beheben. 6. Die auf einen Teil der Mitgliedstaaten beschränkte Geltung primärrechtlicher Handlungsermächtigungen führt zur Herausbildung von Unionsund Gemeinschaftsrecht, das infolge seines beschränkten Geltungsumfangs vom herkömmlichen acquis communautaire zu unterscheiden ist. Die Koexistenz unterschiedlicher gemeinschaftlicher Besitzstände wirft rechtliche Fragen neuer Art auf, deren Beantwortung ein reibungsloses Funktionieren der neuen Differenzierungsformen erst ermöglicht. Da beschränkt und gesamtgemeinschaftlich geltendes Recht für den gleichen Lebenssachverhalt unterschiedliche Kompetenzgrundlagen bereithalten und unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen kann, müssen Rangordnung und Kollisionsfolgen bestimmt werden. Wachsen der Europäischen Gemeinschaft nur im Verhältnis zu einem Teil ihrer Mitgliedstaaten zusätzliche Außenkompetenzen zu, bleiben die übrigen EU-Mitglieder zum Abschluss internationaler Vereinbarungen befugt. Daher ist für jede teilnahmebezogene Differenzierung zu ermitteln, ob die auf dem Integrationspfad zurückbleibenden Mitgliedstaaten völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen befugt sind, die einen späteren Anschluss an das erweiterte Kompetenzniveau erschweren können. Gleichsam muss den Differenzierungsvereinbarungen zu entnehmen sein, in welchem Umfang EU-Kandidatenländer zur Übernahme von Unions- und Gemeinschaftsrecht verpflichtet sind, das differenzierungsbedingt nur für einen Teil der bisherigen Mitgliedstaaten Bindungswirkung entfaltet. 7. Die durch den Vertrag von Amsterdam eingefügten „Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit" sind als Weiterentwicklung und Institutionalisierung des Konzepts teilnahmebezogener Differenzierung zu verstehen. An Stelle der primärrechtlich auf bestimmte Politikbereiche beschränkten Differenzierungseinzelermächtigungen tritt eine Generalklausel, mittels derer einem Teil der Mitgliedstaaten in der ersten und dritten Unionssäule durch Ratsbeschluss die Nutzung der Organe, Mechanismen und Verfahren des Unions- und des Gemeinschaftsvertrags gestattet werden

264

Zusammenfassung

kann. Die Neuregelung normiert einheitlich, unter welchen Voraussetzungen, nach Maßgabe welcher Vorgaben und mit welchen rechtlichen Konsequenzen sich verstärkt zusammenarbeitende Mitgliedstaaten des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Union bedienen dürfen. Ein unabgestimmtes Nebeneinander unterschiedlicher teilnahmebezogener Differenzierungsformen, das insbesondere in der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik zu mangelnder Transparenz geführt hat, lässt sich für künftige Anwendungsfälle vermeiden. Ungeachtet dieser Vereinheitlichungsfunktion belässt die Generalklausel den Mitgliedstaaten die Befugnis, die Ziele der EU im Wege völkerrechtlich organisierter Kooperationen zu verwirklichen. 8. Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit regeln die Mehrzahl der rechtlichen Problemstellungen teilnahmebezogener Differenzierungen eingehend und zufriedenstellend. Unionssäulenspezifische Einsetzungsverfahren stellen vor die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit eine transparente Prozedur, die es nicht nur den Mitgliedstaaten, sondern auch der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament gestattet, das zulässige Maß der weiteren Flexibilisierung des Unions- und Gemeinschaftsrechts zu steuern. Die vom „Grundsatz der Offenheit" bestimmten Vorschriften über den Beitritt zu einer verstärkten Zusammenarbeit stellen sicher, dass über den Anschluss an das höhere Integrationsniveau nicht nach Maßgabe einzelstaatlicher Interessen entschieden wird. Wie die bereichsbeschränkt umgesetzten teilnahmebezogenen Differenzierungen darf eine verstärkte Zusammenarbeit nicht zu einer Beeinträchtigung berechtigter Belange der an ihr unbeteiligten Mitgliedsländer führen. In Anerkennung der Legitimität differenzierter Integration garantiert die Neuregelung, dass auch die enger kooperierenden EU-Mitglieder keinen unbegründeten Behinderungen ausgesetzt sind. Zur Beachtung des dem Differenzierungsinstrument gesetzten rechtlichen Rahmens und im Interesse der Wahrung der Autorität des im engeren Teilnehmerkreis geschaffenen Unions- und Gemeinschaftsrechts sind dem Europäischen Gerichtshof weitreichende Prüfungskompetenzen eingeräumt. 9. Kritisch zu bewerten sind die vielfältigen prozessualen und materiellen Anforderungen, an denen die Rechtmäßigkeit der Begründung und der Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zu messen sind. Die materiellen Beschränkungen lassen sich durch die Gefahren einer übermäßigen Differenzierung nur teilweise rechtfertigen. Das Verbot, die Rechtssetzungsverfahren im Kreis der enger kooperierenden EU-Mitglieder zu vereinfachen, verringert das Integrationspotential der neuen Differenzierungsermächtigung ohne Notwendigkeit. Andere Hürden drohen den Anwendungsbereich verstärkter Zusammenarbeit faktisch auf die dritte Unionssäule zu reduzieren. Sie sind nur bei restriktiver Auslegung mit der Grundentscheidung der Amsterdamer Vertragsstaaten vereinbar, mit der Generalklausel

