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German Pages [422] Year 2013
Brigitte Theophila Schur
»Von hier nach dort« Der Philosophiebegriff bei Platon
Mit 2 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0161-1 ISBN 978-3-8470-0161-4 (E-Book) Das vorliegende Buch wurde im Wintersemester 2011/2012 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation eingereicht. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbildvermerk: Ó bpk j Scala. Ausschnitt »Platon« aus: Fresko (o. J.) von Raffael [1483 – 1520], »Die Schule von Athen«. Vatikan, Stanza della Segnatura Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Glaubst du etwa, dass es ein schlechtes Lebens sei, wenn jemand dorthin schaut und jenes [göttlich Schöne] betrachtet vermittels dessen, womit man es betrachten muss, und mit ihm vereinigt ist? Platon, Symposion 211e4 – 212a2
Meinen Eltern und allen, denen ich mich verdanke
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons 1. Die Freude am Wissen (Heraklit, Thukydides, Herodot) 2. Die naturwissenschaftliche Spekulation (Hippokrates) . 3. Das kreative Denken (Lysias, Aristophanes) . . . . . . . 4. Die Erkenntnis der Tugend (Herodoros, Aischines Sokr., Xenophon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Macht der Rede (Gorgias, Dissoi Logoi) . . . . . . . 6. Das Studium der Rhetorik (Alkidamas, Isokrates) . . .
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II. Das philosophische Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hippias Mi., Menexenos, Charmides: In der Schule der Sophisten . 2. Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen . . . . . . . . . . 2.1. Kritik der Schaureden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Kritik der Dichterrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Kritik der Spruchweisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die Wahrheit und sich selbst prüfen . . . . . . . . . . . . . . 3. Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Ermunterung zur Philosophie und der Eifer um die Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Wissen um den richtigen Gebrauch der Güter . . . . . . 3.3. Philosophie ist Erwerb und Gebrauch des Wissens um das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Das philosophische Gespräch und seine Kritiker . . . . . . .
43 43 49 55 56 59 61 64
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66 68 70 73 77
8
Inhalt
4. Theaitetos: Die Freiheit des Logos und seine Wendung nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Das philosophische Gespräch als geistige Hebammenkunst . 4.2. Das Staunen als Anfang der Philosophie . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Freiheit des Logos und seine Wendung nach innen . . . . 4.4. Philosophie als Flucht »von hier nach dort« und Angleichung an Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82 83 88 93 100
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103 103 111 112 115 118 124 131 132 137 146 152 154
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157 162
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165 165 170 172 181
IV. Der philosophische Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lysis: Philosophie und Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Dem Einsichtigen sind alle freund . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Der Wissensfreund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Weder-Wissenden-noch-Unwissenden sind der Weisheit freund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Philosophie und Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
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189 189 197 198 201
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205 209
III. Das philosophische Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Apologie: Philosophie ist Sorge um die Seele . . . . . . . . . . 1.1. Denker der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Kritik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Möglichkeit und Grenzen menschlichen Wissens . . . . . 1.4. Philosophie ist Sorge um die Seele . . . . . . . . . . . . . 2. Gorgias: Ein Leben im Dienst der Vernunft . . . . . . . . . . . 2.1. Der Logos der Philosophie ist immer derselbe . . . . . . . 2.2. Ein Leben im Dienst der Begierde (Kallikles) . . . . . . . 2.3. Ein Leben im Dienst der Vernunft (Sokrates) . . . . . . . 2.4. Der Philosoph, der das Seinige tut . . . . . . . . . . . . . 3. Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens . . . . . . 3.1. Natur und Erziehung als Grundlage des guten Lebens (Sokrates) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die schönsten und besten Menschen (Kritias) . . . . . . . 3.3. Der Kosmos ist das göttliche Paradigma des guten Lebens (Timaios) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Die Ordnung und Schönheit des Kosmos . . . . . . 3.3.2. Der Mensch zwischen Gott und Tier . . . . . . . . . 3.3.3. Der Mensch wird zu dem, wohin er sieht . . . . . . 3.3.4. Das gute Leben als Harmonie von Seele und Leib . .
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Inhalt
2. Symposion: Philosophie ist die Liebe zum Schönsten . . . . . . 2.1. Philosophie zwischen Begeisterung und Wahnsinn (Apollodoros und Alkibiades) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Philosophie und Päderastie (Pausanias) . . . . . . . . . . . 2.3. Der unphilosophische Eros (Phaidros, Eryximachos, Aristophanes und Agathon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Philosophie ist die Liebe zum Schönsten (Sokrates und Diotima) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Das Wesen des Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Die Wirkungen des Eros . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3. Die kleinen Weihen des Eros – die Zeugungskraft der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4. Die großen Weihen des Eros – die Schau des transzendent Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.5. Der Philosoph und die Liebe zum individuell Schönen 3. Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe . . . . . . 3.1. Keine Kunst der Rede ohne Erkenntnis . . . . . . . . . . . . 3.2. Keine Erkenntnis ohne Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Die Erhebung der Seele an den überhimmlischen Ort der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. »Von hier nach dort« – Liebe ist Erinnerung an die göttliche Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Der Philosoph und die Harmonie der Seele . . . . . .
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V. Der philosophische Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben . . . . . . . . . 1.1. Philosophie als Einübung ins Sterben . . . . . . . . . . . 1.2. Die Flucht zu den Reden und die Auswanderung »von hier nach dort« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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295 295 295
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VI. Die philosophische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politeia: Vom Werden zum Sein . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die philosophische Natur und ihre Gefährdung . . . . 1.2. Die Umwendung der Seele vom Werden zum Sein . . . 2. Sophistes: Der Logos als Abbild des Seienden . . . . . . . . 2.1. Wer ist ein Philosoph, ein Sophist, ein Politiker? . . . 2.2. Der Sophist und die Phantasiebilder aus Worten . . . 2.3. Der Philosoph und der Logos als Abbild des Seienden 2.4. Der schweigende Sokrates – oder : der Philosophos . .
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307 307 314 314 320 327 327 338 341 352
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Inhalt
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358 359 363 367
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Häufigkeitsverteilung und Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Philebos: Die philosophische Erkenntnis und das gute Leben . 3.1. Die angewandten und die reinen Wissenschaften . . . . . 3.2. Die Dialektik als Wissenschaft vom unveränderlichen Sein 3.3. Die Muse der Philosophie und das gute Leben . . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch wurde im Wintersemester 2011/2012 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation eingereicht. Es hat eine längere Vorgeschichte. Denn die Fragestellung, was mit Philosophie gemeint sei und inwieweit sie Einfluss auf die Lebensführung habe, war Gegenstand ungezählter Gespräche mit meinem geistlichen Vater Dr. Olav Hanssen (†). Er wurde dabei nicht müde, die sokratische Hebammenkunst zu praktizieren und alle Gedanken und Beiträge einer kritisch-konstruktiven Prüfung zu unterziehen. Ihm gebührt darum mein erster Dank. Daraus erwuchs das Anliegen, an Platon als einem Gründungsvater der Philosophie diesen so scheinbar selbstverständlichen Begriff eingehend zu untersuchen. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Theo Kobusch, der diese Arbeit mit wichtigen Anregungen und hilfreicher Kritik begleitete, sowie Prof. Markus Gabriel für seine gutachterliche Tätigkeit und Prof. Michael Erler für wertvolle Hinweise auf Konferenzen und gutachterliche Hilfe bei der Aufnahme in das Verlagsprogramm von V& R unipress. Fruchtbar waren die Diskussionen mit Dr. des. Maria Schwartz, die mit dem philosophischen bios bei Platon ein verwandtes Thema erarbeitete. Dr. Andreas Dieckmann und Dagmar Friedrich haben die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen. Dass sie es mit Gewinn taten, freut mich sehr. Thomas Kuhn verdanke ich darüber hinaus auch die aufmerksame Durchsicht der griechischen Textpassagen. Ihnen sei herzlich gedankt. Danken möchte ich auch den Geschwistern und Freunden der Koinonia Gethsemane, die mich durch Gespräche ermutigt und unterstützt haben. Stellvertretend sei hier P. Ulrich Nölle (†) genannt, der noch in den Wochen seines viel zu frühen Sterbens sagte, dass das Lesen des Symposion-Kapitels ihn in eine Aufwärtsbewegung hineingenommen habe. Das ist der schönste Kommentar für einen Platoniker.
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Vorwort
Schließlich ist noch meinem Mann Herbert Schur zu danken für seine unermüdliche Unterstützung, ohne die ich diese Arbeit nicht hätte schreiben können. Göttingen, im Mai 2013
Brigitte Theophila Schur
Einleitung ARCHAISCHER TORSO APOLLOS Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. (Rainer Maria Rilke)
Das Gedicht von Rainer Maria Rilke atmet die Begegnung mit dem Geist, der dieses Götterbild hervorgebracht hat. Ein Bildwerk nur, eine Statue und noch dazu ein Torso, dem das Haupt fehlt und der dennoch sieht; dem der Phallos abgeschlagen wurde und der dennoch zeugt; der nur noch einen Rumpf hat und doch so lebendig und voller Kraft ist, dass er den Betrachter wie ein Raubtier anspringt und dieser sich ihm nicht entziehen kann. Das Werk Platons ist zum Glück kein Torso. Die hohe Wertschätzung, die Platon schon zu Lebzeiten zuteil wurde, hatte zur Folge, dass sein Werk der Nachwelt als Ganzes erhalten blieb. Und doch ist es dieser Statue vergleichbar. Auch ihm fehlen Haupt und Augen, denn die Schriften machen nur einen Teil des Philosophen Platon aus. Das Gespräch, die persönliche Begegnung, der Vortrag, das Leben in der Gemeinschaft der Akademie, die religiösen Feste und Symposien, auch die Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen, all das gehörte zum Ganzen seiner Philosophie. Wir haben davon Zeugnisse, aber wir selbst gehören nicht zu den Zeugen. Was uns bleibt, ist ein Torso: sein schriftliches Werk. Und doch geschieht es immer wieder, dass diese Schriften alles andere sind als tote Buchstaben in Wachstafeln geritzt, in Druckerschwärze gepresst oder gar »in Wasser geschrieben« (Phdr. 276c). Sie tragen immer noch eine ähnliche Lebendigkeit in sich wie der Torso Apollos, den Rilke beschreibt. Und wer sich ihnen aussetzt, kann auch Ähnliches erleben: Da ist keine Stelle in diesem Werk,
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Einleitung
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. In den Worten Platons hört sich das so an: Denn du siehst, daß davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiß für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll, ob auf diejenige, zu welcher du mich ermunterst, daß ich doch jenes dem Manne Geziemende betreiben möchte …, oder ob er sich zu jener Lebensweise halten solle in der Philosophie, und worin wohl diese von der andern sich unterscheidet. (Grg. 500c, Üb. Schl.)
Die Fragestellung: In den letzten zwanzig Jahren ist in der Platonforschung und Rezeption dem praktischen Aspekt der platonischen Philosophie wieder verstärkt Aufmerksamkeit zuteil geworden. Das ist nicht zuletzt den Arbeiten von Pierre Hadot zu danken, der darauf hinwies, dass die Philosophie durch die ganze Antike hindurch weniger eine Art der Theoriebildung als vielmehr eine Lebensform war, die theoretisch reflektiert und begründet wurde.1 Von daher verband sich die Aufforderung und Einladung zur Philosophie auch mit Selbsterkenntnis und praktischer Selbstkritik sowie mit ganz konkreten geistigen und sittlichen Übungen, die auf die Art der Lebensführung Einfluss hatten. Es ist darum dieser Philosophie nicht sachgemäß, sie nur als »bloße Theorie« oder philosophische Meinung zur Kenntnis zu nehmen. Ihr ist immer ein praktischer Wahrheitsanspruch inhärent, zu dem man sich nicht neutral verhalten kann, wenn man ihn ernst nimmt. Sie will werben, sie will bewegen, sie will, um mit Platon zu sprechen, in der Seele schöne Gedanken zeugen und dadurch Einsicht und Wahrheit erwecken. »Man muss philosophieren!« (Euthd. 275a, 288d) Diese Botschaft vermittelt sich nicht nur in den protreptischen Dialogen, den Werbeschriften, sondern letztlich spricht sie aus jeder Stelle des platonischen Werks, weil das Leben sonst nicht lebenswert ist: »Ich glaubte, es lohnte nicht zu leben, wenn ich so bliebe, wie ich wäre«, (Smp. 216a) »und an dieser Stelle, … wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut …« (Smp. 211d). (Üb. Schl.) Wenn das aber der Anspruch der platonischen Dialoge ist, dann stellt sich für denjenigen, der sich angesprochen fühlt, die Frage, was das genau heißt und meint: philosophieren. Wer die Dialoge Platons liest, der wird zunächst den ein oder anderen Dialog kennen lernen und daraus ein Vorverständnis der platonischen Philosophie gewinnen. Will er sich aber vertiefen und liest weiter, so wird er feststellen, dass in anderen Dialogen ganz anders von der Philosophie gesprochen wird. Das, was er vorher zu verstehen glaubte, wird fragwürdig oder 1 P. Hadot, Philosophie als Lebensform; ders., Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?; Kobusch, Metaphysik als Lebensform. Zur Idee einer praktischen Metaphysik; ders., Wie man leben soll: Gorgias; neuerlich besonders Hardy, Jenseits der Täuschungen, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates.
Einleitung
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zumindest unsicher vor dem Hintergrund anscheinend disparater Bestimmungen der Philosophie.2 Sie lassen sich nicht einfach aufeinander zurückführen. Bereits in der Antike wurden deshalb sechs Philosophiedefinitionen unterschieden, die aus den Schriften Platons abgeleitet wurden: 1. Philosophie ist die Erkenntnis der seienden Dinge, sofern sie seiend sind; 2. Philosophie ist Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge; 3. Philosophie ist Einübung in den Tod; 4. Philosophie ist Angleichung an Gott, soweit es dem Menschen möglich ist; 5. Philosophie ist die Kunst der Künste und die Wissenschaft der Wissenschaften; 6. Philosophie ist die Liebe zur Weisheit.3 Unschwer findet man noch weitere Charakterisierungen der Philosophie im platonischen Werk, die nicht einfach unter eine dieser Definitionen zu subsumieren sind, wie: Philosophie ist die Prüfung seiner selbst und der Wahrheit oder Philosophie ist Sorge um die Seele. Trägt man nun noch der Tatsache Rechnung, dass nicht nur von Philosophie als einer Disziplin die Rede ist, sondern auch von spezifischen Tätigkeiten und psychischen Dispositionen, die als philosophieren und philosophisch gekennzeichnet werden, ist die Verwirrung fast perfekt. Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang und zuvor erst einmal nach einem angemessenen Verständnis der einzelnen Stellen drängt sich auf. Denn selbst innerhalb ein und desselben Dialogs kann nicht davon ausgegangen werden, dass immer im gleichen Sinn von Philosophie die Rede ist. Manchmal findet sich eine umgangssprachliche Verwendung neben einer offensichtlich technischen Bedeutung. Ein andermal verschiebt sich unmerklich die Semantik im Gesprächsverlauf, so dass am Ende etwas ganz Anderes und Neues unter philosophieren verstanden wird als am Anfang. Und schließlich stehen auch noch Bedeutungen konträr neben- und gegeneinander, so dass hier von völlig verschiedenen Dingen die Rede ist, obwohl das gleiche Wort verwandt wird. Sucht man in dieser aporetischen Situation Hilfe in der Sekundärliteratur, so findet man sich schnell zwischen den Fronten der Platonrezeption wieder. Da sind die Systemtheoretiker, die die Divergenzen zum einen aus einem curricularen, aufeinander aufbauenden pädagogischen Konzept erklären und zum anderen von einer nur mündlich vermittelten Prinzipienlehre ausgehen, durch welche erst der Zusammenhang des Disparaten erkennbar wird.4 Sie versuchen, 2 Einen Überblick zum Philosophiebegriff geben Kranz, Art.: Philosophie, 576 – 583; Erler, Platon PhdA 2/2, 349 – 354; Manuwald, Art.: Die Semantik von philosophia, philosophos und philosophein bei Platon, 318 – 320; Schäfer, Art.: Philosophie, 220 – 223. 3 David, Prolegomena, 20, 25 – 31 Busse, zitiert nach Dörrie/Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, 102. 4 Stellvertretend seien genannt: Krämer, Platons ungeschriebene Lehre; ders., Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons; Szlezk, Mündliche Dialektik und schriftliches Spiel: Phaidros; ders., otr lºmour %m tir aqh_r pqose¸poi vikosºvour. Zu Platons Gebrauch des Namens vikºsovor. Diesem Ansatz stehen nahe: Halfwassen, Philosophie als Transzendieren. Der Aufstieg zum höchsten Prinzip bei Platon und Plotin (neuplatonischer Interpretations-
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Einleitung
bildlich gesprochen, dem Torso wieder einen Kopf aufzusetzen. Da sind andererseits die Entwicklungstheoretiker, die davon ausgehen, dass nicht nur zwischen Frühwerk und Reifezeit Platons und dementsprechend zwischen einem sokratischen und platonischen Philosophieverständnis zu unterscheiden ist, sondern auch einen Bruch innerhalb des Spätwerks feststellen, der die Revision eines früheren Philosophieverständnisses und seiner Methoden markiert.5 Sie teilen den Torso entlang dieser Bruchstellen in zwei oder drei Stücke. Die Sprachanalytiker treiben dieses Werk noch weiter, indem sie sich vornehmlich für die Logik einzelner Argumente interessieren, die sie akribisch unter die Lupe nehmen.6 Unter ihrer Analyse bleibt von dem Torso nicht viel mehr übrig als einzelne Bruchstücke. Der diskurstheoretische und hermeneutische Ansatz wiederum geht davon aus, dass Verstehen immer ein unabgeschlossener und zu iterierender Prozess ist und dementsprechend das Philosophieverständnis Platons sich nur annäherungsweise in der Reflexion auf das eigene Verstehen prozesshaft erschließt.7 Das ist gleichsam ein interaktiver Umgang mit dem Torso. Der literarische Zugang wiederum trägt dem Künstlerischen und der dramaturgisch-dialogischen Gestalt besonders Rechnung. Jeder Dialog ist in sich eine Einheit und aus seiner spezifischen Fragestellung heraus zu verstehen.8 Dabei wird der Torso aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und zeigt jeweils eine neue, andere Seite. Die Methode: Jeder dieser methodischen Zugänge antwortet auf ein bestimmtes Problem. Aber jeder prädisponiert und verändert dadurch auch die Art der Wahrnehmung des platonischen Werks. Es gibt keinen Zugang zum Torso an sich, der frei davon wäre. Die Vorteile einer bestimmten Betrachtungsweise können mit rationalen Argumenten plausibel gemacht und verteidigt werden, aber die Wahl selbst ist vorgängig und hat unterschiedlichste Gründe. Es ist gut, sich das klarzumachen, um den eigenen Zugang nicht zu
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ansatz); Albert, Über Platons Begriff der Philosophie (Erkenntnis des höchsten Prinzips als mystische Schau); Schefer, Platons unsagbare Erfahrung (Prinzipienerkenntnis als Mysterieneinweihung). Z.B. Vlastos, Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991.; ders., Elenchus and Mathematics. A Turning-Point in Plato’s Philosophical Development; Penner, Socrates and the early dialogues; Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes. Z.B. Vlastos, The Third Man Argument in the Parmenides; Frede, Prädikation und Existenzaussage. Platons Gebrauch von »…ist…« und »…ist nicht…« im Sophistes; Strobel, »Dieses« und »So etwas«. Zur ontologischen Klassifikation platonischer Formen. Z.B. Gadamer, Wahrheit und Methode, insb. 344 – 395; ders., Unterwegs zur Schrift?; Volkmann-Schluck, Plato. Der Anfang der Metaphysik; Heitsch, Erkenntnis und Lebensführung; Figal, Platonforschung und hermeneutische Philosophie. Z.B. Dalfen, Wie, von wem und warum wollte Platon gelesen werden? Eine Nachlese zu Platons Philosophiebegriff; Blößner, Sokrates und sein Glück, oder : Weshalb hat Platon den Phaidon geschrieben?; Kahn, Plato and the Socratic Dialogue. The Philosophical Use of a Literary Form; Clay, Platonic Questions. Dialogues with a Silent Philosopher; Tejera, Plato’s Dialogues One by One. A Dialogical Interpretation.
Einleitung
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überschätzen. Für unser Problem des über der Vielfalt der verschiedenen Bedeutungen verwirrten und ratlosen Lesers, der eine Antwort auf die Frage sucht, wozu er sich denn entscheidet, wenn er sich für die »Lebensweise in der Philosophie« entscheidet, bedeutet dies, dass es nicht »die« richtige Methode gibt, sich das Verständnis der platonischen Philosophie zu erschließen, vielleicht aber eine, die sich in seiner spezifischen Situation besonders anbietet. Die Dialoge selbst sehen für diese Interessierten, Neugierigen und Betroffenen eine Rolle vor, die es ihnen ermöglicht, als stille Zuhörer und Mitdenker den Gesprächen zu folgen und dadurch hineinzuwachsen in ein vertieftes und differenziertes Verständnis dessen, was als Philosophie thematisiert wird. Immer wieder ist in den Rahmenerzählungen oder auch in Zwischengesprächen von diesen Zuhörern die Rede. Manchmal werden sie angesprochen und hineingezogen in den Diskurs. Dann wieder wird ihre Zuschauerrolle reflektiert und problematisiert. Gelegentlich sind sie auch so sehr bei der Sache, dass sie sich spontan einmischen und ihre Überlegungen beitragen. Immer aber werden sie ermutigt, genau hinzuhören, alles noch einmal zu überdenken und sei es um den Preis, von vorn anfangen zu müssen. Für Sokrates steht immer das Staunen am Anfang der Philosophie, und das heißt die Ratlosigkeit, wie alles, was man zu verstehen meinte, zusammenpasst. Dies ist also ein Plädoyer für den literarischen Zugang, ohne sich den Anregungen anderer methodischer Zugänge verschließen zu wollen. Das GenauHinhören und Neu-Durchdenken bedeutet aber, dass jeder Dialog erst einmal als eine Einheit wahrzunehmen ist, als ein in sich geschlossener, sinnvoller Gedankengang, der zudem dynamisch entfaltet wird. So wie man bei einem Gespräch, dem man zuhört oder in das man verwickelt ist, darauf Acht haben muss, wer was zu wem aus welchen Gründen und mit welcher Absicht auf welche Weise sagt, muss man auch hier dem Kontext besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Einwände der Schriftkritik haben dabei ihre Gültigkeit, denn auch ein schriftlicher Dialog wie der platonische kann den mündlichen nicht ersetzen und keine Rückfragen beantworten. Dennoch lässt sich vieles klären, wenn man sich nicht nur am Wort »Philosophie« festhält, sondern das Sprachspiel wahrnimmt, dessen Teil es ist. Ein Nachteil dieses Vorgehens besteht allerdings darin, dass der Zusammenhang und Kontext erst dargestellt werden muss, wenn er nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Da sich eine Arbeit zum Philosophiebegriff Platons nicht nur an versierte Platonforscher, sondern auch an einen weiteren Kreis philosophisch Interessierter wendet, ist eine gewisse Ausführlichkeit der Darstellung nicht immer vermeidbar. Ich bitte deshalb um Verständnis derer, die ihren Platon mit großer Genauigkeit kennen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass eine eingehende literarische Betrachtung viele interessante Aspekte zutage
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Einleitung
fördern kann, aber das ganze Werk nur schwer in den Blick kommt. Man kann den Torso nicht gleichzeitig von allen Seiten betrachten. Eine systematische Betrachtung hat demgegenüber Vorteile, aber sie geht auch notwendig eklektisch vor. Sie setzt immer ein Überblickswissen voraus, das für jemanden, der sich Werk und Wortbedeutung erst erschließen will, nicht angesagt ist. Der Grundgedanke dieser Arbeit besteht darum darin, mit Sorgfalt alle Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie, philosophieren, philosophisch, die sich im einzelnen Dialog und schließlich im Werk Platons finden, zu untersuchen, unabhängig davon, ob man sie für zentral oder untergeordnet hält.9 Denn das würde notwendig eine Vorbestimmung bedeuten. Umgekehrt wird man unter diesem zugegebenermaßen sehr formalen Gesichtspunkt vieles übergehen müssen, was inhaltlich zweifelsohne zur Philosophie Platons gehört, aber in diesem bestimmten Dialog nicht unter den Begriff Philosophie gefasst wird. Ausschlaggebend ist also allein die Untersuchung der Wortfamilie Philosophie. Die Darstellung: Um die Zusammenhänge und damit auch das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren, versuche ich einen Mittelweg zu finden, indem ich die Dialoge zu thematischen Gruppen zusammenfasse. Dabei gibt nicht das Gesamtthema des jeweiligen Dialogs den Ausschlag, sondern der Kontext, in dem der Begriff Philosophie, um den wir uns bemühen, konkret steht. Aus diesem Grund wird zum Beispiel der Charmides unter der Überschrift »In der Schule der Sophisten« besprochen, obwohl das im Dialog nur ein Randaspekt ist. Allerdings ist die Zuordnung nicht immer eindeutig, weil die Dialoge so vielschichtig sind, dass sie verschiedene Aspekte gleichzeitig ansprechen. Ob zum Beispiel der Timaios unter der Überschrift »Das philosophische Leben« oder vielleicht besser unter »Die philosophische Erkenntnis« besprochen werden sollte, ist schwer zu entscheiden, weil das Philosophieverständnis, das im Timaios entfaltet wird, beides verbindet, naturphilosophische Betrachtungen, epistemologische Überlegungen und das Anliegen eines geordneten, harmonischen Lebens. Ausschlaggebend für eine Zuordnung war darum manchmal der Gesichtspunkt, zeigen zu können, wie sich vom Früh- bis zum Spätwerk eine Fragestellung einerseits durchzieht und Konstanten hat, andererseits aber auch entwickelt und ausdifferenziert. Damit das leichter nachvollziehbar wird, ist den Kapiteln jeweils ein Überblick vorangestellt. Er dient einer ersten Orientierung und ermöglicht dem Leser außerdem, entsprechend seinem Interesse eine eventuelle Auswahl zu treffen, ohne die Grundgedanken zu versäumen. Die Detailanalysen sind dann Gegenstand der Besprechung der einzelnen Dialoge.
9 Eine anregende Arbeit, die auch dem Begriff Philosophie im ganzen Werk Platons nachgeht, liegt von Monique Dixsaut vor, Le Naturel Philosophe. Allerdings hat sie darauf verzichtet, alle Okkurenzen des Begriffs zu besprechen, dafür aber eine Tabelle der Belegstellen beigefügt.
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Die Diskussion der Fachliteratur wurde um der besseren Darstellung der Zusammenhänge willen weitgehend in die Fußnoten verwiesen. Das gewählte methodische Vorgehen einer Betrachtung aller Belegstellen in einem Dialog zur Wortfamilie Philosophie ließ sich allerdings nicht, wie ich zunächst gehofft hatte, durch das ganze Werk Platons hindurch verfolgen. Es hätte einfach den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Wenn man jedoch die quantitative Verteilung der Okkurenzen anschaut, zeigt sich, dass in zwei Dialogen, nämlich dem Phaidon und der Politeia, nahezu die Hälfte aller Belegstellen vorkommt.10 Von daher ist es nur verständlich, wenn ihnen in der Forschung gerade mit Blick auf das Philosophieverständnis Platons immer wieder besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde.11 In diesen beiden Fällen habe ich darum auf eine ausführliche Einzelanalyse verzichtet und mich mit einer Zusammenfassung begnügt. Zudem zeigte sich im Verlauf dieser Arbeit, dass andere Dialoge bereits vielfältig auf das Verständnis der Philosophie im Phaidon und der Politeia vorverweisen oder es aufgreifen und weiterführen. Dadurch sind deren Beiträge zum Ganzen berücksichtigt, nur haben sich Blickrichtung und Schwerpunkt diesmal umgekehrt. Unter den Kapitelüberschriften »Das philosophische Gespräch«, »Das philosophische Leben«, »Der philosophische Eros«, »Der philosophische Tod« und »Die philosophische Erkenntnis« werden insgesamt sechzehn Dialoge besprochen. Die Dialoge Ion, Kriton, Laches, Euthyphron und Menon wurden nicht berücksichtigt, da in ihnen die Wortfamilie überhaupt nicht vorkommt. Die wenigen Belegstellen, die sich im Kratylos, Parmenides, Politikos, Kritias und Nomoi finden, wurden der Besprechung anderer Dialoge zugeordnet, da sie ähnliche Formulierungen wie dort gebrauchen. Insgesamt wurden nur die als echt anerkannten Dialoge untersucht und auch der nach wie vor umstrittene VII. Brief nicht berücksichtigt, trotz der aufschlussreichen Erläuterungen zur Pädagogik und Methodik der Philosophie und zur Schriftkritik. Eine Darstellung des vorplatonischen und zeitgenössischen Sprachgebrauchs zur Wortfamilie Philosophie wird der Untersuchung des Philosophiebegriffs bei Platon vorangestellt und erste Beziehungen zwischen ihnen aufgezeigt. Bei der Besprechung der Dialoge wird des Öfteren auf diese Zusammenhänge verwiesen, wenn sich die
10 Siehe dazu das Diagramm und die tabellarische Auflistung im Anhang. 11 Rowe, The Concept of Philosophy (philosophia) in Plato’s Phaedo; Sˇpinka, Katharsis katharseús. Philosophie als »Flucht in die Logoi« und als »Reinigung«; Ebert, Why is Evenus called a Philosopher at Phaedo 61c? Pieper, Über den Philosophie-Begriff Platons; Albert, Über Platons Begriff der Philosophie; Szlezk, Platons Politeia. Aufbau, Handlung, Philosophiebegriff; Männlein-Robert, Wissen um die Göttlichen und die Menschlichen Dinge. Eine Philosophiedefinition Platons und ihre Folgen; Weiss, Are the Rulers of R. 7 Philosophers?; Schwartz, Der philosophische bios bei Platon.
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Semantik bei einem der Gesprächsteilnehmer findet oder Weiterentwicklungen und Abgrenzungen nachweisbar sind. Ergebnisse: Es ist zunächst einmal ein ganz formaler, aber darin auch unvoreingenommener Blick auf das platonische Werk, auf die Häufigkeitsverteilung einer Wortfamilie zu achten, das heißt alle Ausdrücke des gleichen Wortstammes in die Untersuchung einzubeziehen. Dabei ergeben sich erstaunliche Beobachtungen. Zweifelsohne ist die Vorstellung von Philosophie in der westlichen Tradition untrennbar mit dem Namen Platons verbunden. Es wird heute weitgehend bejaht, dass er nicht nur Begründer der Philosophie im Sinn einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin ist, sondern auch als erster die Kennzeichnung Philosoph in begriffstechnisch bewusster Weise verwandt hat, um damit eine Person zu bezeichnen, welche die Weisheit liebt und erstrebt.12 Umso mehr erstaunt es, dass die Wortfamilie Philosophie/ philosophieren keineswegs gleichmäßig über das ganze Werk verteilt ist. Vielmehr findet sich in den bereits genannten fünf Dialogen Ion, Kriton, Laches, Euthyphron und Menon, die weitgehend der frühen Werkphase zuzurechnen sind, der Begriff überhaupt nicht. In diese Reihe könnte man noch das 1. Buch der Politeia aufnehmen, das auch als Thrasymachos oder Proto-Politeia bezeichnet und für das gelegentlich eine frühere Abfassung als für die anderen neun Bücher angenommen wird. Die Tatsache, dass sich dort gleichfalls kein Beleg des Philosophiebegriffs findet, in der Politeia insgesamt aber 109-mal, ist zumindest bemerkenswert. Es könnte, wenn auch mit Vorsicht, als Indiz für eine frühe Abfassung gewertet werden.13 In anderen Dialogen, die üblicherweise dem Frühwerk zugeordnet werden, sind das Substantiv Philosophie, das Verb philosophieren und das Adjektiv philosophisch nur ganz vereinzelt vertreten, so im Hippias Mi. (1x), Menexenos (1x), Charmides (2x). Das Substantiv Philosoph findet sich noch gar nicht. In diesen Dialogen übernimmt Platon das zu der Zeit gängige, bereits technisch geprägte Verständnis der Sophisten, die unter Philosophie eine Form der Wissensvermittlung verstehen, insbesondere eine Schulung in Rhetorik. Eine Klärung der Bedeutung des Begriffs Philosophie oder gar das Bemühen um eine eigene Definition stand nicht am Anfang des Philosophierens von Platon. In der Apologie (4x) und im Protagoras (5x) setzt dann eine inhaltliche Kritik des sophistischen Philosophieverständnisses wie auch der unreflektierten umgangssprachlichen Wortverwendung ein. Dagegen wird Philosophieren jetzt als 12 Vgl. Erler, Platon, PhdA 2/2, 349 – 354; Burkert, Platon oder Pythagoras? Zum Ursprung des Wortes »Philosophie«; anders Riedweg, Zum Ursprung des Wortes »Philosophie« oder Pythagoras von Samos als Wortschöpfer. 13 Die Häufigkeitsverteilung innerhalb der Politeia ist: Buch I: 0; II: 5; III: 4; IV: 0; V: 15; VI: 55; VII: 13; VIII: 3; IX: 10; X: 4. Zur Häufigkeitsverteilung im Gesamtwerk siehe auch das Diagramm im Anhang.
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methodisch bewusste dialogische Übung und als Prüfung von Wahrheitsbehauptungen verstanden, die mit einer Selbstprüfung im epistemischen Sinn einhergehen, das heißt mit einer Prüfung der Wissensansprüche. Zum Begriffsfeld, darunter versteht man partiell bedeutungsgleiche Ausdrücke unterschiedlicher Wortstämme, gehören dann im Fall von Philosophieren (vikosove?m) ebenso die Ausdrücke Sich-Unterreden (diak´cseshai), Prüfen (1k´cweim), Suchen (fgte?m) und ähnliche, weil sie von Platon wie Synonyma verwandt werden. Dabei gibt es zwar noch Überschneidungen mit der sophistischen Praxis wie im Fall des elenchos, einem Prüfverfahren zum Nachweis von Widersprüchen, aber Platon ringt hier schon deutlich um eine inhaltliche Abgrenzung und beansprucht das sachlich angemessene, richtige Verständnis. Im Lysis (7x), Euthydemos (14x), Gorgias (18x) und Symposion (16x) dienen weiterhin das sophistische oder das umgangssprachliche Verständnis als Hintergrundfolien, vor denen Platon die Bedeutung des Philosophiebegriffs immer genauer ausdifferenziert. Das geschieht in subtilen Sprachspielen, bei denen die Dramaturgie der Dialoge eine wichtige Rolle spielt. Dazu bedient er sich unterschiedlichster Mittel: der Ironie, semantischer Verschiebungen, die von den Gesprächspartnern kaum bemerkt werden, Begriffsanalysen sowie dezidierten Ab- und Ausgrenzungen. Dass der Wortfamilie im platonischen Verständnis primär ein Tätigkeitscharakter eignet, war schon in der Apologie und im Protagoras deutlich geworden. Zu diesem Bedeutungshorizont kommt nunmehr die Konnotation von Lieben (1q÷m) und Begehren (1pihule?m) hinzu. Hiermit rückt das Ringen Platons um das seiner Ansicht nach genuine Verständnis von Philosophieren ins Zentrum der Reflexion und wird ausdrücklich thematisiert.14 Das zeigt sich nicht zuletzt an der zunehmenden Häufigkeit der Wortfamilie. Wenn man dann noch bedenkt, dass zum Begriffsfeld auch die oben genannten Ausdrücke gehören, die Platon zur inhaltlichen Bestimmung heranzieht, und diese ein Vielfaches der Wortfamilie im engeren Sinn ausmachen, kann man ermessen, wie intensiv Platon den Philosophiebegriff hier bereits reflektiert. Inhaltlich sind es wenige Leitgedanken, die ihn dabei beschäftigen: Dass Philosophieren nicht einfach einen Besitz, sondern vielmehr ein Streben nach Erkenntnis bezeichnet und diese Erkenntnis das Wissen des Wahren und Guten beinhaltet. Weiterhin dass dieses Streben durch die Liebe zum Schönen motiviert ist und die Geburt der Tugend in der Seele bewirkt. Und schließlich dass damit eine vernunftgeleitete Lebensform einhergeht, die auf Harmonie und Ordnung angelegt ist und eine lebenslange Aufgabe bleibt. Neben die Darlegung der spezifisch philosophischen Tätigkeit und Methode treten also Überlegungen zur philosophischen Motivation und deren Zielsetzung sowie zu den charak14 Immer noch faszinierend ist Krüger, Einsicht und Leidenschaft; neuerdings auch Schäfer, Manische Distanzierung. Über Platons programmatische Umdeutung des Philosophiebegriffs.
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terlichen Voraussetzungen und Folgen. Was Philosophieren ist und will, wird umfassend durchdacht. Dem Wort wird hier ein vorher nicht bekannter Bedeutungshorizont eröffnet, der anzeigt, dass das Philosophieren von einer zeitlich und situativ begrenzten Tätigkeit zu einer umfassenden Lebenshaltung geworden ist. Was Philosophie ist und will, ist jetzt zentrales Thema der schriftstellerischen Tätigkeit Platons. Das zeigt sich schon rein äußerlich an der massiven Zunahme der Belegstellen des Wortfeldes. Im Phaidon (39x) und in der Politeia (109x) findet sich neben dem Verb, Adjektiv und Substantiv »Philosophie« nunmehr auch die substantivische Kennzeichnung »Philosoph«, und zwar häufig mit dem Zusatz der »wahre« Philosoph in Abgrenzung zu den »vorgeblichen« oder »schlechten« Philosophen. Das ist auffällig und neu, denn bisher wurde nur umschreibend von den Personen gesprochen, die philosophieren, häufig mittels des substantivierten Partizips »die Philosophierenden«. Das Philosophieren war also noch kein Kennzeichen einer bestimmten, eng umrissenen Personengruppe, sondern alle konnten es für sich in Anspruch nehmen, auch ein aufgeweckter junger Knabe oder ein interessierter Laie, wenn sie bestimmten Regeln folgten. Obwohl das Philosophieren als Lebenshaltung bereits im Blick war, war es noch nicht professionalisiert. Das ändert sich jetzt und ist ein Hinweis auf das Ringen um die Deutungshoheit dessen, was ein Philosoph ist und wodurch er sich von anderen Intellektuellen, die sich gleichfalls so bezeichnen, und von deren Schulen unterscheidet. Es dient zur Kennzeichnung einer spezifischen Form der Ausbildung, für die nicht nur besondere Naturanlagen mitgebracht werden müssen, sondern die sich auch durch bestimmte, klar definierte Gegenstände der Schulung auszeichnet, die Ideenerkenntnis. In den anderen Dialogen war das zwar schon angelegt, kommt aber hier zur vollen, methodisch reflektierten Entfaltung. Der Ausdruck Philosophie umfasst dabei sowohl propädeutische Wissenschaften als auch die Ideenerkenntnis im engeren Sinn mit dem Ziel der Erkenntnis der Idee des Guten. Für letztere wird zunehmend der Begriff Dialektik gebraucht. Nach dem Höhepunkt in der Politeia kommt es zu einem unerwarteten Abfall der Okkurenzen. Im Parmenides (3x), Theaitetos (11x), Sophistes (11x), Phaidros (14x), Timaios (9x), Politikos (3x), Philebos (6x), Kritias (1x), Nomoi (2x) spielt die Reflexion über die Philosophie zwar immer noch eine wichtige Rolle. Aber in dem Maß, wie sie zu einer klar umrissenen Disziplin geworden ist mit definierten Fächern und Übungsabläufen, treten andere Bezeichnungen hinzu und zum Teil an ihre Stelle. Das gilt für die Dialektik als Wissenschaft vom Seienden und die Dihairese als Einteilungsmethode oder für die mathematischen Disziplinen als propädeutische Fächer.15 Von Philosophie ist daher jetzt eher in einem 15 Vgl. Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon.
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umfassenden und allgemeinen Sinn die Rede, wobei sie alle Bereiche dieser Schulung bezeichnen kann. Die bisher erarbeiteten Kriterien und Kennzeichen im Methodischen, Motivationalen, Teleologischen und Ethischen verlieren dabei nicht ihre grundsätzliche Gültigkeit, selbst wenn sie modifiziert werden und die Auseinandersetzung mit anderen Schulen ebenso widerspiegeln wie mit der eigenen, innerschulischen Diskussion. Der Blick auf das Gesamtwerk macht also, bei aller Vorsicht bezüglich der chronologischen Zuordnung der Dialoge, deutlich, dass sich das Interesse Platons am Philosophiebegriff erst allmählich entwickelte. Er knüpfte an das weite, umgangssprachliche Verständnis ebenso an wie an das technische im sophistischen Milieu. Indem er diese Auffassungen kritisierte, hat er den Begriff adaptiert und transformiert und ihm den unverkennbaren Charakter gegeben, der sich mit dem Namen Platons verbindet: das liebende Streben nach Wissen und Weisheit. Dennoch bleibt unsere Ausgangsschwierigkeit, die verschiedenen Aspekte des Philosophiebegriffs, die Platon dabei entfaltet hat, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es gibt nicht die eine Definition der platonischen Philosophie. Das liegt nicht zuletzt an der Mehrdimensionalität der Sache.16 Es soll dennoch abschließend versucht werden, ein Kennzeichen zu formulieren, das sich durch alle Beschreibungen der Philosophie durchzieht. Schon von Aristoteles wurde Platon der Vorwurf des chorismos gemacht, einer Zweiweltentheorie, wonach die Welt des Intelligiblen von der des Sensiblen, die Welt der Ideen von der der Instanzen völlig getrennt sei.17 Ich halte das für ein grundlegendes Missverständnis, das gerade dem ontologischen und epistemischen Status der Philosophie bei Platon als einem metaxy, einem Dazwischen, nicht gerecht wird. Beide Welten sind nicht getrennt, sondern wechselseitig aufeinander bezogen. Um dieses Verhältnis angemessen zu beschreiben, wurde von einem »two-levelmodel« gesprochen.18 Je nach Perspektive, aus der man die Wirklichkeit betrachtet, lässt sie sich in polar-komplementären Begriffspaaren beschreiben, zwischen denen es einen ontologischen und axiologischen, werthaften Unterschied gibt, dergestalt dass der erste Teil des Begriffspaares höherwertig ist gegenüber dem zweiten. Der grundlegende Unterschied besteht zwischen Sein – Werden, unsterblich – sterblich, zwischen Idee – Instanzen, Einem – Vielem, zwischen Urbild – Abbild. Dem entspricht aus kognitiver Perspektive der Un16 Schon seit Aristoteles wurden darum verschiedene Disziplinen der Philosophie systematisch unterschieden. Die wirkungsmächtigste Klassifikation ist die Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik. Siehe hierzu P. Hadot, Die Einteilung der Philosophie im Altertum, 422 – 444. 17 Arist. Metaph. 1039a, 1040b – 1041a, 1078b – 1079a, 1086a – 1086b. 18 Zum Zwei-Ebenen-Modell siehe Thesleff, An Introduction to Studies in Plato’s Two-Level Model; ders., Studies in Plato’s two-level model.
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terschied zwischen Intelligiblen – Sensiblen, denkbar – sichtbar, zwischen Wissen – Meinung, Wahrheit – Irrtum. Aus psychologischer und ethischer Perspektive lässt sich zwischen Vernunft–Begierde, Seele – Leib, schön – hässlich, gut – schlecht unterscheiden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Auf den ersten Blick scheint diese Gegenüberstellung die These von den zwei unverbundenen Welten zu stützen, aber es sind zwei Ebenen innerhalb einer Wirklichkeit, zwischen denen ein intensiver Austausch besteht, ein ständiges Hin und Her. In diesem Dazwischen ist der spezifische Ort der Philosophie. Ihr Charakteristikum ist die Fähigkeit, die zweite, niedere Ebene auf die erste, höhere zurückzuführen, sie dadurch einerseits mit der höheren zu verbinden, und sie andererseits auch zu transzendieren.19 Hierfür findet sich im platonischen Werk mehrfach der treffende Ausdruck »von hier nach dort« (1mh´mde 1je?se).20 Er charakterisiert das Philosophieren als eine intentionale Dynamik innerhalb eines polaren Verhältnisses, die immer von der ontologisch und axiologisch niederen Ebene zur höheren drängt. Denn die Philosophie strebt vom Werden zum Sein; sie liebt das Schöne und nicht das Hässliche; sie wendet sich vom Sensiblen ab und schaut auf das Intelligible; sie gleicht das Sterbliche dem Unsterblichen an; sie ist nicht der Meinung, sondern dem Wissen und der Weisheit freund. Alle oben genannten Philosophiedefinitionen tragen diese Spannung in sich und drücken in irgendeiner Form deren Überwindung aus. Sie bezeichnen dieselbe Sache, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und aus einer anderen Perspektive. Immer aber beinhaltet das Philosophieren die Bewegung »von hier nach dort«. Platon hat immer wieder auf ein letztes Ziel, ein telos des Philosophierens hingewiesen, die Idee des Guten. Aber er hat diesen Gedanken nicht bis ins Letzte ausgeführt, er belässt es bei Andeutungen. Ebenso wenig hat er im eigenen Namen gesprochen und uns, den Lesern gesagt, was er unter Philosophie versteht. Er hat immer andere, nämlich seine Dialogfiguren, sprechen lassen. Wir können seine Auffassung der Philosophie nur indirekt aus der dramaturgischen Gestalt der Dialoge erschließen, indem wir das Spiel der verschiedenen Auffassungen wahrnehmen und dabei das schöpferisch Neue entdecken, das er in die zeitgenössische Diskussion eingebracht hat. Offensichtlich ist er nicht daran interessiert, uns, den Lesern, zu sagen, was er, Platon, unter Philosophie versteht. Denn dann hätte er es uns mitgeteilt. So stehen wir zum Schluss wieder vor der Tatsache, dass die Philosophie Platons auf uns in einer Offenheit überkommen ist, die den Leser dazu herausfordert, weiterzudenken, was er begonnen und angedeutet hat. Darin ist die Philosophie Platons dem apollinischen Torso 19 Vgl. hierzu Halfwassen, Philosophie als Transzendieren. Der Aufstieg zum höchsten Prinzip bei Platon und Plotin. 20 R. 529a, 619e; Phd. 107e, 117c; Phdr. 250e; Tht. 176b.
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vergleichbar, den Rilke so eindrucksvoll beschreibt, nur dass Platon sein Werk von vornherein in dieser Unabgeschlossenheit geplant hat. Er wollte, bildlich gesprochen, dem Torso keinen Kopf aufsetzen, jedenfalls nicht seinen. Platon ist nicht daran interessiert, dass wir wissen, was er unter Philosophie verstanden hat. Er ist daran interessiert, dass wir philosophieren. Und dazu will er uns mit seinen Dialogen helfen. Wir müssen dann selbst versuchen, den Weg zu Ende zu gehen, den er angedeutet hat, und also philosophieren.
I. Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
Mit dem Namen Platons hat sich der Philosophiebegriff so unlösbar verbunden, dass der Eindruck entstehen könnte, er habe ihn aus dem Nichts erschaffen. Das ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr knüpft Platon an ein weites, umgangssprachliches Wortverständnis an, das er philologisch und inhaltlich reflektiert und präzisiert. Ein charakteristisches Beispiel für dieses Vorgehen bietet der Dialog Lysis. Eine weitere Quelle für den Philosophiebegriff bei Platon ist die sophistische Bewegung des 5. und 4. Jh. v. Chr., bei der Philosophieren bereits einen festen, technischen Bedeutungsumfang hat und das Studium der Rhetorik bezeichnet. Das belegen unter anderem Sophistendialoge wie Hippias Mi., Protagoras oder Euthydemos. Diese geläufigen, aber unterschiedlichen Verwendungsweisen werden von Platon aufgegriffen, indem er sie seinen Dialogfiguren in den Mund legt und ihr meist unreflektiertes Vorverständnis problematisiert, um schließlich eigene Alternativen und Bedeutungsvarianten ins Gespräch zu bringen. Dabei wird das bisherige Bedeutungsspektrum keineswegs völlig negiert. Vielmehr wird es im reflektorischen Prozess adaptiert und transformiert und findet so vielfältig Eingang in das Verständnis der Philosophie bei Platon. Es ist nicht mehr auszumachen, wann und von wem die Komposita philosophieren (vikosove?m) und philosophisch (vikºsovor) gebildet wurden. Das erste Auftreten und die ursprüngliche Bedeutung der Wortfamilie liegen im Dunkeln. Zwar kursierte im Altertum die Legende, dass sich bereits Pythagoras »Philosoph« genannt habe, weil es keinem Menschen zustünde, weise genannt zu werden, sondern nur Gott. Aber diese Erzählung von Herakleides Pontikos, einem leitenden Mitglied der Akademie und Schüler Platons, hat, wie W. Burkert zeigte, keine historisch belegbaren Quellen. Hingegen spricht vieles dafür, dass Pythagoras hier platonisierend umgedeutet wurde.21 Für diese These spricht, 21 Den Anlass für diese Rückprojektion sehen Burkert und vor ihm Jaeger in der Auseinandersetzung zwischen der alten Akademie und dem Peripatos um den philosophischen Lebensstil. Burkert, Platon oder Pythagoras? 159 – 177; Jaeger, Über Ursprung und Kreislauf des
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
dass das Nomen b vikºsovor erst seit dem 1. Drittel des 4. Jh. belegt ist.22 Platon ist der erste, der nachweislich die Bezeichnung »philosophos« in Abgrenzung zum traditionellen »sophos« gebraucht.
1.
Die Freude am Wissen (Heraklit, Thukydides, Herodot)
Die Denker vor Platon sahen noch kein Spannungsverhältnis, geschweige denn einen Gegensatz zwischen sophia und philosophia, zwischen Wissen / Weisheit und Philosophie. Vielmehr strebten die klugen Köpfe auf unterschiedlichsten Gebieten nach Wissen und Kompetenzen, nach sophia und arete. Dieses Streben nannte man Philosophieren. So hatte es für griechische Ohren nichts Befremdliches zu sagen, dass ein Dichter philosophiert oder ein Arzt, ein Mathematiker oder ein Politiker. Denn sie alle bemühten sich um Einsicht und Wissen, das sie bei entsprechender Begabung und Bemühung auch erlangten.23 In diesem Sinn berichtet schon Thukydides, dass Perikles stolz auf die Athener ist, weil sie Schönes in Verbindung mit Schlichtheit lieben und Wissen, ohne verweichlicht zu sein (VikojakoOl´m te c±q let’ eqteke¸ar ja· vikosovoOlem %meu lakaj¸ar, Th. Hist. II 40,1). Damit spielt er auf die herausragenden Leistungen seiner Landsleute in Kunst und Wissenschaft an, die wir heute noch als Inbegriff griechischer Kultur bewundern. Die rhetorisch geschickte Parallelisierung von vikojakoOlem und vikosovoOlem, von Liebe zum Schönen und Liebe zum Wissen, wird inhaltlich auch von Platon beibehalten und ist für ihn zentral, so im Symposion und im Phaidros. Aber das damit verbundene Verständnis eines festen geistigen Besitzes und gar die Engführung auf eine besondere Auszeichnung der Athener vor anderen Völkern und Hellenen wird er kritisieren und karikieren.24 Dass Philosophieren den Erwerb von Kenntnissen und Einsichten bedeutet, geht auch aus den Historien von Herodot hervor. Darin wird über Solon, den großen Gesetzgeber Athens berichtet, dass er aus bloßer Freude am Wissen viele Länder besuchte, um von ihnen eine eigene Anschauung zu erlangen (¢r vikosov´ym c/m pokkµm heyq¸gr eVmejem 1pek¶kuhar, Hdt. I 30,2). Solon wollte also seinen Erfahrungshorizont erweitern und Neues kennenlernen, ohne dass er einen unmittelbaren Zweck mit diesem Wissen verfolgte. Vielmehr weckte das philosophischen Lebensideals, 384 ff.; anders Riedweg, Zum Ursprung des Wortes »Philosophie« oder Pythagoras von Samos als Wortschöpfer, 147 ff., 161 f., 172 – 175. Die Geschichte über Pythagoras wird unter Berufung auf Herakleides P. referiert von Diogenes Laertios (DL I, 12). 22 Zu Isokrates: Isoc. X 66,4; XI 17,6; 48,2. Zu Platon: Cra. 404a; Phd. 61c; 62c; 64b u. ö. 23 Vgl. Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie; ders., Menschliches und göttliches Wissen, 127 – 138. 24 Vgl. S. 61 f., 163 ff.
Die naturwissenschaftliche Spekulation (Hippokrates)
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Nicht-Bekannte, Ungewusste sein Interesse und seine Neugier. Die geistige Offenheit und das allgemeine Bildungsinteresse sind kennzeichnend für dieses Verständnis von Philosophieren. Platon spielt darauf unter anderem in dem Bericht über die sieben Weisen im Protagoras an sowie im Charmides, wenn er Charmides mit dessen Ahnherrn Solon vergleicht und ihn als einen verjüngten Solon beschreibt.25 In einem Heraklit-Fragment heißt es, dass philosophische Männer, nämlich solche, die das Wissen lieben, sehr vieler Dinge kundig sein müssen (wqµ c±q ew l²ka pokk_m Vstoqar vikosºvour %mdqar eWmai jah’ gGeq²jkeitom, DK I 22 B 35). Philosophisch ist danach jemand, der in einem nicht näher spezifizierten Sinn viel weiß. Doch gerade dieses Verständnis wirft die Frage auf, ob die Kennzeichnung »philosophisch« erst später in das Heraklit-Zitat eingefügt wurde, denn andernorts polemisiert Heraklit gegen die Vielwisserei.26 (DK I 22 B 40 u. 129) Platon ist da differenzierter, wenn er den Spott von Heraklit über eine unspezifische Vielwisserei (pokulah¸a) teilt, aber in der Freude am Lernen (vikolah¸a) eine Grundlage philosophischer Begabung sieht. (R. 475c f., 485d, 490a, 499e; Lg. 811a f., 819a)
2.
Die naturwissenschaftliche Spekulation (Hippokrates)
Der neugierige, Zusammenhänge und Ursachen erforschende Geist zeigt sich auch in der naturphilosophischen Reflexion und Spekulation der griechischen Aufklärung. Kosmologen wie Anaxagoras und Ärzte wie Empedokles betrachten die Welt mit völlig neuem Blick. Dementsprechend wandelt sich auch ihr Menschenbild. Gegen diese Art zu philosophieren und ihre Anwendung auf die empirischen Künste wendet sich der Verfasser der hippokratischen Schrift »Über die alte Medizin« (Hp. VM 20). Er verteidigt die traditionelle Vorstellung von Medizin als einer praktischen Erfahrungswissenschaft und weist die neuere Auffassung zurück, dass man niemanden heilen könne, wenn man nicht zuvor wisse, was der Mensch seinem Wesen nach ist (f t¸ 1stim %mhqypor, ebd. 20,5). Bei ihnen, den Neuerern in der Medizin, zielt die Rede auf die Philosophie, so wie Empedokles und andere über die Natur geschrieben haben (Te¸mei d³ aqt´oisim b kºcor 1r vikosov¸gm, jah²peq 9lpedojk/r C %kkoi oT peq· v¼sior cecq²vasim; ebd. 20,1 – 2). Aussagen über Ursprung und Genese des Menschen verweist er an 25 Vgl. S. 53, 62, 314. Zum Topos des philosophierenden Solon vgl. auch Xenophon, Smp. 8,39. 26 Kranz hält eine Wortschöpfung Heraklits für möglich (DK I 22 B 35, Anm. 6), womit bei Heraklit der früheste sichere Beleg für den Ausdruck vikºsovor gegeben wäre; zurückhaltender dagegen Burkert, a. a. O., 171, Anm. 1, auch P. Hadot, Wege zur Weisheit, 31, während Riedweg davon ausgeht, dass Heraklit als jüngerer Zeitgenosse von Pythagoras das Wort vikºsovor schon gekannt habe, Riedweg, a. a. O., 169 f.
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
die naturphilosophische Schriftstellerei und spricht sie der Heilkunst (t0 Qgtqij0 t´wm,) ab. (Ebd. 20,8) Damit vertritt er einen Gegensatz von mündlich tradierter Medizin als Erfahrungswissen und naturwissenschaftlich-philosophischer Spekulation.27 Dass Platon den Stellenwert der empirischen Wissenschaften völlig anders einschätzt als der Verfasser dieser Schrift, macht eindrücklich der Timaios deutlich, weil dort die Überlegungen zu Krankheit und Gesundheit des Menschen eingebettet sind in einen großen kosmologischen Entwurf des guten Lebens. Was der Mensch ist und wohin er sich positiv entwickeln, aber in welcher Weise er auch degenerieren kann, ist nicht zu beantworten ohne Rückbezug auf den Ursprung und die Gesetze, die den Kosmos bestimmen. Diesen Zusammenhang zu erkennen und sein Leben daraufhin zu ordnen, ist für Platon vornehmliche Aufgabe des Philosophen.28 Bezeichnenderweise findet sich in Schrift Über die alte Medizin auch das Klischee von den Philosophen, die über »überirdische oder unterirdische Dinge« spekulieren, obwohl sie für die Heilkunst wertlos sind und darum als leere Hypothesen zurückgewiesen werden müssen. (Ebd. 1, 15 ff.) Platon zitiert in der Apologie dieses pauschale Vorurteil gegen die Philosophen als ersten der drei Anklagepunkte, die gegen Sokrates vorgetragen werden.29
3.
Das kreative Denken (Lysias, Aristophanes)
Das auf Neues und Unbekanntes gerichtete Denken wird auch beim Rhetor Lysias und beim Komiker Aristophanes mit dem Philosophieren verbunden. So verteidigt Lysias in einer Gerichtsrede einen Behinderten gegen den Vorwurf ungerechtfertigter Vorteilsnahme. Denn er habe in seiner Not nur darauf gesonnen, sich bei seiner Behinderung Erleichterung durch ein Reittier zu verschaffen. »Es ist doch selbstverständlich, hoher Rat, dass alle, die ein Gebrechen haben, danach suchen und sich bemühen, möglichst ohne Schmerzen mit dem Schaden, der sie nun einmal betroffen hat, zurechtzukommen.« (eQj¹r c±q, § 27 Die Schriften, die unter dem Namen des Hippokrates überliefert sind, fallen zum überwiegenden Teil in die Zeit zwischen 450 und 350 v. Chr. Über die verschiedenen Verfasser ist nichts Sicheres bekannt. Die Schrift Über die alte Medizin (Peri archaies ietrikes) lehnt die Philosophie als Grundlagenreflexion der Medizin ab. Andere Schriften des Corpus Hippocraticum adaptieren aber durchaus philosophische Theorien. (Wittern, Die Anfänge der griechischen Medizin, 149 – 159.) Wenn man von der traditionellen Datierung der Schrift Über die alte Medizin ins 5. Jh. v. Chr. Ausgeht, könnte es sich hier um die älteste Belegstelle des Substantivs vikosov¸g handeln. (Jouanna, Hippocrate II.1, 207; siehe a. Stückelberger, Hippokrates und Hippokratisches Denken, 86) 28 Vgl. S. 181 ff. 29 Vgl. Ap. 23d und S. 113.
Das kreative Denken (Lysias, Aristophanes)
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bouk¶, p²mtar to»r 5womt²r ti dust¼wgla toOto fgte?m ja· toOto vikosove?m, fpyr ¢r !kupºtata letaweiqoOmtai t¹ sulbebgj¹r p²hor, Lys., Hyper tou adunatou, XXIV, 10, Üb. Huber).30 Philosophieren ist hier das kreative Nachdenken über ein lebenspraktisches Problem, aus dem ein Ausweg gesucht wird. Diese Bedeutung hat Platon im berühmten Geburtsmythos des Eros im Symposion aufgegriffen, wo Poros, der Vater des philosophierenden Eros, Einfallsreichtum und findige Intelligenz verkörpert, weil er bei allen Problemen einen Ausweg findet.31 Bei Aristophanes bekommt Philosophieren als innovatives Denken jedoch einen despektierlichen Klang. In der Weibervolksversammlung macht sich der Großmeister der Komödie über den Neuerungswahn der Athener lustig, die angesichts der zerfallenden politischen Moral ihr Heil in der Abkehr von der Tradition suchen. So reißen in diesem Stück die Frauen durch eine List die Macht im Staat an sich und verlangen nun von ihrer Protagonistin Praxagora, einen scharfen Verstand zu wecken und philosophisches Denken, das es versteht, den Freundinnen in dieser schwierigen Situation zu helfen (mOm dµ de? se pujmµm vq´ma ja· vikºsovom 1ce¸qeim vqomt¸d’ 1pistal´mgm ta?si v¸kaisim !l¼meim, Ar. Ec. 571 ff.). Nicht bewährte Lösungsstrategien sind damit gemeint, sondern eine innovative Idee, das völlig Neue und Unkonventionelle, das bisher weder gedacht noch getan wurde. Dafür steht hier der Ausdruck Philosophieren. Aber angesichts der kuriosen Vorstellungen, die Praxagora vorträgt, hängen die Leute doch lieber ihren alten Gewohnheiten an. Platon greift diese Diskussion inhaltlich auf, indem er Vorstellungen zur Gleichberechtigung der Frauen als Wächterinnen und Herrscherinnen in der Politeia diskutiert. Aber er zeigt auch, dass die Ablösung von alten Denkgewohnheiten und die Hinwendung zu Neuem keinen Wert an sich bedeuten, sondern, wie das Höhlengleichnis veranschaulicht, an der Reinigung des Denkens von den Schatten der Welt des Werdens und an der Hinwendung zur Welt des wahren Seins hängen.32 Weitere wichtige Beispiele für die Adaptation des innovativen, schöpferischen Charakters des Philosophierens finden sich im Symposion und im Theaitetos. Platon spricht dort höchst anschaulich vom Gebären philosophischer Logoi im Gespräch mit einer für das Schöne offenen, empfangsbereiten Seele oder der Genese eigener, wenn zunächst auch unfertiger Gedanken anstelle der Übernahme von Autoritätsargumenten.33 Philosophieren ist auch für ihn ein kreativer Denkprozess, der allerdings weit über das umgangssprachliche Verständnis hinaus eine eindeutige Zielrichtung und Sinnbestimmung hat: die Erkenntnis und Schau des Schönen, Guten und Wahren. 30 31 32 33
Lamb datiert die Rede ins Jahr 403. (Lamb, Lysias, 516) Vgl. Smp. 203a – 204c sowie S. 242 und Anm. 392. Vgl. R. 521c und S. 324 f. Vgl. Smp. 210a und S. 254 ff. sowie Tht. 150b-d und S. 86 ff.
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
Die Erkenntnis der Tugend (Herodoros, Aischines Sokr., Xenophon)
Mit dem Guten ist der Bereich des Ethischen angesprochen, der in der vorsokratischen Verwendung des Philosophiebegriffs bisher nicht im Blick war. Eine bemerkenswerte Ausnahme findet sich in einem Text von Herodoros aus Herakleia, einem Mythologen des ausgehenden 5. Jh., der den Mythos vom Kampf des Herakles um die Äpfel der Hesperiden allegorisch deutet.34 Der hundertköpfige Drache, der die Äpfel bewacht, symbolisiert bei ihm die Macht der Begierden, die den Weg zu den Tugenden, das sind die Äpfel, versperren. Aber im Kampf mit dem Drachen siegt Herakles über die bunten und mannigfaltigen Gedanken der schneidenden Begierden durch die »Keule der Philosophie« (mij¶samta tºm pokupo¸jikom t/r p¸jqar 1pihul¸ar kocisl¹m di± toO Nop²kou t/r vikosov¸ar). Dazu umgibt sich die standhafte Seele mit dem Löwenfell mutiger und besonnener Überlegungen.35 Derart »philosophierend bis zum Tod« (vikosov¶sar l´wqi ham²tou) besiegt sie die schlechten Begierden. In dieser Deutung der Heraklesgeschichte kommt das Philosophieren in seinen innerseelischen Wirkungen in den Blick und wird als Mittel im Kampf um die Tugenden entdeckt. Es geht Herodoros nicht mehr primär darum, dass man durch das Philosophieren Kenntnisse erwirbt und viel weiß oder sich in einer schwierigen lebensweltlichen Situation zu helfen weiß, sondern dass man in einem innerseelischen Konflikt die richtigen, hilfreichen Gedanken denkt. Da die Begierden durch Gedanken wirken, müssen sie auch mit diesen Mitteln bekämpft und besiegt werden. Philosophieren ist hier eine Form des Einredens der Seele auf sich selbst. Dieser innerpsychische Kampf um die Tugend ist allerdings nicht ein für allemal gewonnen, sondern findet erst im Tod ein Ende.36 34 Herodoros Fr. 14, FGrHist I, 31, 218. Zu Herodoros vgl. Jacoby, Art. Herodoros, 980 – 987; Nestle, Vom Mythos zum Logos, 146 ff. Der Name Herodoros wurde des Öfteren in Herodotos korrumpiert. Aristoteles nennt ihn b luhokºcor und bezieht sich in De Generatione Animalium polemisch auf dessen naturwissenschaftliche Theorien und Spekulationen (Arist. GA 756 b6). 35 Vgl. die auffällige Parallele in der Politeia. Dort findet sich die gleiche Anspielung auf das bunte und vielköpfige wilde Tier (hgq¸ou poij¸kou ja· pokujev²kou, R. 588c) als Sinnbild des begehrenden Seelenteils, des epithymetikon, das der Tugend widerstreitet. Und ebenso wie Herodoros im Löwenfell des Herakles das Symbol seines Mutes sieht, das ihn im Kampf um die Tugenden unterstützt, charakterisiert Platon den mutigen, eifrigen Seelenteil als Löwen, der auf die Vernunft, das logistikon, hören kann. (R. 588d f.) 36 Ob damit der philosophische Tod im Sinn des Phaidon gemeint ist, oder nicht doch eher der physische Tod, mit dessen Eintreten die Begierden ein natürliches Ende nehmen, ist nicht klar. Jacoby denkt beim Ausdruck »philosophierend bis zum Tod« an eine Verherrlichung des philosophisch gedeuteten Flammentodes. (FGrHist I 31, Fr. 14, 504) Die Philosophie wäre dann ein Reinigungsprozess, der einen Weg zur Unsterblichkeit bereitete. Das klingt allerdings schon sehr platonisch und lässt sich schwer mit dem Charakterbild der anderen
Die Erkenntnis der Tugend (Herodoros, Aischines Sokr., Xenophon)
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Denn der Mensch muss sich immer wieder durch die Argumente der Tugend überzeugen zu lassen, um seine Begierden zu überwinden, wie die emphatische Wendung »philosophierend bis zum Tod« sagt.37 Herodoros kommt mit dieser Darstellung der Bedeutung der Philosophie für die Tugendhaftigkeit der Seele, für ihre Bildung und Umgestaltung, schon nah an Platon heran. Auch Platon hat immer wieder gegen den Zeitgeist betont, dass Philosophie eine lebenslange Aufgabe ist.38 Dennoch würde er nicht mit der »Keule der Philosophie« dreinschlagen. Tugendargumente sind keine Todschlagargumente. Vielmehr sieht er die Möglichkeit der Überzeugung und Umwendung der Seele aufgrund ihrer naturgemäßen Einsicht in das Wahre und Gute, dem sie nicht widersprechen und zuwiderhandeln kann, weil es ihr wesensgemäß ist.39 Mit der sokratischen Bewegung wird Philosophieren zur Frage nach dem guten, richtigen Leben und beinhaltet die Revision der bisherigen Lebensführung. Das zeigt eindrucksvoll eine Episode, die der Sokratiker Aischines erzählt. Sein Freund Aristippos von Kyrene hörte bei den Olympischen Spielen von den Gesprächen des Sokrates mit den Athenern, die seine Landsleute in helle Aufregung versetzten. Diese Berichte wirkten so stark auf ihn, dass er die Fassung verlor und eilends nach Athen fuhr, darauf brennend, eine Anschauung von dem Mann, seinen Reden und von der Philosophie zu bekommen (ja· t¹m %mdqa ja· toOr kºcour ja· tºm vikosov¸am Rstºqgsem), deren Ziel es ist, das eigene Elend zu erkennen und davon frei zu werden (1picm_sai t± 2autoO jaj± ja· !pakkac/mai).40 (Aeschin. Socr., Fr. 49) Wir kennen solche Berufungsgeschichten zur Philosophie auch anderweitig.41 Das Besondere hier ist die kathartische Wirkung, welche die philosophischen Gespräche schon beim Hörensagen entfalten und dadurch in Aristippos den Drang wecken, die Philosophie auch zu erleben. Das spricht aus der Wendung: tºm vikosov¸am Rstºqgsem – die Philosophie wahrnehmen, erforschen und sich ein Bild davon machen. Sokrates ist die
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Heraklesgeschichten in Einklang bringen. Die philosophische Methode, die Herodoros empfiehlt, nämlich einen logismos durch einen anderen wie mit einer Keule zu erschlagen, trägt eher kämpferisch-agonale als platonisch-dialektische Züge. Erinnert sei hier auch an die berühmte Geschichte von Herakles am Scheideweg, die gleichfalls eine innere Kampf- oder Entscheidungssituation zwischen der Verführung durch das Laster und der keuschen Schönheit der Tugend schildert. Xenophon bezeugt sie bereits für Prodikos, so dass sie auch Herodoros bekannt gewesen sein dürfte. (X. Mem. II 1, 21 ff.) Vgl. Grg. 485a-d und S. 142 f., Ap. 28e, 29d und S. 126 f., 128, Smp. 203d und S. 243, Phd. 64a und S. 297. Vgl. Ly. 221e und S. 200, 211. Das ist eine deutliche Anspielung an das Delphische Orakel »Erkenne dich selbst«. Einen ähnlich dramatischen Charakter in Bewunderung der Philosophie zeigt der Erzähler des Symposions, Apollodoros, s. S. 217 f. Die Geschichten von Xenophons und Platons Berufung erzählt Diogenes Laertios, DL II 48 und III 5.
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
sinnenfällige Verkörperung der Philosophie, und zwar selbst noch in der abbildhaften Erzählung durch seine Freunde. Die Sokratikoi Logoi sind als literarische Gattung nichts anderes als das großformatige Pendant zu dieser kleinen Berufungsgeschichte. Die Dialoge Platons folgen dieser Intention. Sie wollen nicht in einer reflektierten Distanz über die Philosophie informieren, sondern sie wollen sie personal vermittelt darstellen und für sie werben. Philosophie ist in dieser Berufungsgeschichte ein Lebensentwurf, bei dem dem Übel gewehrt und das Gute gesucht wird. Dabei zeigt sich ein charakteristischer Dreischritt aus Erschütterung, Selbsterkenntnis und Umkehr. Das ist die philosophische Grunderfahrung und das existentielle Movens vieler Sokratiker. Zu ihnen gehört auch Xenophon. Für ihn verkörpert der philosophierende Sokrates das Ideal des kalos kagathos, des edlen und guten Menschen. Philosophie treiben (vikosove?m vikosov¸am) und Erziehung zu dem, was sich für einen edlen und guten Mann geziemt (paideuh/mai t± pqos¶jomta !mdq· jakoj!cah¸ar), sind keine Frage des Bücherstudiums und des Wissens, sondern der Selbsterkenntnis im Sinn des delphischen Cm_hi sautºm. (X. Mem. IV 2, 23 f.) Denn wer sich selbst nicht kennt und seine Fähigkeiten und Grenzen nicht richtig einschätzt, wird überall Fehler begehen und das Gute verfehlen. Xenophon kritisiert, dass viele von denen, die behaupten zu philosophieren (pokko· t_m vasjºmtym vikosove?m, X. Mem. I 2, 19), zwar durch das positive Vorbild von Sokrates zu einem tugendhaften Leben inspiriert wurden, solange sie mit ihm zusammenwaren, dass sie aber auf sich allein gestellt oder durch schlechten Umgang auch wieder verdorben werden. Den Grund sieht er darin, dass die Seele die philosophischen Reden, die zu einem tugendhaften Leben anleiten, ebenso vergessen kann wie kognitive Inhalte. Darum fordert auch er eine lebenslange philosophische Übung, die der Ausbildung der kalokagathie dient, der sittlichen Vollkommenheit. Die Orientierung an der Frage nach der Tugend, die lebenslange Übung und die Bedeutung der Selbsterkenntnis als initium des philosophischen Lebens hat Xenophon mit Platon und anderen Sokratikern gemein. Dennoch ist Philosophie treiben (vikosove?m vikosov¸am) für ihn weniger eine Frage des theoretischen, als vielmehr des praktischen Wissens und Könnens. Denn die Selbsterkenntnis, die Xenophon fordert, impliziert nicht wie in Platons Apologie die Einsicht in das metaphysisch Gute als letztes Strebensziel,42 sondern die realistische Einschätzung der eigenen Kompetenzen. Xenophon ist kein Metaphysiker, sondern ein Lebenspraktiker. Dementsprechend ist Philosophie für ihn eine reflektierte, aber durchweg praktische Lebenshaltung, die ihre Vollendung in der kalokagathie findet.43 42 Vgl. Ap. 20b–23b und S. 118 ff. 43 Weitere Belegstellen für den Philosophiebegriff bei Xenophon sind die Zurückweisung des
Die Macht der Rede (Gorgias, Dissoi Logoi)
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Die Macht der Rede (Gorgias, Dissoi Logoi)
Philosophieren als ein Bemühen um Wissen und Erkenntnis wird im 5. Jh. v. Chr. mit der sophistischen Bewegung zu einem Wissen um die Macht der Worte. Es geht um die Entwicklung der Fähigkeit, die Rede zielgerichtet argumentativ und suggestiv einzusetzen. Philosophie und Rhetorik gehen dabei eine enge Verbindung ein. Im Lob der Helena beschreibt der große Rhetor Gorgias eindrücklich die Überzeugungskraft rhetorisch geschulter Rede, die wie eine Droge (v²qlajom) auf die Seele wirkt und dadurch die Meinungsbildung der Zuhörer gezielt beeinflusst.44 Als Beispiel verweist er auf die philosophischen Redewettkämpfe, das heißt auf Debatten, bei welchen sich die Schnelligkeit der Auffassungsgabe daran zeigt, dass sie die Überzeugung von einer Meinung leicht wandelbar macht ([wqµ lahe?m] tq¸tom d³ vikosºvym "l¸kkar, 1m aXr de¸jmutai ja· cm¾lgr t²wor ¢r eqlet²bokom poioOm tµm t/r dºngr p¸stim. DK II 82 Fr. 11,13 f.). Es geht ihm dabei um die intellektuelle Gewandtheit der Redner, die sich auf ihre Zuhörer einstellen, indem sie deren Meinungen geschickt in die gewünschte Richtung lenken. Dafür ist nicht die Wahrheit ausschlaggebend, sondern allein die Überzeugungskraft rhetorisch berauschender Stilmittel.45 Im politischen Alltag ist die Verführungskraft der Rede zweifellos von großer Bedeutung. Das erklärt auch die Attraktivität der philosophisch-rhetorischen Bildung für die politische Elite.46 Vorurteils, die Philosophen verdürben die Jugend: X. Mem. I 2, 31, 33–35, vgl. Pl. Ap. 23d und S. 112 f.; Isoc. XV 175,1 f. u. 243, 2 – 10; die Eudaimonie als Frucht der Philosophie auf Grundlage von Bedürfnislosigkeit anstelle der Abhängigkeit von äußeren Gütern: X. Mem. I 6,2–4; der Topos »Wissen gegen Geld« als Charakteristikum sophistischen Philosophieunterrichts und dessen Karikatur durch Sokrates: X. Smp. 1,5 u. X. Smp. 4,62, vgl. Isoc. XI 1,6 f.; Pl. Ap. 20a, Cra. 391c; X. Cyn. 13,9; zum Millionärsklischee der Sophisten s. Huss, Xenophons Symposion, 84 f.; die Entgegensetzung von philosophischem Unterricht/ Theorie und empirischer Praxis X. Oec. 16,9; der Zusammenhang von Philosophie, Tugend und Redegewandtheit: X. An. II 1,12–13, vgl. Th. Hist. II 40,1; Isoc. IV 186,7 – 11; sowie der Topos vom philosophierenden Solon X. Smp. 8,39. 44 Vgl. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, XIII f. u. XVIII f.; anders Eucken, Isokrates, 17 f., der zwischen Rhetorik und Philosophie bei Gorgias unterscheidet. Zur Ironisierung der bezaubernden Macht der Sprache bei Platon vgl. S. 56. Heitsch weist zu Recht darauf hin, dass auch für Platon die zwingende Macht des Logos für den philosophischen Dialog essentiell ist. Dabei hängt die Überzeugungskraft allerdings nicht wie bei Gorgias an der effektvollen, äußeren Form, sondern an der inneren Stringenz der Argumentation, die sich dem subjektiven Belieben entzieht. (Heitsch, Erkenntnis und Lebensführung, 40) 45 Gorgias verneint nicht die phänomenale, durch den Logos vermittelte Meinung, die als wahr erscheint, sondern die ontologische Wahrheit der Sache; siehe Buchheim, a. a. O., XVIII. Dagegen steht bei Sokrates und Platon die Verpflichtung des Logos auf die ontologische Wahrheit als Kriterium einer überzeugenden Rede. (Prt. 348a; Grg. 472a f.; Smp. 199a; R. 499a u. ö.) 46 Unter Gorgias’ Namen ist noch ein Fragment überliefert, das in einem eindrücklichen Bild
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Platon weiß zwar auch um die Notwendigkeit überzeugender Rede. Darum spricht er im Charmides davon, dass die Seele mit Reden »besungen« werden muss, wenn sie vom Übel genesen will. Und im Phaidros fordert er Menschenkenntnis, damit die Worte ihr Gegenüber auch wirklich erreichen und ihre Wirkung entfalten können. Aber dennoch parodiert er im Symposion mit der Agathon-Rede meisterhaft den gorgianischen Stil, der zwar die Zuhörer bezaubert und entzückt, aber einen wirklichen Philosophen nicht zu überzeugen vermag. Sokrates verweigert sich denn auch einer nur auf äußere Effekte abzielenden Rhetorik und stellt dagegen die Wahrheit als Kriterium einer guten, philosophischen Rede.47 Die Rhetorik muss für ihn im Dienst der Wahrheit stehen und nicht umgekehrt. Die Sophisten gehen dagegen von der Relativität der Meinungen aus. Das zeigt auch die anonyme spätsophistische Schrift Dissoi Logoi oder Dialexeis.48 Dort wird gleich eingangs festgestellt, dass es in Griechenland unter denen, die philosophieren, über das Gute und Schlechte zweierlei Ansichten gibt (Disso· kºcoi k´comtai 1m t÷i :kk²di rp¹ t_m vikosovo¼mtym peq· t_ !cah_ ja· t_ jaj_, Dissoi Logoi, DK II 90,1,1). Der Verfasser behauptet, dass zu antithetischen Wertbegriffen wie dem Guten und Schlechten, dem Schönen und Hässlichen oder auch epistemischen Gegensätzen wie dem Wahren und Falschen grundsätzlich entgegengesetzte Ansichten vertreten werden können und stellt die Argumente im Für und Wider dar. Diese antilogische Formalisierung dient jedoch nicht der Wahrheitsfindung, sondern nur der Übung von Argumentationstechniken.49 Ob mit dem Ausdruck »die Philosophierenden« Mitglieder der gebildeten Oberschicht gemeint sind, die diese Fragen kontrovers diskutieren, oder bereits professionalisierte Sophisten, ist schwer zu entscheiden. Der das Verhältnis von Philosophie und allgemeiner Bildung beschreibt. Danach sind diejenigen, die sich nicht um die Philosophie kümmern, sondern die enzyklischen Fächer betreiben (to»r vikosov¸ar l³m !lekoOmtar, peq· d³ t± 1cj¼jkia lah¶lata cimol´mour), mit Freiern zu vergleichen, die statt mit Penelope mit ihren Mägden ins Bett gehen. Philosophie und die traditionelle Fächer der Allgemeinbildung konkurrieren hier um Schüler, wobei die Philosophie die größere Attraktivität für die Leute besitzt. Durch die Abgrenzung von den 1cj¼jkia lah¶lata wird Philosophie als Spezialwissenschaft beschrieben, was als Hinweis auf die sophistische Rhetorik gewertet werden kann. DK stufen dieses Fragment jedoch für Gorgias als schlecht bezeugt ein. (DK II 82, Fr. 29, Anm. 27) 47 Vgl. Chrm. 157b und S. 54; Phdr. 270d f. und S. 274; Smp. 189c ff. und S. 237. 48 Als Entstehungszeit nimmt Robinson um 400 an, Scholz die Zeit nach Ende des Peloponnesischen Krieges zwischen 404 und 390, spätestens bis 380. (Robinson, Contrasting Arguments, 34 – 41; Becker/ Scholz, Dissoi Logoi, 16) 49 Scholz zeigt, dass der Verfasser mit den vor Gericht oder bei Volkversammlungen üblichen Argumentationsmustern und mit der antilogischen Disputierkunst von Protagoras vertraut ist und die verschiedenen Verfahren anwendet. Er schließt daraus, dass es sich bei diesen Musterargumentationen um ein Lehrbuch der Eristik für die sophistische Unterrichtspraxis handelt. (Becker/ Scholz, Dissoi Logoi, 17 ff.)
Das Studium der Rhetorik (Alkidamas, Isokrates)
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Übergang dürfte fließend sein.50 Allerdings erinnert die Wendung an Platons Apologie, wo sich Sokrates gegen den Vorwurf der Menge verteidigen muss, dass es »die Philosophierenden« mit ihrer Argumentationskunst lediglich darauf abgesehen haben, Unrecht zu Recht zu machen. In der Kritik steht dabei die antilogische Übung, durch die ein Redner selbst schwache Argumente stark zu machen vermag.51 Platon sieht also die Herausforderung, Sokrates und mit ihm die Philosophie von den sophistischen Argumentationstechniken und der Antilogik abzugrenzen.
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Das Studium der Rhetorik (Alkidamas, Isokrates)
Für den politischen Alltag hat diese Disputierkunst aber zweifellos eine große Attraktivität. Das erklärt auch die Mischung aus Begeisterung und Skepsis, mit der die attische Öffentlichkeit auf die sophistische Bewegung reagiert. Dementsprechend kann es sich keiner aus gutem Hause leisten, seine Kinder nicht in die Schule eines Sophisten zu geben. Das spiegelt sich in vielen platonischen Dialogen. Platon teilt mit den Sophisten das Interesse an der Verbindung von Philosophie und Kunst der Rede. Aber die Frage nach ihren Zielen und der richtigen philosophischen Pädagogik ist strittig. Das gilt schon für die Sophisten untereinander und erst recht für Platons Auseinandersetzung mit ihnen. Bei Alkidamas, einem Schüler von Gorgias und Sophisten der zweiten Generation, zeigt sich deutlich die enge Verbindung von Philosophie und Rhetorik. Er polemisiert in seiner Sophistenrede gegen die Graphologen, die weit hinter der Rhetorik und Philosophie zurückbleiben (!pokeke?vhai pok» ja· Ngtoqij/r ja· vikosov¸ar, Alcid. Soph., Fr. 15, 2,4 f.), weil sie ihr Leben auf das Schreiben 50 Robinson nimmt eher eine weite Bedeutung im Sinn von »generally educated people« an, worunter allerdings auch professionelle Philosophen wie die Sophisten fallen könnten. (Robinson, a. a. O., 148) Gegen Ende der Dissoi Logoi findet sich weiterhin die Bemerkung, dass das Gedächtnis die größte und schönste Erfindung für das Leben sei, und zwar 1r vikosov¸am te ja· sov¸am. (Dissoi Logoi, DK II 90,9,1) Philosophie steht dabei für das theoretische Wissen, das durch Übung erworben wird, und sophia für das praktische Wissen. Zu verschiedenen Lesarten von 9,1 und der Bedeutung von vikosov¸a siehe Robinson, a. a. O., 238. 51 Vgl. Pl. Ap. 23d; Isoc. XV 217 f.; Ar. Nu. 94 ff. Ein praktisches Beispiel für Philosophieren als antilogische Disputierkunst wird unter dem Namen des Lysias überliefert. In einer Anklage wegen Verleumdung fühlt sich ein Mann von seinen Freunden betrogen, weil er glaubte, sie würden über eine Streitfrage philosophieren und deswegen für die gegnerische Auffassung argumentieren. Aber zu seiner Überraschung gingen sie nicht nur in Worten, sondern in Taten gegen ihn vor (ja· 1c½ l³m ålgm vikosovoOmtar aqto»r peq· toO pq²clator !mtik´ceim t¹m 1mamt¸om kºcom· oR d’%qa oqj !mt´kecom !kk’ !mt´pqattom, Lys., Kategoria pros tous synousiastas kakologion, VIII, 11, Üb. Huber). Zur Datierung kurz nach 380 v. Chr. siehe Lamb, Lysias, 168 f.; Huber, Lysias: Reden I.
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
verschwenden, statt ihren Schülern beizubringen, wie man gut redet. Philosophie ist hier bereits ein fest umrissener, technischer Begriff und steht für den Unterricht (paide¸a, ebd. 1,2 und paide¼eim, 15,2) in der Kunst der Rede, insbesondere der Extemporalrede. Die Einheit von schulischer Übung und praktischer Anwendung im politischen Alltag ist für Alkidamas zentrales Anliegen.52 Im Hintergrund steht seine Auseinandersetzung mit Isokrates, der auch ein Schüler von Gorgias war, zunächst als Graphologe arbeitete und später Rhetorik unterrichtete, ohne jedoch selbst öffentlich als Redner aufzutreten. Dass jemand Anspruch auf Philosophie erhebt (!mtipoio¼lemom vikosov¸ar, ebd.), aber seine Befähigung nur schriftlich unter Beweis stellt, kritisiert Alkidamas. Gleichzeitig weist er den Gegenvorwurf zurück, dass es unvernünftig sei, wenn diejenigen, die sich mit Philosophie beschäftigen, Stegreifreden loben (peq· vikosov¸am diatq¸bomta to»r aqtoswgdiastijo»r kºcour 1paime?m, ebd. 29,4 f.). Denn auch Extemporalreden wollen gelernt sein. Die zentrale Aufgabe des Philosophieunterrichts sieht er in der Schulung verschiedener Topoi der Rede, die in der Stegreifrede Anwendung finden. Darauf beruht die Kunst der Stegreifrede, für die er als Vertreter der alten Oralität vehement eintritt.53 Im Menexenos karikiert Platon jedoch diese Art einer nur vermeintlich spontanen Rede, weil sie lediglich aus »zusammengekitteten« Allgemeinplätzen besteht.54 Auch Isokrates hat eine Sophistenrede (Isoc. XIII) geschrieben, die er zu Beginn seines Rhetorikunterrichts um 390 als Werbeschrift verfasste. Eckpunkte sind die genaue Kenntnis der Formelemente eines Vortrages sowie deren situationsgerechte Auswahl und Anordnung auf der Grundlage sorgfältiger schriftlicher Ausarbeitung. (Ebd. 17) Damit vertritt er die Gegenposition zur Oralität von Alkidamas. In der autobiographischen Spätschrift Antidosis (Isoc. XV) wird auch die Bedeutung von Erfahrung oder Wissen für den philosophisch-rhetorischen Unterricht thematisiert. Isokrates sieht die Aufgabe der Philosophielehrer darin, ihren Schülern alle Formen beizubringen, die bei einer Rede Verwendung finden (oR d³ peq· tµm vikosov¸am emter t±r Qd´ar "p²sar, aXr b kºcor tucw²mei wq¾lemor, dien´qwomtai to?r lahgta?r, ebd. 183). Dabei betont er, dass die situationsgerechte Anwendung der verschiedenen Formen der Rede kein Gegenstand von Wissen ist, sondern allein auf Übung und Erfahrung beruht, so dass der Redner in der Regel das Richtige trifft. (Ebd. XV 184) Derartig sei das Wesen der Philosophie (j l³m owm t¼por t/r vikosov¸ar toioOtºr t¸r 1stim, ebd. 186). Damit grenzt sich Isokrates bewusst von Konkurrenten ab, die ihren Unterricht Phi52 Platon kritisiert gleichfalls ein Auseinanderfallen von Philosophie und Politik/Rhetorik in Euthd. 305c. 53 So hatte es ihr großer Lehrer Gorgias vorgemacht, indem er spontan und öffentlich zu beliebigen Themen Stellung nahm. Vgl. Grg. 447c. 54 Vgl. Mx. 236b und S. 50 f.
Das Studium der Rhetorik (Alkidamas, Isokrates)
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losophie nennen (tµm jakoul´mgm rpº timym vikosov¸am, ebd. 271), obwohl das nach seiner Auffassung falsch ist, weil es nicht in der Natur des Menschen liegt, ein genaues Wissen (1pist¶lg) von dem zu erlangen, was man tun und sagen soll. Denn Isokrates ist der Überzeugung, dass natürliche Begabung, eine gute rhetorische Ausbildung und Erfahrung für einen guten Redner völlig hinreichend sind. Wenn diese Bedingungen zusammenkommen, werden diejenigen, die philosophieren, an ihr Ziel gelangt und also vollendet sein (Ja· to¼tym l³m "p²mtym sulpesºmtym teke¸yr 6nousim oR vikosovoOmter, Isoc. XIII 18). Isokrates bestreitet also die Möglichkeit von Handlungswissen, wozu auch die politische Rede gehört. Dieser Streit um die episteme in der politischen Rhetorik und in der philosophischen Pädagogik ist charakteristisch für die Auseinandersetzung der beiden großen attischen Schulhäupter Isokrates und Platon. Isokrates sieht die Aufgabe der Philosophie in ihren auf Übung basierenden, lebenspraktischen Anwendungen, Platon hingegen in der Rückführung der lebenspraktischen Probleme auf grundsätzliche Einsichten in das Wesen des Guten und Schönen. Allein dadurch werde sichere Orientierung und situationsgerechtes, gutes Handeln gewährleistet. Immer wieder spiegelt sich diese Kontroverse in Platons Dialogen, in ausdrücklicher Anspielung auf Isokrates im Phaidros und etwas verdeckter im Euthydemos.55 Dementsprechend haben bei Isokrates mathematische und andere theoretische Wissenschaften keinen Platz in der Philosophie. Vielmehr kritisiert er deren fehlenden praktischen Nutzen. Er gesteht ihnen lediglich einen intellektuellen Übungseffekt zu, insofern sie Konzentrationsfähigkeit und Auffassungsgabe fördern. Im besten Fall sind sie eine Form geistiger Gymnastik, geistige Übungen, die zur Vorbereitung auf die Philosophie dienen können (culmas¸am l´mtoi t/r xuw/r ja· paqasjeuµm vikosov¸ar jak_ tµm diatqibµm tµm toia¼tgm, Isoc. XV 265), ihr aber doch äußerlich bleiben. Auch Platon sieht den Wert mathematischer Studien in der Propädeutik. Doch anders als bei Isokrates sind sie für ihn unabdingbare Voraussetzungen dialektischen Denkens und damit Teil der Philosophie, weil die Seele durch sie die Gesetzmäßigkeiten der geistigen Welt, das Unsichtbare und Immerwährende, wahrnehmen lernt und sich denkend ihrem Ursprung, der geistigen Wirklichkeit, angleicht.56 Dissens besteht auch in der Frage nach dem zeitlichen Umfang des Philosophierens. Für Isokrates ist Philosophieren ein praxisorientiertes Studium von begrenzter Dauer und mit klar definiertem Ziel, dem Erlangen rhetorischer Kompetenz. Darum nennt er Menschen, die aufgrund ihrer Meinung meistens das Beste treffen, klug und weise, und diejenigen, die sich mit Studien be55 Vgl. Phdr. 279a f. und S. 272 f., 275; Euthd. 305b ff. und S. 78 f., 80. 56 Vgl. R. 521c–531c und S. 325; Ti. 47b f., 31c–32c, 35a–36d und S. 175 f., 167 f., 180 f.; Phlb. 56e–57c und S. 360 f., 363 ff.
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Der Begriff des Philosophischen vor und zur Zeit Platons
schäftigen, die am schnellsten zu solcher Einsicht verhelfen, philosophisch (sovo»r l³m mol¸fy to»r ta?r dºnair 1pitucw²meim ¢r 1p· t¹ pok» toO bekt¸stou dumal´mour, vikosºvour d³ to»r 1m to¼toir diatq¸bomtar, 1n ¨m t²wista k¶xomtai tµm toia¼tgm vqºmgsim, Isoc. XV 271). Der philosophische Mensch ist somit eine Vorstufe des Kompetenten, Klugen und Weisen, des sophos, so wie der Auszubildende eine Vorstufe des Meisters ist. Philosophieren im isokratischen Sinn ist deswegen keine lebenslange Aufgabe wie bei den Sokratikern oder Herodoros.57 Folgerichtig bezeichnet sich Isokrates gängigem Sprachgebrauch folgend auch als Sophist, da sich der Begriff von sophos ableitet.58 (Isoc. XIII 14,19 f.) Bei Platon hat die Bezeichnung Sophist jedoch einen pejorativen Klang, weil die sophia den Göttern vorbehalten bleibt und der Anspruch des Menschen, ein sophos zu sein, hybrid ist. Dessen höchste Möglichkeit ist die lebenslange Vervollkommnung der philosophischen Seele. 90 Belegstellen der Wortfamilie Philosophie finden sich bei Isokrates, die meisten in der Spätschrift Antidosis. Damit sticht Isokrates deutlich aus der Reihe der anderen vorplatonischen und zeitgenössischen Autoren hervor und kommt als einziger annähernd an die Häufigkeit der Wortfamilie bei Platon heran.59 Das ist ein Zeichen, wie sehr Isokrates und Platon um den Begriff des Philosophischen miteinander gerungen haben, auch in gegenseitiger Bezugnahme.60 Dabei hat sich das jeweilige Verständnis zunehmend profiliert. Auffällig ist jedoch bei beiden Autoren, dass das Nomen Philosoph, b vikºsovor, ihnen anfangs nicht zur Verfügung stand, sondern sie in Übereinstimmung mit dem gängigen Sprachgebrauch zunächst verbale Umschreibungen benutzten wie »die Philosophierenden« oder »diejenigen, die sich mit Philosophie beschäftigen«.61 Der erste Beleg für das Nomen Philosoph findet sich bei Isokrates in der Helenarede (Isoc. X) und bei Platon im Phaidon oder Kratylos. Die Bildung des Nomens ist ein Zeichen der Professionalisierung und Abgrenzung vom umgangssprachlichen, weiten Sprachgebrauch, der auch andere Intellektuelle wie Politiker, Ärzte oder Dichter einschließt. Es ist zugleich Ausdruck des Ringens um das maßgebliche Verständnis von Philosophie. In der 57 Vgl. dazu die Auseinandersetzung in Grg. 485a-d und S. 142 f. 58 Vgl. dazu die Definition des Sophisten in Sph. 268b f. und S. 351. Der Titel der Sophistenrede jat± t_m sovist_m besagt nicht, dass sich Isokrates generell gegen Sophisten abgrenzt. Er wendet sich nur gegen solche, die seiner Meinung nach dem Anspruch nicht gerecht werden. Vgl. Graeser, Sophistik und Sokratik, 82. 59 Während ich bei den anderen Autoren alle mir bekannten Belegstellen aus der Wortfamilie Philosophie aufgeführt habe, muss bei Isokrates aus Platzgründen darauf verzichtet werden. 60 Vgl. das Philosophieverständnis in Isokrates’ Lobrede auf den ägyptischen König Busiris (Isoc. XI 17 u. 22) als parodistische Antwort auf die Ständeordnung und Ausbildung der Philosophenherrscher in Platons Politeia. 61 Isokrates: pokko· l³m t_m vikosovgs²mtym, XIII 14,3 f.; oR vikosovoOmter, XIII 18,4 oder t_m peq· tµm vikosov¸am diatqibºmtym, XIII 1,6. Platon: vgl. die Tabelle der Okkurenzen S. 376 ff.
Das Studium der Rhetorik (Alkidamas, Isokrates)
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Helenarede beschreibt Isokrates die Aufgabe der Philosophen beispielhaft dadurch, dass sie versuchen, etwas zu sagen, was der Würde der Heroin gerecht wird (to»r d³ vikosºvour peiq÷sha¸ ti k´ceim peq· aqt/r %niom t_m qpaqwºmtym 1je¸m,, Isoc. X 66,4 f.), um sie auf diese Weise dem Staat wohlgesinnt zu machen und sich ihrer Hilfe zu vergewissern. Nutzen und Aufgabe der Philosophen und der politischen Rede liegen also in der Legitimation und Aufrechterhaltung der politischen Ordnung. Platon ist dieses Anliegen nicht fremd. Aber er unterstellt es einer grundsätzlichen Immanenzkritik, die auch die tradierten Mythen und Göttervorstellungen und die damit verbundenen Wertmaßstäbe mit einschließt. Sein Philosoph muss auf anderem Fundament bauen. Ansonsten ist er kein Philosoph, sondern Politiker oder Dichter oder Sophist. Darum richtet Platon im Phaidon das Bild des »wahren Philosophen« auf, nämlich des sterbenden Sokrates, der sich der ewigen, unsichtbaren und geistigen Welt zuwendet, während sich sein Gegenspieler, der nur vermeintliche Philosoph und Sophist Euenos, dem Sterben und damit auch dem philosophischen Tod verweigert, weil er der sinnlich wahrnehmbaren Welt verhaftet bleibt.62 »Philosoph« zu sein und diese sichtbare Welt auf ihren unsichtbaren Ursprung hin zu transzendieren, wird bei Platon zum Inbegriff seines eigenen Selbstverständnisses.
62 Vgl. Phd. 64b und S. 295 f.
II. Das philosophische Gespräch
Überblick Wer Platons Dialoge liest, wird von der ersten Zeile an in ein Fragen, Forschen und Reflektieren mit hineingenommen, das wir in Anlehnung an Platons eigenen Sprachgebrauch »Philosophieren« nennen. Darum ist es erstaunlich, dass Platon den Begriff als solchen erst relativ spät thematisiert. In vielen frühen Dialogen macht er gar keinen Gebrauch von ihm, so nicht im Ion, Kriton, Laches, Euthyphron und selbst nicht im Menon. In Hippias Mi., Menexenos, Charmides und auch im Protagoras verwendet er ihn nur sehr eingeschränkt und eher beiläufig. Wie ist das zu verstehen? In den drei frühen Dialogen Hippias Mi., Menexenos, Charmides ist ausschließlich im Einleitungsteil vom Philosophieren die Rede, im Hippias Mi. und Menexenos je einmal und im Charmides zweimal. Diesen Dialogen ist weiterhin gemeinsam, dass sie im sophistischen Milieu spielen, also im Umfeld von Wanderlehrern, die als Vertreter der griechischen Aufklärung nach Athen kamen. Diese versprachen, ihre Schüler auf die neuen Herausforderungen einer demokratisch geführten polis besser vorzubereiten als die traditionelle, noch an den aristokratischen Strukturen orientierte Erziehung. Im Hippias Mi. werden wir Zeugen eines Gesprächs zwischen Sokrates und dem gelehrten Sophisten Hippias, der gerade vor einem großen Publikum mit einem Schauvortrag über Homer geglänzt hatte. Im Menexenos hören wir vom ehrgeizigen jungen Menexenos, der nach abgeschlossenem Rhetorikstudium in die Politik strebt und sich deswegen zur Ratsversammlung begibt. Und im Charmides treffen wir in einem Gymnasium auf eine Gruppe Jugendlicher, die nicht nur in den traditionellen gymnastischen und musischen Fächern Unterricht erhalten, sondern auch ein Aufbaustudium in Rhetorik beim Sophisten Taureas absolvieren. Um den diskutierten Fragen und Problemen einen realistischen, lebensweltlichen Kontext zu geben, entwirft der Dramaturg Platon zu Beginn seiner Dialoge vor dem inneren Auge des Lesers ein Bühnenbild aus Worten. Dabei dienen Stichworte wie Ratsversammlung (bouleuterion) und Erziehung (pai-
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Das philosophische Gespräch
deia), Schauvortrag (epideixis) oder Sportschule (palaistra) den zeitgenössischen Lesern als allgemein bekannte und vertraute Accessoires zur Vergegenwärtigung der Szenerie. Auch dem Stichwort »Philosophieren« kommt diese Funktion in den Einleitungsszenen der drei genannten Dialoge zu. Es lässt den Leser den Unterricht der Sophisten und ihre rhetorische Kunst assoziieren, und genau das beabsichtigt Platon. Eine terminologische Kritik und Umdeutung dieses für Platon später zentralen Begriffs findet sich hier noch nicht. Denn die Wiedererkennungsfunktion eines dramaturgischen Accessoires beruht gerade auf seiner allgemeinen Verständlichkeit und Vertrautheit. Platon bleibt also in diesen Dialogen noch ganz im Rahmen des durch die Sophisten geprägten Sprachgebrauchs zu Beginn des 4. Jahrhunderts, wenn er das Philosophieren als eine lehr- und lernbare rhetorische Kunst, das heißt als eine techne, dem sophistischen Milieu zuordnet. Der Protagoras führt über diese Anfänge hinaus in eine erste Reflexion über das Philosophieren. Der Dialog thematisiert die Kontroverse von Sokrates mit den großen Sophisten seiner Zeit über die rechte Art philosophischer Rede. Die Auseinandersetzung entzündet sich an der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend. Denn die Sophisten beanspruchen, zu den ausgewiesenen Fachleuten zu gehören, den sophoi, die jedem kluges Reden und Handeln beibringen können, eine Kunst, die in der Politik zweifelsohne von großer Bedeutung ist. Sokrates bezweifelt dagegen die Lehrbarkeit politischer Kompetenz und bürgerlicher Tugenden und fordert einen Beweis für ihre Behauptung. Die brillante Schaurede, die Protagoras, der Altmeister der Sophisten, daraufhin bietet, führt jedoch zu einem Eklat. Denn Sokrates weigert sich, den langen Vortrag nur in passiver Bewunderung anzuhören, und fordert die Gelegenheit zu Rückfragen und die Rechtfertigung der darin aufgestellten Thesen. So kommt es zu einer Gegenüberstellung zweier grundsätzlich verschiedener Auffassungen über Funktion und Möglichkeit der Rede für den Erwerb der Tugend. Dem Gegensatz im Selbstverständnis: hier der große Sophist Protagoras, dort der unwissende und vermeintlich begriffsstutzige Sokrates -, entspricht ein Gegensatz der Sprech- und Argumentationsformen: hier die Makrologie, die großartigen und langen Vorträge, dort die Brachylogie, das heißt kurze, auf das Wesentliche beschränkte Aussagen. Gegen die suggestive Macht langer Reden steht die gemeinsame Untersuchung von Thesen durch Fragen und knappe, sachbezogene Antworten. Die Kritik von Sokrates an den Schaureden macht sich vor allen Dingen an drei Punkten fest: Erstens sind die Vorträge so lang und komplex, dass sie über die Köpfe der Zuhörer hinweggehen und man den Zusammenhang des Gesagten nicht mehr nachvollziehen kann. Zweitens ist es deswegen nicht möglich, die Behauptungen genau zu überprüfen, sie zu falsifizieren oder zu verifizieren. Schließlich geht damit einher, dass auch die Meinungen der Zuhörer zu diesen Themen keiner Überprüfung unterzogen werden.
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Man kann sich entweder beeindruckt zeigen und dem Vortragenden und dessen Behauptungen anschließen oder anderer Meinung sein. Aber weder die Vorstellungen des Vortragenden noch die der Zuhörer müssen dabei einer kritischen Betrachtung und Bewertung standhalten. Gegen diese sophistische Vortragspraxis fordert Sokrates darum die gemeinsame Untersuchung in einem Gespräch durch zwei gleichberechtigte Dialogpartner. Das Sich-Unterreden, das dialegesthai, wird in diesem Kontext zum sokratischen terminus technicus. Es hat zum Ziel, für Meinungen, von deren Wahrheit man überzeugt ist, und für Behauptungen, die man in diesem Zusammenhang aufstellt, sich selbst und anderen Rechenschaft abzulegen (logon didonai). Dies geschieht formal in einer kleinschrittigen Überprüfung der Konsistenz von Thesen durch ein Frage- und Antwortspiel, bei dem die Widerspruchsfreiheit überprüft wird. Dieses Prüfverfahren, elenchos genannt, ist keine Erfindung von Sokrates. Es erfreut sich auch bei den Sophisten großer Beliebtheit. Denn wie bei den Schaureden kann man dadurch seine Scharfsinnigkeit öffentlich unter Beweis stellen, z. B. indem man Widersprüche in den Aussagen anderer oder in der Dichtung nachweist. Dieser Missbrauch des elenchos wird im Protagoras einer scharfen Kritik durch Sokrates unterzogen. Denn eine Widerlegung darf sich nicht auf den formalen Aspekt der Widerspruchsfreiheit beschränken, ohne den gemeinten Sachverhalt dabei klären zu wollen. Sonst besteht die Gefahr, dass auf der Ebene der Begriffe ein logischer, aber doch nur vermeintlicher Widerspruch festgestellt wird, der auf der Sachebene gar nicht gegeben ist, weil man die Bedeutung der Worte willentlich oder unwillentlich missverstanden hat. Es geht im sokratischen elenchos also nicht nur um die formale Widerspruchsfreiheit, sondern auch um die Klärung von Sachfragen. Erst dann ist dem Anspruch auf Wahrheit Genüge getan, wodurch das Gespräch seinen philosophischen Charakter erhält. Die Schaureden wie auch der sophistische Umgang mit der Dichtung erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt als unzureichend. Aber auch die Spruchweisheit genügt nicht der von Sokrates geforderten philosophischen Brachylogie. Zwar werden in ihr von alters her auf kurze und prägnante Weise philosophische Einsichten und Lebensweisheiten mitgeteilt, aber das, was sie an Wahrem zu sagen hat, ist wie die Dichtung nicht vor Missdeutung und Missbrauch geschützt. Sie ist nicht selbsterklärend und kann ihren Sinn nicht selber explizieren. Die Kürze der Rede und ihr Wahrheitsgehalt sind nach Sokrates zwar notwendige, aber noch keine hinreichenden Kriterien philosophischer Rede. Gegen diese konventionellen Formen philosophischer Rede – den Schauvortrag, die Dichtung und ihre Auslegung sowie die Spruchweisheit – stellt Sokrates das philosophische Gespräch, bei dem man die Wahrheit untersucht, indem man sich selbst einer Prüfung unterzieht und befragt. »Die Wahrheit und
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Das philosophische Gespräch
sich selbst prüfen« ist darum das Leitmotiv des sokratischen Gesprächs. Die Methode, nämlich der elenchos, und das formale Kriterium der Widerspruchsfreiheit stehen unter dieser Maßgabe. Die Wendung auf die eigene Person und deren Meinungen bedeutet aber gerade nicht, dass der Mensch zum Maß der Dinge wird, wie es Protagoras propagiert. Vielmehr unterzieht Sokrates seine eigenen Meinungen und die seiner Gesprächspartner einer kritischen Untersuchung und Rechtfertigung und nimmt dabei an der Wahrheit und Wirklichkeit der Sache Maß, die er im dialogischen Gespräch zu erfassen sucht. Im Protagoras setzt sich Platon mit vorfindlichen Philosophieauffassungen auseinander, die er kritisch untersucht, indem er ihre Grenzen und ihren Missbrauch aufzeigt. Dagegen setzt er die sokratische Form der Wahrheitssuche, das dialogische Gespräch, ohne jedoch den Philosophiebegriff schon ausdrücklich dafür zu reklamieren. Stattdessen nimmt das umgangssprachliche Sich-Unterreden, das dialegesthai, technischen Charakter an und bezeichnet die neue Form philosophischer Untersuchung. Im Euthydemos geht es um die Verteidigung des philosophischen dialegesthai gegen möglichen Missbrauch und den Vorwurf der Eristik. Gegen Ende des Dialogs tritt ein unbekannter Kritiker der Philosophie auf, der Sokrates und seinen Freunden vorwirft, sich mit unwürdigen Streithähnen der zweiten Sophistengeneration gemein zu machen. Von außen betrachtet, betreiben nämlich beide Seiten dieselbe Sache, das prüfende und widerlegende Gespräch mittels kurzer Fragen und Antworten. Die Brüder Euthydemos und Dionysodoros untergraben jedoch diese Untersuchungsmethode, indem sie Fangfragen stellen und dabei bewusst semantische Mehrdeutigkeiten ausnutzen und syntaktische Zusammenhänge in ihr Gegenteil verkehren. Erläuternde und korrigierende Kommentare ihres Dialogpartners zur Aussageintention lassen sie nicht zu, sondern bestehen auf kurzen Ja/Nein-Antworten. Damit führen sie die im Protagoras geforderte Brachylogie ad absurdum. Denn weder bringen sie selbst irgendwelche Thesen ein, deren Wahrheit sie vertreten und verteidigen wollen, noch ist ihnen mit Blick auf ihren jungen Gesprächspartner Kleinias daran gelegen, ihm zur Klarheit über die zur Diskussion stehende Sache zu verhelfen. Vielmehr gefallen sie sich in dem Kunststück, in einem Augenblick für eine Position A zu argumentieren und im nächsten Augenblick für das genaue Gegenteil, unabhängig davon, wie widersinnig die Behauptungen sind, die sie dabei aufstellen. Sokrates erhebt denn auch Einspruch gegen diese unlautere Art des Streitens, die noch dazu mit dem Anspruch auftritt, die Tugend, die arete, lehren zu können. Gegen diese Art der Eristik fordert er die Hinwendung zur Philosophie. Denn weil die sophia zu den Tugenden gehört und eine Eigenschaft der Seele ist, besteht die Hinführung zur Philosophie in der Sorge um die Seele und ihre Tugend. Die beiden sophistischen Streithähne entmutigen ihre Gesprächspart-
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ner aber nur mit ihren Sprachtricks. Darum zeigt Sokrates beispielhaft, wie ein protreptischer, zur Philosophie ermunternder elenchos geführt werden muss. Zum einen entwickelt er schrittweise die formale Struktur des prüfenden Gesprächs. Zum anderen führt er inhaltlich eine Güterlehre ein. Ausgehend von der Grundthese, dass alle Menschen wollen, dass es ihnen gut geht, über das Zwischenergebnis, dass alle so genannten Güter wertindifferent sind mit Ausnahme der sophia als einem Wissen um das Gute, steht am Ende die Folgerung, dass alle Menschen danach streben müssen, so klug und weise wie möglich zu werden. Das aber heißt nichts anderes, als dass man philosophieren muss. Damit ist das Ziel des beispielhaften elenchos erreicht: die Hinwendung der Seele zur Philosophie. Gleichzeitig hat Sokrates gezeigt, dass auch das dialogische Gespräch, das dialegesthai, zu den wertindifferenten Gütern gehört. Falsch angewandt wie bei den Eristikern schadet es und ruft Ärger hervor. Richtig angewandt nutzt es aber der Seele und verhilft ihr zur Tugend. Nicht die dialogische Untersuchungsmethode ist darum zu verwerfen, wie der Kritiker der Philosophie am Schluss des Euthydemos meint, sondern eine unphilosophische, missbräuchliche Praxis. Zum ersten Mal im platonischen Werk entwickelt Sokrates darum eine eigene Definition der Philosophie, die über das sonst übliche Wortverständnis hinausgeht. Ausgehend vom normalsprachlichen Verständnis der Komposita mit phil-, wonach Philosophieren meint, dass man viel Wissen erwerben will, zeigt er, dass dazu auch das Wissen um den richtigen Gebrauch des Gewussten gehört, wenn es denn gut und nützlich sein soll, etwas zu wissen. Philosophie ist demnach eine Erkenntnis, bei der Wissenserwerb und das Wissen um dessen guten Gebrauch zusammenfallen. Eine Trennung in einen theoretischen und praktischen Teil ist dabei unmöglich. Das gilt vornehmlich für das Wissen um das Gute als Ziel allen menschlichen Handelns. Es ist der eigentliche Gegenstand philosophischer Erkenntnis und leitet alles Spezialwissen wie eine königliche Kunst. Auch das dialogische Gespräch untersteht ihm. Philosophieren besteht danach nicht im Erlernen einer Widerlegungstechnik. Sie muss sich vielmehr am Guten und Nützlichen als ihrem Ziel orientieren. Erst das gewährleistet ihren guten Gebrauch und macht aus dem prüfenden Gespräch einen philosophischen Dialog. Im Theaitetos geht es inhaltlich um die Frage nach dem Wesen von Erkenntnis und in diesem Zusammenhang auch wieder um das philosophische Gespräch. Unter der Maske von Protagoras äußert Sokrates den Verdacht, dass er und sein junger Freund Theaitetos der Gefahr erliegen könnten, die Redegattungen nicht genügend zu unterscheiden, nämlich das Rededuell, das agonizesthai, und die freundschaftliche, gemeinsame Untersuchung, das dialegesthai. Im ersten Fall geht es darum, noch schwächste Argumente so stark zu machen, dass sie im Wettkampf der Reden den Sieg davon tragen. Diese Kunst üben die Antilogiker,
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Das philosophische Gespräch
die darum im Ruf stehen, um des bloßen Widerspruchs willen für jede beliebige Seite argumentieren zu können. Dadurch nähren sie das pauschale Vorurteil der Menge gegen die vermeintliche Wortklauberei der Philosophen und die Verachtung der Philosophie. Hingegen sei es Aufgabe der Philosophen, zur »Flucht zur Philosophie« zu ermuntern, während der Widerspruchsgeist lediglich Verweigerung zur Folge habe. Dahinter verbirgt sich ein ernsthaftes psychologisches Problem. Die Widerlegung von Thesen in einem elenchos wird oft als Angriff und als persönliche Infragestellung empfunden. Zustimmung oder Ablehnung der Argumente folgen dann nicht mehr rationalen Kriterien, und das gemeinsame Bemühen um die Wahrheit der zur Diskussion stehenden Sache, wie sie das dialogische Gespräch erstrebt, bleibt auf der Strecke. Nun lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionsmuster beobachten, wenn Thesen widerlegt werden und sich als unhaltbar erweisen. Für die eine Seite steht hier beispielhaft der große Sophist Protagoras, für die andere der begabte, aber noch junge Theaitetos. Während der Altmeister der Sophisten keine Unsicherheiten oder gar Fehler seinerseits eingestehen kann, weil letztlich seine Lehrautorität daran hängt, sieht das für Theaitetos und seinen Freund Sokrates ganz anders aus. Denn Sokrates versteht sich nicht als Lehrer, sondern nur als »geistige Hebamme«. Er will seinem jungen Dialogpartner helfen, im philosophischen Gespräch eigene Gedanken zu entwickeln, zu gebären und zu beurteilen. Das ist die Kunst der Maieutik. Dabei werden keineswegs gleich tragfähige, widerspruchsfreie Thesen entwickelt, sondern viele Vorstellungen müssen auch verworfen oder korrigiert werden. Doch stets ist das ein gemeinsamer, konstruktiver Prozess. Maieutik ist darum eine Einführung in die Kunst des produktiven, philosophischen Denkens. Dabei lernt die Seele, mit sich im Gespräch zu sein, indem sie sich selbst befragt und antwortet, Behauptungen aufstellt und sie bestreitet. Der anfänglich konstatierte Geist des Widerspruchs ist also nicht eristischen Ursprungs, sondern nimmt seinen Ausgang vom eigenen, prüfenden Denken. Er ist als solcher unvermeidbar und konstitutiv für eine selbständige, philosophische Untersuchung. Der junge Theaitetos reagiert denn auch ganz anders auf die Widerlegung seiner Thesen als der verärgerte Großmeister der Sophisten. Er gerät darüber ins Staunen. Dieses »Staunen als Anfang der Philosophie« ist geradezu sprichwörtlich geworden. Es wird ausgelöst durch die zugegebenermaßen fehlende Konsistenz und Kohärenz von Meinungen, die man für sich genommen zwar alle für wahr hält, die aber nicht zusammenpassen. Insofern ist es auch ein Staunen angesichts der Möglichkeit falschen Denkens, das doch von den Sophisten entschieden bestritten wird. Das philosophische, maieutische Gespräch setzt nun genau bei dieser Verwirrung an. Es macht die Aporie zum Ausgangspunkt der Untersuchung, indem Schritt für Schritt auf einer Anfangshypothese auf-
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gebaut und die Übereinstimmung mit anderen Thesen geprüft wird. Dadurch sollen nach und nach Ordnung und Harmonie ins Denken kommen. In dieser Konzeption fördert das äußere, maieutische Gespräch das innere Gespräch der Seele mit sich selbst. Der Theaitetos beschreibt diese Wendung des philosophischen Dialogs nach innen, auf die eigene Seele. Das wird sich im Sophistes noch vertiefen und in der »Gemeinschaft der Begriffe und Ideen« seine epistemologische und metaphysische Begründung finden. In einem Philosophenexkurs erörtern die Freunde weitere Bedingungen und Kennzeichen des philosophischen Gesprächs in Abgrenzung zum Redewettstreit, wie er vor Gericht üblich ist. Den vielfältigen äußeren Einschränkungen und Abhängigkeiten von der Meinung der Menge stehen Muße und Freiheit der Philosophie und der Wissenschaft gegenüber. Vor allem aber unterscheiden sich beide Redeformen durch den erörterten Gegenstandsbereich: hier die veränderliche, soziale und politische Welt – dort die unveränderliche, geistige Welt. Dieser ontologische Dualismus wirkt aber bis in den Chor der freien Wissenschaftler hinein und trennt auch die Mathematiker von den Dialektikern. Während erstere auf Axiomen und Grundbegriffen aufbauen, die sie epistemologisch und ontologisch nicht reflektiert haben, fragen letztere nach deren Wesen und unterziehen sie einer dialogisch-dialektischen Prüfung. Erst hier findet die Philosophie ihre wesensgemäßen Inhalte und Betätigungen: in der Unterscheidung von Veränderlichem und Unveränderlichem, Werden und Sein, von Schlechtem und Gutem, Unglück und Glück, Göttlichem und Ungöttlichem. Die eingangs erwähnte »Flucht zur Philosophie« wird damit zur »Flucht von hier nach dort«, zu den göttlichen, paradigmatischen Ideen. Damit geht eine Abwendung von den äußeren Objekten der Wissenschaft einher und eine Hinwendung nach innen, auf die eigene Seele, in deren Vollzug sich der Philosoph den Gegenständen seiner Reflexion, den paradigmatischen Ideen angleicht. Die »Angleichung an Gott«, die homoiosis theo, ist darum die lebenspraktische Folge eines recht verstandenen philosophischen Gesprächs und der dialektischen Übung.
1.
Hippias Mi., Menexenos, Charmides: In der Schule der Sophisten
Der Hippias Mi. schildert ein Nachgespräch im Anschluss an einen öffentlichen Schauvortrag (1p¸deinir, Hp. Mi. 363a, d, 364b), mit dem der Sophist Hippias vor großem Publikum geglänzt hatte. Der engere Kreis seiner Schüler bleibt zurück, um Stärken und Schwächen der Rede zu diskutieren und daraus zu lernen. Auch Sokrates wird aufgefordert, seinen Kommentar abzugeben,
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Das philosophische Gespräch
zumal nachdem nur wir selbst übriggeblieben sind, die wir uns wohl besonders darum bemühen, an der Beschäftigung mit der Philosophie teilzuhaben (#kkyr te 1peidµ ja· aqto· keke¸lleha, oT l²kist’ #m !mtipoigsa¸leha lete?mai Bl?m t/r 1m vikosov¸ô diatqib/r. Hp. Mi. 363a, Üb. B.S.)
Diese Szene vermittelt Einblick in einen Kreis besonders eifriger Sophistenschüler, die für sich in Anspruch nehmen, sich intensiver als üblich mit Philosophie zu beschäftigen. Darunter verstehen sie das Studium rhetorischer Stilmittel, die auf die Zuhörer besonders großen Eindruck machen. Mit diesen Kenntnisse hoffen sie, in einem Redewettstreit (!cym¸feshai, Hp. Mi. 364a), wie er im öffentlich-politischen Leben Athens üblich ist, als Sieger zu bestehen. Offensichtlich wird Sokrates von den Anwesenden zum Kreis derer gezählt, die in dieser Art zu reden besonders kompetent sind. Aber Sokrates macht deutlich, dass er nichts von diesen langen Reden, von der sogenannten Makrologie hält (lajq¹r kºcor, Hp. Mi. 373a).63 Dem Sophisten Gorgias dagegen galten derartige Redewettkämpfe als Schauplatz und Ort der Bewährung besonderer philosophischer Kompetenz.64 Im Hippias Mi. distanziert sich Sokrates also von der sophistischen Praxis der Makrologie, ohne jedoch das damit verbundene Verständnis von Philosophie als einer agonistischen Rhetorik explizit infrage zu stellen. Auch in der Einleitungsszene des Menexenos wird diese sophistische Auffassung von Philosophie vorausgesetzt. Sokrates ist verwundert, den jungen Menexenos in der Nähe der Ratsversammlung anzutreffen, und fragt spöttisch, ob er denn meint, mit der Bildung und dem Studium – das heißt der Philosophie -, schon ans Ziel gelangt zu sein und sich Größerem zuzuwenden gedenkt. (C d/ka dµ fti paide¼seyr ja· vikosov¸ar 1p· t´kei Bc0 eWmai … 1p· t± le¸fy 1pimoe?r tq´peshai, Mx. 234a, Üb. B.S.)
Nach abgeschlossenem Rhetorikstudium führt der Weg der Studenten üblicherweise in das politische Leben Athens. Offensichtlich halten sie sich aufgrund ihrer Ausbildung für kompetent, Regierungsgeschäfte zu übernehmen und für andere Menschen, auch wesentlich ältere wie Sokrates, Sorge zu tragen. In dieser praktischen Anwendung besteht das Größere und Erstrebenswertere, dem die philosophische Ausbildung zu dienen hat. Der untergründige Spott von Sokrates ist unüberhörbar.65 Im Folgenden bekommt der Leser einen Einblick in die Art 63 Vgl. Prt. 334c, 335b,c, 336b; Grg. 449b, 461c; Sph. 268b. Siehe a. S. 56 f.. 64 Siehe S. 35 f. 65 Nach Tsitsiridis meint pa¸deusir umgangssprachlich die allgemeine, nicht spezialisierte Bildung, die später als »enkyklios paideia« bezeichnet wird. (Tsitsiridis, Platons Menexenos, 132) Vgl. dazu in Anm. 46 das Gorgias-Fragment über den Rangstreit zwischen Philosophie und enzyklischen Fächern. Im Menexenos sind pa¸deusir und vikosov¸a beigeordnet. Sie bezeichnen hier nicht konkurrierende Erziehungssysteme, sind aber auch nicht synonym. Vielmehr ist davon auszugehen, dass pa¸deusir im Sinn der Allgemeinbildung für die tra-
Hippias Mi., Menexenos, Charmides: In der Schule der Sophisten
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der politischen Rede und Einflussnahme, auf die das Rhetorikstudium vorbereitet. Denn für die öffentliche Ehrung der Gefallenen des Korinthischen Krieges soll ein Redner gewählt werden. Dafür will sich auch Menexenos bewerben. Doch statt um Inhalte der Politik geht es bei diesen Reden offensichtlich mehr um die Sprachgewalt und Überzeugungskraft. Darum arbeiten besonders kompetente Leute (!mdq_m sov_m, Mx. 234c) ihre Reden vorher schriftlich aus, damit sie durch eine eindrucksvolle Rhetorik die Seelen der Zuhörer bezaubern (cogte¼ousim, Mx. 235a). Doch selbst wenn sie aus dem Stegreif reden (aqtoswedi²feim, Mx. 235c f.), gestalten sie die Reden nicht frei, sondern greifen auf feste Topen zurück und fügen sie nach bewährten Mustern zusammen. Im Folgenden trägt Sokrates eine solche »zusammengekittete« (sucjokk_sa) Grabrede vor. Er hat sie von seiner Rhetoriklehrerin Aspasia gehört, der Frau von Perikles, auf die auch die berühmte, bei Thukydides überlieferte Grabrede ihre Mannes zurückgehen soll. (Mx. 236b) Das ist ein deutlicher Seitenhieb gegen Perikles, denn Sokrates bekennt, bei dem Studium sehr »vergesslich« (1pekamhamºlgm) und also schwer von Begriff gewesen zu sein.66 (Mx. 236c) Der Spott zeigt, dass Sokrates nichts von dieser Art zu reden hält, weil sie nur unernste Spielerei ist (pa¸feim, Mx. 236c, 235c). Wenn Platon diese Form von Philosophie parodiert,67 so sind seine eigentlichen, zeitgenössischen Kontrahenten die Rhetoriklehrer Isokrates und Alkidamas. Denn sie verstehen unter Philosophie das Erlernen einer Rhetorik, die einer festen Topik folgt, sei es in der schriftlichen Ausarbeitung, sei es in der Stegreifrede.68 Das Problem solcher Musterreden sieht Platon darin, dass die suggestive Macht der Worte69 im Vordergrund steht und die Inhalte zweitrangig sind. Platon kritisiert hier diese sophistische Rhetorik, aber er stellt die damit verbundene Semantik des Philosophiebegriffs noch nicht infrage.
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ditionellen gymnastischen und literarisch-musischen Fächer steht und vikosov¸a für ein Aufbaustudium, wie es die Sophisten mit dem Rhetorikstudium anboten. Das entspräche z. B. dem isokratischen Bildungsprogramm, dessen Ziel es ist, nach der Allgemeinbildung die Schüler auf die politische Praxis vorzubereiten. (Siehe S. 38 ff.) Vgl. das Motiv der »sokratischen Vergesslichkeit« als Form der Kritik in Prt. 334c f. und S. 57 sowie Anm. 82. Ob der Menexenos ironisch zu verstehen ist, ist kontrovers. Ich teile die Einschätzung von Erler, dass »bei der vieldiskutierten Frage, ob es sich beim platonischen Epitaphios um Ironie oder den Entwurf eines Idealstaates handelt, … die Ironiesignale des Rahmengespräches nicht überhört werden [dürfen] …« (Erler, Platon, PhdA 2/2, 164; zur Diskussion s. die Literatur bei Erler, ebd., 162 – 165) Graeser vertritt die These, dass Isokrates den Menexenos als Karikatur eines Enkomions auf Athen durchschaut und mit dem Panegyrikos als Lob der Kultur Athens geantwortet habe, worauf wiederum Ti. 17a ff. eine Replik Platons sei. (Graeser, Philosophie der Antike 2, 89) Zu Alkidamas siehe S. 37 f., zu Isokrates S. 38 f. Zur bezaubernden und überwältigenden Macht der Rede bei Gorgias s. S. 35 f. Vgl. auch das Symposion, wo der daimon Eros wegen seiner Sprachgewalt als Sophist und gewaltiger Zauberer bezeichnet wird. (Smp. 203d)
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Das philosophische Gespräch
Auch die Einleitungsszene des Charmides spielt in einem typischen Wirkungsbereich der Sophisten, in einem Gymnasium. Dort treffen wir auf Sokrates, der am Feldzug gegen Poteidaia teilgenommen hatte und nach langer Abwesenheit glücklich nach Athen zurückgekehrt ist. Gemäß seiner Gewohnheit mischt er sich sofort unter die Leute und sucht die ihm vertrauten Plätze auf. In der palaistra des Taureas begegnet er alten Freunden,70 und nachdem er ihre erste Neugier befriedigt und vom Feldzug erzählt hat, erkundigt er sich seinerseits nach der Jugend der Stadt, der schon immer sein besonderes Interesse galt: So fragte ich sie wiederum, wie es zur Zeit um die Philosophie steht und um die Jugendlichen, ob einige unter ihnen sich durch Klugheit oder Schönheit oder beides auszeichneten. (…awhir 1c½ aqto»r !mgq¾tym t± t0de, peq· vikosov¸ar fpyr 5woi t± mOm, peq¸ te t_m m´ym, eU timer 1m aqto?r diav´qomter C sov¸ô C j²kkei C !lvot´qoir 1ccecomºter eWem. Chrm. 153d, Üb. B.S.)
Daraufhin preist Kritias, ein Freund von Sokrates, seinen Vetter Charmides in höchsten Tönen. Sokrates kennt Charmides noch aus der Zeit vor dem Feldzug, als dieser ein Knabe war. Inzwischen ist er zum Jugendlichen herangewachsen und geht bei den Sophisten in die Schule, um eine seiner Herkunft und Begabung angemessene Ausbildung zu erhalten.71 (Chrm. 154b) In der Gruppe der jungen 70 Eine palaistra war der zentrale Hof innerhalb eines Gymnasiums, also einer Sportschule, in der nicht nur Sport getrieben wurde, sondern in den anliegenden Räumen auch das soziale und religiöse Leben der Jungen seinen Platz hatte. Dort erteilten Sophisten Unterricht in Rhetorik und führten anhand der Dichtung auch in das musische Fach ein. (Vgl. Bordt, Platon: Lysis, 108 f.) Allerdings gehörten die Sophisten an den Gymnasien meist nicht zu den Größen ihres Fachs. (Nails, The People of Plato, 206) Diese waren eher in den Privathäusern der Reichen zu finden, wo sie gegen teures Geld Vorlesungen hielten (Prt. 314c – 316a, Grg. 447b f., X. Smp.1,5). Die palaistra, oft ein Synonym für das Gymnasium als Ganzes, war als öffentliche Institution ein zentraler Ort für die Erziehung der Jugend. Wo es wie im Charmides oder auch Lysis als Bühnenbild für die sokratischen Gespräche dient, steht es symbolhaft für das Erziehungsprogramm des freien Bürgers. 71 Zum sophistischen Ausbildungsprogramm vgl. Prt. 325d – 326e und Isoc. XV, S. 38 ff. Nach Kerferd hat gerade die perikleische Demokratie mit ihrem Grundsatz der Gleichheit aller die sophistische Bewegung befördert. (Kerferd, The Sophists, 244 ff.) Nicht mehr die Zugehörigkeit zum Adelsstand berechtigt zur Führung in der Polis, sondern die individuelle Tüchtigkeit wird zum entscheidenden Kriterium. Dadurch erfährt die Ausbildung eine große Aufwertung und befördert das pädagogische Spezialistentum. Allerdings sind es besonders die Reichen und damit die Söhne der alten Elite, die sich eine sophistische Ausbildung leisten können. Darum sind nach Meinung von Protagoras trotz der demokratischen Grundordnung die Reichen auch die Besten, weil sie ihren Kindern die längste Ausbildung zukommen lassen. (Prt. 326c) Die politischen Aufgaben sind also nicht mehr zwingend durch Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse vorbestimmt, sondern an erworbene Qualitäten gebunden, die aber wiederum durch den sozialen Status befördert werden. An die Stelle der ständischen Elite tritt die sophistisch gebildete Elite. Philosophie als Rhetorikstudium ist fester Bestandteil dieser Ausbildung.
Hippias Mi., Menexenos, Charmides: In der Schule der Sophisten
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Leute steht Charmides im Mittelpunkt des Interesses. Er überragt die anderen nicht nur durch körperliche, sondern auch durch seelische Schönheit: Denn er ist auch wissbegierig, das heißt philosophisch, und sehr dichterisch veranlagt, wie sowohl andere als auch er selbst meinen. (1pe¸ toi ja· 5stim vikºsovºr te ja·, ¢r doje? %kkoir te ja· 2aut`, p²mu poigtijºr. Chrm. 155a, Üb. B.S.)
Die Erziehung der Sophisten verspricht, an Charmides ihre schönsten Blüten zu tragen. Er ist der Inbegriff eines kalos kagathos, eines Edlen und Guten (p²mu jak¹r j!cahºr 1stim). (Chrm. 154e) Die dramaturgische Funktion der palaistra wie auch die Frage von Sokrates nach dem Stand der Bildung in Athen vergegenwärtigen dem Leser wieder den sophistischen Kontext. Neben den traditionellen gymnastischen und musischen Fächern gehört auch die Philosophie zum curricularen Unterricht, für den die Sophisten verantwortlich zeichnen. Ersteres ist schon durch den Ort, die palaistra als Ring- und Sportplatz gegeben. Auf die dichterische und die rhetorische Ausbildung wird durch den Hinweis auf die besondere Begabung von Charmides eingegangen. Damit weckt Charmides Erinnerungen an seinen Ahnherrn Solon, wie Sokrates bemerkt. (Chrm. 155a) Denn Solon erneuerte und ordnete nicht nur das athenische Staatswesen durch eine umfassende Gesetzgebung, sondern er reflektierte seine politischen Reformen auch dichterisch. Darüber hinaus »… bereiste er aus Wissbegier (¢r vikosov´ym) viele Länder, um eine Anschauung von ihnen zu bekommen«.72 Diese Anspielung auf den philosophierenden Solon lässt Charmides wie einen verjüngten Solon erscheinen, der Anlass zu den größten Hoffnungen gibt. In ihm scheinen sich alle Vorzüge für eine große politische Karriere wieder vereint zu haben: eine natürliche Wissbegier sowie eine große Sprachbegabung. Das passt auch zur Selbsteinschätzung der jungen Leute, die sich hier versammelt haben. Es ist nicht zufällig, dass Kritias seinen Vetter und Schützling Charmides vor allen andern mit dem Prädikat kalos kagathos auszeichnet, ihn also einen edlen und guten Menschen nennt. Dieser Neologismus diente bei seinem Aufkommen zur Selbstbezeichnung einer jungen Elite im Umfeld der Sophisten, deren Anführer ursprünglich der ebenso geniale wie ehrgeizige Alkibiades war.73 Doch eben dadurch fällt auch ein zweifelhaftes Licht auf die jungen Leute, die sich hier zusammengefunden haben, um durch eine angemessene Ausbildung auf ihre zukünftige Rolle in der Polis vorbereitet zu werden. Die herausragenden Gestalten, hier besonders Kritias und Charmides, geben zwar durch Herkunft und Begabung Anlass zu den größten Hoffnungen, aber sie 72 Hdt. I 30,2. Zum Philosophieren Solons als einem allgemeinen Bildungsinteresse s. S. 29. 73 Zum Ausdruck »kalos kagathos« vgl. Ap. 20b, 21d und Anm. 178. Alkibiades hatte Athen in den Strudel des sizilischen Abenteuers gerissen und dadurch wesentlich Anteil am Verlust der Großmachtstellung Athens.
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Das philosophische Gespräch
werden Athen dennoch politisch und moralisch ins Verderben führen. Für den Leser des Charmides ist das bereits leidvolle Erfahrung und Geschichte.74 Dieser dunkle Schatten liegt über der heiteren Eingangsszene. Dadurch wird gleich zu Beginn des Dialogs mit Dringlichkeit die Frage nach Wert und Ziel der Bildung und insbesondere der sophistischen Schulung gestellt. Nicht die außerordentliche Begabung der jungen Leute steht in Zweifel, wohl aber die sophistische Philosophie, die beansprucht, die kaloi kagathoi auf ihre politischen Aufgaben angemessen vorzubereiten.75 Sokrates führt im Dialog Charmides noch keine ausdrückliche Kritik des Begriffs Philosophie durch. Aber er stellt der sophistischen Philosophiekonzeption, die wesentlich auf Sprachkompetenz zielt, die Sorge um die Seele entgegen (1pil´keiam poie?shai), weil sie Ursache des Guten wie auch des Bösen im Menschen ist.76 (Chrm. 156e) Will man also verhindern, dass jemand wie der junge Charmides trotz seiner guten Anlangen durch falsches Selbstbewusstsein verdorben wird, muss man dafür Sorge tragen, dass er besonnen handelt. Das wird gefördert durch das »Besingen« (1p\d0, Chrm. 157a) der Seele mit schönen Reden.77 Darunter versteht Sokrates solche Reden, die die jungen Leute zur Selbsterkenntnis und so zur Besonnenheit führen.78 74 Kritias war einer der Anführer der »Dreißig«, einem Gremium von dreißig Bevollmächtigten, die 404/3 unter dem Schutz Spartas eine verdeckte Oligarchie errichteten und in einer rücksichtslosen Willkürherrschaft Angst und Schrecken verbreiteten. Er setzte sich gegen gemäßigtere Kräfte durch und trug persönlich Verantwortung für einige der grausamsten Repressionen. Charmides gehörte nicht unmittelbar zu den »Dreißig« von Athen, sondern war von ihnen als einer der »Zehn« eingesetzt, die 404/3 Piräus regierten und kontrollierten. Beide starben 403 in der Schlacht gegen die Demokraten unter Thrasybulos. (Vgl.Welwei, Das klassische Athen, 247 – 257; Nails, The People of Plato, 90 – 94; 108 – 114; Ep. VII 324c f.) 75 Wenn Zehnpfennig die Stellung von Charmides als »zwischen Philosophie und Sophistik, zwischen Sokrates und Kritias« beschreibt (Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 22), so ist das irreführend, weil sie den Begriff »Philosophie« im platonischen Sinn versteht und gegen die Sophistik abgrenzt, obwohl er im Charmides noch eindeutig in den sophistischen Kontext gehört. Sie überträgt, was häufig geschieht, mit Rückgriff auf die Mitteldialoge den späteren Wortsinn von Philosophie auf den Sprachgebrauch früherer Dialoge und wird damit der allmählichen Transformation und Umdeutung des Begriffs durch Platon nicht gerecht. Es ist ein Anliegen dieser Arbeit, für die Kontextbezogenheit und Entwicklung des Begriffs »Philosophie« bei Platon zu sensibilisieren und den Blick zu schärfen für die Positionen, gegen die Platon inhaltlich Stellung bezieht. 76 Zur »Sorge um die Seele« als dem sokratischen Verständnis von »Philosophieren« vgl. Ap. 29e, Alkib. I 130c, Grg. 501b u. ö. sowie S. 124 ff., 69, 151 f. 77 Sokrates hingegen verwendet für sein Konzept, das »Besingen der Seele« durch »schöne Reden«, den unscheinbaren Ausdruck »sich unterreden« (diak´ceshai, Chrm. 154e). Dieser bekommt dann in Dialogen wie Protagoras und Euthydemos zunehmend einen technischen Charakter und dient zur Beschreibung eines neuen, sokratisch-platonischen Philosophiebegriffs. Er bezeichnet dabei die Prüfung von Thesen in einem systematisch betriebenen Frage-Antwort-Spiel. Vgl. Stemmer, Platons Dialektik, 96 – 151 und Monique Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 16 – 47. 78 Sokrates wurde immer wieder seine freundschaftliche Beziehung zu Alkibiades, Kritias und
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
2.
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Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
Platon entwickelt seinen Philosophiebegriff zunächst in der Auseinandersetzung mit den Sophisten. Nicht zufällig spielt darum eine ganze Reihe von Dialogen in diesem Milieu. Der Protagoras ragt aus ihnen noch besonders hervor, weil er ein sophistisches Großereignis im Haus des reichen Kallias beschreibt. Nicht nur der Altmeister der sophistischen Bewegung Protagoras hat sich eingefunden, sondern auch der vielseitig begabte Hippias und der nicht minder berühmte Prodikos. Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht von der Ankunft der Wanderlehrer in Athen verbreitet, und die Elite der Stadt strömt in das Haus von Kallias. Die Beschreibung der Szenerie, die Sokrates vorfindet, als er im Gefolge seines jungen und eifrigen Freundes Hippokrates bei Kallias eintrifft, liest sich wie ein »who is who« Athens. (Prt. 314e – 316a) Besonders die politisch aufstrebende Jugend ist zahlreich vertreten. Dem einfachen Volk in Gestalt des Türhüters ist der Rummel um die Sophisten allerdings deutlich zu viel. Barsch versucht er deswegen, Sokrates und Hippokrates abzuwimmeln. Erst als Sokrates beteuert, dass sie keine Sophisten sind (oute sovista¸ 1slem), lässt er sie mürrisch ein. (Prt. 314d) Dramaturgisch geschickt baut Platon in dieser Einleitungsszene die Sophisten um Protagoras einerseits und den Nicht-Sophisten Sokrates andererseits als Antagonisten auf. Dabei wird deutlich, dass die Jugend Athens diese berühmten Wanderlehrer bewundert, weil sie erstens klug sind (sovºr) und weil sie zweitens auch anderen beibringen können, wie man wortgewaltig redet (poi/sai deim¹m k´ceim). (Prt. 312c f.) Die rhetorische Kompetenz der Sophisten begeistert die jungen Leute. Sie ist das »Handelsgut« dieser intellektuellen Kaufleute, die für ihre Kenntnisse reiche Entlohnung erwarten. Die kritische Frage von Sokrates, ob das rhetorische Wissen den Seelen der Zuhörer zum Vorteil oder Schaden gereicht, bleibt unbeantwortet. (Prt. 313c – 314b) Darüber ein Urteil zu fällen, wird Aufgabe des Lesers sein.
Charmides angelastet. (Vgl. Ap. 23d und S. 112, 124, 319 f.) Doch auch Platon persönlich hatte Grund, sich dem Problem zu stellen, wie es zu deren moralischen Verirrungen kommen konnte. Die Beschreibung des jugendlichen, sympathischen Charmides könnte genauso gut auf ihn zutreffen. Auch er hatte sich in der Jugend dichterisch betätigt, war vielseitig interessiert und begabt und durch seine familiären Bande – Charmides und Kritias sind seine Onkel – für politische Aufgaben prädestiniert. (DL III 1; Nails, The People of Plato, 244. Zu den politischen Ambitionen des jungen Platon vgl. Ep. VII 323b f., 335a f.; zu seinen dichterischen vgl. DL III 5.) In der dramaturgischen Figur von Charmides spiegelt sich also nicht nur der Ahnherr Solon, sondern auch der Neffe Platon. Es liegt deswegen durchaus in Platons persönlichem Interesse, diese Fehlentwicklung zu reflektieren und seinen Lehrer Sokrates von der Verantwortung dafür freizusprechen.
56 2.1.
Das philosophische Gespräch
Kritik der Schaureden
Sokrates’ kritische Reflexion setzt bei der Überlegung ein, dass man nur dann bereit ist, Geld für etwas zu bezahlen, wenn man sich einen Nutzen davon verspricht, wenn man also dadurch in irgendeiner Weise »besser« zu werden hofft (bekt¸ym 5stai, Prt. 318c). In dieser beiläufigen Wendung verbirgt sich die Frage nach der Tüchtigkeit oder Tugend, nach der arete, die die Sophisten vermitteln. Schnell wird deutlich, dass sich Größen wie Protagoras nicht mit dem traditionellen Unterricht abgeben, mit Rechnen, Astronomie, Geometrie und Musik. Vielmehr beansprucht Protagoras, Klugheit (eqbouk¸a) im Reden und Handeln (pq²tteim ja· k´ceim) lehren zu können und somit eine übergeordnete soziale Kompetenz zu vermitteln, die er auch als Staatskunst oder bürgerliche Tugend bezeichnet (pokitijµ t´wmg oder !qet¶, Prt. 319a, 322b, 323a). Doch Sokrates bezweifelt, dass es sich dabei um eine lehrbare Kunst handelt. Protagoras will den Beweis dafür antreten und hält eine lange Rede, um durch Argumente (Logos) und anschauliche Bilder (Mythos) zu zeigen, dass die bürgerliche Tugend wie eine techne gelehrt werden kann.79 (Prt. 320c, 328c) Sokrates scheint selbst ein schlagender Beweis für die Wortgewalt und Wirkmächtigkeit des großen Sophisten zu sein, denn völlig verzaubert (jejgkgl´mor, Prt. 328d) verschlägt es ihm wie dem theatralischen Eingangschor der verzauberten Anhänger (jejgkgl´moi, Prt. 315b) zunächst die Sprache. Doch Sokrates spielt nur die Rolle des bewundernden Zuhörers und karikiert sie. Denn er kann es nicht lassen, eine »Kleinigkeit« nachzufragen. (Prt. 328e) Als Protagoras sich den hartnäckigen Fragen entziehen und in neue, weitschweifige Reden ausweichen will, lässt Sokrates es auf einen Eklat ankommen
79 Mythos und Logos werden geistesgeschichtlich meist als Gegensatz gesehen. Dabei kommt dem traditionellen Mythos eine bildhafte Deutungsfunktion der Wirklichkeit zu, dem aufgeklärten Logos entspricht die rationale Begründungsfunktion. Kobusch hat darauf hingewiesen, dass bei Platon Mythos und Logos jedoch nicht in einem Konkurrenzverhältnis stehen, sondern sich gegenseitig mit ihren unterschiedlichen Mitteln ergänzen. Dabei steht »der Mythos immer in Diensten des Logos«, weil er allein vom Logos her seine Wahrheit und Legitimation erfährt. (Kobusch, Die Wiederkehr des Mythos, 20 f.) Diese Kongruenz von Mythos und Logos trifft für viele Mythen Platons zu, so für die Jenseitsmythen, nicht jedoch für Prt. 320c und 328c. Vielmehr kritisiert Platon hier indirekt den Anspruch der Sophisten, sich beliebig beider Mittel, des Mythos wie des Logos, bedienen zu können, um ihre Behauptungen zu stützen. Denn Protagoras bleibt den Beweis der Wahrheit seines Logos schuldig, ja, er sagt sogar ausdrücklich, dass das Bekenntnis zur Wahrheit, sofern sie sich gegen einen selber richtet, keinen verpflichtenden Charakter hat. (Prt. 323b) Für ihn sind Mythos und Logos nur unterschiedliche Mittel, um die Meinung seiner Hörer zu beeinflussen. Sie dienen nicht der Wahrheitsfindung. Anders bei Sokrates, für den das entscheidende Kriterium philosophischer Rede darin besteht, »die Wahrheit und sich selbst zu prüfen«. (Prt. 348a) Die Mittel gleichen sich, aber nicht die Intention.
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
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und droht zu gehen. Er sei zu vergesslich, um den langen Vorträgen zu folgen,80 (Prt. 334c) und zu begriffsstutzig, um die Schnelligkeit und Wendigkeit der Gedankengänge des Großmeisters nachvollziehen zu können.81 (Prt. 336a) Weil aber Protagoras als großer Redner sowohl die kurze wie die lange Rede, die Brachylogie wie die Makrologie beherrscht, möge er sich auf ihn, den vergesslichen Sokrates, einstellen und in kurzen Sätzen durch Frage und Antwort eine Unterhaltung mit ihm führen. (Prt. 335b f.) Die Strategie von Sokrates gegenüber Protagoras ist durchsichtig. Er packt den Sophisten bei seinem Ehrgeiz als großer Redner und zwingt ihn so, sich auf die Zuhörer einzulassen. Denn durch seine vermeintliche Vergesslichkeit macht Sokrates darauf aufmerksam, dass die meisten Menschen bei langen Vorträgen irgendwann nicht mehr wissen, wovon zu Anfang die Rede war und worum es sich eigentlich handelt.82 Kallias versucht daraufhin als guter Gastgeber, den Konflikt zu entschärfen und Sokrates zum Bleiben zu überreden. Denn nichts würde ihm mehr Freude bereiten, als dem Gespräch von Sokrates und Protagoras zuzuhören. Aus der überschwänglichen Antwort von Sokrates über diese vermeintliche Liebe zu den Reden und zur Philosophie spricht kaum verhohlener Spott: O Sohn des Hipponikos, immer schon habe ich deine Liebe zum Wissen bewundert, und vollends preise und liebe ich sie auch jetzt, so dass ich dir gern gefällig wäre, wenn du etwas Mögliches von mir erbätest. (¯ pa? Zppom¸jou, !e· l³m 5cyc´ sou tµm vikosov¸am %calai, !t±q ja· mOm 1paim_ ja· vik_, ¦ste bouko¸lem #m waq¸fesha¸ soi, eQ lou dumat± d´oio7 Prt. 335d f., Üb. B.S.)
Sokrates weigert sich, das theatralische Schauspiel, an dem Kallias seine Freude hat, mitzuspielen. Mit Philosophie, mit Liebe zum Wissen, hat das für ihn nichts zu tun. Er verspottet die kritiklose Bewunderung der sozialen Oberschicht für die rhetorische Kunst der Sophisten, deren Schauvorträge sie nur passiv konsumieren, anstatt selbst zu denken und sich miteinander zu unterhalten. (Prt. 347 c f.) Solange man den Sophisten die Bühne überlässt und in der sicheren Deckung des Zuschauers und Zuhörers bleibt, fällt dieses philosophische Defizit jedoch nicht auf. Der in der Eingangsszene eingeführte Gegensatz zwischen den Sophisten und ihrer Entourage einerseits und dem Nicht-Sophisten Sokrates andererseits konkretisiert sich in dem Gegensatz der Sprech- und Argumentationsformen. 80 Vgl. Hp. Mi. 373a. 81 Zur Analogie der berauschenden Wirkung von Drogen und gorgianischen Schaureden sowie zur verwirrenden Schnelligkeit und Wendigkeit sophistischer Argumentationen (vikosºvym kºcym) vgl. S. 35. 82 Alkibiades entlarvt wenig später die Vergesslichkeit des Sokrates zwar als Scherz, aber er betont, dass gleichwohl die meisten Zuhörer bei langen Reden vergessen, was ursprünglich zur Frage stand. (Prt. 336d)
58
Das philosophische Gespräch
Die Makrologie steht gegen die Brachylogie, die großen, eindrucksvollen Reden gegen eine gemeinsame Untersuchung in kurzen Fragen und Antworten. Ist das nun ein überflüssiger Streit um persönliche Vorlieben und Begabungen? Kallias scheint das zu glauben, und so macht er den Vorschlag, jeder möge reden, wie er will. Sokrates aber ist diese Haltung zu beliebig. Denn mit der Redeform ist auch eine unterschiedliche Weise des Denkens verbunden. Während ein Gespräch beide Seiten zum Mitdenken zwingt, erlaubt die Schaurede dem Redner ungeprüfte Behauptungen und dem Zuhörer den Rückzug in die Passivität. Beides hat für Sokrates nichts mit Philosophie zu tun. Er widerspricht darum entschieden und besteht kompromisslos darauf zu klären, auf welche Art und Weise man die Unterredungen führen will (t¸r b tqºpor 5stai t_m diakºcym). Denn es seien zwei ganz verschiedene Dinge, ein Gespräch miteinander zu führen (t¹ sume?ma¸ … !kk¶koir diakecol´mour), oder öffentliche Reden zu halten (t¹ dglgcoqe?m).83 (Prt. 336b) Wieso beharrt Sokrates auf dieser Alternative? Eine Schaurede, wie Protagoras sie gehalten hatte, will beeindrucken und auf diese Weise die Zuhörer überwältigen und überzeugen. Sie will keine Thesen zur Diskussion stellen, die dann gemeinsam durchdacht werden. Eine Untersuchung der Behauptungen ist wegen der Fülle der Aussagen weder möglich noch intendiert. Sokrates vergleicht diese Reden darum mit Büchern, die tot sind, weil sie stumm bleiben, wenn dem Zuhörer oder Leser Fragen kommen. Man kann mit ihnen kein Gespräch führen, denn sie verstehen weder zu antworten noch selbst zu fragen.84 (Prt. 328e f.) Die Wahrheit der Behauptungen bleibt ungeprüft. Die Kehrseite der Medaille ist der kritiklose Zuhörer und Bewunderer von Schaureden. Er steht nicht selbst auf dem Prüfstand, wie es der Fall ist, wenn er in einer gemeinsamen Untersuchung auch über seine eigenen Meinungen Rechenschaft ablegen muss. Vielmehr kann er unter Bezug auf das Gehörte im gesellschaftlichen Diskurs mitreden und für die Richtigkeit auf die Autorität des Redners verweisen. Das ist für beide Seiten eine angenehme und profitable Arbeitsteilung. Nur bleibt das kritische Bemühen um die Wahrheit dabei auf der Strecke. Für Sokrates ist das aber das eigentliche Anliegen der Philosophie. 83 Zum Gegensatz von Makrologie und Brachylogie s. Grg. 449b f. u. vgl. Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 16 – 28. Dixsaut unterstreicht zu Recht, dass es sich beim sokratischen Dialog nicht um eine Redeform unter anderen Alternativen handelt, wie sie z. B. Gorgias im Lob der Helena vorstellt, die man je nach Situation und Belieben wechseln kann. (Dixsaut, ebd., 27.) Diesen okkasionellen, sophistischen Umgang mit Redeformen demonstriert auch Protagoras, wenn er erst eine Rede über die Tugend hält und anschließend eine Gedichtinterpretation in Dialogform gibt. Für Sokrates handelt es sich aber nicht um ergänzende Redeformen, sondern der Dialog ist die philosophische Form der Rede schlechthin. 84 Vgl. zur Schriftkritik Phdr. 275d u. S. 275; zur Stummheit der schriftlichen Dichtung Prt. 347e, s. S. 63.
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
2.2.
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Kritik der Dichterrezeption
Um vor den anderen sein Gesicht nicht zu verlieren, stimmt Protagoras notgedrungen zu, die weitere Untersuchung dialogisch zu führen. Zunächst einigt man sich darauf, dass zum Gespräch, zum dialegesthai, die Bereitschaft gehört, für eine Aussage sowohl Rechenschaft abzulegen als auch anzunehmen und zuzugestehen (1p¸stashai kºcom te doOmai ja· d´nashai, Prt. 336c). Es wird also vorausgesetzt, dass man 1. seine Behauptungen begründen kann und will und dass 2. der Gesprächsteilnehmer eine solche Begründung auch einfordert und bestätigt. Dies geschieht in Form von Frage und Antwort, und zwar derart, dass die Begründung, das logon dounai, in der Antwort auf die Frage zu einer zuvor aufgestellten These besteht. (Prt. 336a, 337d f.) Protagoras scheint sich auf diese formale Beschreibung des dialegesthai einzulassen. Allerdings besteht er auf die im sophistischen Unterricht (paide¸a) übliche Praxis, ein Thema anhand dichterischer Vorlagen zu behandeln. In dem Rahmen würde er für seine Interpretation auch Rechenschaft abzulegen (kºcom doOmai).85 (Prt. 338e f.) Protagoras nutzt also die Gelegenheit, seine Kompetenz auch auf dem Feld der Dichtung unter Beweis zu stellen. Dazu zitiert er ein Gedicht von Simonides, in dem dieser einen Vers von Pittakos kritisiert, nämlich: »Schwer ist es, tugendhaft zu sein.« Doch Protagoras macht sich weder die Kritik von Simonides zueigen noch den ursprünglichen Vers von Pittakos, um daran seine eigene Auffassung der Tugend darzulegen. Stattdessen führt er die literarischen Beispiele nur ein, um einen logischen Widerspruch in der Kritik von Simonides an Pittakos nachzuweisen und auf diese Weise seine argumentative Überlegenheit über die beiden älteren Autoren unter Beweis zu stellen. An der Klärung der Sachfragen ist ihm in keiner Weise gelegen. (Prt. 331c) Protagoras hat sich zwar nach außen hin auf die Brachylogie eingelassen, doch ist das letztlich Augenwischerei. Denn seine Argumentation bezieht sich nicht auf den Inhalt der Aussagen, sondern nur auf deren formal-logischen Aspekt. Wenn Dichtung einen Selbstwiderspruch enthält (1mamt¸a k´cei aqt¹r art`), sei sie weder schön noch richtig (jak_r te ja· aqh_r), weil in ihr nicht richtig argumentiert wird. (Prt. 339b) Um das zu zeigen, wendet Protagoras die von den Sophisten geübte Technik des elenchos an. Dabei wird eine These widerlegt, wenn ein logischer Widerspruch in der Argumentation nachgewiesen werden kann. Sokrates durchschaut dieses elenktische Spiel und übernimmt die Verteidigung von Simonides gegen Protagoras, indem er seinerseits Protagoras widerlegt und zeigt, dass auch eine formale Widerlegung nicht von der Bedeu85 Zur Bedeutung der literarischen Bildung und ihrer gesellschaftlichen Funktion s. Prt. 347b f.; vgl. a. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 22 ff. und Heitsch, Platon und die Anfänge seines dialektischen Philosophierens, 79 f.
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Das philosophische Gespräch
tung der Worte und damit vom Sinn der Aussage abstrahieren kann. Sonst meint man einen Widerspruch zu konstatieren, der sachlich gar nicht besteht. (Prt. 340b f.) Man muss also die Worte richtig unterscheiden (aqh_r diaiqe?m, Prt. 340c), wenn man beurteilen will, was jemand gemeint hat (T¸ 5kecem … Silym¸dgr, Prt. 341c; û loi doje? diamoe?shai Silym¸dgr, Prt. 341e).86 Zur Demonstration zeigt Sokrates, wie der Sinn des ursprünglichen Satzes »Schwer (wakepºm) ist es, tugendhaft zu sein« verkehrt wird, wenn man die Bedeutung von wakepºm als »schwer« oder »schlimm« im Satzganzen außer Acht lässt. Dann wird daraus die kontraintuitive Aussage: »Schlimm ist es, tugendhaft zu sein.« (Prt. 341c) Dieses zweite Negativbeispiel sophistischer Rhetorik demonstriert, dass das dialegesthai, die philosophische Prüfung von Meinungen, die Sokrates intendiert, noch anderer Kriterien bedarf, als nur rein formal der Frage-AntwortForm und der logischen Widerspruchsfreiheit zu genügen. Eine sophistische Argumentationskunst, die von der Aussageabsicht und damit dem Sachgehalt abstrahiert, ist ungeeignet, die Wahrheit einer Behauptung zu prüfen. Sie kann zwar argumentativ schwächere Partner außer Gefecht setzen, zumal wenn diese sich, wie es bei überlieferten Texten der Fall ist, nicht mehr selbst verteidigen können. Aber in den Augen von Sokrates ist das nur Spielerei (pa¸fei, Prt. 341d). Deswegen muss sich der dialogische elenchos (1k´cweshai, 5kecwor, Prt. 331c-e, 344b, 347e) an der zur Diskussion stehenden Sache und nicht nur an den Begriffen orientieren. Hierzu ist es sinnvoll, sich eine fremde These zunächst zu Eigen zu machen, um sie so gut wie möglich zu verteidigen, bevor man sie kritisiert. Erst dann ist eine Prüfung der Wahrheit von Aussagen möglich. Das ist der Anspruch eines philosophischen elenchos, wie Sokrates ihn versteht.
d
86 Es handelt sich bei der Argumentation von Protagoras zwar um einen elenchos, also um die Widerlegung einer These durch logischen Widerspruch. Aber dieser elenchos hat nicht das gleiche Ziel wie der sokratische. Vielmehr wendet Protagoras die für ihn spezifische Antilogik an. Die antilogischen Logoi gehen von der Annahme aus, dass von jeder Sache entgegengesetzte Auffassungen stark gemacht werden können, dass also sowohl A als auch A behauptet werden kann, wenn auch nicht gleichzeitig. (Zur Diskussion der relativistischen und/oder subjektivistischen Auffassung der Antilogik vgl. Graeser, Philosophie der Antike 2, 24 f.) Die Antilogik akzeptiert gegensätzliche Meinungen, rechtfertigt aber nicht die innere Widersprüchlichkeit einer Behauptung, also keine Aussage der Form A A. Mit der Forderung nach Widerspruchsfreiheit intendiert Protagoras also nicht, dass die Aussage wahr und der behauptete Sachverhalt der Fall ist. Das stünde im Gegensatz zur relativistischen Haltung des Homo-mensura-Satzes und dem Prinzip der Antilogik. Die Wahrheit assertorischer Sätze ist für ihn kein Beweisziel. Damit vertritt er eine ähnliche Auffassung wie Gorgias, der betont, dass die Übereinstimmung mit der Wahrheit kein Kriterium für eine philosophische Rede ist, sondern nur ihre Wirkung auf die doxa. (Vgl. S. 35) Sokrates hingegen wird für den philosophischen Logos und das logon dounai nachdrücklich die Orientierung an der Wahrheit referentieller Ausdrücke einfordern. (Prt. 348a) d
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
2.3.
61
Kritik der Spruchweisheit
Nachdem das sokratische Gespräch nach zwei Richtungen abgegrenzt wurde, gegen die Makrologie der Schaureden einerseits und gegen eine falsch verstandene Brachylogie des sophistischen elenchos andererseits, wendet sich Sokrates wieder der Frage zu, wie man in rechter Weise über die bürgerliche Tüchtigkeit, die arete, spricht. Dazu beruft er sich auf eine angeblich alt-ehrwürdige Tradition und stellt eine provozierende These auf: Die Philosophie ist nämlich in Kreta und Sparta am ältesten und auch am weitesten unter allen Hellenen verbreitet, auch gibt es dortzulande die meisten Sophisten. (vikosov¸a c²q 1stim pakaiot²tg te ja· pke¸stg t_m :kk¶mym 1m Jq¶t, te ja· 1m Kajeda¸lomi, ja· sovista· pke?stoi c/r 1je? eQsim7 Prt. 342a f., Üb. B.S.)87
Um diese Behauptung zu stützen, die natürlich dem Selbstverständnis und Stolz Athens fundamental widerspricht, erzählt er eine abenteuerliche Geschichte. Danach verleugnen sich in Sparta die klugen Männer und stellen sich unwissend, damit nicht bekannt wird, dass sie die übrigen Griechen an Wissen (sov¸ô, Prt. 342b) weit überragen.88 Nicht genug damit, sondern die Spartaner vertreiben sogar die Fremden, wenn sie sich in Ruhe und unbemerkt von anderen mit ihren Sophisten unterreden wollen. (Prt. 342c) Nach außen hat es darum den Anschein, als ob ihre Stärke auf der kämpferischen Überlegenheit und ihrer Tapferkeit beruhte, aber in Wahrheit hat das andere Gründe, denn: Die Spartaner sind zur Philosophie und zum Reden am besten ausgebildet. (Kajedailºmioi pq¹r vikovsov¸am ja· kºcour %qista pepa¸deumtai, Prt. 342d, Üb. B.S.)
Das gilt gleicherweise für Männer wie Frauen.89 Die Spartaner tun nur so, als wären sie ungeschickte Redner, während sie doch wie ein gewaltiger Speer87 Sovist¶r ist hier kein technischer Begriff im Sinn der sophistischen Bewegung, sondern meint, wie für den älteren Sprachgebrauch auch sonst belegt, einen klugen, sachverständigen oder weisen Mann, der sich durch seine sophia auszeichnet. (Hdt. I 29,1; IV 95,2; DL I 12) Das Wort hat hier keinen abwertenden Klang. Professionelle Sophisten wie Protagoras, Prodikos und Hippias, die als Experten in Sachen Bildung ihre Dienste gegen Geld anboten, waren in Sparta dagegen nicht gern gesehen. Zur Bezeichnung »Sophist« vgl. Manuwald, Protagoras, 311 f., u. Eucken, Isokrates, 6 f.; Kerferd, The Sophists, 244 – 271. 88 Protagoras hatte versucht, der Sophistik einen ehrwürdigen Anstrich zu geben, indem er die Dichtung von Homer und Hesiod, aber auch von Simonides als verkappte sovistijµ t´wmg darstellte, zu der sich die Alten aus Furcht vor Anfeindungen nur nicht offen bekannten. (Prt. 316d) Diese Berufung auf die »Kryptosophisten« parodiert Sokrates mit der Berufung auf die »Kryptophilosophen« in Sparta. Zum Stolz der Athener auf die Philosophie vgl. Th. Hist. II 40,1 u. S. 28; zur Erfindung der Philosophie durch die Athener Isoc. IV 47, 1 – 3 (Vikosov¸am to¸mum, D p²mta taOta sumeneOqe ja· sucjatasje¼asem ja· pqºr te t±r pq²neir Bl÷r 1pa¸deusem), u. Prt. 337d, wo Athen Hauptsitz griechischer Weisheit genannt wird. 89 Für Sparta sind in der Tat Fremdenvertreibungen bekannt, die allerdings dem Schutz vor Überfremdung dienen sollten. Desgleichen wird auch berichtet, dass den Frauen in Sparta
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Das philosophische Gespräch
schütze ihr Gegenüber plötzlich mit einem bemerkenswerten, kurzen und zusammengedrängten Spruch abschießen (!m´bakem N/la %niom kºcou bqaw» ja· sumestqall´mom ¦speq deim¹r !jomtist¶r, Prt. 342e). Angelblich täuschen sie ihre Gegner bewusst, so dass diese glauben, die Tüchtigkeit und Größe Spartas beruhe auf Äußerlichkeiten wie neuen Sportarten und körperlicher Abhärtung, während der eigentliche Grund ihre Bildung und Philosophie ist. Mit dieser Geschichte postuliert Sokrates in der ihm eigenen Ironie eine Art psychologischer Kriegsführung Spartas, die leicht als Kritik an der neumodischen Lakonomanie durchschaut werden kann.90 Aber nicht alle fallen auf dieses Verwirrspiel herein: Dennoch haben das sowohl einige von den Zeitgenossen, als auch von den Alten durchschaut: dass die Begeisterung für Sparta weit mehr im Philosophieren besteht, als darin, gern Sport zu treiben. (toOto owm aqt¹ ja· t_m mOm eQs·m oT jatamemo¶jasi ja· t_m p²kai, fti t¹ kajym¸feim pok» l÷kkºm 1stim vikosove?m C vikoculmaste?m, Prt. 342e, Üb. B.S.)
Sokrates beruft sich dafür auf sieben Männer, die unter den Vorfahren für ihre Klugheit berühmt waren und hernach als die »Sieben Weisen« sprichwörtlich geworden sind.91 Zu ihnen zählen auch Solon, dessen Bildungsinteresse berühmt war,92 und Pittakos, dessen Verse gerade Gegenstand der Literarkritik von Protagoras waren. Sie alle seien Bewunderer und Schüler Spartas, weil sie ihre Weisheit so kurz und knapp in Worte zu fassen vermochten, dass jeder sie begreifen konnte: Weil dies die Art der Alten auf dem Gebiet der Philosophie war, ein lakonisch kurzer Spruch. (fti oxtor b tqºpor Gm t_m pakai_m t/r vikosov¸ar, bqawukoc¸a tir Kajomij¶7 Prt. 343b, Üb. B.S.)
Sokrates spielt hier auf kurze Merksprüche an wie das delphische »Erkenne dich selbst« oder »Nichts zuviel«, in denen die Weisheit der Alten überliefert wurde, Beschäftigungen gestattet waren, die in Athen Männern vorbehalten blieben, indem sie Sport trieben oder politisch Einfluss nahmen. (Vgl. Manuwald, Protagoras, 333 f.) Sokrates spielt auf diese Tatbestände an und parodiert sie zugleich geschickt. 90 Aristophanes hatte bereits 414 v. Chr. in den Vögeln die Spartabegeisterung als verrückte Mode, als Lakonomanie verspottet (1kajymol²moum ûpamter %mhqypoi) und die vermeintliche Abhärtung und Vernachlässigung des Äußeren als unzivilisiert beschrieben. (Ar. Av. 1281 – 3) Die Spartabegeisterung wurde auch im Umfeld von Sokrates geteilt, wobei Alkibiades als Anführer der jungen, spartafreundlichen Elite Athens gilt. (Vgl. Bourriot, Kalos Kagathos – kalokagathia, 213 – 225. Zu den sportlichen Imitationen s. Dem. 54,34 u. Plu.Alc.23, vgl. Manuwald, Protagoras, 332 f.) 91 Nur Chilon kommt aus Sparta. Die Zusammenstellung der Sieben Weisen findet sich an dieser Stelle zum ersten Mal. Spätere Aufzählungen der sophoi können variieren, sowohl in den Namen, als auch in der Anzahl. Bei Aristoteles Fr. 5 werden die Sieben Weisen gleichfalls Sophisten genannt. (Vgl. DL I 41 f. u. Manuwald, Protagoras, 335 – 337; Guthrie, A History of Greek Philosophy III, 29 f.) 92 Vgl. Hdt. I 30,2; X. Smp. 8,39 u. S. 29.
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
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und stellt sie der sophistischen Makrologie entgegen. Die komödiantischen Züge dieser Erzählung über die Kunst »spartanischer Rede«, das ist das kurze, treffsichere Wort, konterkarieren den Anspruch der Sophisten, dass die philosophische Bildung in der Redegewandtheit besteht.93 Gegen die weitschweifigen Vorträge, durch die hinterher keiner mehr durchsteigt, steht das Bild des verbalen Speerwerfers, der sich lieber im Verborgenen unterredet als die öffentliche Schau zu suchen und dessen kurze Merksprüche die zur Diskussion stehende Sache ins Visier nehmen und zielsicher treffen. Diese einprägsamen Sprüche sind selbst für den »vergesslichen« Sokrates erinnerbar und wegen ihrer Weisheit auch erinnerungswürdig (!niolmglºmeuta, Prt. 343a).94 Das macht ihren philosophischen »Mehrwert« gegenüber der Makrologie aus. In dieser Hinsicht sollen auch die Athener vom Rivalen Sparta lernen. Das ist die Botschaft der Episode über die angeblich herausragenden philosophischen Leistungen der Spartaner. Aber redet Sokrates hier allen Ernstes der Spruchweisheit das Wort? Dem widerspricht die Beharrlichkeit, mit der er ansonsten auf dem Dialog insistiert. Man darf nicht übersehen, dass die Frage nach der Form der philosophischen Rede eine Klammer um dieses komödiantische Zwischenstück bildet. Sie wurde eröffnet durch den Dissens über die angemessene Art (tqºpor), ein Thema zu besprechen: in Volksreden (dglgcoqe?m) oder im gemeinsamen Gespräch (diak´ceshai). (Prt. 336b) Die Klammer wird geschlossen durch das Resümee von Sokrates, dass die Spruchweisheit die Weise (tqºpor) war, wie »die Alten« Philosophie trieben. (Prt. 343 b) Allerdings gesteht er auch einigen Zeitgenossen zu (t_m mOm, Prt. 342e), dass sie der spartanischen Kunst der Rede nacheifern, sich also kurz und treffend ausdrücken. Sokrates sieht darum das dialogische Gespräch im Erbe der Spruchweisheit. Dabei ist es ihr noch überlegen, weil die alten Weisheitssprüche ebenso wenig gegen willkürliche Interpretationen geschützt sind wie die Dichtung. Dieses Problem zeigte sich an der Demontage des Pittakos-Spruches durch Protagoras. Wer es darauf anlegt, kann das Gegenteil von dem herauslesen, was ursprünglich gemeint war. Wie schon zuvor bei den Schaureden trifft auch die Dichtung und die Spruchweisheit der Vorwurf der Stummheit. (Prt. 329a, 347e f.) Die Dichter und Weisen können nicht mehr sagen, was sie mit ihren Texten und Sprüchen gemeint haben. Sie schweigen, 93 Zur Wortkargheit der Spartaner vgl. Th. Hist. IV 17,2. Das Perikles zugeschriebene Lob der Athener VikojakoOl´m te c±q let’ eqteke¸ar ja· vikosovoOlem %meu lakaj¸ar (Th. Hist. II 40,1; s. S. 63) bringt indirekt zum Ausdruck, dass philosophische Betätigungen im Verdacht der Verweichlichung standen und auf Kosten anderer Tugenden wie der Tapferkeit gehen. Für eine kriegerische polis wie Sparta war das schwer denkbar. 94 Hadot weist darauf hin, dass das Memorieren von kurzen Weisheitssprüchen und Lebensmaximen zur Übungspraxis philosophischer Schulen der Antike gehörte. (Vgl. P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 21 f., 56 f.)
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Das philosophische Gespräch
wenn es um die Rechtfertigung ihrer Einsichten geht. Die Weisheit und Wahrheit will aber nicht nur erkannt, sondern auch begründet und verteidigt sein. Darum ist das dialogische Gespräch für Sokrates die einzig zeitgemäße Art, Philosophie zu treiben.
2.4.
Die Wahrheit und sich selbst prüfen
Konsequent fordert Sokrates, das selbstgefällige Spiel mit den Meinungen anderer aufzugeben. Es seien nämlich die ungebildeten Leute, die bei ihren Gastmählern »fremde Stimmen« zu ihrer Unterhaltung anmieten, also Rhapsoden, Flötenspielerinnen und andere Unterhalter, und dafür viel Geld ausgeben. Der Grund liegt in ihrer Unfähigkeit, sich miteinander aus sich selbst heraus und durch eigene Reden zu unterhalten (di± t¹ lµ d¼mashai !kk¶koir di’ 2aut_m sume?mai …. lgd³ di± … t_m kºcym t_m 2aut_m rp¹ !paideus¸ar). Dagegen verzichten die Edlen und Guten und Gebildeten (jako· j!caho· … ja· pepaideul´moi) auf solche Spielereien. Sie sind sich selbst mit ihren eigenen Stimmen genug zur Unterhaltung.95 (Prt. 347c f.) Sokrates hält den hier Anwesenden vor, dass sie sich zwar zur gebildeten Oberschicht zählen, zu den kaloi kagathoi,96 dass es aber keineswegs von Bildung zeugt, wenn sie sich intellektuell nur bedienen lassen. Diese Polemik richtet sich auch gegen den Unernst einer gedankenlosen Unterhaltungspraxis, zu der die Sophisten ihren Teil beitragen. Denn die Schaureden, die im Haus von Kallias vorgetragen wurden und deren Theatralik Sokrates eingangs karikiert hatte, haben für den Hausherrn Kallias eine ähnliche Funktion wie die Unterhaltung durch bezahlte Rhapsoden und Schaustellerinnen. Darauf bezog sich Sokrates, als er über die »Liebe zum Wissen« von Kallias spottete. (Prt. 335d) Dessen Begeisterung für die Philosophie erschöpft sich darin, dass er bereit ist, viel Geld für den Besuch der Sophisten auszugeben. Sokrates vergleicht also Protagoras, Hippias und Prodikos mit den Unterhaltungskünstlern der Reichen. Das ist wenig schmeichelhaft. Stattdessen fordert Sokrates, sich ernsthaft zu unterhalten, und das meint, in der Besinnung auf sich selbst: Man soll der eigenen Meinung eine Stimme geben, sie einer Prüfung unterziehen und zur Diskussion stellen. Es geht Sokrates darum, dass wir »aus uns selbst miteinander reden, um die Wahrheit und uns selbst zu erforschen« (di’ Bl_m aqt_m pq¹r !kk¶kour to»r kºcour poie?shai, t/r 95 Ganz ähnlich werden die Reden im Symposion motiviert, nachdem man auch dort die Flötenspielerinnen, also die »fremden Stimmen«, hinausgeschickt hat, um sich untereinander mit Reden zu unterhalten (Bl÷r d³ di± kºcym !kk¶koir sume?mai, Smp. 176e). 96 Zum polemischen Charakter des Neologismus kalos kagathos bei Platon siehe Anm. 178.
Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen
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!kghe¸ar ja· Bl_m aqt_m pe?qam kalb²momtar, Prt. 348a, Üb. Schl.). Diesem Grundsatz muss jede philosophische Rede unterstellt sein. Sie soll der Wahrheitsfindung dienen. Die Wahrheit der Rede bedarf aber einer Person, die sie verantwortet, sie prüft und verteidigt und sich immer wieder der Sache vergewissert, von der die Rede ist. Die Wahrheitsfrage rückt damit ins Zentrum eines neuen Philosophieverständnisses und mit ihr der Blick auf die eigene Person. Schauten die Sophisten nach außen, auf die Wirkung ihrer Worte auf die Zuhörer, und diese wiederum auf den Überredungs- oder Unterhaltungswert der Vorträge, so wird jetzt der Blick nach innen gewendet. Wahrheitsfrage und Selbstprüfung gehören für Sokrates zusammen. Nicht weil es für jeden eine subjektive Wahrheit gäbe und der Mensch, wie Protagoras meint, das Maß der Dinge und damit auch der Rede sei, sondern weil die Wahrheit qua Wahrheit jeden verpflichtet. Zur Wahrheit kann man nach Sokrates kein neutrales, distanziertes Verhältnis haben. Denn nach der Wahrheit einer Sache zu fragen, bedeutet zugleich, nach der Wahrheit der eigenen Meinung in dieser Sache zu fragen. Das ist die Grundlage der Gesprächsführung, die Sokrates im Sinn hat, wenn er fordert, die Wahrheit und sich selbst zu prüfen. Die Wahrheitsfrage wird zum Maßstab philosophischer Rede. Von ihr leiten sich auch die Bedeutung der Redeform und die Notwendigkeit der Rechenschaft ab, die Sokrates unbeirrt eingefordert hatte. Denn eine Unterredung in kurzen Fragen und Antworten und die Begründung von Thesen haben für sich genommen keinen Wert, sondern nur einen abgeleiteten. Sie stehen im Dienst der Wahrheitsfindung. Mit der Wendung »Die Wahrheit und sich selbst prüfen« formuliert Sokrates einen doppelten Wahrheitsbegriff: erstens im ontologischen Sinne dessen, was der Fall ist, nämlich was eine Sache in Wirklichkeit und ihrem Wesen nach ist – diese Wahrheit hat intersubjektiven Charakter ; und zweitens eine Aussagenund Urteilswahrheit, die von einem Subjekt verantwortet werden muss. Gegen Protagoras besteht Sokrates darauf, dass das eine – die Wahrheit der Sache – nicht ohne das andere – die Wahrheit der Meinung – zu gewinnen ist.97 97 Zum Verständnis der Formel »Die Wahrheit und sich selbst prüfen« (t/r !kghe¸ar ja· Bl_m aqt_m pe?qam kalb²momtar, Prt. 348a) in dem doppelten Sinn der ontologischen und der Urteilswahrheit vgl. die Arbeit von Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, 39 – 42, 58 – 62. Wie Szaif zeigt, bezieht Platon die Ebene des Sagens/ Meinens, des Untersuchens/ Prüfens im Sinn eines unhinterfragten Wahrheitsrealismus auf die Ebene des wirklich Seienden. Wahr ist eine Aussage genau dann, wenn sie Wahres aussagt, weil sie das Seiende trifft. Im Deutschen können wir darum den Ausdruck t/r !kghe¸ar … pe?qam kalb²meim kurz mit »die Wahrheit prüfen« übersetzen, wobei »Wahrheit« für das Sein der geprüften Sache steht, also für das, was in Wahrheit/Wirklichkeit der Fall ist. Unsere umgangssprachliche Metapher »die Sache treffen« drückt das ebenso aus wie das Bild vom treffsicheren spartanischen Speerwerfer in Prt. 342e. Dieses ontologische Verständnis der Wahrheit verbindet sich mit der Urteilswahrheit. Denn es bezeichnet die Wahrheit einer Sache, ihre oqs¸a im veritativen
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Das philosophische Gespräch
Das dialegesthai, das fragende, sich selbst prüfende Gespräch, bei dem die zu untersuchende Sache immer neu in den Blick genommen wird, ist darum für Sokrates die einzig angemessene Form der Philosophie. Es steht in der Tradition der kurzen und prägnanten Spruchweisheit, die sich großer Reden enthält. Und es trägt zugleich durch den Dialogcharakter der neuen, aufgeklärten Zeit Rechnung, die jede Aussage dem kritisch prüfenden Urteil der Vernunft unterstellt. Damit leitet Platon im Protagoras eine erste Adaptation des Philosophiebegriffs ein, indem er ihn einer grundlegenden Kritik unterzieht und gegen den sophistischen wie auch den lebensweisheitlichen Kontext abgrenzt. »Die Wahrheit und sich selbst prüfen« kennzeichnet den neuen Gehalt dieser Adaptation, der zugleich eine Interpretation der delphischen Spruchweisheit »Erkenne dich selbst!« ist.98 Das philosophische Gespräch, das dazu dient, die Wahrheit und sich selbst zu prüfen, steht also sowohl hinsichtlich der äußeren Form, der Brachylogie, wie auch inhaltlich mit der Forderung nach Selbsterkenntnis in der Tradition der »Philosophie der Alten« (Prt. 343b) – jedoch mit dem Anspruch, sie zu modifizieren und zu erneuern.
3.
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
Im Euthydemos werden wir wieder Zeugen der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten. Diesmal wird die Bühne jedoch nicht von den Berühmtheiten der ersten Sophisten-Generation beherrscht, sondern von »neuen Sophisten«, (Euthd. 271b) Vertretern der zweiten Generation, deren Niveau deutlich unter dem ihrer Vorgänger liegt. Sie führen die von Sokrates im Protagoras geforderte Unterredung in kurzen Fragen und Antworten, die Brachylogie, ad absurdum, indem sie nur Ja/Nein Antworten zulassen und damit semantische und syntaktische Bezüge der Sprache zerstören.99 Auf diese Weise öffnen sie einer Sinn, in Abgrenzung zur Täuschung über den Sachverhalt. Die Wahrheit der Sache zu prüfen beinhaltet darum auch eine Selbstprüfung, dafür steht der Ausdruck Bl_m aqt_m pe?qam kalb²momtar. Die Logoi sind sowohl Mittel der Prüfung als auch ihr Gegenstand. Wer Thesen und Argumente prüft, prüft also immer auch die Personen in ihrem Urteil. »Denn in erster Linie will ich die These prüfen (t¹m … kºcom … 1net²fy), jedoch geschieht es dabei sicherlich, dass sowohl ich, der Fragende, als auch der Antwortende geprüft werden.« (Prt. 333c, Üb. B.S.) Die Prüfung der Wahrheit bezieht sich darum notwendig auch auf die Personen, sofern sie Sprecher von Sätzen sind, deren propositionaler Gehalt geprüft werden soll. »T/r !kghe¸ar ja· Bl_m aqt_m pe?qam kalb²momtar« ist eine Formel dafür, dass die ontologische Wahrheit der Sache nur zusammen mit der urteilenden Person einer Prüfung unterzogen werden kann. 98 Zur sokratischen Deutung des delphischen Spruchs auf die Philosophie vgl. a. X. Mem. IV 2, 23 f. u. S. 34 f. 99 Vgl. den Spott von Sokrates über Gorgias, der nicht nur in der Makrologie alle übertrifft,
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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willkürlichen Manipulation der Rede Tor und Tür und diskreditieren das prüfende Gespräch, den elenchos. Sie nutzen bewusst sprachliche Mehrdeutigkeiten aus, statt auf die Intension der Worte zu achten, oder argumentieren mit logischen Scheinschlüssen, indem sie die Worte aus ihrem syntaktischen Zusammenhang lösen. Es ist ihr offensichtliches und ausschließliches Ziel, durch sprachliche Taschenspielertricks den Sieg im Diskurs davon zu tragen, (Euthd. 277e, 278b) ungeachtet dessen, was ihr Gesprächspartner sagen will und sachlich für wahr hält. (Euthd. 272a f.) Die gemeinsame Wahrheitssuche im Sinne der Selbstprüfung wie im Protagoras hat für sie keinerlei Relevanz. Sie bestreiten die Möglichkeit von Lüge und Irrtum mit dem Argument, dass im Sprechen das Sein der ausgesagten Sache bereits konstituiert sei. Ihr Metier ist das Streitgespräch, die Eristik, die den agonalen Grundcharakter sophistischer Reden auf die Spitze treibt. Das Recht-Behalten-Wollen wird zum Selbstzweck.100 Einleitung und Ausleitung eines Dialogs sind bei Platon oft Schlüsselszenen. Zum Ende des Euthydemos betritt ein namenloser Beobachter die Bühne und kritisiert, dass sich Sokrates überhaupt auf diese Streitgespräche einlässt. Auch der Leser, der sich durch die sprachlichen Spitzfindigkeiten und Absurditäten des Dialogs durcharbeitet, möchte von Platon gern wissen, was Hintergrund und Sinn des eristischen Theaters ist. Nun spricht vieles dafür, dass Platon mit diesem Werk auf einen zeitgenössischen Konkurrenten antwortet, der hinter der Maske des Unbekannten steckt.101 Offensichtlich war dieser nicht willens oder sondern auch in der Brachylogie, indem er nur mit Ja oder Nein antwortet. (Grg. 449c-d) Im Euthydemos ist es nun Sokrates, der zum Ärger der Sophisten länger als gefordert spricht, weil ihm der Sinn der Frage zu unklar formuliert ist und die Antworten Mehrdeutigkeiten im Sachbezug zulassen, so dass man nur scheinbar von derselben Sache, in Wirklichkeit aber von verschiedenen Dingen redet. (Euthd. 295a – 296c) 100 Zum Kampfmotiv bei fehlendem Wahrheitsbezug eristischer elenchoi: »…1m to?r kºcoir l²wesha¸ te ja· 1nek´cweim t¹ !e· kecºlemom, blo¸yr 1²m te xeOdor 1²m te !keh³r ×.« (Euthd. 272a f.; s.a. 275e) Dagegen ist für den sokratischen elenchos der Sieg im Diskurs kein Selbstzweck, sondern dient der Wahrheitsfindung. Sokrates möchte deshalb eher widerlegt werden als andere widerlegen, s. Euthd. 303d, 304d. Mit dem sophisma der Unmöglichkeit von Lüge und Irrtum setzt sich Platon noch im Sophistes auseinander, vgl. Sph. 236e und S. 329. Aristoteles setzt sich mit dem eristischen Agon in den Sophistischen Widerlegungen auseinander. Für ihn sind agonistische und eristische Reden ein und dasselbe, weil sie nur scheinbare Syllogismen durchfechten. (Arist. SE 165b 8 u.11) Ähnlich Kerferd (ders., The Sophists, 246) und Stemmer in ihrer Unterscheidung von sokratischem und eristischem elenchos: »Denn die Täuschung, die einen eristischen Scheinelenchos ausmacht, besteht nicht darin, dass einer der Diskutanten etwas sagt, was er nicht für wahr hält. Sie besteht vielmehr darin, dass der Fragende versucht, trotz konsistenter Antworten den Schein eines Widerspruchs zu erwecken, oder der Antwortende versucht, trotz widersprechender Antworten den Schein der Konsistenz zu erwecken.« (Stemmer, Platons Dialektik, 106) 101 Auch wenn die Identität dieses Mannes nicht zweifelsfrei zu beweisen ist, hat Platon die Maske soweit angehoben, dass dahinter Züge erkennbar sind, die an Isokrates denken lassen. Dieser hatte noch vor Platon um 390 v. Chr. in Athen eine Schule gegründet, um durch ein neues pädagogisches Konzept der Jugend eine Perspektive für den politischen
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Das philosophische Gespräch
nicht in der Lage, zwischen den Streitgesprächen der Eristiker und dem philosophischen Dialog, wie Sokrates ihn führte, zu unterscheiden. Für ihn gehören Sokratiker und Eristiker ins gleiche Lager. Dieser Vorwurf dürfte ein starkes Motiv für Platon sein, die Auseinandersetzung mit den Eristikern zu führen und dadurch auch den Kritiker hinter der Maske des Unbekannten zu widerlegen. Die Frage lautet also: Ist Sokrates – und sind die Sokratiker – Eristiker? Ist ihre Art der Gesprächsführung verantwortungslose Wortklauberei oder ernsthafte Philosophie? Um diese Frage zu klären, muss zuvor beantwortet werden, was überhaupt unter Philosophie zu verstehen ist. Zum ersten Mal begegnen wir darum einer expliziten Definition der Philosophie im platonischen Werk.
3.1.
Die Ermunterung zur Philosophie und der Eifer um die Tugend
Der Dialog spielt im Lykeion, einem Gymnasium, in dem sich Sokrates des Öfteren aufhielt. Dort trifft er auf den ihm gut bekannten Kleinias, einen Jugendlichen aus bestem Haus und Vetter von Alkibiades, sowie dessen etwas älteren Begleiter Ktesippos. Als die Brüder Euthydemos und Dionysodoros, zwei schon betagte Sophisten, bemerken, dass die jungen Leute das Gespräch mit Sokrates suchen, drängen sie sich der Gruppe auf. Sokrates preist die beiden daraufhin als große Kämpfer im Krieg wie vor Gericht. Die hintergründige Botschaft lautet jedoch, dass der Streit ihr Metier ist. Die Brüder korrigieren Sokrates und behaupten, dass sie neuerdings der Jugend als Lehrer der Tüchtigkeit und Tugend, der arete, dienen. (Euthd. 273d) Er preist sie daraufhin überschwänglich als Götter und glückselig, weil sie über ein Wissen verfügen (1pist¶lgm 5wetom), das die Göttern auszeichnet. (Euthd. 273e f.) Der unverhohlene Spott von Sokrates gilt der Selbstanmaßung dieser Tugendlehrer, denn er bezweifelt, dass Tugend lehrbar ist. Die beiden wollen daraufhin den Beweis antreten und zeigen, dass sie imstande sind, jeden zu einem guten und tüchtigen Mann zu machen (!cah¹m poi/sai %mdqa, Euthd. 274e). Die Demonstration dieses sophistischen Kunststücks bestimmt den Inhalt des folgenden Gesprächs: Ihr also,…, verständet unter den jetzt lebenden Menschen am besten, zur Philosophie und zum Eifer um die Tugend zu ermuntern? (zle?r %qa, …, t_m mOm !mhq¾pym j²kkist’ #m pqotq´xaite eQr vikosov¸am ja· !qet/r 1pil´keiam; Euthd. 275a, Üb. nach Schl.)
Wiederaufbau Athens zu geben. Das Verständnis von Philosophie und einer praxisorientierten politisch-rhetorischen Schulung steht im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Platon und Isokrates. Zur Kritik des Unbekannten und Hinweisen auf Isokrates siehe S. 77 ff., 80 und Phdr. 279a f. sowie S. 275.
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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Weil sie das vollmundig bejahen, fordert Sokrates sie auf, an Kleinias eine Probe ihres Könnens zu geben. Denn es sei wichtig, dass er so tüchtig wie möglich werde (¢r b´ktistom aqt¹m cem´shai, ebd.). Deswegen bittet Sokrates eindringlich: Überzeugt uns diesen Jüngling, dass man philosophieren und sich eifrig um die Tugend kümmern muss. (toutom· t¹m meam¸sjom pe¸satom ¡r wqµ vikosove?m ja· !qet/r 1pileke?shai, Euthd. 275 a, Üb. nach Schl.)
Es fällt auf, dass Sokrates beide Mal Philosophie und Eifer um die Tugend in einem Atemzug nennt. Sie sind in gewisser Weise austauschbar. Denn das Wissen, die sophia, ist nicht nur Teil der arete, sondern die Sorge und der Eifer um die Tugend vollzieht sich gerade im Streben nach Wissen. Beides ist für ihn untrennbar verbunden.102 Sokrates und die Brüder einigen sich schnell darauf, dass die Ermunterung zur Philosophie am besten im Gespräch (diak´ceshai) geschieht. Ein Wechsel von Frage und Antwort (1qyt÷m, !pojq¸meshai) erscheint allen als didaktisch bester Weg. (Euthd. 275b f.) Doch die Einmütigkeit trügt, wie sich bald zeigt. Denn die Brüder verstehen unter der arete, die sie beherrschen und lehren, die Technik der Streitrede. Waren sie früher nur selbst groß im Streiten, wie Sokrates eingangs hervorhob, so steht ihr Selbstzeugnis als Lehrer der arete nicht für einen Sinneswandel. Sie beanspruchen jetzt lediglich, anderen beizubringen, was sie selbst praktisch beherrschen. Dazu demonstrieren sie im Frage-Antwort-Dialog ihre eristischen Tricks, so dass die Schüler sie allmählich übernehmen und anwenden können. Diese Fähigkeit im Streiten »übergeben« oder »vermitteln« sie an ihre Nachahmer (paqadoOmai, Euthd. 273d).103 Für Sokrates ist die arete jedoch keine Technik des Streitens, sondern der gute Zustand der Seele, den man nicht wie einen Gegenstand einem anderen Menschen übergeben oder von ihm empfangen kann. Die Wendung auf die eigene Person und Selbsterkenntnis sind dafür unabdingbar. Man kann jemanden lediglich im Gespräch dazu ermuntern. Sokrates will seine Gesprächspartner zur Philoso102 Statt »Eifer oder Sorge um die Tugend« (!qet/r 1pil´keia) spricht Platon in anderen Dialogen auch von »Sorge um die Seele« (1pil´keia t/r xuw/r). (Chrm. 156e; Ap. 30b; Phd. 107c; Ep. VII 331b; Alk. I, 132c) Da die Tugend die der Seele eigentümlich gute und beste Verfasstheit ist, können beide Ausdrücke synonym gebraucht werden. Der Eifer um die Tugend vollzieht sich wie die Sorge um die Seele nach sokratischem Verständnis im Philosophieren, weil das Wissen des Guten das Tun des Guten zwangsläufig nach sich zieht. Vgl. S. 124 ff. 103 PaqadoOmai ist ein terminus technicus aus dem sophistischen Milieu und drückt das Selbstverständnis des sophistischen Lehrers aus, der sein Wissen den Schülern wie einen Sachgegenstand »übergibt«; vgl. a. Euthd. 290c f., 291c, 292a,c,d, 304a. In Euthd. 285c parodiert Sokrates das materialistische Denken, das hinter dieser Art von Wissensübergabe steht.
70
Das philosophische Gespräch
phie hinwenden (pqotq´peim eQr vikosov¸am, Euthd. 275a) und versteht darunter die Sorge um die eigene Seele und den Eifer um ihre Tugend. Dieses sokratische »Hinwenden« der Seele steht im bewussten Gegensatz zum sophistischen »Übergeben« von technischen Fertigkeiten.104 Sokrates und die Sophisten sprechen zwar gleicherweise von der arete und Philosophie und sie wählen auch das gleiche Mittel, den Dialog, aber sie meinen und praktizieren etwas völlig Verschiedenes. Die beiden Sophisten sind also aufgefordert, mit Kleinias das Gespräch zu führen und ihn dadurch zur Philosophie zu ermuntern. Doch die Wortdreherei, die nunmehr folgt, ist so destruktiv und demotivierend, dass Sokrates sich schon bald genötigt sieht einzugreifen. Denn die beiden Streithähne brüsten sich damit, Fangfragen zu stellen (1qyt_lem %vujta [1qyt¶lata], Euthd. 276e), so dass sich der Antwortende stets in Widersprüche verwickelt und widerlegt wird (1nekech¶setai, Euthd. 275e). Die Folge dieser unwürdigen Wortspielerei (paid¸a, pqospa¸feim, Euthd. 277e – 278b) ist Verwirrung und Entmutigung des jungen Dialogpartners. Sokrates wiederholt darum seine Forderung, dass man den Jungen ermuntern müsse, sich eifrig um Wissen und Tugend zu bemühen (pqotq´pomte t¹ leiq²jiom fpyr wqµ sov¸ar te ja· !qet/r 1pilekgh/mai). (Euthd. 278d) Dazu bedarf es jedoch einer ernsthaften Prüfung und Widerlegung von Aussagen und nicht dem bloßen Sieg im Streit. Denn ein Gespräch soll ermutigen und nicht entmutigen.105
3.2.
Das Wissen um den richtigen Gebrauch der Güter
Um den beiden Streithähnen zu demonstrieren, wie ein ermutigendes Gespräch zu führen sei, zeigt Sokrates beispielhaft, was er sich unter einem protreptischen elenchos vorstellt. Dazu legt er eine unproblematische These zugrunde, von der er annehmen darf, dass sie allgemein akzeptiert wird: Alle Menschen wollen, dass es ihnen gut geht (ew pq²tteim, Euthd. 278e). Er ergänzt diese erste These durch eine zweite, nämlich dass es den Menschen gut geht, wenn sie viele Güter haben (pokk± j!cah², Euthd. 279a). Diese zweite These ist nun der eigentliche Gegenstand der Untersuchung. Wenn es gelingt, sie zu begründen, wäre geklärt, was die Menschen genau erstreben, wenn sie wollen, dass es ihnen gut geht. Sokrates zählt nun Beispiele dafür auf, was gemeinhin als Gut gilt: äußere Güter wie Reichtum, Gesundheit und Ehre; aber auch innere Güter wie die Tugenden 104 Das Protreptische, die Hinwendung zur Philosophie, bildet eine Klammer um den ganzen Dialog, von Euthd. 275a-307a. 105 Zur Redeweise als Spiegel der Lebensweise und zur philosophischen Rede als einer am Guten orientierten Form sittlichen Lebens im Gegensatz zur Beliebigkeit sophistischer Rhetorik vgl. Kobusch, Wie man leben soll: Gorgias, 47 – 63.