Zusammenfassung

des Titels V I I EU-Vertrag auch dem Differenzierungsbedarf im Bereich der Europäischen Gemeinschaft Rechnung zu tragen. Ein faktisches Vetorecht ermöglicht es jedem Mitgliedstaat, die Einsetzung einer verstärkten Zusammenarbeit aus wichtigen Gründen nationaler Politik zu verhindern. Die Möglichkeit zur Überwindung von Blockaden im Integrationsprozess wird durch diese Hinderungsbefugnis grundlegend in Frage gestellt. 10. Im Vertrag von Nizza einigten sich die EU-Mitgliedstaaten darauf, die Regeln zur Begründung und Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit weiter zu vereinheitlichen und zugleich permissiver zu gestalten. Das Vetorecht im ersten und dritten Unionspfeiler wird beseitigt. Dagegen bleiben bedeutsame materielle Ausschlusskriterien unberührt. Der Anwendungsbereich der Generalklausel erstreckt sich künftig auf alle drei Unionspfeiler. Eine verstärkte Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik darf sich indes nur der Durchführung der niederrangigen vertraglichen Handlungsinstrumente annehmen und ist in Bereichen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen von vorneherein ausgeschlossen. Der praktische Nutzen des erweiterten Anwendungsbereichs wird ferner durch die in der zweiten Säule fortbestehende einzelstaatliche Vetomöglichkeit verringert. Die Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit sind daher auch nach ihrer Reform durch den Vertrag von Nizza unzureichend, um den steigenden Bedarf der Europäischen Union nach flexibler Integration zu decken.

Dokumente der Regierungskonferenz 2000 CONFER 4719

Memorandum Griechenlands Brüssel, 3. 3. 2000.

CONFER 4723

Bemerkungen Finnlands über die institutionelle Reform, Brüssel 7. 3. 2000.

CONFER 4750

Regierungskonferenz über die institutionelle Reform, Bericht des Vorsitzes an den Europäischen Rat (Feira), Brüssel, 14. 6. 2000.

CONFER 4761

Vermerk des Vorsitzes, Verstärkte Zusammenarbeit, Brüssel 18. 7. 2000.

CONFER 4765

Bemerkungen der belgischen Delegation zur verstärkten Zusammenarbeit, Brüssel, 28. 8. 2000.

CONFER 4780

zur

Regierungskonferenz,

Ministerkonklave, Verstärkte Zusammenarbeit, Brüssel 5.10.

2000.

CONFER 4783/00

Positionspapier der deutschen und italienischen Delegation zur verstärkten Zusammenarbeit, Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Brüssel, 6. 10. 2000.

CONFER 4787

Memorandum der Benelux Staaten, Brüssel, 19. 10. 2000.

CONFER 4798/00

Aufzeichnung des Vorsitzes, Verstärkte Zusammenarbeit, Brüssel, 9. 11. 2000.