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der Seele: Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit – und nicht zu vergessen die sophia, das Wissen. (Euthd. 279a-c) Zu diesem Kanon ergänzt Sokrates noch die eutychia, was sowohl den glücklichen Zufall als auch das gute Gelingen, den Erfolg meint. Denn sie sei in den Augen der Leute das größte Gut (l´cistom t_m !cah_m). Doch sogleich schränkt er diese Aussage wieder ein, weil die eutychia, das Glück, mit der sophia, dem Wissen, identisch sei und deswegen nicht gesondert aufgeführt werden müsse. (Euthd. 279c f.) Sokrates beginnt seine Begründung also mit einer Auflistung der Einzelfälle, die unter den Begriff »Gut« fallen. Dabei darf natürlich nichts Wesentliches fehlen, besonders nicht das »größte Gut«. Es geht um eine Klärung der Extension des Begriffs. Gleichzeitig deutet er aber mit seinem irritierenden Hin und Her bezüglich der eutychia, dem Glück, eine Korrektur der opinio communis an. Diese unterscheidet nicht nur zwischen Glück und Wissen, sondern hält das Glück, sowohl im Sinne des Zufalls wie des Erfolgs, auch für das Wichtigere von beiden. Sokrates aber bereitet durch die Gleichsetzung von sophia und eutychia seine Gegenthese vor : Nicht der Zufall verhilft zum Glück und guten Gelingen, sondern allein das Wissen.106 Ohne sophia keine eutychia, und folglich, wie er oben schon sagte, (Euthd. 282c) auch keine Glückseligkeit, keine Eudaimonie! Die These, dass allein das Wissen bewirkt, dass die Menschen Glück und Erfolg haben, wird von Sokrates mit praktischen Beispielen aus dem handwerklichtechnischen Bereich belegt. (Euthd. 279d – 280a) Denn niemals würde jemand, der über entsprechendes Fachwissen verfügt, fehlgehen ("laqt²moi c’ %m), sondern mit Notwendigkeit richtig handeln und das Ziel treffen (!kk’ !m²cjg aqh_r pq²tteim ja· tucw²meim, Euthd. 280a). Die Treffsicherheit und damit der Erfolg gehören als Einheit von Wissen und Handeln zum Wesen der sophia und machen den glücklichen Zufall, die eutychia, überflüssig. Der nächste Schritt im Argument zeigt auf, dass es für das Glück und Wohlergehen der Menschen nicht hinreichend ist, viele Güter zu besitzen (jejt/shai). Vielmehr muss man sie auch nutzen (¡veko?) und Gebrauch davon machen (wq/shai). Und nicht nur das, sie müssen vor allem auch richtig gebraucht werden (aqh_r wq/shai), sonst werden sie zum Schaden gereichen (jajºm). Der bloße Besitz von Gütern gewährleistet also nicht das Wohlergehen der Menschen, sondern nur ihr richtiger und guter Gebrauch. Geschickt macht sich Sokrates hier die doppelte Bedeutung von ew pq²tteim zunutze, das sowohl »wohlergehen« als auch »gut handeln« meint, um zu sagen, dass es niemandem gut gehen kann, der nicht auch gut handelt. (Euthd. 280b-e) Die so genannten Güter sind also keineswegs, wie es der Wortsinn suggeriert, schon an und für 106 Ackeren weist zu Recht darauf hin, dass die konventionellen Güter nicht nur durch Wissen, sondern auch durch die eutychia im Sinne von Zufall beeinflusst werden. Wissen unterliegt dagegen nicht dem Zufall. (Ackeren, Das Wissen vom Guten, 47)
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Das philosophische Gespräch
sich und von Natur aus gut (aqt² ce jah’art± p´vujem !cah²), sondern wertindifferent (oute !cah¹m oute jajºm). (Euthd. 281d) Sie bekommen und erweisen ihre Güte erst durch ihren Nutzen in der Anwendung. Die entscheidende Frage lautet demnach nicht, »was« gut ist, sondern »wozu« es gut ist. (Euthd. 292d f.) Deswegen ist ein ziel- und anwendungsorientiertes Wissen notwendig, damit ein vermeintliches »Gut« auch wirklich gut und nützlich ist. Ausschließlich dieses Wissen gewährleistet, dass durch die praktische Anwendung (pq²nei) eines Gutes auch das glückliche Gelingen (eqtuw¸a) sowie gutes Handeln und Wohlergehen (eqpqac¸a) bewirkt werden. (Euthd. 281b) Herrscht dagegen der Unverstand (!lah¸a), verwandeln sich die gleichen Dinge in übermäßige Übel (le¸fy jaj²). Erst durch Einsicht und Sachverstand (vqºmgs¸r te ja· sov¸a) bekommen die Güter ihre herausragende Qualität (le¸fy !cah²). »An und für sich« aber sind sie nichts wert (aqt± jah’ art± oqd´teqa aqt_m oqdem¹r %nia eWmai). Das heißt nichts anderes, als dass die Klasse der Güter, durch welche Glückseligkeit und Wohlergehen für den Menschen gegeben sind, leer ist, mit einer einzigen Ausnahme: der sophia (B l³m sov¸a !cahºm).107 (Euthd. 281e) Jeder Mensch muss darum darauf bedacht sein, dass er so klug wie möglich werde (fpyr ¢r sov¾tator 5stai, Euthd. 282a; sov¹m cem´shai, Euthd. 282b). Um des Glücks und guten Gelingens willen (eqda¸loma ja· eqtuw/, Euthd. 282c), soll man sich also nach Kräften um die sophia bemühen, und das heißt philosophieren: Würdest du nicht behaupten, dass es notwendig ist zu philosophieren und selbst darauf bedacht sein, es zu tun? (%kko ti C va¸gr #m !macja?om eWmai vikosove?m ja· aqt¹r 1m m` 5weir aqt¹ poie?m; Euthd. 282d, Üb. B.S.)
Hiermit hat Sokrates das Ziel seiner protreptischen Demonstration erreicht und dem jungen Kleinias vor Augen geführt, wie unerlässlich das Bemühen um die Tugend ist. Denn die Tugend der Seele besteht in dem Wissen dessen, was für den Menschen gut und nützlich ist. Dieses Wissen muss jeder nach Kräften erstreben. Das ist die Bedeutung, die Sokrates dem Philosophieren gibt. Es gibt keinen anderen Weg zu einem gelingenden Leben und zur Glückseligkeit. Sokrates entwickelt hier eine Güterlehre, die der opinio communis völlig entgegensteht und sie korrigiert. Denn die sophia ist nicht mehr ein Gut unter vielen anderen, sondern das einzige, in sich werthafte, intrinsische Gut.108 Und Philosophie ist dementsprechend das einzig sinnvolle Streben. Alles andere ist wertindifferent mit einer ambivalenten Potentialität. Es hat lediglich funktionale Bedeutung, wenn es als Mittel für Zwecke dient, über deren Wert oder Unwert die 107 Hardy spricht deswegen zutreffend vom »eudaimonistischen Wissen«; Hardy, Jenseits der Täuschungen, 15. 108 Vgl. Ackeren, Das Wissen vom Guten, 46.
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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sophia entscheidet. Dazu aber bedarf sie einer Orientierung, die weit über das übliche Fachwissen hinausgeht. Es muss ein Wissen um das Wozu menschlichen Handelns sein, um das für den Menschen Gute.109 Der Begriff sophia bekommt damit die Bedeutung von Weisheit. Sokrates’ eindringliche Aufforderung zu philosophieren bedeutet also, sich dessen zu vergewissern, was dem Menschen Wohlergehen und Glückseligkeit gewährt. Daran gewinnt die sophia ihre kritische Unterscheidungsfähigkeit in der Bewertung geeigneter Mittel. Und erst dann wird die Anwendung des Fachwissens, das jemand besitzt, und der sekundären Güter, deren er dazu bedarf, auch gut und nützlich sein. Sokrates hat hier nicht nur eine allgemeine Güterlehre eingeführt, sondern mit seinem beispielhaften, protreptischen Dialog auch einen konkreten Anwendungsfall gegeben. Auch das Gespräch, das dialegesthai, gehört zu den wertindifferenten »Gütern«. Recht angewandt bewirkt es Gutes und ermuntert die Gesprächspartner, nach Wissen und Tugend zu streben und also zu philosophieren. Das ist das Anliegen von Sokrates. Schlecht angewandt verkehrt sich der Dialog aber in sein Gegenteil und entmutigt den Gesprächspartner. Das ist das erklärte Ziel der Eristiker. Doch schaden sie dadurch der Seele, statt ihr zur Tugend zu verhelfen. Hier verschränken sich Argumentationsebene und dramaturgische Ebene. Die Zuhörer im Dialog und die Leser sollen verstehen und erleben, was die protreptisch-philosophischen von den eristischen Gesprächen unterscheidet: nämlich ihr Verhältnis oder Missverhältnis zur sophia als einem Wissen um das, was gut ist, und damit ihre aufbauende oder zerstörerische Macht.
3.3.
Philosophie ist Erwerb und Gebrauch des Wissens um das Gute
Das sokratische Verständnis der sophia wird im Folgenden zur Grundlage einer ersten Philosophiedefinition. Doch zunächst vergewissert sich Sokrates der ausdrücklichen Zustimmung von Kleinias zu ihren bisherigen Ergebnissen. Denn anders als die beiden Eristiker will er seinen Gesprächspartner bei der Argumentation mitnehmen und nicht außer Gefecht setzen: Zuletzt waren wir uns darin einig, dass man philosophieren müsse, nicht wahr? – Ja, sagte er. – Die Philosophie aber ist der Erwerb von Wissen, ist das nicht so? sprach ich. – Ja.
109 Allein schon durch den sprachlichen Ausdruck, die auffällige Häufung der Vorsilbe »eq-« in eqdailom¸a, eqtuw¸a und eqpqac¸a, weist Platon die Richtung, in der er die sophia inhaltlich bestimmen will: als Wissen des Guten. Allerdings sagt er es nicht ausdrücklich, sondern führt die Untersuchung über den Gegenstand des Wissens in die Aporie und überlässt dem Leser, aus den zahlreichen Hinweisen die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
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Das philosophische Gespräch
(vikosovgt´om ¢lokoc¶salem tekeut_mter7 G c²q – Ma¸, G d’ fr. – B d´ ce vikosov¸a jt/sir 1pist¶lgr7 oqw ovtyr ; 5vgm. – Ma¸, 5vg, Euthd. 288d, Üb. B.S.)
Sokrates geht hier vom normalsprachlichen Verständnis der Komposita mit phil- aus, die ein intensives Bemühen um den jeweiligen Gegenstand bezeichnen, verbunden mit dem Wunsch, mehr davon zu erlangen und zu besitzen. Philosophie meint dann, dass man viel Wissen haben möchte und sich intensiv darum bemüht.110 Wie bereits gezeigt, ist diese Bestimmung des Wissens aber nicht hinreichend. Man muss das Wissen auch auf rechte Weise besitzen, damit es dem Menschen zur Glückseligkeit verhilft. Das heißt, man muss auch wissen, wozu es gut ist und wie man es richtig gebraucht. (Euthd. 288d – 289a) Soweit die Wiederholung. Eines solchen Wissens also bedürfen wir, bei dem das Hervorbringen und das Wissen um den Gebrauch dessen, was man hervorbringt, zusammenfallen. (toia¼tgr tim¹r %qa Bl?m 1pist¶lgr de?, … 1m Ø sulp´ptyjem ûla tº te poie?m ja· t¹ 1p¸stashai wq/shai to¼t\ d #m poi0. Euthd. 289b, Üb. B.S.)
Setzt man diese Charakterisierung des Wissens in die zuvor gegebene Bestimmung der Philosophie als Wissenserwerb ein, so haben wir eine erste Definition der Philosophie: Die Philosophie ist der Erwerb eines Wissens, bei dem das Hervorbringen und das Wissen um den Gebrauch zusammenfallen.111 Auf welche Art von Wissen trifft diese Bestimmung zu, was ist ihr Gegenstand? Sokrates betrachtet verschiedene Künste (t´wmai), die aber alle nicht die Bedingungen der Definition erfüllen. (Euthd. 289c – 290d, 291b – 292d) Der Grund dafür liegt in der üblichen Trennung von produktiven (t¹ poie?m) und anwendungsbezogen Fertigkeiten (t¹ wq/shai). Wer als Fachmann einer bestimmten Kunst einen Gegenstand herstellt, wendet ihn normalerweise nicht selber an, sondern überlässt ihn anderen zum Gebrauch. Es ist eine Eigenheit des arbeitsteiligen Spezialistentums, dass jeder seine spezifische Kompetenz hat. 110 Vgl. Euthd. 274c und die Beispiele und Erörterung im Lysis-Kapitel, S. 201 f. 111 Iamblich zitiert diese Definition als pythagoreisches Gedankengut neben anderen spätantiken Standarddefinitionen der Philosophie fast wortgetreu in seinem Aufruf zur Philosophie, fügt allerdings im ersten Teil eqenir ein: B d³ vikosov¸a eqen¸r 1sti ja· jt/sir 1pist¶lgr … Toia¼tgr owm de? 1pist¶lgr, 1m Ø sulp´ptyem ûla tº te poie?m ja· t¹ 1p¸stashai ja· wq/shai to¼t\ d #m poi¶s,. (Pqotqetij¹r 1p· vikosov¸am 26,24 – 27,2) Durch diese interpretierende Interpolation verschiebt er die Bedeutung der Philosophiedefinition im Euthydemos in Richtung späterer Definitionen, die das erotische, begehrende Moment betonen. (Vgl. Flashar, Platon und Aristoteles im Protreptikos des Iamblichos, 59) Ähnlich sprechen auch Nikomachos von Gerasa und Albinos von der vikosov¸a als einer eqenir sov¸ar. (Nikomachos, Introd. Arithm. 1,1,1 – 2 und Alkinoos/Albinos, Didask. 1, nach Dörrie/Baltes, Der Platonismus in der Antike 4, 30 f., 32) Auch sie kompilieren aus dem Bedürfnis nach Vereinheitlichung verschiedene, in der Spätantike bereits kanonisierte Philosophiedefinitionen. (Dörrie/Baltes, ebd., 22)
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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Das betrifft nicht nur unterschiedliche Sachgebiete, sondern auch die Trennung von Produktion und Anwendung, von Gegenstand und Nutzen, von »Wissen was« und »Wissen wozu«: Der Instrumentenbauer baut das Instrument, das der Künstler anwendet; der Logograph schreibt die Reden, die der Redner hält; der Kriegsherr erobert die Länder, die der Politiker verwaltet.112 (Euthd. 289d, 290b) Es besteht deswegen ein Produkttransfer zwischen beiden Gruppen. In diese Kategorie gehören auch die sophistischen Künste. Die Sophisten vermitteln rhetorische Techniken, deren Anwendung und Nützlichkeit sie anderen überlassen und für deren Wert oder Unwert sie keine Verantwortung übernehmen. Die gesuchte philosophische Erkenntnis soll definitionsgemäß dieser Trennung nicht folgen. Sie soll klug machen und ein Wissen vermitteln (5dei d³ sovo»r poie?m ja· 1pist¶lgr letadidºmai), das den Menschen nützlich ist und durch das sie glückselig werden. (Euthd. 292b f.) Gleichzeitig soll sie allgemeiner Art sein und wie eine königliche Kunst (basikijµ t´wmg) über dem Spezialistentum stehen. (Euthd. 293b – 297d) Sie soll alles, was in sich weder schlecht noch gut ist (l¶te jaj_m l¶te !cah_m, Euthd. 292d), also die wertindifferenten, sekundären Güter, regieren und beherrschen. Dazu muss sie nichts anderes wissen und vermitteln als sich selbst (…de? aqtµm … 1pist¶lgm d³ paqadidºmai lgdel¸am %kkgm C aqtµm 2aut¶m).113 (Euthd. 292c f.) Dennoch geht es nicht um bloße Wissensiteration, denn der Nutzen dieses Wissens wäre nicht ersichtlich (t¸ wqgsºleha, Euthd. 292d). Sokrates bekennt, mit den Untersuchungen in einer Sackgasse gelandet zu sein und die Aporien um das königliche Wissen nicht auflösen zu können. Und doch sind viele Hinweise gegeben, die dem Leser die Richtung weisen, in die er weiterdenken soll.114 Auch Wissen ist nicht schlechthin ein Gut an sich, auch wenn es zwischenzeitlich so schien. Es steht gleichfalls unter dem Nützlichkeitsanspruch. Die Menschen werden nicht schon dadurch gut und tüchtig, dass sie zu Wissenden werden.115 Das hatten zwar die beiden Sophisten behauptet, als sie ihre Dienste 112 Platon bringt noch das Beispiel einer Arbeitsteilung zwischen Astronomen / Mathematikern einerseits, welche die Gegenstände ihrer Wissenschaft auffinden (t± emta !meuq¸sjousim), und den Dialektikern andererseits, denen sie die Ergebnisse zum angemessenen Gebrauch überlassen. (Euthd. 290c) Zur Diskussion s. Anm. 117. 113 Zum reflexiven Wissen der 1pist¶lg 1pist¶lgr vgl. die Parallelen in Chrm. 168a; 171c; 174d; 175b u. ö. Dazu auch Hawtrey, Commentary on Plato’s Euthydemus, 137 f. 114 Erler löst die Aporien dahin auf, dass die Idee des Guten das telos des philosophischdialektischen Erkennens ist und es sich beim Euthydemos wie bei anderen aporetischen Dialogen um eine »Erinnerungshilfe für schon Wissende« handelt, also um Schüler der Philosophie, die die Auflösung des Rätsels bereits im Blick haben. (Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 16, 234 – 241) Zum Wissen des Guten vgl. Anm. 109 u. 117. 115 Sokrates gesteht durchaus, dass er recht viel weiß, doch hält er das, was er weiß, für Kleinigkeiten (slijq²). Der Grund liegt nicht in der Partikularität und Defizienz seines Wissens. Seine Geringschätzung der »Kleinigkeiten« begründet Sokrates vielmehr mit der entscheidenden Bedeutung des Wissens um das Gute. (Euthd. 293b f.; vgl. Tht. 145d) Zur
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Das philosophische Gespräch
anpriesen. Aber sie vermitteln nur eine Disputiertechnik, deren gute oder schlechte Anwendung sie anderen überlassen. Damit fallen sie unter die arbeitsteilige Wissensiteration, die soeben zurückgewiesen wurde. Anders steht es mit dem Philosophieren, für das Sokrates wirbt. Es ist ein anwendungsbezogenes Wissen um das, was dem Menschen gut und angemessen ist. Das Wissen des Guten und das Tun des Guten lassen sich nicht trennen.116 In diesem Sinne herrscht die Philosophie wie eine königliche Kunst über alle Fähigkeiten und Handlungen des Menschen. Ihre Aufgabe ist es, ein letztes, übergreifendes Gut als Ziel und Endzweck menschlichen Lebens im Blick zu haben, von dem her alle Güter und Handlungen ihren Wert erhalten. Der Euthydemos enthält also zahlreiche Hinweise, wie die Aporie überwunden werden kann. Er erlaubt einen Blick in die »Werkstatt« Platons, wo die Notwendigkeit einer genaueren Bestimmung der übergeordneten und normativen Rolle eines letzten und höchsten Gutes immer deutlicher wird, aber Platons Antwort auf dieses Problem, die Idee des Guten als telos der philosophischen Erkenntnis, noch offen ist. Das macht auch die Grenze der Philosophiedefinition im Euthydemos aus.117 Differenz von wertneutralem Fachwissen und ethischem Wissen und zur Prävalenz der normativen vor der fachspezifischen Kompetenz vgl. a. Heitsch, Erkenntnis und Lebensführung, 20 – 34, sowie Stemmer, Platons Dialektik, 167 – 174. 116 Die praktische Dimension dieser epistemischen Haltung wird in der Forschung als ethischer Intellektualismus bezeichnet. Siehe hierzu a. Anm. 246 im Gorgias und u. Anm. 355 u. 404 im Symposion. Die essentiell notwendige Einheit von glücksentscheidendem Wissen und guten, wünschenwerten Handlungen betont Hardy, Jenseits der Täuschungen, 14 f. 117 An zentraler Stelle in der Politeia klingt die im Euthydemos gegebene Philosophiedefinition wieder an. Dort bemerkt Sokrates, dass alles, was von der Idee des Guten als dem größten Wissen, dem l´cistom l²hgla, Gebrauch macht (pqoswq¶sashai), nützlich wird (wq¶sila ja· ¡v´kila c¸cmetai). Das bloße Wissen (1pis¸stashai) und das Besitzen von etwas (1jt/shai) ohne den Besitz (jt/sir) und das Verstehen (vqome?m) des Guten sind dagegen nichts nütze. (R. 505a f.) In der Politeia bekommt die Idee des Guten also ihren systematisch ausgezeichneten Rang zugesprochen, der im Euthydemos zwar avisiert ist, aber nicht ausdrücklich gemacht und ausgearbeitet wurde. Vgl. dazu auch Stemmer, Platons Dialektik, 172 ff. und Anm. 78. Dagegen meint Erler, dass bereits im Euthydemos eine ausgearbeitete Idee des Guten hinter den Aporien erkennbar sei. Er führt dazu vor allem Belegstellen aus der Politeia an. (Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 16, 234 – 241) Ähnlich Dixsaut: »Toute l’¦pist¦mologie de la R¦publique semble Þtre d¦j l …« (Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 43) Es ist verlockend, die späteren Dialoge mit Blick auf den Euthydemos zu antizipieren. Dennoch scheint mir Zurückhaltung geboten zu sein, für den Euthydemos bereits von einer differenzierten Ideenkonzeption auszugehen und wie Dixsaut sogar eine ausgearbeitete dialektische Methode anzunehmen. Denn die Bezeichnung Dialektiker in Euthd. 290c, die hier erstmals und isoliert auftaucht, hat noch keine klar umrissene, technische Bedeutung. (Vgl. Hawtrey, Commentary on Plato’s Euthydemus, 127 – 129; anders Cürsgen, Platons Euthydem, 33 – 34) Ebenso wenig ist von dem Guten als Idee die Rede, sondern nur im Rahmen einer Güterlehre, an deren Spitze die sophia steht. Dass die sophia in der Erkenntnis der Idee des Guten besteht, wird nicht ausdrücklich gesagt, auch wenn sich diese Annahme von der Politeia her aufdrängt. Des-
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
3.4.
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Das philosophische Gespräch und seine Kritiker
In das Rahmengespräch zwischen Sokrates und seinem Freund Kriton, das die Begegnung mit den beiden Eristikern ein- und ausleitet, hat Platon eine Metareflexion eingefügt. In ihr geht es um den Wert der Philosophie, die durch die eristische Rhetorik diskreditiert wird. Die Leute halten sie für ein und dasselbe, weil beide sich des prüfenden und widerlegenden Gesprächs, des elenchos, als Mittel bedienen. Die Lösung, die im Euthydemos avisiert wird, liegt in der Unterscheidung der Sache der Philosophie, die gut ist, und der Menschen, die sie nur vermeintlich und deswegen schlecht praktizieren, weil sie in Wirklichkeit ganz anderes im Sinn haben. Kriton begegnet einem nicht namentlich genannten Redenschreiber, der Zeuge der Unterredung zwischen den beiden Eristikern und Sokrates gewesen war. Dieser Unbekannte wirft Sokrates vor, töricht zu sein, weil er sich mit Leuten unterhält, die nur leeres Zeug reden und nichtswürdige Dinge treiben (kgqo¼mtym ja· peq· oqdem¹r !n¸ym !man¸am spoudµm poioul´mym, Euthd. 304c). Darauf entgegnet Kriton: Aber es ist doch eine vortreffliche Sache, die Philosophie! (!kk± l´mtoi … waq¸em c´ ti pq÷cl² 1stim B vikosov¸a. Euthd. 304e, Üb. B.S.)
Der Fremde bestreitet das und erwidert, dass sowohl die Sache selbst als auch die Menschen, die sich mit ihr abgeben, schlecht und lächerlich sind (t¹ pq÷cla aqtº ja· oR %mhqypoi oR 1p· t` pq²clati diatq¸bomter vauko¸ eQsim ja· jatac´kastoi, Euthd. 305a). Er wirft die Philosophie und alle, die sich mit ihr beschäftigen, unterschiedslos in einen Topf. Kriton dagegen betont, dass die Sache selbst (t¹ pq÷cla aqtº), also die Philosophie, nicht tadelnswert ist. Aber er stimmt dem Fremden zu, wenn dieser Kritik daran übt, sich mit Leuten wie den Eristikern auf ein Gespräch einzulassen (diak´ceshai toio¼toir). (Euthd. 305b) Diese Auseinandersetzung zeigt, dass viele das prüfende Gespräch mit der Philosophie selbst identifizieren. Wird nun das Gespräch schlecht geführt, weil die Gesprächsführer nur auf Streit und Rechthaberei aus sind, liegt der Schluss nahe, die Philosophie sei eine schlechte Sache. Will man darum die Philosophie retten, muss man Gespräche mit Eristikern meiden, das ist zumindest die Meinung von Kriton. Verständigungsbereitschaft und Ernsthaftigkeit sind ihm unerlässliche Voraussetzungen. Darum unterscheidet er zwischen der Sache der Philosophie, die gut und intrinsisch wertvoll ist, und ihrem Gebrauch im Gespräch, der gut, unter Umständen aber auch schlecht sein kann. Man muss eben wissen, mit wem man wie das Gespräch führt. Das ruft die Güterlehre in Erinnerung, die Sokrates entwickelt hatte: Die sekundären Güter sind an sich wegen scheint es mir verfrüht, für den Euthydemos schon im Vollsinn von der Idee des Guten zu sprechen.
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Das philosophische Gespräch
wertneutral. Sie können gut oder schlecht gebraucht werden. Schlecht gebraucht werden sie zu einem Übel, gut gebraucht hingegen zu einem Gut und sind von Nutzen.Das galt auch für das Gespräch.118 Kriton will die Sache der Philosophie gegenüber dem konkreten Missbrauch des elenktischen Gesprächs als ihrem Medium verteidigen. Gleichzeitig aber wird deutlich, wie schwer es ist, Sokrates dagegen abzugrenzen. Denn Sokrates unterhält sich ausnahmslos mit jedem, auch mit den Eristikern. Er verwickelt alle in ein prüfendes Gespräch, in der Hoffnung, sie dadurch zur Einsicht in die eigenen Grenzen und zur Selbsterkenntnis zu führen. Anders als Kriton meint, bewährt sich gerade darin die Anwendung der Philosophie als Wissen um das Gute. Für Sokrates sind die Sache der Philosophie und ihre gute Anwendung im Gespräch untrennbar verbunden. Daraus folgt, dass jemand, der in schlechter Weise das Gespräch führt oder es kritisiert, gar nicht verstanden hat, was Philosophie der Sache nach ist. Sokrates will deswegen von Kriton wissen, welche Tätigkeit der Unbekannte ausübt, der die Philosophie kritisiert und derart missversteht: Zu welchen gehörte der, der dir begegnete und die Philosophie tadelte? (pot´qym Gm b pqosekh¾m soi ja· lelvºlemor tµm vikosov¸am; Euthd. 305b, Üb. Schl.)
Gehört er zu denen, die als Redner aktiv vor Gericht auftreten, oder eher zu jenen, die im Hintergrund die Reden entwerfen? In der Frage schwingt mit, dass Sokrates beiden Berufsgruppen ein Verständnis der Philosophie abspricht. Der Leser erinnert sich an die Unterscheidung von herstellenden und anwendenden Künsten. Sie trifft auch auf die Redenschreiber und die Gerichtsredner zu, weil einige Redenschreiber ihre Reden nicht zu gebrauchen wissen und die Gerichtsredner auf fremde Vorlagen zurückgreifen. (Euthd. 289c f.) Ein solcher Spezialist ist offensichtlich auch der Unbekannte, denn nach Kritons Informationen handelt es sich um einen Logographen, der selber nie vor Gericht tätig war. Das sind die Leute, lieber Kriton, von denen Prodikos sagt, sie stünden auf der Grenze zwischen einem Philosophen und einem Politiker. Sie glauben, dass sie unter allen Menschen die Klügsten sind und dass sie, abgesehen davon, dass sie es sind, auch sicher bei den meisten in diesem Ruf stehen, so dass, um von allen gerühmt zu werden, ihnen niemand hinderlich ist außer die Leute, die sich mit der Philosophie beschäftigen. (oxtoi c²q eQsim l´m, § Jq¸tym, otr 5vg Pqºdijor lehºqia vikosºvou te !mdq¹r ja· pokitijoO, oUomtai d’ eWmai p²mtym sov¾tatoi !mhq¾pym, pq¹r d³ t` eWmai ja· doje?m p²mu paq± pokko?r, ¦ste paq± p÷sim eqdojile?m 1lpod½m sv¸sim eWmai oqd´mar %kkour C to»r peq· vikosov¸am !mhq¾pour. Euthd. 305c f., Üb. B.S.)
118 Zur Wertindifferenz vgl. S. 71 f.
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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Sokrates entlarvt hier den Geltungsdrang als Motiv hinter der Kritik des Unbekannten. Dieser glaubt, dass seine Kunst im öffentlichen Ansehen als Gipfel der Weisheit erscheint, denn seine Profession ist die Produktion von Reden. Das verbindet ihn bis zu einem gewissen Grad mit den Philosophen, die gleichfalls Logoi hervorbringen und erzeugen.119 Zugleich stehen die Logographen den Politikern nahe, die vor Gericht oder in öffentlichen Versammlungen durch Reden auf die politischen Entscheidungen Einfluss nehmen. Die Redenschreiber glauben nun, über den Politikern zu stehen und klüger zu sein, weil sie ihnen erst die Mittel für ihr erfolgreiches Wirken bereitstellen; und über den Philosophen, weil ihre Reden für den politischen Alltag nützlich seien. Lediglich der Kreis um Euthydemos (rp¹ t_m !lv· Eqh¼dglom) schmälert ihr Ansehen, weil sie in der Einzelauseinandersetzung (1m d³ to?r Qd¸oir kºcoir) leicht den Kürzeren ziehen. (Euthd. 305d) Darum kritisiert der Unbekannte das Gespräch mit den Eristikern so scharf. Sokrates jedoch ironisiert ihre vermeintliche Klugheit, indem er sie als Feigheit und Flucht vor der Auseinandersetzung demaskiert: Für klug nämlich halten sie sich – natürlich: denn sie lassen sich mäßig auf die Philosophie ein und mäßig auf die Politik, und das aus einem begreiflichem Grund: Sie beteiligen sich an beidem so viel wie gerade nötig und ernten die Früchte des Wissens, ohne sich in Gefahr zu begeben und dem Wettstreit zu stellen. (sovo· d³ BcoOmtai eWmai p²mu – eQjºtyr7 letq¸yr l³m c±q vikosov¸ar 5weim, letq¸yr d³ pokitij_m, p²mu 1n eQjºtor kºcou7 let´weim c±q !lvot´qym fsom 5dei, 1jt¹r d³ emter jimd¼mym ja· !c¾mym jaqpoOshai tµm sov¸am. Euthd. 305d f., Üb. B.S.)
Sokrates hält dem Unbekannten und seinen Kollegen vor, dass sie den direkten Dialog scheuen, weil sie fürchten, im persönlichen Gespräch zu unterliegen, da sie den Gesprächsverlauf vorher nicht konzipieren können. Sie schreiben zwar politische Reden, aber die politische Praxis überlassen sie anderen. Deswegen wirft er ihnen vor, dass sie sich nicht zwischen Philosophie und Politik entscheiden. Sie bewegen sich auf der Grenze zwischen beiden in der Meinung, sie könnten das Gute der einen wie der anderen Sache für sich beanspruchen und so alle überbieten.120 Dabei übersehen sie aber, dass Halbherzigkeit nur Mittelmäßigkeit nach sich zieht. Ist nun die Philosophie ein Gut und auch die politische Praxis, aber jede in anderer Hinsicht, und wollen diese in der Mitte stehen, indem sie an beidem Anteil haben, so ist das bedeutungslos – denn sie sind schlechter als beide. (eQ l³m owm B vikosov_a !cah|m 1stim ja· B pokitijµ pq÷nir, pq¹r %kko d³ 2jat]qa, oxtoi d’ !lvot]qym let]womter 119 Zum Hervorbringen, Zeugen oder Gebären von Logoi als philosophischem Erkenntnisakt vgl. im Theaitetos, S. 86, und Symposion, S. 254. 120 Der Sachbereich der Philosophie ist zu dieser Zeit keineswegs so klar umrissen, wie es Platon durch die scharfe Unterscheidung von Philosophie und Politik suggeriert. Für viele seiner Zeitgenossen ist der Übergang fließend, vgl. S. 35, 37 f.
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Das philosophische Gespräch
to}tym 1m l]s\ eQs_m, oqd³m k]cousim – !lvot]qym c\q eQsi vauk|teqoi, Euthd. 306b, Üb. B.S.)
Sokrates begründet sein Urteil unter Rückgriff auf seine Güterlehre. (Euthd. 306a-c) Nur wenn beides, Philosophie und Politik, ein Übel wären, bedeutete, in der Mitte zu stehen, besser zu sein als jedes von ihnen. Ansonsten aber bleiben die Redenschreiber immer hinter dem Guten des einen oder des anderen zurück und werden keiner Sache wirklich gerecht: Also sind tatsächlich diejenigen, die sich mit beidem beschäftigen, schlechter auf dem jeweiligen Gebiet, auf dem die Politik und auch die Philosophie Bemerkenswertes leisten. (!kk± t` emti oxtoi !lvot]qym let]womter !lvot]qym Fttour eQs·m pq¹r 2j\teqom pq¹r d F te pokitijµ ja· B vikosov_a !n_y k|cou 1st|m, Euthd. 306c, Üb. B.S.)
Plädiert Sokrates hier für eine Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Politik im Sinne eines Spezialistentums, bei dem in beiden Bereichen unabhängig voneinander Gutes geleistet werden kann? Das darf bezweifelt werden, denn es stünde im Widerspruch zum Verständnis von Philosophie als einer königlichen Kunst, die alle anderen Tätigkeiten leitet und deren Gelingen und Nutzen gewährleistet. Weil die Philosophie Wissen um den Erwerb und den Gebrauch des Guten ist, ist sie selbst ein Gut. Die Politik dagegen gerät zum Übel, wenn sie von Unwissenheit regiert wird. Darum bedarf die Politik der Philosophie. Sie ist genau dann gut, wenn sie die praktische Seite der Philosophie ist. Wer verbirgt sich hinter der Maske des redenschreibenden Kritikers, dem Platon mit der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik so viel Aufmerksamkeit schenkt? In der Dramaturgie des Dialoges ist er nur eine Randfigur, aber in der attischen Realität ist er ernster zu nehmen als die eristischen Streithähne, die sich mit ihren Absurditäten selbst »den Mund zunähen«. (Euthd. 303e) Das Psychogramm lässt an Isokrates denken, einen Sophisten der zweiten Generation, der um 390 v. Chr., also einige Jahre vor Platon, eine Schule in Athen gegründet hatte, aus der eine Reihe namhafter Redner und Politiker hervorgingen. Seinen Unterricht bezeichnete Isokrates als Philosophie und verstand darunter das Studium politischer Rhetorik, die sich an den Bedürfnissen der politischen Praxis orientiert.Zudem war er vor der Schulgründung als Logograph tätig, ohne selbst öffentlich als Redner aufzutreten. Somit entspricht er genau dem Typus des Grenzgängers zwischen Philosophie und Politik, den Sokrates beschreibt. Und in der Tat gehört es zum Selbstverständnis von Isokrates, dass er durch die Verbindung von Philosophie und Politik den politischen Praktikern, die bei ihm in die Schule gehen, ebenso überlegen ist wie seinen philosophischen Konkurrenten, denen er Nutzlosigkeit vorwirft. Im Visier von Isokrates sind dabei insbesondere die Sokratiker und Eristiker, die er ohne große Unterschiede in einen Topf wirft. (Isoc. X 6) Das Echo dieser Vorhaltungen ist im Euthydemos deutlich zu hören. Denn
Euthydemos: Das philosophische Gespräch und das Wissen um das Gute
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Platons Auseinandersetzung mit den Eristikern Euthydemos und Dionysodoros ist nur vordergründiger Art und ein Stellvertreterstreit mit Isokrates.121 Sein eigentliches Anliegen ist es, den Vorwurf der Eristik gegen die Adresse der Sokratiker zurückzuweisen wie auch den der Nutzlosigkeit philosophischen Wissens. Seine Antwort besteht im Aufweis des Unwertes einer politisch-rhetorischen Schulung und Praxis, die glaubt, auf philosophische Erkenntnis verzichten zu können.122 Was Philosophie der Sache nach ist und welche Schule sie am besten repräsentiert, ist zwischen Isokrates und Platon eine heftig umstrittene Frage. Es ist offensichtlich, dass Platon den Begriff der Philosophie als Leitmotiv für das Profil seiner Schule und die dortigen Studien gewinnen will. Dazu muss er ihn zunächst aus der sophistischen Vereinnahmung herauslösen und inhaltlich neu füllen. Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg ist die Unterscheidung der Sache der Philosophie und der Personen, die sich mit ihr nur vermeintlich beschäftigen. Diese Unterscheidung ermöglicht es Platon, einerseits die gängige sophistische und eristische Praxis abzubilden und zu kritisieren und ihr andererseits die »Sache selbst«, die Idee der Philosophie, entgegenzustellen. Die schlechte Praxis fällt dann nicht auf die Philosophie, sondern auf die Personen zurück, denen er damit zugleich abspricht, dass sie überhaupt Philosophie treiben. Diese kritische Sicht auf die vermeintlich Philosophierenden spiegelt sich in der Frage Kritons, welche Erziehung er seinen Söhnen angedeihen lassen und welchen Lehrern er sie anvertrauen soll: Sooft ich mir aber einen von denen näher ansehe, die von sich behaupten, dass sie die jungen Leute unterrichten, bin ich ganz erschüttert und jeder von ihnen scheint mir, wenn ich ihn genau betrachte, ganz verdreht zu sein, um dir die Wahrheit zu sagen; so dass ich nicht weiß, wie ich den Jungen zur Philosophie ermuntern kann. (ftam d³ eUr tima !pobk´xy t_m vasjºmtym #m paideOsai !mhq¾pour, 1jp´pkgclai ja¸ loi doje? eXr 6jastor aqt_m sjopoOmti p²mu !kkºjotor eWmai, ¦r ce pq¹r s³ t!kghµ eQq/shai7 ¦ste oqj 5wy fpyr pqotq]py t¹ leiq\jiom 1p· vikosov_am. Euthd. 306e f., Üb. B.S.)
Hier schließt sich der Kreis der Protreptik, der zu Beginn des Dialogs eröffnet wurde. Wie kann man zur Philosophie ermuntern, wenn die Vertreter der Zunft eher abschreckende Beispiele sind? Sokrates antwortet mit einem Vergleich. Man würde auch nicht auf Sport, Geschäftswesen oder Rhetorik verzichten, nur weil die meisten Leute auf diesen Gebieten nichts Gutes zustande bringen. Vielmehr würde man sich an den wenigen orientieren, die umso Wertvolleres leisten. (Euthd. 307a) Es gilt also, sich die richtigen Vorbilder auszusuchen. Das ist eine klare Werbung für die platonische Philosophenschule. 121 Zu Isokrates als Opponenten Platons im Euthydemos vgl. a. Heitsch, Der Anonymos in Platons Euthydem, 392 – 404. 122 Siehe S. 72.
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Das philosophische Gespräch
Darüber hinaus verweist Sokrates aber auf die Sachfrage. Kriton soll sein Urteil nicht von Personen abhängig machen. Vielmehr soll er sich um die Sache selbst bemühen und fragen, was mit Philosophie eigentlich gemeint ist: Doch kümmere dich nicht um die, die sich mit der Philosophie beschäftigen, ob sie etwas taugen oder schlecht sind. Die Sache selbst prüfe gut und genau, und wenn sie dir schlecht zu sein scheint, so rate jedermann davon ab, nicht nur deinen Söhnen; wenn sie dir aber so zu sein scheint, wie ich es vermute, so gehe ihr unbesorgt nach und übe sie, wie man zu sagen pflegt, du selbst und deine Kinder. (!kk’ 1\sar wa_qeim to»r 1pitgde}omtar vikosov_am, eUte wqgsto_ eQsim eUte pomgqo_, aqt¹ t¹ pq÷cla basam_sar jak_r te ja· ew, 1±m l]m soi va_mgtai vaOkom em, p\mt’ %mdqa !p|tqepe, lµ l|mom to»r re?r· 1±m d³ va_mgtai oXom oWlai aqt¹ 1c½ eWmai, haqq_m d_yje ja· %sjei, t¹ kec|lemom dµ toOto, aqt|r te ja· t± paid¸a. Euthd. 307b f., Üb. B.S.)
Wenn man, wie das Gespräch von Sokrates und Kleinias zeigte, unter Philosophie den Erwerb eines Wissens um das Gute versteht, das wie eine königliche Kunst das ganze Leben und Handeln des Menschen zum Guten leitet, dann ist sie auch eine gute Sache und man hat allen Grund, sie unbeirrt zu üben, nicht nur in der Jugend, sondern ein Leben lang. Das ganze Leben wird dann zur Schule und jedes Gespräch zur Übung. Dieses Philosophieverständnis ist in der Tat ein Kontrastprogramm zu den Streitkünsten der Eristiker und zur Rhetorikschule des Isokrates. Es zielt auf nicht weniger, als dass der Philosophierende selbst gut werde und also tugendhaft.
4.
Theaitetos: Die Freiheit des Logos und seine Wendung nach innen
Im Theaitetos steht die epistemologische Frage nach dem Wesen von Erkenntnis im Zentrum des Dialogs. Daraus ergeben sich viele inhaltliche Anklänge an den Euthydemos: Ob Wissen (sophia) und Erkenntnis (episteme) das Gleiche sind, (Tht. 145e) was Erkenntnis überhaupt ist und ob es ein Wissen vom Wissen gibt. (Tht. 146e – 147b) Auch die Unterscheidung von Besitz und Gebrauch des Wissens begegnet uns wieder. (Tht. 197b – 198b) Und die provozierende These der Eristiker, dass es keine falschen Aussagen gibt, wandelt sich zur Frage, ob man überhaupt falsche Meinungen haben kann. Denn gemäß dem Leitsatz von Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, ist alles, was jemand vorstellt, für ihn notwendig wahr. (Tht. 166d, 167a) Vor allem aber interessiert uns die Rolle des philosophischen Gesprächs, das in diesem epistemischen Kontext noch einmal ausführlich reflektiert wird.
Theaitetos: Die Freiheit des Logos und seine Wendung nach innen
4.1.
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Das philosophische Gespräch als geistige Hebammenkunst
Gegenüber dem Protagoras und Euthydemos scheinen sich die Rollen im Theaitetos auf verwirrende Weise vertauscht zu haben. Dort wandte sich Sokrates gegen die Streitlust, der es nicht um die Sachfrage geht, sondern allein darum, im Agon der Reden den Sieg davonzutragen. Im Theaitetos findet er sich nun selbst mit scharfer Kritik an seiner Gesprächsführung konfrontiert: »Betrüge nicht beim Fragen!« (Tht. 167e f.) Wie kommt es zu diesem Vorwurf ? Sokrates hatte die These des jungen Theaitetos, Erkenntnis sei Wahrnehmung, vor dem Hintergrund des Homomensura-Satzes von Protagoras, dass der Mensch das Maß der Dinge sei, einer Prüfung unterzogen. (Tht. 152a, 160d f., 166d, 168d) Mit Fangfragen nach Art der Eristiker, die uns aus dem Euthydemos gut bekannt sind,123 erzwang er von Theaitetos Zugeständnisse, die die These zu Fall brachten. Doch nicht genug dessen: Er spitzte diese relativistische These dahingehend zu, dass aus der Behauptung, jeder Mensch sei das Maß dessen, was für ihn wirklich ist, folgt, dass gleiches auch für das Schwein oder den Affen gilt. (Tht. 161c) Sokrates hat wie ein Speerschütze im Wortgefecht scharf geschossen.124 Durch diesen provozierenden Vergleich wird nicht nur die Behauptung, sondern auch die Person getroffen, die sich dadurch infrage gestellt fühlt, denn wer will schon mit Schwein und Affe verglichen werden? In dieser Situation greift Protagoras ein, um seinem Leitsatz zu Hilfe zu eilen und ihn gegen den elenchos von Sokrates zu verteidigen. Inhaltlich wirft er Sokrates vor, dass er nur Jagd auf die Worte gemacht habe und sich nicht darum bemühe, genauer zu verstehen, was gemeint sei. (Tht. 166c, e) Sokrates soll die Worte nicht hin- und herdrehen, wie es ihm gerade passt, und andere dadurch verunsichern und in Verwirrung stürzen. (Tht. 168b) Der Vorwurf der betrügerischen Rede richtet sich darauf, dass Sokrates die verschiedenen Gattungen der Rede nicht unterscheidet, nämlich das Rededuell (!cym¸feshai) und das gemeinsame, freundschaftliche Gespräch (diak´ceshai). (Tht. 167e) Statt wie im Duell fremde Thesen hinterlistig zu Fall zu bringen, soll ein Gespräch dazu dienen, genau auf die Intention der Aussagen zu achten und eigene Fehler nachzuweisen: Wenn du es nun auf diese Weise tust, dann werden diejenigen, die bei dir Studien treiben, sich selbst die Schuld geben an der Verwirrung und Ratlosigkeit und nicht dir, und sie werden dir folgen und dich lieben. Sich selbst aber werden sie hassen und werden von sich weg zur Philosophie fliehen, damit sie zu anderen werden und sich abwenden von denen, die sie zuvor waren. Wenn du aber wie die meisten das Gegenteil 123 T¸ c±q wq¶s, !v¼jt\ 1qyt¶lati; (Tht. 165b) 1qyt_lem %vujta [sc. 1q¾tglata] (Euthd. 276e), s. S. 70. 124 Zur Metapher des Speerschützen vgl. Prt. 342e u. S. 61.
84
Das philosophische Gespräch
davon tust, dann wird dir auch das Gegenteil passieren und du wirst diejenigen, die deine Schüler sind, anstatt zu Philosophen zu Leuten machen, welche diese Sache hassen, wenn sie älter geworden sind. (üm l³m c±q ovty poi0r, 2auto»r aQti²somtai oR pqosdiatq¸bomt´r soi t/r art_m taqaw/r ja· !poq¸ar !kk’ oq s´, ja· s³ l³m di¾nomta ja· vik¶sousim, arto»r d³ lis¶sousi ja· ve¼nomtai !v’ 2aut_m eQr vikosov¸am, Vm’ %kkoi cemºlemoi !pakkac_si t_m oT pqºteqom Gsam7 1±m d³ t!mamt¸a to¼tym dqør ¦speq oR pokko¸, t!mamt¸a sulb¶seta¸ soi ja· to»r sumºmtar !mt· vikosºvym lisoOmtar toOto t¹ pq÷cla !povame?r 1peid±m pqesb¼teqo· c´mymtai. Tht. 168a f., Üb. B.S.)
Im Namen der Philosophie wehrt Protagoras emphatisch alle Streitsucht ab und klagt die Lauterkeit einer Gesprächsführung ein, bei der man untersucht, was mit einer These gemeint ist. (Tht. 168b) Es sieht so aus, als ob hier die üblichen Rollen vertauscht wurden: Der Sophist vertritt das sokratische Anliegen eines wohlwollenden und sorgfältig prüfenden Dialogs, durch den die Gesprächsteilnehmer zur Selbsterkenntnis kommen, indem sie ihre eigenen Fehler erkennen und Zuflucht bei der Philosophie suchen. Sokrates dagegen bekommt den Vorwurf der Wortdreherei zu hören und erscheint als Verleumder und Feind der Philosophie. Doch die Situation ist noch komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Denn es ist keineswegs Protagoras selbst, der gegen die Gesprächsführung Einspruch erhebt. Vielmehr macht sich Sokrates zum Anwalt von Protagoras, weil dieser gar nicht zugegen ist und seine These, die durch Bücher verbreitet ist und unter Intellektuellen diskutiert wird, nicht selbst verteidigen kann.125 (Tht. 152a) Hinter der Maske des kritischen Protagoras versteckt sich also Sokrates. Er selbst ist es, der innehält und den Verdacht äußert, Theaitetos und er könnten wie die Antilogiker (!mtikocij_r) um des bloßen Widerspruchs willen die Gegenposition zur These von Protagoras vertreten haben, indem sie sich nur an den Wortlaut halten, aber den Sinn außer Acht lassen: und obwohl wir behaupten, keine Kämpfer zu sein, sondern Philosophen, tun wir, ohne es zu merken, dasselbe wie jene geschickten Männer. (ja· oq v²sjomter !cymista· !kk± vikºsovoi eWmai kamh²molem t!ut± 1je¸moir to?r deimo?r !mdq²sim poioOmter. Tht. 164c f., Üb. B.S.)
Wie ist diese Verfremdung zu verstehen, und was bedeutet sie für das Verständnis der Philosophie, das Sokrates alias Protagoras einklagt? Man hat vermutet, dass hier der platonische Sokrates – und durch ihn Platon – Selbstkritik an der sophistischen Argumentationskunst übt, die dem historischen Sokrates keineswegs fremd war. Auch Platon selbst habe sich in einigen Frühdialogen in 125 Zum Problem der Schriftlichkeit, der man zur Hilfe kommen muss (boghe?m), wenn man verstehen will, was gemeint war, vgl. Prt. 340a, 341c,d, 347e (dort gegen Protagoras); Tht. 164e, 165a, 168c, 171e (zugunsten von Protagoras); Phdr. 275e, 277a, 278c.
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dieser zweifelhaften Disputierkunst gefallen.126 In der Tat übten sich scharfsinnige Antilogiker darin, nach Belieben für entgegengesetzte Auffassungen zu argumentieren und auch schwache oder unlautere Thesen stark zu machen, um ihre Gegner zu Fall bringen.127 Das machte auf die jungen Leute, die sich um sie scharten, großen Eindruck. Die Unbesiegbarkeit von Sokrates im Disput ähnelt dieser antilogischen Kampfeslust, zumal er geistig beweglich genug war, auch gegnerische Positionen zu durchdenken. Der Homo-mensura-Satz von Protagoras, den er hier diskutiert, ist ein Beispiel dafür. Diese Verwechselbarkeit hat nicht unwesentlich zur Feindschaft vieler Bürger gegen Sokrates und zu seiner Verurteilung beigetragen. Platon greift darum den Vorwurf der Sophistik und Eristik verschiedentlich auf. (Euthd. 305a, R. 487b f.) Aber das heißt noch lange nicht, dass er ihn sich auch zu Eigen macht. Vielmehr will er das Pauschalurteil der Menge über die Wortklauberei derer, »die philosophieren«, abwehren.128 Denn die meisten können nicht zwischen Wortklauberei und Prüfung der Konsistenz von Meinungen unterscheiden. Für diese Unterscheidung sollen hier Kriterien gefunden werden. Denn Antilogiker und Philosophen sind nicht dasselbe. Der Unterschied zeigt sich unter anderem daran, wie sie auf Kritik und Widerlegung reagieren. Die Widerlegung einer These wird schnell als Schwäche und persönliche Niederlage verstanden, sobald ihre Unhaltbarkeit offenbar ist. (Tht. 151c) Wer zum Beispiel wie Sokrates darauf hinweist, dass der aus dem Wahrnehmungsrelativismus des Homo-mensura-Satzes abgeleitete Werte- und Wahrheitsrelativismus nicht vor den Grenzen der Spezies Mensch Halt macht, wird nicht auf freundliche Zustimmung stoßen. Diesen Schluss will niemand ziehen.129 Sokrates formuliert 126 So Heitsch, Platon und die Anfänge seines dialektischen Philosophierens, 15 – 19; ders., Dialoge Platons vor 399 v. Chr.?, 336 – 345. 127 Zur antilogischen Disputierkunst vgl. Dissoi Logoi, S. 36 u. Lysias, Kategoria pros tous synousiastas kakologion, S. 37, Anm. 51. 128 Natali, Adokesw¸a, Keptokoc¸a and the Philosophers in Athens, 232 ff. 129 Hinter der als diffamierend empfundenen Parallelisierung von Mensch und Tier steht sachlich die dialektische Kunst der Einteilung in Genera und Spezies, wie sie vor allem im Sophistes und Politikos entfaltet wird. Denn Mensch und Tier gehören gleicherweise zu den Sinneswesen und haben Wahrnehmungen. Doch zeigt dieses Beispiel sehr schön, dass es nicht nur um sachliche Einteilungen geht, sondern dass Platon sich sehr wohl dessen bewusst war, wie abwertend die Beispiele, die er wählte, wirken. Eben darauf beruht der provozierende Vergleich. Das Argument von Protagoras lautet: (1a) Der Mensch hat die Fähigkeit zur Wahrnehmung. (2a) Wahrnehmungen sind für jeden und auch zu unterschiedlichen Zeiten verschieden. (Tht. 160c, 166c) (3a) Jede Wahrnehmung ist für den Wahrnehmenden wahr und der Gegenstand der Wahrnehmung für ihn seiend. (Tht. 160c, 167a f.) (4a) Also ist (jeder) Mensch das Maß der Dinge, wie sie (für ihn) sind oder nicht sind. (Tht. 152a, 166d) Das analog zu konstruierende sokratische Argument lautet: (1b) Lebewesen haben Wahrnehmungen. (2b) Wahrnehmungen sind für jedes Lebewesen und auch zu unterschiedlichen Zeiten verschieden. (3b = 3a) Jede Wahrnehmung ist (für den Wahrnehmenden) wahr und der Gegenstand der Wahrnehmung (für ihn) seiend. (4b) Das
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Das philosophische Gespräch
unter der Maske von Protagoras ein Problem, das wir alle kennen: Wie gelingt es, bei der Prüfung von Thesen das Gespräch nicht in übler Gesinnung und kämpferisch zu führen, sondern in freundlicher Gesinnung (oq duslem_r oqd³ lawgtij_r !kk’ Vke\ t0 diamo¸ô sucjahe¸, Tht. 167b)? Es kann in einem philosophischen Gespräch nicht darum gehen, dass sich jemand durch die Widerlegung seiner Thesen und Argumente persönlich angegriffen und kritisiert fühlt. Er wird sonst nicht rationalen Gesichtspunkten folgen und die philosophische Auseinandersetzung verweigern. Die Reflexion über die rechte Art konstruktiven Philosophierens ist darum der eigentliche Sinn des Einwands von Sokrates alias Protagoras. Denn es geht ihm um die Liebe zum Wort (vikokoc¸a), die am besten gedeiht, wo man im Gespräch einander freund und vertraut wird (v¸kour te ja· pqosgcºqour !kk¶koir c¸cmeshai). (Tht. 146a) Das philosophische Gespräch stiftet also sowohl Einsicht als auch Freundschaft, während die antilogische Auseinandersetzung Zank und Verweigerung zur Folge hat. Zur Verdeutlichung werden uns zwei unterschiedliche Reaktionsmuster vor Augen geführt: zum einen die Verteidigungsrede von Protagoras und zum anderen das einsichtige Verhalten des jungen Theaitetos. Nach Ansicht von Sokrates vertreten beide, Protagoras wie Theaitetos, Thesen, die unhaltbar sind und also so etwas wie geistige Fehlgeburten. Zu diesem Urteil kommt er aufgrund seiner »Hebammenkunst«, die er von seiner Mutter geerbt haben will. Während sie gebärenden Frauen zu Kindern verhalf, hat er es auf die Geburten der Seele abgesehen, das sind die Reden und Gedanken, die im philosophischen Gespräch entwickelt werden. Seine Kunst besteht darin zu prüfen, ob der Verstand ein Schattenbild und Falsches gebiert oder fruchtbare Gedanken und also Wahres (pºteqom eUdykom ja· xeOdor !pot¸jtei toO meoO B di²moia C cºmilºm te ja· !kgh´r). Wie eine Hebamme muss er zwischen einem lebensfähigem Kind und einer Fehlgeburt unterscheiden können (jq¸meim). (Tht. 150b-c) Freilich ist nicht jeder für diese Kritik dankbar. Viele erzürnen sich, wenn Sokrates sie von Scheinwahrheiten entbindet. Sie glauben nicht, dass er sie aus Wohlwollen widerlegt und nicht in übler Absicht. Genau diesen Vorwurf äußert auch Protagoras und unterstellt ihm üble Gesinnung. (Tht. 151c, 167b) Vor dem Spiegel der sokratischen Maieutik erscheinen die Reaktionen von Protagoras und Theaitetos in neuem Licht. Während Protagoras die Zustimmung zu den widerlegenden Schlussfolgerungen aus seiner These verweigert, (Tht. 166a, 169d – 170a, 171b) beharrt der junge Theaitetos nicht rechthaberisch Schwein/der Affe ist ein Lebewesen. (5b) Der Mensch/Affe/das Schwein hat die Fähigkeit zur Wahrnehmung. Also ist (6b) der Mensch/Affe/das Schwein das Maß der Dinge, wie sie (für den Menschen/Affen/das Schwein) sind oder nicht sind. (Tht. 161c) Zur unterschiedlichen Verarbeitung der Sinneswahrnehmung bei Mensch und Tier aufgrund der Urteilsfähigkeit der menschlichen Seele, die auf die Erkenntnis des Seins der Dinge gerichtet ist, siehe Tht. 186a-e, vgl. S. 100 ff.
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auf seiner geistigen Erstgeburt, obwohl Sokrates seinen ersten Definitionsversuch, Wissen sei Wahrnehmung, ins Scheitern führt. Was den elenchos nicht besteht, ist nicht wert, dass man weiter daran festhält. Es wird wie eine Fehlgeburt abgestoßen. (Tht. 161a) Mit dieser gelassenen Haltung beweist Theaitetos, dass er bei aller Scharfsinnigkeit auch über die Tugend der Gelassenheit verfügt. (Tht. 144a, 161a) Das ist ein Zeichen seiner philosophischen Veranlagung.130 Er nimmt die Kritik nicht persönlich, weil er sich nicht hoch schätzt. Das philosophische Gespräch mit ihm verliert deshalb nie den freundschaftlichen Charakter, den es von Anfang an hatte. Anders stehen die Dinge bei Protagoras. Freilich hat der Großmeister der Sophisten mehr zu verlieren als der hoffnungsvolle, aber noch junge Theaitetos. Nicht nur andere denken hoch von ihm, sondern auch er selbst. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er zu den Weisen und Klugen zählt, auf die man zu Recht hört. (Tht. 167b-d) Gemäß seinem Grundsatz, dass jeder Mensch das Maß dessen ist, was für ihn wirklich ist, bestreitet Protagoras zwar einen allgemeingültigen Maßstab und Wahrheitsanspruch. Zugleich aber streicht er den qualitativen Unterschied zwischen Fachleuten und Laien, zwischen Lehrern und Schülern heraus, weil erstere sich darauf verstehen, etwas aus einem schlechteren in einen besseren Zustand zu überführen. (Tht. 166c) So können kluge Sophisten in ihren Schülern bessere Wahrnehmungen hervorrufen als die bisherigen und eine Veränderung der Vorstellungen bewirken. (Tht. 167c) Wer nun besser werden und lernen will, muss seine eigenen, schlechteren Auffassungen fahren lassen und den besseren Auffassungen des Lehrers folgen. Ja, er soll sich sogar wegen seiner Fehler hassen und den Lehrer wegen dessen Kompetenz lieben. In dieser Art von Lernbereitschaft besteht bei Protagoras die »Flucht zur Philosophie«. (Tht. 186a) Es liegt auf der Hand, dass in dieser Konzeption kein Platz für das Zugeständnis der Ratlosigkeit oder gar eines Irrtums des Sophisten ist, denn das würde seine Lehrautorität untergraben. Zugleich aber ist die Unterscheidung von »besser« und »schlechter« mit einer starken Lesart des Homomensura-Satzes nicht vereinbar. Denn alle Wahrnehmungen sind danach richtig und gleichwertig. Diesen Widerspruch zwischen dem relativistischen Grundsatz von Protagoras und seinem Anspruch auf Lehrautorität führt Platon hier dem Leser vor Augen. Sokrates sieht seine Rolle im Gespräch ganz anders. Er versteht sich nicht als Lehrer seiner Gesprächspartner, denn er behauptet, den schwangeren Seelen nur Geburtshilfe zu leisten und keine eigenen geistigen Kinder zu gebären. (Tht. 150c) Er verlangt auch nicht wie Protagoras, die eigenen Denkversuche aufzugeben, nur weil dabei Vorstellungen und Thesen in die Welt gesetzt werden, 130 Zur philosophischen Natur, die zugleich scharfsinnig, ruhig und zuverlässig sein soll, vgl. R. 503c f.
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Das philosophische Gespräch
die der Prüfung nicht standhalten und verworfen werden müssen. Die Verleugnung des eigenen Denkens und die bloße Übernahme fremder Lehrsätze wären für Sokrates keine »Flucht zur Philosophie« (Tht. 168a), sondern »Flucht vor der Philosophie«. Darum ermutigt er seinen jungen Gesprächspartner zu eigenen Denkversuchen: Wenn Theaitetos nur mutig drauf los ginge, werde er es, »so Gott will«, schon schaffen. (Tht. 151d) »Indes werden wir uns, denke ich, mit uns selbst, so wie wir sind, genügen müssen, und nur sagen, was uns jedes mal richtig scheint (t± dojoOmta !e· taOta k´ceim).«131 (Tht. 171d, Üb. Schl.)
4.2.
Das Staunen als Anfang der Philosophie
Für Sokrates ist die Aporie von Theaitetos kein Grund, dass dieser an der eigenen Erkenntnisfähigkeit zweifeln und sich selbst hassen müsste. (Vgl. Tht. 168a) Vielmehr setzt er die Untersuchung gerade bei der zugegebenermaßen unsicheren Meinung seines jungen Freundes an. Er bestätigt ihn in seiner Ratlosigkeit und schreibt ihr methodische Bedeutung zu: Denn gerade dies ist die Empfindung eines Freundes der Weisheit, das Staunen; es gibt nämlich keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen. (l²ka c±q vikosºvou toOto t¹ p²hor, t¹ haul²feim7 oq c±q %kkg !qwµ vikosov¸ar C avtg, Tht. 155d, Üb. B.S.)
Die Wendung vom »Staunen als Anfang der Philosophie« hat etwas unmittelbar Ermutigendes. Die trennende Unterscheidung zwischen dem philosophischen Fachmann und dem Laien (Qdi¾tgr, Tht. 154e) wird auf ein beiden gemeinsames initium zurückgeholt. Doch Staunen ist ein ambivalenter Ausdruck, der auch von Platon mit sehr unterschiedlicher Bedeutung und Wertung verwandt wird.132 Wer sich auf das philosophische Staunen beruft, sollte dessen eingedenk sein, dass die Empfindung, von der Sokrates hier redet, nicht die Faszination durch ein ungelöstes Rätsel oder ein naturwissenschaftliches Problem ist, die 131 Burnyeat beschreibt den Unterschied zwischen dem Erziehungsprogramm von Protagoras auf der einen und Sokrates auf der anderen Seite treffend als »contrast between putting ideas into the pupil’s mind and drawing them out from within«. (Burnyeat, Socratic Midwifery, Platonic Inspiration, 56; kursiv v. d. Verf.) Hardy betont, dass es bei der sokratischen Maieutik nicht so sehr um die Entlarvung falscher Wissensansprüche geht als vielmehr um die Einsicht in den »Weg der Klärung der Was-es-ist-Fragen und damit um den Prozess der Irrtumseinsicht«, also um methodologische Erkenntnis im Sinn der Wissensvergewisserung. (Hardy, Platons Theorie des Wissens im »Theaitet«, 41. 132 Zu den Bedeutungsvarianten von haul²feim vgl. Tht. 154b, 155c, d, 157d, 161c, 162cf., 165e, 193d. Wegen der Ambivalenz des Staunens unterscheidet Dixsaut zwischen dem Ursprung (origine) der Philosophie und ihrem Beginn (commencement). Während sie dem Staunen zubilligt, den zeitlichen Beginn und Anlass zu markieren, sieht sie im philosophischen Eros die treibende Kraft und den Grund der Philosophie. Vgl. Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 303 f.
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schon in der Antike den Forschergeist inspiriert haben.133 Es ist auch nicht die Bewunderung gemeint, wie sie klugen Menschen entgegengebracht wird, den Sophisten oder anderen, deren Wissen und Können man bestaunt und an deren sophia man teilhaben möchte.134 Erst recht ist nicht das Staunen des modernen 133 Auf die Wendung vom »Staunen als Anfang der Philosophie« greift bereits Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik zurück, allerdings mit einer nicht unwesentlichen Bedeutungsverschiebung: »Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens (di± c±q t¹ haul²feim oR %mhqypoi ja· mOm ja· t¹ pq_tom Eqnamto vikosove?m), indem sie sich anfangs über das nächstliegende Unerklärte verwunderten, dann allmählich fortschritten und auch über Größeres Fragen aufwarfen, z. B. über die Erscheinungen an dem Mond und der Sonne und den Gestirnen und über die Entstehung des Alls.« (Arist. Metaph. 982b 12 – 15, Üb. Bonitz/ Seidl) Wenn Aristoteles das Staunen als Motiv für die philosophische Forschung bezeichnet, so hat er dabei, anders als Platon, philosophiegeschichtlich zunächst die Forschungen der Naturphilosophen im Sinn, (982b15) bezieht aber auch die Freunde von Mythen (vikºluhor, 982b18) und die Mathematiker (983a15) ein. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich über etwas, das sie nicht verorten können, über das %topom (982b14) verwundern. Sie wollen ein Phänomen erklären oder ein Rätsel und Problem lösen, von dem sie die Ursache (aQt¸a) noch nicht verstanden haben. (983a13 – 15) Das ist das Ziel wissenschaftlichen Denkens. (Zum Rätselcharakter aristotelischen Staunens vgl. Matthews, Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, 13 f.) Das philosophische Staunen markiert bei Aristoteles den Beginn der Ursachenerklärung, und die Philosophie ist dementsprechend eine Wissenschaft von den ersten Ursachen. (983a24 f.) Aristoteles zitiert mit dem Ausdruck vom »Staunen als Anfang der Philosophie« zwar den Theaitetos und bezieht sich auf das gleiche mathematische Beispiel, (Tht. 147d – 148a) aber er verfolgt ein anderes Ziel als Platon. Ihm geht es um den Anfang des wissenschaftlich-exakten Denkens, Platon um den Anfang des philosophisch-dialektischen Denkens. Das sind verwandte, aber nicht identische Denk- und Untersuchungsmethoden, wie das Liniengleichnis der Politeia zeigt. In der Dramaturgie des Theaitetos stehen darum der Mathematiker Theodoros und der Naturphilosoph Thales für die exakte (Natur-) Wissenschaft, während Sokrates und der ihm geistesverwandte Theaitetos die dialektische Philosophie verkörpern. Siehe a. S. 100 und S. 363 f. Diese unterschiedliche Blickrichtung spiegelt sich auch in späteren Zitaten der Formel vom »Staunen als Anfang der Philosophie«. Dilthey schließt sich insofern Aristoteles an, als auch für ihn das Staunen über den äußeren Kosmos den Beginn der Naturwissenschaft in der Entwicklungsgeschichte des Geistes markiert, »dessen Subjekt die Menschheit selber« ist: »Als der menschliche Geist die Wirklichkeit seinen Gedanken zu unterwerfen begann, wandte er sich zuerst, von Staunen angezogen, dem Himmel entgegen …« (Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 5 u. 25) Nikolaus von Kues hingegen denkt nicht an den Menschheitsgeist, sondern an die Vernunft des Einzelnen, die sich in einem individuellen Entwicklungsprozess befindet, dessen Ziel die weitestgehende Angleichung an die göttliche Wahrheit ist: »Es scheint mir daher sinnvoll, dass das Staunen, das zum Philosophieren hinführt, dem Drang nach Wissen vorangeht, damit der Geist, dessen Sein im Erkennen liegt, sich im Studium der Wahrheit vollende.« (Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, Widmung 1,21 – 24, Üb. Wilpert) Mit diesem Verständnis steht der Cusaner ganz in der platonischen Tradition. 134 Diese, von unserer Stelle in Tht. 155d abweichende Bedeutung des haul²feim findet sich in Tht. 165e. Die kritiklose Bewunderung kluger Köpfe ist Sokrates oft Anlass für seine unnachahmliche Ironie. Auch Aristoteles kennt die staunende Bewunderung für Leute, die über große Dinge reden, welche das geistige Fassungsvermögen der Ungebildeten übersteigen. (Arist. EN 1095a 25)
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Individuums angesichts der Unendlichkeit des Universums gemeint, das den Charakter der Erschütterung durch das Numinose trägt. Der Grund des Staunens als Anfang der Philosophie liegt nach platonischem Verständnis nicht in der äußeren Welt, sondern in der inneren, in der geistigen Verfasstheit des Menschen: Es ist ein Staunen angesichts der Tatsache, dass ein und derselbe Mensch zu gleicher Zeit Meinungen haben kann, die er zwar alle für wahr hält und die doch unvereinbar sind und deshalb in der Seele miteinander im Streit liegen (TaOta … blokoc¶lata … l²wetai aqt± arto?r 1m t0 Blet´qô xuw0). (Tht. 155b) Auf diese verwirrende Erfahrung reagiert Theaitetos mit Staunen: »Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein (rpeqvu_r ¢r haul²fy), wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich (sjotodimi_).« (Tht. 155c, Üb. Schl.) Seine vermeintlich klaren Vorstellungen wirbeln in seinem Kopf durcheinander, so dass statt Klarheit buchstäblich Finsternis herrscht und er nicht mehr durchblickt. Das Staunen des jungen Theaitetos ist ein Staunen über sich selbst und seinen eigenen mentalen Zustand. Es besagt nicht, dass er zu der infrage stehenden Sache keine Meinung hat. Vielmehr ist er sich der Inkonsistenz und damit der Unsicherheit seiner Meinungen bewusst geworden. Er weiß nicht, wie er sie zusammenbringen kann, wenn er darauf Acht hat, dass er sich nicht widerspricht (vuk²ttym lµ 1mamt¸a eUpy, Tht. 154d).135 Es ist ein Staunen angesichts der Möglichkeit falschen Denkens, die doch von den Sophisten entschieden bestritten wird, weil alles, was man vorstellt, per se richtig sei.136 (Tht. 167a f., d) Doch ist diese Verunsicherung nach Sokrates kein Grund zum Verzagen. Er und Theaitetos sind keine Fachleute wie die Sophisten, sondern nur Laien (Qdi_tai). Deswegen sollten sie einfach damit beginnen, die Sache selbst zu betrachten: Was sie ist und ob das, was sie darüber denken, miteinander zusammenstimmt (!kk¶koir sulvyme?) oder nicht. (Tht. 154e) Auf diese Weise 135 Zur Diskussion und Formalisierung der aufgeworfenen Rätsel im Einzelnen s. Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, 40 – 45 und McDowell, Plato: Theaetetus, 131 – 137. Die Inkonsistenz von Meinungen impliziert, dass nicht alle Meinungen zugleich wahr sein können. Dementsprechend ist das Staunen von Theaitetos unausdrücklich auch ein Staunen über die Möglichkeit falschen Meinens, die im Zusammenhang der zweiten Definitionsthese »Wissen ist wahre Meinung« ausführlich diskutiert wird. Matthews vermutet, dass Platon selbst, und nicht nur seine Dialogfiguren Sokrates und Theaitetos, über die Möglichkeit falscher Meinung zutiefst erstaunt und am Rätseln war, ebenso wie über die Möglichkeit falscher Aussagen und des Nicht-Seins. (Matthews, Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, 100 – 103) Das Staunen über die Inkonsistenz von Meinungen stellt also nicht nur irgendwelche beliebigen, mehr oder weniger wichtigen Meinungen infrage, sondern die Grundlagen des Meinens und Denkens überhaupt. Dixsaut betont darum, dass Gegenstand der Maieutik die Seele selbst und die Innerlichkeit des Wissens ist. (Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 147) 136 Vgl. a. Sph. 236e, 264a und S. 329, 335, 348 f.
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soll Schritt für Schritt Ordnung und Harmonie in das innere Durcheinander kommen.137 Sokrates unterzieht also das eigene Denken einem prüfenden elenchos. Das philosophische Staunen ist darum Ausdruck der Besinnung auf sich selbst. Es lässt innehalten und neu befragen, was nur vermeintlich klar war. Es ist Zeichen einer Verunsicherung, die nicht von außen herangetragen wird, sondern von innen kommt. Eine bloß äußere Infragestellung gibt nur Anlass zur Verärgerung.138 Das Staunen von Theaitetos erwächst jedoch aus der Ratlosigkeit als Folge seines eigenen philosophischen Fragens. Dagegen kann er sich nicht wehren, wenn er mit sich selbst in Übereinstimmung sein will.139 Wo das Staunen aufbricht, haben geistige Wehen eingesetzt. Und kundige Hebammen wie Sokrates verstehen sich auf die Kunst, diese Wehen im prüfenden Gespräch zu verstärken oder zu lindern. (Tht. 149c f.) Sie können auf diese Weise geistige Geburten fördern, aber sie können sie nicht verursachen. Denn der Grund des Staunens liegt allein im inneren, geistigen Kosmos, in der Ordnung und Harmonie des Denkens, die es zu finden gilt.140 Wenn das Staunen der Anfang des philosophischen Nachdenkens ist, dann ist es auch einsichtig, dass der von Protagoras beklagte Geist der Auseinandersetzung im Gespräch nicht eristischen Ursprungs ist. Vielmehr nimmt er seinen 137 Die Unterscheidung dessen, was zusammenstimmt und was nicht, die Harmonie der Aussagen ("qlom¸a kºcym, Tht. 175e), kennzeichnet den wahren und freien Philosophen, siehe S. 99. Sie weist voraus auf das dialektische Verfahren zur Untersuchung der gegenseitigen Abhängigkeiten und Zusammenhänge grundlegender Vorstellungen und Begriffe (po?a po¸oir sulvyme? t_m cem_m, Sph. 253b), wie sie vor allem im Sophistes unter dem Gedanken der joimym¸a t_m cem_m diskutiert werden. (Sph. 253b – 254c, siehe S. 343 f.) 138 Zu den unterschiedlichen Formen aporetischer Hilfe durch Sokrates und deren bildlichen Repräsentationen (Bremse, Zitterrochen und Hebamme) siehe Matthews, Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, 87 – 95. 139 Zur Homologie als einem dialektischen Grundbegriff, der nicht nur auf die Übereinstimmung von Aussagen zielt, sondern auch auf die Übereinstimmung mit sich selbst, vgl. Geiger, Dialektische Tugenden, 94 f. 140 Szlezk argumentiert, dass sich Sokrates keineswegs auf die Prüfung beschränkt, sondern den Gesprächsverlauf durch den »Vorgang des ›Vorlegens‹ der Themen und Denkmodelle« inhaltlich vorgibt. Insofern wäre Sokrates an den Gebärversuchen von Theaitetos auch ursächlich beteiligt, weil Theaitetos nach eigenem Bekunden mehr gesagt habe, als er in sich hatte. (Tht.210b) Deswegen sei die »Selbstbeschreibung des Sokrates als ›Maieutiker‹ im entscheidenden Punkt unvollständig, wenn nicht irreführend«. (Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 119 – 121) Szlezk möchte also das kritische mit dem konstruktiven Element des Philosophierens in der Person von Sokrates entgegen dessen Beteuerungen vereinen. Anders dagegen Matthews, der die unterschiedlichen Typen platonischen Philosophierens auch in zwei verschiedenen dramaturgischen Figuren repräsentiert sieht: im Sokrates des Theaitetos die Selbstzurücknahme und kritische Objektivität der sokratischen Hebammenkunst unter völligem Verzicht auf eigene philosophische Theorien und im Sophistes das zwar gleichfalls aus der Aporie entspringende, aber dennoch konstruktive Philosophieren des eleatischen Fremden. (Matthews, Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, 128)
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Ausgang vom Widerstreit unterschiedlicher und unvereinbarer Meinungen in der eigenen Seele. Wer mit sich selbst übereinstimmen will, muss sich diesem Kampf stellen. Das steht nicht im Widerspruch zum Geist der Freundschaft, sondern ist Ausdrucks des Ringens um geistige Ordnung und Einheit, um Übereinstimmung mit sich selbst wie auch mit dem Dialogpartner. Es mag einen hart angehen, wenn Thesen und Argumente, mit denen man »schwanger ging« und »guter Hoffnung war«, sich als unhaltbar erweisen. Aber im Zweifel ist es der größere Freundschaftsdienst, von diesen geistigen Fehlgeburten einvernehmlich entbunden und dadurch frei zu werden zu tragfähigeren und konsistenteren Überlegungen, mit denen man von neuem schwanger gehen kann. Die Rolle der geistigen Hebamme besteht in der Verdeutlichung der Implikationen einer These. In dieser Weise ist sie Entscheidungshilfe für den Gesprächspartner. Aber es ist immer eine gemeinschaftliche Betrachtung und Prüfung (joim0 sjex¾leha, Tht. 151e), die über den Wert oder Unwert der geistigen Geburt urteilt. Das soll der gemeinsam durchgeführte und verantwortete elenchos gewährleisten. Darum verabsolutiert sich das maieutische Gespräch nie, sondern will sich letztlich überflüssig machen. Es besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Aufgabe, sich zu seiner Zeit von seiner Hebamme zu lösen.141 Unter Anleitung von Sokrates wird Theaitetos in die Kunst des produktiven und selbständigen philosophischen Denkens eingeführt.142 Denn das Denken ist nichts anderes als ein Gespräch der Seele mit sich selbst, bei dem sie sich selbst befragt und antwortet und Behauptungen aufstellt oder sie bestreitet ([B xuwµ] diamoul´mg oqj %kko ti C diak´ceshai, aqtµ 2autµm 1qyt_sa ja· !pojqimol´mg, ja· v²sjousa ja· oq v²sjousa).143 (Tht. 189e f.) Anders ist es bei Protagoras. Nach ihm ist die Meinung des ausgewiesenen Fachmanns grundsätzlich besser als die des Schülers oder Laien. Darauf beruht 141 Auf das Problem einer zu frühen Abwendung von der geistigen Hebamme weist Sokrates selbst hin. (Tht. 150d – 151a) Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Intention der geistigen Selbständigkeit. Eine ähnliche Verteidigungsstrategie vertritt Xenophon in den Memorabilien. (X. Mem. I 2,19 – 21) 142 Burnyeat unterstreicht, dass die Verwirrung und Ratlosigkeit von Theaitetos einen produktiven Charakter trägt. Die sokratische Geburtshilfe bewirkt nicht nur Einsicht in die Grenzen eigenen Wissens und dadurch auf der psychologischen Ebene eine größere Besonnenheit (vgl. Tht.210c), sondern hilft auch, die eigenen Überzeugungen auf systematische Weise zu formulieren und zu durchdenken. Diese Form der Selbsterkenntnis sei die eigentliche geistige Frucht des Theaitetos. (Burnyeat, Socratic Midwifery, Platonic Inspiration, 57 – 59) 143 Zum Denken als Gespräch mit sich selbst vgl. a. Sph. 263e, 264a, Phlb. 38d f., Grg. 505e. Dixsaut weist darauf hin, dass die Rollenverteilung bei einem elenchos in einen fragenden und antwortenden Part nur äußerlich ist, weil jeder Fragende den Part des Antwortenden mitdenken muss und umgekehrt, wenn er sachgemäß fragen oder antworten will. Darum ist der mündliche elenchos eine Form der Einübung in dialogisches Denken. (Dixsaut, Platon et la Question de la Pense¦, 54)
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seine Lehrautorität. (Tht. 166c) Um aber als Fachmann anerkannt zu sein, bedarf er der Legitimation. Unversehens ist er dadurch abhängig vom öffentlichen Ansehen.Während Sokrates sich und seinen jugendlichen Schützling nur dem Urteil des Logos innerhalb des philosophischen Gespräches unterstellt, verlagert sich bei Protagoras die Schiedsrichterfunktion aus dem Diskurs heraus auf äußere Faktoren wie die öffentliche Meinung.144 Das macht ihn zutiefst unfrei gegenüber Kritik und Widerlegung und unzugänglich für die Selbstprüfung und das philosophische Staunen.
4.3.
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Abhängigkeit oder Freiheit des Logos – unter welchem Regiment steht der philosophische Diskurs? Und an welchem Vorbild orientiert er sich? Diese Frage ist Platon offensichtlich so wichtig, dass er ihr in einem eigenen Exkurs nachgeht, der wie im Protagoras wieder in der Mitte des Dialogs platziert ist, ein deutliches Zeichen, dass Platon hier Programmatisches zu sagen hat. (Tht. 172c – 177c) Die Gesprächsteilnehmer nehmen sich die Freiheit, scheinbar von der Frage nach dem Wesen der Erkenntnis abzuschweifen. Aber sie haben ja Muße, wie sie betonen, und stehen unter keinem äußeren Zwang, der sie zur Eile drängt. So wenden sie sich der Beschreibung zweier unterschiedlicher Typen von Intellektuellen zu. Protagoras ist der Protagonist des ersten Typos, für den anderen wird Thales ins Feld geführt. (Tht. 171b, 174a) Die erste Gruppe beschreibt Redner, deren Wirkungsbereich im politisch-öffentlichen Leben liegt. Die zweite Gruppe der Wissenschaftler wirkt im Vergleich dazu völlig abgehoben und weltfremd. Davon zeugt die Episode von der sprichwörtlich gewordenen Thrakischen Magd, die Thales auslacht, weil er zwar erkennen möchte, was am Himmel ist, ihm aber verborgen bleibt, was vor seinen Füßen liegt, so dass er in einen Brunnen fällt. Für die Bewältigung des praktischen, alltäglichen Lebens ist die naturphilosophische Wissenschaft offensichtlich nichts nütze.145 Die öffentliche Meinung hat für die Wissenschaftler und alle, die sich mit Erkenntnisfragen beschäftigen, nur Spott über : 144 Zur Bedeutung der Schiedsrichterfunktion in der Antilogik und der Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung s. Stemmer, Platons Dialektik, 125 – 127. Bereits im Protagoras war deutlich, dass die äußere Schiedsrichterfunktion in das philosophische Gespräch und die Selbstprüfung verlagert wurde, weil es darum geht, »die Wahrheit und sich selbst zu prüfen« (Prt. 348a); vgl. S. 64 f. Auch im Gorgias folgt die Abwehr des Autoritätsarguments dem gleichen Ziel. (Grg. 471e – 472c) 145 Zur Entkräftung dieses Vorurteils berichtet Diogenes Laertios über Thales eine Legende, wonach dieser in Voraussicht einer reichen Olivenernte alle Ölpressen der Gegend gemietet und dadurch ein großes Vermögen gewonnen haben soll. (DL I 26) Allerdings ist dieser ökonomische Erfolg nur ein willkommener Nebeneffekt.
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Eben derselbe Spott gilt immer noch denen, die ihr Leben mit der Philosophie zubringen. (taqt¹m d³ !qje? sj_lla 1p· p²mtar fsoi 1m vikosov¸ô di²cousi. Tht. 174a, Üb. B.S.)
Hier prallen zwei unterschiedliche Wirklichkeitsauffassungen aufeinander. Da ist einerseits die durch die Sinne gegebene, empirische Weltsicht, deren Spielregeln durch Erfahrung erlernt werden können. Und da ist andererseits die nur geistig erfassbare, kosmische Ordnung, deren Gesetzmäßigkeiten sich der wissenschaftlichen Betrachtung erschließen. Diese Antinomie der Lebenswelten, der konkret menschlich-gesellschaftlichen und der kosmisch-göttlichen, durchzieht den Philosophen-Exkurs im Theaitetos.146 Ihren unterschiedlichen Anforderungen ist auch die Form der Rede unterworfen. Sokrates zeichnet ein scharfes Bild dieser Gegensätze. Wer vor Gericht, im Rat oder bei anderen öffentlichen Versammlungen Erfolg haben will, muss sich den dort herrschenden Machtverhältnissen und Regeln unterwerfen. Das verdirbt das Verhältnis dieser Leute zum Logos. Sie beanspruchen zwar, Philosophie zu treiben, weil sie sich mit Reden auskennen. Aber Sokrates kritisiert, dass sie das auf schlechte Weise tun: Denn was soll man wohl von denen sagen, die sich auf schlechte Weise mit der Philosophie beschäftigen? (t¸ c±q %m tir to¼r ce va¼kyr diatq¸bomtar 1m vikosov¸ô k´coi; Tht. 173c, Üb. B.S.)
Der Grund ist, dass ein Redner nicht so lange reden kann, wie er will oder es sachlich geboten wäre, denn die Redezeit wird mit der Wasseruhr abgemessen. Auch darf er nicht reden, worüber er will oder was sachlich von Interesse ist, sondern er muss über die Streitigkeiten des täglichen Lebens sprechen, die ihm aufgenötigt werden. Er kann nicht reden, wie er will oder es richtig wäre, sondern er muss reden, wie es den Mächtigen und Entscheidungsträgern gefällt und schmeichelt. (Tht. 172d – 173a.) Seine Rede ist inhaltlich und formal fremdbestimmt. Wer das von Jugend auf übt, dessen Seele wird verbogen und verliert den ihr innewohnenden Sinn für das Gerechte und Wahre. Ein solcher Mensch ist aller öffentlichen Wertschätzung zum Trotz zutiefst unfrei und ein Sklave der anderen, von deren Anerkennung er abhängt. Es scheint, dass diejenigen, die sich von Jugend an bei Gericht und dergleichen herumtreiben, im Vergleich zu denen, die in der Philosophie und dergleichen Beschäftigungen erzogen werden, im Vergleich zu Freien wie Sklaven aufgewachsen sind. (Jimdume}ousim oR 1m dijastgq_oir ja· to?r toio}toir 1j m]ym jukimdo}lemoi pq¹r to»r 1m vikosov_ô ja· t0 toiøde diatqib0 tehqall]mour ¢r oQj]tai pq¹r 1keuh]qour tehq\vhai. Tht. 172c f., Üb. B.S.)
146 Vgl. bes. Tht. 176a – 177a und S. 100.
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Sokrates spricht den Gerichtsrednern und allen, die in der politischen Öffentlichkeit als Redner auftreten, die Freiheit der Rede ab. Die Einflüsse, denen Menschen an diesen Orten und bei diesen Tätigkeiten ausgesetzt sind, stellen eine schlechte Nahrung für die Seele dar, so dass sie sich nicht richtig entfalten kann. Sie bleibt in einem sklavischen Abhängigkeitsverhältnis von der öffentlichen Meinung, der sie gefallen muss. Anders ist es bei denen, die sich mit Philosophie und Wissenschaft beschäftigen. Sie kümmern sich nicht um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit und müssen deswegen auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nehmen. Sie sind in ihren Untersuchungen unabhängig und nur dem Logos verpflichtet. Das ist ihr Maß, das sie zu freien Menschen macht und ihre Seele wohl gedeihen lässt, auch wenn sie in der äußeren Lebensbewältigung manchmal lächerlich und inkompetent erscheinen: Und in der Tat habe ich schon oft bei anderer Gelegenheit und auch jetzt bedacht, wie diejenigen, die viel Zeit mit den Wissenschaften verbringen, sich begreiflicherweise als Redner lächerlich machen, wenn sie vor Gericht gehen. (ja· pokk\jir l]m ce d^ … ja· %kkote jatem|gsa, !t±q ja· mOm, ¢r eQj|tyr oR 1m ta?r vikosov_air pok»m wq|mom diatq_xamter eQr t± dijast^qia Q|mter ceko?oi va_momtai N^toqer. Tht. 172c, Üb. B.S.)
Sie verstehen nicht, vor Gericht zu reden, wie es opportun ist, und sie wollen es auch nicht. Denn das Verhältnis des Philosophen zum Logos ist durch Freiheit und Muße bestimmt und nicht durch den äußeren Zwang, der Menge gefallen zu müssen und ihr zu schmeicheln. Was den Leuten als Unfähigkeit erscheint, ist in Wirklichkeit Ausdruck der Unabhängigkeit der Wissenschaftler und Philosophen:147 Dies ist wie gesagt die Art von jedem der beiden: die eine dessen, der wirklich in Freiheit und Muße aufgewachsen ist, welchen du sicherlich einen Philosophen nennst, dem es nicht zum Tadel gereicht, einfältig zu scheinen und nichts zu taugen, wenn er an sklavische Dienstleistungen gerät, wie dass er sich nicht darauf versteht, … Speisen zu versüßen, oder auf schmeichlerische Reden; (oxtor dµ 2jat]qou tq|por, … b l³m t` emti 1m 1keuheq_ô te ja· swok0 tehqall]mou, dm dµ vik|sovom jake?r, è !mel]sgtom eq^hei doje?m ja· oqdem· eWmai ftam eQr doukij± 1lp]s, diajom^lata, oXom … lµ 1pistal]mou susjeu\sashai lgd³ exom BdOmai C h_par k|cour·) die andere [Art ist] wiederum dessen, der alle diese Bedürfnisse geschickt und tatkräftig bedienen kann, aber sich nicht darauf versteht, sich wie ein freier Mann elegant den Mantel anzulegen und erst recht nicht, die Harmonie der Reden erfassend das wahrhafte Leben der glückseligen Götter und Menschen recht zu preisen. (b d’ aw t± l³m toiaOta p\mta dumal]mou toq_r te ja· an]yr diajome?m, !mab\kkeshai d³ oqj 1pistal]mou 1pid]nia 1keuheq_yr oqd] c’ "qlom_am k|cym kab|mtor aqh_r rlm/sai he_m te ja· !mdq_m eqdail|mym b_om !kgh/. Tht. 175d f., Üb. B.S.) 147 S. a. Lg. 857c-e u. S. 366, Anm. 602. Zum Verhalten von Sokrates vor Gericht s. Ap. 17a, 34c u. S. 130 f.
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Der Philosoph unterliegt nicht äußeren Zwängen, weil er sich nicht für externe Interessen einspannen lässt. Er ist niemandes Knecht, auch nicht der eigenen Lebensbewältigung und des äußeren Erfolgs. (Tht. 172e, 173a, 175e) Muße ist darum das Kennzeichen des freien Menschen und folglich auch des freien, philosophischen Gesprächs. (Tht. 154e, 172c, d) Während der unphilosophische Mensch immer Mangel an Muße (!swok¸a) hat, weil er mit der Sorge um sein äußeres Leben beschäftigt ist, (Tht. 174 d, 175e) wendet sich der freie Wissenschaftler und Philosoph den unveränderlichen Gegenständen der Erkenntnis zu. Er fragt nach der Natur all dessen, was ist (p÷sam p²mt, v¼sim … t_m emtym 2j²stou fkou, Tht. 173e f.). Er betrachtet, wie Sokrates es seinem jungen Freund empfohlen hatte, die Sachen an sich selbst, was sie sind (he²sashai aqt± pq¹r art± t¸ pot’ 1st¸m, Tht. 154e). Nach dieser Ordnung des Seienden gestaltet sich das Leben der Götter und der Menschen, die Glückseligkeit erlangen. An ihnen nimmt auch die Rede des Philosophen Maß. Das spiegelt sich in der Harmonie der Logoi. Denn ihre innere Logik, das ist die Konsistenz und Kohärenz der Rede, gehorcht der göttlichen Ordnung. Zwei konkurrierende Auffassungen der Rede werden hier kontrastiert. Den Knechten oder Sklaven der öffentlichen Meinung stellt Sokrates die Schar der Freien gegenüber, »unseren Chor«, wie er emphatisch sagt. (Tht. 173b) Sie werden durch die Unabhängigkeit, Muße und Zweckfreiheit geeint, mit der sie ihre Untersuchungen betreiben, aber auch durch die Allgemeinheit ihrer Gegenstände und die Gesetzmäßigkeiten, die sie erforschen. Sie vertreten die freie Wissenschaft, wobei der Begriff »Philosophie« hier mehrere wissenschaftliche, insbesondere mathematische Disziplinen umfasst. Das wurde eingangs deutlich, als sich Sokrates bei Theodoros nach den Nachwuchswissenschaftlern erkundigte: ob es dort einige unter den jungen Leuten gibt, die Geometrie oder eine andere Wissenschaft mit Eifer betreiben. (eU timer aqtºhi peq· ceyletq¸am E tima %kkgm vikosov¸am eQs· t_m m´ym 1pil´keiam poio¼lemoi, Tht. 143d, Üb. B.S.)148
148 Siehe a. Tht. 172c. Der Vergleich mit R. 522c – 533b zeigt, dass Platon Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik im Blick hat. Er versteht sie als propädeutische Wissenschaften, als »Mitarbeiterinnen der Dialektik«, wobei die Dialektik als »Schlussstein« und krönender Abschluss über den mathematischen Wissenschaften steht. (R. 533d, 534e; vgl. a. die Rolle der Mathematik im Verhältnis zur Dialektik im Philebos, S. 359 ff.) Diesen freiheitlichen Anspruch behalten die mathematischen Fächer als quadrivium der artes liberales in Spätantike und Mittelalter. Bei den sprachlich-argumentativen Fächern Rhetorik, Grammatik und Logik, die zum trivium der artes liberales zusammengefasst werden, setzt sich dagegen der sophistische Anspruch auf Wissenschaftlichkeit durch. (Vgl. a. I. Hadot, Arts Liberaux et Philosophie dans la Pens¦e Antiques, 11 – 18.) Zur Hierarchie der Wisenschaften siehe auch das Gorgias-Fragment 29, wo die Rolle der freien Wissenschaft der Rhetorik zufällt, die dort vikosov¸a genannt wird, während die traditionell allge-
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Zum Chor der Freien gehören deswegen neben Sokrates auch der Naturphilosoph Thales und die Mathematiker Theodoros und Theaitetos. Dennoch bleibt eine Irritation, weil Sokrates so gar nicht in das Bild des weltfremden Naturforschers passt, der in der Betrachtung des Kosmos aufgeht und darüber das menschliche Leben aus den Augen verliert. Zu auffällig sind die Unstimmigkeiten in dem gezeichneten Bild. Sokrates ist ganz in dieser Welt präsent. Heißt es von den Wissenschaftlern, dass sie in ihrer Geistesabwesenheit noch nicht einmal den Weg zum Markt kennen oder sich von Jugend an den öffentlichen Plätzen und dem Rat fernhalten, so ist die agora der bevorzugte Aufenthaltsort von Sokrates. Die Versammlungen der polis, die Gerichte und ihre Spielregeln kennt er nur zu gut, auch wenn er sich nicht an deren Machenschaften beteiligt. Der Dialog Theaitetos endet ja mit seinem Gang zur Königshalle, wo er sich wegen der gegen ihn vorgebrachten Klage einstellt. Er macht nicht den Eindruck, als ob er sich nach dem Weg dorthin erst bei den sprichwörtlichen Thrakischen Mägden erkundigen müsste, weil diese im Gegensatz zu ihm mit beiden Beinen auf der Erde stünden. Es wäre falsch zu sagen, nur sein Körper wohnte im Staat, während sein Geist den Kosmos durchstreift, sondern selbstverständlich nimmt er seine Bürgerpflichten wahr und leistet seinen Kriegsdienst ab. Auch bei den Festen mit den Flötenspielerinnen ist er ein gern gesehener Gast, wie das Symposion sowohl von Platon als auch von Xenophon bezeugt, obwohl sich dieser lockere Umgang angeblich für einen Freund der Wissenschaft nicht ziemt. (Tht. 173c – 174b) Sokrates ist folglich alles andere als ein weltfremder Wissenschaftler.149 Der Philosophen-Exkurs vermittelt also ein schillerndes Bild, das ernsthafte und unernste Züge trägt. Gerade das macht seinen komödiantischen Reiz aus. Man weiß nicht genau, was man davon halten soll, so dass man mit Theodoros fragen möchte: »Wie meinst du das, Sokrates?« (Tht. 174a) Man sollte diese Dissonanzen nicht vorschnell zur Seite schieben. Denn die komödiantische Zeichnung des Helden Thales ist ein Hinweis auf eine zweite Unterscheidung, diesmal innerhalb der Gruppe der freien Wissenschaften. Für Sokrates sind astronomische Beobachtungen oder mathematische Beweise nicht der eigentliche Gegenstand philosophischer Forschung, auch wenn er sie gelegentlich zur Verdeutlichung heranzieht.150 In der Dynamik des Aufstiegs von unten nach oben, in der Bewegung »von hier nach dort«, (Tht. 176a f.) in der Wendung des Blicks vom Einzelnen zum Ganzen (Tht. 174e f., 175b, d) markieren sie nur eine Stufe, die allerdings jenseits des Denkhorizonts Thrakischer meinbildenden Fächer (1mj¼jkia lah¶lata) eine abhängige und untergeordnete Rolle spielen; siehe S. 35, Anm. 46. 149 So auch Hardy, Platons Theorie des Wissens im »Theaitet«, 102; Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 32. 150 Vgl. Tht. 147d – 148b u. Mn. 82c – 85b.
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Das philosophische Gespräch
Mägde liegt und auf der auch die Streitereien und Loblieder der Redekünstler lächerlich wirken. (Tht. 174d, 175b) Das Ziel philosophischer Forschung liegt für Sokrates weder in der Durchsetzung menschlicher Partikularinteressen, wie sie für die Gerichtsredner kennzeichnend ist, noch in den wissenschaftlichen Untersuchungen, wie sie die Naturphilosophen und Mathematiker betreiben. Das Ziel philosophischen Forschens liegt vielmehr in der Erkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit oder in der Frage, worin eine gute Herrschaft und menschliche Glückseligkeit bestehen. (Tht. 175d) Bei der Untersuchung dieser grundlegenden Begriffe und Vorstellungen, ihrer Idee, verschlägt es den unphilosophischen »Kleingeistern« den Atem.151 Wenn es um allgemeinste, normative Begründungszusammenhänge der Prinzipien und Ziele menschlichen Lebens wie des kosmischen Ganzen geht, fangen die sonst Redegewandten an zu stammeln. (Tht. 175d, 177d) Aber auch im Chor der freien Wissenschaftler scheiden sich die Geister. Zwar fragen auch Mathematiker und Naturforscher nach dem Allgemeinen und Sich-Gleichbleibenden, nämlich den Gesetzmäßigkeiten des Kosmos und mathematischen Strukturen. Doch ihre Gegenstände sind in anderer Weise gegeben als die der Philosophie. Die Frage nach dem Wesen von Gerechtigkeit, Erkenntnis oder Glückseligkeit, ihr t¸ 1stim (Tht. 175c), lässt sich nur im Raum der Sprache und des reinen Denkens realisieren. Die Gestirne am Himmel und geometrische Formen haben dagegen eine von der Sprache unabhängige Anschaulichkeit. Die Mathematiker gewinnen ihre grundlegenden Axiome, auf denen sie ihre Theorien überhaupt erst aufbauen können, aus der Anschauung. Für sie ist darum der äußere, sichtbare Kosmos Ausgangspunkt ihrer Forschungen. Der Blick des
151 Gelegentlich wird eine Revision der Ideenvorstellung in den Spätdialogen behauptet, wonach der Idee des Gerechten oder Guten nicht mehr die herausgehobene Stellung in der Hierarchie der Ideen zukommt. Dem muss hier widersprochen werden. Ihre Erkenntnis ist weiterhin letztes Ziel des philosophischen Forschens, denn die Frage nach der Eudaimonie ist nach wie vor das entscheidende movens; siehe a. Anm. 162. Zunehmend wendet Platon sich aber dem Problem zu, dass die Inhalte der paradigmatischen Ideen nicht ohne Bezug auf ihr Gegenteil zu erfassen sind: die Gerechtigkeit nicht ohne die Ungerechtigkeit, und dass die Frage, worin ihr Wesen besteht (po¸y t´ time 1st¹m, Tht. 175d), nur im Bezug beider aufeinander beantwortet werden kann. Das zeigt schon der Dual an. Dass es dazu eines besonderen philosophischen Handwerkszeuges (eqcamom) bedarf, nämlich der formalen Ideen der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Selbigkeit und Verschiedenheit etc., wird im Theaitetos zum ersten Mal in einer Liste handwerklicher joim² explizit gemacht (Tht. 185c f.) und im Sophistes und im Politikos zusammen mit der Methode der Unterteilung (dia¸qgsir) in extenso ausgeführt. Die formalen Ideen der joim² oder l´cista c´mg verdrängen also im Spätwerk die inhaltlich paradigmatischen Ideen keinesfalls, sondern sollen deren philosophische Erforschung gewährleisten. Zur Differenzierung zwischen paradigmatischen und formalen Ideen vgl. D. Frede, Dialektik in Platons Spätdialogen, 147 – 167.
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Philosophen hingegen richtet sich auf den inneren Kosmos der Ideen, die den Allgemeinbegriffen zugrunde liegen.152 Die Frage ist nun, ob sich nicht auch Wissenschaftler mit Grundbegriffen wie Erkenntnis und Wissen beschäftigen müssen, weil ohne deren Klärung ihr eigener Wissensanspruch halt- und bodenlos würde.153 Offensichtlich gehen hierüber die Meinungen auseinander. Es ist bezeichnend, dass sich Theodoros auf die mathematischen Probleme und Gesetzmäßigkeiten beschränken will. Sie sind für ihn das Maß einer exakten Wissenschaft und nicht etwa die Beschäftigung mit der Sprache und den Reden. Mehrfach versucht er, sich der dialogischen Prüfung der Thesen zum Wesen der Erkenntnis zu entziehen, da er diese Art von Gesprächsführung nicht gewohnt sei (1c½ l³m c±q !¶hgr t/r toia¼tgr diak´jtou, Tht. 146b).154 Er schließt sich zwar dem sokratischen Spott über die Redner an, denen es in der Höhenluft der Wissenschaft die Sprache verschlägt, aber er steht nicht viel besser da. Er verkörpert bei aller unbezweifelten fachlichen Qualifikation den Typus des naiven Wissenschaftlers, der glaubt, sich den grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragen entziehen und wie Thales in die Sphären der Wissenschaft entschwinden zu können. Dann aber hängt auch er, vergleichbar dem Rhetor, zwischen Himmel und Erde, wenngleich auf höherer Stufe. Er hat die Bodenhaftung verloren und die Anbindung an die obere Welt, das ist an den Ideenkosmos, nicht gewonnen. Anders als Theodoros lässt sich sein Schüler Theaitetos auf die Methode des elenchos und auf den anspruchsvollen Gegenstand der Untersuchung, das Wesen der Erkenntnis, ein. Theaitetos hat sich bereits früher selbständig mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt, (Tht. 152a, 162a) und das philosophische Staunen beweist seine Veranlagung, auf die Harmonie der Logoi zu achten, auf die Konsistenz und Kohärenz des Denkens. Er versteht auch sofort Sokrates’ Frage nach der Idee, dem eidos, und dem Begriff, unter den gleichartige Einzeldinge zusammengefasst werden. (Tht. 148d) Es zieht ihn über das 152 Vgl. das Liniengleichnis aus der Politeia, wo die Gegenstände der Mathematik dem unteren Bereich des Denkbaren zugeordnet werden und dem Bereich des Wahrnehmbaren benachbart sind, weil sie sich der Visualisierung als Hilfsmittel bedienen. Der obere Bereich des mogtºm, das Reich der Dialektik, wird dagegen allein durch den Logos erschlossen, ohne Rückgriff auf irgendwelche Formen der Anschauung. (R. 510c – 511a) Vgl. auch den Spott von Sokrates über die Astronomen, die nur nach unten auf das Sichtbare statt nach oben auf das Unsichtbare schauen, (R. 529a f.) ebenso die Degeneration der Astronomen in Ti. 91d, dazu auch S. 178. 153 Vgl. Tht. 147b: Das Verständnis einer Bezeichnung, eines Begriffs (emola) setzt eine Kenntnis seiner Intension voraus (t¸ 1stim). Behauptet z. B. jemand, den sprachlichen Ausdruck »Wissen von X« zu verstehen, so impliziert das ein Verständnis des Begriffs »Wissen« (1pist¶lg). 154 Theodoros lässt sich nur dort in das philosophische Gespräch hineinziehen, wo Sokrates ihm versichert, dass er lediglich zu Fragen seines Fachgebiets Rede und Antwort stehen soll. (Tht. 169a)
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an der sinnlichen Anschauung orientierte mathematisch-naturwissenschaftliche Denken hinaus in den Bereich des reinen Denkens, wo die Dialektik untersucht, was jegliches selbst ist. (R. 533b, d; Tht. 146b) Theaitetos beweist dadurch seine eingangs festgestellte Ähnlichkeit mit Sokrates, die weit mehr auf einer geistigen Verwandtschaft beruht als auf der äußeren Ähnlichkeit beider. (Tht. 144d f., 145b) Er erscheint als verjüngter Sokrates, der moralische Qualitäten ebenso mitbringt wie eine hohe intellektuelle Begabung, aber vor allem auch ein kritisches Fragen, das vor den vermeintlich gewissen Hypothesen und Voraussetzungen des eigenen Denkens und der eigenen Wissenschaft nicht halt macht. Er ist der geborene Dialektiker, der mit Überlegungen zu den Grundlagen des Wissens schwanger geht, die nur darauf warten, im philosophischen Gespräch entbunden zu werden.155 Der Philosophen-Exkurs unterscheidet also in doppelter Hinsicht zwischen denen, die in der Öffentlichkeit als Philosophen gelten, aber in Wirklichkeit höchst unterschiedliche Dinge betreiben. (Tht. 172c4, 9, 173c7, 174b1) Die erste Unterscheidung trennt die freien Wissenschaftler und Philosophen von den unfreien Rhetoren. Die zweite trennt innerhalb des Chors der Freien die Philosophen von den Mathematikern und Naturwissenschaftlern, die Freunde des inneren Ideenhimmels von den Bewunderern des äußeren Sternenhimmels.156 Während letztere in ihrem Denken durch Analogien der Wahrnehmungswelt verhaftet bleiben, wagen sich erstere durch Betrachtung der sittlichen und epistemischen Allgemeinbegriffe in den Bereich des dialektischen Denkens und des reinen Logos vor. Erst hier findet die Philosophie die ihr wesensgemäßen Inhalte und Betätigung.
4.4.
Philosophie als Flucht »von hier nach dort« und Angleichung an Gott
Die Entgegensetzung von Knechten und Freien im Philosophen-Exkurs folgt keiner soziologischen Einteilung, sondern einer ontologischen Unterscheidung. Zwei Grundmuster der Wirklichkeit gibt es nach Sokrates: zum einen das Göttliche, in welchem die größte Glückseligkeit zu finden ist, und zum anderen das Ungöttliche, in dem größtes Unglück herrscht (paqadeicl²tym … 1m t` emti 2st¾tym, toO l³m he¸ou eqdailom´statou, toO d³ !h´ou !hkiyt²tou, Tht. 176e). Da 155 Zum unterschiedlichen geistigen Horizont von Theodoros und Theaitetos vgl. Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 99 – 109. Kritisch zu den philosophischen Ambitionen von Theodoros äußert sich auch Vlastos, Elenchus and Mathematics, 152. Dixsaut sieht dagegen nur einen graduellen Unterschied zwischen den Dialogteilnehmern. (Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 297) 156 Der Philosophen-Exkurs ist ein Beispiel für eine kunstvoll in Szene gesetzte Dihairese, die mit dramaturgischen Mitteln arbeitet statt mit analytischen wie in Sph. 218e – 221c.
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die ungebildete Menge und die unfreien Künste in ihrer Wirklichkeitswahrnehmung auf die menschliche Welt und die sterbliche Natur mit ihrem ständigen Wechsel von Gut und Böse fixiert sind, können sie dem menschlichen Elend und Unglück nicht entgehen, das mit Notwendigkeit aus dem Bösen als konträrem Gegensatz des Guten folgt. (Tht. 176a) Die Menschen in Wissenschaft und Philosophie hingegen beweisen ihre Freiheit gegenüber den Wechselfällen des Lebens, indem sie sich nach dem göttlichen und unveränderlichen Sein ausrichten. Dort hat das Böse keinen Platz, weil Gott in keiner Hinsicht ungerecht sein kann (He¹r oqdal0 oqdal_r %dijor).157 Wer dem Unglück entrinnen will, muss folglich danach streben, schnellstmöglich »von hier nach dort« zu fliehen (wqµ 1mh´mde 1je?se ve¼ceim fti t²wista): aus der veränderlichen Welt mit den Wechselfällen des Lebens zur unveränderlichen Welt des göttlichen Seins.158 (Tht. 176a-c) Dahin geht alles Streben des Philosophen. Allein in der göttlichen Welt ist Beständigkeit des Guten und also Glückseligkeit zu finden. Die Flucht dorthin ist eine Angleichung an Gott, so weit es möglich ist; Angleichung aber bedeutet, mit Einsicht gerecht und fromm zu werden (vucµ d³ blo¸ysir he` jat± t¹ dumatºm7 blo¸ysir d³ d¸jaiom ja· fsiom let± vqom¶seyr cem´shai, Tht. 176b).159 Mit dem Motiv der Flucht spielt Sokrates auf Protagoras an, der die »Flucht zur Philosophie« angemahnt hatte. (Tht. 168a) Jetzt bekommt diese Flucht ihre richtige Bedeutung. Für Protagoras war der Sophist das menschliche Vorbild, dem sich der Schüler angleichen sollte. Hier aber ist es die göttliche Welt, das Gute selbst, das zum Vorbild und Maßstab wird. Allein daran hat sich alles Erkennen und Reden auszurichten. Und nur von daher gewinnt das philosophische Gespräch auch seine Freiheit gegenüber äußeren Zwängen und richtenden Instanzen. Zunächst hatte es den Anschein, als würde Sokrates den konventionellen Sprachgebrauch teilen, wonach sowohl die Redner, als auch alle, die sich mit mathematischen Disziplinen beschäftigen, Philosophie treiben. (Tht. 143d, 172c f.) Jetzt aber wird deutlich, dass jemand nur dann als Philosoph 157 Zum »Gutsein Gottes« und Gott als Ursache alles Guten unter Ausschluss des Schlechten als einer »genuin Platonischen Auffassung« s. Bordt, Platons Theologie, 18, 86 – 89, 95 – 98, 127 – 133. 158 Zur Wendung »von hier nach dort« siehe auch S. 286, 296, 299, 304. 159 Der Ausdruck »Angleichung an Gott« (blo¸ysir he`) zielt, obwohl er im Singular steht, nicht auf einen bestimmten, individualisierten Gott, sondern bezieht sich generalisierend auf die Gattung der Götter, die auch im unmittelbaren Kontext in Tht. 176a genannt werden (zum generalisierenden Gebrauch des Substantivs heºr s. Bordt, a. a. O., 56 f. u. Anm. 11). Nach Bordt vertritt Platon einen »Henotheismus«, d. h. einen gemäßigten Monotheismus, bei dem ein oberster Gott als Urbild der vielen Götter fungiert. Dessen Göttlichkeit ist wesentlich durch seine Gutheit und Unveränderlichkeit charakterisiert (a. a. O., 81, 90 – 93), während die Gutheit der Götterwelt abbildhaft von diesem obersten Gott herrührt. Der Ausdruck »Angleichung an Gott« bekommt somit über das Urbild-Abbild-Verhältnis innerhalb der Götterwelt die Bedeutung, dass das Gute, welches das oberste Prinzip der Götterwelt ist, auch das oberste Prinzip und Ziel der homoiosis theo des Menschen ist.
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Das philosophische Gespräch
gelten kann, wenn er wie der junge Theaitetos zu den unveränderlichen Voraussetzungen und Grundlagen der Wissenschaften, zu den Ideen und insbesondere zum göttlich Gerechten und Guten durchdringt und daran Maß nimmt. So wird die sokratische »Flucht zur Philosophie« zu einem Weg der Angleichung an Gott.160 Die Aufforderung zur Angleichung an Gott, die homoiosis theo, bildet den Abschluss des Philosophen-Exkurses. Eine entsprechend programmatische Bedeutung hat dieser Ausdruck für das Verständnis der Philosophie. Denn weil sich das menschliche Erkenntnisvermögen (vqºmgsir) in einem Prozess der Umwandlung dem Paradigma angleicht, auf das es gerichtet ist, wird der Mensch dem ähnlich, womit er umgeht, im Guten wie im Bösen. (Tht. 176e f.) Wer also auf das göttlich Gerechte sieht, wird gerecht, wer auf das Gute, über den verliert das Böse die Macht; wer sich dem Unveränderlichen zuwendet, erfährt seine Freiheit gegenüber den Wechselfällen des menschlichen Lebens.161 Darin besteht die Angleichung des Philosophen an das göttliche Paradigma der werthaften Ideen, die Höhepunkt und Vollendung des philosophischen Strebens sind.162 Die Freiheit des Menschen beweist sich in der Wahl des ontologischen Paradigmas, aber die Umwandlung selbst, das ist die noetische und ethische Ähnlichkeit des Menschen mit dem göttlichen Paradigma des Guten und Gerechten, ist dessen Wirkung. 160 Zur Angleichung an Gott als Ideenerkenntnis vgl. Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 243 – 247. 161 Zur Wirkung des göttlichen Paradigmas auf den Menschen vgl. R. 500c f. und S. 321: »Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geordneten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Menschen möglich ist.« (Üb. Schl.); vgl. weiter R. 613a f.; Ti. 47b f., 90d und S. 172 ff. 162 Zur Göttlichkeit der Ideen vgl. Phdr. 246d f., Smp. 211e. Die herausragende Bedeutung der Ideen für Platons Philosophie wird mit Blick auf die späten Dialoge von der Forschung öfters bestritten; siehe a. Anm. 151. Dixsaut weist aber zu Recht darauf hin, dass es nur vordergründig so scheint, als ob in den Spätdialogen die Ideenkonzeption der Mitteldialoge und insbesondere der Politeia aufgegeben oder grundlegend verändert würde. (Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 135) Gerade der Philosophen-Exkurs im Theaitetos macht deutlich, dass Platon Allgemeinbegriffen wie »Mensch«, »Gerechtigkeit« oder dem »Guten« Ideenstatus zuschreibt. Dabei ist das Gute weiterhin das alles bestimmende Prinzip der göttlichen, intelligiblen Welt. Die bipolaren wichtigsten Gattungen Sein/Nicht-Sein, Einheit/Vielheit, Ruhe/Bewegung sind dagegen formale Ideen, Bedingungen des Denkens, welche die inhaltlichen, paradigmatischen Ideen nicht negieren, sondern ihre Erkenntnis und Beschreibung ermöglichen. Kranz weist in ihrer Diskussion der l´cista c´mg im Sophistes auf die zentrale Bedeutung der Ähnlichkeit (bloiºtgr) als Mittelglied zwischen Selbigkeit und Andersheit für die Dihairesen hin. Das gelte auch für die dramaturgischen Einteilungen im Theaitetos. (Kranz, Das Wissen des Philosophen, 69 u. 86) Den Bogen von der bloiºtgr zur blo¸ysir he` des Philosophen schlägt Kranz jedoch leider nicht, obwohl er sich aufdrängt. Die Ähnlichkeit des Philosophen mit der göttlichen Welt zeigt sich in der Abkehr vom Schlechten und Veränderlichen, dem Anderen, und der Hinwendung zum göttlich Guten und Unveränderlichen, dem Selbigen, in seiner »Flucht von hier nach dort«. Vgl. Tht. 176b-e.
III. Das philosophische Leben
Überblick In der Apologie muss sich Sokrates vor den Richtern in Athen für seine philosophischen Gespräche verteidigen. Angeblich hat er damit der Jugend ein schlechtes Vorbild gegeben und sie verdorben. Es zeigt sich aber bald, dass Sokrates seine Verteidigungsrede zum Anlass nimmt, nicht nur über die Meinungen, die er in diesen Gesprächen hinterfragt oder vertreten hat, Rechenschaft abzulegen, sondern vor allem auch über seine philosophische Lebenshaltung und sein Selbstverständnis. Nicht nur Thesen müssen geprüft und gegebenenfalls widerlegt werden. Auch das Leben selbst mit seinen Werten und Zielen muss einem elenchos unterzogen (didºmai 5kecwom toO b¸ou, Ap. 39c) und entsprechend revidiert werden. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Und da liegt das eigentliche Ärgernis für die Athener, weshalb sie ihn vor Gericht zerren. Denn diese Selbstprüfung ist keine persönliche Marotte von Sokrates, wie er unter Berufung auf das Delphische Orakel deutlich macht. Vielmehr ist sie Aufgabe eines jeden Menschen, der ein gutes Leben führen will. Das ist die Botschaft. Die Apologie gibt also Einblick in Motivation und Ziel des sokratischen Philosophierens. Sokrates muss sich gegen die Vorurteile verteidigen, die das Volk allen Philosophierenden gegenüber hat. Es unterstellt ihnen Gottlosigkeit und Unruhestiftung. Der Ausdruck »die Philosophierenden« steht dabei pauschal für die Denker der griechischen Aufklärung. Denn Kosmologen und Sophisten verbindet ihr kritisches Verhältnis gegenüber traditionellen Denkgewohnheiten und Erklärungsmustern. Darum ist es keineswegs abwegig, dass auch Sokrates ihnen zugerechnet wird. Allerdings richtet sich seine Kritik auch gegen die Aufklärung selbst, weil ihre Vertreter sich über die Ziele ihrer naturwissenschaftlichen Forschungen oder die Möglichkeiten und Grenzen ihrer erzieherischen Methoden keine Rechenschaft ablegen. Sie wissen nicht, wozu das gut ist, was sie tun, und vor allem, wie man ein guter, tüchtiger Mensch wird. Das ist
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Das philosophische Leben
aber das zentrale Anliegen von Sokrates, und diesem Ziel dient sein Philosophieren. Der Delphische Orakelspruch, der besagt, dass kein Mensch weiser ist als Sokrates, markiert einen Wendepunkt im Selbstverständnis von Sokrates. Sein persönlicher Forschungsdrang bekommt dadurch eine anthropologische Deutung. Denn die Einsicht, dass er selbst nichts weiß, hätten die Athener ihm nicht übelgenommen. Aber das erzwungene Zugeständnis, dass sie auch nichts wissen, vor allem nicht, was für sie selbst oder die Stadt gut ist, das erregt ihren erbitterten Widerstand. Dabei hat Sokrates nichts anderes getan, als mit ihnen zu philosophieren, das heißt, ein prüfendes Gespräch zu führen. Dazu dient ihm der Spruch der delphischen Pythia wie eine These in einem elenchos: Niemand ist klüger als Sokrates. Diese Behauptung versucht er durch eine Gegenthese zu Fall zu bringen: Dieser Mensch, mit dem ich mich gerade unterhalte, ist klüger als ich. Gelänge ihm die Verifikation dieser zweiten These, wäre der Spruch der Pythia widerlegt. Aber Sokrates muss erkennen, dass alle, die er befragt, entweder gar nichts Rechtes wissen; oder sie sagen zwar Schönes und Gutes, können aber keine Rechenschaft darüber ablegen und verfügen also nicht über wirkliches Wissen; oder sie wissen zwar einiges, aber bilden sich darum fälschlicherweise ein, überall Bescheid zu wissen. Diese Selbsttäuschung deckt er auf, zumal die Menschen sich nicht eingestehen, dass sie nicht wissen, was das Wichtigste im Leben ist. Sokrates ist also kein grundsätzlicher Skeptiker, auch wenn sein Selbsturteil, dass er weder viel noch wenig weiß, oft dahingehend missverstanden wird. Sokrates fragt nach der dem Menschen möglichen und angemessenen Einsicht in das Gute, das die Handlungen des Menschen leitet. Dieses prüfende Fragen wird für ihn zur Lebensaufgabe. Das zeigt sich beispielhaft an der Bewertung des Todes. Während die meisten Menschen den Tod für ein Übel halten, gesteht Sokrates sein Nichtwissen in dieser Frage und rechnet auch mit der Möglichkeit, dass der Tod ein Gut sein könnte. Weil er darüber nichts Sicheres weiß, wird er sich auch nicht aus falscher Todesfurcht zu Handlungen verleiten lassen, die schlecht sind. In dieser Weise ist das sokratische Nichtwissen handlungsleitend. Dieses unablässige Fragen, Suchen, Prüfen und Streben nach dem Wissen um das Gute nennt Sokrates Philosophieren. Es ist unlösbar verbunden mit der Sorge um die Seele, um ihr Gutsein, ihre Tugend. Die Tugend der Seele aber ist ihr Streben nach Einsicht und Wahrheit statt nach äußeren Gütern wie Geld oder Ruhm. Sein Leben philosophierend zu führen, heißt darum für Sokrates, sich selbst und andere auszuforschen, ob sie wirklich wissen, was für sie und für die Stadt gut ist. Darin unterscheidet sich Sokrates von den anderen Denkern der Aufklärung, den gemeinhin so genannten »Philosophierenden«. Denn ein Leben ohne diese Art der Selbstprüfung ist für ihn nicht lebenswert. Solange er lebt,
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wird Sokrates deswegen auch unter größten Bedrohungen nicht aufhören zu philosophieren. Das beweist er mit seiner Apologie vor Gericht, wo er nicht aus Angst vor dem Tod seinen inneren Auftrag verrät und von seinen prüfenden Gesprächen nicht ablässt. Denn nach seiner Überzeugung lebt die Seele nur, wenn sie philosophiert. Der Dialog Gorgias trägt den Untertitel »Über die Rhetorik«. Aber in den ersten beiden Gesprächsrunden von Sokrates mit dem Sophisten Gorgias und seinem Schüler Polos ist von Philosophie nicht die Rede. Das ist insofern bemerkenswert, als die rechte Art der Unterredung, das dialegesthai, das bei Sokrates ein terminus technicus für das philosophische Gespräch ist, durchaus thematisiert wird. Erst mit dem Auftreten des Machtpolitikers Kallikles wird das Philosophieverständnis ausdrücklicher Gegenstand einer scharfen, kontroversen Diskussion. Anlass dafür ist die Frage, wie man richtig lebt und größtmögliches Glück erwirbt. Dabei vertritt Kallikles unverhohlen eine hedonistische Auffassung vom guten Leben. Für ihn besteht die Aufgabe der Philosophie in der Einübung politischer Rhetorik zum Zweck grenzenloser Bedürfnisbefriedigung. Sokrates hält dagegen, dass die Aufgabe der Philosophie die Sorge um die Seele sei, weil nur die Tugend Glück und gutes Leben gewährleistet. Darum steht die Philosophie für ihn gerade nicht im Dienst hemmungsloser, ungeprüfter Bedürfnisbefriedigung, sondern verhilft im Gegenteil zur Bedürfnislosigkeit gegenüber äußeren Gütern. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Kritik an der allgemeinen Lebensführung, die nicht von der Vernunft geleitet wird. Die Philosophie als eine Form der Selbstprüfung und Selbsterkenntnis, wie wir sie im Protagoras und in der Apologie kennen gelernt haben, wird hier aus ethischer Perspektive zu einer Übung der Selbstbeherrschung und Besonnenheit. Die Botschaft an den Politiker Kallikles lautet: Nur wer in der Lage ist, über sich selbst zu herrschen, ist auch in der Lage, über den Staat zu herrschen. Zunächst jedoch erhält ausgiebig Kallikles das Wort. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen Sokrates, weil dieser bis ins hohe Alter immer noch Philosophie treibt und sein ganzes Leben hindurch mit wenigen Knaben Privatgespräche führt. Gegen diese Winkelphilosophie fordert Kallikles das politische Engagement, das den freien Bürger auszeichnet. Kallikles legt hier ein Philosophieverständnis zugrunde, wie es weite Teile der attischen Gesellschaft teilen. Danach umfasst die Philosophie eine begrenzte Zeit des Rhetorikstudiums in der Jugend im Anschluss an die traditionellen Grundlagenfächer. Diese Studienzeit ist für die gesellschaftstragende Schicht ein Freiraum, bevor der Ernst des Lebens, nämlich das Engagement in der Politik, beginnt. Die dabei erworbenen rhetorischen Kenntnisse sind später im politischen Geschäft hilfreich, um die eigenen Interessen und die seiner Freunde und Parteiungen wirkungsvoll vertreten und durchsetzen zu können. Wer aber im Alter immer noch philosophiert,
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Das philosophische Leben
ist entweder begriffsstutzig oder will nicht lernen und entzieht sich der politischen Verantwortung. So ein ewiger Student macht sich nicht nur lächerlich, er verdient auch Strafe, weil er mit seinen ständigen Prüfungen und Widerlegungen die Jugend verunsichert und verdirbt, indem er deren naturgemäße Teilnahme an den Regierungsgeschäften durch Zweifel und Bedenken verhindert. Die kritische Botschaft von Kallikles an den ewigen Studenten Sokrates lautet darum: Etwas Philosophie ist schön und gut, zumindest als spielerischer Freiraum in der Jugend. Zuviel davon verdirbt jedoch den Charakter und macht lebensuntüchtig. Die Ansichten und Einwände, die Kallikles hier vorträgt, sind auf den ersten Blick nicht ganz abwegig, zumindest unter der Maßgabe, dass Philosophie den Erwerb politischer Sprachkompetenz meint. Sie haben für die meisten Menschen eine hohe Plausibilität. Dennoch verbirgt sich dahinter eine grundsätzliche Verweigerung gegenüber dem praktischen Anspruch der Vernunft auf die Art der Lebensführung. Das wird deutlich an dem Gegensatz von Natur und Sitte, den Kallikles postuliert. Mit dieser Physis-nomos-Antithese begründet er, dass die Erziehung die natürliche Begabung eines jungen Menschen, die auf Durchsetzung und Selbstentfaltung angelegt ist, überformt und durch Konventionen fesselt. Während die Masse der Schwachen davon profitiert, weil sie sich dann gegenüber starken Naturen durchsetzen kann, werden die Besseren und Edleren unter das nivellierende Joch des Gesetzes und des Gemeinwohls gezwungen. Das sei aber der Natur nach Unrecht, wie man bei den Tieren sieht, denn der Bessere und Stärkere habe ein Anrecht darauf, mehr zu haben als andere. Kallikles verfolgt mit dieser Argumentation das Ziel, die pleonexia zu rechtfertigen, die ungehemmte Entfaltung der Begierde im privaten wie im politischen Leben. Eine Philosophie, die darauf besteht, Widersprüchlichkeiten im Denken und Handeln aufzuspüren, ist dabei kontraproduktiv. Darum ist ihm daran gelegen, eine lebenslange Selbstprüfung als leeres Geschwätz zu desavouieren. Gegen die Auffassung von Philosophie als Spracherwerb und Ermöglichung einer unrestriktierten Machtpolitik im Dienst der pleonexia polemisiert nun seinerseits Sokrates. Er macht an verschiedenen Bildworten deutlich, dass die Fixierung auf die unersättlichen, körperlichen Begierden als Motivation für das Handeln tatsächlich nichts anderes als ein tierisches Leben zur Folge hat. Die Seele als Träger der menschlichen Vernunft ist dann im Leib gebunden wie in einem Grab. Diese Art leiblicher Existenz gleicht der Schattenexistenz im Totenreich mitsamt den Unterweltstrafen, wenn der Mensch in einem sinnlosen, nie endenden Tun versucht, Sättigung und Erfüllung seiner Begierden zu finden. Jeder, der nur ein wenig Vernunft hat, ist nach Sokrates darum vor die Entscheidung gestellt zwischen einem Leben unter der Herrschaft der körperlichen Begierden und einem Leben gemäß der in der Seele wohnenden Vernunft. So-
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krates rekurriert damit auf das alte Motiv der Lebenswahl zwischen Tugend und Laster. Denn die sittliche Frage, wie man leben soll, ist eine spezifisch menschliche, vernunftgeleitete Frage. Das Tier hat diese Frage nicht. Sich dessen bewusst zu werden und darüber Rechenschaft abzulegen, ist das Anliegen der Philosophie, wie Sokrates sie versteht. Dennoch macht diese Philosophie keineswegs lebensuntüchtig, wie Kallikles unterstellt, sondern ermöglicht erst ein gutes, glückliches Leben. Auch besteht kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Politik und Philosophie, obwohl die Lebenswahl, die Sokrates aufzeigt, das auf den ersten Blick nahe legt. Aber die Entscheidung fällt nur zwischen einer falschen Art, Politik zu treiben, und der richtigen Weise, sein Leben an der Philosophie auszurichten. Wenn nämlich die Seele lebt – was ja das Ziel der Philosophie ist – und nicht durch körperliche Begierden gefangen wird, kann sie im Menschen herrschen und auf eine gute, vernünftige Ordnung aller Kräfte einschließlich der körperlichen Begierden hinwirken. Das ist der Sinn der Selbstbeherrschung. Entsprechendes gilt auch im Großen für die polis. Aus genau diesem Grund betrachtet sich Sokrates als den einzig wahren Politiker Athens, weil er mit seiner Philosophie auf die Vernunftorientierung der Bürger hinwirkt und nicht wie alle anderen der politischen Maßlosigkeit und den Großmachtallüren das Wort redet. Denn der vernünftige Mensch begnügt sich damit, »das Seinige zu tun« und nicht in Vielgeschäftigkeit aufzugehen, im privaten wie im öffentlichen Leben. Der Ausdruck »das Seinige tun« ist aus der Politeia gut bekannt. Er definiert dort die Tugend der Gerechtigkeit. Das Seinige zu tun statt sich um alles Mögliche und Unmögliche zu kümmern, was nicht zur eigenen Aufgabe und Notwendigkeit gehört, bewirkt also Besonnenheit im persönlichen Leben und Gerechtigkeit im Staat. Der Lohn eines solchen vernunftgeleiteten, philosophischen Lebens ist darum die Glückseligkeit. Im Spätdialog Timaios geht es noch einmal um den Zusammenhang von Philosophie und gutem Leben, genauer : um das bestmögliche menschliche Leben in Nachahmung des vollkommenen, göttlichen Lebewesens, nämlich des Kosmos. Der Timaios ist Teil der unvollendet gebliebenen Trilogie Timaios, Kritias, Hermokrates. Sokrates hatte in der Begegnung mit Freunden das Bild eines idealen Staats entworfen, das er nunmehr kurz rekapituliert. Da er den Wunsch äußert, dieses Bild zum Leben zu erwecken und von Realisationen des Ideals zu erfahren, sagen die Freunde zu, aus ihrem jeweiligen Erfahrungs- und Kenntnishorizont dazu beizutragen. Mit Timaios kommt der Naturwissenschaftler zu Wort, der den Ursprung des Kosmos und der Menschheit behandelt. Darauf aufbauend will Kritias die Staatsgeschichte darstellen, von der er im Timaios eine erste Skizze gibt, die dann im Dialog Kritias vertieft werden soll. Hermokrates würde den politischen Part vertreten, wenn er denn ausgeführt wäre. Doch ein Dialog Hermokrates ist nicht überliefert. Diese drei Redner re-
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präsentieren die Auseinandersetzung Platons mit den neuen empirischen Wissenschaften: mit Naturwissenschaft, Geschichtsschreibung und Politik. Während die platonische Dialektik die Wissenschaft vom unveränderlichen Sein ist, gehören die Gegenstände dieser Wissenschaften zur veränderlichen Welt des Werdens. Zu Beginn gibt Sokrates eine Zusammenfassung des Staatsideals, aus der deutlich wird, dass Natur und Erziehung der Wächter von entscheidender Bedeutung für das guten Leben im Staat sind. Die Staatswächter sollen eine besondere natürliche Begabung des philosophischen wie des mutigen Seelenteils mitbringen, die dann durch entsprechende Übungen weiter ausgebildet wird. Dabei fördern Musik die philosophische Veranlagung und Gymnastik die mutige. Dieses Zusammenspiel von Naturbegabung, physis, und Erziehung, trophe, ist Voraussetzung für die Bewährung der Wächter im Staat. Man könnte es in Replik auf die Physis-nomos-Antithese von Kallikles im Gorgias die Physistrophe-These von Sokrates nennen. Denn Kallikles hatte unterstellt, dass die Erziehung die natürliche Veranlagung zur Herrschaft schwächt und untergräbt. Sokrates will nun umgekehrt hören, wie sich gute Naturveranlagung und Erziehung bei den Staatswächtern »in Wort und Tat« bedingen und bewähren. Seine drei Gesprächspartner scheinen ihm dafür bestens geeignet, da sie den nötigen Erfahrungsschatz mitbringen und, zumindest was Timaios betrifft, bis zur »höchsten Spitze der Philosophie« durchgedrungen sind. Der Philosophiebegriff hat in diesem kurzen Abriss darum eine doppelte Bedeutung: Er bezeichnet zum einen die Naturbegabung der Seele, nämlich den vernünftigen, philosophischen Seelenteil, das logistikon. Zum anderen steht er auch für die Erziehung und Ausbildung dieser natürlichen Veranlagung durch spezifische philosophische Übungen und Wissenschaften, die das vernunftgemäße Denken stärken. Kritias skizziert in seinem kurzen Abriss ein genetisches und ordnungspolitisches Modell, um die herausragenden Leistungen der Athener zu begründen. Dazu beruft er sich auf mythische Überlieferungen, welche die Tüchtigkeit der Athener in der Philosophie, der Kunst und im Krieg auf die Abstammung von ihren Schutzgottheiten Athena und Hephaistos zurückführen. Nach Kritias haben die Ur-Athener aber nicht nur eine ihrem göttlichen Ursprung entsprechende natürliche Begabung auf diesen Gebieten, sondern sie werden auch von den Göttern erzogen, indem sie ihnen göttliche Ordnungen für das Leben der polis geben: die gute Mischung und das Maß. Bei den Athenern kommen also wie verlangt Veranlagung und Erziehung in der Entwicklung der schönsten und besten Menschen zusammen. Doch behauptet Kritias mit der mythologischen Begründung völkische Besonderheiten, wodurch die philosophischen, künstlerischen und kriegerischen Leistungen zu einem exklusiven Merkmal der Athener werden. Da liegt die Grenze seiner Darstellung.
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Diese gedankliche Engführung überwindet Timaios. Er entwirft eine Anthropologie, die in eine Kosmologie eingebettet ist. Dabei dient die Ordnung und Schönheit des Kosmos als Vorbild für das gute Leben. Denn Kosmos und Mensch stehen zueinander im Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos. Sie gehorchen im Wesentlichen den gleichen Prinzipien, die abbildhaft vom Großen aufs Kleine übertragen werden. Um sie zu verstehen, muss man bis zum »Ursprung von allem« zurückgehen, zur Genese der Welt. Diesen Bericht kleidet Timaios ebenfalls in einen Mythos. Danach schaut ein göttlicher Handwerker, der Demiurg, auf ein nur dem Denken zugängliches Lebewesen als auf das göttliche Vorbild und erschafft dabei das vollkommene sichtbare Lebewesen, den Kosmos. Die Elemente dazu entnimmt er den Spuren, welche die Ideen im vorkosmischen Chaos hinterlassen haben, und gibt ihnen eine mathematische Struktur und damit eine erkennbare und gute Ordnung. Denn der göttliche Demiurg ist gut und ohne Neid und will, dass alles ihm, dem Guten, möglichst ähnlich werde. Dieses teleologische Prinzip durchwaltet den Kosmos: eine vernunftgemäße Ordnung, in der alles zum Schönsten und Besten gestaltet ist. Als Träger der im Kosmos waltenden Vernunft erschafft der Demiurg die Weltseele, die ontologisch zwischen dem unveränderlichen, intelligiblen Sein und dem veränderlichen Werden, das der Körperwelt eignet, anzusiedeln ist. Aufgrund ihrer Gestalt, den gleichmäßig rotierenden Kreisen des Selbigen und des Anderen, die den ganzen Weltkörper durchdringen, ist sie das Erkenntnisprinzip des Kosmos. Der Kosmos ist also ein beseeltes und vernunftbegabtes Lebewesen aus Weltkörper und Weltseele. Weil die Bewegungen der Weltseele durch die Sterne, die der Demiurg auf ihren Kreisen befestigt hat, sichtbar sind, können die Menschen in der Betrachtung der Himmelsbewegungen eine Vorstellung von der guten Ordnung gewinnen, die dem Kosmos zugrunde liegt. Denn der Demiurg hat der unsterblichen menschlichen Vernunftseele die gleiche Struktur gegeben wie die Weltseele und sie gehorcht denselben Prinzipien. Als dem Göttlichen verwandt, kann sie darum Göttliches erkennen. Durch die Inkorporation in einen sterblichen Leib erfährt die unsterbliche Vernunftseele jedoch eine fundamentale Krise, in deren Folge sie ihre natürliche Erkenntnisfähigkeit verliert. Mit Hilfe einer Wahrnehmungstheorie erklärt Timaios, wie durch Sinneseindrücke die Denkbewegung der Seele überlagert wird und Irrtum und Unvernunft in ihr entstehen. Dennoch kann die Vernunftseele aufgrund ihrer unverlierbaren Natur und einer geeigneten Erziehung die ursprüngliche Erkenntnisfähigkeit wiedererlangen. Dabei spielt die Philosophie die entscheidende Rolle. Indem der Seele geeignete Nahrung zugeführt wird, die trophe, findet sie zur ordnungsgemäßen Richtigkeit des Denkens zurück. Am vollkommensten sind die gleichmäßigen Bewegungen der Weltseele, die am Sternenhimmel sichtbar werden. Indem der Mensch sie betrachtet und sich ihre Gesetzmäßigkeiten erschließt, erkennt er die ihm verwandten und naturhaft
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eignenden Denkstrukturen wieder. Eine ähnliche Wirkung haben musikalische Harmonien auf die Seele. Auch sie können die dem Kosmos zugrunde liegenden harmonischen Proportionen vermitteln. Musik, Astronomie und die anderen mathematischen Fächer sind darum die besten Mittel zur Erziehung der Vernunftseele. Indem die menschliche Seele die Denkbewegung der göttlichen Weltseele mitvollzieht, ahmt sie diese nach. Die Betrachtung des Kosmos und die Erkenntnis seiner Gesetzmäßigkeiten sind darum eine Form der Angleichung an Gott. Doch nur die wenigsten Menschen, nämlich die Philosophen, machen angemessenen Gebrauch von diesen philosophischen Übungen. Die meisten verweigern sich, indem sie der Sinnenwelt verhaftet bleiben. Die Folge ist eine stufenweise Degeneration in einer Reihe von Wiedergeburten, bei denen Unvollkommenheit und Unvernunft zunehmen. Die Anthropologie des Timaios verortet den Menschen aufgrund seiner Naturveranlagung, seiner unsterblichen Vernunftseele und dem sterblichen Körper, zwischen den gänzlich vernunftgeleiteten Göttern und den von ihrem unvernünftigen Seelenteil getriebenen Tieren. Wohin er sich entwickelt, ob er zu den Göttern aufsteigt oder zum Tier wird, unterliegt in entscheidendem Maß der Lebensführung und Erziehung, der trophe. Weil aber im Kosmos, angefangen vom Sternenhimmel bis hinab zum Leib, alles zum Besten geordnet ist, ist dem Menschen ein Leben im Einklang mit den Gesetzen des Kosmos, mit Maß und Ordnung auch grundsätzlich möglich. Darauf zielt die Philosophie. Die Regel lautet, dass nichts im Übermaß geschehen darf, weder körperliche Betätigungen noch geistige Übungen. Denn aus der Einseitigkeit folgen zwangsläufig Krankheiten. Wer intensiv wissenschaftliche Studien betreibt, soll darum zum Ausgleich Sport treiben, um den mutigen, eifrigen Seelenteil zu stärken. Umgekehrt müssen sich stark körperlich veranlagte Menschen auch mit Musik und Philosophie beschäftigen und dadurch die Erkenntnisfähigkeit der Vernunftseele und den Sinn für Ordnung und Verhältnismäßigkeit fördern. Die Maxime des Philosophen lautet darum, den Kosmos nachzuahmen, um richtig zu leben. Denn der Kosmos in seiner harmonischen Einheit von Weltseele und Weltkörper ist Maßstab für das gelingende menschliche Leben. Auch der Mensch ist nur dann gesund und kann richtig denken, wenn das Verhältnis von Seele und Leib ausgewogen und harmonisch ist. Dann wird sein Denken zu einer »Symphonie«, und er ist im Einklang mit sich selbst. Philosophie umfasst also weit mehr als ein wissenschaftliches Studium. Es ist die Einübung in ein vernunftgeleitetes Leben in Nachahmung des göttlichen Vorbildes, des schönen und guten Kosmos.
Apologie: Philosophie ist Sorge um die Seele
1.
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Apologie: Philosophie ist Sorge um die Seele Solange ich atme und dazu in der Lage bin, werde ich gewiss nicht aufhören zu philosophieren. (ja· 6yspeq #m 1lpm´y ja· oXºr te §, oq lµ pa¼sylai vikosov_m, Ap. 29d, Üb. B.S.)
Dieses Selbstzeugnis von Sokrates vor den Athener Bürgern und Richtern, die ihn bald darauf zum Tod verurteilen, kann als Überschrift über Leben und Wirken dieses ungewöhnlichen Mannes stehen, an dem sich schon zu Lebzeiten die Geister schieden. Sahen die einen in solchen Äußerungen eine Bestätigung der Hybris und Uneinsichtigkeit eines Exzentrikers und Verführers der Jugend, (Ap. 23c, 29c, 33c f.) bestätigte sich für die anderen darin ein letzter, heiliger Ernst des besten und auch sonst einsichtigsten und gerechtesten Mannes. (Phd. 118a) Zweifelsohne hat sich die Hoffnung der Ankläger zerschlagen, dass mit dem Tod von Sokrates auch das Ärgernis aus der Welt geschafft sei, das ihre Anschuldigungen provoziert hatte, nämlich die Forderung, sich über sein Leben Rechenschaft abzulegen. (Ap. 39c) Vielmehr bewahrheitete sich die Prophezeiung, dass andere ihm nacheifern und nunmehr statt seiner die Menschen prüfen werden. (Ap. 39d) So sind die Erzählungen um die Verurteilung und den Tod von Sokrates zu Gründungsurkunden der Philosophie geworden und Sokrates zum »Schutzheiligen der Philosophie«.163 Die Dialoge der Sokratiker und insbesondere Platons zeigen Sokrates beständig im philosophischen Gespräch: mit Jungen, mit Alten, in den Gymnasien, auf dem Markt, bei Trinkgelagen und selbst noch in der Todeszelle. Was hat es also mit diesem Philosophieren auf sich, das Sokrates nicht lassen kann, auch wenn er, wie er betont, vielfach dafür sterben müsste? (Ap. 30c) In der Apologie ist an vier Stellen vom Philosophieren die Rede: das erste Mal, als Sokrates den Anklagegrund zitiert, (Ap. 23e) die anderen drei Mal in einem Exkurs, in dem er über sein Leben und Wirken Rechenschaft ablegt. (Ap. 28e, 29c, 29d) Dieser Exkurs bildet zusammen mit der Erzählung vom Orakelspruch aus Delphi die eigentliche Verteidigung gegen das Unverständnis der Menge und die jahrelangen Verleumdungen, denen sich Sokrates ausgesetzt sah. Im Vergleich zu diesem inhaltlichen Schwerpunkt wirkt die Erwiderung auf die gerichtlichen Anklagepunkte wie ein Vorspiel. Sie hat negativen, widerlegenden Charakter ; in der Orakelerzählung, aber vor allem im Exkurs bekommen wir dagegen einen positiven Einblick in Motivation und Ziel des sokratischen Philosophierens und Selbstverständnisses. Es wird sich zeigen, dass ein und dasselbe Verb »philosophieren« hier für grundverschiedene Tätigkeiten und damit verbundene Lebensauffassungen und Wertvorstellungen steht: das eine Mal für 163 »Socrates is the patron saint of philosophy«, Morrison, On the Alleged Reliability of Plato’s Apology, 235.
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Das philosophische Leben
die Forschungen der Kosmologen und den Unterricht der Sophisten sowie deren Wahrnehmung und Bewertung durch die athenische Öffentlichkeit; die anderen drei Mal für die sokratisch-platonische Selbsterforschung und die Sorge um die Seele.
1.1.
Denker der Aufklärung
Alle genannten Parteien stehen miteinander in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Jugend. Auf ihr liegt nach dem katastrophalen Zusammenbruch Athens infolge des Peloponnesischen Krieges und der moralisch vielleicht noch zersetzenderen Gewalt- und Willkürherrschaft der dreißig Oligarchen die Hoffnung der sich seit 403 v. Chr. neu konsolidierenden Demokratie. Ängstlicher als zu früheren Zeiten mögen daher die politisch Verantwortlichen oder diejenigen, die sich dafür halten wie die aktuellen Ankläger Meletos, Anytos und Lykon, darüber wachen, dass ihr Einfluss auf die jungen Leute und auf die traditionellen Werte nicht hinterfragt und ihre Autorität nicht untergraben wird.164 So ist der Vorwurf, jemand verdürbe die Jugend, schnell bei der Hand.165 Nun macht sich Sokrates in ihren Augen dadurch verdächtig, dass ihn junge Männer aus den besten Häusern umgeben, die aufgrund ihres sozialen Status genügend Zeit und Muße haben, den Diskussionen zu folgen, in die er jeden verwickelt, der sich darauf einlässt.166 (Ap. 23c) Mit Vorliebe wendet sich Sokrates jedoch an diejenigen, die sich selbst für klug halten und meinen, etwas zu wissen – nämlich was für die Bürger und die polis richtig und gut ist –, obwohl sie bei genauerem Hinsehen nur wenig oder nichts davon verstehen (oQol´mym l³m eQd´mai ti …, eQdºtym d³ ak¸ca C oqd´m, ebd.). Diese »Opfer« der Gespräche mit Sokrates erinnern sich und haben ein D¦j-vu-Erlebnis: Gehörten nicht auch Alkibiades, Kritias und Charmides zum Kreis um Sokrates und hatten sie nicht als Feldherrn und Oligarchen wesentlich daran teil, dass Athen nun am Boden liegt, weil sie nicht das Wohl der Stadt, sondern nur ihr eigenes suchten?167 Wenn jetzt junge Männer aus eben diesen alten, einflussreichen Familien 164 Brisson vermutet, dass trotz des Asebievorwurfes gegen Sokrates weniger ein Klima religiöser Intoleranz Grund der Anklage war, als vielmehr politisches Misstrauen aufgrund der instabilen politischen Situation um die Jahrhundertwende. (Brisson, Apologie de Socrate, 44 – 52; 58 – 65) 165 Zum Topos »die Jugend verderben« siehe Ap. 23d, 24b-d, 25a, b, d, 26a, b, 30b, 33d, 34a sowie Isokrates, Antidosis, XV 175 u. 243, und Xenophons Memorabilien, I 1,1, u. I 2,1, und S. 34 f. 166 Siehe dazu die Aufzählung der beim Prozess Anwesenden, wo auch Platon Erwähnung findet. (Ap. 33e f.) 167 Vgl. X. Mem. I 2,12: »Aber, so sagen die Ankläger, sowohl Kritias wie Alkibiades, die mit Sokrates vertrauten Umgang hatten, haben dem Staat größten Schaden zugefügt. Denn
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sich wieder um Sokrates scharten, drohte sich dann nicht das gleiche Desaster zu wiederholen?168 In einer Situation politischer Instabilität und Demütigung herrscht ein restriktiveres Klima und größeres Misstrauen als noch zu Zeiten, da Athen im Vollbesitz seiner Macht war. So ist es nachvollziehbar, dass Sokrates erst 399 v. C. für ein Vergehen angeklagt wurde, das er sich schon jahrzehntelang in aller Öffentlichkeit hatte »zuschulden« kommen lassen, nämlich seine Mitbürger auf ihr vermeintliches Wissen hin kritisch zu befragen. Da kritische Fragen auch im alten Athen keinen Straftatbestand darstellten, befinden sich die Ankläger in Verlegenheit, was sie Sokrates anlasten können. Damit sie aber nicht verlegen erscheinen, sagen sie das, was man gewöhnlich gegen alle, die philosophieren, vorbringt, nämlich: »das am Himmel und unter der Erde« und »nicht an die Götter glauben« und »das schwächere Argument zum stärkeren machen«. (Vma d³ lµ doj_sim !poqe?m, t± jat± p²mtym t_m vikosovo¼mtym pqºweiqa taOta k´cousim, fti ›t± let´yqa ja· t± rp¹ c/r‹ ja· ›heo»r lµ mol¸feim‹ ja· ›t¹m Ftty kºcom jqe¸tty poie?m‹, Ap. 23d, Üb. B.S.)
Die Ankläger machen sich also nach Sokrates die pauschalen Vorurteile zunutze, die im Volk gegen die kritischen Denker der griechischen Aufklärung des 5. Jh. v. Chr. verwurzelt sind. Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese Intellektuellen Naturforschung betreiben wie die Kosmologen, oder ob sie sich wie die Sophisten als Erzieher der Jugend anbieten. Hier wie dort zeichnen sie sich durch einen kritischen Blick auf die traditionellen Welterklärungen oder Wertvorstellungen aus. Wer wie Anaxagoras mit forschendem Blick die Gestirne beobachtete und zu der erstaunlich modernen Auffassung kam, dass die Sonne ein glühender Stein sei, der entmythologisierte dabei durch seine rationalisierenden Erklärungen die Naturphänomene, die früher mythisch gedeutet wurden. Die Sonne wurde damit implizit ihres Götterstatus beraubt.169 (Ap. 26d)Und wer wie der Sophist Protagoras systematisch eine Antilogik entwickelte, eine Argumentationskunst, Kritias war von allen Oligarchen der habsüchtigste, gewalttätigste und mordlustigste, Alkibiades andererseits war von allen Demokraten der zügelloseste, übermütigste und gewalttätigste.« (Üb. Jaerisch) Charmides trifft als Statthalter der Oligarchen in Piräus das gleiche, vernichtende Urteil. Vgl. a. Xen Mem. I 2, 13 – 48. Zum Problem der »evil associates« von Sokrates und zur fiktiven Anklageschrift von Polykrates s. Brickhouse u. Smith, Socrates on Trial, 71 – 87. 168 Da Charmides und Kritias mütterlicherseits Onkel 1. und 2. Grades von Platon waren, lag der Gedanke nahe, dass der Umgang mit Sokrates auch in der nächsten Generation, zu der Platon und seine Brüder gehörten, ähnlich katastrophale Folgen haben könnte wie bei den berüchtigten Oligarchen. 169 Zur Lehre von Anaxagoras vgl. Phd. 97b u. Lg. 967b f. Zum Problem der Historizität des Asebievorwurfs gegen Anaxagoras und zum Diopeithes-Dekret von 433/32 als Präzedenzfall für den Prozess gegen Sokrates s. Heitsch, Apologie des Sokrates, Anm. 37, u. Brisson, Apologie de Socrate, 44 – 46. Brisson sieht die Asebievorwürfe, so sie überhaupt historisch belegt werden können, nur vorgeschoben und politisch motiviert. (Ebd., 52)
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wonach zu jedem Thema Argumente und Gegenargumente vertreten werden können, beherrschte nicht nur die Fähigkeit, bei alltäglichen Problemen ein an sich schwaches Argument in einer Diskussion stark zu machen und vor Gericht und in öffentlichen Versammlungen erfolgreich zu vertreten. Er wird auch sogenannte »letzte Fragen« einer antilogischen Betrachtung unterziehen und konsequenterweise einem Agnostizismus zuneigen, wonach der Mensch zu diesen Fragen nichts Sicheres wissen kann.170 Der im Volk verwurzelte pauschale Asebieverdacht gegen Denker der Aufklärung ist also Folge der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen oder logischen Fragen, durch die herkömmliche Denkgewohnheiten in Frage gestellt werden. Denn für ein Gemeinwesen, dessen Wertvorstellungen durch eine der Menschenwelt parallele Götterwelt garantiert werden, wirken sich kritische Rationalisierungen und skeptische Argumentationen zersetzend aus. Die Götter infrage zu stellen, hieß nicht nur, die Schutzmächte infrage zu stellen, sondern auch die politische Identität und Solidarität, derer sich die polis im gemeinsamen Ritus versicherte.171 Der generalisierende Ausdruck »alle, die philosophieren« ist ein unspezifischer Sammelbegriff für die Denker der Aufklärung, zu denen das Volk auch Sokrates zählt, und das nicht ohne eine gewisse Berechtigung.172 Zwar streitet 170 »Zu Beginn seiner Schrift ›Über die Götter‹ stellte Protagoras fest: ›Über die Götter vermag ich nichts zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch wie sie an Gestalt sind. Denn vieles gibt es, was mich daran hindert, die Nichtwahrnehmbarkeit und die Kürze des Lebens‹ (B 4, c f., A 12)«. (Graeser, Sophistik und Sokratik, 29; siehe ebd. zu Protagoras: 20 – 32; zur Antilogik: 26 – 28; zum Agnostizismus: 29 – 30) 171 So war im Jahr 407 v. Chr. die Anführung der heiligen Prozession durch Alkibiades, der 414 Hochverrat begangen hatte, Zeichen seiner politischen Rehabilitation. (Welwei, Das Klassische Athen, 233; s.a. X. Hell. 1,4,8 – 20) 172 Es fällt auf, dass die Bezeichnung »die Philosophierenden« (oR vikosovoOmter) zwar einerseits schon einen technischen Charakter hat, indem sie ein Sammelbegriff für Denker ist, die der griechischen Aufklärung zuzurechnen sind, aber andererseits noch nicht der terminus technicus »die Philosophen« (oR vikºsovoi) verwandt wird. Darin gleicht dieser Sprachgebrauch dem der Dissoi Logoi, siehe S. 36. Die ersten Vorkommen des Substantivs »der Philosoph« (b vikºsovor) finden sich bei Platon im Phaidon und bei Isokrates in der Helenarede (Isoc. X 66, 4); siehe S. 40 u. 295. Dass Platon den allgemeinen Sprachgebrauch auch später nicht grundsätzlich aufgibt, wonach der Ausdruck »die Philosophierenden« die Denker der Aufklärung und insbesondere die Naturphilosophen meint, geht aus einer Stelle in seinem letzten Werk, den Nomoi hervor. Im Zusammenhang der Ausbildung der Mitglieder der nächtlichen Versammlung, die sich mit Dialektik und Theologie beschäftigen sollen, werden Gründe für die Beseeltheit der Gestirne und damit für deren göttlichen Charakter angeführt. Dort heißt es, dass die Beobachtung des Alls keineswegs Atheismus zur Folge haben muss, wie es die Menge den Naturforschern gemeinhin pauschal unterstellt. Vielmehr zeige sich in der Vernünftigkeit des Kosmos ein göttlicher Wille zur Verwirklichung des Guten. (Lg. 966e f.; vgl. a. Ti. 29a, e f.) Es sei allerdings der Fehler früherer Kosmologen gewesen, dass sie die Natur der Seele, die älter ist als Körper und Kosmos, außer Acht gelassen hätten. Deswegen haben sie das Körperliche und Materielle für die Ursache des Kosmos gehalten und dadurch den Verleumdungen gegen die Philosophierenden, das sind diejenigen, die sich um Wissen bemühen, Vorschub geleistet.
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Sokrates vehement ab, irgendetwas davon zu verstehen, was die Kosmologen oder Sophisten treiben. Das gilt erst recht für den Vorwurf, nicht an die Götter zu glauben. (Ap. 19c, 20e, 26c-e) Aber er ist selbst ein Kind der Aufklärung und von diesem Geist geprägt. Denn er unterzieht nicht nur seine Mitbürger und deren Meinungen ohne Ansehen der Person einer genauen Prüfung, sondern er scheut auch nicht davor zurück, den Orakelspruch aus Delphi kritisch zu hinterfragen und zu prüfen (1k´cnom t¹ lamte?om, Ap. 21c). Wer, wenn nicht er, stellt eben damit seine skeptische Haltung zu den Göttern und seine Hybris vor allen Richtern unter Beweis? Dieser Gedanke muss sich dem einfachen Mann aus dem Volk aufdrängen, der nunmehr über ihn zu Gericht sitzen soll.173
1.2.
Kritik der Aufklärung
Wenn Sokrates also durchaus der griechischen Aufklärung zuzurechnen ist und darum auch mit den Vorurteilen belastet wird, die man »allen, die philosophieren« entgegenbrachte, was bewegt ihn, sich so entschieden von anderen Denkern der Aufklärung abzugrenzen und zu behaupten, dass er von ihren Beschäftigungen nichts versteht? Denn im Phaidon hören wir, dass er sich in der Jugend mit naturwissenschaftlichen Themen beschäftigt habe, insbesondere mit Anaxagoras und seiner Theorie, dass der Vernunft eine zentrale, ordnende Stellung zukomme und sie die Ursache des Kosmos sei.174 (Phd. 96a, 97b – 99d, vgl. a. Lg. 967b) Mit den Sophisten teilt er wiederum die Hinwendung zum Menschen und insbesondere die Frage, wie der Jugend zur arete verholfen werden kann, so dass sie zu tüchtigen Bürgern der polis werden. Sokrates formuliert in der Apologie den Kern seiner Kritik an der Aufklärung nur indirekt. Hinsichtlich der Naturforschungen verwahrt er sich scharf gegen die folgenschwere Possenreißerei (vkuaq¸am vkuaqoOmta, Ap. 19c), mit der Aristophanes in den 423 aufgeführten Wolken über den in der Luft herumspaDas war es, was damals viele gottlose Überzeugungen hervorrief und Widerwillen, sich mit solchen Fragen zu befassen; und so überkam denn auch die Dichter die Lust zu Schmähungen, indem sie die Philosophierenden mit Hunden verglichen, die ein unnützes Gekläff erhöben, und was sie sonst noch für unsinniges Zeug redeten. (taOt’ Gm t± t|te 1neiqcasl]ma pokk±r !he|tgtar ja· dusweqe_ar t_m toio}tym ûpteshai, ja· dµ ja· koidoq^seir ce 1p/khom poigta?r, to»r vikosovoOmtar jus· lata_air !peij\fomtar wqyl]maisim rkaja?r, %kka te aw !m|gt’ eQpe?m· Lg. 967c f., Üb. nach Schl.) 173 Es gab im antiken Athen keine professionellen Richter, sondern es wurden jährlich aus der Bürgerschaft neue Richter per Los bestimmt. Zur Prozessordnung s. Heitsch, Apologie des Sokrates, 41; Brisson, Apologie de Socrate, 21 – 23. 174 Zum Problem der Historizität von Sokrates’ philosophischen Anschauungen und Theoremen siehe Morrison, On the Alleged Historical Reliability of Plato’s Apology, 235 – 265.
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zierenden Sokrates und seine angebliche »Grübelbude« herzieht.175 Doch hinter dem komödiantischen Verriss steckt die berechtigte Frage, wozu die Naturforschungen gut sind. Die Naturforscher bleiben eine Antwort darauf schuldig. An den Sophisten kritisiert Sokrates ihren Anspruch, durch eine erzieherische Kunst, eine techne, einen jungen Menschen zu einem kalos kagathos, zu einem »edlen und guten Mann« machen zu können. Der Ausdruck kalos kagathos steht für die ausgezeichnete Verfasstheit des Menschen, für seine moralische, intellektuelle und politische Exzellenz. Weil ein Reiter am besten weiß, wie man junge Fohlen »edel und gut« machen kann in der ihnen eignenden Fähigkeit, in ihrer spezifischen arete (jak¾ te j!cah½ poi¶seim tµm pqos¶jousam !qet¶m, Ap. 20b), glauben sie, es gäbe ein entsprechendes Fachwissen auch für die Erziehung junger Menschen.176 Wer also ist sachverständig in einer derartigen, dem Menschen angemessen Fähigkeit, in der menschlichen und politischen Tüchtigkeit? (t¸r t/r toia¼tgr !qet/r, t/r !mhqyp¸mgr te ja· pokitij/r, 1pist¶lym 1st¸m; ebd.). Sophisten wie Euenos bieten zwar vollmundig gegen viel Geld ihre Dienste an.177 Der Spott von Sokrates ist aber kaum zu überhören, denn Euenos müsse selig sein, falls er wirklich über eine solche erzieherische Kunst verfügen und derart angemessen lehren sollte (eQ ¢r !kgh_r 5woi ta¼tgm tµm t´wmgm ja· ovtyr 1llek_r did²sjoi, ebd.). Die implizite Kritik von Sokrates richtet sich gegen den Machbarkeitsanspruch der Sophisten. Es geht nämlich bei der »menschlichen und bürgerlichen Tugend« nicht um eine beliebige technische Fähigkeit, die antrainiert werden kann, wie man die Leistungsfähigkeit von Tieren trainiert und ausbildet. Sondern es geht um die spezifisch menschliche arete, durch die der Mensch als soziales Wesen gut und tüchtig wird. Ein Erziehungssachverständiger müsste also erstens die Frage beantworten können, worin diese menschliche arete besteht, und zweitens, wie man sie erlangt. Sokrates jedenfalls betont, dass er anders als die Sophisten über keine Technik
175 Zur »Grübelbude« (vqomtist¶qiom) siehe, Ar. Nu. 94, 128, 142 u. ö.; zu den Vorwürfen gegen »die Philosophierenden«, welche die »Dinge am Himmel und unter der Erde« erforschen, (Ap. 23d) vgl. Ar. Nu. 187 – 194. 176 Strycker merkt zu Recht an, dass die Verwendung des Begriffs arete in Bezug auf Tiere für sich genommen noch kein Zeichen von Ironie ist. (Strycker, Plato’s Apology of Socrates, 265) Die Ironie liegt nicht in dem Begriff arete, statt dessen aber in der Verbindung mit der ungewöhnlichen Junktion »jak¾ te j!cah½«, die für Tiere unabgebracht ist. Es handelt sich deswegen nicht um einen Schluss »a minore ad maius«, wie Strycker meint, (ebd.) sondern die Analogie soll gerade parodiert werden. Vgl. dazu auch Xenophon, der zwar eine Analogie der Freundschaft zu guten Menschen und guten Tieren bringt, dabei aber den Ausdruck kalos kagathos den Menschen vorbehält. (X. Mem. I 6, 13 f.) 177 Zu Euenos s. Phd. 61c. Zum ironisch-skeptischen Unterton bzgl. des philosophischen Anspruchs von Euenos und der Unterscheidung von »wahren« und »angeblichen« Philosophen vgl. Phd. 64b, e, 82c u. ö. Anders Ebert, der in Euenos einen Pythagoreer erkennt. (Ebert, Why is Evenus called a Philosopher at Phaedo 61c?, 427)
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verfügt (t´wmg, Ap. 20b), die gewährleistet, dass ein junger Mensch zu einem kalos kagathos wird, zu einem edlen und guten Mann. Hier kommen die zweifelhaften Konnotationen zum Tragen, die mit der Bezeichnung »kalos kagathos« verbunden sind. Denn es ist Zeichen einer subtilen Ironie, wenn Sokrates von einem Pferd sagt, dass es kalos kagathos sei. (Ap. 20b) Der Ausdruck entstammt dem sophistischen Milieu und diente ursprünglich zur Kennzeichnung einer jungen, urbanen und snobistischen Elite, deren Mitglieder sich selbst als kaloi kagathoi, als »die Edlen und Guten« bezeichneten und sich dadurch von den traditionellen agathoi, den »Guten« abgrenzen wollten, deren Ideal die Marathonkämpfer waren.178 Dem Neologismus kalos kagathos haftet anfangs etwas Überzogenes, Anmaßendes und Lächerliches an. Sokrates spielt hier mit diesen Assoziationen, indem er das Ideal der Alten nicht überbietet, wie 178 Es dürfte kein Zufall sein, dass der junge, ungestüme und sich selbst überschätzende Schüler des Sophisten Gorgias in Platons gleichnamigem Dialog den Namen »Polos« (P_kor) trägt, also »Fohlen«. Er entspricht ganz dem Typ des kalos kagathos, wie er sich im Umfeld der Sophisten herausbildet. Bourriot hat in einer materialreichen Studie gegen Burckhardt, Jaeger u. a. gezeigt, dass der Ausdruck kalos kagathos sich keineswegs auf die archaische Epoche zurückführen lässt, sondern erstmals Mitte des 5. Jh. bei Herodot auftaucht und im attischen Sprachraum erst im letzten Drittel des 5. Jh. nachzuweisen ist. (Bourriot, Kalos Kagathos – Kalokagathia, 113 f.) Zunächst findet er sich bei Aristophanes, der sich über eine junge Clique moquiert, die im Umfeld der Sophisten auftritt und deren Repräsentant Alkibiades ist. Diese jeunesse dor¦e bricht mit den Traditionen der Marathonkämpfer und ihrer Ideale, gibt sich weltoffen und weltgewandt und meldet selbstbewusst ihre politischen Ambitionen an. (Ebd., 213 f.) Die Bezeichnung kalos kagathos ist eine gezielte Provokation und dient zur Abgrenzung gegenüber den traditionellen agathoi, denn für das Sprachempfinden des Griechen wirkt die enge Verbindung zweier nahezu synonymer Wertprädikate wie kalos und agathos, noch dazu intensiviert durch eine krasis, überladen und lächerlich. (Ebd., 115, 127) Aristophanes macht sich die Ambivalenz dieses neuartigen Ausdrucks für seinen Spott zunutze, (Ar. Nu. 101, 797) trägt allerdings dadurch auch zur Verbreitung des Neologismus und dessen Akzeptanz in breiteren Bevölkerungsschichten bei. (Bourriot, 223 ff.) Dennoch bleibt im alten Adel die Zurückhaltung gegenüber diesem Ausdruck erhalten. Für ihn sind weiterhin die agathoi die staatstragenden Kräfte. (Ebd., 114 f., 117) Gemäßigte Oligarchen wie Theramenes hingegen fordern gar im Zuge der Restauration einen Staat der kaloi kagathoi, der 5000 freien Bürger. Kritias, radikaler Oligarch, akzeptiert nur die Herrschaft der Besten, der beltistoi. (Ebd., 246 ff., 251 ff.) Die Bezeichnungen agathoi, kaloi kagathoi und beltistoi stehen also im ausgehenden Drittel des 5. Jh. für verschiedene soziale und politische Gruppen, Ambitionen und politische Konzepte, verbunden mit unterschiedlichen Erziehungsformen und Wertvorstellungen. Der Ausdruck kalos kagathos erfährt dabei im Lauf weniger Jahrzehnte eine Bedeutungsverschiebung vom provokanten Neuerer zum Bewahrer einer idealisierten Vergangenheit. (Ebd. 248) In der Apologie verwendet Sokrates den Ausdruck kalos kagathos zum einen im Zusammenhang der sophistischen Erziehung, (Ap. 20b) zum anderen aber auch im Sinne des restaurativen Bürgerstaats und der traditionellen Erziehung. (Ap. 25a) Platon teilt im Großen und Ganzen die aristokratisch-kritische Haltung gegenüber den kaloi kagathoi, während Xenophon sich eher an Theramenes und dessen Bürgerstaat anschließt. Für ihn ist Sokrates der Inbegriff des kalos kagathos. (X. Mem. I 2, 2 f.; 18; siehe dazu S. 34)
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es dem Selbstverständnis der jungen Snobs entspricht, sondern durch den Vergleich mit Tieren unterbietet. Dadurch parodiert er die Selbstüberhebung, die in dem Ausdruck kalos kagathos mitschwingt. Zugleich begegnet er damit der Kritik von Aristophanes, der in den Wolken Sokrates als den Lehrmeister der kaloi kagathoi verspottete und so die Vorurteile im Volk förderte, die Sokrates in Verruf brachten. (Ar. Nu. 101, Ap. 19a-c) Sokrates zieht also die Behauptung der Sophisten in Zweifel, dass die spezifisch menschliche Tugend Gegenstand eines technischen Schulungs- und Übungsprogramms sein kann. Und zugleich führt er sein eigenes Thema ein, nämlich die Frage, wodurch gewährleistet wird, dass ein Mensch »edel und gut« ist, oder schlichter im Sinne der Alten ausgedrückt: Wie wird man ein guter und tüchtiger Mensch?179
1.3.
Möglichkeit und Grenzen menschlichen Wissens
Bei aller Unterschiedlichkeit gleichen sich Traditionalisten und Sophisten darin, dass sie zu wissen meinen, was für die polis gut und nützlich ist und wie sie diese Ziele durch die Erziehung der Jugend erreichen können. Aber als Sokrates sie hierzu genauer befragt, muss er erkennen, dass die Politiker entgegen ihren Behauptungen nichts Schönes und Gutes wissen (oqd³m jak¹m j!cah¹m eQd´mai, Ap. 21d). Zwar geht es ihm nicht anders, aber er macht sich über seine Unwissenheit auch keine Illusionen. Das unterscheidet sie. Diese Selbsteinsicht in die Grenzen seines Wissens über das, was schön und gut ist, bezeichnet Sokrates unter Berufung auf das Delphische Orakel als das dem Menschen mögliche oder angemessene Wissen, als seine !mhqyp¸mg sov¸a. (Ap. 20d – 21a) Der Ausdruck ist eine Anspielung auf die oben genannte, dem Menschen geziemende Tüchtigkeit, die !mhqyp¸mg te ja· pokitijµ !qet¶.180 (Ap. 20b) Durch sie unterscheidet sich der Mensch nicht nur von Tieren wie dem zitierten Fohlen, sondern auch von den Göttern. Wer diese Unterschiede ignoriert und meint, man könne die menschliche Tugend durch eine techne lehren und Menschen edel und gut machen, der behauptet nach Sokrates ein Wissen, das größer ist als die dem Menschen gemäße sophia (oxtoi d³ t\w’ %m … le·fy tim± C jat’ %mhqypom sov¸am sovo· eWem). (Ap. 20d) Er verfällt der Selbsttäuschung und Überheblichkeit. Wer dagegen einsieht, dass das menschliche Wissen wenig wert ist oder nichts (fti B !mhqyp¸mg sov¸a ak¸cou tim¹r !n¸a 1st·m ja· oqdemºr), der ist unter den Menschen der Klügste (sov¾tatºr 1stim). Denn es 179 Sokrates bezeichnet sich selbst im Lauf seiner Verteidigungsrede nirgends als »edel und gut« jak¹r j!cahºr, sondern orientiert sich am »guten Menschen«, dem !mµq !cahºr. (Ap. 28b, 32e, 41d) 180 Unter die menschliche und politische arete fallen u. a. Wissen (sov¸a) und Tapferkeit (!mdqe¸a). (Ap. 35a)
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scheint, dass in Wahrheit nur Gott klug ist (t¹ d³ jimdume¼ei … t` emti b he¹r sov¹r eWmai).181 (Ap. 23a f.) Das Wissen, die menschliche sophia, ist also einerseits eine Fähigkeit, durch die sich der Mensch gegenüber dem Tier auszeichnet, und andererseits auch das Unterscheidungsmerkmal, das ihn von Gott trennt. Denn im Vergleich mit der göttlichen sophia ist die menschliche nichts wert. Der Mensch steht durch seine Begabung zum Wissen zwischen dem unvernünftigen Tier und dem wissenden Gott.182 Den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens gilt darum das Interesse von Sokrates. Die Frage, was es heißt, dass ein Mensch gut ist, hängt für Sokrates eng mit der Frage zusammen, was der Mensch weiß und wissen kann. Obwohl Sokrates wahrscheinlich schon immer die Menschen in seiner Umgebung in Gespräche verwickelte, gibt es einen Wendepunkt in seinem Leben, durch den sein unermüdliches Fragen eine Deutung und einen Allgemeinanspruch erhält, der seine Gespräche über eine persönliche Eigenheit und Marotte hinaushebt. Diese Verallgemeinerung seines persönlichen Forschungsdranges ist der eigentliche Grund des Konflikts mit den Athener Bürgern. Offensichtlich hatten die Freunde, die Sokrates bei seinen Gesprächen begleiteten, erlebt, dass er durch sein Fragen alle derart verunsicherte, dass sie völlig verwirrt wurden, weil sich das, was sie vorher zu wissen glaubten, in Luft auflöste. Da liegt der Schluss nahe, nur der könne erfolgreich andere im Diskurs überwinden, der mehr von der Sache versteht als sie, der also klüger und sachverständiger ist. (Ap. 23a) Das macht die Geschichte plausibel, die Sokrates von seinem Freund 181 Hier und im Folgenden wird nach Bordt der Ausdruck »der Gott« (b heºr) individualisierend verstanden mit Anklängen an Apollon, den Gott von Delphi. Allerdings macht er geltend, dass dies nicht das Apollon-Bild der traditionellen Mythologie ist. »Es ist durchaus plausibel anzunehmen, daß es Sokrates nicht um die Götter geht, auf die seine Ankläger sich beziehen, sondern um einen nicht mit Namen bestimmten Gott, der nicht nur ein Gott neben anderen Göttern, sondern überhaupt der einzige Gott ist, den Sokrates als Autorität akzeptiert und den sinnvollerweise auch die Athener als Autorität akzeptieren sollten.« (Bordt, Platons Theologie, 75) Vor dem Hintergrund dieser und vergleichbarer Stellen plädiert Bordt für einen Henotheismus Platons, das ist ein schwacher Monotheismus, bei dem ein göttliches Prinzip die traditionellen Götter überragt. Er schlägt deswegen vor, die entsprechenden Passagen, in denen von »ho theos« die Rede ist, schlicht mit »Gott« zu übersetzen. (Ebd., 79 – 82, vgl. dort auch 63, Anm. 36 u. 37, u. S. 72 – 76) Ich werde mich der Sprachregelung von Bordt anschließen. 182 Auch wenn hier noch nicht der Begriff des letan¼, des Zwischenwesens fällt, so ist die Zwischenstellung des Menschen zwischen Gott und Tier aufgrund seiner sophia der Sache nach deutlich. Im Symposion nimmt der philosophische Eros die Mittelstellung ein, (Smp. 202a-e, 204b) in der Apologie die menschliche sophia. Zum Zwischenstatus des menschlichen Wissens vgl. auch G. Müller, der das Wissen des Nichtwissens als Befreiung vom »innerweltlichen Wissenswahn« versteht, der in Wirklichkeit eine »nichtwissende Innerweltlichkeit« ist, hin zu einem Wissen des Wissens, das ein Wissen vom transzendenten Guten ist. (Gerhard Müller, Das sokratische Wissen des Nichtwissens, 9 – 14) Zur Zwischenstellung des Menschen s. a. S. 170 ff. und 282 f.
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Das philosophische Leben
Chairephon erzählt. Dieser hatte dem Orakel in Delphi die vermessene Frage gestellt, ob jemand klüger sei als Sokrates, und daraufhin die erstaunliche Antwort bekommen, dass niemand klüger sei (lgd´ma sov¾teqom eWmai, Ap. 21a). Dieser Spruch der Pythia bildet den Beginn dessen, was man in Anlehnung an die religiöse Sprache die »philosophische Einweihung« von Sokrates nennen könnte.183 Nicht zufällig beruft sich Sokrates bei seiner Verteidigung immer wieder auf göttliche Weisung und Auftrag. Aber zunächst bleibt auch ihm der Sinn des Orakels verborgen, denn für gewöhnlich bedürfen die Sprüche der Pythia noch der Auslegung. Diesmal deuten aber nicht die Priester in Delphi das Orakel, sondern Sokrates selbst kommt in einem längeren Prozess der Prüfung des Orakelspruchs zur Einsicht in dessen Sinn. Er sieht sich dadurch wie die Priester Apollons im Dienst des Gottes (Ap. 23b, 30a). Diese prüfende Forschung nach dem Sinn des Orakels und damit nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens wird er als Philosophieren bezeichnen. Zunächst aber stürzt ihn das Orakel in die Aporie, denn anscheinend widersprechen sich zwei Aussagen: der Satz der Pythia »Niemand ist klüger (sov¾teqom) als Sokrates« (Ap. 21a) und die Einsicht von Sokrates »Ich bin mir nämlich bewusst, dass ich weder viel noch wenig weiß« (1c½ c±q dµ oute l´ca oute slijqºm s¼moida 1laut` sov¹r §m, Ap. 21b).184 Der Konflikt besteht für Sokrates darin, dass beide Aussagen wahr sein müssen, aber unvereinbar scheinen. Mit dem Gottesbegriff geht für ihn einher, dass Gott nur wahr sprechen kann, denn es ist nicht rechtens, dass Gott lügt. (Ebd.) Zugleich ist mit dem, was er Bewusstsein nennt (s¼moida 1laut`), unmittelbare Evidenz gegeben, ein Wissen der 1. Person über sich selbst, über das sie sich nicht täuschen kann, und das folglich gleichfalls wahr ist. Sokrates löst diesen Konflikt auf die ihm typi183 Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Spruch der Pythia nicht den Beginn der sokratischen Untersuchungen darstellen kann, weil sonst das Motiv fehlt, das Chairephon veranlasste, das Orakel zu befragen. (Strycker, Plato’s Apology of Socrates, 61 f.; Heitsch, Apologie des Sokrates, 73 – 77) Die Frage von Chairephon setzt voraus, dass Sokrates schon vor der Befragung Dialoge geführt hat und seinen Gesprächspartnern dabei notorisch überlegen war. Auch ist wenig plausibel, dass der Orakelspruch den Athenern nicht bekannt war, wenn es ihn gegeben haben sollte, denn man darf annehmen, dass eine so erstaunliche Aussage zumindest im Kreis der Sokratiker, wenn nicht in ganz Athen die Runde gemacht hätte. Die Orakelerzählung wird darum erst durch ihre drameninterne Funktion plausibel, denn Platon kann damit eine Art »Einweihung« von Sokrates begründen. Das Orakel verankert die sokratisch-elenktische Gesprächspraxis in der religiösen Tradition des Bewusstseins von der Grenze menschlichen Wissens, wie sie die delphische Mahnung »Erkenne dich selbst« ausdrückt. »Socrates gives a new and typically philosophical interpretation [and religious too, (Anm. 13)] to the Delphic maxim Cm_hi seautºm. (Strycker, ebd., 63 u. Anm. 13 u.14; vgl. a. Brisson, Apologie de Socrate, 73) 184 Heitsch übersetzt treffend: »Ich bin mir ja doch bewußt, daß ich absolut nichts weiß.« (Heitsch, Apologie des Sokrates, 14) Während für seine Gesprächspartner Wissen quantifizierbar ist (viel oder wenig wissen), liegt das Anstößige an Sokrates’ Behauptung gerade in der Absolutheit, die man ihm nicht abnehmen möchte.
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sche Weise. Die Aporie wird zum Ausgangspunkt der Suche, zum Beginn einer systematischen, philosophischen Untersuchung, indem er fragt, was der Orakelspruch eigentlich meint (Apºqoum t¸ pote k´cei, ebd).185 Damit vollzieht er den ersten Schritt hinter die Ebene des vordergründigen Wortsinns. Methodisch macht er zunächst nichts anderes als das, was er immer tut: Er geht zu einem Menschen und verwickelt ihn in ein Gespräch, wobei er eine dritte These aufstellt und prüft, nämlich: Dieser Mensch ist weiser als ich.186 Doch eigentlich ist nicht der konkrete Gesprächspartner Gegenstand der Prüfung, sondern das Orakel und dessen Sinn (1k´cnym t¹ lamte?om, Ap. 21c) – und, wie sich noch zeigen wird, er selbst. Vordergründig scheint dieser elenchos eine Bestätigung der Hybris und Gottlosigkeit von Sokrates zu sein, aber das Gegenteil ist der Fall. Denn er drückt die Überzeugung von Sokrates aus, dass Gott weder lügt noch irrational ist. Damit bekennt sich Sokrates ganz praktisch zu einem Gottesbild, das anders als Tragödie und Mythos davon ausgeht, dass Gott nicht willkürlich handelt. Das gilt auch und gerade für Apollon, den Gott von Delphi, weswegen seine Weisungen mit der Vernunft vereinbar sein müssen.187 Sokrates wendet sich bei seiner Suche an die Fachleute der polis, die traditionell im Ruf stehen, klug zu sein (t_m dojo¼mtym sov_m eWmai, ebd.): an die Politiker, die Dichter und die Handwerker. Er will jemanden finden, der im Gegensatz zu ihm etwas weiß. Während er bei den Politikern nicht fündig wird, denn sie wissen überhaupt nichts, von dem man sagen könnte, dass es schön und gut sei (oqd³m jak¹m j!cah¹m eQd´mai, Ap. 21d), gesteht er den Dichtern zu, dass sie durchaus viel Schönes sagen (k´cousi l³m pokk± ja· jak², Ap. 22c). Allerdings muss er erkennen, dass sie selbst nichts von dem wissen, was sie da sagen (Usasim d³ oqd³m ¨m k´cousi, ebd.). Vielmehr ist eine natürliche Begabung und 185 Zur Aporie als initium der Suche vgl. S. 88 f. Um das Pragma von Sokrates zu beschreiben, verwendet Platon Ausdrücke wie Suchen, Untersuchen (f¶tgsir, fgte?m, Ap. 21b, 22a, 23b, 24b, 29c,); Erforschen (1qeum÷m, Ap. 23b, 41b); Ausforschen (1n´tasir, 1net²feim, Ap. 22e, 23c, 24c, 28e, 29e, 33c, 38a, 41b, c); Ausfragen (1qyt÷m, Ap. 29e, 33b); Prüfen (5kecwor, (1n)ek´cweim, Ap. 17b, 18d, 21c, 22a, 23a, 29e, 39c, d); ins Auge Fassen (sjope?m, Ap. 21c, e, 28b) als Synonyme für das sokratische Philosophieren (vikosove?m, Ap. 28e, 29c, d). In anderen Kontexten haben diese Worte weiterhin ihre normalsprachliche Bedeutung. 186 Nach den Spielregeln des elenchos gilt eine These solange als wahr, als sie nicht widerlegt werden kann, d. h. »widerlegungsresistent« ist. (Vgl. Stemmer, Platons Dialektik, 148.) Deswegen prüft Sokrates die Wahrheit des Orakels durch den Versuch, dessen These (1) »Niemand ist weiser als Sokrates« durch die These (3) »Dieser Mensch ist weiser als Sokrates« zu widerlegen. 187 Gerhard Müller betont zu Recht, dass es problematisch ist, Platon unter Hinweis auf das sokratische Daimonion neben der Vernunft einen zweiten Zugang zur Wahrheit durch religiöse Offenbarung zu unterstellen. Platons metaphysische Wissensethik sei eine »Vernunftreligion«, in der mythische Begriffe und Vokabeln metaphorisch gebraucht seien und das Göttliche mittels der Vernunft erreicht würde. (G. Müller, Das sokratische Wissen des Nichtwissens, 31)
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Das philosophische Leben
göttliche Eingebung Ursache des Schönen, das sie erdichten. Deswegen widerlegt das vermeintliche Wissen der Dichter auch nicht den Orakelspruch aus Delphi. So bleiben die Handwerker übrig, und in der Tat wissen sie vielerlei schöne Dinge (pokk± ja· jak± 1pistal´mour) und erweisen sich als kundiger als Sokrates (sov¾teqoi). (Ap. 22d) Doch offensichtlich ist dieses Wissen nicht hinreichend. Denn die Handwerker begehen den gleichen Fehler ("l²qtgla, ebd.) wie die Dichter : Weil sie glauben, in einem Bereich kompetent zu sein, meinen sie auch in allem anderen und sogar in den wichtigsten Dingen zu den Kundigsten zu gehören (tükka t± l´cista sov¾tator eWmai, Ap. 22c, 22d). Diese Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung ist in Sokrates’ Augen die eigentliche »Ursünde« gegen die sophia. Sie entwertet das, was die Menschen wirklich wissen und an Schönem hervorbringen. Darum unterzieht sich Sokrates nun selbst einer Prüfung und befragt sich im Namen des Orakels (¦ste le 1laut¹m !meqyt÷m rp³q toO wqgsloO), ob er wie die Handwerker sein wolle, oder ob er lieber dessen unkundig bliebe, was sie wissen, aber dafür auch nicht ihrem Unverstand (!lah¸a) erliegt. (Ap. 22e) Seine Antwort kennen wir : Er bekennt sich zu seiner Unwissenheit. Diese Orakelerzählung verdeutlicht, dass es Sokrates um eine andere Art von Wissen geht als seinen Mitbürgern. Mit den Politikern geht er ausnahmslos hart ins Gericht.188 Trotz ihres Anspruchs, zur Führungselite der polis zu gehören, verstehen sie nichts von dem, was im politischen Leben schön und gut ist. Das bedeutet, dass ihre Erziehung, sei es nun die traditionelle oder die sophistische, als Vorbereitung auf das politische Leben auf ganzer Linie versagt hat. Den Dichtern gesteht Sokrates zwar zu, dass sie Schönes dichten, aber weil sie nicht wissen, was sie damit meinen, bestreitet er den traditionellen moralischen Autoritäten Verständlichkeit und Allgemeinverbindlichkeit. Sie können nicht Rede und Antwort stehen, und ihre Auslegung ist folglich der Beliebigkeit preisgegeben. Dagegen genügen die Handwerker vordergründigen Wissensansprüchen. Sie beherrschen eine Kunst, die sie anderen verständlich machen und lehren können. Obwohl alle drei Stände nach herkömmlichem Sprachgebrauch zu den sophoi zählen, akzeptiert Sokrates also nur für die Handwerker, dass sie auf ihrem Gebiet Wissende sind. Denn sie bringen nicht nur zufällig, sondern zielstrebig und planmäßig Schönes hervor, das heißt sie haben das Ergebnis und Ziel ihrer Bemühungen vor Augen. Für Sokrates ist die Zielorientierung ein Charakteristikum des Wissens, der sophia.189 Aber er kritisiert zugleich, dass 188 Anders in Men. 99c f. Siehe hierzu die Diskussion über die relative Chronologie von Menon und Apologie bei Strycker, Plato’s Apology of Socrates, 19 – 21, 66, 282 f., und Heitsch, Apologie des Sokrates, 83 – 86, 177 – 180. 189 Von daher erklärt sich, dass für Sokrates die sophia Gottes notwendig die pronoia, die Vorsehung in den guten Lauf der Dinge einschließt, so dass er sich vertrauensvoll der göttlichen Vorsehung überlässt. (Ap. 35d, 42a) Zum Vertrauen in die gute Vorsehung als Akt
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sich die Handwerker dadurch verführen lassen zu glauben, sie verfügten auch in allen anderen Bereichen des Lebens über Wissen und insbesondere dort, wo es um die wichtigsten Dinge im Leben geht. Wir werden sehen, dass dies die Frage betrifft, was für den Menschen gut ist und am Ende seines Lebens Bestand hat. Und ob der Tod wirklich ein Übel ist, wie gemeinhin angenommen, oder nicht gar ein Gut.190 Sokrates betont, dass weder sie noch die Dichter, Politiker oder er selbst dies wissen. Gegenüber diesem Größten ist das, was die Menschen wissen und wissen können, nur wenig wert oder nichts. Sokrates ist also kein grundsätzlicher Skeptiker, auch wenn das populäre Zitat »Ich weiß, dass ich nichts weiß« oft in dieser Weise missverstanden wird.191 Er bestreitet keineswegs generell die Möglichkeit des Menschen, etwas zu wissen, wie man an den Handwerkern sieht. Darum kann er auch wenig später sagen, dass Athen wegen seines Wissens und seiner Macht (eQr sov¸am ja· Qsw¼m, Ap. 29d) berühmt ist. Das zeigen nicht zuletzt die herausragenden handwerklichen und künstlerischen Leistungen, an denen die Bedeutung und Großmachtstellung der Stadt sichtbar wird. Aber die entscheidende Frage lautet, ob die Menschen auch wissen, was das Wichtigste im Leben ist, oder ob sie nicht schlafen und träumen, indem sie falschen Zielen wie Ehre und Ruhm anhängen. (Ap. 29d, 31a) So jedenfalls sieht es Sokrates. Er kommt deswegen zu dem Schluss, dass der Spruch der Pythia in der Tat wahr ist, weil der Sinn ihrer Rede gar nicht auf Sokrates selbst zielt. Vielmehr dient er, Sokrates, nur als Beispiel, als paq²deicla, um die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens ins Bewusstsein zu heben: »Dieser ist unter euch, ihr Menschen, der weiseste, der wie Sokrates erkennt, dass er in Wahrheit nichts wert ist, was das Wissen betrifft.« (Oxtor rl_m, § %mhqypoi, sov¾tatºr 1stim fstir ¦speq Syjq²tgr 5cmyjem fti oqdem¹r %niºr 1sti t0 !kghe¸ô pq¹r sov¸am.)192 (Ap. 23b) In eben diesem Bewusstsein besteht »das Wenige«, um das Sokrates seine Mitmenschen an Einsicht überragt. (Ap. 21d) Chairephon unterstellt Sokrates mit seiner Frage an das Orakel ein Wissen im Sinn der Sachkompetenz. Er teilt damit das gewöhnliche, normalsprachliche Verständnis von sophia und sophos. Der Spruch der Pythia der Religiosität von Sokrates vgl. Strycker, Plato’s Apology of Socrates, 146 – 149, 397. Siehe auch die eutychia-Diskussion im Euthydemos, S. 70 ff. 190 Siehe Ap. 29a und S. 126 u. 129 f. 191 Diese populäre Version ist insofern ungenau, als Sokrates mit Blick auf sich nicht von einem Wissen, sondern von einem Bewusstsein spricht (s¼moida 1laut`, Ap. 21b, 1laut` sum-dg, 22c f.), d. h. von einem Wissen des Nichtwissens. Darüber hinaus bestätigt Sokrates durchaus, dass er etwas weiß und sogar vieles, nur hält er diese Dinge für Kleinigkeiten. (Euthd. 293b, siehe a. Anm. 115) Wissen ist objektivierbar, Bewusstsein hingegen nicht. Letzteres kann unter geeigneten Umständen nur provoziert werden, und darin sieht Sokrates seinen Dienst an den Athenern, wenn er sie mit einem großen, trägen Pferd vergleicht und sich selbst mit einer Bremse oder einem Sporn, durch welchen das Pferd – vielleicht – aus seinem Schlaf geweckt wird. (Ap. 30e) 192 Zu den Anklängen an die delphische Maxime »Erkenne dich selbst« siehe S. 120, Anm. 183.
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Das philosophische Leben
aber bekommt in der Auslegung von Sokrates die Bedeutung, dass das menschliche Wissen, die !mhqyp¸mg sov¸a, im Bewusstsein des Mangels wirklicher sophia besteht, die allein Gott zukommt. Diese göttliche sophia besteht im Wissen des Guten. Der Mensch aber, der sich dieser Grenze seines Wissens bewusst wird, kommt gerade dadurch nicht umhin, nach dem Guten zu fragen und es zu erstreben, und das heißt, er muss philosophieren. Dieses Fragen und Streben nach der dem Menschen möglichen und angemessenen Einsicht in das Gute ist für Sokrates zur Lebensaufgabe geworden. Und weil der Mangel an sophia nicht nur sein persönliches Defizit ist, sondern dem menschlichen Erkenntnisvermögen grundsätzlich anhaftet, sieht er sich von Gott in die Pflicht genommen, ihm zu helfen (t` he` bogh_m, Ap. 23b). (Ap. 28e, 29d, 33c) Jedem, der sich auf ein Gespräch einlässt, weist er nach, dass er nicht weise ist (1mde¸jmulai fti oqj 5sti sovºr, ebd). Das ist seine Mission. Darum wird er von den einen, die ihm nacheifern, bewundert und geliebt, aber von den anderen, die an dem Selbstbild des Wissenden festhalten, auch gehasst. (Ap. 23a, 28a, 34a)
1.4.
Philosophie ist Sorge um die Seele
Das Wissen um das Gute ist für Sokrates untrennbar verbunden mit der Sorge um die Seele, um ihr Gutsein, ihre Tugend. Denn durch seine moralische Kompetenz entscheidet der Mensch über den Wert von Handlungen, über deren Ziele und die geeigneten Mittel. Nun lautet aber ein zentraler Vorwurf der Anklage, dass Sokrates die Jugend verdürbe. Gegen diesen Vorwurf verteidigt sich Sokrates mit einem differenzierten Argument, dessen Prämisse besagt, dass ein schlechter Mensch nur Schlechtes tut und ein guter nur Gutes. (Ap. 25c f.) Die Bewertung einer Handlung ist also nicht unabhängig von der Person des Handelnden. Sich mit jungen Menschen zu unterhalten oder in ihrem Beisein andere zu befragen, wie Sokrates es tut, ist nicht an sich schlecht oder gut. Vielmehr werden die jungen Leute durch den Umgang mit einem schlechten Menschen verdorben, weil er seine Gespräche auf schlechte Weise und in schlechter Absicht führt, und umgekehrt durch einen guten Menschen gefördert. Daraus leitet Sokrates über den aktuellen Anlass der Anklagewiderlegung hinaus ab, dass der Seele des Menschen alle Aufmerksamkeit gebührt, damit sie so gut wie möglich werde. Denn der gute Mensch wird alles, was er tut, daraufhin prüfen, wozu es gut ist und ob sein Handeln dementsprechend gut und gerecht ist oder schlecht und ungerecht. (Ap. 28b) Losgelöst vom konkreten Kontext sind nur allgemeine
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Regeln möglich, die immer neu der Auslegung bedürfen.193 Dazu bedarf es der Einsicht in das Wahre und Gute, der sophia. Wenn dem Menschen nun diese sophia im umfassenden Sinn verwehrt ist, weil sie Gott vorbehalten bleibt,194 so entlastet ihn das nicht davon, im jeweiligen Kontext neu zu fragen, was hier und jetzt wahr, gut und recht ist. Denn der Mensch soll die ihm gemäße Tüchtigkeit ausbilden, durch die er sich vom Tier unterscheidet und seine Nähe zu Gott realisiert. Da nun diese spezifische arete nicht wie bei einem Fohlen eine leibliche Veranlagung ist, sondern eine Befähigung der Seele, muss das Streben des Menschen darauf gerichtet sein, dass es um seine Seele so gut wie möglich steht. Um die Seele steht es aber dann am besten, wenn sie sich um Einsicht und Wahrheit (vqom¶seyr d³ ja· !kghe¸ar) bemüht, also um die inneren Güter, und sich nicht wie die meisten um Geld und Ruhm und Ehre sorgt. (Ap. 29d f.) Dieses Streben nach Einsicht und Wahrheit versteht Sokrates unter Sorge um die Seele (1pileke?shai t/r xuw/r, Ap. 29e). »Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, daß diese aufs Beste gedeihe…« (l¶te syl²tym 1pileke?shai l¶te wqgl²tym pqºteqom lgd³ ovty svºdqa ¢r t/r xuw/r fpyr ¢r aq¸stg 5stai, Ap. 30a f., Üb. Schl.). Die sokratische »Sorge um die Seele« führt zu einer Umwertung der Werte. Nicht im leiblichen Leben und seinem Wohlergehen besteht das größte Gut für den Menschen, sondern im Leben der Seele und in ihrem Wohlergehen. Sokrates negiert nicht den Wert des Leibes, aber er kritisiert, dass das Wertvollste am Menschen, die Seele, gering geachtet wird und das Minderwertige, der Leib, höher. (Ap. 30a) Darüber hinaus ist es ein schwerwiegender Irrtum zu glauben, die moralische Kompetenz des Menschen würde durch äußere Faktoren gewährleistet: durch eine adlige Geburt, worauf sich die agathoi berufen, oder ein großes Vermögen, wie die reichen kaloi kagathoi im Umfeld der Sophisten meinen. Die arete des Menschen, die Gutheit seiner Seele, ist weder vererbbar noch käuflich. Dagegen stellt Sokrates die provozierende Behauptung auf, dass umgekehrt die arete bewirkt, dass Geld und schlechthin alles zum Gut für die Menschen wird, im persönlichen Bereich wie im öffentlichen (… oqj 1j wqgl²tym !qetµ c¸cmetai, !kk’ 1n !qet/r wq¶lata ja· t± %kka !cah± to¸r !mqh¾poir "p²mta ja· Qd¸ô ja· dglºsiô, Ap. 30b)195 : dann nämlich, wenn Einsicht die 193 Eine solche Regel ist die ethische Maxime der Sokratiker : Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. (Grg. 469b f.) 194 Ein Beispiel für das umfassende Wissen Gottes ist seine Fähigkeit, voraussehend um das Gute zu wissen, seine pronoia. Mit dem Verweis auf die Voraussicht Gottes endet die Verteidigungsrede von Sokrates. (Ap. 42a) 195 Zur Übersetzung und Interpretation dieser umstrittenen Textstelle siehe die Diskussion bei Burnyeat, Apology 30B 2 – 4. Burnyeat versteht diesen Satz so, dass durch Tugend alles
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Menschen leitet, die äußeren Güter recht, d. h. gut und gerecht zu gebrauchen. Ohne diese Einsicht verleiten die äußeren Güter die Menschen zu Missbrauch und führen ins Verderben. Das hat Athen durch Krieg, Willkürherrschaft und Zusammenbruch schmerzlich erfahren. Aus diesem Grund stellt Sokrates die Sorge um die Seele über die Sorge um den Leib und das äußere Wohlergehen. Ganz konkret vollzieht sich die Sorge um die Seele für Sokrates im Philosophieren, das meint im Suchen (1m ta¼t, t0 fgt¶sei diatqibe?m) und Fragen (1q¶solai), im Ausforschen (1net²sy) und Prüfen (1k´cny), (Ap. 29c,e) ob die Menschen wirklich wissen, was für sie und die Stadt gut ist. (Ap. 36c) Doch statt auf Zustimmung stößt diese philosophische Praxis (pq÷cla, pq²tteim, Ap. 20c, 28b, 29c, 30a) bei vielen Menschen auf erbitterten Widerstand. Sie zerren Sokrates deswegen vor Gericht und bedrohen ihn mit dem Tod. Warum? Weil sie zugeben müssen, nicht zu wissen, was gut für sie ist, und weil diese Täuschung keine »Kleinigkeiten« betrifft, sondern die Ziele ihres Lebens. Sokrates gibt dafür ein Beispiel mit der Frage, wie der Tod zu bewerten sei. Dazu diskutiert er die hypothetische Möglichkeit, dass die Strafe für sein lästiges und hartnäckiges Ausfragen auf Bewährung ausgesetzt wird. Jetzt, Sokrates, … lassen wir dich los, allerdings unter der Bedingung, dass du nicht mehr diese Nachforschungen anstellst, das heißt nicht mehr philosophierst; wenn du aber nochmals dabei erwischt wirst, dass du solches tust, wirst du hingerichtet.196 (¯ S¾jqater, mOm l³m … !v¸el´m se, 1p· to¼t\ l´mtoi 1v’ è te lgj´ti 1m ta¼t, t0 fgt¶sei diatq¸beim lgd³ vikosove?m7 1±m d³ "k`r 5ti toOto pq²ttym, !poham07 Ap. 29c, Üb. B.S.)