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averzeichnis Abkommen über die Sozialpolitik siehe Sozialabkommen 50 acquis communautaire 41, 53, 111, 179 acquis communautaire, partieller 61, 80, 143, 250 AETR-Rechtsprechung 126 Aufholmechanismus 110,229 Betriebsratsrichtlinie 87 Brandt-Rede 26, 28, 92 Delors-Plan 93 Differenzierte Integration siehe Differenzierung 24 Differenzierung - Begriff 24 - herkömmliche 41 - neuartige siehe Teilnahmebezogene Differenzierung 41 Diskriminierungsverbot 194 ECOFIN-Rat 106 Einheitliche Europäische Akte 31, 131 Erweiterter Rat 107 Euro-12-Gruppe 105 Europa der Bürger 130 Europäische Identität 127 Fischer-Rede 172 Gemeinsame Sozialpolitik - Beitritt Großbritanniens 85 - Beitrittsvorschriften 68 - Beratung und Beschlussfassung 62 - Hintergrund der Differenzierung 49 - Opt-in Vereinbarung 49

- Rechtsnatur des differenzierten Rechts 50, 61 Gemischtes Abkommen 119 Grundsatz der Rechtseinheit 84, 90 Grundsatz der Wettbewerbsgleichheit 83 Institutioneller Rahmen, einheitlicher 75, 178 Justiz und Inneres - Entstehungsgeschichte und Differenzierungshintergrund 137 - Finanzierungsregelung 158 - institutionelle Modifikationen 139, 157 - Opt-out Ermächtigungen 138 Konvergenzkriterien 98, 109, 128 Kramer-Urteil 126 Luxemburger Kompromiss 31, 208 Maastricht-Urteil 195 Organleihe 61 Protokoll über die Sozialpolitik siehe Sozialprotokoll 49 Rangverhältnis differenzierten Rechts 81 Reflexionsgruppe 166 Schäuble/Lamers-Papier 166 Schengen-acquis - Begriff 134 - Bestimmung durch den Rat 145

Sachverzeichnis

- rechtliche Sonderstellung 161 - Überführung in den Unionsrahmen 153 - Weiterentwicklung in der EU 157 Schengener Abkommen 129, 133, 136 Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten 77, 83, 90, 163, 230, 241 Sozialabkommen 52, 84 Sozialcharta von 1989 50 Soziales dumping 77, 88 Sozialprotokoll 49, 84 Spill-over-Effekte 21, 128 Staatenverbund 22 Staatsvolk, europäisches 65 Stabilitäts- und Wachstumspakt 95 Teilnahmebezogene Differenzierung - Anziehungswirkung 86-87, 89, 111, 162 - differenzierte Außenkompetenzen 111, 127, 226 - Finanzierungsregelung 67, 143 - Hintergrund und Entstehungsgeschichte 33 - Institutionelle Modifikationen 42 - Wesenszüge 43 Tindemans-Bericht 26, 29, 30, 92 ultima-ratio-Gebot 82, 84, 141, 175, 182, 183, 223, 247 Unionsbürgerschaft 190 Verstärkte Zusammenarbeit - Ausübung von Außenkompetenzen 226 - Bedeutung für EU-Beitrittskandidaten 250 - Begründungsvoraussetzungen 203 - Behinderungsverbot 221

279

- Beitrittsregelung 242 - Einsetzungsverfahren 214 - Entstehungsgeschichte und Reform 173 - Finanzierungsregelung 253 - Folgen für Kompetenzgefüge 252 - Grenzen bei der Durchführung 226 - Grundsatz der Offenheit 187 - institutionelle Modifikationen 220 - Kontrolle durch den EuGH 242 - Nachrangigkeit geschaffenen Rechts 249 - Regeln der Durchführung 242 - Regelungsstruktur der Bestimmungen 175 - Sonderstellung geschaffenen Rechts 250 - Subsidiarität 183 - Veto-Recht 209, 211, 213 Vertrag über die Europäische Union siehe Vertrag von Maastricht 22 Vertrag von Amsterdam 23, 128, 137 Vertrag von Maastricht 33, 43, 94, 100, 103, 132, 162 Vertrag von Nizza 21, 173, 213 Wiener Vertragsrechtsübereinkommen 35, 116, 125 Wirtschafts- und Währungsunion - Außenbeziehungen 104, 111 - Differenzierungshintergrund 99 - Eintritt in die dritte Stufe 108, 124 - Entstehungsgeschichte 95 - Hintergründe der Differenzierung 95 - institutionelle Modifikationen 108 - rechtliche Ausgestaltung 99 - Teilnahmepflicht an dritter Stufe 102 Wirtschaftsunion Benelux 34