Sokrates weist dieses Ansinnen weit von sich, obwohl ihm der Tod droht. Er begründet es mit seinem Gehorsam gegenüber Gott und damit, dass dieser höher stehe als die Freundschaft zu Menschen (pe¸solai d³ l÷kkom t` he` C rl?m, Ap. 29d). Denn er sieht sich von Gott mit seinem Philosophieren in einen Kampf gestellt, bei dem er nicht fahnenflüchtig werden darf. Es wäre berechtigt, ihn vor Gericht zu ziehen, wenn er zwar in den Schlachten der polis sein Leben andere für die Menschen zu einem Gut wird, sei es Geld oder auch dessen Fehlen. Seine Argumentation führt zu der textlich und inhaltlich einleuchtenden Übersetzung: »Virtue does not come from money, but from virtue money and other things come to be good for human being – yes, all other things, both in private and public life.« (Ebd., 24) Anders jedoch Strycker, Plato’s Apology of Socrates, 138 – 140, 334; auch Christiansen, ›Caring about the soul‹ in Plato’s Apology, 25 f., 36 ff. 196 Brisson sieht in den Verben, die in Ap. 28e, 29c, d das Philosophieverständnis von Sokrates konkretisieren und durch ja· bzw. lgd³ mit vikosove?m verbunden sind, keine Aufzählungen, sondern erläuternde Beifügungen und übersetzt deshalb treffend mit »das heißt«: »… de vivre en philosophant, c’est--dire en soumettant moi-mÞme et les autres examen…« (Ap. 28e); »…que tu cesses de passer ton temps soumettre les gens cet examen auquel tu les soumets, c’est--dire que tu acceptes de ne plus philosopher.« (Ap. 29c); »…je continuerai de philosopher, c’est--dire de vous adresser des recommandations et de faire la leÅon celui d’entre vous que … je rencontrerai…« (Ap. 29d). (Brisson, Apologie des Socrate, 107 f., kursiv B.S.)
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gewagt und die ihm angewiesene Stellung verteidigt hätte, aber jetzt, wo Gott ihn in die Auseinandersetzung schickt, aus Angst vor dem Tod zurückwiche. Daher hätte ich Schlimmes getan, ihr Athener, wenn ich … da Gott mir gebietet – wovon ich fest überzeugt bin – mein Leben philosophierend zu führen, das heißt, mich selbst und andere auszuforschen, die Schlachtordnung verließe, weil ich den Tod oder etwas anderes fürchtete. (1c½ owm deim± #m eUgm eQqcasl´mor, § %mdqer )hgma?oi, eQ … toO d³ heoO t²ttomtor, ¢r 1c½ á¶hgm te ja· rp´kabom, vikosovoOmt² le de?m f/m ja· 1net²fomta 1laut¹m ja· to»r %kkour, 1mtaOha d³ vobghe·r C h²matom C %kko btioOm pq÷cla, k¸poili tµm t²nim. Ap. 28e, Üb. B.S.)
Zu philosophieren, indem man sich selbst und andere ausforscht, ausfragt und auf die Einsicht in das Wahre und Gute hin prüft, bedeutet, sich auf geistige Auseinandersetzungen einzulassen, mit denen man sich nicht nur Freunde macht, sondern auch Anfeindung erfährt. Wenn Sokrates hier in Kampfmetaphern spricht, ist das keine überzogene Theatralik, denn es geht bei ihm ja tatsächlich um Leben und Tod. Sokrates wird für diese Auseinandersetzungen sein Leben lassen, weil er nicht bereit ist, irgendwelche Kompromisse zu machen, die zur Folge hätten, dass er etwas Größeres verlieren würde als das leibliche Leben, nämlich das Leben seiner Seele. Er sieht sich in einen anderen Kampf gestellt als die Kriege, welche die Athener um äußere Güter führen, um Reichtum, Macht und Ehre. Als nach dem Schuldspruch über das Strafmaß entschieden werden muss, reflektiert er die Möglichkeit, für Verbannung zu plädieren, um sein Leben zu retten. (Ap. 37c) Doch das ist keine reale Möglichkeit für ihn. Denn eine Verbannung aus seiner Heimatstadt würde zwar das Ärgernis für die Athener beseitigen, aber es entlässt ihn nicht aus der Verpflichtung gegenüber Gott, weil sein Philosophieren an den Grenzen der Stadt nicht aufhören kann. (Ap. 30a) Nicht einmal der Tod bedeutet für ihn ein Ende des Philosophierens. Denn er hofft, auch nach der Auswanderung der Seele in den Hades noch die Heroen ausfragen zu können (1net²fomta ja· 1qeum_mta). (Ap. 41b) Sein Streben nach dem Guten kennt keine Grenzen und sein Philosophieren ist dementsprechend universal. Sein Philosophieren ist kosmopolitisch. Aber nicht nur andere Menschen werden einer philosophischen Prüfung unterzogen, sondern auch und zuerst der Philosoph selbst: »Wenn ich aber sage, dass es das größte Gut für den Menschen ist, jeden Tag Gespräche über die Tugend zu führen und über das andere, worüber ihr hört, dass ich mich unterhalte, und sich selbst und andere auszufragen, aber ein Leben ohne Selbstprüfung für einen Menschen nicht lebenswert ist (ja· 1laut¹m ja· %kkour 1net²fomtor, b d³ !men´tastor b¸or oq biyt¹r !mhq¾p\),dann werdet ihr meinem
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Das philosophische Leben
Reden noch weniger glauben.«197 (Ap. 38a, Üb. B.S.) Die Bereitschaft zur Selbstprüfung ist Voraussetzung dafür, dass man glaubwürdig andere befragen kann. Das unterscheidet die philosophische Prüfung von Streitsucht und Rechthaberei, die nur darauf zielen, den Gesprächspartner zu widerlegen. Doch nicht jeder ist bereit, auf diese Weise für seine Seele Sorge zu tragen und sich täglich neu zu hinterfragen. Sokrates jedoch beharrt darauf, dass ein unphilosophisches Leben nicht menschenwürdig und also nicht lebenswert ist. Darum kann er nicht aufhören zu philosophieren und andere dazu zu ermuntern:198 Solange ich atme und noch dazu in der Lage bin, werde ich nicht aufhören zu philosophieren, das heißt, euch zu ermahnen und Hinweise zu geben, wen von euch ich auch immer treffe, indem ich auf die mir gewohnte Weise rede. (…ja· 6yspeq #m 1lpm´y ja· 197 Vlastos erhebt Einspruch gegen die Behauptung, dass ein ungeprüftes Leben nicht lebenswert sei. Zum einen würde es genug empirische Gegenbeispiele geben wie Tapferkeit, die ohne reflektorische Begründung auskommen. Und zum anderen stünde bei Sokrates die Behauptung seines Nichtwissens im Widerspruch zur Unerschütterlichkeit seiner moralischen Überzeugungen und Entscheidungen. Dies sei Teil des »paradox of Socrates«. Es beruhe auf der Ignoranz gegenüber empirischem Wissen. (Vlastos, The Paradox of Socrates, 7, 15 ff., 21) Damit formuliert Vlastos nur die Positionen, auf die Platon zum Beispiel im Laches zum Thema der Tapferkeit oder in der Auseinandersetzung mit den Sophisten über die Bedeutung der doxa als hinreichenden Grund für situationsgerechtes Handeln antwortet. Platon beziehungsweise der platonische Sokrates ist gegenüber diesen empirischen Positionen nicht ignorant, aber er bezweifelt, dass sie ihr Ziel erreichen. Darum unterzieht er sie einer Prüfung. Sie dienen ihm als Hintergrund für einen Gegenentwurf moralischen Wissens, das seine Letztbegründung im Wissen um das Gute sucht. Platons Lösung besteht nicht im dauerhaften Besitz dieses Wissens, sondern im Hinweis auf die transformierende Kraft und Wirkung, die schon vom Streben nach dem Wissen um das Gute ausgeht. Indem die Seele sich des Guten immer neu zu vergewissern sucht, wird sie tugendhaft. Eben diese fragende Vergewisserung ist das Philosophieren, das Sokrates nicht lassen kann, solange er lebt. (Ap. 29d) Er wird sich selbst, seine Motive und Zielsetzungen stets neu einer Prüfung zu unterziehen. 198 Vgl. hierzu die Geschichte, die der Mythologe Herodoros über Herakles berichtet, der »philosophierend bis zum Tod« um die Tugenden und gegen die Laster kämpft, siehe S. 32. Diese Geschichte hat mit dem sokratischen Verständnis des Philosophierens in der Apologie die sittliche Problemstellung gemein wie auch die Kampfmetaphern und schließlich den emphatischen Appell, mit dem Philosophieren nicht aufzuhören, solange man lebt. Doch trotz dieser Übereinstimmungen spricht ein anderer Geist aus dem Mythos als aus der Argumentation von Sokrates. Herakles ist ein Wissender, der »weiß«, was gut und was schlecht ist. Es ist nur eine Frage der Kräfteverhältnisse, wie der Kampf entschieden wird, auch wenn er bis zum Tod andauert. Aber spätestens dann hat er auch ein Ende. Anders bei Sokrates. Zwar hört mit dem leiblichen Tod die Bedrohung auf, hingerichtet zu werden, denn man ist ja schon tot und gehört für die weitere Zeit zu den Unsterblichen, wie Sokrates lapidar bemerkt. (Ap. 41c) Aber das Philosophieren hört nicht auf. Sich mit den Helden der Vorzeit zu unterreden und sie auszuforschen, stellt sich Sokrates als unbeschreibliches Glück vor. (Ap. 41c) Bei Herodoros ist das Philosophieren eine Waffe im Kampf gegen die Begierden des Leibes. Dieser Kampf und das Philosophieren enden folglich mit dem Tod des Leibes. Bei Sokrates sind der Kampf und das Philosophieren ein Ringen um das Leben der Seele, das über den leiblichen Tod hinausreicht.
Apologie: Philosophie ist Sorge um die Seele
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oXºr te §, oq lµ pa¼sylai vikosov_m ja· rl?m paqajekeuºlemºr te ja· 1mdeijm¼lemor ft\ #m !e· 1mtucw²my rl_m, k´cym oX²peq eUyha… Ap. 29d, Üb. B.S.)
Sokrates nennt auch den Grund für das Unverständnis, das ihm wegen seiner kompromisslosen Haltung entgegenschlägt. Es entspringt der Einbildung zu wissen, was das Wichtigste im Leben ist. Denn gemeinhin halten die Menschen ihr leibliches Leben für das größte Gut, das es unter allen Umständen zu erhalten gilt, und den Tod für das größte Übel, das man mehr als alles andere fürchten müsse. Diese communis opinio kritisiert Sokrates: »Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das ist nichts anderes als sich einbilden, klug zu sein, ohne es zu sein; denn es bedeutet, sich einbilden, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, ob der Tod für den Menschen nicht das größte aller Güter ist, sie sind aber in Angst, als ob sie genau wüßten, daß er das größte Übel ist.« (Ap. 29a, Üb. Heitsch) Sokrates gibt hier ein konkretes Beispiel für den Unverstand (!lah¸a, Ap. 29b), den er zuvor den Politikern, Dichtern und Handwerkern attestiert und an ihnen kritisiert hatte.199 Damit bekommt das schon sprichwörtliche Nichtwissen des Sokrates beispielhaft einen konkreten Gehalt. Wir Menschen wissen nicht, ob das körperliche Leben wirklich das größte Gut ist, wie es allgemeine Überzeugung ist, oder nicht vielleicht eher der Tod, wie manche sagen.200 Die 199 Siehe Ap. 22b, e u. S. 122. 200 Vgl. dazu die Soma-sema-Formel in Grg. 493a, S. 149 und Phd. 61c – 62e, 63c. Enders sieht in der Annahme, der Tod sei ein Gut, eine ironische Provokation, weil die gängige Meinung bewusst auf den Kopf gestellt wird. (Enders, Zur Frage nach dem Tod in Platons Apologie, 242) Allerdings setzt das sokratische Eingeständnis des Nichtwissens in der Todesfrage voraus, dass man schon aus logischen Gründen mit beiden Alternativen rechnen muss. Er neigt aber offensichtlich der unpopulären Auffassung zu, dass der Tod eher ein Gut als ein Übel ist. Für diese Annahme wird auch im Kratylos argumentiert. Dort reflektiert Sokrates die Etymologien von Namen, so auch von Hades. (Cra. 403a – 404b) Die Menschen fürchten den Tod, weil im Tod die Seele vom Leib gelöst wird und man mit dem Namen Hades (b .idgr) gewöhnlich die Bedeutung t¹ !eid´r verbindet, das Dunkel der unsichtbaren, körperlosen Geisterwelt, die den Menschen Angst macht. Diese Assoziation sei aber irreführend. Richtiger sei die Ableitung des Namens vom Wissen, weil Hades alles Schöne und Gute weiß (p²mta t± jak± eQd´mai, Cra. 404b). Zur Stützung dieser Behauptung trägt Sokrates ein interessantes Argument vor. Dem Tod kann nicht nur niemand entfliehen, es kommt auch keiner von dort zurück. Denn der Tod bindet die Seelen nicht gewaltsam, sondern durch Verlangen (1pihul¸ô) an sein Reich. (Cra. 403b, d) Die Toten wollen gar nicht »von dort nach hier«! (Cra. 403d) Weil das stärkste Verlangen darauf gerichtet ist, durch guten Umgang und Gespräche ein besserer Mensch zu werden (5seshai !le¸mym !m¶q) und Hades sich darauf versteht, Reden zu halten (1p¸stastai kºcour k´ceim), verführt er die Seelen durch Überfluss (t± peqiºmta) an schönen Reden, weswegen er auch von manchen pkoOtor, Reichtum, genannt wird. (Cra. 403 d f.) Den Menschen, die »noch hier« im leibgebundenen Leben sind, schickt er mit dem Tod darum keineswegs ein Übel, sondern ein großes Gut. Durch ihn bekommen sie Zugang zu seinem Reich, das nur den vom Leib befreiten Seelen vergönnt ist: Ferner, daß er nicht mit Menschen verkehrt, die noch ihre Leiber haben, sondern erst dann mit ihnen umgeht, wenn die Seele rein ist von allen dem Leibe anhängenden Übeln und
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Das philosophische Leben
größten Dinge, t± l´cista (Ap. 22d), an denen die Fachleute scheitern, betreffen Fragen nach dem Ziel des Lebens, nach dem letzten und höchsten Gut. Wenn Sokrates seinen Gesprächspartnern ins Bewusstsein hebt, dass der Mensch darüber nichts endgültig Gewisses sagen kann, weil es allein Gegenstand göttlicher sophia ist, so ist die Stufe unter diesem letzten Gut das »für den Menschen größte Gut« (tucw²mei l´cistom !cah¹m cm !mhq¾p\, Ap. 38a), nämlich die täglich neu zu vollziehende philosophische Prüfung. Das ist keine Sache der Aneignung von theoretischem Wissen und von Techniken, wie sie die Sophisten favorisieren, sondern eine Praxis, sich von falschen Vorstellungen über das Gute zu lösen. Denn sie sind es, welche die Emotionen der Menschen und die Handlungen in die Irre leiten und deswegen auch Ursache der Todesfurcht sind. »Statt der Übel also, von denen ich weiß, daß sie Übel sind, werde ich Dinge, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht sogar gut sind, niemals fürchten oder ihnen aus dem Wege gehen.« (Ap. 29b f., Üb. Heitsch) Todesfurcht (de¸sar h²matom, vobgh´mta h²matom, Ap. 32a, c) und Lebenslust (vikoxuw¸a, Ap. 37c) sind die Kräfte, die den Menschen unbewusst prägen und sein Handeln bestimmen. Deswegen erwarten die Richter, dass ein Angeklagter alles tut, um mit dem Leben davonzukommen und dem Todesurteil zu entgehen (Ap. 39a): dass er fleht, schmeichelt und sie zu überreden versucht. (Ap. 17a, 34c) Aber Sokrates tut nichts dergleichen, im Gegenteil. Auch wenn er der äußeren Form nach eine Verteidigungsrede hält, redet er wie immer in schlichten, ungekünstelten, aber wahren Worten. (Ap. 17 b f.) Er lässt nicht zu, dass die Sorge um das eigene leibliche Leben und damit die Todesfurcht über die Sorge um die Seele siegt und ihn zu Handlungen verleitet, von denen er zutiefst weiß, dass sie nicht recht sind. Das ist der philosophische Kampf, in den er sich gestellt sieht. Hier aus Angst zurückzuweichen, obwohl kein Mensch mit Sicherheit wissen kann, ob der Tod oder ob das Leben das größere Gut ist, hieße, Gott Begierden, dünkt dich das nicht recht eines Philosophen würdig, der sich wohl überlegt, daß er sie in diesem Zustand wohl, gebunden mit dem Verlangen nach der Tugend, festhalten könnte, solange sie aber mit den Trieben und der Wut des Leibes behaftet sind, sie nicht einmal sein Vater Kronos sie bei sich festhalten könnte …? (Ja· t¹ aw lµ 1h]keim sume?mai to?r !mhq~poir 5wousi t± s~lata, !kk± t|te succ_cmeshai, 1peid±m B xuwµ jahaq± × p\mtym t_m peq· t¹ s_la jaj_m ja· 1pihuli_m, oq vikos|vou doje? soi eWmai ja· ew 1mtehulgl]mou fti ovty l³m #m jat]woi aqto»r d^sar t0 peq· !qetµm 1pihul_ô, 5womtar d³ tµm toO s~lator pto_gsim ja· lam_am oqd’ #m b Jq|mor d}maito b patµq sucjat]weim art` …; Cra. 404a, Üb. Schl.) Obwohl Hades ein Gott ist und Götter nicht philosophieren, weil sie schon Wissende sind, (Ly. 218a u. S. 208, Smp. 204a u. S. 245) wird er hier mit einem Philosophen verglichen. Der Vergleichspunkt ist das Begehren der Seele nach schönen Reden und nach der Tugend, das höher geschätzt wird als das Begehren, das vom Leib und dessen Leidenschaften ausgeht. Daher die Betonung der Reinheit der Seele als Voraussetzung für die Wertschätzung der Reden über die Tugend und das Gute. Das verbindet den Totengott mit einem Philosophen. Im Phaidon findet diese Haltung in Gestalt des sterbenden Sokrates ihre eindrücklichste Bestätigung. (Phd. 63e – 65d)
Gorgias: Ein Leben im Dienst der Vernunft
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ungehorsam zu werden. (Ap. 29b) Für Sokrates steht das Leben der Seele über dem Leben des Leibes. Deswegen wird er, solange er lebt, nicht aufhören zu philosophieren. Denn die Seele lebt nur, wenn sie philosophiert.
2.
Gorgias: Ein Leben im Dienst der Vernunft
Der Name von Gorgias steht in herausragender Weise für die rhetorische Kunst der Sophisten. Daher wundert es nicht, wenn der Dialog den Untertitel »Über die Rhetorik« (DL III 59) trägt. Mit gutem Grund erwartet der schon an der Rhetorikdiskussion im Protagoras und Euthydemos geschulte Leser, in diesem Zusammenhang auch das Philosophieverständnis thematisiert zu finden. Und in der Tat stehen sich wieder sophistische Makrologie und sokratische Brachylogie gegenüber, wenn Sokrates vom großen Rhetor fordert, er möge sich auf eine Untersuchung durch kurze Fragen und Antworten einlassen; oder wenn er dem übereifrigen Assistenten Polos verwehrt, sich in großen Reden zu gefallen.201 (Grg. 449b f., 461d) Doch überraschenderweise fällt der Philosophiebegriff in den ersten beiden der insgesamt drei Dialogteile gar nicht, weder im Gespräch mit Gorgias noch mit Polos. Sokrates fordert von ihnen lediglich die Bereitschaft, »ein Gespräch zu führen«, das dialegesthai. Allerdings hat dialegesthai hier schon einen technischen Klang und meint das, was er andernorts Philosophieren nannte, nämlich eine methodische Prüfung von Thesen, den elenchos.202 (Grg. 471e – 472c, 474a) Erst in der dritten und letzten Gesprächsrunde des Dialogs finden sich gehäuft Ausdrücke aus der Wortfamilie Philosophie, nämlich insgesamt 18-mal. In diesem Dialogteil greift Kallikles, der Gastgeber von Gorgias und Polos,203 in das Gespräch ein. Er will die widersprüchlichen Äußerungen zur Rhetorik retten, in denen sich seine Vorredner verfangen hatten, weil sie aus Scham und Rücksicht auf die allgemeinen Moralvorstellungen nicht offen zu reden wagten.204 Mit buchstäblicher Scham-Losigkeit, die als Freimut deklariert wird, legt Kallikles 201 Vgl. Prt. 335a f., 336b; 338e; und S. 56 f.; zu Polos als Vertreter der jeunesse dor¦e siehe Anm. 178. 202 Vgl. die entsprechende Diskussion im Protagoras, S. 56 f., Euthydemos, S. 70 f., Theaitetos, S. 83 ff., Sophistes, S. 336 f. 203 Kallikles wird nicht ausdrücklich als Gastgeber der beiden Sophisten genannt, doch kann man darauf aus der Art schließen, wie er sich von Gorgias in die Pflicht nehmen lässt, das Gespräch mit Sokrates fortzuführen, obwohl Kallikles sich dem entziehen möchte. Darin genügt er der Rolle des Gastgebers, wie sie im Protagoras auch Kallias wahrnimmt; vgl. a. Dalfen, Platon: Gorgias, 123 f. 204 Zur Scham als Leitmotiv des Gorgias s. Kobusch, Sprechen und Moral, 87 – 108; Ders., Wie man leben soll: Gorgias, 50 – 53; Erler, Platon, PhdA 2/2, 137; Erler/Kobusch, Platon: Gorgias, 319 – 323, 332 – 334.
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Das philosophische Leben
die Regeln offen, die seiner Ansicht nach das menschliche Leben, Reden und Handeln bestimmen: die grenzenlose Befriedigung der eigenen Begierden und das naturhafte Recht des Stärkeren. Erst durch Kallikles wird die Frage nach der Lebensform Gegenstand der Diskussion, weil er unverhohlen seine hedonistischen Vorstellungen von einem guten Leben vorträgt. In diesem Zusammenhang wird dann auch das damit einhergehende Philosophieverständnis thematisiert und problematisiert. Denn für Kallikles ist Philosophie nichts anderes als politische Rhetorik, die im Dienst der Bedürfnisbefriedigung steht. Sokrates dagegen vertritt eine Philosophieauffassung, die zur Bedürfnislosigkeit gegenüber den äußeren Gütern verhilft, weil sie die Sorge um die Seele zum Gegenstand hat. Denn erst die Tugend der Seele gewährleistet wirkliches Glück und verhilft zu einem guten Leben. Platon hat offensichtlich im Gorgias den Philosophiebegriff für die Reflexion über das philosophische Leben aufgespart. Dazu gehört auch die philosophische Rede. »Wie man reden soll« bestimmt sich durch die Auffassung, »wie man leben soll«.205 Im Zusammenhang mit dem philosophischen Leben ist der philosophische Logos wieder Gegenstand der Diskussion.206
2.1.
Der Logos der Philosophie ist immer derselbe
Das Gespräch von Sokrates mit Gorgias und Polos dreht sich um die Frage nach dem Nutzen der Rhetorik für das Glück der Menschen. Während die beiden Sophisten in der Rhetorik ein Machtmittel zur Durchsetzung eigener Interessen und Bedürfnisse sehen, (Grg. 466b ff.) betont Sokrates, dass alles Streben des Menschen auf ein letztes Gut geht, das nur erreicht wird, wenn man sich nicht darüber täuscht. Nicht die Macht verhilft zum Glück, sondern allein die Kenntnis des Guten, wozu Bildung (paide¸a) und Tugend, insbesondere Gerechtigkeit nötig sind. (Grg. 468c, 470e) Weil Unrechttun das größte unter allen Übeln ist, schadet es nicht nur der Seele, sondern steht auch dem Glück entgegen. 205 Erler/Kobusch, Platon: Gorgias, 316. Der Gorgias ist so vielschichtig, dass es schwer fällt, in der Rhetorik den Skopus des ganzen Dialogs zu sehen. Bereits in der Spätantike richtet Olympiodor das Augenmerk auf die ethischen Probleme des sozio-politischen Lebens. Auch einige heutige Autoren sehen in der Lebensphilosophie die Klammer, welche Themen wie Rhetorik und Politik, Gerechtigkeit und Tugendwissen, Lust und Glück zusammenhält. (Siehe Dodds, Plato: Gorgias, 1 – 4; Dalfen, Platon: Gorgias, 109 ff.; Erler, Platon, PhdA 2/2, 134 f.; Renaud, Le commentaire de Gorgias par Olympiodore, 309 – 316; Erler/Kobusch, ebd., 310, 315 f.) 206 Die Wortfamilie b¸or bzw. f/m findet sich ebenso wie die Wortfamilie vikosov¸a erst signifikant im Kallikles-Gespräch. Lediglich Grg. 461c, 473c (b¸or) und Grg. 478e (f/m) greifen dem Thema der Lebensführung vor, das den Kalliklesteil bestimmt. Das spricht für die enge Verbindung von Philosophie und Lebensführung, die Platon im 3. Dialogteil bewusst herausarbeiten will.
Gorgias: Ein Leben im Dienst der Vernunft
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(Grg. 479d) Deswegen kann es nicht die Aufgabe der Rhetorik sein, sich mit allen Mitteln durchzusetzen und sei es zu dem Preis des Unrechts, sondern es verhält sich genau umgekehrt: Ihre rechtmäßige Aufgabe besteht darin, dass man sich selbst anklagt und auf diese Weise vom größten Übel, der Ungerechtigkeit, befreit.207 Mit dieser Auffassung stellt Sokrates die gängigen Vorstellungen von Funktion und Wert der Rhetorik völlig auf den Kopf. Polos bestätigt denn auch, dass eine solche Selbstanklage in dieser Welt buchstäblich keinen Platz hat (%topa, Grg. 480e). Doch Sokrates setzt dem noch die Krone auf, indem er aus dem bisher Zugestandenen folgert, dass man jemanden, dem man übel will, mit allen rhetorischen Mitteln vor Strafe bewahren muss, weil er dann am meisten an seiner Seele Schaden leidet und als schlechter Mensch so lange wie möglich lebt. Man belässt ihn damit in seinem Unglück. Für jemanden aber, der von vornherein bemüht ist, kein Unrecht zu tun, ist die Rhetorik dagegen ohne Nutzen. (Grg. 480b – 481b) Sokrates provoziert hier bewusst die communis opinio und erntet konsequenterweise Fassungslosigkeit. In dieser heiklen Situation interveniert Kallikles und bezweifelt die Ernsthaftigkeit von Sokrates: »Denn wenn du es ernstlich meinst und das wahr ist, was du sagst, so wäre ja das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt (Bl_m b b¸or !matetqall´mor) und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten?« (Grg. 481c, Üb. Schl.) Aber Sokrates ist es ganz ernst.208 Er glaubt tatsächlich, dass das Leben gemeinhin auf völlig falschen Voraussetzungen aufgebaut wird. Kallikles greift den Fehdehandschuh auf, den Sokrates hingeworfen hat. Er versucht, den Vorwurf der Verkehrtheit gegen Sokrates und dessen Lebensauffassung zu wenden. Er will die Regeln menschlichen Zusammenlebens, die Sokrates auf den Kopf gestellt hatte, wieder auf die Füße stellen. Damit steht die ethische Grundsatzfrage im Raum, wie man leben soll (p_r biyt´om, Grg. 492d).209 Das bekannte Motiv der Lebenswahl zwischen Tugend und Laster210 erscheint hier in neuem Gewand. Es wird im Verlauf des Kallikles-Gesprächs zur Wahl zwischen der Philosophie, wie Sokrates sie versteht, und der Politik, wie Kallikles sie versteht; zwischen einem maßvollen (josl¸yr) Leben im Dienst der Vernunft und einem ungezügelten (!jok²styr) Leben im Dienst der Begierden. 207 Zur Heilung der Seele von der Ungerechtigkeit durch das Unterweltgericht siehe den Jenseitsmythos Grg. 524d – 526c und S. 153. 208 Dass es Sokrates mit der »Selbstanklage« trotz der darin liegenden Provokation Ernst ist, geht auch aus der Bedeutung der »Selbstprüfung« hervor, die eine Form von Selbstanklage und unverzichtbarer Teil des sokratischen elenchos ist. Siehe dazu »die Wahrheit und sich selbst prüfen«, S. 64 ff. 209 Zu diesem Leitmotiv siehe Grg. 486c, 487e f., 491e, 492d – 494c, 500c f., 511b f., 512d f., 526d f., 527b-e. 210 Siehe die Geschichte von Herakles am Scheideweg, die Xenophon in seinen Memorabilien schon für Prodikos bezeugt. (X. Mem. II 1,21)
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Das philosophische Leben
(Grg. 493c, 500c, 527e) Damit ist nicht nur der Skopus des Kallikles-Gesprächs beschrieben, sondern dieses Problem liegt auch dem Dialog als Ganzem zugrunde. Die Lebensauffassungen von Sokrates und Kallikles stehen sich also von Beginn an diametral gegenüber. Es ist nun die spannende Frage, ob und wie unter diesen Voraussetzungen überhaupt ein Gespräch entstehen kann. Sokrates stellt zu diesem Zweck eine kommunikationstheoretische Überlegung an: Nur auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten sind sprachlicher Austausch und Verstehen überhaupt möglich. Kallikles und er würden nun durchaus solche Gemeinsamkeiten besitzen. Sie sind nämlich beide verliebt. Sokrates sucht also das Gespräch nicht auf der Ebene gegensätzlicher Meinungen, sondern gleicher Erfahrungen anzusiedeln, um daraus ein gemeinsames Nachdenken erwachsen zu lassen. Wir beide lieben jeder zwei, ich den Alkibiades, den Sohn des Kleinias, und die Philosophie; du den Demos, das Volk von Athen und [Demos,] den Sohn des Pyrilampes. (1q_mte d¼o emte duo?m 2j²teqor, 1c½ l³m )kijibi²dou te toO Jkeim¸ou ja· vikosov¸ar, s» d³ toO te )hgma¸ym d¶lou ja· toO Puqik²lpour. Grg. 481d, Üb. B.S.)
Sokrates spielt hier auf sein stadtbekanntes freundschaftliches Verhältnis zu Alkibiades an und vergleicht es mit seiner Liebe zur Philosophie. Ganz entsprechend bescheinigt er auch Kallikles eine doppelte Liebe, nämlich zur stadtbekannten Schönheit Demos und zum Volk der Athener.211 Dabei bezieht sich ihre Liebe zum einen jeweils auf ein Individuum, das durch seinen Eigennamen bezeichnet wird, und zum anderen auf das Volk von Athen, beziehungsweise die Philosophie. Geschickt unterstellt Sokrates dabei eine zweifache Analogie. Zunächst setzt er die Liebe zu einem individuellen Menschen mit der Liebe zu einer apersonalen Entität gleich. Das ist nicht unproblematisch, denn man kann fragen, ob man einen Menschen in gleicher Weise liebt wie ein Kollektiv oder eine Tätigkeit und geistige Disziplin. Das ist nur unter der Annahme plausibel, dass alles Streben des Menschen prinzipiell gleichartig ist.212 Indem Sokrates seine Liebe zu »Alkibiades, Sohn des Kleinias, wie auch zur Philoso211 Platon spielt hier mit den Worten, weil »Demos« sowohl das Volk bedeutet als auch ein Eigenname ist. In den 470er Jahren kamen politisch-programmatische Namen in Mode. Aufgrund seiner demokratischen Gesinnung nannte Pyrilampes seinen Sohn aus erster Ehe »Demos«. Demos war in der Jugend wegen seiner Schönheit berühmt, während seine intellektuellen Fähigkeiten nicht den gleichen Ruf genossen. Er war ein Stiefbruder von Platon, denn Platons Mutter Periktione heiratete in zweiter Ehe Pyrilampes, den Vater von Demos. (Nails, The People of Plato, 124 f.) In der Komödie Die Ritter von Aristophanes umschmeicheln die Demagogen den Herrn Demos, eine Personifikation des Volks von Athen, und bezeichnen sich als »Liebhaber des Volks«, um es leichter beschwatzen und verführen zu können. (Ar. Eq. 732 – 735, 1340 – 1350; s. a. Dalfen, a. a. O., 312 f.) 212 Diese Behauptung und ihre Implikationen für das Verhältnis von Körper und Seele diskutiert Sokrates ausführlich im Lysis, Symposion und Phaidros.
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phie« vergleicht mit der Liebe von Kallikles zum »Demos, Sohn des Pyrilampes, wie auch zum Volk von Athen«, behauptet er nicht nur die unproblematische Entsprechung der Liebe zu den beiden Jünglingen Alkibiades und Demos. Er behauptet auch eine Analogie der Liebe zur Philosophie wie zum Volk von Athen. Das »Volk von Athen« ist grammatisch aber ein Konkretum, es hat gegenständlichen Charakter und besteht aus einer klar umrissenen Menge von Menschen. Man kann das Volk deswegen zusammenrufen und diskutieren lassen. Es kann auch Beschlüsse fassen, die dann zu einer konkreten Mehrheitsmeinung führen. Anders steht es um die Philosophie, denn sie ist grammatisch ein Abstraktum und hat ungegenständlichen Charakter. Nun könnte man Sokrates vorwerfen, dass diese Analogie unzulässig ist und deswegen die Brücke zum gemeinsamen Verstehen, die er zwischen Kallikles und sich baut, nicht tragfähig sei. Aber dann versteht man den Sinn dieses so offensichtlich rhetorischen Kunstgriffs nicht. Sokrates will weder den Unterschied von Individuum und Kollektiv noch von Konkretum und Abstraktum nivellieren. Er will, möglicherweise angeregt durch die allegorische Personifikation des Demos in der Komödie, darauf hinarbeiten, dass die Philosophie auch eine »Stimme« und »Meinung« hat. Diese ist für Sokrates nicht weniger konkret als die Meinung des Volks von Athen, die communis opinio, und stellt sie gegebenenfalls sogar auf den Kopf, wie man an der Reaktion von Polos und Kallikles sieht. Die Stimme der Philosophie, auf die Sokrates hört und in die er verliebt ist, ist ihre Vernünftigkeit, ihr sich stets gleichbleibender Logos. (Grg. 482a) Darüber hinaus will Sokrates durch die Einführung des erotischen Motivs zeigen, dass weder er noch Kallikles noch irgendein Verliebter in seiner Meinung frei ist, sondern bestimmt durch den Gegenstand seiner Liebe: »Ich bemerke nun allemal an dir, so gewaltig (deimoO)213 du auch sonst bist, daß, was immer dein Liebling (paidij²) behaupte und wie er es behaupte, daß sich etwas verhalte, du ihm niemals widersprechen kannst, sondern umwendest bald so, bald so (%my ja· j²ty letabakkol´mou).« (Grg. 481d f., Üb. Schl.) Sokrates spielt hier mit der gesellschaftlich sanktionierten Form homoerotischen Liebeswerbens.214 Dabei weist er einerseits sich und Kallikles die Rolle des Liebhabers, des 1qast¶r, zu und andererseits Alkibiades und Demos beziehungsweise der Philosophie und dem Volk von Athen die Rolle des Geliebten, des paidij² oder 1q¾lemor.215 213 Die Betonung der Wortgewalt des Rhetors durch deimºr ist ein gängiger topos bei Platon. Wenn Sokrates hier auf diese Selbst- und Fremdeinschätzung anspielt, so ironisiert er sie, indem er die Abhängigkeit des Redners vom Urteil dessen, den er überzeugen will, herausstreicht. Siehe dazu S. 93 ff. 214 Die Mischung aus sachlichem Ernst und spielerischer Darstellung soll zur Verunsicherung unhinterfragter Denkgewohnheiten beitragen und die Bereitschaft zum Umdenken fördern. 215 Zur Terminologie und zur gesellschaftlichen Auffassung der antiken klassischen Knaben-
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Das philosophische Leben
Die gemeinsame Erfahrung, auf die Sokrates abhebt, ist das Verliebtsein des Erasten. Wer verliebt ist, sucht dem zu gefallen, den er liebt. Er redet ihm nach dem Mund, weil er gewinnen will, was er erstrebt. Der Geliebte ist Orientierungspunkt und Maßstab für die Rede des Liebenden. Der Liebende ist also nicht frei zu reden, wie und was er will, sondern er muss das vertreten, was sein Liebling schön und richtig findet.216 Ändert dieser seine Meinung, muss auch der Liebhaber eine Kehrtwendung vollziehen, und dann schwanken beide hin und her. Hält man dem Liebhaber die Widersprüchlichkeit und Ungereimtheit (%topa)217 seiner Reden vor, so kann er auf seine Abhängigkeit verweisen, »… daß, wenn nicht jemand machen könnte, daß dein Liebling aufhöre, dergleichen zu sagen, du auch nicht aufhören würdest, dasselbe zu sagen.« (Grg. 482a, Üb. Schl.) Diese Begründung nimmt nun auch Sokrates für sich in Anspruch, freilich mit umgekehrter Intention. Denn was bei der schwankenden und ungewissen Meinung eines Menschen zum Problem wird, nämlich die Abhängigkeit des Liebenden vom Geliebten, ist beim steten und wahren Logos der Philosophie eine Stärke. Sokrates beruft sich darauf, dass allein die Philosophie der Maßstab seiner Rede ist und Garant ihrer Beständigkeit: Nimm also an, dass du dir auch von mir noch mehr derartige Dinge anhören musst, und wundere dich nicht, dass ich solche Dinge rede, sondern sorge dafür, dass die Philosophie, mein Liebling, aufhört, so etwas zu reden. Denn sie redet das, mein lieber Freund, was du jetzt von mir hörst, und sie ist viel weniger wankelmütig als der andere Liebling. Denn der Sohn des Kleinias sagt einmal das, ein andermal jenes; die Philosophie aber sagt immer dasselbe. (mºlife to¸mum ja· paq’ 1loO wq/mai 6teqa toiaOta !jo¼eim, ja· lµ ha¼lafe fti 1c½ taOta k´cy, !kk± tµm vikosov¸am, t± 1l± paidij², liebe und der Funktion des Liebeswerbens vgl. die Pausanias-Rede im Symposion und deren Umdeutung in der Diotima-Rede (Smp. 180c – 185c, und S. 226 ff.; 204c, 208e – 212a und S. 231); zur Umkehr des Verhältnisses von erastes und eromenos bei Sokrates und seinen vermeintlichen Lieblingen s. Smp. 222b, vgl. a. Patzer, Die griechische Knabenliebe, 90 – 125, Dover, Greek Homosexuality, 16. Im Gorgias kommt der Philosophie die Rolle des Lieblings, also des eromenos zu, im Symposion ist der philosophische Eros dagegen der Liebhaber, der erastes. 216 Deswegen behauptet Pausanias im Symposion, dass die Rede eines Liebhabers keine Verbindlichkeit habe. Seine Schwüre seien nur Ausdruck von Schmeichelei (jokaje¸a). Ein Liebesschwur sei gar kein Schwur und würde von der Gesellschaft auch nicht ernst genommen, weil er nur dazu dient, den Geliebten zu gewinnen. (Smp. 183a f.). Diese utilitaristische Auffassung entspricht ganz der Schmeichelkunst (jokaje¸a) des Rhetors im Gorgias, (Grg. 463b f., 464e ff., 501c u. ö.) steht aber in scharfem Kontrast zum Logos der philosophischen Rede, die nicht das persönlich Angenehme und Vorteilhafte sucht, sondern das allgemein Gute zum Maß hat. Dodds beschreibt darum das Verhältnis von Rhetor und Volk in der attischen Demokratie als das von Diener und Souverän. (Dodds, Plato: Gorgias, 262) 217 Das ist eine Replik von Sokrates auf den gegen ihn gerichteten Vorwurf der Atopie wegen seiner Meinungen über Funktion und Wert der Rhetorik, die nicht in die reale Welt passen, siehe S. 133.
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paOsom taOta k´cousam. K´cei c±q, § v¸ke 2ta?qe, !e· $ mOm 1loO !jo¼eir, ja¸ lo¸ 1stim t_m 2t´qym paidij_m pok» Httom 5lpkejtor7 b l³m c±q Jkeim¸eior oxtor %kkote %kkym 1st· kºcym, B d³ vikosov¸a !e· t_m aqt_m7 Grg. 482a, Üb. nach Dalfen)
Sowohl die Veränderlichkeit der Rede und die Inkonsistenz der Meinung einerseits wie auch andererseits die Beständigkeit des Logos und Konsistenz der Auffassungen hängen vom Gegenstand der Liebe ab, nehmen daran Maß und ahmen ihn nach. Richtet sich die Liebe auf einen Gegenstand der Körperwelt, wie das bei der Liebe zu einem Menschen der Fall ist, so ist die Rede den Schwankungen und Veränderungen unterworfen, die der Körperwelt eignen. In dieser Weise macht Sokrates auch seine Liebe zu Alkibiades zu schaffen. (Grg. 482a) Richtet sich die Liebe aber auf einen Gegenstand der geistigen Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten, wie es bei der Philosophie der Fall ist, so hat der Liebende dadurch auch an deren Beständigkeit Teil. Das macht den Unterschied zwischen der Liebe zur Philosophie und der Liebe zu einem Menschen aus. An der Rede des Liebenden, an ihrer Beständigkeit oder Unbeständigkeit, zeigt sich, was er liebt.218 Durch den allegorischen Vergleich mit der Knabenliebe wird die Philosophie aus ihrer Abstraktheit herausgeholt und die geistige Welt, für die sie steht und die sie personifiziert, bekommt eine Stimme, den Logos.
2.2.
Ein Leben im Dienst der Begierde (Kallikles)
Kallikles nimmt die Herausforderung durch Sokrates an und argumentiert gegen die sokratische These, dass Unrecht tun schändlicher sei als Unrecht leiden. Sokrates habe sich dabei wie ein schlechter Volksredner (dglgcºqor, Grg. 482c, e) benommen, der nicht auf die Wahrheit achtet, obwohl er es immer behauptet. Vielmehr versuche er, das Volk mit seinen Reden einzufangen,219 indem er darauf zielt, was das Gesetz für gut hält, aber der Natur nach nicht gut ist. (Grg. 482e) Denn Natur und Gesetz stünden einander meistens entgegen. Naturgemäß sei das, was schändlicher ist, auch übler. Das gelte auch für das Unrechtleiden. Dem Gesetz nach ist aber umgekehrt das Unrechttun schändlicher und übler. (Grg. 483a) Nun ziemt es sich für einen Mann nicht, Unrecht zu leiden, sondern nur für einen Sklaven, der unfähig ist, sich selber zu helfen, wenn 218 Wenn gilt, dass die verschiedenen Sprechweisen Elemente verschiedener Lebensweisen sind: »Wie man sprechen soll hängt engstens mit dem zusammen, wie man leben soll« (Erler/Kobusch, Platon: Gorgias, 337) so darf man ergänzen: was man lieben und erstreben soll. Irwin weist darauf hin, dass sich hier bereits die Entwicklung und der Aufstieg von der Liebe zu Personen über die Liebe zum Wissen und schließlich zu den Ideen andeuten, die im Symposion zentral sind. (Irwin, Plato: Gorgias, 168 f.) 219 Man beachte die Replik auf die Charakterisierung von Kallikles als »Liebhaber des Volks« (Grg. 482a).
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Das philosophische Leben
er beleidigt oder beschimpft wird.220 Für diesen wäre es folglich besser zu sterben als zu leben. Die Menge der schwachen Menschen erlässt darum Gesetze, die ihr nutzen, und redet den stärkeren Menschen Skrupel ein, damit sie nicht mehr Güter für sich beanspruchen als die Schwachen. Es sei aber naturgemäß, dass Bessere und Edlere (!le¸my) auch mehr haben (pk´om 5weim) als Schwächere und Geringere (we¸qomor). (Grg. 483b-c) Zum Beweis verweist Kallikles auf die Verhältnisse im Tierreich (1m to?r %kkoir f]oir)221 und auf politische Großmächte wie die persische Tyrannis. Im demokratischen Athen hingegen würden die Besten und Stärksten von Jugend an wie junge Löwen mit Besprechungen und Zaubersprüchen gezähmt und unter die Knechtschaft der Gleichheitsforderung gestellt – bis einer all die Schriften, die beschwichtigenden Reden und widernatürlichen Gesetze abschüttelt und sich mit dem Recht der Natur als Despot, als »unser Herr« erweist.222 (Grg. 483d – 484c) 220 Für Homer und das griechische Denken gehört die Fähigkeit, sich selbst, seiner Familie und Freunden zu helfen, zur arete. (Irwin, Plato: Gorgias, 172) Die Fähigkeit zur Selbsthilfe ist für Kallikles und in der öffentlichen Meinung Inbegriff der Freiheit. Sokrates wird demgegenüber die wahre Selbsthilfe thematisieren, die darin besteht, die Seele zu bessern. (Erler/Kobusch, Platon: Gorgias, 339 ff.) Dodds verweist hier auf den Unterschied zwischen »Herrenmoral« und »Sklavenmoral«, wobei je nach sozialem Status unterschiedliche moralische Maßstäbe gelten. (Dodds, Plato: Gorgias, 265 f.) 221 Der Ausdruck 1m to?r %kkoir f]oir ist doppeldeutig, weil f`om zum einen allgemein das Lebewesen meint, zum anderen aber auch speziell das Tier bezeichnet. Kallikles argumentiert hier geschickt, dass das Recht, auf das er sich beruft, für alle Lebewesen gilt, also auch für den Menschen, und greift dabei auf tierische »Vorbilder« zurück. Kallikles nivelliert den Unterschied zwischen Mensch und Tier, der durch die Vernunft gegeben wird, wie später deutlich wird, da er die Vernunft als Regulativ der Begierden ablehnt und, vor die Lebenswahl gestellt, sich für ein Leben im Dienst der Begierden entscheidet. (Grg. 493c, 500c) Vgl. a. S. 148 f., 150. 222 Kallikles spricht hier unvermittelt und emphatisch von »unserem Herrn« (despºtgr Bl´teqor, Grg. 484a). Aichele hat das als einen Beweis für die demokratische Gesinnung von Kallikles gewertet, der sich zu den Schwachen zähle oder zumindest zur »großen Menge derer, die von den widernatürlichen Satzungen profitieren und dem naturgegebenen Herrscher unterworfen sind, wenn er denn an die Macht käme.« Obwohl Kallikles offen nach politischer Macht strebt, sei er zugleich bereit, den natürlichen Machthaber als »unseren Herren« anzuerkennen, denn es sei die »Pflicht des Politikers, die große Masse des d/lor zu überzeugen«. Auch wenn die Tyrannis erstrebt sei, wofür Aichele aber keine zureichenden Indizien sieht, ließe sie sich »nur in der Offenheit einer Demokratie« befriedigen, und das heißt in der »Konkurrenz öffentlicher Rede« und der Anerkennung der demokratischen Konkurrenz. (Aichele, Kallikles’ Einsicht, 198 f., 203, 212) Diese Argumentation verharmlost die machtpolitischen Ambitionen von Kallikles und geht an der politischen Realität in Athen vorbei, wo der Sturz des demokratischen Systems und die Machtergreifung der Oligarchen durch planmäßige Einschüchterung der Bevölkerung und Terror vorbereitet und in der strategisch eingefädelten Selbstentmachtung der Volksversammlung besiegelt wurde. (Vgl. Welwei, Das Klassische Athen, 220 – 224) Es gehört zum Wesen einer Gewaltherrschaft, dass sie, einmal an der Macht, sich nicht mehr der politischen Konkurrenz in demokratischen Prozessen stellt. Ließe sie die Freiheit öffentlicher Rede zu, wäre sie keine Gewaltherrschaft. Die Gesetze des Aufstiegs gelten nach der
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Kallikles behauptet mit dieser Physis-nomos-Antithese ein natürliches Recht auf der Seite der Stärkeren und rechtfertigt das Streben, mehr zu haben als andere, die pleonexia.223 Dagegen sieht er im Gesetz nur eine im Widerspruch zur Natur stehende Übereinkunft der Masse der Schwachen, eine bloße Konvention mit dem Ziel, die wenigen Starken zu unterdrücken.224 Die Domestizierung des Löwenmenschen, des von Natur aus Starken und Besseren, beginnt in der Jugend durch Schriften, Bezauberungen, Besprechungen und widernatürliche Gesetze (cq²llata ja· laccame¼lata ja· 1p\d±r ja· mºlour to»r paq± v¼sim, Grg. 484a), das heißt durch eine Erziehung, bei der die Sprache eine zentrale Rolle spielt. Die Beschreibung lässt sowohl kultische Praktiken assoziieren als auch die moralisch kathartische Wirkung der Dichtung.225 Diese kulturellen Prägungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie mit sprachlichen Mitteln die sittlichen Maßstäbe eines Gemeinwesens formen, stehen unter dem Verdacht, die natürliche Entwicklung eines überdurchschnittlich begabten jungen Menschen einzuschränken, indem sie ihn unter das nivellierende Joch des Gemeinwohls zwängen. So wird aus dem potentiellen Herrn ein Knecht der Vielen, aus dem Freien ein Sklave – es sei denn, er schüttelt in einem Machtergreifung nicht mehr. Wenn Kallikles hier von »unserem Herrn« spricht, ist das kein Bekenntnis zur Demokratie, sondern eine emphatisch vorgetragene, rhetorische Formel, durch die er sich verbal mit den Massen solidarisiert, um als ihr Führer aufzutreten, politisch agieren und seine Auffassung vom natürlichen Recht umsetzen zu können. Was das für die Masse bedeutet, ist klar gesagt, auch wenn sie darüber hinweghört. Eben das nennt Sokrates die Schmeichelei der Rhetorik. Die »Offenheit einer Demokratie«, von der Aichele spricht, kann nicht heißen, den Brandstifter zum Biedermann zu machen und aus Kallikles einen Demokraten. Er ist der Typ des selbstbezogenen und von seinen Begierden beherrschten Machtpolitikers. 223 Es geht nicht nur um das persönliche Mehr-haben-Wollen, sondern auch um die pleonexia des Staates. Dem Despotismus des Einzelnen entspricht dabei das Großmachtstreben des Staates. Die Kritik von Sokrates gilt deswegen auch den Politikern Athens, siehe Grg. 515e – 519d. 224 Die sogenannte Physis-Nomos-Antithese geht auf Reflexionen Mitte des 5. Jh. zurück, die eine Begründung ethischer Regeln geben, welche einerseits von Natur aus gelten und daher allgemeingültig und unveränderlich sind, und andererseits von Menschen als Konvention aufgrund von Übereinkunft geschaffen werden, aber deswegen auch relativ und veränderbar sind. (Zur Physis-Nomos-Antithese vgl. Dalfen, Platon: Gorgias, 320 – 327; Irwin, Platon: Gorgias, 170 – 172; Deitz, Art. Physis/Nomos; zur Naturrechtsdiskussion siehe Brandt, Art. Naturrecht) Da nach griechischem Denken alles Recht auf ein Gesetz rückführbar sein muss, will Kallikles das »Recht des Stärkeren« in einem »Gesetz von Natur« verankern. (Neschke-Hentschke, Der Dialog Gorgias und die Tradition des europäischen Naturrechts, 68) 225 Dodds ist der Auffassung, dass sich die Kritik von Kallikles nicht nur gegen rechtsverbindliche Gesetze richtet: »But anything in writing, from a book to a magic spell, can be called cq²llata … and …the point must lie in the implied contrast between conventional written rules (including such things as the maxims inscribed at Delphi and the whole mass of inherited gnomic poetry) and the uninhibited freedom of the ›lionine‹ man.« (Dodds, Plato: Gorgias, 269)
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Das philosophische Leben
Akt der Wahrhaftigkeit die Fesseln ab, tritt aus der Masse hervor, geht in die Offensive und zeigt sich als derjenige, der er von Natur her ist: ein Löwenmensch. Diesen Schritt vollzieht nunmehr Kallikles, indem er seine Intention und sein Selbstverständnis offen- und alle falsche Scham ablegt: Das natürliche Recht ist auf der Seite des Stärkeren und Besseren, der sich durchzusetzen weiß und sich notfalls gewaltsam nimmt, was ihm zusteht.226 (Grg. 484b f.) Vor diesem Hintergrund der Gängelung und Knechtung des freien und starken Mannes durch Gesetz, Sitte und Erziehung müssen auch die Äußerungen von Kallikles über die Philosophie verstanden werden: So verhält es sich nun in Wahrheit, und du wirst es einsehen, wenn du die Philosophie endlich sein lässt und zu Größerem fortschreitest. Die Philosophie ist nämlich, o Sokrates, ganz nett, wenn sich jemand maßvoll damit in der Jugend befasst. Wenn er sich aber über das notwendige Maß hinaus damit beschäftigt, wird sie für die Menschen zum Verderben. Denn selbst wenn einer eine große Naturbegabung hat und er dann über das entsprechende Alter hinaus philosophiert, bleibt er notwendig in allem unerfahren, worin derjenige Erfahrung haben muss, der ein kalon kagathon werden will und ein geachteter Mann.227 (T¹ l³m owm !kgh³r ovtyr 5wei, cm~sei d], #m 1p· t± le_fy 5kh,r 1\sar Edg vikosov_am. vikosov_a c\q to_ 1stim, § S~jqater, waq_em, %m tir aqtoO letq_yr ûxgtai 1m t0 Bkij_ô· 1±m d³ peqait]qy toO d]omtor 1mdiatq_x,, diavhoq± t_m !mhq~pym. 1±m c±q ja· p\mu eqvuµr × ja· p|qqy t/r Bkij_ar vikosov0, !m\cjg p\mtym %peiqom cecom]mai 1st·m ¨m wqµ 5lpeiqom eWmai t¹m l]kkomta jak¹m j!cah¹m ja· eqd|jilom 5seshai %mdqa. Grg. 484c f., Üb. B.S.)
Man muss sich die Szene bildlich vorstellen, um die maßlose Überheblichkeit wahrzunehmen, mit der dieser junge Snob den deutlich älteren Sokrates ermahnt und belehrt, dass er nun endlich zur Einsicht kommen und erwachsen werden soll.228 Sokrates kommentiert später diese Anmaßung mit der polemi226 Dass Kallikles sich selbst zu den »Besseren« zählt und sich etwas darauf einbildet, aus besserem Hause zu stammen (bekt¸ym eWmai ja· 1j bektiºmym, Grg. 512d), sagt Sokrates mit deutlicher Polemik. Zur Selbstkennzeichnung der Oligarchen um Kritias als beltistoi in Abgrenzung zu den traditionellen agathoi siehe Anm. 178. 227 Zum Ausdruck »kalos kagathos« und dessen Wandlung vom snobistischen Modeausdruck zum Inbegriff des griechischen Bürgerideals siehe oben Anm. 178; zum Konflikt zwischen pleonexia/akrasia und Selbstbeherrschung (1cjq²teia) sowie dem Ideal des kalos kagathos bei Xenophon s. X. Mem. I 2, 12 ff. 228 Wegen der Anachronismen im Gorgias ist es kaum möglich, sich auf ein dramatisches Datum festzulegen. (Erler, Platon, 133; Dalfen, Platon: Gorgias, 118 – 122) Der Leser soll sich Kallikles jedoch als jungen Mann vorstellen, der im Begriff ist, in die Politik einzusteigen, der also eben erst volljährig wurde. (Grg. 515a) Von Sokrates hingegen heißt es in Anspielung auf den Arginusenprozess im Jahr 406, dass er bereits politische Erfahrung im Rat und in der Phyle hatte. (Grg. 473e) Sokrates ist demnach mit über Sechzig im fortgeschrittenen Alter zu denken, und der Altersunterschied zwischen beiden Gesprächspartnern beträgt mehr als vier Jahrzehnte. Die Altklugheit und Großspurigkeit der jungen Besserwisser ist ein Motiv, das sich häufiger bei Platon findet. (Ap. 25d; Euthphr. 3a, 5b; Mx. 234a f.)
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schen Bemerkung, dass Kallikles die Großen Weihen vor den Kleinen für sich in Anspruch nimmt, (Grg. 497c) dass er also völlig ahnungslos ist, was es mit der Philosophie auf sich hat und was ihr Ziel ist.229 Hier aber wird zunächst nur deutlich, dass Kallikles das politisch-öffentliche Leben für wichtiger hält als die Philosophie. Denn in seinen Augen ist sie erstens nur eine begrenzte Studienzeit in der Jugend, ein spielerischer Freiraum, bevor der Ernst des Lebens beginnt; zweitens sollte das Studium nicht übertrieben werden, weil sonst zu befürchten ist, dass dadurch die natürlichen Begabungen verdorben werden. Das Maß, das Kallikles hier anmahnt, bezieht sich sowohl auf die Länge als auch auf die Intensität des Studiums. Und drittens beanstandet er mangelnde Erfahrung und praktische Einsichten.230 Denn die Studenten der Philosophie sind unerfahren (%peiqoi) im politischen Leben, im Umgang mit ihren Organen und Funktionen: mit Gesetzen, bei Verhandlungen und bei der Anwendung psychologischer Strategien im Hinblick auf die Lüste und Begierden der Menschen (t_m Bdom_m te ja· 1pihuli_m t_m !mhqype¸ym). Verirren sich die ewigen Studenten in das öffentliche Leben, machen sie sich darum lächerlich.231 (Grg. 484d f.) Kallikles trägt hier ein Verständnis der Philosophie vor, das der allgemeinen Meinung in weiten Teilen entspricht, aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied. Die Kinder aus gutem Haus genießen eine begrenzte Studienzeit in den Gymnasien oder im privaten Unterricht, zumeist bei Sophisten, bevor sie mit Beginn der Volljährigkeit in das öffentliche Leben eintreten. Nicht ganz unkritisch sieht man die Möglichkeit, dass sie dabei auch schädlichen Einflüssen ausgesetzt sein könnten und verdorben würden. Die Sorge, dass die Sophisten mit ihren rhetorischen Künsten die Jugend verderben, ist ein verbreiteter Topos, der sich nicht nur bei Platon, sondern auch andernsorts findet.232 Bei Kallikles 229 Zum Vergleich der Einführung in die Philosophie und der Einweihung in die Eleusinischen Mysterien siehe Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 199 f. 230 Isokrates und seine Schule betonen gleichfalls die Bedeutung der Erfahrung für die politisch-philosophische Rhetorik. Sie kritisieren zudem einen Wissensanspruch, der zur Enthaltsamkeit im politischen Alltagsgeschäft führt. Auch stimmen Kallikles und Isokrates mit der öffentlichen Meinung darin überein, dass das philosophische Studium zeitlich begrenzt sein und der Vorbereitung auf die politische Praxis dienen soll. Kallikles vertritt also eine Philosophieauffassung, die der von Isokrates nahe kommt, siehe S. 39. Vgl. a. Dodds, Plato: Gorgias, 272; Dalfen, Platon: Gorgias, 334, 336; Natali, Adokesw¸a, Keptokoc¸a and the Philosophers in Athens, 237. 231 Vgl. Tht. 172c, 174d, 175b und S. 95 f. Die Hilflosigkeit des Philosophen in der Welt steht im Gegensatz zu seiner Fähigkeit zu wahrer Selbsthilfe, zur Übereinstimmung mit sich selbst und zur Identität der sittlichen Existenz. (Erler/Kobusch, Platon: Gorgias, 339 ff. Dagegen zeigt die »Konstruktion des Jenseitsgerichts, deren zentraler Sinn es ist, Rhetorik auszuschließen«, umgekehrt die Hilflosigkeit des Rhetors. Rhetor und Philosoph machen sich wechselseitig im Metier des anderen lächerlich. (Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, 83 f., 107) 232 Ar. Nu. 184 ff., 828 ff.; X. Mem. I 2, 31 – 38; Pl. Ap. 23d u. ö., siehe a. S. 112, 124, 332; s.a. Natali, Adokesw¸a, Keptokoc¸a and the Philosophers in Athens, 232 ff. Ob der Gorgias eine
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Das philosophische Leben
hat dieser Vorwurf jedoch eine andere Intention als üblicherweise. Vor dem Hintergrund der Physis-nomos-Antithese besagt er, dass eine von Natur aus gute Veranlagung (eqvu¶r) zunichte gemacht wird, wenn der Einfluss der Philosophie zu lang andauert und zu intensiv ist. Denn dann hat die philosophische Erziehung zur Folge, dass der naturhaft Starke und Bessere zu einem Schwächling mutiert. Während die Traditionalisten befürchten, dass die neue, sophistische Philosophie die Jugend verdirbt, weil die Söhne den Respekt vor den Autoritäten verlieren, vor den Eltern, Sitten und Gesetzen der polis, befürchtet Kallikles die Fesselung und Knechtung durch eben diesen überlieferten Ethos. Kallikles identifiziert sich nicht mit der Masse der Schwachen und ihren Konventionen, sondern er will sie benutzen. Dazu ist Erfahrung im politischen Tagesgeschäft nötig, während zuviel Reflexion die natürliche Begabung und Durchsetzungsfähigkeit nur überfremdet. Darin besteht für Kallikles das Problem mit der Philosophie. Ein Löwe, der erst darüber nachdenkt, ob es rechtens ist, sein Opfer zu fressen, ist kein Löwe mehr.233 Und auch die kritische Frage, ob Unrecht tun schändlicher ist als Unrechtleiden, ist für eine politische Karriere, wie Kallikles sie erstrebt, hinderlich. Bedenkenträger sind im praktischen politischen Alltagsgeschäft untauglich und machen sich lächerlich. Die Erfahrung mit den Gesetzen der polis, auf die er hier Bezug nimmt, ist denn auch nicht an der Frage nach Recht und Unrecht orientiert, das war schon mit Blick auf Gorgias als falsche Scham abgetan, sondern an den Möglichkeiten, die das politische Recht bietet, um an die Macht zu kommen. Dass auch Machtpolitiker das bestehende Gesetz und das Stimmrecht der Masse nutzen, um politische Entscheidungsprozesse in ihrem Sinne zu beeinflussen und sich aus der durchschnittlichen Masse der Bürger aufzuschwingen und als deren Herren zu beweisen, ist politische Realität im Athen des ausgehenden 5. Jahrhunderts.234 Kallikles steht hier für den Despoten, der sich mit Hilfe des Gesetzes, und das heißt auf den Schultern der Vielen, zum politischen Sieg tragen lassen will, um sich zu nehmen, was einem Herrn der Vielen gebührt. Dennoch lehnt Kallikles die Philosophie nicht gänzlich ab, sondern gesteht ihr einen begrenzten Reiz und Wert zu: Aber das Richtigste ist es, so meine ich, an beidem teilzuhaben: an derPhilosophie teilzuhaben, so weit sie der Bildung dient, ist eine gute Sache, und für einen Jugendlichen ist es nicht schändlich zu philosophieren. Wenn aber ein schon älterer Mensch Replik auf die fiktive Anklage des Sokrates durch Polykrates ist oder umgekehrt, ist allerdings umstritten. (Dodds, Plato: Gorgias, 28 f.) 233 Dodds sieht in dem Bild von dem Löwen, den man zu zähmen versucht, »the source of Nietzsche’s image of the ›beautiful blond biest‹«. (Dodds, ebd., 269, 387 – 391) 234 Ein Kabinettstück dieser Art war die Verschwörung um Peisandros und den in Persien auf seine Rückkehr nach Athen hoffenden Alkibiades, die dazu führte, dass die Volksversammlung sich im Jahr 411 selbst entmachtete und der oligarchisches Rat der 400 eingerichtet wurde. (Welwei, Das klassische Athen, 219 – 224)
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noch philosophiert, dann wird das eine lächerliche Angelegenheit, Sokrates. Ich für mein Teil empfinde gegenüber Leuten, die philosophieren, dasselbe wie gegenüber solchen, die stammeln und sich kindisch benehmen. (!kk’ oWlai t¹ aqh|tat|m 1stim !lvot]qym letaswe?m. vikosov_ar l³m fsom paide_ar w\qim jak¹m let]weim, ja· oqj aQswq¹m leiqaj_\ emti vikosove?m· 1peid±m d³ Edg pqesb}teqor £m %mhqypor 5ti vikosov0, jatac]kastom, § S~jqater, t¹ wq/la c_cmetai, ja· 5cyce bloi|tatom p\swy pq¹r to»r vikosovoOmtar ¦speq pq¹r to»r xekkifol]mour ja· pa_fomtar.) Wenn ich nämlich ein Kind sehe, dem es noch angemessen ist, so zu sprechen, das stammelt und kindlich spielt,235 freue ich mich und es scheint mir nett und ungezwungen und dem Alter des Kindes angemessen. Wenn ich aber ein kleines Kind höre, das sich ganz präzise ausdrückt, so ist mir das widerwärtig, es beleidigt meine Ohren und es macht auf mich einen geknechteten Eindruck. Wenn man aber einen Mann hört, der stammelt, oder einen sieht, der sich kindisch benimmt, erscheint er lächerlich und unmännlich und verdient Prügel. (ftam l³m c±q paid_om Udy, è 5ti pqos^jei diak]ceshai ovty, xekkif|lemom ja· pa?fom, wa_qy te ja· waq_em loi va_metai ja· 1keuh]qiom ja· pq]pom t0 toO paid_ou Bkij_ô, ftam d³ sav_r diakecol]mou paidaq_ou !jo}sy, pijq|m t_ loi doje? wq/la eWmai ja· !miø lou t± §ta ja_ loi doje? doukopqep]r ti eWmai7 ftam d³ !mdq¹r !jo}s, tir xekkifol]mou C pa_fomta bqø, jatac]kastom va_metai ja· %mamdqom ja· pkgc_m %niom.) Dasselbe empfinde ich nun gegenüber denen, die philosophieren. Wenn ich nämlich bei einem jungen Mann oder Jugendlichen Wissensdrang bemerke, freue ich mich und finde es angemessen, und ich halte diesen Menschen für einen freien Geist; den aber, der nicht philosophiert, für einen unfreien Menschen und einen, der sich selbst nie einer schönen und edlen Sache für würdig erachten wird. Wenn ich dagegen einen Älteren sehe, der noch philosophiert und nicht davon ablassen kann, scheint mir dieser Mann Prügel nötig zu haben, o Sokrates. (taqt¹m owm 5cyce toOto p\swy ja· pq¹r to»r vikosovoOmtar. paq± m]\ l³m c±q leiqaj_\ bq_m vikosov_am %calai, ja· pq]peim loi doje?, ja· BcoOlai 1ke}heq|m tima eWmai toOtom t¹m %mhqypom, t¹m d³ lµ vikosovoOmta !meke}heqom ja· oqd] pote oqdem¹r !ni~somta 2aut¹m oute jakoO oute cemma_ou pq\clator· ftam d³ dµ pqesb}teqom Udy 5ti vikosovoOmta ja· lµ !pakkatt|lemom, pkgc_m loi doje? Edg de?shai, § S~jqater, oxtor b !m^q. Grg. 485a-d, Üb. B.S.)
Der Vergleich ist eindeutig. Die Philosophie ist für Kallikles eine Art Spracherwerb. In ihr lernt man, sich der Sprache so zu bedienen, dass man flüssig und genau ausdrücken kann, was man sagen will. Zunächst mag man noch ungeschickt nach Worten suchen, und das ist für einen Anfänger auch recht und billig. Wer aber nach einiger Zeit immer noch nicht gelernt hat, sich richtig auszudrücken, sondern weiterhin stammelt und nach Worten sucht und diese hin- und herdreht und nichts als sein Spiel mit der Sprache treibt, verweigert seine Reifung und gehört bestraft wie ein Kind, das nicht lernen will. 235 Die deutsche Sprache macht, anders als pa¸fy oder paidijºr, einen feinen Unterschied zwischen »kindlich« als das dem Kind angemessene Verhalten und »kindisch« für das gleiche, aber dem Erwachsenen unangemessene Verhalten.
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Das philosophische Leben
An wen Kallikles dabei in erster Linie denkt, ist unschwer zu erraten: an Sokrates. Er bescheinigt ihm, dass es eines freien Bürgers unwürdig ist, die öffentlichen Plätze (!coq²r), an denen Politik gemacht wird, zu meiden und stattdessen »…versteckt in einer Ecke mit drei oder vier Jugendlichen flüsternd das weitere Leben zu verbringen, ohne jemals die Stimme zu etwas Freiem und Großem und Bedeutendem zu erheben.«236 (Grg. 485d f., Üb. Schl.) Der Vergleich mit dem Spracherwerb wäre sinnlos, wenn es sich um Alltagssprache handelte. Kallikles versteht unter Philosophie denn auch den Erwerb der politischen Sprache. Während der Erwerb der Alltagssprache im Kindesalter abgeschlossen wird, schließt sich das Rhetorikstudium im jugendlichen Alter an und sollte spätestens mit dem Eintritt in das politische Leben beendet sein. Das politische Leben unterscheidet zwischen Freiem und Knecht. Frei ist nach Kallikles jedoch nicht einfach der politische freie Bürger, sondern wer sich selbst Großes und Herausragendes zutraut und in der Öffentlichkeit ebenso frei redet, wie er denkt; der sich also mit den Mitteln der Sprache durchzusetzen und zu verteidigen versteht. Dadurch erweist er sich als wahrer kalos kagathos, der die Masse überragt. Wer dagegen als Erwachsener immer noch nicht die politische Sprache beherrscht und die Öffentlichkeit meidet, ist nicht ernst zu nehmen, sondern eine lächerliche, kindische und letztlich knechtische Figur.237 Gönnerhaft von oben herab, »patronizing«, wie es einem Herrn gebührt, wendet sich Kallikles nunmehr direkt an Sokrates und versichert ihm, dass er ihm freund und wohl gesonnen sei und ihn deshalb ermahne, sich endlich auf die politische Praxis einzulassen: Scheint es dir nicht schändlich zu sein, dass es so um dich steht, wie ich glaube, dass es um dich steht und um die andern, die es mit der Philosophie immer weiter treiben? (oqj aQswq¹m doje? soi eWmai ovtyr 5weim ¢r 1c½ s³ oWlai 5weim ja· to»r %kkour to»r p|qqy !e· vikosov_ar 1ka}momtar ; Grg. 486a, Üb. B.S.)
Kallikles wendet hier in einem argumentum ad hominem den ethischen Grundsatz von Sokrates gegen diesen selber und gegen alle, welche die sokra236 Dramenintern zielt das auf Sokrates. Der Leser darf und soll darüber hinaus aber auch an den Autor selbst, an Platon denken. Denn auf ihn trifft die obige Beschreibung noch mehr zu als auf Sokrates, da Sokrates sich mit Vorliebe auf den öffentlichen Plätzen und dem Markt herumtrieb. (Vgl. X. Mem. I 1,10) Platon hingegen zog mit seinen jungen Freunden bewusst vor die Tore der Stadt in den Hain des Akademos und gründete dort seine neue Schule. Der räumlichen Distanz zur polis entsprach seine innere Distanzierung vom politischen Alltagsgeschäft. Nicht zufällig wurde der Gorgias darum als »Apologie Platons« verstanden. (Erler, Platon, PhdA 2/2, 135) Dodds verweist auf den sprichwörtlichen Spott über das akademische Leben »in der Ecke« (1m cym¸ô). (Dodds, Plato: Gorgias, 275) 237 Der Freiheitsbegriff wird hier von Kallikles nicht soziopolitisch, sondern psychologisch verstanden.
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tische Auffassung von Philosophie teilen.238 Er bescheinigt ihm, dass die Verweigerung der aktiven Teilnahme am politischen Leben eine Form des Unrechttuns sei und deswegen schändlich. Das Unrecht besteht darin, dass er für seine edle Naturbegabung keine Sorge trägt (1pileke?shai, Grg. 485e),239 sondern sich wie ein unmündiges Kind aus der Politik heraushält. Was Kallikles unter der richtigen Sorge versteht, macht er sogleich beispielhaft deutlich. In einer für den Leser unüberhörbaren Antizipation des Prozesses und der Verurteilung von Sokrates verweist er auf die Folgen der Inkompetenz in politischer Rhetorik und Psychologie. Wenn man Sokrates vor Gericht brächte und die Todesstrafe beantragte, wäre er unfähig, sich selber zu helfen (l¶te aqt¹m art` dum²lemom boghe?m, Grg. 486b) und zu verteidigen und müsste sterben. Damit bestätigt Kallikles seine zuvor gegebene Charakterisierung der Sklavennatur : Für den Sklaven ist es besser zu sterben, als zu leben, weil er zur Selbsthilfe unfähig ist (lµ oXºr t´ 1stim aqt¹r art` boghe?m, Grg. 483b).240 Das heißt im Klartext: Wenn Sokrates durch die Philosophie nicht in der Lage ist, sich selbst zu helfen, ist er nicht mehr wert als ein Sklave. In dieser Darstellung der Philosophie durch Kallikles tauchen fast alle wichtigen Motive dieses Dialoges auf: das Schammotiv, das Strafmotiv, Selbstsorge und Selbsthilfe, das Gerichtsmotiv, Macht und Freiheit, Gesetz und Natur – und über allem die Frage, wie man leben soll und welche Rolle dabei der Philosophie zukommt. Für Kallikles steht es außer Frage: Um richtig zu leben, soll man nicht sein Leben lang die Widersprüchlichkeiten von Meinungen aufspüren (1k´cwym), das führt in seinen Augen nur zu leerem Geschwätz (kgq¶lata, vkuaq¸ar), sondern sich in der Musik der Taten üben (pqacl²tym d’ eqlous¸am %sjei).241 (Grg. 486c) Die Philosophie muss sich dieser Zielvorgabe und dem 238 Hier wird explizit, was im Spott über die Winkelphilosophie in Grg. 485d f. schon anklang: dass der Leser über Sokrates hinaus auch an die Freunde von Sokrates und insbesondere an Platon denken soll. 239 Zum Sorgemotiv als Charakteristikum des sokratischen Philosophieverständnisses vgl. die »Sorge um die Seele«, S. 124 f., und »Sorge um die Tugend«, S. 69. 240 Zum Zusammenhang von Selbsthilfe (boghe?m 2aut`) als einer ethischen Haltung und Hilfe für den Logos des Gesprächs (boghe?m t` kºc\) mit dem Versagen von Kallikles zur Selbsthilfe siehe den Schlussmythos Grg. 526e, dazu Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 194 f. Vgl. a. Anm. 220 u. 231. 241 Ganz ähnlich argumentiert Alkibiades, der wider besseres Wissen von der Philosophie in die Politik flieht, »um nur nicht immer sitzen zu bleiben und neben diesem [Sokrates] alt zu werden« (Smp. 216a, Üb. Schl). Das entspricht genau dem Vorwurf von Kallikles gegen die »Winkelphilosophie«. Kallikles schließt seine Rede über die Philosophie mit Zitaten aus Euripides’ Antiope. Dort fordert der Hirt Zetheus seinen Bruder Amphion auf, die Musik aufzugeben und sich dem tätigen Leben zuzuwenden. Dodds weist darauf hin, dass damit nicht gemeint sei, die Musik gänzlich aufzugeben, sondern sich mit einfachen, unphilosophischen Liedern zufrieden zu geben und sich um den Lebensunterhalt zu kümmern. (Dodds, Plato: Gorgias, 278 f.) Dieser begrenzte Stellenwert entspricht auch der Haltung von Kallikles: Es gilt, maßvoll Philosophie zu treiben.
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Das philosophische Leben
Primat des Handelns unterordnen. Sie ist nur eine politische Sprachkompetenz, die in jungen Jahren erworben wird und im Dienst der Durchsetzung und Sicherung des guten Lebens steht. Das gute Leben aber besteht für Kallikles in nichts anderem als im Erwerb von Reichtum, Ruhm und vielen anderen Gütern (b¸or ja· dºna ja· %kka pokk± !cah², Grg. 486d).
2.3.
Ein Leben im Dienst der Vernunft (Sokrates)
Und ich weiß, dass sich unter euch ungefähr diese Meinung durchgesetzt hat, dass man sich nicht so viel Mühe machen sollte, es mit dem Philosophieren bis zum Äußersten zu treiben. Vielmehr ermahntet ihr einander, euch in Acht zu nehmen, dass ihr nicht klüger würdet, als man muss, und unversehens ins Verderben geratet. (ja· oWda fti 1m_ja 1m rl?m toi\de tir d|na, lµ pqohule?shai eQr tµm !jq_beiam vikosove?m, !kk± eqkabe?shai paqejeke}eshe !kk^koir fpyr lµ p]qa toO d]omtor sov~teqoi cem|lemoi k^sete diavhaq]mter. Grg. 487c f., Üb. B.S.)
Sokrates polemisiert hier gegen die Beschreibung der Philosophie, mit der man es nicht zu genau nehmen sollte,242 bevor er sich anschickt, die Argumente von Kallikles zu widerlegen und sein Gegenkonzept zu entfalten. Dazu formuliert er unter der Hand das Thema etwas um. Kallikles hatte gegen die Karikatur der Rhetorik durch Sokrates Einspruch erhoben: »weil dann ja das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt [wäre]«. (Grg. 481c) Gleichzeitig hatte er der Philosophie als politischer Rhetorik eine begrenzte und dienende Rolle bei der Lebensbewältigung zugesprochen. Sokrates hingegen sieht gar nicht in der Rhetorik das gemeinsame Thema, weil jemand, der sich bemüht, kein Unrecht zu tun, ihrer nicht bedarf, (Grg. 481b) sondern in der Frage, ob die Seele recht lebt oder nicht (basamie?m Rjam_r xuw/r p´qi aqh_r te f_sgr ja· l¶, Grg. 487a). Von der Seele aber war bei Kallikles bisher nicht die Rede, sondern nur von der körperlichen Existenz und den äußeren Gütern, die er maximieren will. Damit ist der Leib-Seele-Dualismus eingeführt, der die folgende Diskussion über die rechte Lebensform bestimmen wird und zur unterschiedlichen Beurteilung des Verhältnisses von Vernunft und Begierden führt. Ein zentrales Motiv für Kallikles’ Selbstverständnis war die Annahme, dass die Freiheit des Besseren und Stärkeren darin besteht, über den Schlechteren und Schwächeren Macht zu haben. Darauf beruht das angeblich naturhafte 242 Es ist eine Replik auf das abschätzige Urteil von Kallikles über die Kinder, die sich in ihren Gesprächen genau ausdrücken (sav_r diakecol´mou, Grg. 485b) und dadurch altklug wirken. Das war gegen Sokrates gewendet, der im Gesprächsverlauf mehrfach eine präzise Ausdrucksweise eingefordert hatte (sav_r, Grg. 453b, 455d, s.a. 488d, 489d u. ö.); zur Synonymität von sav_r und !jqib_r siehe R. 336d: !kk± sav_r loi ja· !jqib_r k´ce fti #m k´c,r. Beide Ausdrücke sind im Philebos entscheidende Kriterien der Dialektik, s. S. 363 f.
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Recht, dass der Herr mehr Güter für sich beanspruchen kann als der Knecht. Sokrates widerlegt nicht nur die Gleichsetzung von »besser« und »stärker«, sondern auch den daraus abgeleiteten Herrschaftsanspruch und das Mehrhaben-Wollen, die pleonexia. Denn indem Kallikles auf die Tugenden verweist, durch welche die Besseren sich für die politische Führung qualifizieren, insbesondere Einsicht und Tapferkeit, weil sie nicht der Weichlichkeit des Gemüts (lakaj¸a t/r xuw/r) erliegen,243 bietet er Sokrates die Vorlage, die Tugenden als Qualitäten der Seele in den Blick zu nehmen. (Grg. 491b) Meint Macht nur äußere Herrschaft über andere oder auch innere über sich selber (2autoO %qweim, t_m d³ %kkym;), nur Herrschen oder auch Beherrschtsein (%qwomtar C !qwol´mour)? (Grg. 491d) Nach Sokrates ist jemand, der von seinen Lüsten und Begierden beherrscht wird, keineswegs selbstmächtig, weil er reden und handeln muss, was sie gebieten.244 Seine Freiheit beweist vielmehr derjenige, der besonnen ist und seiner selbst mächtig, der seiner Lüste und Begierden Herr ist (t_m Bdom_m ja· 1pihuli_m %qwomta t_m 1m 2aut`). (Grg. 491d f.) Kallikles versteht, dass Sokrates auf die Tugend der Besonnenheit hinaus will, die in der Seele die Herrschaft haben soll.245 Aber er verweigert seine Zustimmung, denn ihm ist klar, dass dann das Verhältnis von Herr und Knecht auch mit Blick auf Leib und Seele neu definiert werden müsste, und in diese Falle will er nicht laufen.246 Für Kallikles ist Leben nichts anderes als die leibliche Existenz 243 Dass die Verweichlichung als mögliche Begleiterscheinung der Philosophie galt, zeigt die Beteuerung bei Thukydides: »vikosovoOlem %meu lakaj¸ar« Th. Hist. II 40,1, s. S. 28, vgl. a. R. 410e. 244 Siehe das 5qyr- und paidij²-Motiv in Grg. 481d, 482a und S. 135 f. 245 Manuwald diskutiert das Problem, warum im Tugendkatalog des s¾vqym, des vollkommen guten Mannes, die sov¸a übergangen wird. (Grg. 507c) Dies hatte in der Forschung zu Spekulationen darüber geführt, dass die Gleichsetzung von Tugend und Wissen im Gorgias noch nicht vorhanden sei. Manuwalds Analyse macht plausibel, dass zur Widerlegung von Kallikles, der vqºmgsir und !mdqe¸a der !jokas¸a unterstellt, die syvqos¼mg als Gegenbegriff zur !jokas¸a ins Zentrum der Argumentation rückt und die vqºmgsir/sov¸a in der syvqos¼mg aufgeht. (Manuwald, Tugend und Wissen in Platons Gorgias, 291 – 302) Zur Identität von Tugend und Wissen im Gorgias vgl. Ackeren, Das Wissen vom Guten, 64 – 70; zur Stellung der syvqos¼mg innerhalb der vier Kardinaltugenden vgl. a. Dalfen, Platon: Gorgias, 360 f. 246 Diese Stelle im Gorgias legt ein neues Verständnis der gängigen Entgegensetzung von Vernunft und Affekten nahe, die nun nicht mehr auf eine einfache Leib-Seele-Dichotomie reduziert wird. Vielmehr entfalten die Affekte in der Seele selbst ihre Wirkung, so dass das Konzept einer einheitlichen Seele als Gegensatz zum Leib an ihre Grenzen kommt. »Entscheidend ist hier [Grg. 493a3, b1] für unseren Gesichtspunkt, daß sich die Leidenschaften dem seelischen Bereich (Komplex) zugeordnet finden, nunmehr von einem irrationalen Faktor in der Seele selbst und somit von einem echten psychischen Konflikt gesprochen werden kann.« (Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, 53) Die volkstümliche Selbstbeherrschung (1cjq²teia artoO) als Herrschaft der Seele über den Leib wird jetzt innerseelisch als Herrschaft über die Begierden und Lüste verstanden (1cjq²teia Bdom_m ja· 1pihuli_m). Ob es sich dabei schon um eine Seelentrichotomie im Sinn der
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und das Glück deren uneingeschränkte Befriedigung: »Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte (t¹ jat± v¼sim jak¹m ja· d¸jaiom), … daß, wer richtig leben will (t¹m aqh_r biysºlemom), seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen (jok²feim); und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen (rpgqete?m) durch Tapferkeit und Einsicht (vqºmgsim), und worauf seine Begierde jedesmal geht, sie befriedigen.« (Grg. 491e f., Üb. Schl.) Unverblümt sagt Kallikles, wer Herr im Haus des Menschen als einer Verbindung von Leib und Seele ist, nämlich die körperlichen Empfindungen und Zustände, denen die seelischen Vermögen wie Tapferkeit und Einsicht zu dienen haben. Glück ist nichts anderes als unbeschränkte Freizügigkeit.247 (Grg. 492c) Sokrates bescheinigt Kallikles, dass dieser sage, was andere denken, aber nicht zu sagen wagen: (Grg. 492d) dass der Sinn des Lebens in der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse und Begierden besteht.248 Diesem Ziel ordnen sie alle anderen Vermögen unter, auch das menschliche Erkenntnisvermögen und die Philosophie.249 Politeia oder nur eine Seelendichotomie entsprechend der Gegenüberstellung von Tugend und Untugend handelt, will Graeser nicht mit Sicherheit behaupten, hält die Trichotomie aber für wahrscheinlich. Denn sie sei die psychologische Basis für die originär platonische Einheit der Tugenden. (Ebd., 53 – 55) In die gleiche Richtung argumentiert auch Manuwald, ebd., 300) Rowe dagegen argumentiert gegen die Konzeption einer Seelenteilung im Gorgias und für einen strengen ethischen Intellektualismus mit einer einheitlichen Seelenkonzeption. Die Möglichkeit der akrasia und die Forderung nach Selbstkontrolle setzen nur scheinbar eine Art geteilter Seele voraus, weil Sokrates von den Voraussetzungen seines Gesprächspartners, dem Gegensatz von Vernunft und Begierden, her argumentiert. Er selbst teilt nach Rowe dieses populär-anthropologische Modell nicht, denn alle Begierden richten sich wie die Vernunft auf das Gute. »Socrates’ theory just does not allow for appetites getting out of hand, by themselves. If someone has what we are inclined to call an insatiable appetite, Socrates will stay firm, and call even that a matter of intellectual error : the person just has the wrong beliefs about the good…« (Rowe, The Moral Psychology of the Gorgias, 100) Für jemanden, dessen Seele in einem schlechten Zustand ist, besteht die Besserung darin, klüger zu werden durch Einsicht in das Gute, das er wirklich begehrt. Die moralische Psychologie des Gorgias sei deswegen durchweg intellektualistisch. Die Strategie von Rowe ist klar : Fällt der Gegensatz von Vernunft und Affekt weg, weil beide unterschiedslos auf das Gute zielen, ist auch der Konflikt weg. So verlockend diese Perspektive ist, so unwahrscheinlich ist es doch mit Blick auf Kallikles, dass dieser, »given sufficient time«, (ebd., 96) wirklich überzeugt würde. Vielmehr nimmt seine Verweigerung zu, so dass zu Recht eine Lücke zwischen Erkennen und Anerkennen konstatiert werden kann, die es nach streng intellektualistischer Lesart gar nicht geben darf (zur Diskrepanz zwischen Erkennen und Anerkennen siehe Kobusch, Sprechen und Moral, 102). 247 Kallikles argumentiert hier für die communis opinio, dass das Vermögen zu tun, was man tun will, und niemandem dienstbar zu sein, für das Glück konstitutiv sind. (Grg. 491e, Ly. 207e f.) Siehe auch Dalfen, Platon: Gorgias, 365 f.; Irwin, Plato: Gorgias, 194. 248 Im Gorgias hat die Begierde, die epithymia, eindeutig negative Konnotationen, anders als im Symposion, wo Diotima sie mit dem Eros verbindet, so dass ihr dort als Strebekraft zum Guten eine positive Potenz für das geistig-philosophische Leben eignet: Smp. 200a-e, 202d, 203d: vqom¶seyr 1pihulgt¶r ; Smp. 204a: he_m oqde·r vikosove? oqd’ 1pihule? sov¹r cem´shai 5sti c²q; Smp. 205d: … 1sti p÷sa B t_m !cah_m 1pihul¸a ja· toO eqdailome?m b
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Dieser Lebens- und Glücksauffassung stellt Sokrates die These entgegen, dass die Glückseligkeit in der Bedürfnislosigkeit liegt. Kallikles’ Erwiderung kommt prompt: Dann wären ja die Steine und die Toten am glücklichsten. (Grg. 492e) Der Einwand scheint schlagend, denn Steine sind empfindungslos und auch ein Leichnam hat keine Empfindungen und folglich keine Bedürfnisse mehr. Da aber das Leben nach allgemeiner Meinung auf der Empfindungsfähigkeit beruht, aus der dem Menschen Lust und Unlust, Begierde und Befriedigung erwachsen, wäre ein bedürfnisloses Leben ein Widerspruch in sich, ein totes Leben, und der Bedürfnislose ein lebender Leichnam.250 Das will Kallikles mit dem polemischen Hinweis auf die glücklichen Toten sagen. Doch was für ihn absurd ist, wird Sokrates im abschließenden Jenseitsmythos allen Ernstes behaupten: dass der Philosoph, der sich damit begnügt, das Seinige zu tun und sein Leben nicht damit verbringt, vielerlei Äußerlichkeiten nachzujagen, schon hier im Leben glücklich ist und nach dem Tod auf die Inseln der Seligen gelangt. (Grg. 526c) Im Vorgriff darauf zitiert Sokrates Euripides: » ›Wer weiß, ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, gestorben sein dagegen Leben?‹ und ob wir vielleicht in der Tat tot sind.« (Grg. 492e, Üb. Schl.) Wieder stellt Sokrates wie schon bei seinem ethischen Grundsatz die communis opinio auf den Kopf. Er führt die Leitfrage, wie man leben soll, auf die grundsätzlichere zurück, worin Leben oder Tod des Menschen überhaupt bestehen. Für Kallikles beruht das Leben auf der Empfindungsfähigkeit des Körpers und das gute Leben auf maximaler Befriedigung der Lüste und Begierden. Sokrates bestreitet diese Auffassung von Leben und Glück, denn die Folge davon ist nur ständige Mühsal im Dienst der leiblichen Begierden. In Anlehnung an alte Mythen vergleicht er ein solches Leben mit dem Zustand im Totenreich.251 Danach sind wir jetzt tot (mOm Ble?r t´hmalem) und der l´cistºr … 5qyr pamt¸, u. ö. Im Gorgias aber fehlt der Begierde dieser transzendierende Charakter. Sie bindet den Menschen an den Körper und findet in der Lust ihre Erfüllung und im Hedonismus ihre theoretische Rechtfertigung. Dadurch ist sie (noch) eine Gegenkraft zur Philosophie: Grg. 484d: t_m Bdom_m te ja· 1pihuli_m t_m !mhqype¸ym; Grg. 491d f.: [sc. 2autoO %qwomta k´cy] s¾vqoma emta ja· 1cjqat/ aqt¹m 2autoO, t_m Bdom_m te ja· 1pihuli_m %qwomta t_m 1m 2aut`; Grg. 491e f., 492d, 494c u. ö. 249 Vgl. dazu a. Manuwald, Tugend u. Wissen in Platons Gorgias, 296 f., und S. 147, Anm. 245. 250 Nach homerischer Vorstellung löst sich die Seele im Tod vom Körper und hat nach ihrem Übergang ins Totenreich kein Bewusstsein und auch keine Empfindungen mehr. Sie ist nurmehr ein bloßer Schatten des Menschen, in dem sie zuvor war. »Wie ertrugst du, zum Hades zu kommen unter die Toten, wo sie bewußtlos wohnen, entschlafener Sterblicher Schatten (eUdyka)?« (Hom. Od. 11, 475 f., Üb. Voss/Weiß) Bei Herakleides Pontikos heißt es, dass ein Leben ohne Lust und Freude nicht lebenswert sei (Herakl. Pont. bei Athen. 12, 512a-d) und in der Antigone von Sophokles: »der Mensch, der keine Freuden hat, ist bei lebendigem Leibe tot«. (S. Ant. 1165 – 1167) Nach Dalfen, Platon: Gorgias, 367 f. 251 Dodds sieht in dem Weisen einen Pythagoreer, der einen älteren Mythos, vermutlich orphischen Ursprungs, tradiert und interpretiert. (Dodds, Plato: Gorgias, 296 ff.) Dalfen geht dagegen davon aus, dass die »Quelle« des Sokrates bloße Fiktion ist und Platon die ganze Partie »sicher aus vorhandenem Material nach eigener Intention gestaltet« hat, wobei er
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Leib ist unser Grab (t¹ l³m s_l² 1stim Bl?m s/la, Grg. 493a).252 Die bloß leibliche Existenz ist demzufolge in Wirklichkeit eine Schattenexistenz im Hades (1m .idou), bei der die Seele im Leib als ihrem Grab gefangen ist. Leben und Tod haben dabei ihren Platz vertauscht. In zwei Gleichnissen verdeutlicht Sokrates diese Schattenexistenz der Seele im Leib. (Grg. 393a – 494b) Im ersten Gleichnis wird der Teil der Seele, in dem die Begierden sind, einem undichten Fass verglichen, das nie vollständig gefüllt werden kann, weil sein Zustand wegen der Unersättlichkeit ständig hin- und herschwankt (letap¸pteim %my j²ty, Grg. 493a).253 Wenn nun der vernünftige Teil der Seele aufgrund von Ungläubigkeit und Vergesslichkeit einem durchlässigen Sieb gleicht, mit dem versucht wird, das Seelenfass der maßlosen und unbegrenzten Begierden zu füllen, so ist das ein hoffnungs- und sinnloses Unterfangen. Ein solches Tun ist kennzeichnend für die uneingeweihten (!l¼gtoi) und unvernünftigen (!mºgtoi) Menschen, die die Vernunftkräfte in den Dienst der Begierden stellen. Diese vernunftvergessene, körperfixierte Lebenshaltung hat aber durch die Sinnlosigkeit ihrer Handlungen ihre Strafe in sich selbst, vergleichbar den Strafen der Unterwelt.254 (Grg. 493b f.) Kallikles ist, wie zu erwarten, nicht überzeugt und beweist gerade damit, dass er zu den Uneingeweihten und Unvernünftigen gehört. In einem zweiten Gleichnis zeigt Sokrates darum zwei unterschiedliche Reaktionsweisen angesichts der unersättlichen körperlichen Begierden. Wieder vergleicht er diesen orphisch-pythagoreisches Gedankengut verwendet. (Dalfen, ebd., 368) In der Tat fügt sich die Erzählung gut in das platonische Gedankengut ein. Die Berufung auf weise Überlieferungen ist ein öfters von Platon eingesetztes Mittel zur Verdunklung der geistigen Urheberschaft und zur inhaltlichen Beglaubigung durch die Berufung auf »eingeweihte« Kreise. 252 Ein ähnlicher Gedanke ist vom Pythagoreer Philolaos überliefert: »Die alten Theologen und Seher bezeugen, dass wegen bestimmter Strafen die Seele mit dem Körper verbunden und in ihm wie in einem Grab bestattet ist.« (VS 44 B14, Üb. Dalfen, ebd.); zum orphischen Ursprung vgl. Cra. 400b f. 253 Der Leser erinnert sich an den Beginn des Gesprächs mit Kallikles, S. 136. Dort hatte Sokrates die Liebe zum Intelligiblen, das sich stets gleich bleibt, unterschieden von der Liebe, die an die Körperwelt gebunden ist und deswegen in einem ständigen Hin und Her deren Schwankungen nachvollzieht und ihre Meinung ändert. Deren Unbeständigkeit wird im Bild vom Seelenfass wieder aufgenommen. Zur negativen Konnotation der Wendung %my j²ty als Hin- und Herschwanken und Durcheinander siehe Heitsch, AMY JATY bei Platon, 218 – 229. 254 Es wird gern übersehen, dass das Strafmotiv im Gorgias nicht von Sokrates eingeführt wird, sondern von Kallikles, der Sokrates Prügel androhte, falls er nicht endlich mit der kindischen Philosophie aufhört. (Grg. 485d) Wenn das Strafmotiv in den Bildworten von den Fässern und im abschließenden Jenseitsmythos (Grg. 523a – 526c) aufgegriffen wird, so ist das eine Erwiderung auf Kallikles. Der besondere Charakter dieser Strafe zeigt sich daran, dass sie nicht von außen kommt, wie beim verwandten Danaidenmythos (zum Danaidenmythos und dem Motiv der Wasserträger s. Dodds, Plato: Gorgias, 298), sondern in einem selbst auferlegten, sinnlosen Tun besteht, dem Dienst an den unersättlichen körperlichen Begierden.
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Teil der Seele mit Vorratsfässern, die nur mit viel Mühe zu füllen sind. Während der eine Mensch sich nicht weiter darum kümmert und darüber ruhig und zufrieden ist (Bsuw¸am 5woi), ist der andere Tag und Nacht damit beschäftigt, sie anzufüllen, weil sie morsch und leck sind, sonst würde er in tiefste Traurigkeit versinken (t±r 1sw²tar kupo?to k¼par). (Grg. 493e f.) Selbstgenügsamkeit und friedvolle Gelassenheit der Seele stehen gegen Maßlosigkeit und unruhige Melancholie. Wieder fragt Sokrates, ob das maßvolle Leben nicht besser sei als das haltlose (t¹m josl¸om b¸om toO !jok²stou %leimy eWmai, Grg. 494a). Doch die Aussicht auf ein ruhiges und genügsames Leben ist für Kallikles nicht überzeugend, denn er vergleicht es mit der Empfindungslosigkeit eines toten Steins. Es reicht ihm nicht, genug zu haben. Er will immer Neues und immer mehr. Das ist das Prinzip der pleonexia, und Kallikles ist ihr Protagonist. Kallikles ist erbost über diese drastischen Gleichnisse, durch die ihm Sokrates die Lebenswahl und ihre Konsequenzen anschaulich vor Augen halten will. Er fühlt sich nicht ernst genommen. (Grg. 499b) Aber Sokrates beteuert, dass sie keineswegs scherzhaft gemeint sind. Es sind eben nicht die Reden von Kindern oder kindischen Alten, als die Kallikles zuvor die Philosophie verspottet hatte. (Grg. 485a – 486a) Vielmehr sind es Überlegungen von Menschen, die ihre Vernunft auf richtige Weise gebrauchen, statt sich sinnlosem Tun hinzugeben: Denn du siehst, daß davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiß für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll, ob auf diejenige, zu welcher du mich ermunterst, daß ich doch jenes dem Manne Geziemende betreiben möchte, im Volke auftreten, die Redekunst ausüben und den Staat verwalten, auf die Art, wie ihr ihn eben jetzt verwaltet, oder ob er sich zu jener Lebensweise halten solle in der Philosophie, und worin wohl diese von der andern sich unterscheidet. (bqør c±q fti peq· to}tou Bl?m eQsim oR k|coi, ox t_ #m l÷kkom spoud\sei] tir ja· slijq¹m moOm 5wym %mhqypor, C toOto, fmtima wqµ tq|pom f/m, p|teqom 1p· dm s» paqajake?r 1l], t± toO !mdq¹r dµ taOta pq\ttomta, k]comt\ te 1m t` d^l\ ja· Ngtoqijµm !sjoOmta ja· pokiteu|lemom toOtom t¹m tq|pom dm rle?r mOm pokite}eshe, C [1p·] t|mde t¹m b_om t¹m 1m vikosov_ô, ja· t_ pot’ 1st·m oxtor 1je_mou diav]qym. Grg. 500c, Üb. Schl.)
Das entscheidende Kriterium für die Lebenswahl ist die Vernunftbegabtheit des Menschen: »ein Mensch, der nur ein wenig Vernunft hat…«, muss sich solche Gedanken machen. Denn der Mensch unterscheidet sich gerade darin vom Tier, dass er seinen Begierden und Instinkten nicht hemmungslos ausgeliefert ist, sondern eine übergeordnete, regulierende und maßgebende Instanz besitzt, seine Vernunft. Hier kommt das Menschenbild von Sokrates zum Tragen. Sokrates teilt die menschlichen Tätigkeiten in zwei Kategorien ein (dittµ avtg tir B pqaclate¸a 1st·m): jene, die dem Körper dienen, und die anderen, die sich um die Seele sorgen. (Grg. 517d) Wenn der Mensch aufgrund seiner Vernunftbegabtheit die ethische Frage hat, wie er leben soll, so stellt ihn das konkret vor die Ent-
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scheidung, ob alle Seelenkräfte einschließlich der Vernunft im Dienst der körperlichen Bedürfnisse stehen oder ob die körperlichen Kräfte in der Sorge um das Wohl der Seele ihre eigentliche Bestimmung haben. Ein Tier hat diese Frage nicht. Der Löwe fragt nicht, ob er seine Beute fressen darf, er tut es.255 Anders als das Tier kann der Mensch aber seine Begierden reflektieren und sich gegebenenfalls davon distanzieren und darüber ruhig und gelassen sein, wie das zweite Gleichnis zeigt. Die Frage, wie er leben will, ist darum dem Menschen mit seiner Vernunft gegeben und seinem Menschsein inhärent. Es gibt für ihn nichts Ernsthafteres, weil es eine essentiell menschliche Frage ist. Er beantwortet sie sein Leben lang implizit mit jedem Handlungsakt aufs Neue, selbst wenn er sich für eine »tierische Existenz«256 unter der unrestriktierten Herrschaft der Begierden entscheidet. Sich dieser Lebenswahl bewusst zu werden, sie ausdrücklich zu machen und darüber Rechenschaft abzulegen, ist das Anliegen der Philosophie.
2.4.
Der Philosoph, der das Seinige tut
Sokrates sagt hier zum ersten Mal ausdrücklich, dass sein Philosophieverständnis dem von Kallikles diametral entgegensteht und etwas grundsätzlich anderes meint. Gleichzeitig spricht er Kallikles ab, dass dieser überhaupt ein angemessenes Verständnis der Philosophie hat: Philosophie ist weder eine unverbindliche, jugendliche Spielerei noch ein Trainingskurs in politischer Rhetorik zur Durchsetzung eigener Interessen. Was Kallikles will, ist nicht Philosophie, sondern Machtpolitik im Dienst der Begierden und der Pleonexie, so wie es in Athen politische Praxis ist.257 Sokrates benutzt diese Auffassung von Kallikles als Negativfolie für sein eigenes Philosophieverständnis. Für ihn ist Philosophie ein Leben unter der Leitung der Vernunft, bei dem die Seele nicht im Körper und dessen Begierden wie in einem Grab eingeschlossen ist, sondern ihre eigene Lebendigkeit entfaltet, indem sie von ihrer Vernünftigkeit Gebrauch macht. Dann lebt sie auf, ist Herr im Haus des Menschen und kann auf eine gute Ordnung aller Kräfte hinwirken. Was nun im Kleinen gilt, im Leben des Einzelnen, trifft auch im Großen zu, im Leben des Staats: Nur wer beweist, dass er in der Lage ist, sich selbst zu be255 Deswegen ist das naturhafte Recht des Stärkeren, auf das sich Kallikles in Grg. 484a beruft, ein inhumanes Recht. 256 Hier wirkt sich die Doppelbedeutung des Ausdrucks 1m to?r %kkoir f]oir aus. (Grg. 483d, s. S. 138) Der Mensch trägt auch die Möglichkeit einer auf das Tierische reduzierten Existenz in sich. Vgl. S. 170 f., 282. 257 Zur Kritik von Sokrates an dem Großmachtstreben Athens und seiner Politiker und der damit verbundenen staatlichen pleonexia siehe Grg. 515a – 519d.
Gorgias: Ein Leben im Dienst der Vernunft
153
herrschen, wird auch in der Lage sein, in guter Weise über andere Menschen politische Macht auszuüben. Er wird dann ihren Begierden so wenig zu Diensten sein wie seinen eigenen. Vielmehr ist es ihm ein Anliegen, dass die Bürger besser werden. (Grg. 517b) Er achtet auf das Leben ihrer Seelen wie auf seine eigene, dass sie rechtschaffen und schön geordnet werden (mºliloi c¸cmomtai ja· jºslioi). Das aber heißt nichts anderes, als dass die Tugend der Gerechtigkeit und Besonnenheit in den Seelen der Bürger Gestalt annimmt und Recht und Gesetz das Leben der polis bestimmen. (Grg. 504d) Darin sieht Sokrates, anders als Kallikles, die vornehmliche Aufgabe des guten Rhetors und Politikers. Und in diesem Sinn versteht er sich auch selbst als den »wahren Politiker Athens«. (Grg. 521d) Philosophie als Vernunftorientierung des Menschen und Politik als Gestaltungsform des Lebens in der polis müssen also nicht im Widerstreit stehen, so dass man sich zwangsläufig zwischen ihnen entscheiden muss, im Gegenteil. Die Lebenswahl, vor die Sokrates Kallikles stellt, bezieht sich auf die Wahl zwischen der richtigen Philosophie und einer falsch verstandenen Politik. Denn Philosophie macht nicht lebensuntüchtig, wie Kallikles unterstellt, sondern ermöglicht gerade ein gutes, glückliches Leben, sowohl für den Einzelnen als auch für die polis, allerdings immer in dieser Reihenfolge. Am Schluss des Gorgias erzählt Sokrates den Mythos vom jenseitigen Totengericht. Dort richten die gerechten Richter der Unterwelt über die Seelen, die nunmehr vom Leib gelöst sind. Mit dem Leib sind sie auch von allem entblößt, was sie umhüllte und ihren Charakter vor den Augen der Mitmenschen verbarg. Jetzt liegen sowohl ihre Natur offen zutage als auch die Wirkungen (pah¶lata, Grg. 524d), die das menschliche Handeln in der Seele hinterlassen hat. Denn jede Handlung des Menschen prägt sich seiner Seele ein und verändert sie zum Guten oder zum Schlechten. (Grg. 525a) Viele Seelen sind regelrecht krank von den Spuren der Schlechtigkeit und Unvernunft, manche sogar unheilbar. Und während die Richter ersteren eine schmerzhafte Therapie verordnen, durch die sie von der Ungerechtigkeit befreit werden, erleiden letztere auf ewige Zeiten furchtbare Pein. (Grg. 525b f.) Aber es gibt auch einige wenige Seelen, die im Gericht bestehen, weil sie nicht mehr der Heilung und Reinigung bedürfen: Manchmal aber erblickt er eine andere Seele, die fromm und in der Wahrheit gelebt hat, die einer Privatperson oder eines anderen, zumeist aber, so behaupte ich, o Kallikles, die eines Philosophen, der das Seinige getan hat und sich im Leben nicht in Vielgeschäftigkeit zerstreut hat, und er freut sich und schickt sie auf die Inseln der Seligen. (1m_ote d’ %kkgm eQsid½m bs_yr bebiyju?am ja· let’ !kghe_ar, !mdq¹r Qdi~tou C %kkou tim|r, l\kista l]m, 5cyc] vgli, § Jakk_jkeir, vikos|vou t± artoO pq\namtor ja· oq pokupqaclom^samtor 1m t` b_\, Ac\shg te ja· 1r laj\qym m^sour !p]pelxe. Grg. 526c, Üb. B.S.)
154
Das philosophische Leben
Die Seelen dieser wenigen, vorwiegend der Philosophen, haben das Ziel ihres Lebens erreicht, die Glückseligkeit. Dafür sind die Inseln der Seligen ein mythisches Bild. Diesen Seelen hat sich die Tugend so sehr eingeprägt, dass sie der vernünftigen, göttlichen Ordnung, der sie während ihrer Verbindung mit dem Leib gefolgt sind, ähnlich wurden. Das ist gemeint, wenn Sokrates hier von der Frömmigkeit einer Seele spricht.258 Diese philosophische Lebensgestalt fasst Sokrates in den Worten »das Seinige tun« zusammen. Noch einmal bringt er stichwortartig die Lebenswahl auf den Nenner : Der Mensch muss sich im Leben entscheiden, ob er »das Seinige tun« oder »in Vielgeschäftigkeit aufgehen« will.259 Es ist die Alternative zwischen Besonnenheit und Zügellosigkeit; zwischen dem Sich-genügen-Lassen am Vorhandenen und einer unersättlichen Gier nach Neuem und Mehr ; zwischen einem vernunftgeleiteten Leben im Privaten wie im Staat und einem irrationalen Getriebensein durch die Begierden hier wie dort; zwischen Anerkennung von Sittlichkeit und Gesetz auf der einen Seite und dem vermeintlichen Recht des Stärkeren auf der anderen; zwischen kritischer Selbstreflexion und selbstvergessener Extroversion. Sokrates wirbt für seinen philosophischen Lebensentwurf. Denn nur wenn der Mensch das Seinige tut und das heißt, die Vernünftigkeit seiner Seele entfaltet, durch die er sich vom Tier unterscheidet, verwirklicht er sein Menschsein und bewirkt seine Glückseligkeit: »Lass dich also von mir überzeugen und folge mir dorthin, wo du, wenn du angekommen bist, glücklich sein wirst im Leben und nach dem Tod…« (Grg. 527c, Üb. Dalfen)
3.
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
Der Dialog Timaios ist Teil eines groß angelegten Projekts, das Platon nicht vollendet hat: die Trilogie Timaios, Kritias, Hermokrates. Der Entwurf wird in der Eingangsszene skizziert. Dort begegnen wir Sokrates in der Rolle des Gastgebers anlässlich eines Festes zu Ehren von Athena, wahrscheinlich den großen Panathenäen. Seine Gäste sind Timaios aus Lokris, ein hochgebildeter und politisch aktiver Astronom, Hermokrates aus Syrakus, ein weitsichtiger Aristokrat und General, der schon früh seine Heimatstadt vor Expansionsbestrebungen Athens gewarnt und schließlich auch erfolgreich verteidigt hat, und 258 An anderer Stelle nennt das Platon die »Angleichung des Menschen an Gott«, siehe S. 100 ff., 319 u. ö. 259 Zur Definition von Gerechtigkeit als »das Seinige tun« unter Bezug auf die je spezifische Naturbegabung in Ablehnung der Vielgeschäftigkeit siehe R. 433a: »…das Seinige tun (t¹ t± artoO pq²tteim) und nicht in Vielgeschäftigkeit aufzugehen (lµ pokupqaclome?m), ist Gerechtigkeit…«; vgl. auch R. 433e f., 443d, 586e.
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
155
Kritias aus Athen, bei dem es sich wohl um den Großvater von Kritias IV, dem Führer der oligarchischen Dreißig, handelt.260 Zwischen ihnen war vereinbart worden, dass man als Gastgeschenk Reden zu Ehren von Athena hält.261 Gegenstand dieser Reden ist jedoch nicht die Göttin selbst, wie man es bei einer Lobrede zunächst erwarten würde, sondern die Stadt Athen, die von ihr beschützt wird. (Ti. 19d) Denn durch die Darstellung eines der Göttin würdigen Staats sollen Gastgeber, Gäste und Göttin erfreut werden. (Ti. 21a) Damit ist die dramaturgische Begründung des Themas gegeben. Am Vortag hatte Sokrates den Anfang gemacht und die Gestalt eines Idealstaats entworfen. In der kurzen Rekapitulation wird deutlich, dass dieser Staat in weiten Teilen dem Staatsentwurf der Politeia entspricht.262 (Ti. 17c – 19a) Da Sokrates nun den Wunsch äußert, dieses von ihm gezeichnete Idealbild »in Bewegung« zu sehen, (Ti. 19c) das heißt als Konkretion in der veränderlichen Welt des Werdens, kommt man überein, dass zuerst Timaios seine Rede hält, weil er der Naturkundigste unter ihnen ist. Er soll den Ursprung der Menschheit aufzeigen und sie in das Ganze des sinnlich-wahrnehmbaren Kosmos einzeichnen. Daran anschließend will Kritias die Geschichte der Menschen fortschreiben, indem er einen nur in der Familientradition überlieferten Bericht über ein Ur-Athen aus mythischer Vorzeit wiedergibt, das in verblüffender Weise dem von Sokrates tags zuvor entworfenen Idealbild entspricht. Die erste Skizze im Dialog Timaios berichtet über diese Staatenbildung. Im unvollendeten Kritias wird sich dann die Bewährung von Ur-Athen im siegreichen und tugendhaften Kampf gegen das übermächtige Inselreich Atlantis anschließen. Die Reden bauen inhaltlich aufeinander auf: Auf die Darstellung des Ursprungs des Kosmos und der Menschheit in der Rede von Timaios folgt der Ursprung des Staats und die 260 Von der Antike bis in die Gegenwart zieht sich die Diskussion, ob es sich bei Kritias um den Anführer der oligarchischen Partei der Dreißig, also Kritias IV, handelt, oder um dessen Großvater, Kritias III (für Kritias IV jüngst noch Clay, Platonic Questions, 170 f. und Zuckert, Plato’s Philosophers, 429 f.; für Kritias III aufgrund der dramaturgischen Daten aber Nails, The People of Plato, 106 ff. und Lampert/Planeaux, Who’s Who in Plato’s Timaeus-Critias and Why?, 95 – 100). Hermokrates ist dem Leser als Verteidiger von Syrakus bekannt, der wesentlich zur verheerenden Niederlage Athens bei der sizilischen Expedition beitrug. Obwohl diese Ereignisse dramaturgisch noch in der Zukunft liegen, wird der zeitgenössische Leser sie antizipieren. Timaios wird gelegentlich als rein literarische Figur betrachtet, (Cornford, Plato’s Cosmology, 2 f.) aber auch als historischer Pythagoreer der zweiten Hälfte des 5. Jh. (Nails, a. a. O., 161, 293 f.; Lampert/Planeaux, ebd., 91 – 95, 100 – 107) 261 Die Lobreden verweisen ebenso auf das Symposion wie der festlich geschmückte Sokrates. (Ti. 20c; Smp. 174a) Über den Verzicht auf die dialektische Untersuchung sind unterschiedliche Überlegungen angestellt worden. Slaveva-Griffin betont den Bildcharakter der Reden, die das Ganze der von Sokrates entworfenen Idee zu visualisieren suchen. (SlavevaGriffin, A Feast of Speeches, 317 f.) 262 Die Bücher V – VII werden allerdings übergangen. Eine vergleichende Zusammenstellung findet sich bei Erler, Platon, PhdA 2/2, 265.
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Das philosophische Leben
vorbildhafte Staatsgeschichte Athens durch Kritias. Die Rede von Hermokrates wird nur angekündigt, aber nicht mehr als eigenes Projekt durchgeführt. Nach dem Naturwissenschaftler und dem Historiker käme somit der Politiker und Stratege zu Wort. Alle drei sollen auf ihre spezifische Weise dazu beitragen, dem Idealbild des Staats und seinen Bürgern konkrete, realistische Züge zu geben. Was ist der Sinn dieses komplexen literarischen Entwurfs? Die Dialoge Timaios, Kritias und der nur angekündigte Hermokrates stellen eine konzeptionelle Einheit dar, bei der physikalisch/physiologische, ethische und politische Themen im Zusammenhang gesehen werden. Die einzelnen Dialoge setzen unterschiedliche Schwerpunkte, aber sie haben eine gemeinsame Aufgabe, nämlich den von Sokrates geforderten Bezug zur Welt des Werdens einzulösen: zum sinnlich wahrnehmbaren Kosmos im Timaios, zur Geschichte der polis im Kritias und, so darf man aus der Person des Vortragenden vermuten, zur gegenwärtigen politischen Situation im Hermokrates. Damit reflektiert Platon die zeitgenössische Diskussion um das, was wir heute »empirische Wissenschaft« nennen: naturwissenschaftliche und medizinische Erklärungen,263 Geschichtsschreibung sowie Analyse und Konstitution politischer Strukturen und Systeme, die sich allesamt auf Phänomene der veränderlichen Welt beziehen.264 Er zeigt, dass er auf der Höhe dieser Diskussion ist. Aber er trennt durch die Frage nach dem Ursprung die Idealität nicht von der sinnlich wahrnehmbaren Realität, die Welt des Seins nicht von der des Werdens, auch wenn er sie ontologisch, epistemologisch und axiologisch klar unterscheidet. Vielmehr macht er Ernst damit, dass erstere die Ermöglichung der zweiten ist und nur von daher verstanden werden kann. Eine Erklärung der Welt des Werdens und wissenschaftliche Theoriebildung sind für Platon nur möglich in der Rückführung auf erste Ursachen und damit auf die Welt des göttlichen und intelligiblen Seins. 263 Ein Beispiel aus dem Bereich der Medizin ist die hippokratische Schrift Über die alte Medizin. Sie ist entschieden empirisch ausgerichtet und polemisiert gegen philosophische Grundsatzfragen, siehe dazu S. 29. 264 Die Atlantis-Erzählung von Kritias ist eine Replik auf die wachsende Bedeutung der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im antiken Griechenland. Auch hier geht es um das Verhältnis von Empirie und Theorie. Kritias legt größten Wert darauf, dass es sich bei dieser seltsamen Geschichte dennoch um einen wahren Logos handelt (kºcou l²ka l³m !tºpou, pamt²pas¸ ce lµm !kghoOr). Deswegen behauptet er, dass die Heldentaten wirklich vollbracht wurden, obwohl die mündliche Überlieferung nichts davon berichtet (oq kecºlemom l´m, ¢r d³ pqawh³m emtyr). (Ti. 20d, 21a, d) Gill meint deswegen, dass Platon sich hier spielerisch als Historiker ausgibt, nur um gleichzeitig durchblicken zu lassen, dass es sich bei dem Bericht um eine Fiktion handelt, die dennoch einen tieferen Wahrheitsgehalt beansprucht. (Gill, Plato’s Atlantis Story and the Birth of Fiction, 65 f., 75) Auch Lampert/ Planeaux argumentieren dafür, dass Platon mit der Atlantis-Erzählung eine dichterische Form der Staatsgeschichte schreibt. Sie soll die Vorbildfunktion erhalten, die vorher die Geschichten von Homer und Hesiod innehatten. Dies., Who’s Who in Plato’s TimaeusCritias and Why?, 98 – 100, 106 f.
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
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Diese Rückführung ist nicht induktiver, sondern philosophisch-hypothetischer Art. Eine Wissenschaft vom Werdenden kommt darum auf der Ebene der Analyse selbst im besten Fall über den Status einer plausiblen Wahrscheinlichkeitsbegründung, eines eikos logos, nicht hinaus.265 (Ti. 29b f., 30b, 53d, 57d) Weder die Physik des Timaios noch die Geschichtserzählung des Kritias sind als Wissenschaft vom Werdenden jedoch Selbstzweck. Vielmehr dienen sie der Frage, wie der Mensch am besten lebt.266 Im Timaios steht das Verständnis von Philosophie unter dieser Vorgabe. Der Philosophiebegriff findet sich in den Dialogen Timaios und Kritias insgesamt 11-mal: In der Gesprächseinleitung durch Sokrates steht er 3-mal, (Ti. 18a, 19e, 20a) im Bericht des Kritias 3-mal (Ti. 23d, 24c; Crit. 109c) und bei Timaios 5-mal. (Ti. 47b: 2x, 73a, 88c, 91e)
3.1.
Natur und Erziehung als Grundlage des guten Lebens (Sokrates)
In der Politeia kommt dem Bildungsgang der zukünftigen Wächter und Herrscher eine herausragende Rolle zu. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass eine philosophische Naturveranlagung (t_m vikosºvym v¼seym, R. 485a) Voraussetzung einer erfolgreichen philosophischen Erziehung ist. Dazu gehören intellektuelle Begabungen wie Wissensdurst, Wahrheitsliebe, ein gutes Gedächtnis, aber auch die Tugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. (R. 376b, 475e, 485a – 487e) Die Verbindung dieser kognitiven und ethischen Qualitäten mit dem Naturbegriff wird in der Politeia vorausgesetzt, aber nicht weiter begründet, obwohl sich der enge Zusammenhang zwischen Naturanlage und philosophischer Erziehung durch den ganzen Dialog zieht. Diese Begrün265 Der eikos logos wird in unterschiedlicher Weise begründet: zum einen mit Verweis auf den Abbildcharakter des Kosmos (Witte, Der eQj½r kºcor in Platos Timaios, 5 f., 11 f.; Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platons Timaios, 11; Meyer-Abich, Eikos Logos: Platons Theorie der Naturwissenschaft, 36 f., 40 f.); zum anderen auf die epistemische Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens (Zuckert, Plato’s Philosophers, 437). Eine Verbindung beider versucht Mesch, Die Bildlichkeit der Platonischen Kosmologie, 194 – 213. 266 Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass der Timaios gemäß der seit der Antike gängigen Einteilung der Philosophie in Metaphysik (Logik), Physik und Ethik als die Physik Platons zu gelten hat, sondern nur gesagt, dass die naturwissenschaftliche Betrachtung bei Platon nicht losgelöst ist von ihrer metaphysischen Begründung (siehe Kobusch, Der Timaios in Chartres, 235 f.) und ihrem ethischen Horizont (vgl. a. Steel, The Moral Purpose of the Human Body, 105 f.: »However, throughout the dialogue he reminds the reader that his real interest is not in the scientific explanations as such… What he wants to show is how this world and the human beings existing therein have been created by the divine Demiurge ›aiming at the best‹. … For it is not possible to explain what is ›better‹ or ›best‹ in the universe without referring to the human beings existing in this universe and to the goals they try to achieve.«
158
Das philosophische Leben
dung wird nun im Timaios nachgeholt. Denn der Timaios verankert Möglichkeit und Form menschlicher Erziehung in der ontologischen Struktur des Kosmos. Was in der Natur des Menschen angelegt ist und wozu er werden kann – in Angleichung an Gott durch die Philosophie oder in der Degeneration zum Tier durch deren Vernachlässigung –, ist im Kosmos als Ganzem grundgelegt. Das Zusammenspiel von Naturanlage und Erziehung wird durch Sokrates mit einer Rekapitulation des Idealstaates eingeführt, bevor dann seine Gesprächspartner das Thema aufgreifen und vertiefen. Und die Naturanlage der Seele dieser Wächter, sagten wir doch wohl, müsse gleichzeitig in ausgezeichnetem Maße sowohl mutig wie auch erkenntnisliebend sein, damit sie in richtigem Maße, je nachdem, den einen gegenüber milde, den anderen gegenüber unerbittlich sein könnten. (V}sim c±q oWla_ tima t_m vuk\jym t/r xuw/r 1k]colem ûla l³m huloeid/, ûla d³ vik|sovom de?m eWmai diaveq|mtyr, Vma pq¹r 2jat]qour d}maimto aqh_r pqøoi ja· wakepo· c_cmeshai. Ti. 18a, Üb. Zekl)267
Wenn Sokrates betont, dass die Seele der Wächter von Natur aus mutig und philosophisch ist, so steht im Hintergrund die Seelenteilungslehre der Politeia. Dort wurde zwischen dem vernünftigen bzw. philosophischen Seelenteil, dem logistikon, dem mutigen oder energischen Seelenteil, dem thymoeides, und dem begehrenden Seelenteil, dem epithymetikon, als differenzierten Vermögen der Seele unterschieden. (R. 439d f.; 441e – 442d; 611e) Dabei bewirkt die rechte Mischung von Musik und Gymnastik die Harmonie des vernünftigen und des mutigen Seelenteils. (R. 441e f.) Der Hinweis auf die Bedeutung von Musik und Gymnastik findet sich auch im Timaios im Anschluss an unsere Textstelle. Diese Parallele belegt, dass der Ausdruck »philosophisch« in Ti. 18a den Seelenteil bezeichnet, der eine natürliche Anlage zur Vernunft hat, nämlich das logistikon. Diese Vernunftanlage kommt jedem Menschen unverlierbar zu, wie wir in der Timaiosrede noch sehen werden, aber sie kann durch die Geschichte der Seele, das ist die Reihe ihrer Inkarnationen, unterschiedlich ausgeprägt sein. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese natürliche Veranlagung in besonderer Weise gefördert und entwickelt wird. Das fordert Sokrates hier für die Wächter. Die Natur des mutigen wie des vernünftigen Seelenteils ist eine grundlegende Voraussetzung für die Wahl des Angemessenen bei den Aufgaben, die ein Wächter zu bewältigen hat. Denn indem er dem Befreundeten gegenüber Milde zeigt und dem Feindlichen gegenüber Härte, beweist er seine natürliche Unterscheidungsgabe. Auf dieser natürlichen Anlange baut dann die Erziehung der Wächter auf: durch gymnastische Übungen, Musik und Kenntnisse, die ihren 267 Vgl. R. 375e: »Dünkt dich nun auch dies noch nötig für einen, der sich zum Wächter schicken soll, daß er nächst dem Mutigen auch noch philosophisch sei von Natur? (pq¹r t` huloeide? 5ti pqoscem´shai vikºsovor tµm v¼sim, Üb. nach Schl.)
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
159
Aufgaben angemessenen sind. (Ti. 18a) Im Timaios steht dafür zumeist der doppeldeutige Begriff trophe, der in Ableitung vom Verb tq´vy zunächst Ernährung und das physische Aufwachsen eines Lebewesens bezeichnet und erst im abgeleiteten Sinn dann auch Erziehung.268 Es liegt also von vornherein ein starker Akzent auf dem Organischen, Wachstümlichen und auf der Entfaltung von natürlichen Anlagen durch die ihnen gemäßen und förderlichen äußeren Bedingungen. Natur und Erziehung müssen ineinander greifen und zusammenspielen, damit dem Menschen die bestmöglichen Voraussetzungen für seine Entwicklung zuteil werden. Der Begriff der physis wird dabei nicht nur auf den Körper und dessen Anlagen bezogen, sondern auch auf die Seele. Auch die Seele hat eine Natur, die metaphorisch gesprochen durch entsprechende »Ernährung« mit dem ihr Zuträglichen gefördert werden und erstarken kann. Ohne eine natürliche Veranlagung der Seele zu Tapferkeit und Vernunft greift keine Erziehung, aber ohne Erziehung kann sich die Natur der Seele nicht entfalten. Dieses Zusammenspiel von Erziehung und Natur ist grundlegend für den Timaios. In der Politeia hatte Sokrates mehrfach die Möglichkeit einer Realisierung seines Staatsentwurfs gegen skeptische Einwände verteidigt. (R. 450c f., 471c-e, 540d) Nun aber will er diesen Staat auch »in Bewegung« sehen. (Ti. 18b) Er möchte wissen, ob sich sein Staat auch unter härtesten und schwierigsten Bedingungen, wie sie bei kriegerischen Auseinandersetzungen mit anderen Staaten gegeben sind, realisieren ließe. Werden die Wächter und Bürger dieses Staats mit ihrer Bildung und Erziehung (t0 paide¸ô ja¸ tqov0) den Beweis für ihre Tüchtigkeit in Wort und Tat antreten können?269 (Ti. 19c) Die traditionellen Dichtererzählungen scheiden nach Sokrates für diesen Nachweis aus, da ihre Helden oft ethisch problematisch sind und sich nicht zur Darstellung der Reden und Taten der besten Menschen im besten Staat eignen.270 Der Seele wird hierbei nicht die richtige und förderliche Nahrung zuteil, weil die Dichter keine eigenen Vorstellungen von der Tugend entwickeln, sondern die alten Geschichten ohne eigenes Verständnis nur nacherzählen. Sie sind darum inkompetente Erzieher des Volks. Etwas anders liegt die Sache bei den Sophisten. Ihnen gesteht Sokrates zu, dass sie sich von den traditionellen Vorbildern gelöst haben und selbständig denken und reden. Doch auch sie sind keine geeigneten Kandidaten für den Bericht über den besten Staat, weil sie als Wanderlehrer viel zu unstet sind und sich an keine polis binden. 268 Im Sinn von Ernährung und Wachsen: Ti. 33c, 41d 2, 44b, 70e3; im Sinn von Erziehung: Ti. 18a9, 19c6, 19d7, 20a1, 86e2, 87b7. 269 Die Varianten der Formel k´ceim te ja· pq²tteim in Ti. 19c, e u. 21a spiegeln die Unterscheidung des philosophischen (dem Logos unterstehenden) und des mutigen (die Tat motivierenden) Seelenteils in Ti. 18a. 270 Vgl. die Dichterkritik in R. 377b – 380c.
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Das philosophische Leben
Die Gattung Sophist wiederum halte ich schon für sehr erfahren in vielem Reden und anderen schönen Dingen, nur fürchte ich, da sie unstet ist in allen Städten und nirgendwo in eigenen Behausungen angesiedelt, daß sie unfähig ist bei Männern, die gleichzeitig auf Erkenntnis aus sind und auch politisch handeln, zu begreifen, was die in Krieg und Kämpfen an Wort und Tat vollbringen und was sie im Umgang miteinander tun und reden. (t¹ d³ t_m sovist_m c]mor aw pokk_m l³m k|cym ja· jak_m %kkym l\k’ 5lpeiqom Fcglai, voboOlai d³ l^ pyr, ûte pkamgt¹m cm jat± p|keir oQj^seir te Qd_ar oqdal0 di\jgj|r, %stowom ûla vikos|vym !mdq_m × ja· pokitij_m, fs’ #m oX\ te 1m pok]l\ ja· l\wair pq\ttomter 5qc\ ja· k|c\ pqosolikoOmter 2j\stoir pq\ttoiem ja· k]coiem. Ti. 19e, Üb. Zekl)
Sokrates vergleicht die Sophisten sprachlich subtil mit Planeten (c]mor pkamgtºm), deren unstete Bahn keine Klarheit und Orientierung erlaubt, da sie durch Großgriechenland irrlichtern. Damit greift er der These von Timaios vor, dass es Aufgabe der Erziehung und Philosophie ist, den Gedankenbewegungen der Vernunftseele, die infolge ihrer Bindung an einen sterblichen Körper durcheinander geraten sind und herumirren, wieder zu ihrer naturgemäßen Stetigkeit und Dauerhaftigkeit zu verhelfen. Dies geschieht durch Einsicht in die Regelhaftigkeit der kosmischen Himmelsbewegungen und deren Nachahmung. (Ti. 47a-c, 90c-d) Erst auf der Grundlage stetiger und regelhafter Gedankenbewegungen ist richtiges und sachgemäßes Erkennen möglich. Anders als die Dichter haben sich die Sophisten zwar von den falschen traditionellen Vorbildern gelöst, aber sie sind dabei selbst halt- und orientierungslos geworden. Ihnen fehlen die Kriterien zur Beurteilung dessen, was ein richtiges und gutes Denken und Handeln ausmacht. Deswegen verkennen sie die philosophischen Männer und deren Art, reflektiert und vernunftgeleitet zu reden und zu handeln, sei es im normalen, bürgerlichen Leben oder unter den extremen Bedingungen des Krieges. Auch die Sophisten bieten also der Seele nicht die richtige Nahrung, das heißt die richtigen Vorbilder zur Erziehung und Entwicklung der natürlichen Möglichkeiten. Ihre äußere Unstetigkeit spiegelt ihre innere, seelische Orientierungslosigkeit, sowohl im epistemischen als auch im ethischen Sinn.271 271 Kritikpunkt ist nicht einfach die mangelnde praktisch-politische Erfahrung der Sophisten, wie Rowe meint: »… the sophists lack of political experience seems to be all that prevents them from ›hitting upon what vikos|voi … ja· pokitijo· men (%mdqer) would say and do‹. Give them that experience and all would be in order ; some sort of ›philosophical‹ understanding would evidently come along with it.« Daraus würde allerdings, wie Rowe selbst sagt, ein völlig anderes Philosophieverständnis folgen. (Rowe, The Case of the Missing Philosophers, 65) Entscheidend ist vielmehr, dass die Voraussetzungen für ein philosophisches Denken, das nach dem Wahren und Guten fragt, nicht gegeben sind. Denn pkam÷m bedeutet nicht nur das äußere Herumirren, sondern übertragen auch das geistige Irren (vgl. pk²mgr ja· !mo¸ar ja· … !cq¸ym 1q¾tym ja· t_m %kkym jaj_m t_m !mhqype¸ym, Phd. 81a). Deswegen schließt Sokrates in einer gewagten Analogie von der äußeren Unstetigkeit der Wanderexistenz auf die innere, seelische Regellosigkeit, sei es im epistemischen Sinn bei der Erkenntnis des Wahren und Richtigen, sei es im ethischen Sinn bei der Bewertung
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
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So bleiben nur Männer eures Schlages übrig, denen vermöge ihrer Naturanlage und Erziehung beides zuteil ward. Denn unser Timaios da, der aus der Stadt mit der besten Gesetzgebung, aus Lokris in Italien, stammt, gelangte, an Reichtum und Herkunft keinem seiner Mitbürger nachstehend, zu den höchsten Ämtern und Ehrenstellen im Staat; in der gesamten Philosophie aber hat er, meiner Meinung nach, das Höchste erreicht. (jatak]keiptai dµ t¹ t/r rlet]qar 6neyr c]mor ûla !lvot]qym v}sei ja· tqov0 let]wom. T_lai|r te c±q fde, eqmolyt\tgr £m p|keyr t/r 1m Ytak_ô Kojq_dor, oqs_ô ja· c]mei oqdem¹r vsteqor £m t_m 1je?, t±r lec_star l³m !qw\r te ja· til±r t_m 1m t0 p|kei letajewe_qistai, vikosov_ar d’ aw jat’ 1lµm d|nam 1p’ %jqom "p\sgr 1k^kuhem7 Ti. 19e f., Üb. Schl.)
Ein ähnlich positives Zeugnis über eine herausragende Naturanlage und Erziehung (peq· v¼seyr ja· tqov/r, ebd.) stellt Sokrates auch Kritias und Hermokrates aus. Allerdings erwähnt er bei ihnen keine besondere philosophische Qualifikation. Wenn sich aber physis und trophe wie in Ti. 18a gleicherweise auf den mutigen wie den philosophischen, das heißt vernünftigen Seelenteil beziehen, handelt es sich um Männer, die ebenso reflektiert und vernunftgeleitet wie praxisbewährt sind. Sie sollten darum in der Lage sein, den von Sokrates gewünschten Bericht zu geben. Ob damit auch gesagt ist, dass alle drei auch Philosophen im Sinn der Politeia sind und potentiell den Philosophenherrschern zuzurechnen, bleibt eine offene Frage.272 Der dramaturgische Sinn des Zeugnisses von Sokrates über die philosophische Begabung seiner Gesprächspartner besteht in dem Hinweis, dass ihre natürlichen Voraussetzungen einer entsprechenden Ausbildung durch Erziehung bedürfen. Zwischen Veranlagung und optimaler Realisierung besteht eine Differenz. Das schlägt sich auch in der Verwendung des Philosophiebegriffs nieder. Denn »philosophisch« ist zum einen ein Synonym für »vernünftig« oder »vernunftgemäß«, sofern es sich auf die Natur dieses Seelenteils bezieht und dessen Qualität bezeichnet. (Ti. 18a) Zum andern aber meint »Philosophie« die »Erziehung« und »Ernährung« eben dieses Seelenteils durch bestimmte intellektuelle Übungen und wissenschaftliche Disziplinen. (Vgl. Ti. 47a f.) Dadurch gelangt das vernunftgemäße Denken schließlich zu seiner höchsten Form und Tugend, zur »Spitze der Philosophie« (Ti. 20a), um in der Vollendung seinen eigenen Ursprung, das Gute, zu erfassen. Zwischen Naturanlage einer philoso-
praktischen Handelns. An dieser Stelle ist das nur eine implizite, unbewiesene Behauptung, für die Timaios allerdings die Begründung nachliefern wird, wenn er zeigt, wie Leib und Seele sich in ihrer Bewegung positiv wie negativ gegenseitig beeinflussen. (Ti. 88b f.) 272 Für Timaios könnte das noch am ehesten gelten, weil er nach dem Zeugnis von Sokrates die Philosophie bis zu ihrem höchsten Punkt betrieben hat. Das Urteil von Sokrates vikosov_ar … 1p’ %jqom "p\sgr 1k^kuhem kann als Anspielung auf die Politeia gelesen werden (%jqoir eQr vikosov¸am, R. 499c). Siehe dazu die Diskussion bei Rowe, The Case of the Missing Philosophers, 58 – 61.
162
Das philosophische Leben
phischen Seele und ihrer bestmöglichen Realisierung liegt darum das »Werden zum Guten«.
3.2.
Die schönsten und besten Menschen (Kritias)
Kritias erhebt nicht den Anspruch, aus eigener Anschauung zu berichten. Vielmehr ist seine Rede eine raffiniert in die prähistorische Vergangenheit projizierte Erzählung über Attika, wo das schönste und beste Geschlecht der Menschen lebte (t¹ j²kkistom ja· %qistom c´mor 1p’ !mhq¾pour, Ti. 23b), das sich durch die schönsten Taten und Verfassungen auszeichnete (j²kkista 5qca jaQ … pokite?ai … j²kkistai, Ti. 23c). Er führt mit dieser angeblich nur mündlich tradierten Erzählung, Volk und Staat der Ur-Athener direkt auf die mythischen Gottheiten Athena und Hephaistos zurück. Der Sinn dieses Gründungsmythos, der dennoch den Wahrheitsanspruch eines rationalen Logos erhebt (lµ pkash´mta lOhom, !kk’ !kghim¹m kºcom, Ti. 26e), besteht in dem Nachweis der Realisierung des besten Staates und der schönsten und tüchtigsten Menschen in geschichtlicher Zeit, wie es dem Selbstverständnis der Athener entspricht. Denn was einmal in geschichtlicher Zeit der Fall gewesen ist, ist dem Vorwurf der Utopie enthoben und kann auch zukünftig wieder eintreten. Es hat bereits seinen Ort in der Geschichte gefunden. Damit erfüllt dieser als Logos verkleidete Mythos das Anliegen von Sokrates, den Idealstaat unter »realen« Bedingungen erstehen zu lassen. »Wir wollen aber die Bürger und den Staat, den du [Sokrates] uns gestern wie erdichtet (¢r 1m l¼h\) darstelltest, jetzt in die Wirklichkeit übertragen (1p· t!kgh³r deOqo h¶solem) und hier ansiedeln, als sei jener Staat der hiesige, und von den Bürgern, die du dir dachtest (diemooO), werden wir sagen, sie seien jene realen Vorfahren von uns (to»r !kghimo»r eWmai pqocºmour Bl_m), von denen der Priester erzählte.« (Ti. 26c f., Üb. Schl.) Der Wahrheitsbegriff, der hier zugrunde gelegt wird, setzt allerdings nicht das geschichtliche Faktum der sinnlich wahrnehmbaren Welt voraus, denn die Erzählung ist offensichtliche Fiktion, sondern ist ein am Ideal orientierter, ontologischer Wahrheitsbegriff. Das verbindet den Bericht von Kritias mit dem methodologischen Proömium in der Rede von Timaios, wo Sein, Denken und Wahrheit dem Werden, der Sinneswahrnehmung und dem Meinen gegenüberstehen. (Ti. 27d f., 29c) Wahr ist also auch in diesem in Geschichte und Geographie übertragenen Bild des Idealstaates nicht, was gewesen ist, sondern was im Denken richtig ist.273 273 Dazu Gill, Plato’s Atlantis Story and the Birth of Fiction, 65 – 67, 71 – 73 u. S. 156, Anm. 264. Zur Bildfunktion der Kritiasrede als Spiegel der Wirklichkeit siehe Slaveva-Griffin, A Feast of Speeches, 319 – 322.
Timaios: Das göttliche Paradigma des guten Lebens
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Der entscheidende Schlüssel zum Verständnis des besten realen Staats, seiner schönsten Bewohner und ihrer herausragenden Taten liegt in dem Hinweis, dass nur vom göttlich Seienden her die menschlichen Verhältnisse geordnet und gut werden. (Ti. 24c) Das ist eine deutliche Absage an jedes bloß empirische Verständnis von politischen Zuständen und Prozessen, wie es sich im erwachenden Geschichtsbewusstsein der klassischen Epoche ausdrückt. Die Gesellschaftsordnung mit ihren Gesetzen leitet sich ebenso vom göttlichen Vorbild ab wie Wehrhaftigkeit, Künste und Wissenschaften. Als dem Krieg und der Weisheit zugleich befreundet, wählte die Göttin den Ort aus, der die ihr ähnlichsten Menschen hervorbringen würde, und besiedelte ihn zuerst. So wohntet ihr also dort, von solchen Gesetzen und später noch viel besseren Gebrauch machend und alle Menschen in jeder Tüchtigkeit übertreffend, wie es von denen zu erwarten ist, die von Göttern erzeugt und erzogen sind. (ûte owm vikop|kel|r te ja· vik|sovor B he¹r owsa t¹m pqosveqest\tour aqt0 l]kkomta oUseim t|pom %mdqar, toOtom 1jkenal]mg pq_tom jat]jisem. ©ije?te dµ owm m|loir te toio}toir wq~lemoi ja· 5ti l÷kkom eqmolo}lemoi p\s, te paq± p\mtar !mhq~pour rpeqbebkgj|ter !qet0, jah\peq eQj¹r cemm^lata ja· paide}lata he_m emtar. Ti. 24d, Üb. B.S.)
Während im Timaios die Liebe zum Krieg (vikopºkelor) an die Seite der Philosophie tritt, ist es im Kritias die Liebe zur Kunst (vikotewm¸a).274 Indem nun dem einen der Götter dieses, dem anderen ein anderes Land durch Los anheimfiel, ordneten sie es; dem Hephaistos und der Athena aber, die eine gemeinsame Natur hatten, da sie teils von demselben Vater stammend verschwistert waren, teils weil sie sich aus Liebe zur Weisheit und zur Kunst den gleichen Dingen zuwandten, so erlosten beide zusammen als einen gemeinsamen Anteil unser Land hier, da es von Natur Tapferkeit und Einsicht angemessen und zuträglich war, und sie bevölkerten es mit wackeren ureingeborenen Männern und gaben die verfassungsmäßige Ordnung nach ihrem Sinn. (%kkoi l³m owm jat’ %kkour t|pour jkgqouw^samter he_m 1je?ma 1j|sloum, Nvaistor d³ joimµm ja· )hgm÷ v}sim 5womter, ûla l³m !dekvµm 1j taqtoO patq|r, ûla d³ vikosov_ô vikotewm_ô te 1p· t± aqt± 1kh|mter, ovty l_am %lvy k/nim t^mde tµm w~qam eQk^watom ¢r oQje_am ja· pq|svoqom !qet0 ja· vqom^sei pevuju?am, %mdqar d³ !caho»r 1lpoi^samter aqt|whomar 1p· moOm 5hesam tµm t/r pokite_ar t\nim, Crit. 109c f., Üb. Schl.)
Die mythologische Genealogie betont die herausragenden Naturanlagen der Athener. Neben exogenen Voraussetzungen wie den günstigen Lebensumständen sind es vor allen Dingen endogene Ursachen, denen die Athener ihre her274 Die Charakterisierung von Athena als vikopºkelor meint die Wehrhaftigkeit, die nicht im Gegensatz zur Liebe zur Weisheit und damit zur Besonnenheit steht. Anders als beim Kriegsgott Ares sind Kampf und Krieg kein Selbstzweck, und der Göttin ist nicht an blindem Blutrausch gelegen. »Liebe zum Krieg« ist deswegen eine problematische Übersetzung, die hier nur um der parallelen Wortbildungen vikosov_a und vikotewm¸a willen gewählt wurde.
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Das philosophische Leben
ausragenden Leistungen verdanken. Denn weil die Ur-Athener dem göttlichen Samen von Hephaistos entstammen, der auf die Erde fiel, als er die kluge und wehrhafte Göttin Athena begehrte,275 sind Verlangen und Begehren nach Klugheit und Mut auch charakteristische Eigenschaften der Bewohner Attikas. Die Athener wurden aber nicht nur von Göttern gezeugt (cemm^lata), sondern auch von ihnen gebildet und aufgezogen (paide}lata he_m).276 Wie im Idealstaat gefordert baut eine geeignete Erziehung auf die gute, natürliche Veranlagung auf. Diesem Zweck dienen die göttlichen Ordnungen für das Zusammenleben in der polis. Danach gedeihen Philosophie, Wehrhaftigkeit und Künste dort am besten, wo keine extremen äußeren Bedingungen zu Einseitigkeit und Disharmonie führen. Und zugleich ist die gute Mischung (eqjqas¸a, Ti. 24c) der Gegensätze und Naturanlagen ein grundlegendes Ordnungskriterium und Gesetz, das zum Gedeihen menschlichen Lebens beiträgt und die verständigsten Menschen (vqomilyt²tour %mdqar, ebd.) hervorbringt. Die schönsten und besten Menschen entstehen also nicht zufällig, sondern es bedarf dazu mythologisch gesprochen der Befruchtung der Erde mit göttlichem Samen und einer göttlichen Ordnung und Erziehung. Daraus resultiert dann die Teilhabe der Menschen an den Eigenschaften der Schutzgottheiten, nämlich ihre philosophische, kriegerische und künstlerische Begabung. Nicht zufällig sind das auch die Charakteristika des mutigen und des vernünftigen Seelenteils, von denen eingangs bei den Wächtern die Rede war. Kritias greift also das Anliegen von Sokrates auf, eine lebendige Anschauung der Bewohner des besten Staates zu geben. Nur bedient er sich dabei erzählerischer Mittel traditioneller Mythologie, um mit ihrer Hilfe ein genetisches und ordnungspolitisches Modell einzuführen, das die außerordentlichen Leistungen der Athener begründen soll und sie als die schönsten und besten Menschen darstellt. Damit gleicht Kritias allerdings den von Sokrates kritisierten Dichtern, weil sein Denken nicht über die Grenze dieses mythologischen Logos hinausreicht. Denn er bindet die philosophischen, künstlerischen und kriegerischen Leistungen an völkische Eigenheiten und Traditionen. Politische Geschichtsschreibung bzw. Dichtung mag in diesen ethnologischen Kategorien denken, aber der Naturwissenschaftler Timaios wird diese Grenze hinter sich lassen und anthropologisch argumentieren. Er greift zwar die von Kritias eingeführte Verankerung von Natur und Erziehung der menschlichen Seele in einem gött275 Hephaistos begehrte Athena, wurde aber zurückgewiesen. Sein Same fiel darum auf die Erde und es entstand daraus Erechtheus. Dieser gilt als Urahn der Athener, die sich deshalb als »autochthon« verstehen, d. h. als aus der Erde geborene und bodenständige Bewohner Attikas seit ewigen Zeiten. (Siehe Bruit Zaidman, Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen, 183; zur autochthonen Abkunft auch Crit. 109 d) 276 Im kosmischen Entwurf von Timaios kommt diese Rolle dem göttlichen Demiurgen zu, der sowohl das erzeugende als auch das ordnende, gestaltende Prinzip darstellt.
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lichen Ursprung auf. Auch Maß und Ordnung als Bedingungen eines gelingenden und guten Lebens haben dort ihren Grund. Doch wird er dabei im Wortsinn kosmopolitisch denken und die Genese der schönsten und besten Menschen an den göttlichen Kosmos und dessen »Vater«, den göttlichen Demiurgen, rückbinden. Philosophie, Kunst und Wehrhaftigkeit sind keine Besonderheit eines bestimmten Volks, sondern Möglichkeit und Aufgabe jedes Menschen.
3.3.
Der Kosmos ist das göttliche Paradigma des guten Lebens (Timaios)
3.3.1. Die Ordnung und Schönheit des Kosmos Timaios denkt nicht mehr völkisch und traditionell mythologisch und geht dementsprechend seine Aufgabe methodisch anders an. Er verbindet rationale Argumentation mit Wahrscheinlichkeitsgründen und zwingenden Beweisen, (Ti. 40e) die jedem denkenden Menschen zugänglich sind.277 Er will alles Gewordene auf Ursachen zurückführen und diese auf letzte Prinzipien, die ihrerseits nicht geworden, sondern ewig, unwandelbar und deswegen göttlich sind. (Ti. 28c) So findet in der rationalen, kausalen Argumentation zwar einerseits eine Entmythologisierung der traditionellen Götter statt, aber andererseits ist nunmehr der ganze Kosmos ein allen Menschen wahrnehmbarer und unmittelbar zugänglicher Gott, ein he¹r aQshgtºr. (Ti. 92b) Durch seine Schönheit und Erkennbarkeit verweist dieses sichtbare und vollkommene Lebewesen, der Kosmos, auf das nur denkbare Lebewesen, das f`om mogtºm, dessen Abbild er ist. (Ti. 92c) Darum gründet bei Timaios die Kosmologie in der Metaphysik. Auch Timaios trägt also seinen Teil zum Lob der Gottheit bei, aber eben durch den Aufweis eines universalen göttlichen Seins, das allem Gewordenen zugrunde liegt. Für Timaios steht es außer Frage, dass derjenige, der nach dem Ursprung des Menschen und des Staatswesens fragt, in letzter Konsequenz nach dem Ur277 Während Kritias das Pendant zu den Dichtern darstellt, ähnelt Timaios in der Betonung rationaler Kriterien den Sophisten, deren Hinwendung zur rationalen Argumentation von Sokrates eingangs durchaus positiv kommentiert wurde. Wie diese löst er sich von traditionellen Erklärungsmustern und erfindet seine eigenen »schönen Logoi« (Ti.19e). »This is not a story that has been told before [like Critias’ tale]; it is to be newly ›created‹ for this occasion by the philosopher, statesman, and scientist Timaeus (27c4).« (Osborne, Creative Discourse in the Timaeus, 185 f.) Timaios entgeht aber der kognitiven Orientierungs- und Haltlosigkeit der Sophisten, weil er sich am stetigen, göttlichen Paradigma des Kosmos orientiert, und weil er den Unterschied zwischen der Welt des Werdens und des Seins, zwischen Meinung und Wahrheit, und das heißt zwischen Kosmologie und Metaphysik ins Bewusstsein hebt. (Ti. 27d – 29d) Damit bezeugt er seine philosophische Kompetenz.
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Das philosophische Leben
sprung des Kosmos fragen muss. Denn wer den Menschen verstehen will, muss den Kosmos verstehen. Das Verhältnis von Kosmos und Mensch entspricht dem Verhältnis von Makrokosmos und Mikrokosmos, weil der Mensch aus den gleichen Bestandteilen und Strukturen erschaffen ist wie der Kosmos. Dieser »Ursprung von allem« (tµm l³m peq· "p²mtym eUte !qwµm eUte !qw²r, Ti. 48c) ist schwer zu schildern, wie er betont,278 und so entfaltet Timaios aus didaktischen Gründen verschiedene Aspekte des göttlichen Seins, die beim Entstehungsprozess des Kosmos zusammenwirken.279 Da ist zum ersten der Demiurg, ein göttlicher Handwerker, der Schöpfer und Vater des Weltalls (t¹m … poigtµm ja· pat´qa toOde toO pamtºr …, Ti. 28c);280 zum zweiten das Vorbild (t¹ paq²deicla), auf das der Demiurg hinblickt, wenn er den Kosmos als Abbild (eQj¾m) erschafft. (Ti. 28c, 29a) Diesem Paradigma werden Merkmale zugesprochen, die es als Idee ausweisen, denn es ist immerseiend (!¸diom) und sich selbst gleich und auf die gleiche Weise sich verhaltend (t¹ jat± taqt± ja· ¢sa¼tyr 5wom).281 (Ti. 29a) Weiterhin bedarf es im vorkosmischen Chaos eines 278 In Ti. 48c findet sich eine der so genannten Aussparungsstellen über ein Prinzipienwissen, die deutlich macht, dass hier der Rahmen des öffentlich Sagbaren überschritten wird (so Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 222 f., und Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 115 f. u. Anm. 6.; siehe a. Schefer zur Unterscheidung dessen, was nicht gesagt werden soll im Sinne der Esoterik, das ou rheton, von dem, was nicht gesagt werden kann, des arrheton; dies., Platons unsagbare Erfahrung, 33 f.) 279 Zur Diskussion der Frage, ob die Welt geworden ist oder nicht und wenn ja, ob sie zeitlich geschaffen wurde, siehe Baltes, C´comem. Ist die Welt real entstanden oder nicht? Dort auch zur didaktischen Differenzierung des Seins in Wirkursache (göttlicher Demiurg) und paradigmatische Ursache (Vorbild, Ideen), ebd. 81, 88; und zum Verständnis von !qw¶ im ontologischen Sinn als Ursache und nicht als zeitlicher Anfang, ebd. 94. 280 Ebert sieht hier eine Argumentationslücke, weil Timaios logisch unbegründet von einer Weltursache auf den Weltbaumeister, den göttlichen Demiurgen schließt und damit ein technisches Modell der Kosmogonie gegenüber einem genetischen Modell bevorzugt, obwohl ausdrücklich vom »Vater« des Kosmos die Rede ist. »Nur – daraus, daß die Welt eine Ursache hat, folgt keineswegs auch, daß diese Weltursache ein göttlicher Weltbaumeister sein muß. … Der revolutionäre Gedanke des Timaios, die Vorstellung eines göttlichen Weltkonstrukteurs, hängt in der Luft.« (Ebert, Von der Weltursache zum Weltbaumeister, 52) Anders als das genetische Modell setzt das technische Modell jedoch implizit eine ontologische Differenz zwischen dem Herstellenden und seinem Produkt voraus. Auch wenn der Demiurg seinem Werk, das sind der Kosmos und die kosmischen Götter, die ihn selbst eignenden Charakteristika Vernünftigkeit und Gutheit einprägt, so dass die Weltseele und mit ihr die Götter ihrerseits vernunftgemäß und gut wirken können, so ist diese Vernünftigkeit und Gutheit doch nicht Prinzip ihrer selbst, sondern abgeleitet und abbildhaft. Demiurg und Kosmos stehen ontologisch nicht auf der gleichen Ebene. Dieser Unterschied lässt sich, anders als es Ebert will, nicht in einem genetischen Modell fassen. Bordt unterstreicht deswegen zu Recht die ontologische Differenz zwischen beiden, wenn er sagt, dass »zu unterscheiden ist … zwischen dem nous, den die [Welt]Seele als einen Teil ihrer selbst hat, und dem nous, der die Vernunft ist…« Letzterer ist identisch mit dem göttlichen Demiurgen. (Bordt, Platons Theologie, 223) 281 Kamlah bestreitet für den Timaios die Annahme von Ideen und behauptet eine diesbe-
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noch gänzlich unspezifischen Mediums, der chora oder auch »Amme des Werdens«, das heißt eines Ortes, in den die Ideen eintreten und erste Spuren ihrer selbst hinterlassen. (Ti. 49a, 50c, 52a,d) Diese werden dann vom Demiurgen mit Blick auf das intelligible Vorbild nach vernunftgemäßen Gesichtspunkten gestaltet und absichtsvoll planend zu ersten mathematisch strukturierten Körpern zusammengesetzt: den Buchstaben oder Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde, aus denen er schließlich den Kosmos erschaffen wird. Da der göttliche Demiurg gut (!cah¹r Gm, Ti. 29e) und neidlos ist und er zudem das vernünftig ordnende Prinzip darstellt, will er, dass alles ihm, dem Guten, möglichst ähnlich, und das heißt vernunftgemäß geordnet wird. Deswegen führt er die ersten Spuren der Ideen in der chora aus der Unordnung zur Ordnung (eQr t²nim Ecacem 1j t/r !tan¸ar, Ti. 30a), indem er ihnen eine mathematische Struktur gibt. Auf diese Weise kommen nicht nur Erkennbarkeit und Maß in die entstehenden Elemente, sondern auch Schönheit. Denn Schönheit ist eine Wirkung des Guten durch die ordnende Vernunft. Es ist ein Schöpfungsprinzip der Vernunft, ihre innere Gesetzmäßigkeit (h´lir), dass sie stets das Schönste und Beste erschafft. (Ti. 30a f., 46e, 53b, 54a, 68e, 87c f.) Das Gute und Schöne ist das Ziel des demiurgischen, vernünftigen Schaffens, weswegen es als teleologisches Prinzip schließlich den ganzen Kosmos durchwaltet. Im Bereich des Gewordenen, des Kosmos, bedarf die Vernunft als Abbild der göttlichen Vernunft eines Trägers. Deswegen erschafft der Demiurg die Weltseele, die zwischen dem intelligiblen Sein und der Körperwelt vermittelt: »Von dieser Überlegung bewogen, gestaltete er das Weltall, indem er die Vernunft in der Seele, die Seele aber im Körper schuf, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.« (Ti. 30b, Üb. Schl.) So wird der Kosmos zu einem beseelten, vernunftbegabten Lebewesen (f`om 5lxuwom 5mmoum te, ebd.) und zügliche Revision der Vorstellungen Platons. An die Stelle der Ideen sei das Vorbild getreten, das aber nicht mehr die Urbild-Funktion wie in den mittleren Dialogen hat, wo es in einem direkten Abbildungsverhältnis zu den Instanzen steht. Stattdessen fiele dem Demiurgen der aktiv gestaltende Part zu. (Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes, 35 f., 52 – 55) Baltes hingegen nimmt weiterhin Ideen für den Timaios an. Der göttliche Demiurg und das paradigmatische Vorbild seien zwei Aspekte ein und derselben Sache, des em der ersten Stufe, aus didaktischen Gründen unterschieden in eine absichtsvoll planende und ordnende Ursache (Demiurg) und einen rationalen Plan (Paradigma). Der Demiurg sei im vorkosmischen wie im kosmischen Zustand mit dem Vorbild identisch, d. h. er tritt nur im Zustand der Kosmogenese gleichsam als eigenes Wesen aus dem idealen Vorbild heraus und kehrt wieder in dieses zurück. Deswegen sei der Demiurg auch mit dem f`om mogtºm identisch zu denken als dem Ganzen, das alles Denkbare umfasst. »Wenn es den Gott zum Gott macht, bei den Ideen zu sein (Phdr. 249 C5 f.), dann versteht man, dass der Demiurg in gewisser Weise die Ideen ist.« (Baltes, C´comem. Ist die Welt real entstanden oder nicht?, Anm. 41, s.a. 82, 88, 90) Bordt geht noch einen Schritt weiter, indem er zeigt, dass es berechtigt ist, den Demiurgen nicht nur mit dem göttlichen nous aus den Nomoi, sondern auch mit der höchsten Idee, der Idee des Guten aus der Politeia zu identifizieren. (Bordt, Platons Theologie, 247 – 250)
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sichtbaren Abbild des nur dem Denken zugänglichen Lebewesens, des intelligiblen f`om mogtºm. (Ti. 30d f.) Dieser Kosmos zeigt sinnfällig die Schönheit lebendiger Ordnung. Er eröffnet dadurch in privilegierter Weise den Zugang zur göttlichen Vernunft und ihren mathematischen Gestaltungsprinzipien. Zwar kann jeder Mensch die Schönheit des Kosmos sinnlich wahrnehmen, aber nicht jeder fragt nach ihrer Ursache. Nur ein Liebhaber der Vernunft und Erkenntnis (t¹m d³ moO ja· 1pist¶lgr 1qast¶m) erforscht die Ursachen, die der vernünftigen Natur innewohnen (t±r t/r 5lvqomor v¼seyr aQt¸ar). (Ti. 46d f.) Auch wenn der Begriff hier nicht ausdrücklich fällt, ist doch eindeutig, dass dieser Liebhaber der Vernunft und Erkenntnis niemand anderes ist als der Philosoph,282 der damit zugleich als Naturforscher charakterisiert wird. Gleichwohl folgt daraus nicht die Umkehrung des Verhältnisses, denn nicht jeder Naturwissenschaftler ist ein Philosoph, wie noch gezeigt werden wird. (Ti. 91d) Der Kosmos ist also vom Demiurgen als Einheit aus Weltkörper und Weltseele erschaffen, eine Ganzheit, die alle ihm von Natur aus verwandten und sichtbaren Lebewesen enthält, auch den Menschen. (Ti. 30d) Für das Verständnis des Menschen und seines Erkenntnisvermögens ist deswegen der Aufbau der Weltseele von entscheidender Bedeutung. Die Weltseele erhält vom Demiurgen eine komplexe Struktur aus zwei konzentrischen Kreisen, dem Kreis des Selben (taqtoO) und des Anderen (toO 2t´qou), die einen gemeinsamen Mittelpunkt haben und gegenläufig rotieren.283 Beide Kreise sind ihrerseits aus unteilbarem Sein und teilbarem Werden gemischt und nehmen eine Zwischenstellung zwischen dem intelligiblen Bereich des sich immer gleich bleibenden Seins der Ideen und der veränderlichen Körperwelt ein. (Ti. 35a f.) Diese Zwischenstellung befähigt die Seele zur Mittlerfunktion zwischen der Welt des Seins, die allein dem vernünftigen Denken zugänglich ist (mo¶sei let± kºcou), und der Welt des Werdens, von der es nur vernunftlose Meinungen aufgrund von Sinneswahrnehmungen geben kann (let’ aQsh¶seyr !kºcou donastºm).284 (Ti. 28a) Während der Kreis des Selben einheitlich bleibt, unterteilt der Demiurg den Kreis des Anderen in harmonische, mathematisch genau proportionierte Abschnitte. (Ti. 35b – 36d) Diese beiden Kreise durchdringen und umschließen den ganzen Weltkörper. Ihre gleichmäßige Rotation sowie das Miteinander von Sein und Werden, von Identität und Verschiedenheit in Verbindung mit mathematischer Proportionalität sind notwendige Voraussetzung und Garanten für die 282 Vgl. Smp. 205d; R. 479e. 283 Zur genauen Struktur der Weltseele siehe Brisson, Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios, 233 – 236. Beim Kreis des Selben und Anderen wird zu Recht auf die megista gene im Sophistes (Sph. 254b – 260a) verwiesen, vgl. Cornford, Plato’s Cosmology, 61 – 66; Perger, Die Allseele in Platons Timaios, 94 – 97. 284 Vgl. die verschiedenen kognitiven Zustände der Seele gemäß den ontologischen Unterteilungen im Liniengleichnis R. 511d f.
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Richtigkeit und Umfassendheit der Erkenntnis. Dieses kosmische Erkenntnisprinzip ist auch für die abgeleitete, menschliche Erkenntnisfähigkeit und somit für die Philosophie konstitutiv.285 (Ti. 36e – 37c) Auf den Kreisbahnen der Weltseele befestigt der Demiurg sodann die Himmelskörper, die Sterne, die »Werkzeuge der Zeit« sind (eqcama wqºmou, Ti. 41e, 42d). Erst dadurch werden die Bewegungen der Weltseele sichtbar. Die Fixsterne laufen auf der Bahn des Selben, weil sie »über dasselbe immer dasselbe denken«. (Ti. 40a f.) Sie sind also den Ideen zugewandt. Die Planeten hingegen laufen verteilt auf der Bahn des Anderen entsprechend der proportionalen Unterteilung dieses Kreislaufs. Dadurch entsteht trotz der ununterbrochenen Kreisbewegungen eine Abgrenzung von Zahlenwerten. Alle Lebewesen, die mit Sinneswahrnehmung und Vernunft begabt sind, können darum aus den Himmelsbewegungen eine Vorstellung von Zahl und Zeit gewinnen. (Ti. 39b) Denn wegen der unablässigen Kreisbewegung der Himmelskörper ist die Zeit nichts anderes als ein in Zahlen fortschreitendes und doch ewiges Abbild der Ewigkeit (aQ¾miom eQjºma). (Ti. 37d) Dieser Zugang zu Zeit und Zahl durch die Betrachtung der Himmelsbewegungen wird für den Philosophen wesentlich sein, um sein eigenes Denken dem göttlichen Denken anzugleichen. Die Himmelskörper markieren aber nicht nur den ewigen Kreislauf der Zeit, sie sind selbst unvergänglich und todlos (!h²matoi). (Ti. 41b) Damit kommt ihnen der Status von Göttern zu, die ontologisch zwar auf niederer Stufe stehen als der göttliche Demiurg, der sie erschaffen hat, aber diese »jungen Götter« haben bei der weiteren Erschaffung der körperlichen Welt, insbesondere des Menschen, eine wichtige Funktion. Der göttliche Demiurg nämlich erschafft nur die unsterbliche Vernunftseele des Menschen, die jungen Götter hingegen erschaffen die sterbliche Seele des Menschen mit dem begehrenden und mutigen Seelenteil sowie seinen sterblichen Leib.286 285 Zur Bedeutung der Kreisbewegung als Verlaufsform der Erkenntnis siehe Perger, Die Allseele in Platons Timaios, 120 – 122; Brisson, Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios, 236, 241 f.; ders., Le MÞme et l’Autre dans la Structure Ontologique du Tim¦e du Platon, 340, 343, 346 f. Vgl. auch Ti. 47b f. und S. 175 f. 286 Timaios begründet die Erschaffung von sterblichen Lebewesen damit, dass sonst das All (t¹ p÷m) kein All wäre, sondern unvollkommen (!tek¶r). (Ti. 41b) Die Sterblichkeit ist also notwendiger Bestandteil der kosmischen Welt des Werdens. Neben den unsterblichen Himmelsgöttern gibt es darum noch drei weitere Geschlechter : Flugtiere, Meerestiere und Landtiere. (Ebd.) Die Einteilung der vier Formen von Lebewesen (1mo¼sar Qd´ar t` d 5stim f`om, Ti. 39e) erfolgt in Anspielung auf die vier Elemente. Den Himmelsgöttern entspricht das Feuer, weil sie den glänzendsten und schönsten Anblick gewähren, (Ti. 40a) den Flugtieren die Luft, den Meerestieren das Wasser und den Landtieren die Erde. Die Unvollständigkeit eines nur mit Göttern bevölkerten Alls ist von der Elementenlehre her unmittelbar einsichtig. Der Mensch müsste nach dieser Einteilung allerdings den Landtieren, zugeordnet werden, es sei denn, man zählte ihn zu den Göttern. Im Timaios ist es in der Tat offen, wohin der Mensch gehört. Er wird zum einen das »gottesfürchtigste Lebewesen«
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3.3.2. Der Mensch zwischen Gott und Tier Bevor der göttliche Demiurg die Erschaffung alles Sterblichen den Himmelsgöttern überlässt, mischt er aus den Bestandteilen der Seelenmischung, die bei der Erschaffung der Weltseele übrig geblieben sind, die unsterblichen Seelen der Menschen und sät sie je auf einen Stern. Darum ist die menschliche Seele der Weltseele verwandt. Sie ist bildlich gesprochen eine »himmlische Pflanze« (vut¹m…oqq²miom, Ti. 90a) und hat die gleiche Struktur wie das Seelenmaterial, dem sie entnommen ist, wenn auch nicht in der gleichen Reinheit. Infolgedessen ist sie wie die Weltseele Träger der Vernunft. Die Vernunftseele macht den Menschen zum gottesfürchtigsten sterblichen Lebewesen (f]ym t¹ heoseb´statom, Ti. 42a), weil sie ihn mit der Welt der Götter verbindet. Sie ist das Göttliche in ihm (t¹ he?om, Ti. 69d, 72d, 73a, 90b), das Heiligste und Vollkommene (heiot²tou ja· Reqyt²tou, Ti. 44e f.), das Höchste und Wichtigste am Menschen (juqiyt²tou, Ti. 90a), sein Daimon. (Ti. 90a, c) Der unsterbliche Anfang des sterblichen Lebewesens (!h²matom !qwµm hmgtoO f]ou, Ti. 42e), die Vernunftseele, verleiht dem Menschen seine das Sterbliche überragende Würde. Ein Leben unter der Leitung der unsterblichen Seele ist zugleich auch seine Bestimmung, so dass er im Einklang mit den schönen Ordnungen und vernünftigen Gesetzen, die das All durchwirken, ein gutes und gerechtes Leben führt, dem Glückseligkeit bestimmt ist (b¸om eqda¸loma).287 (Ti. 42b) Aber zwischen dem göttlichen Anfang und dem Ziel der Eudaimonie liegt die Fundamentalkrise der menschlichen Vernunftseele, ihre Fesselung an einen sterblichen Körper. (Ti. 43a, 44b) Denn der menschliche Körper ist anderen Bewegungen unterworfen als die Himmelskörper. Während die Sterne durch die regelmäßige Kreisbewegung ein bewegliches Abbild der Ewigkeit darstellen, ist der sterbliche Körper durch ständigen Zu- und Abfluss der Elemente von einer linearen Bewegung beherrscht. (Ti. 43a) Das bedingt seine Endlichkeit und Vergänglichkeit. Der menschliche Körper ist nicht selbstgenügsam wie der Kosmos (autaqjer), sondern auf Ernährung (tqov¶) von außen angewiesen und darum mit Sinneswahrnehmung begabt. Diese wirkt auf die Seele ein und verändert deren natürliche Kreisbewegung. (Ti. 43b f.) Werden die sensitiven Eindrücke, die pah¶lata, übermächtig, kann die Seele sie nicht mehr bewältigen, so dass sie vom Gleichmaß der Kreisbewegung abkommt und in Folge nicht genannt, (Ti. 42a) weil er eine unsterbliche Vernunftseele besitzt; zum anderen aber erhält er durch die Bindung an einen sterblichen Körper auch einen sterblichen Seelenteil und trägt dadurch die Möglichkeit zur Degeneration durch das gesamte Tierreich hindurch in sich. (Ti. 42b; 91d – 92c) Der Mensch steht in seiner Möglichkeit also zwischen Gott und Tier. 287 Hier klingt wie auch in Ti. 90 c der etymologische Zusammenhang von glücklich (eqda¸lym) und Genius des Menschen (da¸lym) an; siehe Cornford, Plato’s Cosmology, 354, Anm. 2.
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mehr vernunftgemäß denkt (!kºcyr, Ti. 43e). Sie sieht buchstäblich eine »verkehrte Welt«, weil sie Selbiges und Verschiedenes nicht mehr richtig erkennt. Auf diese Weise entstehen Unvernunft und Irrtum in ihr (xeude?r ja· !mºgtoi cecºmasim, Ti. 44a), und sie verliert ihre ordnende und zielgebende Funktion. So wird sie ihrem eigenen Wesen entfremdet, und der Mensch lebt unordentlich und unvernünftig (%tajtyr … ja· !kºcyr, Ti. 43b). Bedeutet also die Geburt im sterblichen Körper auf jeden Fall eine fundamentale Krise für die unsterbliche Seele, so ist dem Menschen doch eine positive Entwicklung möglich. Die Vernunftseele kann wieder zu ihrer ursprünglichen Verfassung zurückfinden und die ihr gemäße Erkenntnis- und Leitungsfunktion ausüben. Dabei kommt ihr die Verwandtschaft mit der göttlichen Weltseele zugute, denn das richtige Denken muss ihr nicht anerzogen werden, sondern ist ihr inhärent und ihr eigentliches Wesen. Die Kreisbewegungen des Selben und Anderen entsprechen ihrer Veranlagung und sind Grundlage ihrer »philosophischen Natur«, das heißt ihrer Fähigkeit, zwischen Selbigem und Verschiedenem zu unterscheiden. Das muss nur zugelassen und gefördert werden. Sobald die äußeren Störfaktoren zurücktreten und an Bedeutung verlieren, kann die Seele ihrer eigenen Naturanlage gemäß wieder »vernünftig sein« und richtig erkennen. Wird das noch durch die »richtige Nahrung der Erziehung« (aqhµ tqovµ paide¼seyr) unterstützt, so wird ein solcher Mensch durch und durch gesund (rci¶r te pamtek_r … c¸cmetai). (Ti. 44b f.) Das ist die zentrale Aufgabe der Philosophie.288 Bei einer gesunden Entwicklung gehen also Naturanlage und Erziehung Hand in Hand, und der für die Kommunikation mit dem Körper und seinen Begierden zuständige affektive Seelenteil harmoniert mit dem vernünftigen Seelenteil, wie es Sokrates gefordert hatte.289 (Ti. 18a) Trotz der Krise der Geburt bedeutet die Inkorporation der Vernunftseele also nicht grundsätzlich eine Behinderung oder gar Zerstörung des vernünftigen Denkens. Vielmehr steht der Mensch als Einheit von Seele und Leib vor der Aufgabe eines Reifungsprozesses, an dessen Ende er nicht nur ein geordnetes und vernünftiges Leben führen kann, sondern auch das schönste, beste und gottähnlichste sterbliche Lebewesen ist. Das ist sein Teil an der Vollkommenheit des Kosmos.290 288 Diese natürliche, dem Menschen inhärente Vernünftigkeit ist auch Voraussetzung der geistigen Hebammenkunst von Sokrates, vgl. S. 86 ff. 289 Zur Erschaffung der beiden sterblichen Seelenteile, des mutigen und des begehrenden, durch die jungen Götter siehe Ti. 69e – 71a. Gesundheit ist die natürliche Ordnung und Harmonie dieser Seelenteile, Krankheit hingegen ist die Zerstörung dieser harmonischen Ordnung. 290 Brisson sieht das Drama des Menschen darin, dass die individuelle Einheit von Leib und Seele von Anfang an bedroht ist. Die Harmonie von Körper und Seele muss beständig neu gefunden werden. »L r¦side le drame de l’homme, dans l’¦cart toujours mouvant d’une harmonie ¦tablir. Et l nat la loi morale.« (Brisson, Le MÞme et l’Autre dans la Structure Ontologique du Tim¦e du Platon, 420; 429) Daraus ergibt sich für den Menschen erst die
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Eine Krise beinhaltet aber immer auch die Möglichkeit, dass sie negativ ausgehen kann. Der Mensch kann die Reifung verweigern, doch die Folge davon ist Krankheit an Leib und Seele: Er wird als »Hinkender« die Lebensbahn durchziehen. (Ti. 44c) Dieses Bild kann man sowohl auf die äußeren, körperlichen Krankheiten beziehen als auch auf die Seele mit ihren herumirrenden Gedankenbahnen. Es verdeutlicht, dass ein unvollkommenes und unvernünftiges Leben (!tekµr ja· !mºgtor, ebd.) nicht ohne Folgen bleibt. Nach dem Tod des Menschen setzt darum eine fortschreitende Degeneration durch eine Reihe von Wiedergeburten ein, in deren Verlauf er entsprechend seinem Charakter eine Metamorphose bis hinab zum niedersten Tier durchmacht (eUr tima toia¼tgm !e· letabako? h¶qeiom v¼sim, Ti. 42b). (Ti. 91e – 92c) Die Degeneration des Menschen zu einer tierischen Existenz beginnt aber bereits in diesem Leben, wenn er nämlich das Göttliche in sich, seine Vernunftseele, vernachlässigt. Die Reinkarnation in einem anderen Lebewesen spiegelt nur äußerlich den Charakter wider, der sich bereits zuvor innerlich herausgebildet hat.291 Doch bleibt die Entwicklung nach oben zur göttlichen Welt hin offen, solange noch ein Rest der unsterblichen Seele in ihm ist. Wegen seiner Körperlichkeit wird der Mensch nie ganz unsterblich werden können, aber wegen seiner Vernunftseele auch nie ganz sterblich. (Ti. 69a, 90b f.) Er ist ein Zwischenwesen. Nun gehen Sterblichkeit und Unsterblichkeit einher mit Unvernunft und Vernunft. Die Anthropologie des Timaios verortet deshalb den Menschen zwischen den gänzlich vernunftgeleiteten, unsterblichen Göttern und dem von ihrem sterblichen, unvernünftigen Seelenteil geleiteten Tieren.292 Darin bestehen seine Würde und seine Grenze. 3.3.3. Der Mensch wird zu dem, wohin er sieht Diese lange Hinführung war nötig, um die Aufgabe der Philosophie bei der Wiederherstellung der ursprünglichen Natur der Vernunftseele und der Angleichung des Menschen an Gott zu verstehen. Dabei spielt die Sinneswahrnehmung als Einstieg in den Aufstieg zur intelligiblen Welt eine unverzichtbare ethische Frage nach dem guten Leben. Der Kosmos hingegen ist bereits die vollkommene Harmonie und Verwirklichung des guten Lebens. 291 Vgl. dazu die parodistische Beschreibung der Genese der Landtiere, deren äußere, längliche Kopfform und Vierfüßigkeit Folge des zu starken Niederbeugens zum Boden und damit zur materiellen Welt ist. (Ti. 91e) Cornford bemerkt dazu, dass die Degeneration zu einem Luft-, Land- oder Wassertier jeweils mit dem Seelenteil (d. h. logistikon, thymoeides und epithymetikon) korrespondiert, der vom Menschen während seines Lebens missbraucht wurde. (Cornford, Plato’s Cosmology, 358) 292 Auch die Tiere haben eine rudimentäre Vernunftseele, sonst wäre die Rede von der »philosophischen Seele« des Hundes ausgeschlossen. Dadurch können auch sie Bekanntes und Unbekanntes unterscheiden. (R. 376a f.) Allerdings stehen die Tiere unter der Dominanz des unvernünftigen, begehrenden Seelenteils, der metaphorisch einem wilden Tier verglichen wird, das an der Futterkrippe festgebunden ist. (Ti. 70e)
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Rolle, auch für die Philosophie.293 Denn der Weg, auf dem Irritationen und Störungen in die Vernunftseele eindringen, ist zugleich auch der Weg, auf dem sie wieder gesunden und zu ihrer ursprünglichen Natur und ihrem Denkvermögen zurückfinden kann. Es hängt alles davon ab, wohin der Mensch sich orientiert. Der Mensch wird zu dem, wohin er sieht, im guten wie im schlechten Sinn. Ursache dafür ist die Ambivalenz des Sehvermögens. Zum einen dient es der Lebenserhaltung durch Orientierung in der Welt, das ist sein physiologischer Zweck. Die Folge ist allerdings eine ständige Irritation der ungestörten, gleichmäßigen Denkbewegung der Vernunftseele. Zum anderen liegt seine eigentliche Bedeutung aber in der Ausrichtung auf die göttliche Welt, wie sie im Kosmos sichtbar wird, das ist der vernunftgemäße Zweck des Sehens, seine teleologische Funktion. Sie bewirkt, dass die Vernunftseele gesundet und der Mensch seinem Ziel, der Eudaimonie und der Gemeinschaft mit den Göttern, entgegenreift. Denn was der Mensch seinem Wesen nach ist und wie ein gutes, harmonisches Leben aussieht, kann er am Kosmos erkennen, am sichtbaren Paradigma des vollkommenen Lebewesens.294 Die physikalischen Gesetze und physiologischen Prozesse, zu denen auch der Sehakt gehört, sind jeweils nur dienstbare Mitursachen (sulleta¸tia, Ti. 46e; aQt¸air rpgqeto¼sair, Ti. 68e) zur Erreichung dieses Ziels.295 Sie sind unverzichtbar zur Aufrechterhaltung des Lebens. Doch muss man die notwendigen, materiellen Ursachen von der göttlichen Ursache unterscheiden (Di¹ dµ wqµ d¼’ aQt¸ar eUdg dioq¸sashai, t¹ d³ l³m !macja?om, t¹ d³ he?om…, Ti. 68e f.), für die sie nur Mittel zum Zweck sind. Der göttliche Demiurg bedient sich ihrer bei der Erschaffung der Welt, aber sie sind nicht in sich schön und gut. Das Gute in allem Werdenden muss der Demiurg 293 Eggers Lan betont, dass es mit Ausnahme der Mythen bei Platon keine Seele ohne Körper gibt, das gilt selbst für die höchste Seele, die Weltseele. Deswegen sind Körper und Sinneswahrnehmung nicht rundweg negativ, sondern ambivalent. (Eggers Lan, Body and Soul in Plato’s Anthropology, 110 f.) Siehe a. Steel, The Moral Purpose of the Human Body: Ti. 69 – 72, 112 f.; Brisson, Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben: Timaios, 244. 294 Steel sieht das eigentliche Anliegen des Timaios nicht in der Naturerklärung, sondern in der Antwort auf die ethische Frage nach dem guten Leben. Dabei ist die moralische Zielbestimmung des Menschen eingebettet in die Zielbestimmung des Universums. Der Kosmos ist nicht nur das Paradigma des besten Lebens, sondern bis in die materiellen Einzelheiten einschließlich der körperlichen Konstitution des Menschen so beschaffen, dass es dem Menschen möglich ist, ein gutes, und das heißt tugendhaftes und weises Leben zu führen. »The whole argument of Timaeus provides the same ›moral message‹: see how wisely the gods made us to live as harmoniously as possible!« (Steel, The Moral Purpose of the Human Body, 120, vgl. a. 107 – 110) Brisson hat das Verhältnis von Kosmos und Mensch in seinem bereits mehrfach zitierten Aufsatztitel treffend auf die Formel gebracht: Den Kosmos betrachten, um richtig zu leben. 295 Cornford erläutert die Unterscheidung von Mitursachen und Vernunftursachen und dementsprechend von Mechanismus und Ziel des Sehens: »They [the accessory causes, physical transactions] tell us ›how‹ we see but not ›why‹.« Cornford, Plato’s Cosmology, 157.
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bewerkstelligen. Wer nun nach dem besten und schönsten Leben fragt, muss zwischen beiden Ursachen unterscheiden und wie der göttliche Demiurg die notwendige Ursache in den Dienst der teleologischen stellen: »…die göttliche [Ursache] aber muß man, um zu einem glückseligen Leben zu gelangen, in allen Dingen suchen, soweit unsere Natur es gestattet, die notwendige aber um jener [göttlichen] willen, indem man überlegt, daß es ohne diese nicht möglich ist, eben jene, um derentwillen wir uns ernstlich bemühen, für sich allein zu verstehen, noch auch sie zu erfassen, noch ihrer sonst irgendwie teilhaftig zu werden.« (Ti. 68e f., Üb. Schl.) Für das Sehen bedeutet diese Mittel-Zweck Relation, dass es im Dienst der Philosophie stehen muss, um zur Gesundung und Reifung des menschlichen Denkvermögens und damit zum guten Leben beizutragen. Unter dieser Zielbestimmung ist das Sehvermögen unter allen physiologischen Prozessen von größter Hilfe für den Menschen, so dass Timaios es als wahres Göttergeschenk preist. Denn an der Bewegung der Sterne kann der Mensch eine Vorstellung von Zahl und Zeit entwickeln, die über rein numerische Quantität und Linearität hinausgeht. Dadurch erschließt sich ihm ein Verständnis von Symmetrie und Proportionalität, von Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit in der Welt des Werdens. Darauf beruht der Vorbildcharakter des Kosmos als des vollkommenen und doch sichtbaren Lebewesens: Meiner Ansicht nach ist die Sehkraft für uns deshalb Ursache des größten Gewinns, weil ja wohl von den jetzt angestellten Betrachtungen keine je stattgefunden hätte, wenn wir weder die Sterne noch die Sonne noch den Himmel erblickt hätten. Nun aber haben Tag und Nacht, dadurch daß wir sie erblickten, die Monate, der Jahre Umläufe, die Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden die Zahl erzeugt und die Vorstellung der Zeit sowie die Untersuchung über die Natur des Alls uns gewährt. Aus diesen [Untersuchungen] haben wir uns die Gattung der Philosophie erschlossen, die das größte Gut ist, das je als Geschenk der Götter zu dem sterblichen Geschlecht kam oder kommen wird. Das verstehe ich unter dem größten Gut, das von den Augen kommt. (exir dµ jat± t¹m 1l¹m k|com aQt_a t/r lec_stgr ¡vek_ar c]comem Bl?m, fti t_m mOm k|cym peq· toO pamt¹r kecol]mym oqde·r %m pote 1qq^hg l^te %stqa l^te Fkiom l^te oqqam¹m Qd|mtym. mOm d’ Bl]qa te ja· m»n avhe?sai l/m]r te ja· 1miaut_m peq_odoi ja· Qsgleq_ai ja· tqopa· lelgw\mgmtai l³m !qihl|m, wq|mou d³ 5mmoiam peq_ te t/r toO pamt¹r v}seyr f^tgsim 5dosam7 1n ¨m 1poqis\leha vikosov_ar c]mor, ox le?fom !cah¹m out’ Gkhem oute Fnei pot³ t` hmgt` c]mei dyqgh³m 1j he_m. K]cy dµ toOto all\tym l]cistom !cah|m7 Ti. 47a f., Üb. nach Schl.)
Aus diesem geradezu hymnischen Lob des Sehvermögens und der Philosophie lassen sich folgende Aussagen gewinnen: (1) Die Philosophie ist eine Form wissenschaftlicher Untersuchung (f¶tgsir), die auf anderen Wissenschaften wie der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Physik aufbaut. (2) Sie ist wegen dieser Genese auf die Sinnestätigkeit angewiesen, um am vollkommenen,
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sichtbaren Paradigma des Himmels eine Vorstellung von Maß (Zahl als proportionales Verhältnis) und Kontinuität (Zeit als ewiges Abbild der Ewigkeit) zu gewinnen. (3) Die Sinneswahrnehmung ist dabei Mittel beziehungsweise Mitursache für die von der Vernunft gesetzte Zweckursache des Gesichtssinns, die Philosophie. (4) Die Philosophie wiederum ist das größte Gut der Menschen, das ihnen aufgrund göttlicher Voraussicht (pqomo¸ar … he_m, Ti. 44c, vgl. 45b) geschenkhaft zuteil wird. Was die Philosophie aber letztlich zu einem Gut macht und sogar zum größten, wird erst im Folgenden deutlich: … denn warum sollten wir wohl alles Übrige preisen, was geringer ist, worüber der Nichtphilosoph, wenn er erblindet, jammert und törichterweise ein Klagelied anstimmt? Sondern davon [von der Philosophie] soll von uns dieses als Ursache zu Folgendem genannt werden: Gott habe das Sehvermögen uns erfunden und geschenkt, damit wir die Umläufe der Vernunft am Himmel erblickten und sie für die Umschwünge unseres eigenen Denkens benutzten, welche jenen verwandt sind, als gestörte mit den ungestörten, damit wir, nachdem wir sie begriffen und zur naturgemäßen Richtigkeit unserer Überlegungen gelangten, in Nachahmung der [Gedankenumläufe] des Gottes, die gänzlich frei vom Umherirren sind, die [Gedankenumschwünge] in uns, die umherirren, in Ordnung bringen. (tükka d³ fsa 1k\tty t_ #m rlmo?lem, ¨m b lµ vik|sovor tuvkyhe·r aduq|lemor #m hqgmo? l\tgm. !kk± to}tou kec]shy paq’ Bl_m avtg 1p· taOta aQt_a, he¹m Bl?m !meuqe?m dyq^sasha_ te exim, Vma t±r 1m oqqam` toO moO jatid|mter peqi|dour wqgsa_leha 1p· t±r peqivoq±r t±r t/r paq’ Bl?m diamo^seyr, succeme?r 1je_mair ousar, !taq\jtoir tetaqacl]mar, 1jlah|mter d³ ja· kocisl_m jat± v}sim aqh|tgtor letasw|mter, lilo}lemoi t±r toO heoO p\mtyr !pkame?r ousar, t±r 1m Bl?m pepkamgl]mar jatastgsa_leha. Ti. 47b f., Üb. nach Schl.)296
Für die Frage nach dem Nutzen der Philosophie ergibt sich daraus: (5) Anders als der Nichtphilosoph achtet der Philosoph die äußeren Güter, die er durch Erblindung verlieren kann, gering.297 Zwar erschließt sich auch ihm die göttliche, 296 Cornford bezieht to}tou in Ti. 47b5 wie toOto in b2 auf vikosov¸ar in b1. Ders., Plato’s Cosmology, 158. »Der Gott« (b heºr), der in Ti. 47a1 die Sehfähigkeit schenkt, ist trotz des bestimmten Artikels generalisierend zu verstehen. Gemeint sind die vom göttlichen Demiurgen geschaffenen Himmelsgötter, die mit der Erschaffung der sterblichen Seele und des Körpers des Menschen betraut wurden. Die gleiche Aussage findet sich in Ti. 47b2, wo ausdrücklich im Plural von dem Geschenk »der Götter« die Rede ist (dyqgh³m 1j he_m). Ebenso generalisierend wieder in Ti. 47b6. In Ti. 47c3 hingegen bezieht sich die Nachahmung der regelhaften Bewegungen »des Gottes« (lilo}lemoi t±r toO heoO p\mtyr !pkame?r ousar) auf den Kosmos als Ganzen und die Bewegungen der Weltseele, die es nachzuahmen gilt (vgl. a. he¹r aQshgtºr, Ti. 92c) Zum generalisierenden Gebrauch des Ausdrucks b heºr und zu den genannten Stellen siehe Bordt, Platons Theologie, 57, Anm. 11; 62, Anm. 22. 297 Das sind gemäß der platonischen Güterlehre materielle Güter und körperliche Schönheit, aber auch Ehre und Macht, die ohne Sehfähigkeit schwerlich zu erreichen sind. Zu den äußeren Gütern vgl. S. 70 f.
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kosmische Welt zunächst über den Gesichtssinn, aber das eröffnet ihm gerade den Zugang zur intelligiblen Welt, die nicht mehr des äußeren Sehvermögens bedarf. (6) Der Philosoph erkennt in den klaren, gesetzmäßigen, von jeglichem Herumirren freien und damit auch im kognitiven Sinn irrtumsfreien Himmelsbewegungen ihm verwandte Denkstrukturen und damit indirekt sich selbst. Denn im Betrachten der Himmelsbewegungen werden seine Gedanken an ihren eigenen Ursprung, die ordnende Vernunft erinnert. (7) Der Philosoph wendet den Erkenntnisgegenstand therapeutisch auf sich selbst an.298 Er benutzt die Betrachtung des Kosmos als Mittel zur Wiederherstellung des natürlichen Denkvermögens, das bei der Inkorporation der Vernunftseele Schaden gelitten hatte und im wahrsten Sinn des Wortes aus der Bahn geworfen wurde. In der Nachahmung, das ist das Nach-Denken der regelhaften, geordneten Gedanken der Weltseele, gesundet seine Vernunftseele, und er kann wieder vernunftgemäß denken und erkennen. Philosoph und Nichtphilosoph unterschieden sich nicht durch die Natur ihrer Vernunftseele, sondern in der unterschiedlichen Bewertung der Güter, die durch das Sehvermögen erschlossen werden und auf die Seele einwirken.299 Metaphorisch gesprochen wird der Seele durch das, was sie sieht, Nahrung zugeführt. Während der Nichtphilosoph durch das Hinsehen auf die äußeren Güter vor allem die sterbliche Seele mit ihren Begierden und Affekten anregt und stärkt, nährt und erzieht der Philosoph die unsterbliche Vernunftseele durch die Betrachtung und denkende Nachahmung der göttlichen Himmelsbewegungen in der Erfassung ihrer Gesetzmäßigkeiten. Wie wir aus anderen Dialogen wie dem Symposion, dem Phaidon und der Politeia wissen, ist der Philosoph grundsätzlich aufgefordert, die Sinneswahrnehmung hinter sich zu lassen, um zum reinen Denken, zur intelligiblen Welt und zum Ideenkosmos, seiner eigentlichen Heimat, vorzustoßen.300 Wie kann 298 Zur heqape¸a des Körpers wie der Seele siehe Ti. 87c, vgl. a. Ti. 90c. 299 Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass die Vernunftanlage bei Menschen unterschiedlich intensiv ausgeprägt ist. Es wird nur gesagt, dass der Mensch, so er denkt, entsprechend dieser allgemeinmenschlichen, strukturell natürlichen Veranlagung denkt, nämlich durch die Kreisbewegung des Selben und des Anderen. 300 So in den Gleichnissen der Politeia, R. 511c f., 518c ff.., 532a f.; s.a. Phd. 65b f., 66d f. u. ö. Zum Zusammenhang von Sinneswahrnehmung und fallibler Meinung einerseits sowie von Vernunft und wahrer Erkenntnis andererseits vgl. a. das Proömium im Timaios, Ti. 27d f., 29c. Sedley vertritt die Auffassung, dass die homoiosis theo eine rein intellektuelle Angleichung an ein höheres Sein ist unter Absehung jeglicher Beschäftigung mit der körpergebundenen Welt des Werdens. Der Ausdruck peq· tµm c´mesim in Ti. 90d 1–2 wäre dann richtig zu übersetzen als »concerned with becoming« und bezöge sich nicht auf die Korruption der Seele »at the time of birth«. »Plotinus, I conclude, had good textual warrant here for reading Plato’s ideal of blo¸ysir he` as one which leaves moral virtue behind and focusses instead on pure intellectual development.« (Sedley, ›Becoming like God‹ in the Timaeus and Aristotle, 334, 335) Auch wenn die intelligible Welt unbestreitbar der bevor-
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dann die Betrachtung der Himmelsbewegungen eine solche, für die Philosophie grundlegende Wirkung entfalten? Hierfür ist die Theorie des Sehaktes von entscheidender Bedeutung, die Timaios an einem mechanischen Modell einführt. Danach trifft beim Sehen Ähnliches von außen auf Ähnliches von innen (floiom pq¹r floiom), erleidet aufgrund seiner Verwandtschaft das gleiche (bloiopah³r dµ di’ bloiºtgta) und verbindet sich zu einem einheitlichen Körper (2m s_la oQjeiyh³m sum´stg) mit einer ihm spezifischen Bewegung. (Ti. 45c) Diese Bewegung pflanzt sich in einer Kette von Bewegungen durch den Körper bis zur Vernunftseele fort, erzeugt so die Sinneswahrnehmung in der Seele und beeinflusst auf diese Weise deren Denkbewegung. Das ist die Nahrung oder Erziehung, die der Seele von außen zukommt. Sieht der Mensch auf Geordnetes wie die Himmelsbewegungen, werden die in ihm vom göttlichen Demiurgen bei der Erschaffung der Vernunftseele angelegten Ordnungsstrukturen angesprochen und verstärkt. Je vollkommener und geordneter der Gegenstand der Betrachtung ist, desto vollkommener und geordneter ist die Denkbewegung, die in der Vernunftseele angeregt wird. Grundlage des Sehaktes ist also das schon vorsokratische erkenntnistheoretische Prinzip, dass Gleiches von Gleichem erkannt wird.301 Wer die entsprechende Naturveranlagung mitbringt, nämlich die zugte Gegenstand philosophischer Kontemplation ist, so ist doch die breit angelegte Naturphilosophie eine Besonderheit des Timaios. Ihr Sinn ist es zu zeigen, dass die Vernunftseele physischer Voraussetzungen bedarf, damit sie überhaupt erst wieder ihrer Natur gemäß »rein intellektuell« erkennen kann, nachdem sie durch die Inkorporation völlig verwirrt wurde. Gegen Sedleys Verständis von peq· tµm c´mesim in Ti. 90d wäre darum zu verweisen auf Ti. 44a f., wo in Folge der Bindung der Seele an den sterblichen Körper die Vernunftseele wegen der damit verbundenen pah¶lata unverständig wird (mOm jat’ !qw²r te %mour xuwµ c¸cmetai t¹ pq_tom). Das Störfeuer der pah¶lata, das im Augenblick der Geburt einsetzt, nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab, und die Umläufe der Vernunftseele nähern sich von allein wieder ihrer ursprünglichen Natur an. (Ti. 44b) Das ist kein rein intellektueller Prozess, der hier beschrieben wird, sondern hat physische Begleitumstände und Mitursachen. Die homoiosis theo bei der Betrachtung des Kosmos baut, unterstützt durch eine geeignete Lebensführung, auf diesem natürlichen Prozess auf, verstärkt ihn und gibt ihm seine eigentliche Zielsetzung. Die Körperwelt wird trotz aller Gefährdung, die ihr innewohnt, nicht negativ gesehen. Weil ihre grundlegenden Elemente vom göttlichen Demiurgen nach mathematischen Gesetzen und mit Blick auf das telos des Besten und Schönsten vernünftig gestaltet wurden, wohnt der Betrachtung der Welt des Werdens in ihren vollkommensten Formen die gleiche positive Möglichkeit inne wie der Liebe zum Schönen im Symposion. So wie dort Eros der beste Helfer zur Unsterblichkeit ist (sumeqc¹m !le¸my =qytor, Smp. 212b), sind hier im Timaios die sicht- oder hörbaren Harmonien Helfer und Bundesgenossen zur inneren Ordnung und Übereinstimmung mit sich selbst (eQr jatajºslgsim ja· sulvym¸am 2aut0 s¼llawor, Ti. 47d 5 f.). Erst mit ihrer Hilfe kann die göttliche, unsterbliche Vernunftseele des Menschen zu ihrer ursprünglichen Natur und damit auch zur rein intellektuellen Anschauung zurückfinden. 301 Vgl. Hom. Od. 17, 218. C. W. Müller verweist darauf, dass schon Empedokles die Wahrnehmung der Sinne wie auch das Denken mit dem Gleichheitsprinzip erklärt und Platon dieses Prinzip im Wesentlichen unverändert von den Vorsokratikern übernimmt. (C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 60 – 63, 183, 185, Anm. 29)
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gleichmäßigen Kreisbewegungen des Selben und des Verschiedenen in der Vernunftseele, ist in der Lage, die Bewegungen der Himmelskörper zu erkennen und ihre Ordnung zu verstehen, weil die Sterne die Denkbewegungen der ihm verwandten Weltseele sichtbar machen. Die »Nachahmung der Gedankenumläufe des Gottes« ist dann Sehakt und Erkenntnisakt in eins, weil die wahrgenommenen äußeren Ordnungen aufgrund des Ähnlichkeitsprinzips die inneren Ordnungen der Vernunftseele anregen und in ihr analoge Bewegungen hervorrufen. Diese Bewegungen der Vernunftseele aber sind nichts anderes als ihre Art und Weise zu denken und zu erkennen. Anders als wir es sonst von Platon kennen, hat die Rede von der Nachahmung hier keinen abwertenden Klang. Üblicherweise richtet sich die Kritik darauf, dass der Nachahmende keine eigene Kenntnis von dem Gegenstand hat, den er abbildet, sondern einen Wissenden in Sprache, Gebärde oder Werk nur nachstellt.302 Im Timaios aber hat die Mimesis eine philosophische Funktion, nämlich zu der Denkweise zurückzufinden, die der unsterblichen Vernunftseele ursprünglich und naturgemäß eignet und die durch die Inkorporation nur überlagert und überfremdet wurde. Deswegen bedarf sie der Hilfe und Korrektur von außen. Zunächst geht es auch gar nicht so sehr um den propositionalen Gehalt, um das Was des Denkens, als vielmehr um das Wie, nämlich um das, was Timaios »naturgemäße Richtigkeit« nennt, also das sich stets Gleichbleibende und Regelhafte, die Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Es ist eine Art physisch begründeter Anamnesislehre, auf die hier in der Kreisbewegung, im ungestörten »Umlauf der Vernunft am Himmel«, abgehoben wird. Dabei stehen nicht einzelne Inhalte im Vordergrund wie bestimmte Ideen, sondern die richtige Form des Denkens auf der Grundlage der Unterscheidungsfähigkeit von Sein, Selbigem und Verschiedenem.303 Die astronomischen Inhalte sind demgegenüber sekundär und im Prinzip austauschbar.304 Sie können sogar zur Degeneration des Menschen beitragen, wenn die wissenschaftlichen Studien nur die äußeren Phänomene beschreiben und unphilosophisch betrieben werden.305 (Ti. 91d) 302 Vgl. Sph. 267a – 268d; R. 597e – 598b; siehe auch Ti. 19d; anders dagegen Ti. 39d f. und Ti. 41c, wo die mimesis eines ontologisch höher stehenden Vorbilds durch eine ontologisch niedere Stufe positiv bewertet wird. 303 Vgl. dazu die formalen Begriffe (megista gene) als Voraussetzungen der Erkenntnis in Sph. 254d – 255d. 304 Deswegen kann auch die Musik die gleiche Funktion übernehmen. (Ti. 47c f.) 305 Vgl. a. R. 529a f. Carone sieht fälschlich in der Astronomie eine jedem offen stehende Alternative zur Dialektik und zur Eudaimonie: »…by allowing that the human mind can have access to the divine either in the form of the cosmic god, or the Ideas, Plato would be allowing that human beings can be happy in either way, and therefore without necessarily being philosophers, but just by studying astronomy.« (Carone, The ethical Function of Astronomy in Plato’s Timaeus, 343) Diese Interpretation lässt die Degeneration der naiven Astronomen und Wissenschaftler zu Vögeln in Ti. 91d f. außer Acht. Astronomie ist auch im Timaios keine Alternative zur Philosophie, sozusagen ein Zugang zum Göttlichen für das
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Wodurch unterscheidet sich dann die philosophische Mimesis von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung, wenn das Studium der Himmelserscheinungen wie bei den naiven Astronomen nicht von selbst die Gesundung des Denkens zur Folge hat, sondern auch zur Degeneration führen kann? In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass Timaios nicht nur dem Sehen, sondern auch dem Hören eine vergleichbare Wirkung auf das Denkvermögen zuspricht. Stimme und Gehörsinn sind dem Menschen zum gleichen Zweck gegeben wie das Sehen. Auch sie sind ein Geschenk der Götter (paq± he_m dedyq/shai, Ti. 47c). Nun liegt es beim Hören besonders nahe, den Beitrag zur Philosophie in den kommunizierten Inhalten zu vermuten. Doch Timaios zielt nicht auf besondere philosophische Inhalte und Themen, sondern auf den Rhythmus der Sprache und die Harmonie der Töne, also wieder auf die Form.306 »Die Harmonie aber, welche den Umläufen unserer Seele verwandte Bewegungen besitzt (J d³ !qlom¸a, succeme?r 5wousa voq±r ta?r 1m Bl?m t/r xuw/r peqiºdoir), ist demjenigen, der sich mit Vernunft den Musen hingibt, nicht zu vernunftloser Lust (1v’ Bdomµm %kocom), … sondern als Bundesgenosse gegen den in uns entstandenen ungeordneten Umlauf der Seele zum Zwecke seiner ordentlichen Einrichtung und Übereinstimmung mit sich selbst (eQr jatajºslgsim ja· sulvym¸am 2aut`) von den Musen gegeben. Auch der Rhythmus wurde, da sich unser innerer Zustand zur Maßlosigkeit und bei den meisten zur Anmutlosigkeit entwickelte, als Helfer zum gleichen Zweck von eben denselben gewährt.« (Ti. 47d f., Üb. Schl.) Gesichtssinn und Gehör haben beide die Zielsetzung, zur inneren Ordnung des Menschen beizutragen. Im Hören vollzieht sich die akustische Wahrnehmung von Harmonien, von Proportionen der Töne zueinander. Weil diese in den kosmischen Proportionen der Weltseele, in den Umschwüngen des Verschiedenen grundgelegt sind, (Ti. 35b – 36d) sind sie den innerseelischen Proportionen und Gedankenumschwüngen im Menschen verwandt und können zu einem Bundesgenossen im Kampf gegen die innere Disharmonie werden.307 Das Ziel dieser Übung ist die »Symphonie mit sich selber«. (Ti. 47d) Das aber ist
gemeine Volk, sondern sie muss auf philosophische Weise betrieben werden. Sie hat therapeutische Funktion und gehört deswegen wie in der Politeia und im Philebos zur philosophischen Propädeutik. Sie ist aber kein populäres Surrogat für die philosophische Dialektik. 306 Damit ist nur gesagt, dass die Inhalte wechseln, während die formalen Gesetze von Rhythmus und Harmonie den gleich bleibenden Strukturmerkmalen der Seele entsprechen. Bei Platon liegt der eigentliche Sinn des Hörens in der Wahrnehmung kosmischer Harmonien und der Angleichung an sie. Vgl. a. R. 401d f. 307 Zur harmonischen Struktur der Allseele siehe S. 168 und zu ihrer Entsprechung mit den antiken Tonarten vgl. Perger, Die Allseele in Platons Timaios, 109 – 112, 123 f.
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nichts anderes als der Zusammenklang der innerseelischen Bewegungen und das Zusammenspiel der Gedanken.308 Das Hören von akustischen Harmonien hat zwar nicht den paradigmatischen Vollkommenheitsvorteil des göttlichen Schauspiels am Himmel, aber es hat einen explikatorischen Vorteil. Denn im Gegensatz zu den sichtbaren Harmonien am Himmel sind die von Menschen erzeugten Harmonien oder Rhythmen oft unstimmig, weil der Tonabstand oder das Zeitmaß nicht genau getroffen werden. Der Mensch kann hören, wenn ein Tonabstand zum Beispiel nicht genau eine Oktave umfasst, sondern geringfügig weniger oder mehr, ohne dass ein anderes harmonisches Verhältnis wie die Septime oder die None getroffen wird. Er hört spontan, dass das gemeinte Tonverhältnis verfehlt ist – das betrifft das quantitative Verhältnis. Weiterhin hat er das spontane Bedürfnis, das Tonverhältnis zu korrigieren und die ursprünglich intendierte Harmonie herzustellen, weil er es als unstimmig, unharmonisch und unschön empfindet – das ist die qualitative Bewertung. Diese Veranlagung zum harmonischen Hören ist keine individuelle, auch wenn sie unterschiedlich ausgeprägt ist, sondern eine dem Menschen eigentümliche Naturveranlagung, die gemäß der Theorie des Timaios in der übereinstimmenden Struktur von Weltseele und menschlicher Vernunftseele ihren Grund hat. Das unharmonische Tonverhältnis entspricht dabei den Abweichungen und Irrungen der Kreisbewegung des menschlichen Denkens und muss wie dieses geordnet werden (eQr jatajºslgsim, Ti. 47d), damit beide der kosmischen Ordnung und Schönheit entsprechen. Am Beispiel des Hörens lässt sich deswegen gut der unterschiedliche Nutzen erläutern, den die Menschen bei gleicher Naturveranlagung aus der Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung von Harmonien ziehen. Während die einen nur ihre unvernünftige Lust an den Harmonien haben (1v’ Bdomµm %kocom, Ti. 47d), üben andere die Musik in der erklärten Absicht, dadurch selbst harmonisch zu werden. Das gilt nach Sokrates zum Beispiel für den Stand der Wächter, der Musik und Gymnastik betreibt, um die Naturveranlagung des mutigen und des philosophischen, das heißt vernünftigen Seelenteils durch eine geeignete Erziehung zu fördern. (Ti. 18a) Dadurch sind sie in der Lage, ihr natürliches Empfinden für Harmonie und Maß zu stärken, so dass sie bei Abweichungen und Maßlosigkeit (%letqom, ebd.) im Leben der polis korrigierend eingreifen können und dabei das richtige Maß finden. Diese Fähigkeit beruht jedoch auf Gewöhnung. (R. 395d, 522a) Im kognitiven Bereich entspricht ihr folglich nur die richtige Meinung über das, was maßvoll ist, aber noch kein begründetes Wissen. Der nächste Schritt besteht in der Befähigung, über das richtige Maß auch Rechenschaft abzulegen. Während der Musiker nur in der Lage ist, die Töne 308 Zur Widerspruchsfreiheit der Logoi als »Zusammenklang mit sich selbst« vgl. Grg. 482c.
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spontan richtig zu greifen oder sie zu korrigieren, kann der Musiktheoretiker oder Mathematiker die Harmonien auch begründen und erklären, warum der Mensch unabhängig von der Höhe der Ausgangstöne zum Beispiel immer eine Oktave hört: weil der Tonabstand dann stets genau das mathematische Verhältnis 2/1 umfasst. Er kann auch erklären, warum bei Abweichungen das spontane Bedürfnis zur Korrektur besteht: weil dann das Verhältnis 2/1 nicht exakt getroffen wurde und es nicht »stimmt«. Der Wissenschaftler hat also ein begründetes Wissen von dem richtigen Maß und der Proportion. Aber das ist nicht die letzte Stufe. Der Philosoph muss noch einen Schritt über den Wissenschaftler hinausgehen. Er ist nicht nur in der Lage, rational zu begründen, warum die Proportion im einen Fall falsch und im anderen richtig ist, sondern er erkennt in der Schönheit dieser Proportionen auch das dahinter stehende, teleologische Prinzip, die Wirkung der göttlichen Vernunft, und ist davon affiziert. Timaios hatte hervorgehoben, dass es ein Schöpfungsprinzip der Vernunft ist, stets nur das Schönste und Beste hervorzubringen. Nun spiegeln die Harmonien der Musik die kosmischen Harmonien, die ein Werk der göttlichen Vernunft sind und deshalb schön. Ihre Schönheit, das heißt ihre hörbare Stimmigkeit und erkennbare Vernünftigkeit, wirkt auf die philosophische Seele und macht die Harmonien zu »Bundesgenossen« und »Helfern« für den Menschen in seinem Bemühen, selbst harmonisch, geordnet und schön zu werden. Das aber heißt nichts anderes, als vernunftgeleitet zu leben. Das Wissen des Philosophen um die Richtigkeit von mathematischen Verhältnissen und Harmonien ist nicht nur wie beim Fachwissenschaftler auf ein äußeres Objekt bezogen, auf sichtbare Himmelsbewegungen oder hörbare Harmonien und Rhythmen, sondern auch und im Letzten auf die eigene Person, auf die Verfasstheit seiner eigenen Seele und die innere Harmonie, die »Symphonie mit sich selbst«. (Ti. 47d) Er wird darauf Acht haben, dass die verschiedenen Seelenteile in ihm zusammenstimmen und keine über- oder unterproportioniert ist (pq¹r %kkgka sull´tqour, Ti. 90a). Der Körper und die ihm korrespondierenden sterblichen Seelenteile müssen mit der unsterblichen Vernunftseele in einem harmonischen Verhältnis sein, wenn der Mensch gesund sein will und das Leben gelingen soll. Das ist das Anliegen des Philosophen. Kriterien dafür sind Maß und Regelhaftigkeit und damit die Klarheit und Schönheit vernunftgewirkter Ordnung (t²nir, jºslor). Beim Philosophen erwächst anders als beim Fachwissenschaftler aus der Mathematik und Physik notwendig die Ethik. 3.3.4. Das gute Leben als Harmonie von Seele und Leib Der Philosoph wird also Musik treiben und das Paradigma am Himmel betrachten, um dessen Harmonien zu erfassen, sie nachzuahmen und dadurch die Reifung und Gesundung seiner eigenen Vernunftseele zu fördern, damit diese
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wieder gemäß ihrer Veranlagung zur »naturgemäßen Richtigkeit« ihrer Erkenntnistätigkeit gelangt. Timaios illustriert das mit dem schönen Bild einer »himmlischen Pflanze«, deren Wurzeln in Umkehrung unserer geozentrischen Vorstellung in den Himmel ragen,309 so dass sie sich aus der göttlichen, himmlischen Welt ernährt. (Ti. 90a) Der Körper entnimmt dagegen seine Nahrung der Erde und steht in einem ständigen, materiellen Austausch mit ihr. Daraus entsteht für den Menschen die Aufgabe, immer wieder aufs Neue zu einer harmonischen Einheit von Leib und Seele zu finden, bei der weder der Leib die Seele noch die Seele den Leib dominiert und überfremdet. Das gute Leben hat die Harmonie von beiden zur Voraussetzung. Dabei fällt der Vernunftseele die leitende Aufgabe für das ganze Lebewesen zu (toO joimoO f]ou, Ti. 89d), aber nicht auf Kosten des Leibes, sondern mit Blick auf eine stimmige, gesunde Verhältnismäßigkeit. Denn Maßlosigkeit jeder Art hat Krankheit zur Folge, sei sie körperlich oder seelisch indiziert. In seinem Bemühen um ein harmonisches, gesundes und gutes Leben wird der Mensch durch die Natur der Vernunftseele und des Körpers unterstützt. Auch der menschliche Leib wurde bei seiner Erschaffung durch die Götter zum Schönsten und Besten geordnet und bis in die physiologischen Einzelheiten so eingerichtet, dass der Maßlosigkeit entgegengewirkt wird: …[sie, die Götter,] ließen die Därme innen rundherum in Windungen entstehen, damit die Nahrung nicht schnell durchlaufe und den Körper zwinge, schnell andere Nahrung zu verlangen, und so Unersättlichkeit erzeuge und auf Grund seiner Gefräßigkeit das ganze Geschlecht unphilosophisch und unmusisch mache und ungehorsam gegenüber dem Göttlichsten, was wir besitzen. (eVkin\m te p]qin tµm t_m 1mt]qym c]mesim, fpyr lµ taw» diejpeq_sa B tqovµ taw» p\kim tqov/r 2t]qar de?shai t¹ s_la !macj\foi, ja· paq]wousa !pkgst_am, di± castqilaqc_am !vik|sovom ja· %lousom p÷m !poteko? t¹ c]mor, !mup^joom toO heiot\tou t_m paq’ Bl?m. Ti. 73a, Üb. nach Schl.)
Durch eine geeignete Anordnung des Verdauungssystems wird der Zügellosigkeit (!jokas¸am) ein natürlicher Riegel vorgeschoben. Der Mensch soll nicht mehr essen als maßvoll und nötig ist (letq¸ou ja· !macja¸ou), weil er sonst erkrankt und stirbt, bevor er sein Lebensziel erreicht (!tek³r). (Ti. 72e) Maßlosigkeit kann sich also nicht auf eine nachteilige körperliche Konstitution berufen.310 Es soll vielmehr gewährleistet sein, dass die leiblichen Bedürfnisse und 309 Zur Umkehrung der Geozentrik vgl. Osborne, Topography in the Timaeus, 104 – 114 und S. 187, Anm. 315. 310 Dagegen scheint Ti. 86c f. zu sprechen, wo von einer gelegentlich übermäßigen sexuellen Disposition die Rede ist, die sogar zu einer psychischen Erkrankung führen kann. Fälschlicherweise wird das meist als moralisches und nicht als körperliches Problem betrachtet. Doch ist erstens zu bedenken, dass dies eine Ausnahme von der impliziten Regel ist, welche besagt, dass die Sexualität grundsätzlich im Einklang mit der Seele ist und zum gesunden Menschen gehört. Von diesem gesunden Maß kann es aber körperlich bedingte
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damit die Bewegungen der sterblichen Seele die unsterbliche Vernunftseele nicht zwangsläufig dominieren und der Mensch als Gattung notwendig unphilosophisch und unmusisch, und das heißt unvernünftig wird. Timaios spricht hier, wie eingangs auch Sokrates, (Ti. 18 a) nicht von einer spezifischen Veranlagung des Philosophen, sondern von der allen Menschen eignenden, philosophischen Vernunftseele, die nicht unter die Herrschaft des Körpers und der Lüste geraten soll. Die körperliche Natur des Menschen ist also so eingerichtet, dass sie nicht zwangsläufig in Konflikt mit der philosophischen Vernunftseele geraten muss und dem Menschen folglich ein gutes Leben im Einklang mit den Gesetzen des Kosmos, mit Maß und Ordnung, möglich ist. Auch in der körperlichen Welt ist alles durch die ordnende Vernunft zum Besten gestaltet und dient einem letzten Ziel, der Glückseligkeit des Menschen.311 Denn das menschliche Geschlecht ist körperlich und seelisch so veranlagt, dass der einzelne Mensch im Lauf seines Lebens zu seiner Vollendung gelangen kann. Das hängt aber wesentlich an der Entfaltung der philosophischen Vernunftseele, welche wiederum das maßvolle und harmonische Miteinander des ganzen Lebewesens zur Voraussetzung hat. Abweichungen geben, die als solche erkannt werden müssen, damit man ihnen angemessen begegnen kann. Deswegen ist zweitens nicht die Bestrafung einer moralisch schlechten Handlung, die aus einer ungünstigen Veranlagung folgt, die angemessene Antwort und Hilfe, sondern die richtige Nahrung und Erziehung der sterblichen Seele durch entsprechende äußere Eindrücke und Impulse. Grundlage dieser Einschätzung ist das sokratische Paradox, dass niemand freiwillig Unrecht tut: »Denn freiwillig ist niemand schlecht, sondern durch eine bestimmte nachteilige Beschaffenheit seines Körpers und eine ungebildete Erziehung (!pa¸deutom tqovµm) wird der Schlechte schlecht. Das alles ist aber jenem zuwider und widerfährt ihm wider seinen Willen.« (Ti. 86d f., Üb. Schl.) Damit ist für die Therapie einer körperlich bedingten Maßlosigkeit das gleiche Verhältnis von Naturanlage und Ernährung/Erziehung zugrunde gelegt, das den ganzen Timaios durchzieht. Die natürliche Veranlagung bedarf der richtigen Förderung, und was in Unordnung und aus dem Gleichgewicht geraten ist, soll durch eine geeignete Ernährung und Erziehung ausgeglichen werden, so weit die Natur durch die Vernunft überredet werden kann. Das ist eine zutiefst positive Sicht vom Menschen, die ihn weder auf eine bestimmte Veranlagung festlegt, noch ihn von der persönlichen, moralischen Verantwortung für Fehlverhalten freispricht. Zum hiermit zusammenhängenden Problem von Determinismus und Willensfreiheit vgl. die ausführliche Diskussion bei Scolnicov, Freedom and Education in Plato’s Timaeus, 363 – 374. 311 So auch Steel, The Moral Purpose of the Human Body: Ti. 69 – 72, 105 – 128. Auch Brisson unterstreicht, dass das Schlechte nicht einem substantiellen Teil des Menschen wie dem Körper zuzuschreiben ist, sondern durch falsche Relation und Disproportion entsteht und durch Irrtum über das Gute, das sich in der Harmonie manifestiert. (Brisson, Le MÞme et l’Autre dans la Structure Ontologique du Tim¦e du Platon, 458 f., 465) Ähnlich Johansen: »Our aim should not be to eradicate the motions of the mortal parts of the soul but to regulate each part so that its proper motion neither overwhelms nor is overwhelmed by the motions of other parts. The rational order of the soul, after embodiement, is not one in which only the motions of the intellect thrive but a complex order in which other psychic motions operate alongside those of the intellect in common pursuit of the human good.« (Johansen, Body, Soul and Tripartition in Plato’s Timaeus, 104)
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Daraus ergibt sich die Verpflichtung des Menschen, durch eine geeignete Lebensführung der Krankheit vorzubeugen und für seine Gesundheit Sorge zu tragen (di¹ paidacyce?m de? diait¸ar p²mta t± toiaOta, Ti. 89c). Timaios entfaltet dafür eine Diätetik, die dem harmonischen Miteinander von Leib und Seele große Beachtung schenkt. Als Leitsatz gilt: »Nun ist alles Gute schön, das Schöne aber ist nicht disproportioniert (%letqom). Auch ein Lebewesen also, welches derartig sein soll, muß man als ebenmäßig annehmen (s¼lletqom het´om).« (Ti. 87c, Üb. Schl.) Das rechte Maß, die Symmetrie, das ist die Ausgewogenheit von Seele und Leib, entscheidet über Krankheit und Gesundheit des Menschen, über Tugend und Schlechtigkeit. (Ti. 87d) Überraschenderweise steht nicht nur ein Übergewicht der körperlichen Kräfte über die Seele in der Kritik, sondern umgekehrt auch eine einseitige Übung der seelischen Kräfte und Fähigkeiten. Auch das hat Krankheit zur Folge. Wer sich zu angestrengt seinen Studien hingibt, steht in der Gefahr, seelisch zu erkranken, weil Zank und Ehrgeiz sich seiner bemächtigen. Diese seelischen Erregungen bewirken negative körperliche Reaktionen und infolge auch körperliche Krankheiten. (Ti. 88a) Studium und geistige Aktivität müssen also in einem ausgewogenen Verhältnis zu den körperlichen Kräften bleiben, wenn sie dem ganzen Menschen förderlich sein sollen. Körper und Seele stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis und können nicht isoliert betrachtet und geübt werden. Philosophie bedeutet demnach nicht eine maximierte Intellektualität auf Kosten einer guten körperlichen Verfassung, sondern eine vernünftige, geordnete Lebensführung, die um die notwendige Symmetrie und Harmonie von Körper und Seele weiß und beide in angemessener Weise übt. Dagegen hat das Übergewicht des einen wie des anderen notwendig Krankheit zur Folge: Es gibt nur eine Rettung vor beidem: Weder die Seele ohne den Körper noch den Körper ohne die Seele in Bewegung zu setzen, damit beide, sich selbst schützend, gleichgewichtig und gesund werden. Der Mathematiker also oder wer sonst eine andere Disziplin intensiv mit dem Verstand betreibt, muß zum Ausgleich, indem er sich daneben auch der Gymnastik widmet, die Bewegung des Körpers pflegen; wer dagegen seinen Körper eifrig bildet, der muß zum Ausgleich, indem er sich zusätzlich mit der Musik und jeglicher Philosophie beschäftigt, die Bewegungen der Seele pflegen, wenn er mit Fug und Recht sowohl schön als auch gut im rechten Sinn genannt werden will. Nach den gleichen Regeln müssen wir auch für die Teile sorgen, indem wir die Gestalt des Alls nachahmen. (l_a dµ sytgq_a pq¹r %lvy, l^te tµm xuwµm %meu s~lator jime?m l^te s_la %meu xuw/r, Vma !lumol]my c_cmgshom Qsoqq|py ja· rci/. t¹m dµ lahglatij¹m E tima %kkgm sv|dqa lek]tgm diamo_ô jateqcaf|lemom ja· tµm toO s~lator !podot]om j_mgsim, culmastij0 pqosolikoOmta, t|m te aw s_la 1pilek_r pk\ttomta t±r t/r xuw/r !mtapodot]om jim^seir, lousij0 ja· p\s, vikosov_ô pqoswq~lemom, eQ l]kkei dija_yr tir ûla l³m jak|r, ûla d³ !cah¹r aqh_r jejk/shai. jat± d³ taqt± taOta ja· t± l]qg heqapeut]om, t¹ toO pamt¹r !polilo}lemom eWdor. Ti. 88b f., Üb. nach Schl.)
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Das Vorbild für den schönen und guten Menschen ist die Gestalt des Alls, des Kosmos, den er nachahmen soll. Es wäre aber ein fatales Missverständnis, wenn die Mimesis unter Berufung auf Ti. 47c nur auf das Denken bezogen würde, als ob der Mensch keinen Leib hätte. Denn gerade die vollkommene, harmonische Einheit aus Weltseele und Weltkörper ist der Maßstab für ein gelingendes Leben. Weil nun der Körper des Menschen wie der des Alls aus denselben Elementen erschaffen ist und diese wiederum aus den Spuren in der chora, der Ernährerin (tqovºm) und »Amme des Werdens«, soll der Mensch seinen Körper nicht der Ruhe überlassen, sondern ihn durch gymnastische Übungen in Bewegung setzen und dadurch Erschütterungen erzeugen, die den von außen wie von innen auf ihn einwirkenden Bewegungen begegnen. (Ti. 88d) Durch die körperliche Eigenbewegung ahmt er die Schüttelbewegung der »Amme des Werdens« nach (lil/tai, ebd.), was zu einer mechanischen Selektion der Elemente führt, bei der sich Befreundetes neben Befreundetes setzt und auf diese Weise Gesundheit bewirkt (vik¹m paq± vik¹m teh³m rc¸eiam !peqcafºlemom, Ti. 88e). Damit erweisen sich wie zuvor im kognitiven Bereich auch auf materialer Ebene Freundschaft und Ähnlichkeit als universale, konstruktive Kräfte.312 Die Eigenbewegung des Körpers trägt auf natürliche Weise (jat± v¼sim, ebd.) zur Ordnung und Gesundheit des ganzen Menschen bei. Wer darum den Körper vernachlässigt und die ihm gemäße Pflege und Bewegung nicht zuteil werden lässt, wird auch Schaden an seiner Seele leiden, das heißt, er wird nicht richtig denken können. Insofern muss es ein Anliegen des Philosophen sein, auch dem Körper die angemessene Bewegung zuteil werden zu lassen. Analoges gilt für die Seele. Wer eine starke körperliche Konstitution mitbringt, darf die Seele und die ihr gemäßen Bewegungen nicht vernachlässigen. Er muss sie durch die Übung von Musik und Philosophie pflegen, das heißt, er soll seinen Sinn für eine vernünftige Ordnung, für Verhältnismäßigkeit und Regelhaftigkeit stärken. So entsteht ein Gegengewicht zu den körperlichen Kräften im Menschen, die ohne Korrektiv maßlos werden. Wer sich dagegen vernunftlos den Kräften seiner sterblichen Seeleteile hingibt, das sind die körperlichen Begierden und der Ehrgeiz, in dem werden notwendig nur sterbliche und also unstete Meinungen (dºclata … hmgt²) entstehen, und er wird durch und durch sterblich werden, soweit es überhaupt möglich ist (pamt²pasim jah’ fsom l²kista dumat¹m hmgt` c¸cmeshai). (Ti. 90b) Die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit des Menschen meint also nicht die individuelle Lebensdauer, sondern das Maß der Vernunft, das im Leben realisiert wird. Vernachlässigt der Mensch die Pflege 312 Zur seismischen Schüttelbewegung der chora und ihrer selektiven Funktion siehe Ti. 53a. Auch C.W. Müller sieht die Begründung der Gymnastik in der selektiven Funktion des seismos nach dem vorsokratischen Prinzip Gleiches zu Gleichem. (C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 184 f. u. Anm. 29)
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seiner philosophischen, vernünftigen Seele, dann ist der Weg der Degeneration vom Menschen zum Tier vorgezeichnet, mit einer Einschränkung: soweit ein Mensch seine Vernunft überhaupt gänzlich verleugnen und verlieren kann. Dabei gilt die Regel: Je vernünftiger, desto unsterblicher und also göttlicher wird der Mensch; je unvernünftiger, desto sterblicher und also tierischer. Diese paränetische Folgerung bestimmt den Schluss des Timaios. Dort wird eindrücklich an die mögliche Degeneration des Menschen in einer Reihe von Wiedergeburten erinnert. (Vgl. a. Ti. 42b f.) Mit ihren phantastischen Zügen entspricht die Art der Schilderung den Jenseitsmythen. Es lässt sich schwer auseinander halten, was metaphorisch, was wörtlich und was ironisch gemeint ist, und das dürfte wohl Absicht sein. Man tut deswegen gut daran, den Schlussmythos des Timaios nicht zu wörtlich zu nehmen, sondern die Leseanweisung zu beherzigen, dass es sich um ein vergnügliches Spiel handelt, dem es aber dennoch nicht an hintergründigem Ernst mangelt.313 Denn sicher ist es ein ernsthaftes Anliegen, dem Menschen die Folgen vor Augen zu malen, wenn Unverstand und Unwissenheit die Herrschaft über ihn gewinnen. Nach Timaios zeigen nicht nur Frauen den Niedergang des Menschengeschlechts an durch ihre Gebärfähigkeit und die damit verbundene Betonung des Bauches und des dort angesiedelten sterblichen Seelenteils. Auch die Männer kommen mit dem sich diktatorisch gebärdenden Geschlechtstrieb (aqtojqat´r) nicht viel besser weg. (Ti. 91b f.)314 Die nächste Stufe der Degeneration stellen die Vögel dar. Sie haben 313 Mit den bio-physikalischen Erklärungen beschäftigt sich der Philosoph nur um der Erholung willen (!mapa¼seyr 6meja). Sie sind, anders als die metaphysischen Untersuchungen über das ewige Sein (peq· t_m emtym !e¸), nicht mehr als eine angemessene und geistreiche Spielerei (l´tqiom … paid¸am ja· vqºmilom). Dieser Bewertung liegt die Auffassung zugrunde, dass über die Welt des Werdens grundsätzlich nur wahrscheinliche Aussagen möglich sind und kein sicheres Wissen erlangt werden kann. (Ti. 59c f.) 314 Zuweilen geäußerte Empörung im Namen der Gender-Diskussion über die Abwertung der Frau (so Zuckert, Plato’s Philosophers, 448) verkennt zum einen den parodistischen Charakter dieser Textpassage und steht zum anderen im Widerspruch zur Gleichberechtigung der Frauen als Herrscherinnen in der polis, wie sie eingangs in der Rekapitulation der Politeia ausdrücklich genannt wurde. (Ti. 18b) Männer und Frauen als geschlechtliche Wesen sind nach Timaios beide bereits Degenerationsformen der zuerst erschaffenen Menschen, die geschlechtslos waren. (Ti. 90e f.) Der dort verwandte Begriff !m¶q bezeichnet zwar im Gegensatz zur Frau den Mann, aber auch im Gegenüber zu den Göttern allgemein den Menschen. Die Degenerationslinie verläuft also nicht vom Mann zur Frau, sondern vom asexuellen und ganz der vernünftigen, göttlichen Welt zugewandten Menschen, der auf seinem Stern wohnt, gleicherweise zu Mann und Frau als körperlichen, sexuellen Wesen. Bei beiden erhält die sterbliche, körperorientierte Seele durch den Geschlechtstrieb Nahrung und gerät dadurch in Konflikt mit der unsterblichen Vernunftseele. Erst im Zuge der Inkorporation entsteht zusammen mit dem Körper die Geschlechtlichkeit des Menschen. Deswegen sagt Cornford zu Recht, dass Platon nicht meint, Männer hätten jemals ohne Frauen und niedere Tiere existiert. (Cornford, Plato’s Cosmology, 142) Es geht nicht im realistischen Sinn um eine zeitliche, ins Negative gewendete Umkehrung der Evolution, sondern um eine metaphorische Plausibilität für die Existenz von Lebewesen,
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sich aus Männern entwickelt, die gedankenlos die Himmelserscheinungen beobachten und ihre Wahrnehmungen für zuverlässiges und sicheres Wissen halten. Gemeint sind die naiven Astronomen und Wissenschaftler, die sich nur für die sichtbaren Phänomene und physikalischen Mitursachen interessieren, aber nicht nach der Vernunftursache des Alls, nach dem Schönsten und Besten fragen, das als Ordnungs- und Schöpfungsprinzip allem zugrunde liegt. Sie lassen leichtfertig die Philosophie außer Acht. Deswegen zieht es sie dorthin, wo der Gegenstand ihres Interesses ist, nämlich in die Luft, und sie werden zu Vögeln. (Ti. 91d) In dieser Parodie eines fehlgeleiteten wissenschaftlichen Interesses kommt trotz der zuvor entwickelten Wertschätzung des Gesichtssinns für die philosophische Kontemplation wieder die grundsätzliche Kritik an der epistemischen Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung zum Tragen. Die nächste Stufe der Degeneration stellen die Landtiere dar : Das auf dem Lande lebende tierische Geschlecht ist aus solchen Männern entstanden, die keinerlei Gebrauch von der Philosophie machten noch irgendwelche Betrachtungen über die Natur des Himmels anstellten, da sie die Umläufe in ihrem Haupt nicht mehr anwendeten, sondern den in der Brust angesiedelten Teilen der Seele als ihren Führern folgten. (t¹ d’ aw pef¹m ja· hgqi_der c]comem 1j t_m lgd³m pqoswqyl]mym vikosov_ô lgd³ !hqo}mtym t/r peq· t¹m oqqam¹m v}seyr p]qi lgd]m, di± t¹ lgj]ti ta?r 1m t0 jevak0 wq/shai peqi|doir, !kk± to?r peq· t± st^hg t/r xuw/r Bcel|sim 6peshai l]qesim. Ti. 91e, Üb. Schl.)
Diese Menschen haben aufgehört, überhaupt noch ihre Vernunft zu bemühen und nachzudenken. Deswegen ist die Führungsfunktion von der Vernunftseele ganz auf die sterbliche Seele übergegangen. Die Deformation der Vernunftseele zeigt sich an der Deformation des Kopfes, der nicht mehr rund ist wie das All, um die gleichmäßigen Kreisbewegungen der Gedankenumschwünge aufzunehmen, sondern länglich, weil es sie gebückt zur Erde zieht, wo sie ihre Nahrung suchen. (Ti. 91e f.) Es folgen in dieser absteigenden Linie noch die Kriechtiere und Wassertiere, um die maximale Entfernung von der göttlichen Vernunft zu veranschaulichen.315 Der tiefere Sinn dieser Verwandlungsgeschichte des Menschen die, obwohl der Erschaffer der Welt selbst gut ist und will, dass ihm alles gleicht, doch nicht an seiner Vernünftigkeit teilhaben. Diese scheinbar degenerative Evolution ist das naturwissenschaftlich eingekleidete Pendant zu den Jenseitsmythen und Totengerichten im Gorgias oder der Politeia. Ihr Sinn besteht darin, die Folgen der Verfehlung eines guten, vernunftgeleiteten Lebens zu illustrieren. 315 Osborne unterstreicht, dass die metaphysische und moralische Ordnung der Welt bei Platon nicht zentrifugal strukturiert ist. Vielmehr ist umgekehrt die Peripherie, der göttliche Sternenhimmel und darüber hinaus der jenseitige Bereich des Seins, ontologisch und axiologisch normativ. (Osborne, Topography in the Timaeus, 111) Dieser Interpretation von Osborne ist anzufügen, dass die ontologische und axiologische Wertung von oben und unten, von Mittelpunkt und Peripherie, bei Platon metaphorisch zu verstehen ist. Sonst verfällt man dem gleichen Irrtum wie die naiven Astronomen in der Politeia, die zwar zum Sternenhimmel hoch-, aber im geistigen Sinn doch nach unten schauen, weil sie sich an das
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liegt nach Timaios in der Bedeutung der Vernunft für die ontologische Axiologie: »Nach all diesen Prinzipien also gehen die Lebewesen, damals wie jetzt, ineinander über, indem sie sich durch Verlust und Erwerb von Vernunft und Unvernunft verändern.« (Ti. 92c, Üb. Schl.) Der Mensch ist durch seine unsterbliche, philosophische Vernunftseele der oberen, himmlischen Welt verwandt und durch seinen sterblichen Körper an die untere, materielle Welt gebunden. Das ist seine doppelte Naturveranlagung. Sie kann durch eine angemessene trophe, nämlich spezifische Übungen und Bewegungen, gefördert und gestärkt werden. Für die Vernunftseele sind das Musik und philosophische Studien und Wissenschaften, für den Leib der Sport. Nur wenn das Verhältnis von Leib und Seele harmonisch ist, entwickelt sich der Mensch gesund. Dann ist sein Denken eine Symphonie und der ganze Mensch im Einklang mit sich selbst. Die Betrachtung des Kosmos ist für ihn darum von großer Bedeutung. Wie ein gutes und schönes Leben aussieht, kann er an diesem göttlichen Paradigma erkennen. Der Mensch verwirklicht sein Menschsein in Nachahmung des vollkommenen, sichtbaren Lebewesens, des Kosmos, bei dem Körperlichkeit und Vernünftigkeit in größtmöglicher Harmonie sind.In diesem Sinn ist Philosophie mehr als ein wissenschaftliches Studium, es ist Angleichung an Gott, homoiosis theo, nämlich Einübung in ein vernunftgeleitetes und in seiner Vollendung glückseliges Leben, bei dem Körper und Seele völlig im Einklang sind.
Sichtbare und nicht an das Seiende und Unsichtbare halten. (R. 528d – 529c) Die Stellung des Menschen im Ganzen des Kosmos bestimmt sich durch die größtmögliche Nähe zur intelligiblen Welt, zum göttlichen Sein und zur demiurgischen Vernunft. »Nach oben schauen« oder »von hier nach dort« (1mh´mde 1je?se, R. 529a), wie es an der gleichen Stelle heißt, ist darum eine Metapher und darf nicht wörtlich und räumlich missverstanden werden.
IV. Der philosophische Eros
Überblick Im Lysis geht es um das Thema der Freundschaft. Sokrates wird hier um Rat gefragt, was man sagen und tun muss, um jemanden als Freund zu gewinnen. Er gesteht, dass die Liebe das einzige Gebiet ist, auf dem er Fachmann ist. Das verwundert nur im ersten Augenblick, denn später wird deutlich, dass die Liebe eine Form von Begehren ist nach dem, was einem fehlt. Und was Sokrates fehlt, weiß er genau: nämlich das Wissen um das Gute, die Weisheit. Diese Art der Liebe nennt er Philosophie. Im Verlauf des Dialogs zeigt sich, dass allein die Philosophie Freundschaft begründet und der Philosoph der freundschaftliche Mensch schlechthin ist. Die drei Gesprächsrunden zwischen Sokrates und den Knaben Lysis und Menexenos enden aporetisch. Doch dem Leser werden viele Hinweise gegeben, die ihn einer Lösung näher bringen. Die erste Gesprächsrunde mit Lysis gilt den unterschiedlichen Bedeutungsvarianten der Wortfamilie »freund, Freundschaft, lieben« (philos, philia, philein). Dabei löst Sokrates diese Worte aus der engen umgangssprachlichen Verwendung zur Beschreibung häuslicher Beziehungen von Familienmitgliedern. Über die Frage nach dem Nutzen von Freundschaft gelangt das Wissen als Grund von Freundschaft in den Blick, weil allein die sophia intrinsisch gut und wertvoll ist. Alle anderen Güter sind demgegenüber nichts wert, wenn sie nicht mit Verstand genutzt werden – eine Güterlehre, die sich schon im Euthydemos findet. Wissen und Einsicht sind von überragender Bedeutung für Freundschaft. Denn dem Einsichtigen sind nicht nur seine Hausgenossen, sondern alle Menschen freund. Durch die herausgehobene Stellung der sophia für die philia bringt Sokrates die Philosophie ins Gespräch und bereitet die spätere Neubestimmung des Philosophen vor. Die zweite Gesprächsrunde mit Menexenos untersucht die Syntax von Sätzen, in denen gesagt wird, dass jemand jemandes Freund beziehungsweise jemandem freund ist. Inhaltlich steht dahinter die Frage, ob Freundschaft eine einseitige oder beidseitige Beziehung ist. Während man im zwischenmenschlichen
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Der philosophische Eros
Bereich geneigt ist, Freundschaft wechselseitig zu verstehen, zeigt Sokrates, dass es im Griechischen viele Wortbildungen mit philos beziehungsweise philein gibt, die eine einseitige, unerwiderte Liebe und Neigung ausdrücken: so den Pferdefreund, den Weinfreund, den Sportsfreund und schließlich auch den Wissensfreund, den philosophos. Dabei hat er unvermerkt den Objektbereich verschoben. Denn Gegenstände, Tätigkeiten oder gar Abstrakta verfügen nicht über die Fähigkeit, Freundschaft und Liebe zu erwidern. Die Komposita mit der Vorsilbe »phil« drücken bei diesen Wortbildungen ein einseitiges Streben nach einem für wert erachteten Gut aus, mit dem ein intensiver, über das gewöhnliche Maß hinausgehender Umgang gepflegt wird. Der Philosoph ist nach diesem normalsprachlichen Verständnis ein Wissensfreund, der sich mehr als üblich und mit einer gewissen Ausschließlichkeit und Regelmäßigkeit um Wissenserwerb bemüht und dabei auch erfolgreich ist. Er ist ein Wissender, der bereits viel weiß und noch mehr wissen will. Das Verständnis von Freundschaft als einseitig intentionales Streben stößt aber bei personalen Beziehungen an Grenzen. Das führt das Gespräch zwischen Sokrates und Menexenos in die Aporie, so dass sie schließlich gar nicht mehr wissen, was es meint, dass jemand jemandem freund ist. Sokrates schlägt deswegen in einer dritten Gesprächsrunde einen Neuanfang der Untersuchung vor und legt dabei die überlieferte Vorstellung zugrunde, dass Gott Gleiches mit Gleichem zusammenführt und dadurch Freundschaft stiftet. Doch sowohl diese Gleichheitsthese als auch ihre Modifikation, die Gutheitsthese, dass nur Gute mit Guten befreundet sind, und schließlich die Antithese, dass nur Entgegengesetztes dem Entgegengesetzten freund sein kann, erweisen sich als nicht haltbar. Einen Ausweg bietet schließlich eine schwache Variante in der Verbindung der Ungleichheits- mit der Gutheitsthese, die besagt, dass das Weder-gut-nochSchlechte dem Guten freund ist. Das Weder-Noch ist eine eigene Gattung zwischen den Extremen in einem polaren Gegensatz und kann an deren Eigenschaften jeweils akzidentiell teilhaben. Es steht in einer intentionalen Spannung, was Voraussetzung ist zur Erklärung der Strebekraft und damit auch zur Begründung von Freundschaft. Zur Gattung des Weder-gut-noch-Schlechten gehört auch die Seele in ihrem Streben nach Weisheit. Während die Götter bereits weise sind und damit den einen Pol im Spannungsverhältnis markieren, gehören die gänzlich Unverständigen zum entgegengesetzten Pol. Zwischen ihnen stehen die Weder-gut-noch-Schlechten, die nicht weise sind, aber nach der Weisheit als dem Guten streben. Das sind die Philosophen. Hiermit definiert Sokrates gegenüber dem oben beschriebenen, gängigen Sprachgebrauch ein völlig neues Verständnis des Philosophen. Es ist derjenige, der zwar unwissend ist, aber ein Bewusstsein seiner Unwissenheit hat und deswegen nicht glaubt zu wissen, was er nicht weiß, aber nach dem Wissen streben muss, das immer und unter allen Umständen gut ist. Diese Art der Selbsterkenntnis findet sich sachlich schon in
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der Apologie im berühmten sokratischen Wissen des Nichtwissens. Aber sie bekommt hier ihre systematische, logische Begründung in der Reflexion auf die Eigenheit eines polaren Gegensatzes. Zugleich wird sie zum Ermöglichungsgrund zwischenmenschlicher Freundschaft, weil im gemeinsamen Streben nach Weisheit das Gute, das beide als ihr »erstes Geliebtes« begehren, auch beiden zuteil wird. Denn es gibt keinen egoistischen Nutzen aus der Einsicht in das Gute. Darum ist der Philosoph der freundschaftliche Mensch schlechthin, ein philhetairos. Das Symposion ist einer der faszinierendsten Dialoge Platons. Platon gibt hier eine Deutung der Strebekräfte des Lebens, bei der Liebe und Erkenntnis nicht gegeneinander stehen, sondern einander bedingen und ergänzen, weil alles Begehren des Menschen im Streben nach Erkenntnis seine Erfüllung findet. Dabei erweist sich Eros als der beste Helfer beim stufenweisen Aufstieg zur Schau des Schönen selbst. Es gilt darum zu zeigen, dass es keine wahrheitsgemäße Erkenntnis ohne philosophische Erotik gibt; und weiterhin, dass es keine befriedigte menschliche Erotik ohne philosophische Erkenntnis gibt. In diesem Zusammenhang ist auch das spezifisch platonische Verständnis der beiden Begriffe Eros und Philosophie herauszuarbeiten, wobei der Lysis schon wesentliche Vorarbeit geleistet hat. Der literarischen Gattung nach handelt es sich um sechs Lobreden auf den Eros, die dramaturgisch durch Rahmenhandlungen umschlossen und kommentiert werden. Aus dem Einleitungsgespräch mit dem Sokratesschüler Apollodoros geht hervor, dass die »Reden über die Liebe«, die gerüchteweise in Athen kursieren, in einem tieferen Sinn auch »Reden über die Philosophie« sind. Die Begeisterung von Apollodoros für Sokrates und die Philosophie wirkt auf seine Umgebung jedoch höchst befremdlich und er selbst wie von Sinnen in seiner schroffen Kritik an einer bürgerlichen, unreflektierten Lebensführung, die Philosophie nur als Nebensache betreibt. Doch sein vermeintlicher Wahnsinn spiegelt nur den tatsächlichen Wahnsinn eines unphilosophischen Lebens. Apollodoros steht für den manischen Charakter der philosophischen Begeisterung. Das Symposion schließt mit einer Lobrede des betrunkenen Alkibiades auf Sokrates. Wieder ist vom Wahnsinn der Philosophie, von ihrer manischen Macht die Rede. Denn Alkibiades schildert die fundamentale Verunsicherung über seine Lebensführung, die ihn regelmäßig befällt, wenn er philosophischen Reden und Einsichten sein Ohr leiht. Als »Wahnsinn der Philosophie« bezeichnet er das Eingeständnis, dass es nicht zu leben lohnte, wenn er so bliebe, wie er ist. Aber seine Ruhmsucht hält ihn von einem philosophischen Leben ab. Diese Verweigerungshaltung ist sein eigentlicher Wahnsinn. Alkibiades ist das Gegenbild zu Apollodoros. Der eine leitet das Symposion ein, der andere leitet es aus. Beide
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dramaturgische Gestalten verkörpern auf unterschiedliche Weise eine Berufung zur Philosophie, aber beide stoßen dabei an ihre Grenzen. In vier der sechs Lobreden auf den Eros, die anlässlich einer Siegesfeier zu Ehren des Tragikers Agathon gehalten werden, ist mit keinem Wort von der Philosophie die Rede. Phaidros, Eryximachos, Aristophanes und auch Agathon kommen bei ihrem Verständnis der Liebe ohne jegliche Anleihen bei der Philosophie aus. Lediglich Pausanias und Sokrates stellen in ihren Reden einen ausdrücklichen Bezug zwischen beiden her. Pausanias behauptet eine enge Verbindung zwischen Eros und Philosophie. Sein offensichtliches Interesse ist die Rechtfertigung der Päderastie durch die Philosophie. Ausgehend von dem relativistischen Grundsatz, dass es keine allgemeingültigen moralischen Normen gibt, wendet er sich gleicherweise gegen die generelle Billigung wie auch Ächtung der Knabenliebe. Entscheidendes Kriterium für die sittliche Akzeptanz von Handlungen und damit auch für die päderastische Liebe ist nach ihm die rhetorische Kompetenz. Denn schön und gerechtfertigt ist, wofür man gut und überzeugend argumentieren kann. In der argumentativen Kompetenz sieht Pausanias das wesentliche Kennzeichen der Philosophie. Er behauptet darum eine komplizierte attische Sitte des Sowohlals-Auch in der Bewertung der päderastischen Liebe: Sie sei dann legitim, wenn Liebhaber und Liebling sich gegenseitig ihrer besonderen intellektuellen und sittlichen Qualitäten versichern. Unter dieser Voraussetzung sei es gerechtfertigt, Wissen und Bildung mit sexueller Befriedigung als Gegenleistung zu entlohnen, ansonsten jedoch nicht. Damit vertritt Pausanias die für die Sophisten charakteristische merkantile Haltung hinsichtlich der Philosophie und der Vermittlung rhetorischer Bildung, nur dass die Entlohnung nicht monetär, sondern als sexuelle »Sachleistung« gewährt wird. Gegen diese hedonistisch-utilitaristische Verbindung von Philosophie und Päderastie setzt Sokrates die »rechte Art der Knabenliebe«. Für sein Lob des Eros beruft er sich auf die weise Priesterin Diotima, die ihn in vielen philosophischen Gesprächen in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht hat. Dabei wird die leibliche und seelische Schönheit eines Knaben ebenso transzendiert wie jede andere konkrete Schönheit, um in der Begegnung mit der wahren, ideellen Schönheit wahre Tugend zu erzeugen. Nach einem stufenweisen Aufstieg von körperlich schönen Gestalten über die seelische Schönheit der Tugenden hin zum geistig Schönen in den Wissenschaften überschaut der Einzuweihende philosophierend das »weite Meer des Schönen« in einem »unerschöpflichen Streben nach Weisheit«, bis sich ihm plötzlich und unverfügbar »das Schöne selbst«, die Idee des Schönen zeigt. Rückblickend versteht er, dass diesem göttlich Schönen sein ganzes Streben und Lieben galt. Dabei war Eros die treibende Kraft und die Philosophie Wegbegleiter und Wegweiser. Denn ohne die Liebe zur Weisheit bleibt der Eros einem vordergründig und nur relativ Schönen
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verhaftet und kann nicht zur Ruhe und dauerhafter Erfüllung gelangen. Davon zeugen die Lobreden der anderen Symposiasten, die zwar den Eros preisen, aber nur ein eingeschränktes und dadurch irregeleitetes Verständnis der Liebe haben. Wer den Weg der Liebe recht gehen will, muss darum zunächst das Wesen des Eros verstehen. Eros ist ein relationaler Begriff und bezeichnet die Liebe zu etwas Schönem. Die Art der Relation ist ein Begehren dessen, was einem fehlt und wessen man bedürftig ist. Neben der Begehrensstruktur und der Bedürftigkeit werden noch andere Charakteristika des Eros herausgearbeitet wie das Streben nach Dauer und sein daimonisches Wesen, das heißt seine Vermittlernatur im konträren Gegensatz zwischen Göttern und Menschen, zwischen Weisheit und Unvernunft. Mit diesen Bestimmungen baut das Symposion auf die Vorarbeit im Lysis auf. Dieses Zwischenwesen wird veranschaulicht im Geburtsmythos des Eros, der von seinen Eltern eine doppelte Natur empfangen hat. Seine Mutter Penia ist die allegorische Personifikation des Mangels und der Ratlosigkeit, während sein Vater Poros umgekehrt die findige Intelligenz verkörpert. Beide Merkmale sind auch Eros zueigen, weswegen Wissen und Einsicht für ihn kein sicherer Besitz sind. Vielmehr zeigt sich im ständigen Wechsel von Finden und Verlieren seine philosophische Natur. Die Entwicklung von Eros als Liebe zum Schönen hin zur Philosophie als Liebe zur Weisheit und damit zum Schönsten bedarf allerdings noch weiterer Begründungen. Dazu dient die Schilderung des Aufstiegswegs. Es zeigt sich, dass der Eros nicht nur auf das Schöne, sondern auch auf das Gute gerichtet ist. Durch diese Substitution erreicht Diotima eine Erweiterung der Extension des Begriffs Eros, unter den dann nicht nur die Liebe zu Menschen fällt, sondern jegliches Begehren von etwas, was gut und nützlich ist, so auch die Liebe zu Wissen und Weisheit, die Philosophie. Alle Formen der Liebe sind nur verschiedene Erscheinungen des einen Eros, weil ihnen die gleiche Begehrensstruktur zugrunde liegt, das Streben nach dem Guten. Das Gute kann der Eros aber nur durch permanente »Zeugung im Schönen« erlangen. Für den Aufstiegsweg unterscheidet Diotima darum in Anlehnung an die eleusinischen Mysterien zwischen den Kleinen und den Großen Weihen des Eros. Die Kleinen Weihen zielen auf die Zeugung im immanent Schönen. Sie stellen insofern eine erste Stufe der Reinigung dar, als der Eros nicht mehr wie bei der körperlichen Liebe auf leibliche Befriedigung drängt und leibliche Kinder erzeugt. Vielmehr bewirkt der Zeugungsdrang im Seelischen das Streben nach Ehre und Ruhm und erzeugt in einer Fülle von Gesprächen seelische Kinder, das sind die Tugenden Einsicht, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Quelle der Inspiration ist dabei die Begegnung mit einem Knaben, der sich nicht nur durch seine äußere Schönheit, sondern vor allem durch eine schöne und wohlgestaltete Seele auszeichnet. Die Tugenden der schönen Seelen manifes-
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tieren sich in den schönen Werken dieser schöpferischen Menschen, in Dichtung, Staatsführung und Gesetzgebung. Die Großen Weihen setzen die Kleinen voraus. Und doch gibt es ein wichtiges Merkmal, durch das sich der potentielle Philosoph vom Liebhaber schöner Körper und Seelen unterscheidet. Es ist ein langer Aufstiegs- und Übungsweg, der in jungen Jahren mit der Liebe und Begeisterung für einen einzigen schönen Körper beginnt, um festzustellen, dass andere schöne Körper die gleiche Anziehungskraft ausüben, weil ihnen das gleiche Prinzip körperlicher Schönheit zugrunde liegt. So wird ein erster Schritt der Transzendierung vorbereitet: vom einzelnen schönen Körper (t¹ jak¹m s_la) über viele schöne Körper hin zur allgemeinen, allen gleicherweise eignenden körperlichen Schönheit (t¹ 1p· p÷si to?r s¾lasi j²kkor). Diese Loslösung vom konkreten Einzelnen und Hinwendung zum Allgemeinen ist das Merkmal, durch das sich der Philosoph vom Erotiker der Kleinen Weihen unterscheidet. Dadurch wird er vorbereitet zum Überstieg auf die nächste Stufe, die seelische Ebene. Dort wiederholt sich das Gleiche. In der Begegnung mit einer schönen Seele werden schöne Gedanken und Reden über eine spezifische Tugend erzeugt, die sich in schönen Tätigkeiten und guten Sitten niederschlägt. Hierauf folgt wieder eine Ausweitung auf alle Tugenden und Tätigkeiten, indem die seelische Schönheit als Grund aller schönen Handlungen erkannt wird. Auch auf der folgenden, geistigen Stufe gibt es diesen Dreischritt vom Einzelnen zum Vielen und von dort zum Allgemeinen, das dem immanent Schönen transzendent ist. Diese fortschreitende Zusammenschau und Transzendierung ist das spezifisch Philosophische des Eros. Der philosophische Aufstiegsweg findet seinen Höhepunkt in der Zusammenschau alles Schönen und im Überstieg zur Idee des Schönen, die mit keinem Einzelschönen vergleichbar ist und doch jedem Schönen zugrunde liegt. Erst hier kommt der Eros zur Ruhe, weil es kein Schöneres mehr gibt. Damit ist die anfängliche Behauptung eingeholt, dass die Philosophie nicht nur eine Liebe zum Schönen, sondern zum Schönsten ist: zum Wissen um die Idee des Schönen selbst. Der Phaidros thematisiert die Liebe im Zusammenhang mit der Frage nach der rechten, guten Art zu reden und zu schreiben. Dementsprechend kann man den Dialog in zwei Teile unterteilen. Der erste Teil besteht aus einer Musterrede des Rhetors Lysias über die These, dass ein Knabe einem Nichtverliebten eher seine Gunst schenken sollte als einem Verliebten. Sokrates tritt daraufhin in einen Redewettstreit mit Lysias zu dem gleichen Thema, um dann in einer weiteren Rede seine erste als frevelhaft zu widerrufen und die Gegenthese zu vertreten: dass es besser sei, einem Liebenden als einem Nichtliebenden zu folgen. Im zweiten Teil des Phaidros folgt schließlich die Metareflexion über die Kriterien einer guten Rede. Der Bezug zur Philosophie hält beide Dialogteile wie eine Klammer zusammen, weil sowohl die Liebe als auch die Rede in der Phi-
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losophie ihre je wesensgemäße Form finden. Dabei wird gezeigt, dass es keine Kunst der Rede gibt ohne eine Kunst der Liebe; und umgekehrt auch keine Kunst der Liebe ohne die Leitung durch den Logos. Am Schluss seiner Widerrufsrede und damit auch am Ende des ersten Teils des Phaidros steht ein Gebet von Sokrates an Eros, den Gott der Liebe. Darin bittet er um die »Kunst der Liebe« wie auch um die rechte, gute Art der Rede durch die Hinwendung zur Philosophie. Für diese philosophische »Kunst der Rede« werden drei Kriterien erarbeitet: erstens der Wahrheitsbezug im doppelten Sinn der ontologischen Wahrheit wie auch der Urteilswahrheit; zweitens die genaue Kenntnis der Gegenstände der Rede durch die dialektische Methode begrifflicher Unterscheidung und Zusammenschau; drittens didaktischpsychagogische Kenntnisse bezüglich der Eignung unterschiedlicher Redegattungen für verschiedene Adressaten und Charaktere. Nur wer alle Kriterien erfüllt, gehört zur Gattung der Philosophen. Ansonsten ist er nichts anderes als ein konventioneller Schriftsteller. Insbesondere im mündlichen Diskurs zeigt sich, ob jemand diesen Ansprüchen genügt und »Wertvolleres« vorzuweisen hat als eine formale rhetorische Kompetenz. Darum verbindet sich die Kunst philosophischer Rede auch mit einer Schriftkritik, welche um die Vorzüge des Gesprächs als Medium der Einführung in das philosophische Denken weiß. Dabei kommt dem Streben nach Erkenntnis (episteme) die Schlüsselrolle zu. Es gibt also keine philosophische Kunst der Rede ohne Erkenntnis. Im Licht dieser Überlegungen lässt sich nun für den ersten Teil des Phaidros zeigen, dass es wiederum keine Erkenntnis ohne Liebe gibt. Denn die Liebe ist die Kraft, die den Menschen über die sinnlich wahrnehmbare Welt hinaus in die Welt der Ideen erhebt, die wiederum Maßstab für die Wahrheit der Rede sind. Zur Illustration erzählt Sokrates den Mythos vom Reigen der Seelenwagen am überhimmlischen Ort der Ideen. Während bei den Göttern die Zugkräfte der Seelenwagen alle gutartig und gleichgerichtet sind, haben die Menschen einander widerstrebende Seelenkräfte. Das führt schließlich zum Absturz der Seele aus der himmlischen Welt und ihrer Inkarnation in einem irdischen Leib. Dieser Sturz geht mit dem Vergessen der göttlichen Ideen einher. Der Mythos erlaubt es Sokrates, die unterschiedlichen Veranlagungen der Menschen plausibel zu machen. Denn ihr Charakter leitet sich aus dem Maß dessen ab, was ihre Seelen bei der vorgeburtlichen Schau von den Ideen erblicken konnten. Daraus ergibt sich eine Stufenleiter menschlicher Inkarnationen mit dem Tyrannen am unteren Ende und dem Philosophen auf der höchsten Stufe. Weil der Philosoph im vorgeburtlichen himmlischen Reigen viel von der schönen, göttlichen Welt der Ideen geschaut hat, trägt er ein starkes Streben nach Erkenntnis und eine Liebe zum Schönen in sich. Bildet er diese natürliche Veranlagung aus und bewährt sie in einem philosophischen Leben, wird es ihm vergönnt, vorzeitig in die Welt der Götter und an den überhimmlischen Ort der Ideen zurückzukehren.
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Der philosophische Eros
Für die Ausbildung und Bewährung der philosophischen Anlage ist die transzendierende Kraft der Liebe von entscheidender Bedeutung. Sie bewirkt, dass sich die Seele wieder an die himmlische Welt erinnert. Denn die Liebe entzündet sich an besonders schönen Verkörperungen der ehemals geschauten Ideen, deren sich der Liebende erinnert, wenn er im geliebten irdischen Abbild das göttliche Urbild wieder erkennt. Mit dieser Wiedererinnerungslehre erklärt Sokrates die Strebetendenz der liebenden Seele. Mythologisch gesprochen beflügelt Eros die Seele, damit sie die Kraft zur Erhebung über die irdische, körperliche Welt zurückerlangt und sich wie früher zur Welt der Ideen emporschwingt. Die Liebe ist also eine Kraft der Transzendierung, durch die der Liebende »von hier nach dort«, vom Begrenzten zum Vollkommenen gezogen wird. Der Mythos gibt auch eine metaphysische Begründung philosophischer Pädagogik, die jedem merkantilen Nützlichkeitsdenken, wie es Lysias propagierte, zuwiderläuft. Methodisch geht mit dieser Pädagogik eine Wendung nach innen einher. Denn die Quelle der Inspiration ist zwar der Geliebte als äußeres Abbild des Göttlichen, aber die Erinnerung wendet den Blick des Liebenden nach innen. Nur dort kann er die Natur des gemeinsamen Gottes in der inneren Vergegenwärtigung des ursprünglichen Bildes auffinden, das er vorgeburtlich geschaut hat. Die Ausbildung dieses göttlichen Bildes im Geliebten fördert er nach Kräften. Die Liebe ist darum eine Form der Gottbegeisterung, des enthousiasmos. Liebender und Geliebter reflektieren einander wie in einem Spiegel die Schönheit, die ein Abbild der göttlichen Schönheit ist. Die Liebe in Verbindung mit der Wiedererinnerungslehre bietet also eine metaphysische Begründung der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Denn ohne Liebe gibt es keine Erinnerung der Ideen und keine Erkenntnis des Wahren und Wirklichen, auch nicht des Charakters des anderen oder seiner selbst. Wenn es also keine Kunst der Rede gibt ohne Erkenntnis und keine Erkenntnis ohne Liebe und keine Kunst der Liebe ohne Wiedererinnerung, so folgt daraus, dass es keine Kunst der Rede gibt ohne eine Kunst der Liebe. Damit die Liebe diese erhebende Kraft entfalten kann, bedarf es der Förderung durch eine vernunftgeleitete Lebensführung, die die Seelenkräfte harmonisiert und in Zucht nimmt. Hierbei kommen dem Philosophen die göttlichen Musen zu Hilfe. Die »Gabe der Musen« besteht darin, dass der Philosoph über der Schönheit des Gesangs, das sind die schönen Reden, die leiblichen Bedürfnisse vergisst. Das Vergessen der göttlichen Welt der Ideen bei der Inkarnation wird also aufgehoben durch das Vergessen der irdischen Welt angesichts der Schönheit und insbesondere der Schönheit der Rede.
Lysis: Philosophie und Freundschaft
1.
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Lysis: Philosophie und Freundschaft
Auf den ersten Blick erinnert der Lysis in Szenerie und Dramaturgie an den Charmides. Beide Dialoge finden in der palaistra eines Gymnasiums statt, wo Jugendliche den Unterricht der damaligen »Reformpädagogen«, der Sophisten, besuchen, um sich auf die Aufgaben vorzubereiten, die sie im öffentlichen Leben der polis erwarten. Obwohl seine Gesprächspartner sehr jung sind – im Lysis sind die Hauptfiguren noch Knaben zu Beginn der Pubertät –, erörtert Sokrates mit ihnen tiefgehende, philosophische Fragen. Stand im Charmides das Thema der Besonnenheit im Zentrum, so ist es im Lysis die Reflexion über Freundschaft, die philia. Die Themenbereiche knüpfen unmittelbar an die Lebenswelt der Heranwachsenden an und stellen sie in einen größeren Kontext. So ist es einsichtig, dass die Freundschaften, die in dieser wichtigen Zeit der Ausbildung geschlossen werden, für das gesamte weitere Leben der Jugendlichen von Bedeutung sind. Wer mit wem und aus welchen Gründen befreundet ist, entscheidet wesentlich darüber, wie sich der Charakter eines Menschen entwickelt und welche Werte ihn bestimmen. Doch auch für das Leben der polis hat diese prägende Zeit Folgen. Denn die freundschaftlichen Bindungen, die in der Jugend ausgebildet werden, reichen oft bis in das Erwachsenenalter hinein und finden in einflussreichen Freundschaftsbünden ihre Fortsetzung. Die Frage nach der Freundschaft ist also sowohl eine eminent pädagogische als auch politische Frage – und damit für Platon ein wichtiges philosophisches Thema. Während nun der Philosophiebegriff im Charmides noch ganz dem sophistischen Sprachgebrauch verhaftet ist und in der Einleitungsszene nur wie ein Accessoire im Bühnenbild zur Charakterisierung des sophistischen Milieus dient, kommt ihm im Lysis eine herausragende inhaltliche Rolle zu. Dabei erfährt er fast unmerklich eine entscheidende Umdeutung,316 ausgehend vom landläufigen, umgangssprachlichen Verständnis, wonach einzelne Menschen sich vor anderen durch besonders viel Wissen auszeichnen, (Ly. 212d) hin zu einer terminologisch bewussten und anthropologisch begründeten Neubestimmung des Philosophierens, wonach der Mensch in seinem Streben nach Einsicht in das Gute zwischen Weisheit und Unverstand steht. Jeder Mensch ist seiner kognitiven und moralischen Veranlagung nach ein Zwischenwesen, ein metaxy. (Ly. 217e, 220d) Diese Zwischenstellung des Menschen begründet nicht nur seine Liebe zur Weisheit, sondern auch seine Fähigkeit zur Freundschaft. Obwohl das Gespräch über die Freundschaft im Lysis zunächst in die Aporie führt, entwickelt sich durch das gemeinsame Philosophieren zwischen Sokrates, 316 Zu der für Platon bezeichnenden Praxis der Transformation von umgangssprachlichen Ausdrücken und Fachbegriffen, insbesondere mit Blick auf den Philosophiebegriff, vgl. Schäfer, Manische Distanzierung, 409 – 434.
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Der philosophische Eros
Lysis und Menexenos eine freundschaftliche Beziehung. (Ly. 223b) Das ist ein deutlicher dramaturgischer Hinweis dafür, in welcher Richtung die Auflösung der Freundschaftsaporien zu suchen ist. Die gelingenden und misslingenden zwischenmenschlichen Beziehungen im Lysis geben den Hintergrundkommentar ab zu den Argumenten, die im Vordergrund der Untersuchung stehen. Es wird sich zeigen, dass allein die Liebe zum Wissen unter Freunden des Wissens, die miteinander philosophieren, dauerhaft Freundschaft zu stiften vermag.
1.1.
Dem Einsichtigen sind alle freund
Sokrates wird auf dem Weg von der Akademie zum Lykeion von zwei Jugendlichen angesprochen: Hippothales, der ihm bekannt, aber nicht näher vertraut ist, und Ktesippos, der zum engeren Freundeskreis von Sokrates gehört, wie der Leser schon aus dem Euthydemos weiß. Auch im Phaidon ist Ktesippos unter den Freunden, die Sokrates im Gefängnis besuchen und in der Todesstunde bei ihm sind. Hippothales drängt Sokrates, mit ihnen in die nahe gelegene palaistra zu kommen, weil er seinen Liebling, den Knaben Lysis, Sokrates vorstellen möchte. Denn obwohl Hippothales täglich Lobeshymnen auf den jungen Lysis und dessen edle Herkunft, schöne Gestalt und große Begabung singt, kommt er mit seiner Werbung nicht zum Ziel. Er möchte nun von Sokrates, dem »Fachmann« für Liebessachen, der sofort einen Liebenden und Geliebten erkennt (cm_mai 1q_mt² te ja· 1q¾lemom, Ly. 204c), wissen, wie man bei seinem Liebling beliebt wird (pqosvikµr … c´moito %m, Ly. 206c) und was man tun und sagen soll, um jemanden zum Freund zu gewinnen. Damit ist das Thema des Dialogs, die Frage nach der philia eingeführt.317 Sokrates weiß, dass das keine Sache vordergrün317 Das Liebeswerben von Hippothales um Lysis entspricht ganz der klassischen, päderastischen Konvention und war innerhalb festgelegter Grenzen gesellschaftlich akzeptiert. Der Liebhaber (1qast¶r, Ly. 205a) wirbt als der Ältere und Erfahrene um die Gunst des jüngeren Lieblings (1q¾lemor, paidij², Ly. 204c, d, 205a) und führt diesen in das Erwachsenenleben ein. Es gehört durchaus zum guten Ton, dass sich der Jüngere, hier Lysis, gegenüber dem Liebeswerben des Älteren, hier Hippothales, zunächst gleichgültig oder ablehnend verhält. Die Rollen sind klar verteilt. Dem einseitigen Begehren, dem Eros des Erasten, entspricht umgekehrt die Freundschaft, die philia, die den Knaben an den erfahrenen Mann bindet. »Für das Verhältnis selbst ist, sofern es ›rechtmäßig‹ sein soll, gefordert, daß es beim Älteren auf eros beruht und nicht nur auf epithymia (d. h. dem Trieb nach sexueller Befriedigung) … Ein solcher eros ist immer verbunden mit der Neigung voll unbegrenzten Wohlwollens und Wohltuns dem Partner gegenüber und mit dem Wunsch, dass eben diese Neigung vom anderen erwidert werde. Eine solche Neigung auf Gegenseitigkeit heißt griechisch philia als Gefühl enger Zusammengehörigkeit … Erst diese gegenseitige philia begründet in der Knabenliebe das feste rechtmäßige Verhältnis zwischen beiden Partnern … das in der philia enthaltene gegenseitige Wohlwollen und Wohltun konkretisiert sich beim Älteren in jeglicher Förderung des Jüngeren, besonders in der Pflege und Vervollkommnung der in
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diger Verhaltensweisen und Floskeln ist, aber er will versuchen, im Vollzug zu zeigen (1pide?nai), wie man sich mit einem Freund unterreden soll (diak´ceshai). (Ebd.) In der palaistra treffen sie auf den Knaben Menexenos, der mit Ktesippos verwandt und auch mit Sokrates vertraut ist. Da Menexenos zugleich ein Gefährte von Lysis ist, können sie wie zufällig auch mit dem von Hippothales bewunderten Knaben ins Gespräch kommen. Und in der Tat ist Lysis nicht nur seiner äußeren Gestalt nach schön und edel (jak¹r te j!cahºr, Ly. 207a), sondern zeichnet sich auch durch seine Wissbegier und Lust an Gesprächen aus (vik¶joor, Ly. 206c). So dauert es nicht lange, bis er hinzukommt und Sokrates ihn in ein Gespräch verwickeln kann. In dieser dichten Einleitungsszene werden nicht nur alle Dialogfiguren in ihrem vielfältigen Beziehungsgeflecht eingeführt, es klingen auch die unterschiedlichen Bedeutungsvarianten der Wortfamilie philos, philia, philein an. Die daraus resultierenden semantischen und syntaktischen Unklarheiten sind Gegenstand der ersten Gesprächsrunde mit Lysis (Ly. 207d – 211c) und der zweiten mit Menexenos (Ly. 211d – 213d). Das Gespräch nimmt von der Frage nach dem Nutzen von Freundschaft seinen Ausgang (Lysis). Anschließend wird die Frage reflektiert, was wir genau meinen, wenn wir sagen, dass jemand jemandes freund ist, auf wen sich das Prädikat »ist freund« (v¸kor) eigentlich bezieht. Dahinter steckt das Problem, ob Freundschaft notwendig Wechselseitigkeit zur Voraussetzung hat oder auch einseitig sein kann (Menexenos). Die dritte Gesprächsrunde (Lysis und Menexenos) reflektiert die Bedingungen und Möglichkeiten von Freundschaft und ihre Motivation, sei es unter Gleichen oder Ungleichen, unter Guten oder Schlechten. (Ly. 213e – 216e) Und schließlich wird das Verständnis von Freundschaft/Wertschätzung (vik¸a, v¸kor, vike?m) in Beziehung gesetzt zu verwandten Wortfeldern wie Lieben (1q÷m) und Begehren (1pihule?m). (Ly. 217a – 222a) Das erste Gespräch zwischen Sokrates und Lysis (Ly. 207d – 210e) setzt bei der verwandtschaftlichen philia ein, insbesondere der Liebe der Eltern zu den Kindern. Obwohl Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind, setzen sie ihnen enge Grenzen, weil Kinder oft kindische oder gar schädliche Wünsche haben und nicht wissen, was wirklich gut für sie ist. Denn es fehlt ihnen in vielen ihm angelegten, bereits sichtbaren und zusammen mit seiner Körperschönheit vom Erastes geliebten geistigen und sittlichen Vorzüglichkeit … Beim Jüngeren ist diese philia getragen von der Anerkennung dieser liebenden Fürsorge des älteren Freundes durch ein Gefühl der Dankbarkeit und der Bewunderung für ihn als männliches Vorbild, das die Rolle des Erastes immer fordert.« (Patzer, Die griechische Knabenliebe, 46 f.) Das erotische Bemühen von Hippothales um Lysis in der Hoffnung auf dessen freundschaftliche Zuwendung (pqosvik¶r) vollzieht sich also ganz im konventionellen Rahmen. Das Problem entsteht für Hippothales allein dadurch, dass Lysis durch seine fehlende Bereitschaft, sich auf ihn einzulassen, signalisiert, dass er ihn nicht als Vorbild, als kalos kagathos, akzeptiert und ihm deswegen die Freundschaft versagt.
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Der philosophische Eros
Bereichen noch die nötige Einsicht. Wer dagegen schon verständig ist und eine Sache richtig versteht (aqh_r vqome?m, Ly. 210a), dem wird nicht nur im Privaten freie Hand gelassen, sondern er wird auch mit den Angelegenheiten anderer betraut, in der häuslichen Verwaltung ebenso wie in der Politik. (Ly. 209d f.) »Wenn du also einsichtig geworden bist (sov¹r c´m,), mein Sohn, werden dir alle freund und alle dir angehörig sein (p²mter soi v¸koi ja· p²mter soi oQje?oi 5somtai) – denn du wirst nützlich und gut sein (wq¶silor c±q ja· !cah¹r 5sei) – wenn aber nicht, werden dir weder irgendein anderer noch dein Vater oder deine Mutter oder deine Angehörigen freund sein. Ist es also möglich, auf die Dinge stolz zu sein, Lysis, auf die man sich noch nicht versteht?« (Ly. 210d, Üb. Bordt) Hier wird die Wertschätzung der Güter, die Lysis durch Herkunft und Veranlagung besitzt, in Schranken gewiesen, denn sie sind nichts wert, wenn sie nicht mit Verstand genutzt werden. Sie haben, anders als die Einsicht, keinen intrinsischen Wert und machen allein nicht glücklich.318 Nur ihr vernünftiger Gebrauch gewährleistet ihren Nutzen.319 Sokrates wird diese These später durch die handlungstheoretische Unterscheidung von Mittel, Zwecken und Endzweck argumentativ untermauern. Erst vom eigentlichen und letzten Strebensziel her bekommen die einzelnen Handlungsschritte und gewählten Mittel ihre Eignung, sind sie gut und erstrebenswert und also philon. Dafür ist Einsicht in die Zusammenhänge und vor allem in das letzte Strebensziel nötig. Nur so ist die Eudaimonie, das umfassende Glück, das alle Eltern ihren Kindern wünschen, gewährleistet. Die protreptische Absicht dieser ersten Gesprächsrunde besteht darin, die überragende Bedeutung von Wissen beziehungsweise Einsicht bewusst zu machen.320 Sie ist die Tugend und das Gut, das vor allen anderen Gütern schät318 Penner und Rowe argumentieren in Anlehnung an den Euthydemos dafür, dass Wissen im Lysis intrinsischen Wert hat, weil ohne Wissen das Glück nicht realisierbar ist. »Socrates’ aim in introducing knowledge as the good is meant to drop (further) hints, especially to Lysis, of the idea that knowledge may well be the first friend that we are seeking.« (Penner/ Rowe, Plato’s Lysis, 275) Zur Güterlehre im Euthydemos und der sophia als dem einzigen intrinsischen Gut siehe S. 70 – 72. 319 In einem einflussreichen Aufsatz hat Vlastos, The Individual as Object of Love in Plato, den Vorwurf eines egoistischen Nutzens in der Philiakonzeption von Sokrates erhoben und einer radikal altruistischen, aristotelisch-kantianischen Freundschaftskonzeption gegenübergestellt. Gegen Vlastos wurde eingewandt, dass der Lysis durch die Alternative »egoistisch-altruistisch« nicht angemessen verstanden werden kann (Bordt, Platon: Lysis, 136 – 140), oder jegliches Begehren aufgrund einer hierarchischen Teleologie ein Begehren nach dem je eigenen Gut und grundsätzlich selbstbezüglich ist (Penner/Rowe, a. a. O., 211 – 214). Die Argumente, die gegen Vlastos vorgetragen werden, ergänzen sich, wenn das je eigene Gut auch das Gut des Anderen ist. Die Begründung dafür liegt im Verständnis dessen, was Sokrates das »erste Geliebte« nennt, das proton philon, das den letzten Zielpunkt allen Strebens darstellt. Siehe a. Anm. 326 und S. 260 f. 320 Dabei werden 1p¸stashai (Ly. 209c2, d3), sov¹r cem´shai (Ly. 210a6, 210d1), moOm jt¶sashai (Ly. 210b6) und vqome?m weitgehend synonym gebraucht, (Ly. 209c5; 209d3, 5; 209e2;
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zenswert ist, ein philon, von dem her sich sogar bestimmt, was und wer einem auch unabhängig von familiären Banden nahe steht und zugehört (oQje?om). Damit wird das erst zum Schluss des Dialogs eingeführte Angehörige (oQje?om) antizipiert, welches die Beziehung des Menschen zu seinem letzten Strebensziel beschreibt. (Ly. 221e f.) Das erste Gespräch zwischen Sokrates und Lysis weitet den Horizont der philia und stellt sie auf die Basis von Wissen und Einsicht. Von Lysis fordert es die Anerkennung der Grenzen seines Wissens. (Ly. 208c) Gleichzeitig hat die Aussicht, dass dem Einsichtigen alle freund sind, weil sie ihn um seiner Einsicht willen schätzen, zur Folge, dass Lysis sich freundschaftlich (vikij_r, Ly. 211a) an Sokrates wendet, da er ihm, dem offensichtlich Verständigeren, vertraut. Durch sein eigenes Verhalten bestätigt Lysis also die These von Sokrates, dass dem Einsichtigen alle freund sind.
1.2.
Der Wissensfreund
Lysis hat seine erste Lektion gelernt, und so wendet sich Sokrates nun an Menexenos, der besonders an Eristik interessiert ist und sich anscheinend etwas auf seine Kenntnisse einbildet. (Ly. 211b) Aber Sokrates führt auch ihn zur Einsicht in sein Ungenügen, indem er ihn in ein eristisches Sprachspiel verwickelt, aus dem der Knabe keinen Ausweg mehr weiß. Dazu legt er ihm die Frage vor : »Wenn jemand jemanden liebt (vik0), wer wird wessen Freund (pºteqor pot´qou v¸kor c¸cmgtai), der Liebende des Geliebten (b vik_m toO vikoul´mou) oder der Geliebte des Liebenden oder unterscheidet es sich in nichts?« (Ly. 212b, Üb. Bordt) Sachlich verbirgt sich dahinter die Frage, ob Freundschaft bzw. Liebe, die philia, eine einseitige Beziehung ist und ob damit etwas über das Subjekt oder das Objekt der Liebe ausgesagt wird, oder beides zugleich, und zwar in dem Sinne, dass beide einander lieb und freund sind (!lvºteqoi %qa !kk¶kym v¸koi c¸cmomtai, ebd). Menexenos antwortet im letzten Sinn, um sogleich zugestehen zu müssen, dass es sehr wohl unerwiderte Liebe gibt. Unausgesprochen steht die Liebe von Hippothales zu Lysis im Hintergrund. Denn da es sich dabei um eine einseitig erotische Zuneigung handelt, ist es fraglich, ob das hinreicht, um Freundschaft zu begründen. Weil Menexenos daran festhält, dass Freundschaft eine wechselseitige Beziehung voraussetzt, folgt daraus, dass bei unerwiderter Liebe bzw. Freundschaft keiner von beiden ein Freund ist (oqd´teqor v¸kor). (Ly. 212d) Doch Sokrates führt Gegenbeispiele für eine einseitige Beziehung an, für die der Grieche dennoch das Wort philos verwendet: 210a4; b1; d4 – 7). Das Gewicht liegt auf vqome?m, was die praktische Einsicht in Handlungszusammenhänge unterstreicht. Es wird aber auch selbstbezüglich verwandt im Sinne von Gesinnung und Selbsterkenntnis.
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Der philosophische Eros
»Also ist nichts dem Liebenden ein Freund, was nicht wiederliebt?« »Offenbar nicht.« »Also sind auch diejenigen keine Pferdefreunde, die von den Pferden nicht wiedergeliebt werden, und keine Wachtelfreunde und auch keine Hundefreunde, Weinfreunde, Sportfreunde und Wissensfreunde321, wenn nicht das Wissen sie wiederliebt. Oder ist es nicht vielmehr so, daß jeder von ihnen diese Dinge zwar liebt, die Dinge ihm jedoch nicht freund sind…« (Oqj %qa 1st·m v_kom t` vikoOmti oqd³m lµ oqj !mtivikoOm. — Oqj 5oijem. — Oqd’ %qa v_kippo_ eQsim otr #m oR Vppoi lµ !mtivik_sim, oqd³ vik|qtucer, oqd’ aw vik|jum]r ce ja· v_koimoi ja· vikoculmasta· ja· vik|sovoi, #m lµ B sov_a aqto»r !mtivik0. C vikoOsi l³m taOta 6jastoi, oq l]mtoi v_ka emta, Ly. 212d f., Üb. nach Bordt)
Unter der Hand hat Sokrates bei diesen Beispielen den Objektbereich verändert. Denn es ist nicht mehr von Personen die Rede, die geliebt werden und wiederlieben können, sondern von Gegenständen wie Pferden und Wein und sogar von Tätigkeiten und Kompetenzen wie Sport und, was für Sokrates das Wichtigste ist, von Wissen. Allen diesen Komposita ist gemein, dass sie ein einseitiges Streben ausdrücken. Dieses richtet sich auf einen Gegenstand, der vom Subjekt als ein erstrebenswertes Gut erachtet wird, ohne dass das Objekt das Streben erwidern kann, weil es nicht über die entsprechende Fähigkeit verfügt, etwas lieben oder erstreben zu können.322 Diese Wortbildungen mit phil- drücken also nicht notwendig eine wechselseitige, personale Beziehung aus, sondern einen intensiven, über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Umgang mit einer Sache oder ein gewohnheitsmäßiges Tun. Auch die Charakterisierung von Lysis als jemand, der es liebt, Gesprächen zuzuhören (vik¶joor, Ly. 206c), gehört in diese Kategorie.323 Ein philo-sophos ist danach ein Freund von Wissen, der sich mehr als üblich und mit einer gewissen Ausschließlichkeit und Regelmäßigkeit um 321 Bordt übersetzt »Weisheitsfreunde«. Aber in diesem Zusammenhang ist nicht Lebensweisheit gemeint, sondern in Analogie zu den anderen Komposita mit phil- die Ansammlung von Sachkenntnissen. In der Politeia verwendet Platon dafür die Bezeichnung vikolah¶r, jemand, der gern und schnell lernt, und sieht darin eine natürliche Voraussetzung für den Philosophen. (R. 475b f., 485d, 490a, 535d) Hier bezeichnet vikºsovor in diesem Sinn schlicht den Wissensfreund, den klugen Kopf und Freund vieler Kenntnisse. Diese konventionelle Wortbedeutung knüpft an das Verständnis von vikºsovor bei Heraklit an. (DK I 22 B 35, s. S. 29) 322 Während den Tieren noch zugestanden werden könnte, dass sie die ihnen entgegengebrachte Zuneigung auf eine ihnen spezifische Weise erwidern (!mtivike?m), weil sie eine Seele besitzen, gilt das nicht für unbeseelte Gegenstände oder seelische Zustände wie Wissen. 323 In R. 475d werden die vik¶jooi bewusst von den vikºsovoi abgegrenzt, weil sie es wie die vikohe²lomer nur auf die äußere Zerstreuung abgesehen haben und ihrer Vergnügungslust nachgehen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Bewertung auch im Lysis mitschwingt. Aber dennoch ist die »Hörbegierde« von Lysis, seine Lust an den Gesprächen der Älteren, hier eher eine Vorstufe zur Philosophie, auf der sich seine Neigung zum selbständigen Denken bereits ankündigt und nur darauf wartet, geweckt zu werden. (Ly. 213d)
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Wissenserwerb bemüht und das mit Erfolg. Denn niemand wird von einem Sportfreund sprechen, wenn dieser nicht sportlich ist, und von einem Pferdefreund, wenn er keine Pferde besitzt, züchtet oder erfolgreich reitet. Auch der Weinfreund sitzt nicht vor einem leeren Becher. Ein »Freund von Wissen« oder »Wissensfreund« ist also nach dem umgangssprachlichen Verständnis der Komposita mit dem Präfix »phil-« jemand, der viel weiß, sich aber zugleich nicht mit dem Gewussten begnügt, sondern seinen Wissenshorizont beständig zu erweitern sucht. Mit dieser sprachlichen Bestimmung knüpft Sokrates an das protreptische Gespräch mit Lysis an, in dem er ihm verdeutlicht hatte, dass Wissen und Einsicht über alle anderen Güter zu schätzen sind. Er ermuntert damit ihn und nun auch Menexenos, selbst ein »Wissensfreund« zu werden. Sokrates gewinnt in dieser Argumentation die Zustimmung dafür, dass Freundschaft nicht notwendig wechselseitig begründet ist, sondern auf einer einseitigen Intention beruht, einem Streben nach etwas, das berechtigter- oder fälschlicherweise für ein Gut gehalten wird. Dieses Gut, sei es ein Mensch, eine Sache oder Tätigkeit, ist für denjenigen, der es erstrebt, erstrebens- und schätzenswert und deswegen ein v¸kom. Aber es taucht das Problem auf, dass das philon, dem die Freundschaft gilt, in Fällen wechselseitiger menschlicher Beziehung die ihm entgegengebrachte Wertschätzung gelegentlich nicht nur nicht erwidert, sondern ihr sogar mit Hass begegnet. Kann man dann noch sagen, jemand sei einem freund, nämlich lieb und wert und geschätzt, wenn er einen hasst? Oder schließt sich das nicht aus, weil man nicht erstreben kann, was einem feindlich ist und folglich schadet? »Und doch glaube ich, mein lieber Freund, daß es eine große Ungereimtheit ist (pokkµ !koc¸a), mehr sogar noch, unmöglich (!d¼matom), dem Freund ein Feind und dem Feind ein Freund zu sein.« (Ly. 213b, Üb. Bordt) Sodann wird die Argumentation in umgekehrter Richtung, also antithetisch für den Fall durchgespielt, dass das Prädikat philos sich nur auf das Subjekt bezieht. Aber auch da ergibt sich die gleiche Problematik, dass von dem Subjekt zwar gesagt werden kann, es sei ein Freund des Geliebten. Aber für den Fall, dass der Geliebte den Liebenden hasst, folgt daraus wieder, dass der Liebende ein Freund seines Feindes ist. Womit das gleiche Dilemma wie zuvor gegeben ist. Also, so folgert Sokrates, kann man in keinem dieser Fälle sagen, dass jemand philos ist, weder der Liebende noch der Geliebte noch die wechselseitig zugleich Liebenden und Geliebten – woraufhin Menexenos völlig ratlos ist und eingesteht, dass er nicht weiß, was es heißt, dass jemand jemandem freund ist. (Ly. 213c) Über den Sinn dieser verwirrenden Argumentation sind ganz unterschiedliche Meinungen vorgetragen worden, nicht selten vermischt mit einer Portion Ratlosigkeit auch auf Seiten der Interpreten.324 Doch die unmittelbare drama324 Schulz nimmt gezielte Mehrdeutigkeit zum Zweck der Unterscheidung einer philia im Sinn
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turgische Wirkung, die sich jedem Leser mitteilt, besteht in der Identifikation mit Lysis. Dieser hatte der Unterredung aufmerksam zugehört und stimmt spontan zu, als Sokrates andeutet, dass sie ihre Untersuchung vielleicht nicht richtig angelegt haben. (Ly. 213d) Es wird nicht deutlich, ob Sokrates diese Selbstkritik auf die Vermengung syntaktischer und semantischer Fragestellungen bezieht,325 oder ob er in Zweifel zieht, dass sie auf der Ebene der Sprachanalyse einer Antwort näher kommen. (Ly. 212c) Wir wissen auch nicht, wo die Kritik von Lysis ansetzt und welche Idee er zur Lösung der Aporien verfolgen würde. Indem Platon dem Leser eine Antwort darauf vorenthält, fordert er ihn allerdings dazu auf, selbst die Antwort zu suchen. Nur so viel ist deutlich: Wer wie Lysis Einspruch erhebt, bezeugt dadurch, dass er ein Freund von Wissen ist, ein philosophos, weil er sich mit Widersprüchen und Ratlosigkeiten nicht vorschnell zufrieden gibt. Sokrates jedenfalls wertet den spontanen Einwurf von Lysis als Zeichen seiner philosophischen Begabung und Leidenschaft und freut sich darüber :326 des »Mögens von jemandem/etwas« und im Sinn gegenseitiger Freundschaft an. Dabei beinhaltet der Gebrauch des Substantivs »Freund« gegenseitige Wertschätzung und bezieht sich ausschließlich auf Personen, während das Adjektiv in seiner aktiven oder passiven Bedeutung, gleichermaßen auf Personen wie Sachen bezogen, »geliebt« oder »geschätzt« meint. (Schulz, Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles, 32 f.) Price vermutet hinter der verwirrenden Vermischung von drei Bedeutungen (1. zur Bezeichnung eines reziproken Verhältnisses im Sinn von »friend« – »Freund«, 2. als Neutrum passiv im Sinn von »dear« – »lieb, wertgeschätzt« und 3. als Maskulin aktiv im Sinn von »fond« – »verliebt«) den Hinweis darauf, dass Platon gar nicht auf eine Nominaldefinition hinaus will, sondern ihm viel mehr an einer Realdefinition der Natur von Freundschaft gelegen ist und er nach Gründen für Freundschaft fragt. (Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, 4) Bordt betont, dass es sehr wohl für jeden der drei Fälle Anwendungsbeispiele gibt, in denen es berechtigt ist, von jemandem oder etwas zu sagen, dass er oder es philos ist (1. A liebt B; 2. B wird von A geliebt; 3. A liebt B und wird von B wiedergeliebt). Das Problem sieht Bordt darin, dass diese Unterscheidung zwar logisch vollständig ist, aber nicht ausschließlich, also nicht nur entweder (1) oder (2) oder (3) gilt. (Bordt, Platon – Lysis, 152 f.) Penner und Rowe unterstreichen dagegen, dass eine universale Lösung gesucht wird, die für alle Fälle von Freundschaft gilt, für das grammatische Subjekt wie für das Objekt, unabhängig von der Frage nach Wechselseitigkeit. Sie verweisen darum auf das erste Geliebte, das proton philon, das hinter allen Handlungen steht und sie motiviert und von dem es allein berechtigt ist zu sagen, dass es philon ist. (Penner/Rowe, Plato’s Lysis, 52 – 56, 60) 325 Philos in der aktiven oder passiven Bedeutung als Liebender oder Geliebter und in der Funktion des Substantivs »Freund« oder Prädikatsnomens »ist freund«. Zur näheren Analyse siehe Bordt, a. a. O., 153 – 157. 326 Dass Sokrates sich über die Reaktion von Lysis schlichtweg freut und mit ihm das Gespräch weiterführen möchte, zeigt, dass keine utilitaristische Absicht hinter dem Verhalten von Sokrates steht, wie es Vlastos, The Individual as Object of Love in Plato, unterstellt. Vielmehr erwächst die freundschaftliche Zuwendung aus der Freude an der seelischen Schönheit von Lysis, (Ly. 216c) an seinem philosophischen Interesse. Das lässt sich mit den von Vlastos zugrunde gelegten Kategorien von Egoismus und Altruismus gar nicht angemessen verstehen.
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Ich nun, weil ich Menexenos ausruhen lassen wollte und mich über die philosophische Neigung von jenem freute, wandte mich daraufhin Lysis zu, um mit ihm das Gespräch zu führen … (9c½ owm bouk|lemor t|m te Lem]nemom !mapaOsai ja· 1je_mou Bshe·r t0 vikosov_ô, ovty letabak½m pq¹r t¹m K}sim 1poio}lgm to»r k|cour, Ly. 213d, Üb. Bordt)
Der Ausdruck »Philosophie« oder »philosophische Neigung« meint hier ein lebhaftes Interesse an den zur Diskussion stehenden Fragen und an der Stimmigkeit der Antworten, eine Lust am Nachdenken, eine Geisteshaltung. Dafür ist es nicht ausschlaggebend, dass man die »richtigen Antworten« kennt und Probleme gleich durchschaut, das ist von einem Knaben auch nicht zu erwarten, sondern dass man von den Fragen fasziniert ist und so sehr hingerissen, dass man sich darüber sogar selbst vergessen kann. Lysis ist derart begeistert bei der Sache, dass er seine übliche Zurückhaltung vergisst und seine Einwände und Ideen zum Gespräch beitragen möchte. So wird aus jemandem, der es liebt, Gesprächen zuzuhören (vik¶joor, Ly. 206c), ein »Freund von Wissen«, ein Philosoph, der im Mitdenken selbständig denken lernt. Nicht, was er schon weiß, ist ausschlaggebend, sondern was er sucht und erstrebt. Damit knüpft das Verständnis von »Philosophie« in Ly. 213d einerseits an das umgangssprachliche Verständnis der Komposita mit »phil-« in Ly. 212d an, indem es die leidenschaftliche Hingerissenheit betont. Andererseits aber unterscheidet es sich auch, indem hier nicht vorausgesetzt wird, dass ein Freund von Wissen bereits im Besitz des Wissens ist, wie der Pferdefreund seine Pferde besitzt oder der Weinfreund den Wein genießt, sondern dass er verstehen will, was er nicht weiß und was ihm mangelt. Damit wird der Brückenschlag zum genuin neuen Verständnis von philosophieren in Ly. 218a f. vorbereitet. Denn dort wird gezeigt, dass weder die Wissenden (sovo¸) philosophieren noch derjenige, der unwissend ist (!lah/), sondern wer – wie Lysis – um seine Unwissenheit weiß, aber eine Ahnung davon hat, in welche Richtung er weiterfragen und suchen muss.
1.3.
Die Weder-Wissenden-noch-Unwissenden sind der Weisheit freund
Sokrates aber signalisiert seinem jungen Freund, dass sie den eingeschlagenen Weg nicht weiter verfolgen sollten, weil er in die Irre führt. Das deutet darauf hin, dass er sich von einer logischen Sprachanalyse, wie sie eben durchgeführt wurde, nicht allzu viel verspricht. Zwar werden die Bedeutungsunterschiede von philos und die verschiedenen Anwendungsfälle hoffentlich klarer sein, aber sie tragen nicht wesentlich zur Klärung der Ausgangsfrage bei, wie jemand der Freund eines anderen wird. Das ist vielmehr eine Frage nach den Gründen von Freundschaft.
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Für einen ersten möglichen Grund beruft sich Sokrates auf die Tradition, auf weise und sehr kluge Leute (pat´qer t/r sov¸ar ; t_m sovyt²tym, Ly. 214a f.), die behaupten, dass Gott Gleiches mit Gleichem zusammenführt. Freundschaft liegt danach in der Natur der Menschen oder Dinge begründet. Sie gehorcht einer göttlichen Fügung oder Gesetzmäßigkeit, wonach das Gleiche notwendig dem Gleichen freund ist (t¹ blo?om t` blo¸\ !m²cjg !e· v¸kom eWmai, Ly. 214b).327 Diese Gleichheitsthese wird allerdings sofort differenziert und eingeschränkt. Sie könne nicht für schlechte Menschen gelten, weil zum einen die Schlechtigkeit der Schlechten sich auch gegen die Schlechten wendet, und zum anderen ein schlechter Mensch sich sogar selbst ungleich ist und innerlich zerrissen (d d³ aqt¹ art` !mºloiom eUg ja· di²voqom, Ly. 214d), weswegen die eigene Unstetheit der Freundschaftsfähigkeit entgegensteht. Freundschaftsfähig wären demzufolge nur gute Menschen, weil die Schlechten von der Gleichheitsthese ausgenommen bleiben. Doch auch die These, dass die guten Menschen einander freund sind, weil sie einander gleichen, bringt Probleme mit sich. Denn weil sich die Guten gleichen, haben sie sich gegenseitig nichts Gutes voraus und somit keinen Nutzen von der Freundschaft. Daraus folgert Sokrates, dass sie einander auch nicht wertschätzen (p_r #m rp’ !kk¶kym !capghe¸g, Ly. 215a) und die Gleichheit als Grund für Freundschaft ausscheidet. Dieses Argument versteht Nutzen im Sinn von Vorteil und Mehrwert gegenüber dem, was man selbst besitzt, kann oder tut. Während unter Gleichen kein Mehrwert gegeben ist, könnte man allerdings ihn unter Ungleichen erwarten. Das wird später als Ungleichheitsthese diskutiert werden. Zuvor jedoch reflektiert Sokrates noch die Möglichkeit, dass die Gleichheitsthese gar nicht auf die Gleichheit als Grund für Freundschaft abhebt, sondern auf das Gutsein, worin sich die Guten gleichen. Der entscheidende Einwand gegen die Gutheitsthese geht in eine ähnliche Richtung wie bei der Gleichheitsthese: dass der Gute sich selbst genügt und nichts bedarf. (Ly. 215a) Er zieht keinen Nutzen im Sinn eines Mehrwertes aus der Beziehung zu einem anderen und sehnt sich nach niemandem. Er wird, so folgert Sokrates, deswegen auch niemanden wertschätzen und ihm auch nicht freund sein. Relationalität, wie sie bei Freundschaft vorausgesetzt wird und sich in der Sehnsucht als einer Strebekraft der Seele äußert, lässt sich nicht dadurch begründen, dass das Subjekt gut ist.328 Dabei spricht nicht das Gutsein an sich gegen die Freundschaft, 327 Zum floiom-blo¸\-Prinzip, insbesondere auch zur Begründung der Freundschaft bei den Vorsokratikern und zur Reflexion des Prinzips bei Platon, siehe C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 155 – 167 u. 174 – 193. 328 Die Sehnsucht nach dem Freund, sei er nun abwesend (!pºmter) oder anwesend (paqºmter), (Ly. 215b) antizipiert die Stelle paq_m ja· !p_m lelmgl´mor in Smp. 209c, in der deutlich wird, dass Liebe und Begehren ihren Grund in der Begegnung mit einer Schönheit haben, die nicht im Subjekt, sondern im Objekt der Liebe in Erscheinung tritt.
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sondern die Autarkie des Guten, die Unbedürftigkeit des Subjekts. Das ist ein erster Hinweis auf die Bedürftigkeit des Subjekts als Grund für Freundschaft, die in der weiteren Diskussion des Freundschafts- und Philosophiebegriffs eine wichtige Rolle spielen wird. (Ly. 217a, 220d, 221d f.) Weil nun die Gleichheit keine Freundschaft begründet, weder bei den Guten noch bei den Schlechten, steht die Antithese zur Diskussion, dass das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten am meisten freund ist (t¹ c±q 1mamti¾tatom t` 1mamtiyt²t` eWmai l²kista v¸kom, Ly. 215e). Diese Ungleichheitsthese setzt eine Güterdifferenz voraus. Denn der Arme sucht aufgrund seiner Armut die Freundschaft des Reichen. Aus dem gleichen Grund schätzt der Unwissende den Wissenden und ist ihm freund (t¹m lµ eQdºta !cap÷m t¹m eQdºta ja· vike?m, Ly. 215d). Doch Sokrates führt gegen die Ungleichheitsthese ins Feld, dass Feindschaft und Freundschaft, gut und schlecht stärkste Gegensätze sind, die sich gegenseitig ausschließen und deswegen keine Freundschaft begründen können. Die Ungleichheitsthese wird darum ebenso verworfen wie die Gleichheitsthese. Doch genau genommen steht nicht die Ungleichheit im Widerspruch zur Freundschaft, sondern die Unvereinbarkeit von Gegensätzen, die stärkste Form der Ungleichheit. Ungleichheit ist durchaus mit Freundschaft vereinbar, wenn sie diese auch nicht direkt begründet. Der eigentliche Grund für Freundschaft liegt vielmehr in der Bedürftigkeit der einen und dem Reichtum der anderen Seite, oder bildlich ausgedrückt: in der intentionalen Spannung zwischen dem Leeren (t¹ j´mom) und dem Vollen (t¹ pk/qer, Ly. 215e). Allerdings begründet das nur einseitige Freundschaft, nicht wechselseitige. Diese einseitig intentionale Struktur wird als Begehren (1pihule?m, ebd.) bezeichnet. Phänomenal führt das Begehren zu Zwischenstufen zwischen den sich ausschließenden Gegensätzen, zwischen dem Leeren und Vollen, dem Unwissenden und Wissenden. Es leitet damit zu der dritten Begründungsmöglichkeit von Freundschaft über, dem Weder-Noch als einer schwächeren Variante der Ungleichheitsthese. Die Gleichheitsthese »Nur Gute können einander freund sein« wie auch die Ungleichheitsthese »Nur Schlechte können den Guten freund sein« werden in ihrer starken Form verworfen. Aber Sokrates bringt noch die Möglichkeit in Spiel, dass das Weder-Gute-noch-Schlechte dem Guten freund werden kann (T` !cah` %qa t¹ l¶te !cah¹m l¶te jaj¹m … c¸cmeshai v¸kom, Ly. 216e f.). In ihr verbinden sich die Ungleichheitsthese und Gutheitsthese in einer schwachen Form. Durch die Einführung eines »Weder-Noch« entsteht ein gradueller Unterschied unter Ausschluss des Schlechten, das, wie gezeigt, aufgrund seiner Instabilität grundsätzlich freundschaftsunfähig ist. Dadurch wird das einseitig intentionale Spannungsverhältnis zwischen dem Weder-gut-noch-Schlechten und dem Guten begründet, aber das Problem der unvereinbaren Gegensätze eliminiert. Das Weder-gut-noch-Schlechte steht als eine dritte Gattung zwischen
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den Polen, der Gattung des Guten und der des Schlechten, (Ly. 216d) und hat an den jeweiligen Eigenschaften akzidentiell teil. Es ist weder gänzlich gut noch schlecht. Es kann sich jedoch den Polen soweit annähern, dass es in sie umschlägt und die jeweilige Eigenschaft annimmt. Für alles jedoch, was weiterhin dem Zwischenstatus angehört, bleibt die Situation offen. Es ist fähig zur Freundschaft mit dem Guten, gerade weil es selbst noch nicht gut ist. Sokrates erläutert diesen Zwischenstatus des Weder-Noch auch mit Blick auf die Gutheit der Seele, um die Knaben zur Selbsterkenntnis zu führen und zur Philosophie zu ermuntern. Denn weder streben diejenigen nach Wissen, die bereits Wissende sind, noch diejenigen, bei denen schon alle Hoffnung verloren ist, dass sie sich jemals dem Wissen zuwenden werden. Freunde von Wissen, Philosophen, sind nur diejenigen zwischen diesen extremen Polen, die WederWissenden-noch-Unwissenden. Zu ihnen zählt Sokrates sich selbst und möchte auch die Knaben dazu ermuntern. Deswegen werden wir ja wohl auch sagen können, daß diejenigen, die schon weise sind, nicht mehr nach Weisheit streben, mögen diese Götter oder Menschen sein, und daß auch diejenigen nicht nach Weisheit streben [d.h. philosophieren], die die Unwissenheit so sehr an sich haben, daß sie schlecht sind: Denn keiner, der schlecht und ignorant ist, strebt nach Weisheit. Es bleiben also diejenigen übrig, die zwar dieses Schlechte haben, die Unwissenheit, die aber noch nicht unter ihrer Einwirkung unwissend oder ignorant geworden sind, sondern noch glauben, nicht zu wissen, was sie nicht wissen. Deswegen streben ja auch diejenigen nach Weisheit, die weder gut noch schlecht sind; aber alle, die schlecht sind, streben ebensowenig nach Weisheit wie die Guten. Denn es zeigte sich uns ja in den vorherigen Erörterungen, daß weder das Entgegengesetzte dem Entgegengesetzten, noch das Gleiche dem Gleichen freund ist. (Di± taOta dµ va?lem #m ja· to»r Edg sovo»r lgj]ti vikosove?m, eUte heo· eUte %mhqypo_ eQsim oxtoi· oqd’ aw 1je_mour vikosove?m to»r ovtyr %cmoiam 5womtar ¦ste jajo»r eWmai· jaj¹m c±q ja· !lah/ oqd]ma vikosove?m. ke_pomtai dµ oR 5womter l³m t¹ jaj¹m toOto, tµm %cmoiam, l^py d³ rp’ aqtoO emter !cm~lomer lgd³ !lahe?r, !kk’ 5ti Bco}lemoi lµ eQd]mai $ lµ Usasim. di¹ dµ ja· vikosovoOsim oR oute !caho· oute jajo_ py emter7 fsoi d³ jajo·, oq vikosovoOsim, oqd³ oR !caho_· oute c±q t¹ 1mamt_om toO 1mamt_ou oute t¹ floiom toO blo_ou v_kom Bl?m 1v\mg 1m to?r 5lpqoshem k|coir. Ly. 218a f., Üb. Bordt)
Das Wissen, von dem Sokrates hier spricht, übersteigt das spezifische Fachwissen, das im ersten Gespräch mit Lysis eine Rolle spielte, (Ly. 210a, d) nicht nur graduell, sondern substantiell. Denn die Wissenden, die sophoi, sind hier nicht mehr Fachleute, sondern Götter und solche Menschen, die sich bereits so weit dem göttlichen Wissen angenähert haben, dass sie unumkehrbar daran teilhaben und diesbezüglich gottähnlich geworden sind.329 Ihr Wissen ist zu Weisheit geworden, weil es in sich und unter allen Umständen gut ist. So wie 329 Vgl. dazu die berühmte Parallelstelle aus dem Geburtsmythos des Eros und dessen Deutung in Smp. 204a.
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umgekehrt die Unwissenheit unter allen Umständen schlecht ist und alles verdirbt, was in Unwissenheit betrieben wird. Zwischen den sich ausschließenden Gegensätzen Weisheit und Unwissenheit, zwischen gut und schlecht, stehen die Philosophierenden. Ihr Kennzeichen ist das einseitig intentionale Streben nach Wissen und Weisheit, weil sie schon so viel wissen, dass sie es nicht besitzen und doch dem Wissen freund sind. Damit unterscheiden sich die Philosophierenden nunmehr fundamental von den Sportfreunden und Pferdefreunden, Weinfreunden und auch den »alten« philosophoi, den Wissensfreunden (Ly. 212d), die sich allesamt an ihrem Besitz freuen können und auf ihre Kompetenzen stolz sind. Unter der Hand ist aus dem Besitzenden ein Bedürftiger geworden, der aber nichtsdestotrotz mit Leidenschaft nach dem strebt, was er begehrt und was ihm fehlt: ein Wissen, das in sich gut und also Weisheit ist. Platon hat hier in meisterhafter Weise einen umgangssprachlichen Begriff aufgegriffen und umgedeutet, ihm beinah unmerklich mit großer Selbstverständlichkeit einen neuen Bedeutungsgehalt gegeben, der für seine eigene Philosophie inhaltlich zentral ist und für die Philosophiegeschichte wegweisend bleiben wird: Das Wissen des Philosophen, des Weder-Wissenden-noch-Unwissenden, besteht vorrangig in der Selbsterkenntnis, dass er das Wissen, das er begehrt, nicht besitzt, dass er aber nichtsdestotrotz danach streben muss, weil dieses Wissen seinem Wesen nach, und das heißt unter allen Umständen, gut ist.330
1.4.
Philosophie und Freundschaft
Es scheint, als hätten Sokrates und seine jungen Freunde eine befriedigende Begründung für Freundschaft gefunden: Nur das Weder-schlecht-noch-Gute ist wegen der Anwesenheit von etwas Schlechtem (di± jajoO paqous¸am) dem Guten freund. (Ly. 218c) Aber Sokrates problematisiert diese Begründung noch einmal, indem er zwischen Wirk- und Zweckursache unterscheidet. Jemand ist jemandem oder etwas freund wegen etwas (di² ti), zum Beispiel wegen der Unwissenheit, und um einer Sache willen (6mej² tou), wie der Weisheit. (Ly. 218d) Dabei ergeben sich zwei Probleme: Das erste Problem entsteht, wenn das Erstrebte nicht um seiner selbst willen gut und erstrebenswert ist, sondern nur ein geeignetes Mittel in einer Mittel-Zweck-Relation. Diese ließe sich bis ins Unendliche fortsetzen, wenn das Streben nicht auf einen Endzeck zuliefe, »auf jenes, welches erstlich freund ist, um dessentwillen wir auch von allem anderen sagen, dass es uns freund ist« (1p’ 1je?mo f 1stim pq_tom v¸kom, ox 5meja ja· t± 330 Schäfer spricht mit Blick auf diesen Philosophiebegriff treffend von Platons »terminologiekritisch-terminologiebildender Methode«. (Schäfer, Manische Distanzierung, 410)
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Der philosophische Eros
%kka val³m p²mta v¸ka eWmai, Ly. 219c f., Üb. Bordt). Dieses proton philon, das erste Geliebte, ist in Wahrheit das Befreundete und Erstrebte (¢r !kgh_r 1sti v¸kom, Ly. 219d) und intrinsisch gut, während alle anderen sogenannten Güter im besten Fall nur Mittel sind, die zu ihm hinführen. Das zweite Problem entsteht dadurch, dass dieses proton philon von einer schlechten Ursache abhängig zu sein scheint. Wenn das Schlechte Wirkursache ist, das »Wegen« des Strebens (di² ti), dann wäre es ontologisch primärer als die gute Zielursache, das »Um-Willen« (6mej² tou) allen Strebens. Sokrates führt darum ein Gedankenexperiment durch. Ist in einer Welt, in der es kein Schlechtes gibt, dennoch ein Streben nach dem Guten denkbar? (Ly. 220c – 221d) Dahinter verbirgt sich die Frage, ob es eine intentionale Spannung gibt in einer Relation, die nicht bipolar ist. Das ist für das Verständnis von Freundschaft oder auch von Philosophie als Streben nach Weisheit von großer Bedeutung. Die Antwort liegt in dem Weder-gut-nochSchlechten als einer selbstständigen Gattung des Seins, die nicht zusammen mit dem Schlechten verschwindet, das aus der Welt des Gedankenexperiments verbannt wurde. Den Menschen, »uns«, wie Sokrates emphatisch sagt, kommt diese Zwischenstellung zu (letan¼, Ly. 220d), wie auch den anderen Lebewesen samt ihren Begierden (1pihul¸ai, Ly. 221a), weil wir weiterhin begehren, was für das Leben notwendig und von Nutzen ist.331 Damit rückt anstelle des Schlechten das Begehren als Wirkursache der Freundschaft ins Blickfeld (B 1pihul¸a t/r vik¸ar aQt¸a, Ly. 221d).332 331 Diese Zwischenstellung des Menschen, sein Metaxy-Sein, drückt eine anthropologische Grundeinsicht Platons aus, die sich sowohl auf ontologischer, ethischer und epistemischer Ebene in verschiedenen Dialogen findet, so auch im Symposion oder Timaios. Zum Modell des Menschen zwischen zwei gegensätzlichen Polen als einem »mehr oder minder klar umrissenen Lehrstück« im Lysis siehe a. Bordt, Platons Lysis, 193 f. 332 In diesem Zusammenhang ist der Mythos des Politikos aufschlussreich, der insofern dem Gedankenexperiment im Lysis ähnelt, als er von einer Weltperiode berichtet, in der es kein Schlechtes gab. (Plt. 269a – 274e) Dieses Goldene Zeitalter unter Aufsicht von Kronos ist durch die Autarkie aller Lebewesen bestimmt. (Plt. 271d, zur Autarkie des Kosmos als Kennzeichen seiner Göttlichkeit s. Ti. 33d, 68e) Menschen und Tiere leben buchstäblich im Schlaraffenland und sind sämtlicher Sorge um ihre leiblichen Bedürfnisse enthoben. Damit entfallen die Voraussetzungen für Feindschaft unter Menschen, aber auch zwischen Mensch und Tier. Das Schlechte hat praktisch keinen Platz in dieser idealen Welt. (Plt. 273c) Damit stellt sich die Frage, welches Zeitalter das bessere ist und in welchem die Menschen glücklicher sind (eqdailom´steqom, Plt. 272b), ob im mühelosen Leben unter der Fürsorge von Kronos, oder im jetzigen, in dem sie für sich und ihre Bedürfnisse selbst Sorge tragen und ihr Zusammenleben gestalten und leiten müssen. Wenn nämlich die Menschen die Freiheit von der leiblichen Fürsorge verspielen, indem sie sich satt und zufrieden zurücklehnen und ausruhen und sich nur Märchen erzählen, statt vernünftig miteinander zu reden, haben sie ihre Chance auf ein glückliches Leben vertan. (Plt. 272c) Wenn nun die Pfleglinge des Kronos, die über so viel Muße und über das Vermögen verfügten, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Tieren in vernünftiger Rede zu verkehren, das alles für die Philosophie verwendeten, indem sie sich mit den Tieren und untereinander unterhielten, von jedem Wesen erforschend, ob es, im Besitz irgendeines besonderen Vermögens, etwas von
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Das Begehren wiederum hat seinen Grund in dem Bedürftigsein dessen, was einem fehlt (tº ce 1pihuloOm, ox #m 1mde³r ×, to¼tou 1pihule?, Ly. 221d f., vgl. a. 210d, 215a, 217a) Weil aber der Begriff des Fehlenden beinhaltet, dass etwas weggenommen wurde, was einem eigentlich angehört, denn sonst würde ja nichts fehlen, richtet sich das Begehren auf das Angehörige (t¹ oQje?om). Das Weder-gut-noch-Schlechte begehrt also das Angehörige, das ihm ursprünglich zugehört, aber nunmehr fehlt. Deswegen folgert Sokrates, dass sich Liebe, Freundschaft und Begehren auf das Angehörige richten (toO oQje¸ou d¶ … f te 5qyr ja· B vik¸a ja· B 1pihul¸a tucw²mei owsa, Ly. 221e).333 Mit diesem Argument greift die Widerlegung der Gutheitsthese nicht mehr, weil inzwischen eine Begründung der Strebensstruktur gefunden wurde, wonach gerade der Weder-gut-noch-Schlechte das Gute begehrt, weil es ihm zwar angehörig ist, aber zugleich auch ermangelt.334 Denn wenn das erste Geliebte als den anderen Verschiedenes wahrgenommen habe, was zur Einsicht beiträgt: dann ist die Entscheidung leicht, dass die damals unendlich viel glücklicher waren als jetzt. (EQ l³m to_mum oR tq|viloi toO Jq|mou, paqo}sgr aqto?r ovty pokk/r swok/r ja· dum\leyr pq¹r t¹ lµ l|mom !mhq~poir !kk± ja· hgq_oir di± k|cym d}mashai succ_cmeshai, jatewq_mto to}toir s}lpasim 1p· vikosov_am, let\ te hgq_ym ja· let’ !kk^kym blikoOmter, ja· pumham|lemoi paq± p\sgr v}seyr eU tim\ tir Qd_am d}malim 5wousa Õshet| ti di\voqom t_m %kkym eQr sumacuql¹m vqom^seyr, eujqitom fti t_m mOm oR t|te luq_\ pq¹r eqdailom_am di]veqom· Plt. 272b f., Üb. Ricken) Sokrates beschäftigt hier die Frage, ob die Menschen, wenn sie aller Sorge um die leiblichen Bedürfnisse enthoben wären und die Begierden nicht mehr ihr Recht forderten, die gewonnene Freiheit und Muße für einen vernunftgeleiteten Umgang untereinander und mit anderen Lebewesen nutzen würden. Der Mythos ähnelt in dieser Fragestellung dem Gedankenexperiment im Lysis. Im Politikos bleibt die Antwort ausdrücklich offen, wohin in einer solchen Gesellschaft die Neigung geht, ob zur Philosophie und zum vernünftigen Umgang aller Lebewesen miteinander oder zur übersättigten Träumerei. Darüber gehen die Meinungen der Interpreten auseinander. Ricken spricht den Menschen im Goldenen Zeitalter jegliches philosophisches Interesse ab; sie sind nur wie Herdentiere und ohne philosophische Ambitionen. (Ricken, Platon: Politikos, 122) Horn hingegen sieht im Goldenen Zeitalter das einem göttlichem Regelwerk folgende Vorbild, während die technischen Entwicklungen in unserem Zeitalter und die Philosophie die grundsätzliche Mängeldisposition nur ungenügend kompensieren können. Jedoch ist die Philosophie auch für ihn das entscheidende axiologische Kriterium: »Die Philosophie ist um soviel wertvoller als bloße Geschichten, dass sie sogar das schlechtere gegenwärtige Zeus-Zeitalter besser machen würde als die Kronos-Zeit, sollte damals keine Philosophie betrieben worden sein.« (Horn, Warum zwei Epochen der Menschheitsgeschichte, 146, 157, 159) Entscheidend für das Glück des Menschen ist also, dass er, wenn er Muße hat und nicht durch die lebensnotwendige Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse daran gehindert wird, dem vernünftigen Bedürfnis seiner Seele nach Einsicht und Weisheit nachgeht und philosophiert. Nicht die Anwesenheit oder Abwesenheit des Schlechten in der Welt gibt dafür den Ausschlag, sondern allein die Lust zur Einsicht. 333 In der Frage, wie sich das fehlende Angehörige und das Gute zueinander verhalten, klingt schon die Aristophanesrede im Symposion und deren Korrektur durch Sokrates an. Dieser verweist darauf, dass nicht die Ganzheit des Menschen Gegenstand der Sehnsucht ist, es sei denn, das Ganze ist das Gute. (Smp. 205e) Vgl. Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, 12 – 14, und Bordt, Platons Lysis, 87 – 89. 334 Der Einwand gegen die Gutheitsthese in Ly. 215a f. hat zur Voraussetzung, dass das Subjekt
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das Angehörige definiert wird, und zudem gilt, dass das Angehörige das Gute ist, welches verschieden ist von demjenigen, der es begehrt, kann von der Gattung des Weder-gut-noch-Schlechten widerspruchsfrei gesagt werden kann, dass sie das ihr Angehörige, nämlich das Gute, erstrebt. Unter diese Gattung fällt, wie gezeigt, in besonderer Weise auch der Mensch in seinem Wissensdrang.335 (Ly. 218a f.) Ist die Argumentation nun auch unabhängig vom Gedankenexperiment gültig, das heißt unter den Bedingungen des Schlechten in der Welt, und ist es richtig, alle Menschen unterschiedslos der Gattung der Weder-gut-nochSchlechten zuzuordnen? Und was folgt daraus für das Verständnis des Philosophierens? Sokrates zeigt, dass das Gutsein der Seele ihre Einsicht und ihr Schlechtsein die Unwissenheit ist. Menschliche Einsicht ist jedoch keine unveränderliche Konstante, sondern die Art und Weise, wie das Weder-schlechtnoch-Gute der Seele am Guten teilhat, ohne selbst gut und weise zu sein. Unwissenheit ist dagegen die Art und Weise, wie das Weder-schlecht-noch-Gute der Seele am Schlechten teilhat, ohne selbst schlecht zu sein. Wird die Seele gänzlich und unumkehrbar schlecht, hört sie auf, die Seele eines Menschen zu sein. Sie stirbt gleichsam durch Ignoranz.336 Wird die Seele dagegen gänzlich gut, ist sie göttlich und unsterblich geworden, weil sie sich den Göttern und ihrer Weisheit angeglichen hat.337 (Ly. 218a) Der Mensch ist also ein Zwischenwesen, ein metaxy. (Ly. 220d) Im beständigen Streben nach dem ihm angehörigen Guten verwirklicht er sein Optimum. Das ist keine Eigenheit einzelner Individuen, sondern liegt in der menschlichen Natur des Weder-Noch begründet. So wie jeder Mensch im leiblichen Bereich nach Gesundheit strebt, muss er im Seelischen nach Einsicht streben, weil er sonst in seinem Begehren und Lieben in die Irre läuft.338 Die Philosophie ist dann nicht mehr Sache weniger Fachleute
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des Strebens gut und deswegen autark und eines anderen unbedürftig ist. Dieser Einwand greift nicht mehr, wenn nur das Objekt gut ist, das Subjekt dagegen im Status des Weder/ Noch, wenn also die Gutheitsthese nicht mit der Gleichheitsthese, sondern mit der Ungleichheitsthese verbunden wird. Penner und Rowe weisen zu Recht darauf hin, dass unter der Bedingung, dass alle Menschen das Gute begehren, die Klasse der guten Menschen ebenso leer ist wie auch die Klasse der schlechten Menschen. Übrig bleiben genau die Weder-gut-noch-Schlechten, (Penner/Rowe, Plato’s Lysis, 274) also wir alle, die wir das höchste Gut erstreben, uns aber oft darüber täuschen und deswegen ein Wissen davon erlangen müssen. Vgl. Ap. 39a f.; Grg. 480b, Grg. 492c-e u. S. 124 ff., 150 ff.; zur Metamorphose der menschlichen Seele nach dem Maß ihrer Unvernunft vgl. Ti. 91e – 92c u. S. 186 f. »Die blo¸ysir he` bedingt für Platon das einzig legitime Gleich zu Gleich, das im Bereich des Geistes, wo nicht der Mensch, sondern Gott das Maß der Dinge ist (Lg. 716c), Gültigkeit hat. Sie bestimmt ebenso sehr das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wie auch die wahre zwischenmenschliche Freundschaft. Der Weg zur ›Angleichung mit Gott‹ ist die Beschäftigung mit der Philosophie.« (C.W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 180 f.) Die grundlegende Bedeutung von Einsicht und Wissen für ein gelingendes Leben ist be-
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oder besonders wissensdurstiger Menschen wie im normalsprachlichen Verständnis der ersten Gesprächsrunde. (Ly. 212d) Sondern jeder Mensch kann nur auf diese Weise sein Streben nach dem höchsten Gut und einem glücklichen Leben erfolgreich realisieren. Der Begriff des Philosophierens hat durch die anthropologische Begründung noch einmal eine bedeutende Erweiterung erfahren. Jeder Mensch soll Freund der sophia sein, weil er nur auf diese Weise sein Begehren des Schönen und Guten, (Ly. 216d, vgl. a. 205e, 207a, 204a, b) das ihm wesensmäßig angehört, befriedigen kann. Aber ist damit auch schon das Beweisziel des Lysis erreicht? Führt von der einseitig intentionalen Freundschaft zur sophia und zum höchsten Gut ein Weg zur wechselseitigen Freundschaft unter Menschen?339 Hier kommt nun die Gleichheitsthese noch einmal zum Tragen. Denn die Menschen gehören alle zur Gattung der Weder-gut-noch-Schlechten und gleichen sich diesbezüglich. Die Gleichheitsthese besagte, dass Gleiches mit Gleichem befreundet ist. Zwar gibt es, wie gezeigt, keine direkte Begründung einer Freundschaft unter Gleichen, weil Gleiche einander nichts voraushaben. Aber die Freundschaft mit der sophia stiftet indirekt auch Freundschaft unter den Menschen. Denn die Menschen gleichen sich darin, dass ihnen die Weisheit fehlt und sie ihrer bedürfen. Alles nun, was der einzelne Mensch tut oder erfährt, um diesem Ziel näher zu kommen, ist nicht nur für den einen gut, sondern auch für den anderen, weil das Ziel das gleiche ist. Und umgekehrt schadet das Schädliche beiden gleicherweise. Es gibt unter diesem Aspekt keinen egoistischen Nutzen aus der Erkenntnis des Guten. Die Philosophen sind nicht befreundet, weil sie Nutzen voneinander haben wollen, sondern weil sie die gleiche Leidenschaft teilen, das Begehren nach der Weisheit. Darum machen sie auch die gleichen Erfahrungen und teilen die Einsichten. Auch das ist eine Form von Nutzen, aber nicht im Sinne des Vorteils, wo der eine dem anderen etwas voraushat, was dieser nicht auch grundsätzlich aus sich selbst gewinnen könnte.340 Sondern der Nutzen besteht für beide gleicherweise in der Einsicht, die eine Wirkung des Guten ist. sonders im Euthydemos im Rahmen einer Gütertheorie herausgearbeitet, vgl. dazu Euthd. 279b, 281d u. S. 70 – 72, 77 f. 339 Price kritisiert an der Theorie des Begehrens im Lysis, dass sie keine wechselseitige Freundschaft erklärt: »… it remains unexplained how the end of each man’s desire may involve another individual, and how two individuals can benefit one another.« (Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, 12) Es ist richtig, dass Sokrates diesen Zusammenhang nicht selbst herstellt, aber die Lösung ist angelegt und Teil der Revision, zu der er auffordert. Der Weg führt über das allen Menschen gemeinsame oQje?om. Siehe dazu auch Bordt, Platons Lysis, 73. 340 Vgl. dazu die maieutische Kunst von Sokrates, im Gesprächspartner »geistige Wehen« hervorzurufen und durch Fragen Einsichten zu wecken, die dieser aber grundsätzlich aus sich selbst gebären kann und soll. Zur Maieutik siehe S. 83 ff., zur Nutzendiskussion S. 200 u. 206.
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Der philosophische Eros
Der Lysis entfaltet eine differenzierte Theorie der Freundschaft, die besagt: Gegenseitige menschliche Freundschaft ist keine Zweierbeziehung, weder unter Gleichen, noch unter Ungleichen oder Guten. Gegen all diese tradierten Vorstellungen hat Sokrates argumentiert. Sein Verständnis von wechselseitiger menschlicher Freundschaft setzt eine Dreierbeziehung voraus, bei der das erste Geliebte, das proton philon, der gemeinsame, übergeordnete Bezugspunkt zweier Menschen ist. Dieses aber kommt nur durch das Streben nach Einsicht in das höchste Gut in den Blick. Deswegen ist das Philosophieren unabdingbare Voraussetzung wechselseitiger Freundschaft unter Menschen.341 Und der Philosoph ist der freundschaftliche Mensch schlechthin, ein philhetairos. Damit aber hat Sokrates sein Beweisziel gegenüber Hippothales erreicht. Wie versprochen hat er ihm demonstriert, wie man einen Freund gewinnt, denn zum Schluss betrachten sich Sokrates, Lysis und Menexenos als Freunde.
2.
Symposion: Philosophie ist die Liebe zum Schönsten
Das Symposion steht wie kein anderer Dialog Platons für die Synthese von Eros und Philosophie. Bis heute geht eine ungebrochene Faszination von ihm aus. Das liegt wohl nicht nur an dem Thema der Liebe, das jeden Menschen irgendwie betrifft; auch nicht nur an den eindrücklichen Bildern, die Platon im Mythos über die Zeugung des philosophischen Eros am Geburtstag der Aphrodite vor Augen malt oder im Porträt des silenenhaften Sokrates, der äußerlich zwar hässlich erscheint, aber innerlich von göttlicher Schönheit strahlt – all das hat zahlreiche Spuren in Kunst und Literatur hinterlassen.342 Das Symposion zieht den Leser vor allem deswegen in den Bann, weil hier eine Deutung der Strebekräfte des Lebens zur Diskussion gestellt wird, bei der Erkenntnis und Begehren nicht gegeneinander stehen. Vielmehr findet alles Begehren des Menschen im Streben nach Erkenntnis seine Erfüllung, und der Eros erscheint als der beste Helfer, um dieses Ziel zu erreichen: die Schau des Schönen selbst. Aus diesem Grund wurde in der Verbindung von »Einsicht und Leidenschaft« das Wesen der platonischen Philosophie gesehen.343 341 Vgl. C.W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 181, Anm. 19: »Die platonische Bestimmung der Freundschaft beschränkt sich nicht auf das Verhältnis der Freunde zueinander, sondern schließt immer noch ein Drittes mit ein: t¹ he?om, oder das von den jeweiligen Menschen, die es verwirklichen oder auch nicht verwirklichen, unabhängig gedachte Gute.« 342 Siehe J. Schmidt, Die platonische Liebe in der europäischen Philosophie und Literatur, 160 – 187; Lesher, Some Notable Afterimages of Plato’s Symposium, 331 – 340; 341 – 359; Wurm, Platonicus Amor. 343 Krüger, Einsicht und Leidenschaft, VIII; auch Albert, Über Platons Begriff der Philosophie, und Schäfer, Manische Distanzierung, entfalten vom Symposion her den Philosophiebegriff Platons.
Symposion: Philosophie ist die Liebe zum Schönsten
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Wie aber konnte das Symposion, das der Tragödiendichter Agathon am Tag nach seinem Sieg bei den Lenäen des Jahres 416 v. Chr. gab, eine solche Bedeutung für die Philosophie bekommen, obwohl sich zunächst alles nur um die Liebe dreht? Zu dem Gastmahl ist die intellektuelle Elite Athens eingeladen, Sophisten, Naturwissenschaftler und Dichter. Alle sind noch mitgenommen vom übermäßigen Weingenuss bei der Siegesfeier am Vortag, so dass man nach dem Festessen gern auf das übliche, gesellige Unterhaltungsprogramm und das damit verbundene Wetttrinken verzichtet. Stattdessen tritt man in einen freundschaftlichen Redewettstreit zum Lob des Eros. Dieses Thema kommt nicht von ungefähr, denn sechs der namentlich genannten Teilnehmer stehen in einem erotischen Verhältnis zueinander : Pausanias und Agathon sind ein langjähriges Liebespaar, (Prt. 315e) Phaidros hört nicht nur in medizinischen Fragen auf seinen Freund und Lehrer Eryximachos (Smp. 176d) und das freundschaftliche Verhältnis von Sokrates und Alkibiades ist stadtbekannt. (Smp. 222c f.) Entsprechend häufig, nämlich über 250-mal, ist in irgendeiner Form von der Liebe die Rede.344 Nun ist es erstaunlich, dass, gemessen an der immer wieder betonten Bedeutung des Symposions für die platonische Philosophie, das Wort Philosophieren und seine Ableitungen im Dialog gar nicht besonders häufig vorkommen, nämlich insgesamt nur 16-mal. Und wo wir den Begriff finden, ist er nicht etwa Sokrates in den Mund gelegt, obwohl dieser als Verkörperung des philosophischen Eros vorgestellt wird, sondern zunächst einmal einer Randfigur, dem Erzähler Apollodoros (Smp. 173a, c) und sodann dem zweiten Redner Pausanias (Smp. 181c, 183a, 184d). In immerhin vier weiteren Redebeiträgen (Phaidros, Eryximachos, Aristophanes und Agathon) taucht der Philosophiebegriff überhaupt nicht auf. Und auch Sokrates verweist in seinem elenktischen Gespräch mit Agathon keineswegs auf die Philosophie, wie er es sonst oft tut, wenn er die formalen Bedingungen der Unterhaltung klären will.345 Erst in der Rede der Priesterin Diotima, die Sokrates als seinen Beitrag zum Lob des Eros zitiert, finden wir den Philosophiebegriff 9-mal an insgesamt vier Stellen (Smp. 203d, 204a-b (6x), 205d, 210d), davon gehäuft im Mythos von der Geburt des Eros und 344 Diese Personen gehören schon im Protagoras zu denen, die mit anderen Mitgliedern der Athener Oberschicht den Vorträgen der berühmten Sophisten Protagoras, Prodikos und Hippias lauschen. (Prt. 314e – 315d) Im Symposion kommt lediglich der Tragödiendichter Aristophanes zu dem Kreis dazu. Aus der Wortfamilie 5qyr finden sich: =qyr/5qyr (161x), 1q÷m (34x), 1qytijºr (23x), 1qast¶r (37x), 1q¾lemor (7x) und oft synonym gebraucht paidij² (21x). Gegen diese Fülle stehen nur 16 Beispiele aus der Wortfamilie vikosov¸a. 345 In Smp. 194d f. steht dafür diak´ceshai und in Smp. 199b sl¸jq’ %tta 1q´shai, was technisch im Sinn des untersuchenden elenchos gemeint ist. Rehn sieht darum auch im Symposion trotz der vorgegebenen Struktur des Enkomions im diak´ceshai, im »Dialog mit anderen«, den eigentlich erotischen, Gemeinschaft stiftenden Akt des Philosophierens. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion, 90.
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Der philosophische Eros
dessen Deutung. Das letzte Wort zur Philosophie hat schließlich der verspätet in das Gastmahl hereinplatzende Alkibiades (Smp. 218a, b), wenn er die Wirkung der sokratischen Reden auf die Seelen der Zuhörer beschreibt. Angesichts der auffallend unterschiedlichen Gewichtung der Wortfelder von Eros und Philosophie drängt sich die Frage auf, ob es im Symposion nicht doch eher um eine philosophische Reflexion der Liebe geht als um das Wesen der Philosophie. Darüber gehen denn auch die Meinungen der Interpreten auseinander : Ist die Liebe, gefördert durch den existentiellen Hintergrund der Symposiasten, endlich ein ernstzunehmender und zu rehabilitierender Gegenstand intellektueller Reflexion, wie es das Votum von Phaidros nahe legt, der das Thema ursprünglich angeregt hatte? (Smp. 177a f.) Dann handelte es sich um eine Theorie der Liebe und gehörte in ein Teilgebiet der Philosophie, in die Ethik, auch wenn dabei Stufen der Metamorphose der Liebe ausgemacht werden, angefangen von der Liebe zum sinnlich Schönen über die Liebe zum sittlich Schönen hin zur Liebe des geistig Schönen. Ein solches Aufstiegsschema würde die Liebe zum Schönen in ihren verschiedenen Phasen und Gestalten zu einer philosophisch reflektierten Lebensform erheben.346 Oder ist das Gespräch über die Liebe nur der äußere Anlass für eine theoretische Selbstbestimmung der Philosophie und der Eros nichts anderes als eine Metapher für das geistige Streben nach Einsicht in die Idee des Guten und Schönen, so dass zwar aufgrund der Begehrensstruktur eine Analogie zwischen Eros und Philosophie hergestellt werden kann, aber dennoch kein ontologischer Zusammenhang zwischen ihnen besteht? Dann gehörte es in den Bereich der Erkenntnistheorie.347 Oder ist das 346 So z. B. Zehnpfennig: »Gerade darum geht es im Symposion: Die Versöhnung von Sinnlichkeit und Geistigkeit durch eine Liebe, die im Sinnlichen schon das Geistige wahrnimmt und die Sinnlichkeit achtet, ohne sich in ihr zu verlieren. Diese Liebe ist die Philo-sophia, die Liebe zur Weisheit, und Sokrates ist ihr Prophet.« (Zehnpfennig, Platon: Symposion, VII) 347 Diese Auffassung vertritt Wurm: »Was Platon am Eros interessiert, ist seine der Philosophie verwandte Begehrensstruktur, und was er in Diotimas Rede formuliert hat, bestenfalls eine Psychagogik der Philosophie im Gewande einer (Erkenntnis-)Erotik des Schönen. Wenn in Diotimas kºcor von der Wahrheit des Eros eine Ethik enthalten ist, dann ist diese Ethik eine der Erkenntnis, die vor allem anderen die Frage zu beantworten sucht, wie gedacht werden muß, nicht wie gelebt – oder geliebt – werden soll.« (Wurm, Platonicus Amor, 26) Zu dieser Einschätzung kommt Wurm vor dem Hintergrund von De amore, Marsilio Ficinos wirkungsgeschichtlich bedeutendem Kommentar zu Platons Symposion. Dort sieht er, anders als bei Platon, eine Theorie der Liebe mit Blick auf eine erotische Praxis entworfen, auch wenn diese »… in einen legitimen, unsinnlichen Part und seinen sinnlichen, aber schädlichen Widerpart gespalten wird …« (Ebd. 28) Damit vertritt Wurm die These, dass die Linie dieser Wirkungsgeschichte, und die der meisten Interpretationen von Platons Symposion, die intellektuell epistemische Intention Platons verfehlt und die Autoren statt dessen eine philosophische Reflexion über die Liebe im Blick haben. Die von Wurm vorgetragenen Kritik ist insofern wichtig, als ihm in der Betonung der primär erkenntnistheoretischen Intention des Symposions unbedingt zuzustimmen ist. Aber die Behauptung
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eine unfruchtbare Alternative, weil zwischen Ethik und Erkenntnistheorie unterschieden wird, wo es für Platon zwei Seiten ein und derselben Medaille sind? Die Frage nach dem Verhältnis von Erotik und Erkenntnis ist also zentral für das Symposion. Ziel dieses Kapitels ist es zu zeigen, dass es nach Platon keine wahrheitsgemäße Erkenntnis gibt ohne philosophische Erotik und keine befriedigte menschliche Erotik ohne philosophische Erkenntnis. Beide Begriffe, Eros und Philosophie, werden dabei neu zu bestimmen sein. Der Schlüssel für die Begründung und Erläuterung dieser These liegt in der Diotimarede, aber die vorausgehenden Reden sowie die Einrahmung durch die Erzählsituation und die abschließende Alkibiadesrede bilden den Hintergrund, vor dem die neuartige Einheit von Eros und Philosophie erst verständlich wird.
2.1.
Philosophie zwischen Begeisterung und Wahnsinn (Apollodoros und Alkibiades)
Die Wirkungsgeschichte der Lobreden auf Eros beim Gastmahl von Agathon beginnt bereits im Symposion selbst und ist von Platon bewusst und kunstvoll in Szene gesetzt. Denn der Leser erfährt die Inhalte der Reden nicht aus erster Hand durch einen Teilnehmer des Gastmahls, sondern erzählerisch gebrochen durch den Bericht von Apollodoros, einem treuen Gefährten von Sokrates, der sie seinerseits nur vom Hörensagen kennt, weil die Begebenheit zum Zeitpunkt der Erzählung schon anderthalb Jahrzehnte zurückliegt. Seine Gewährsleute für die Authentizität des Berichts sind Aristodemos, ein Verehrer (1qast¶r, Smp. 173b) von Sokrates, der ihn zum Gastmahl begleitet hatte, und Sokrates selbst, der auf eines bloß metaphorisch-analogischen Verständnisses des Eros ohne ontologische Grundlage (die Wurm allerdings für Plotins Ennade III 5 und dessen Einfluss auf Ficino gegeben sieht, ebd. 142) wirft die Frage auf, ob es dann nicht mindestens zwei, wenn nicht gar mehrere Eroten geben muss, welche die verschiedenen Bereiche des menschlichen Begehrens, zu denen auch das Erkenntnisvermögen gehört, abdecken. Diese Frage wurde schon im Symposion selbst durch Pausanias aufgeworfen und von Eryximachos aufgegriffen. Konsequenterweise wäre dann jede Theorie des Eros, die nicht auf eine Theorie der Erkenntnis hinausläuft, sachfremd und die meisten Reden im Symposion überflüssig und im besten Fall unterhaltsames Beiwerk. Wenn Platon allerdings so viel Mühe auf die grandiose Ausarbeitung dieser Porträts zeitgenössischer Erostheorien verwendet, drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis sie zu der erotischen Erkenntnistheorie der Diotimarede stehen. Dass im Verlauf des Symposions viele Motive der früheren Reden wieder auftauchen und abgewandelt auch in die Diotimarede Eingang finden, ist immer wieder beschrieben worden, doch stände das einer analogischen Interpretation nicht von vornherein entgegen. Anders sieht es aus, wenn es sich bei den Vorrednern nicht nur um beliebige zeitgenössische Erostheorien handelt, sondern um Fehlformen des Erkennens und zugleich fehlgeleiteten Formen des Liebens. Dann gewinnt vor dem Hintergrund dieser Reden die in der Diotimarede skizzierte Theorie ihren konkreten, lebenspraktischen Horizont.
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Der philosophische Eros
Rückfrage die Aussagen von Aristodemos bestätigte. Trotz der zeitlichen Distanz ist das Interesse an diesem Ereignis offenbar ungebrochen. Denn als Apollodoros auf der Straße von Bekannten angesprochen wird, die aus dritter Hand von dem Gastmahl gehört hatten und nun Genaueres erfahren möchten, erzählt er, dass er wenige Tage zuvor bereits Glaukon von dem Treffen berichtet hatte. Der Leser wird auf diese Weise Zeuge einer lebhaften Legendenbildung. Und bereits hier zeigt sich, dass die Menschen eine unterschiedliche Vorstellung von diesen berühmten Reden und ihrem Thema haben: Denn Glaukon hatte sich bei Apollodoros zwar nach den »Reden über die Liebesangelegenheiten« (peq· t_m 1qytij_m kºcym, Smp. 172b) erkundigt, die Agathon, Sokrates, Alkibiades und die anderen geführt hatten, aber Apollodoros selbst spricht bezeichnenderweise von den »Reden über die Philosophie« (peq· vikosov_ar k|cour): Wenn ich nun auch euch davon berichten soll, so muss ich das wohl tun. Zumal ich auch sonst, wenn ich irgendwelche Reden über die Philosophie entweder selbst führe oder von anderen höre, abgesehen davon, dass ich glaube, Nutzen davon zu haben, mich über alle Maßen freue. (eQ owm de? ja· rl?m digc^sashai, taOta wqµ poie?m. Ja· c±q 5cyce ja· %kkyr, ftam l]m timar peq· vikosov_ar k|cour C aqt¹r poi_lai C %kkym !jo}y, wyq·r toO oUeshai ¡veke?shai rpeqvu_r ¢r wa_qy· Smp. 173c, Üb. B.S.)
Zwar wurde zu Beginn des Gastmahls verabredet, Lobreden auf den Eros zu halten. (Smp. 177d) Aber Platon gibt mit dieser in das Werk schon eingebauten ersten Rezeptionsgeschichte einen deutlichen Hinweis darauf, dass es sich rückblickend um Reden handelt, die in einem tieferen und nicht gleich offensichtlichen Sinn die Philosophie zum Gegenstand haben. Es geht also nicht nur darum, philosophisch über die Liebe zu reden – das beträfe die Art der Unterredung –, sondern ausgehend von der Liebe auch über die Philosophie selbst nachzudenken und sie zu thematisieren. Das ist denen, die sich nach diesen denkwürdigen Reden erkundigen, offensichtlich nicht klar. Man möchte zunächst schlicht wissen, was die »großen Köpfe« zu dem alle interessierenden Thema der Liebe denken und zu sagen haben, aber unversehens führt das zu einer Klärung der Motivation und Zielsetzung der Philosophie. Deswegen spricht Apollodoros, dem der Inhalt der Reden ja bekannt ist, von den »Reden über die Philosophie«. Erst wer alle Reden in ihrem Zusammenhang überschaut, wird verstehen können, inwiefern die Reden über die Liebe auch Reden über die Philosophie sind.348 Weiterhin wird an dem obigen Ausspruch von Apollodoros deutlich, dass er sich über nichts mehr freut und in nichts anderem seine Befriedigung findet als in philosophischen Gesprächen. Darum begleitet er Sokrates täglich, um zu erfahren, was dieser redet und tut (f ti #m k´c, C pq²tt,, Smp. 172c). Philoso348 Ähnlich Rowe, Plato: Symposium, 130.
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phieren ist also für ihn nicht nur eine Frage der Rede, sondern auch des Handelns und Lebens und Sokrates dessen leibhaftige Verkörperung. Im Vergleich damit erscheint ihm das normale Leben der Athener minderwertig und schlecht, sein eigenes, das er vor seiner Bekehrung führte, eingeschlossen. (Smp. 173d) Entsprechend verächtlich kommentiert er es und wirkt dabei auf seine Umgebung wie besessen in seiner Begeisterung für die Philosophie (la¸molai ja· paqapa¸y, Smp. 173e). Bis dahin trieb ich mich herum, wie es sich zufällig traf, und glaubte, etwas zu schaffen, obwohl ich jämmerlicher dran war als irgendjemand sonst, ebenso wie du jetzt, der du glaubst, alles andere eher tun zu müssen als zu philosophieren. (pq¹ toO d³ peqitq]wym fp, t}woili ja· oQ|lemor t· poie?m, !hki~teqor G btouoOm, oqw Httom C s» mum_, oQ|lemor de?m p\mta l÷kkom pq\tteim C vikosove?m. Smp. 173a, Üb. B.S.)
Apollodoros attestiert hier Glaukon höchst unfreundlich ein philosophisches Desinteresse, obwohl dieser sich gerade nach den »Reden über die Liebe« erkundigt.349 Gleichzeitig kritisiert er die Ziel- und Orientierungslosigkeit des alltäglichen Lebens und Handelns, so dass das, was die Menschen zu schaffen glauben, dem Zufall und der Willkür unterliegt. Der Grund dafür liegt darin, dass sie nur glauben zu wissen, was gut ist und was sie bewirken wollen. Es fehlen ihnen aber die Kriterien für ihr Leben und Handeln. Philosophieren hat für Apollodoros nicht nur Vorrang vor jedem anderen Tun, sondern ist erst Ermöglichungsgrund eines guten Lebens. Deswegen hält er Glaukon und mit ihm dem Normalbürger, der sich neben den Alltagsgeschäften vielleicht auch noch für Philosophie interessiert, vor, dass sie dennoch nur aufgrund von Zufällig349 Beim Namen Glaukon denkt der Leser an einen Bruder Platons, der keineswegs philosophisch so desinteressiert ist, wie Apollodoros unterstellt. (Zum Problem der chronologischen Einordnung Glaukons und der Unsicherheit, ob es sich bei dem Glaukon des Symposions wirklich um einen Bruder oder vielleicht um einen Onkel Platons handelt, siehe Nails, The People of Plato, 154 – 156, 314 f.) Immerhin zählt Glaukon in der Politeia und im Parmenides zu den Dialogteilnehmern. Philosophie ist in Platons und Glaukons Familie selbstverständliches, wenngleich »nebenberufliches« Gesprächsthema und gehört zum intellektuellen Niveau. (Siehe dazu auch die Bemerkung in Prm. 126b über Antiphon, einen Halbbruder von Platon und Glaukon.) Das gilt auch für die andere, berühmt-berüchtigte Verwandtschaft Platons, für Charmides und Kritias (vgl. die Charakterisierung von Charmides als »philosophisch und auch sehr dichterisch« veranlagt, Chrm. 155a). Es drängt sich gerade bei ihnen die kritische Frage auf, inwieweit die philosophische Mitgift lebensprägend ist, und das Urteil wird rückblickend trotz aller Begabung negativ ausfallen. Für Glaukon und seine Rolle im Symposion bedeutet dies, dass die Kritik von Apollodoros nicht ganz vorschnell zur Seite geschoben werden sollte, nur weil es sich um einen Bruder oder vielleicht Onkel von Platon handelt. Vielmehr mag hier eine Anfrage Platons an seine Familie mitschwingen, ob die Philosophie nicht lebensverändernde Konsequenzen haben muss und, wenn sie ernst genommen wird, auch zu einer philosophischen Lebensform führt. Die Gründung der Akademie ist unter anderem auch eine implizite Kritik Platons an der in seiner Familie üblichen politischen Karriere, der er sich bewusst entzieht. (Vgl. Ep. VII 324b – 326b)
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keiten agieren und ihr Handeln orientierungs- und ziellos bleibt. Darüber sind sie sich offensichtlich nicht im Klaren, sonst müssten sie ihr Leben grundsätzlich ändern. Ihnen fehlt die Selbsterkenntnis, die eine Voraussetzung für die ernsthafte Hinwendung zur Philosophie ist. Sie sind in seinen Augen jämmerlicher dran, als diejenigen, die sich gar nicht erst einbilden, etwas Gutes schaffen und bewirken zu können.350 Scharfsinnig benennt Apollodoros dieses Problem der Intellektuellen und der politisch einflussreichen Oberschicht, zu denen auch Glaukon gehört. Erst die Einsicht in die grundsätzliche Orientierungs- und Ziellosigkeit und damit in die eigene Bedürftigkeit würde eine entschiedene Abkehr von den bisherigen Irrtümern und eine grundlegende Lebensrevision nach sich ziehen. Genau darin bestünde die Hinwendung zur Philosophie. Und noch ein drittes Moment klingt in dem Urteil von Apollodoros an, über das der Leser zum jetzigen Zeitpunkt unweigerlich hinweg liest, das aber im Zusammenhang mit der späteren Pausaniasrede einen tieferen Sinn bekommt: die alles übertreffende Freude (rpeqvu_r ¢r wa_qy) von Apollodoros an den Reden über die Philosophie, und die Zufriedenheit, die damit einhergeht. Auch bei Pausanias wird die Philosophie eine wichtige Rolle spielen, aber seine Befriedigung findet er nicht in den philosophischen Gesprächen, sondern in den Liebesgefälligkeiten, die ihm in einem päderastischen Verhältnis von dem Knaben aus Dankbarkeit für die philosophische Unterweisung zuteil wird. Seine ganze Rede kreist um das Anliegen, die Philosophie als Rechtfertigung für die Gegenleistung körperlich sexueller Befriedigung (waq¸fshai) darzustellen.351 Hier in der Rahmenerzählung wird jedoch nicht nur deutlich, dass die Philosophie selbst zu befriedigen vermag, also einen Wert in sich darstellt, sondern dass für Apollodoros die Freude an der Philosophie jegliche andere Freude in den Schatten stellt und übertrifft. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Philosophie nicht nur unterschiedlich erlebt wird, sondern auch etwas Unterschiedliches darunter verstanden wird. Für Apollodoros ist es der Inbegriff des richtigen und guten Lebens, für Pausanias ist es ein Begründungsinstrument relativer sittlicher Verhaltensweisen und eine Form unentgeltlichen Austausches von Gütern: Wissen und Bildung gegen körperliche Befriedigung. Doch trotz seiner Begeisterung für die Philosophie und die damit verbundene kritische Selbsteinschätzung sowie die Konsequenz seiner Lebensrevision wirkt Apollodoros auf seine Bekannten und auch auf den Leser sehr befremdlich. Ihn umgeben keineswegs der faszinierende Zauber und die Überzeugungskraft, die von Sokrates und dessen Art zu denken und zu leben ausgehen. Vielmehr ist 350 Darauf zielt der sonst unverständliche Komparativ !hki~teqor G btouoOm (Smp. 173a), der nur Sinn macht im Vergleich mit Leuten, die sich gar nicht erst einbilden, etwas schaffen zu können, weil sie dazu gar nicht in der Lage sind. 351 Smp. 182a, b, d; 183b, d; 184a, b, d, e; 185a, b.
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man geneigt, in ihm nur einen Epigonen zu sehen, dessen Begeisterung Züge annimmt, die den Eindruck nahe legen, dass er nicht immer ganz bei Sinnen ist. Er ist vor allem ein Nachahmer und Repetitor.352 Das muss zunächst keineswegs verwundern, denn die Bekehrung durch ein positives Vorbild, wie Sokrates es darstellt, führt natürlicherweise dazu, dass der Schüler in der äußeren Nachahmung versucht, dem inneren Geheimnis der Person auf die Spur zu kommen. Doch darf das Bemühen nicht dabei stehen bleiben, sondern muss zu einer eigenständigen Inspiration werden, um glaubhaft zu sein.353 Da liegt die Grenze von Apollodoros, deren er sich auch bewusst ist, wenn er die Defizienz aller Menschen, seine eigene eingeschlossen, beklagt. Seine Radikalität macht auf Außenstehende einen höchst befremdlichen Eindruck, so dass sie seiner Wildheit mit freundlichem Spott begegnen. Dennoch ist Apollodoros in seiner Begeisterung ehrlich und keineswegs so befangen, dass er nicht wüsste, wie verrückt er auf andere wirkt (la¸molai ja· paqapa¸y, Smp. 173e). Indem er ihr Urteil selbst formuliert, spiegelt er es jedoch auf sie zurück. Unausgesprochen 352 Rowe hält es in Anlehnung an Bury für denkbar, dass Apollodoros Platon selbst repräsentiert, zumindest als jemand, der den Bericht vom Symposion zusammenstellt und in Szene setzt. (Rowe, Plato: Symposium, 127) Aber dieser formale Aspekt ist zu schwach angesichts des zweifelhaften Charakters von Apollodoros. Brisson beschreibt ihn treffender als einen übereifrigen Imitator, (Brisson, Platon: Le Banquet, 18) und Rosen sieht in ihm gar einen abstoßenden Fanatiker. (Rosen, Plato’s Symposium, 10 – 16) Ein zwielichtiger Erzähler, der sich vor allem durch große Gedächtnislücken auszeichnet und damit die Grenze des mündlich Tradierbaren illustriert, ist er bei Piras. (Piras, Vergessen ist das Ausgehen der Erkenntnis, 39 f.) Blondell macht zu Recht den Einwand geltend, dass die Begeisterung für die Philosophie im Fall von Apollodoros und Aristodemos zur Begeisterung für die Person von Sokrates wird und dadurch ihr eigentliches Ziel verfehlt. Die fehlende intellektuelle Entsprechung zur äußeren Imitation ist Anlass für den komödiantischen Spott Platons an einigen Schülern seines Lehrers, von denen Platon sich mit poetologischen Mitteln distanziert. »Plato seems to be making fun of one kind of actual response to the historical Sokrates.« (Blondell, The Play of Characterin Plato’s Dialogues, 108) Ähnlich Van der Valk zu dem wenig schmeichelhaften Spitznamen von Apollodoros lakajºr, »Weichling«: »Plato apparently took a kind of malicious pleasure in alluding to a weekness of a member of the circle to which he belonged himself.« (Van der Valk, Manuscripts and Scholia. Some Textual Problems, 43) 353 Das Symposion erzählt noch von einem zweiten Nachahmer, dem eigentlichen Berichterstatter Aristodemos, der Sokrates zum Gastmahl begleitet hatte. Während Sokrates entgegen seiner sonstigen Gewohnheit für das Festmahl Sandalen untergebunden hatte, um, wie er ironisch sagt, »schön zum Schönen zu gehen«, (Smp. 174a) erscheint Aristodemos in Nachahmung der sokratischen Gewohnheit ohne Schuhe. Was bei Sokrates Ausdruck seines Gleichmuts gegenüber den körperlichen Bedürfnissen ist, nämlich seine Gewohnheit, barfuss zu gehen, wirkt bei Aristodemos programmatisch. Doch anders als bei Sokrates manifestiert sich darin gerade nicht seine Freiheit, sondern auf einer anderen Ebene seine Uneigenständigkeit. Zum vergeblichen Bemühen von Sokrates, seine philosophischen Freunde zur inneren Selbständigkeit zu führen, vgl. die Interpretation der dramaturgischen Motive des Führens und Geführtwerdens von Sokrates und Aristodemos auf dem Weg zu Agathon bei Blondell, Where is Socrates on the »Ladder of Love«?, 148 – 150.
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steht die Frage im Raum, wer hier wirklich wahnsinnig ist: die Athener Bürger in ihrer unhinterfragten Geschäftigkeit und Selbsttäuschung oder der philosophische Kritiker und Aussteiger. Dieser manische Charakter ist ein viertes und wichtiges Merkmal der Art und Weise, wie Apollodoros seiner philosophischen Begeisterung folgt.354 Im Symposion begegnet dem Leser noch ein weiteres Mal ein Hinweis auf die mania. Zum Schluss des Dialogs gibt Alkibiades ein hingerissenes Zeugnis von der überwältigenden Macht der philosophischen Gespräche mit Sokrates. Zugleich versucht er, seine eigene Distanzierung von der Philosophie und der damit verbundenen Lebensweise zu rechtfertigen und auch die beim Gastmahl Anwesenden vor der Verführung durch Sokrates zu warnen. Denn ihm sei es ergangen wie einem, der von einer Natter gebissen, gegen seinen Willen zu Reden und Handlungen getrieben wurde, die nur jemand nachempfinden und verstehen könne, der die gleiche Erfahrung gemacht habe: Ich also, der ich von etwas noch Schmerzhafterem gebissen bin und an der schmerzhaftesten Stelle, an der man nur gebissen werden kann … Am Herzen nämlich oder an der Seele oder wie man es sonst nennen will bin ich verwundet und gebissen von den Reden der Philosophie, die eine junge und nicht unbegabte Seele, wenn sie sie einmal in Besitz genommen haben, noch grimmiger festhalten als eine Natter und sie dazu bringen, alles Beliebige zu tun und zu sagen … Und wenn ich wiederum Männer sehe wie Phaidros, Agathon, Eryximachos, Pausanias, Aristodemos und Aristophanes (was muß ich noch Sokrates selbst nennen?) und die anderen, alle nämlich habt ihr die Raserei und die Schwärmerei der Philosophie gemein … Deswegen sollt ihr es auch alle hören. Denn ihr werdet mir verzeihen, was ich damals tat und nun erzähle. (1c½ owm, dedgcl]mor te rp¹ !kceimot]qou ja· t¹ !kceim|tatom ¨m %m tir dgwhe_g – tµm jaqd_am c±q C xuwµm C fti de? aqt¹ amol\sai, pkgce_r te ja· dgwhe·r rp¹ t_m 1m vikosov_ô k|cym, oT 5womtai 1w_dmgr !cqi~teqom, m]ou xuw/r lµ !vuoOr ftam k\bymtai, ja· poioOsi dq÷m te 354 Im Symposion hat der Begriff der mania noch einen pejorativen Klang, auch wenn die positiven Konnotationen der philosophischen mania im Phaidros durch die Verbindung mit dem philosophischen Eros bereits vorbereitet werden. (Phdr. 244a – 245c, 249c-e, 265a – 266b) Zur Frage, ob in Smp. 173d7 der Spitzname von Apollodoros Weichling (lakajºr) oder Wahnsinniger (lamijºr) lautet, vgl. die Diskussion in Mnemosyne 19:2; 22:3 und 23:3. Moore argumentiert für lamijºr (Moore, The Philosopher’s Frenzy, 225 – 230), de Vries, Skemp und van der Valk hingegen wie heute meist für lakajºr (Vries, A Note on Plato Symp 173D, 147; ders., The Philosospher’s Softness, 230 – 232; Skemp, The Philosopher’s Frenzy, 302 – 304; van der Valk, Manuscripts and Scholia. Some Textual Problems, 43). In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass bereits Thukydides die philosophische Beschäftigung gegen den Vorwurf der Verweichlichung in Schutz nimmt: vikosovoOlem %meu lakaj¸ar. (Th. Hist. II 40,1; siehe dazu S. 28) Es scheint ein allgemeines Vorurteil zu sein, dass mit einer intensiven intellektuellen Beschäftigung, denn das meint Thukydides hier mit »philosophieren«, die Gefahr körperlicher Schwäche und emotionaler Labilität einhergeht. Dazu passt die Darstellung des vor Trauer unbeherrschten Apollodoros am Tag der Hinrichtung von Sokrates. (Phd. 117d) Diese Parallele spricht gleichfalls für den Spitznamen lakajºr.
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ja· k]ceim btioOm – ja· bq_m aw Va_dqour, )c\hymar, 9qunil\wour, Pausam_ar, )qistod^lour te ja· )qistov\mar7 Syjq\tg d³ aqt¹m t_ de? k]ceim, ja· fsoi %kkoi; p\mter c±q jejoimym^jate t/r vikos|vou lam_ar te ja· bajwe_ar – di¹ p\mter !jo}seshe. succm~seshe c±q to?r te t|te pqawhe?si ja· to?r mOm kecol]moir. Smp. 218a-b, Üb. Zehnpfennig)
Die Metapher vom Biss der Natter reiht sich in die Liste der Bilder ein, die sich auch andernorts im platonischen Werk finden, wenn die Wirkung der sokratischen Reden auf die Seelen der Dialogpartner beschrieben werden soll: Mal wirkt Sokrates wie eine Bremse, die Athen aufscheucht und anstachelt wie ein Pferd; (Ap. 30e) mal paralysiert er wie ein Zitterrochen, so dass seinem Gegenüber die Argumente ausgehen und er widerwillig seine Unwissenheit eingestehen muss; (Men. 80a) dann wieder erscheint seine Gesprächsführung wie ein professioneller Spielertrick, durch den der unerfahrene Mitspieler im elenktischen Frage- und Antwortspiel entgegen seiner tatsächlichen Überzeugung schachmatt gesetzt wird; (R. 487c f.) Alkibiades selbst findet im Symposion noch das Bild vom betörenden Gesang der Sirenen, deren tödlicher Verlockung er nur widerstehen kann, indem er sich die Ohren zuhält, um der Philosophie nicht weiter zu verfallen. (Smp. 218a) Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass die Reden von Sokrates eine fundamentale Verunsicherung bewirken und so sehr verwirren, dass das Gegenüber seine Souveränität verliert und in den Bereich einer anderen Macht gerät, der es zu gehorchen gilt, ob man will oder nicht. Das wird als zutiefst bedrohlich empfunden und ist die Kehrseite der unbestrittenen Faszination, die von Sokrates und seinen Reden ausgeht. Diese Macht wird von Sokrates mal als die Wahrheit, (Grg. 472a; Smp. 201c) mal als die Philosophie, (Grg. 482a) mal als Schönheit bezeichnet, (Smp. 203c f.) der sich der philosophische Erotiker nicht entziehen kann. Immer aber trägt sie göttliche Züge. (Ap. 28e, 30a, Smp. 211e) Wo aber das Göttliche ins Spiel kommt, hört die Selbstverfügung des Menschen auf. Das gehört zum Wesen der mania. Darauf zielt der Ausspruch von Alkibiades über den Wahnsinn der Philosophie und die bacchische Raserei (t/r vikos|vou lam_ar te ja· bajwe_ar) im Gefolge des Gottes. Oberflächlich gesehen will er damit sein deplaziertes und gegen die Sitten verstoßendes Verhalten entschuldigen. Denn als er ein schöner und hochbegabter Jüngling war, hatte er versucht, den älteren Sokrates als Liebhaber zu gewinnen und zu sexuellen Handlungen zu verführen, um auf diese Weise dem bewunderten Philosophen das Geheimnis seiner Person und seiner Philosophie zu entlocken. Aber Sokrates wehrte das auf seine liebevoll spöttische Art und Weise ab: »O guter Alkibiades, du scheinst wahrlich gar nicht dumm zu sein, wenn das wahr ist, was du von mir sagst, und es eine Eigenschaft in mir gibt, durch die du besser werden könntest, und dann eine wunderbare Schönheit an mir erblicktest, die deine Wohlgestalt um gar vieles übertrifft.« (Smp. 218d f., Üb. Schl.) Alkibiades hoffte also wie Pausanias auf ein Tausch-
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geschäft: körperliche Schönheit gegen geistige Schönheit. Die Faszination durch Sokrates brachte ihn dazu, »alles Beliebige zu tun und zu sagen« und ein Verhalten zu zeigen, das ansonsten gesellschaftlich sanktioniert ist. Auch darin trifft er sich mit Pausanias, der gleichfalls betont, dass die Liebe eines philosophisch gebildeten Mannes zu einem schönen Knaben die befremdlichsten (haulast± 5qca 1qcafol´m\) und sonst für schändlich gehaltenen Handlungen rechtfertigt, wenn sie dem Zweck dienen, den Knaben für sich zu gewinnen. (Smp. 182e f.) Um den Wahnsinn, das heißt die Normabweichung ihres Verhaltens zu erklären, beruft sich Pausanias auf Eros und Alkibiades auf die Philosophie. Obwohl Alkibiades sich innerlich gedrängt sieht, das Lob auf Sokrates und dessen philosophische Gespräche zu singen, will er sich gleichzeitig dafür rechtfertigen, dass er sich von der Philosophie abgewandt hat. Alkibiades war zwar bereit, seinen Körper hinzugeben, um dadurch teilzuhaben an der Faszination, die von Sokrates ausging. Aber er war nicht bereit, seine Seele hinzugeben, sondern wollte seine Souveränität bewahren. Darum hielt er sich die Ohren zu vor dem Gesang der Sirenen, dem Zauberklang der philosophischen Reden, weil er sonst Konsequenzen ziehen müsste aus der Einsicht, dass er selbst zutiefst bedürftig ist und unfähig, politische Verantwortung zu tragen: »Denn er nötigt mich einzugestehen, dass mir selbst noch gar vieles mangelt (pokkoO 1mdeµr £m aqtºr) und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge. Mit Gewalt also, wie vor Sirenen die Ohren verstopfend, fliehe ich aufs eiligste, um nur nicht immer sitzen zu bleiben und neben diesem alt zu werden.« (Smp. 216a, Üb. Schl.) Der »Wahnsinn der Philosophie« besteht für Alkibiades darin, dass sich ihre Anhänger aus dem öffentlich-politischen Leben zurückziehen sollen, solange sie den ethischen und epistemischen Ansprüchen nicht genügen, die damit verbunden sind. Wer sich auf diese Denkweise einlässt, droht nicht nur zum gesellschaftlichen Außenseiter zu werden, sondern vor allem zur Untätigkeit und Erfolglosigkeit verdammt zu sein. Ihm winken nicht schon in jungen Jahren die Lorbeeren des politischen Erfolgs und der gesellschaftlichen Anerkennung, die Alkibiades doch über alles schätzt. (Smp. 216b) Alkibiades sieht darum nicht nur die Gefahr, über dem Bemühen um die Philosophie ein alter Mann zu werden, sondern auch immer im Schatten von Sokrates zu bleiben, ein Epigone wie Aristodemos oder Apollodoros. Er will aber seinen eigenen Vorstellungen gemäß leben und seine Landsleute durch Taten beeindrucken, für die er anerkannt und geehrt wird. Darum hält er sich die Ohren zu vor den Reden der Philosophie, die ihn zur Selbsterkenntnis zwingen und zum Eingeständnis, dass es nicht zu leben lohnte, wenn er so bliebe, wie er ist. (Smp. 216a) In diesem Eingeständnis besteht der »Wahnsinn der Philosophie«, vor dem er die Symposiasten warnt.355 355 Figal erklärt die Ambivalenz zwischen dem Anziehenden und zugleich Bedrohenden der
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Damit sind wir wieder beim Anfang des Symposions und dem Urteil von Apollodoros über die intellektuelle Oberschicht, die die Philosophie als eine Nebensache betreibt, aber sich der Selbsterkenntnis und der daraus resultierenden Lebensrevision verweigert. Alkibiades ist das Gegenbild zu Apollodoros. Der eine leitet das Symposion ein, der andere leitet es aus. Beide sind Freunde und Schüler von Sokrates. Beide sind auf ihre Weise von der Philosophie berührt und berückt, beide aber scheitern auch an ihr. Die Größe von Alkibiades besteht darin, dass er die innere Schönheit von Sokrates durchaus geschaut und die Radikalität seiner Philosophie verstanden hat. Er hört den Ruf der Philosophie, aber er verweigert sich aus gekränkter Selbstliebe und aus Ehrsucht und bleibt
Philosophie damit, dass die Liebe als ein freies Verhältnis zum Anziehenden in Konflikt gerät mit der gekränkten Selbstliebe, die nicht zur eigenen Unzulänglichkeit steht. (Figal, Das Untier und die Liebe, 13) Dabei bezieht er sich auf die Seelenteilungslehre der Politeia, um den innerseelischen Konflikt zwischen Wissen und Begehren zu beschreiben. Zwar kann das Wissen die Begierde integrieren, aber nicht umgekehrt. »Menschen, die Untiere sind, sind etwas anderes als Tiere, als Lebewesen, die nichts wissen. Es sind Lebewesen, deren Lebendigkeit unerfüllt bleibt, weil Begehren und Wissen fortwährend in einem Konflikt miteinander stehen, weil das Begehren gegen das Wissen fortwährend revoltiert: das Begehren von Befriedigung, aber auch das Begehren von Macht im persönlichen und politischen Bereich. … Das Untier wird nicht los, was es doch loswerden möchte: sein besseres Wissen…« (Ebd. 21 f.) Dieser Ansatz ist sehr attraktiv, um das bewunderndkritische Verhältnis von Alkibiades zur Philosophie und zugleich sein Streben nach Macht und Ruhm zu beschreiben. Aber diese Begründung steht dennoch im Widerspruch zur Einheitlichkeit des Eros auf allen Ebenen der Wirklichkeit, die das Beweisziel des Symposions ist. Denn die Konflikttheorie, wie sie Figal vertritt, bedeutet faktisch wie in der Politeia die Einführung unterschiedlicher Begehrensstrukturen in der Seele, ein Begehren des vernünftigen, göttlichen Seelenteils nach Wissen und eines des unvernünftigen, sterblichen Seelenteils nach körperlicher Befriedigung und Macht. Die provozierende These des Symposions ist aber gerade, dass trotz verschiedener Erscheinungsformen das Begehren eine einheitliche Natur hat, nämlich die Liebe zum Schönen, das auf unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit erfahren wird. Das Scheitern von Alkibiades ist nicht ein Scheitern »wider besseres Wissen« im Vollsinn des Wortes. Er ahnt zwar, was notwendig wäre und wo seine eigenen Unzulänglichkeiten liegen, er mag diesbezüglich eine richtige Meinung haben und wäre darum auch zur Philosophie berufen. Aber hätte er die Schönheit eines philosophischen Lebens wirklich erkannt, könnte er sich gar nicht dagegen entscheiden. Es gäbe dann keinen »Wahnsinn der Philosophie« mehr für ihn. Das Problem von Alkibiades ist darum ein epistemisches. Er hängt an dem konkreten einzelnen Schönen, das er nicht lassen kann, weil er die darin erscheinende allgemeine Schönheit gar nicht erkennt. Sein »geistiges Auge« (Smp. 219a) ist noch unterentwickelt, wie Sokrates sagt. Darum ist Rowe zuzustimmen, wenn er für das Symposion die »platonische« Psychologie der Politeia oder des Phaidros ablehnt und für eine »sokratische« Psychologie argumentiert, die wie im Lysis ein einheitliches Streben der Seele nach dem, was für einen gut ist, annimmt. Denn ein Konflikt zwischen rationalem und irrationalem Begehren wie in der Politeia oder im Phaidros ist im Symposion nicht gegeben, Vielmehr handelt es sich im Sinne des ethischen Intellektualismus um eine unzureichende Einsicht in das Gute. (Rowe, The Symposium as a Socratic Dialogue, 9, 17, 20 f.; Rowe/Penner, Plato’s Lysis, 300 – 307)
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auf halbem Wege stehen. (Smp. 216b, 222a) Das ist seine Tragik.356 Apollodoros dagegen folgt dem Ruf der Philosophie, aber offensichtlich hat er nicht die Größe zu wirklicher Selbständigkeit und Freiheit, die nur aus einer genuinen Begegnung mit der Schönheit selbst entsteht. Er bleibt ein Nachahmer des Philosophen und schafft es nicht, den Weg selbständig zu Ende zu gehen. Das wiederum ist seine Tragik. So ist die Philosophie kein breit ausgebauter Weg zu einem sicheren Ziel. Vielmehr finden sich darauf vielerlei Hindernisse, an denen selbst die Begabtesten und Einsatzfreudigsten scheitern können. Begeisterung und Wahnsinn liegen dann nicht weit auseinander.
2.2.
Philosophie und Päderastie (Pausanias)
Phaidros eröffnet die Reihe der Reden und singt ein flammendes Lob auf Eros, durch den insbesondere die männlichen Liebespaare zu einem Wetteifer um die Tugenden angefeuert werden. Das dient dem Wohl des Einzelnen wie der gesamten Stadt. Der moralische Wert des Eros steht für Phaidros außer Zweifel. Denn die Verehrung des Schönen und die Scham vor dem Schändlichen spornen den Liebenden zu den schönsten und besten Taten an und sind der Maßstab ihres Handelns. (Smp. 178d) Der mythische Eros ist darum für ihn Urheber und Garant der größten Güter. Von Philosophie ist dagegen nicht die Rede. Wenn Phaidros neben anderen geistigen Autoritäten auch Parmenides zitiert, (Smp. 178b) gibt er sich damit zwar als gebildet zu erkennen, aber die philosophische Reflexion ist nicht sein Revier und sein Anspruch. Für die Verwirklichung eines tugendhaften Lebens ist sie, im Gegensatz zur Inspiration durch den Eros, aus seiner Sicht durchaus verzichtbar. Bei Pausanias, dem zweiten Redner, stellt sich das etwas anders dar. Im Vergleich zu Phaidros ist er ein rational argumentierender Relativist und schaut mit nüchternem Blick auf den Eros. Er widerspricht Phaidros, wenn er betont, dass die Liebe keineswegs nur zu schönen und guten Taten anregt, sondern auch zu schändlichem Tun verleiten kann. Die Scham vor dem Schändlichen ist also kein absoluter Maßstab für die moralische Rechtfertigung erosmotivierter Handlungen. Vielmehr bedarf es nach Pausanias einer rationalen Erklärung, warum die Liebeshingabe bei dem einen Partner gut, bei einem anderen hingegen schlecht sein kann; oder warum die Liebesform der Päderastie je nach kulturellem Kontext unterschiedlich bewertet wird: Während sie in manchen Gegenden generell gebilligt wird, wird sie in anderen ebenso entschieden ablehnt. (Smp. 182 a f.) Pausanias folgert daraus, dass es keine moralische Norm in 356 »Alkibiades is represented by Plato as the supreme example of philosophical potential gone to waste.« (Blondell, The Play of Character in Plato’s Dialogues, 109)
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Liebesfragen gibt, die für alle Menschen unter allen Umständen gleicherweise gilt. Vielmehr ist sie Gegenstand gesellschaftlicher Konventionen, die von Menschen nach unterschiedlichen Kriterien festgelegt werden.357 Das Liebeshandeln ist nur ein spezieller Fall menschlicher Handlungen, für die generell gilt, dass sie keinen intrinsischen Wert haben, sondern ihre Bewertung leitet sich aus der Intention und der Art ihrer Durchführung ab: »Mit jeder Handlung nämlich verhält es sich so: an und für sich selbst ist, sie zu verrichten, weder schön noch häßlich; wie was wir jetzt tun, trinken, singen, sprechen, davon ist nichts an und für sich schön, sondern wie es in der Ausübung gerät, so wird es. Denn schön und recht gemacht, wird es schön; unrecht aber wird es schlecht. So auch das Lieben und der Eros: nicht jeder ist schön und wert, verherrlicht zu werden, sondern nur der uns anreizt, schön zu lieben.« (Smp. 180 e f., Üb. Schl.) Pausanias zielt damit auf ein ästhetisches und intentionales Kriterium für die Begründung und Bewertung von Liebeshandlungen. Als Beispiel verweist er auf die unterschiedliche Haltung der Griechen zur Päderastie.358 Denn in Gegenden, wo die Menschen nicht klug zu reden verstehen (ox lµ sovo· k´ceim) und deswegen ihre Lieblinge auch nicht mit Worten von der Schönheit einer päderastischen Handlung überzeugen können (kºc\ … pe¸heim), sei die Gewährung sexueller Befriedigung (t¹ waq¸feshai 1qasta?r) ganz generell Brauch. (Smp. 182b) Die Fähigkeit, jemanden durch Worte von der Rechtmäßigkeit und dem Wert einer Handlung zu überzeugen, ist aber ein charakteristisches Merkmal sophistischer Rhetorik, die auch als philosophische Kompetenz bezeichnet wird. Pausanias führt also die generelle Akzeptanz der Päderastie auf rhetorisch-philosophische Inkompetenz zurück. Er kritisiert nicht die päderastische Handlung als solche, weil sie wertneutral sei, sondern die Unfähigkeit zur rationalen Legitimation und damit die Unkultiviertheit (!cq¸am, Smp. 182d). Das ist es, was die Handlung unschön macht. Schön und gerechtfertigt ist umgekehrt, wofür man überzeugend argumentieren kann. Die rhetorische Kompetenz wird damit zum Kriterium für die Akzeptanz und Sittlichkeit von Handlungen. Anders als im griechischen Kernland liegen die Dinge in Gegenden, wo die Griechen unter Nichtgriechen wohnen. Dort wird wegen der tyrannischen Herrschaftsform der freiheitliche griechische Geist gefürchtet. Alle Bestrebun357 Krüger weist darauf hin, dass Pausanias hier die sophistische These vertritt, »…Nomoi seien ›durch Satzung (h´sei)‹, nicht ›von Natur‹ (v¼sei) da« und müssten darum aus den Motiven souveräner Gesetzgeber heraus verstanden werden. (Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 102) 358 Zur Praxis der Päderastie im antiken Athen im Kontext der Erziehung und ihre Kritik durch Platon siehe Brisson, Agathon, Pausanias, and Diotima in Plato’ Symposium: Paiderastia and Philosophia, 229 – 251; auch Patzer, Die Griechische Knabenliebe, insbesondere 46 – 61; 67 – 71; 90 – 125.
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gen werden unterdrückt, die die Machtverhältnisse in Frage stellen oder verschieben könnten. Dazu zählt Pausanias neben der Begeisterung für die Philosophie und den Sport auch die päderastischen Freundschaften: Die Barbaren nämlich halten dies wegen ihrer tyrannischen Herrschaft für schändlich, ebenso wie die Liebe zum Wissen und die Liebe zum Sport. Denn für die Herrschenden, denke ich, ist es nicht von Vorteil, wenn bei den Beherrschten ein hohes Selbstgefühl sowie starke Freundschaften und Gemeinschaften entstehen, was in besonderem Maße neben jenem anderen allen auch die Liebe hervorzubringen pflegt. (to?r c±q baqb\qoir di± t±r tuqamm_dar aQswq¹m toOt| ce, ja· F ce vikosov_a ja· B vikoculmast_a· oq c±q, oWlai, sulv]qei to?r %qwousi vqom^lata lec\ka 1cc_cmeshai t_m !qwol]mym, oqd³ vik_ar Qswuq±r ja· joimym_ar, d dµ l\kista vike? t\ te %kka p\mta ja· b 5qyr 1lpoie?m. Smp. 182b f., Üb. nach Zehnpfennig)
Pausanias führt hier ein politisches Argument für die Unterdrückung der Päderastie an, das aber mit dem rhetorischen Argument harmoniert. Die absolute Herrschaftsform der Tyrannis muss darauf achten, dass sich in ihrem Machtbereich keine herausragenden intellektuellen und kriegerischen Fähigkeiten oder soziale Netzwerke entwickeln, die ihr gefährlich werden könnten. Das Gegenbild zur Tyrannis ist die attische Demokratie in Verbindung mit der sophistischen Bildungskonzeption. Nicht ererbte Macht und sozialer Status sind dort die Garanten politischer Herrschaft, sondern vor allem erworbene Qualitäten: eine hohe intellektuelle Bildung, die vikosov¸a, und eine überragende körperliche Leistungsfähigkeit durch die vikoculmast¸a, sowie darauf aufbauend ein soziales Netz politisch belastbarer Freundschaftsbünde. Mit diesem Verständnis von Philosophie und Philogymnastie bleibt Pausanias ganz dem konventionellen Sprachgebrauch der Komposita mit phil- verhaftet, wie wir ihn bereits aus dem Lysis kennen.359 Er bezeichnet damit eine intensive, über das übliche Maß hinausgehende Beschäftigung mit einer Sache, durch die dann eine herausragende Kompetenz erworben wird, für die er einen himmlischen Ursprung in Anspruch nimmt: die mutterlose, himmlische Aphrodite. Diese verdankt sich allein dem männlichen Prinzip des Ouranos und bringt deswegen den homoerotischen Eros hervor. Weil der Mann im Vergleich zur Frau nach dieser Auffassung grundsätzlich die vernünftigere und stärkere Natur hat, (Smp. 180d, 181c, 185b) sind das Streben nach Wissen und sportliche Leistungsfähigkeit spezifisch männliche Eigenschaften und gehen mit dem homoerotischen Eros einher. Philosophie, Philogymnastie und Päderastie sind darum für Pausanias Kennzeichen einer besonderen männlichen Exzellenz. Aus dem Exzellenzanspruch folgt aber auch, dass Pausanias die generelle Billigung der Päderastie ebenso ablehnt wie deren generelle Ächtung. Stattdessen argumentiert er für eine komplizierte attische Sitte, für ein Sowohl-als-Auch. Diese 359 Siehe S. 201 ff.
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bestärkt einerseits den erwachsenen Mann darin, sich intensiv und liebevoll um die heranwachsenden Jugendlichen zu bemühen und insbesondere diejenigen mit den edelsten und besten Anlagen nach Kräften zu fördern. Dieses positive Anliegen erlaubt sogar Handlungen, die ansonsten gesellschaftlich sanktioniert sind. (Smp. 182d – 183b) Andererseits ist es aber auch üblich, dass Väter unmündiger Knaben dafür sorgen, dass sich ihre Söhne nicht ohne Aufsicht mit den Liebhabern unterhalten (diak´ceshai), weil sie befürchten, dass die Knaben zu päderastischen Handlungen überredet werden.360 (Smp. 183c) Das zeugt davon, dass die Päderastie in Athen durchaus kritisch bewertet wurde. Pausanias unterstreicht den Widerspruch zwischen diesen Sitten und Gebräuchen. Die Lösung liegt nach seiner Meinung in der Prüfung geeigneter Partner. Unabhängig von einer wohl tatsächlich unklaren Haltung zur Knabenliebe im antiken Athen ist das argumentative Ziel von Pausanias offensichtlich, nämlich die Rechtfertigung der Päderastie durch eine besondere intellektuelle Qualifikation. Wenn nämlich die Förderung der Tüchtigkeit und Bildung des Knaben die Beziehung motiviert und beide Parteien sich in diesem erotischen Verhältnis nach eingehender Prüfung gegenseitig für geeignet halten, kann auch nach attischer Sitte die Befriedigung, die ein Knabe seinem Liebhaber gewährt, als schön gelten (Smp. 184a f.): der Liebhaber, weil er sich durch besondere Kompetenz auszeichnet und auch fähig ist, seinem Schützling Einsicht und jegliche andere Tüchtigkeit beizubringen (eQr vqºmgsim ja· tµm %kkgm !qetµm nulb²kkeshai); und der Knabe, weil er Bildung begehrt und Wissen jeglicher Art erlangen will (eQr pa¸deusim ja· tµm %kkgm sov¸am jt÷shai). (Smp. 184d f.) Dieses Streben nach intellektueller und sittlicher Exzellenz bezeichnet Pausanias zusammenfassend mit dem Begriff »Philosophie«. Damit löst sich der von ihm behauptete Widerspruch zwischen den Gepflogenheiten in Athen auf: Diese beiden Vorschriften muss man nun zu ein und demselben vereinigen, nämlich die über die Knabenliebe und die über die Philosophie und die übrige Tüchtigkeit,361 wenn es zutreffen soll, dass es schön ist, dass der geliebte Knabe dem Liebhaber Befriedigung gewährt. (de? dµ t½ m|ly to}ty sulbake?m eQr taqt|, t|m te peq· tµm paideqast_am ja· t¹m peq· tµm vikosov_am te ja· tµm %kkgm !qet^m, eQ l]kkei sulb/mai jak¹m cem]shai t¹ 1qast0 paidij± waq_sashai. Smp. 184c f., Üb. B.S.) 360 Dagegen zielt das sokratische diak´ceshai keineswegs auf die inkriminierte Überredung der Jugend, sondern bezeichnet die philosophischen Gespräche. Vgl. a. Smp. 217 b, d, wo Alkibiades berichtet, dass er sich mit Sokrates bis tief in die Nacht unterhält (diekecºlgm), um ihn dadurch zum Bleiben und zu sexuellen Handlungen zu bewegen. Damit verzweckt er das Gespräch wie Pausanias in sexueller Absicht. Für Sokrates aber liegen Wert und Befriedigung »wie gewohnt« in der philosophischen Unterredung selbst (¦speq eQ¾hei diakewhe·r %m loi) und nicht in sexuellen Belohnungen. 361 Hier ist Tüchtigkeit und nicht Tugend zu übersetzen, weil bei Pausanias der Gedanke der Kompetenz und Leistung vorherrscht vor dem moralisch Guten und Werthaften, das im Begriff der Tugend mitschwingt.
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Pausanias propagiert nicht nur die sophistische Bildungskonzeption, sondern auch die damit verbundene merkantile Haltung. Wissen ist ein Bildungsgut, das man besitzen, vermitteln und erwerben kann und für das man deswegen auch einen Gegenwert erwarten darf. Nun reflektiert Pausanias nicht auf Geld, wie das in sophistischen Kreisen üblich war, wohl aber auf körperliche Entlohnung als Zeichen der Dankbarkeit des Heranwachsenden. (Smp. 184d) Während eine päderastische Beziehung gegen Geld strikt geächtet ist (Smp. 184a f.) und umgekehrt für die philosophische Bildung eine finanzielle Entlohnung als angemessen betrachtet wird, möchte Pausanias diese beiden sittlichen Richtlinien verbinden, obwohl sie sachlich nichts miteinander zu tun haben. Er verzichtet auf die monetäre Entlohnung für die philosophischen Bemühungen, aber ersetzt sie durch die sexuelle. Die päderastische Beziehung ist somit nicht finanziell motiviert, sondern kann auf den Wunsch nach Bildung und also auf höhere und edlere Motive verweisen. (Smp. 184c, 185b) Daraus leitet Pausanias die Legitimität einer Synthese von Philosophie und Päderastie ab.362 Diese Synthese basiert auf Voraussetzungen, die auch andernorts im platonischen Werk kritisiert werden: zum einen der Annahme, dass die sophia eine Eigenschaft ist, die man erwerben oder besitzen und entsprechend auch einem Schüler vermitteln und lehren kann;363 zum anderen, dass sich aus dieser besonderen Kompetenz ein Recht auf Entlohnung ableiten lässt.364 Weiterhin dass Philosophie und Päderastie in einem naturgegebenen Zusammenhang stehen. Und schließlich dass die Rationalisierung der Erotik zwar die Mittel, das »Wie« 362 Mit der oben beschriebenen Philosophiekonzeption von Pausanias lässt sich eine sprachliche Wendung nicht konsistent erklären, in der vom »Tadel der Philosophie« die Rede ist: Und man bedenke, daß es die Sitte dem Liebhaber gestattet, bei dem Versuch, den Geliebten zu gewinnen, erstaunliche Dinge zu tun und dafür noch gelobt zu werden. Wollte aber jemand wagen, diese zu tun, weil er irgend etwas anderes verfolgte und erreichen wollte außer diesem, so würde er den größten Tadel [der Philosophie] ernten. (ja· pq¹r t¹ 1piweiqe?m 2ke?m 1nous_am b m|lor d]dyje t` 1qast0 haulast± 5qca 1qcafol]m\ 1paime?shai, $ eU tir tokl]g poie?m %kk’ btioOm di~jym ja· boukºlemor diapq²nashai pkµm toOto, vikosov¸ar t± l´cista jaqpo?t’ #m ame_dg7, Smp. 182e f., Üb. Zehnpfennig) Viele Übersetzer streichen denn auch aufgrund der verderbten Textgrundlage »Philosophie« und sprechen lediglich vom »Tadel«. »It is hard to see, how ›philosophy‹ comes into it, since the reproaches would be uttered by people in general …« (Dover, Plato: Symposium, 100; vgl.a. Brisson, Le Banquet, 194) Der Tadel bezieht sich auf die gesellschaftliche Ächtung eines Verhaltens, bei dem jemand um die Gunst eines anderen wirbt und sich in seiner Würde selbst degradiert. Da ein solches Verhalten auch sonst Gegenstand scharfer sokratischer Kritik ist und als unphilosophisch gilt (z. B. Ap. 34c, 35b), ist anzunehmen, dass vikosov¸ar eine spätere Interpolation ist, wodurch die Argumentation von Pausanias aber eher verdunkelt als erhellt wird. Denn das durchgängige argumentative Ziel von Pausanias ist es zu zeigen, dass die Philosophie entgegen dem üblichen gesellschaftlichen Tadel das normsprengende Verhalten des päderastischen Liebhabers nicht ächtet, sondern es vielmehr legitimiert, weil es Ausdruck eines das gewöhnliche Maß übersteigenden Strebens nach Exzellenz ist. 363 Euthd. 273d – 275a, s. a. S. 68 f. 364 Prt. 310d u. S. 56; Mn. 91d; Sph. 223a f., 223e – 224d, 225e. u. S. 336; X. Smp. 1,5.
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und die Bedingungen einer Handlung, einer kritischen Reflexion unterzieht, aber nicht ihre Ziele. In der Diotimarede wird Platon eine Gegenkonzeption zu dieser Synthese in Szene setzen, die »rechte Art der Knabenliebe« (t¹ aqh_r paideqaste?m, Smp. 211b). Sie transzendiert die jugendliche Schönheit eines Knaben ebenso wie jede andere konkrete Schönheit, um in der Begegnung mit der wahren, ideellen Schönheit wahre Tugend zu erzeugen (tejºmti d³ !qetµm !kgh/, Smp. 212a). Die Tugend eines Liebhabers der Schönheit steht dabei nicht am Anfang, sondern ist Zeichen seiner Vollendung. Er besitzt sie nicht, sondern er wird sie. Dieser Liebhaber hat darum nichts zu fordern, weder Geld noch Liebesdienste, sondern er ist und bleibt ein Bedürftiger. Philosophie hat in dieser Konzeption ihren Platz nicht auf der Seite derer, welche die Weisheit besitzen, sondern derer, die sie in unerschöpflichem Streben nach Weisheit begehren (1m vikosov¸a !vhºm\, Smp. 210d).
2.3.
Der unphilosophische Eros (Phaidros, Eryximachos, Aristophanes und Agathon)
Phaidros, von dem der Vorschlag für das Thema stammte, hatte die Reihe der Lobreden eingeleitet, gefolgt von Pausanias.365 Während Pausanias die sophistische Auffassung von Philosophie ausdrücklich für sein Konzept des männlichen Eros reklamiert, nehmen Phaidros, Eryximachos, Aristophanes und Agathon keinen näheren Bezug auf die Philosophie. Das liegt nicht zuletzt an ihrer jeweiligen »Profession«, die sie zwar geistreich vertreten, aber in deren Grenzen sie auch befangen bleiben. Der Arzt und Naturwissenschaftler Eryximachos greift die von Pausanias eingeführte Unterscheidung eines guten und schlechten Eros auf und wendet sie generalisierend auf alles Seiende an, auf die belebte Natur ebenso wie auf das menschliche und göttliche Handeln. (Smp. 186a f.) Aus dem anthropologischen Prinzip wird ein kosmologisches. Das Gesunde und Harmonische zu lieben, ist schön (jakºm); dagegen ist es hässlich (aQswqºm), das Kranke, Ungeordnete und Ungezügelte zu lieben. (Smp. 186b f.) Dabei steht für Eryximachos der Anwendungsaspekt im Vordergrund. Der Arzt ist vor allem ein praxisorientierter Fachmann und Handwerker, der die Gesetzmäßigkeiten der Natur kunstfertig anwendet (tewmijºr) und für den Menschen nutzbar macht. (Smp. 186c f.) Das gilt auch für den guten Eros, dessen positive Wirkung er souverän einsetzt und so die Glückseligkeit (eqdailom¸a, Smp. 188d) des Ganzen zu befördern weiß. Zwar preist Eryximachos formaliter Eros noch als großen Gott, durch den alles 365 Siehe S. 226.
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Der philosophische Eros
Seiende zusammengehalten und befreundet wird. Aber er verlässt sich nicht mehr allein auf das Walten des göttlichen Eros, sondern stellt ihm den menschlichen Demiurgen an die Seite. Er hat ihn faktisch entthront, denn für die Aufrechterhaltung der Ordnung ist nicht mehr Eros zuständig, sondern der ärztliche Fachmann, der die Kraft des Eros sachkundig einsetzt. Damit geht allerdings das Problem einher, dass der Tod als Gegenspieler des Eros nicht nur bekämpft, sondern auch verdrängt wird. Dieses Problem wird Aristophanes in seiner an Eryximachos anschließenden Rede aufgreifen. Vor allem aber wird Sokrates darauf antworten, indem Sterben und Tod neben Zeugung und Geburt zu konstitutiven Elementen der Eroskonzeption werden, die er vorträgt. (Smp. 203e, 206c, 207d – 208b) Den kosmologischen Ansatz von Eryximachos wird Sokrates allerdings fortführen. Danach ist Eros eine Macht, die nicht nur das menschliche Leben, sondern alles Lebendige (f`om) durchwirkt. (Smp. 207a-d) Grundsätzlich gilt jedoch, dass Eryximachos, obwohl er auf den Theorien der großen Naturphilosophen aufbaut, in der Enge seiner anwendungsbezogenen Zielsetzung befangen bleibt. Das bewirkt den unphilosophischen Charakter seiner ärztlichen Kunst.366 Anders als Phaidros und Eryximachos geht Aristophanes nicht einfach von der Faktizität des Eros aus, sondern fragt nach dessen Ursachen. Dabei kritisiert er das wissenschaftstechnische Erfolgsmodell von Eryximachos, wenn er feststellt, dass Eros selbst der Arzt sei, der den Menschen heilt. (Smp. 189c f.) Denn keineswegs habe Eros die Hilfe des Menschen nötig, sondern das Umgekehrte ist der Fall. Der komödiantische Mythos vom Kugelmenschen, den Aristophanes zur Begründung erzählt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das anthropologische Modell dahinter zutiefst pessimistisch ist.367 Denn die Natur des jetzigen Menschengeschlechts ist ihrem Wesen nach krank und unheil und nicht seine ursprüngliche. Anfangs gab es nämlich drei Menschengeschlechter : das Männliche, das Weibliche und das Mannweibliche, deren Körper in Anlehnung an die Sterne kreisförmig und vollkommen symmetrisch gebaut waren und sich wie ihre himmlischen Vorbilder in einer Kreisbahn radschlagend vorwärts bewegten. So wie die Kugelform der Himmelskörper in ihrer Gleichmäßigkeit und Symmetrie Ausdruck der Vollkommenheit ist, zeigt auch die Kugelform der ursprünglichen Menschen ihre vollkommene Natur an, die ein gigantisches Maß 366 Sier bezeichnet dies denn auch als »Philosophie aus zweiter Hand«; s. Sier, Das Philosophische im Symposion, 35 f. Dass in der Antike eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Frage geführt wurde, ob philosophische oder ausschließlich empirische Überlegungen der ärztlichen Kunst zugrunde liegen sollen, zeigt die hippokratische Schrift Über die alte Medizin, siehe S. 29. 367 Krüger charakterisiert deswegen die Rede von Aristophanes als tragische Komödie und das Gegenstück von Agathon als komische Tragödie. (Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 130, 138)
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an Fähigkeiten freisetzte. Allerdings wurden sie dadurch zur Selbstüberhebung und Auflehnung gegen die Götter verleitet, und Streit mit den Göttern und Bestrafung der Giganten waren die Folge. Die Götter schnitten sie der Hälfte nach durch, heilten die Wunden und drehten das Gesicht so, dass die Hälfte den Schnitt immer vor Augen hat, um die auf diese Weise entstandene gegenwärtige Menschheit zur Ordnung zu ermahnen und zu erziehen. (Smp. 190c – 191a) Keineswegs also sind die Menschen die Hüter der Ordnung, als die sie Eryximachos gern sehen wollte. Sondern ihre Hybris gegenüber den Göttern und deren Ordnung beschwört Unordnung und Unheil herauf. Nunmehr sehnten sich die getrennten Hälften in unstillbarem Verlangen nach ihrer anderen Hälfte und zogen es vor, lieber zu sterben als getrennt voneinander zu sein. Doch die Götter erbarmten sich, indem sie durch eine weitere Operation dem ursprünglich androgynen Geschlecht die Zeugung ineinander ermöglichten. Auf diese Weise wurde nicht nur der Fortbestand des Menschengeschlechts gesichert, sondern die Sexualität gewährt den Menschen zumindest zeitweise Befriedigung an ihrer anderen Hälfte, so dass sie nach einiger Zeit auch wieder voneinander ablassen und sich den Aufgaben des Lebens zuwenden können.368 In dieser komödiantischen Erzählung wird der Eros zur unerfüllbaren Sehnsucht nach der ursprünglichen Ganzheit des Menschen, die in Folge der menschlichen Hybris unwiederbringlich verloren ist. Tod und Sexualität sind Kennzeichen der nunmehr unheilen Menschheit. Auch die Frömmigkeit, zu der Aristophanes ermahnt, vermag die Wunden der Seele nicht grundlegend zu heilen. Es gibt kein Zurück mehr in das goldene Zeitalter der Ganzheit.369 Das Konzept des Eros als Sehnsucht nach der ursprünglichen Ganzheit sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aristophanes damit keineswegs einen metaphysischen Begriff von Ganzheit verbindet, sondern ein psychologisches Phänomen beschreibt, das er auf die Körperwelt zurückführt. Denn mit der Halbierung der Körper der Giganten wurden implizit auch deren Seelen halbiert, so dass auf diese Weise die Liebessehnsucht in der Seele entstand. Folglich ist die Seele bei Aristophanes ein Epiphänomen des Körpers, und der Eros der Seele bleibt an die Körperwelt gebunden. Die Kritik von Sokrates setzt denn auch hier an: Zum einen ist nach Sokrates die Ganzheit kein intrinsischer Wert für den Menschen, 368 Krüger bemerkt dazu treffend: »Das Sexuelle ist in der erotischen Leidenschaft gerade nicht die Hauptsache, und nicht das unstillbare Verlangen zum Einssein ist ihm zu verdanken, sondern gerade dies, dass man die Liebe zuweilen satt bekommt. Das Rätsel des erotischen Pathos ist ein religiöses Problem: wir leiden an den Folgen eines tragischen Urfrevels der Menschen gegen die Götter.« (Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 128 f.) 369 Oeing-Hanhoff weist darauf hin, dass die Aristophanesrede eine Kritik an den anderen Reden und deren Erfolgsmodell des Eros darstellt. »Die heile Welt, in welche die Liebe zu versetzen verspricht, zeigt sich früher oder später als Illusion. Es kann nicht gut, nur schlimmer werden.« (Oeing-Hanhoff, Platon über die Liebe, 768, siehe dazu a. ders., Systematisch erzeugter Schein in einer spekulativen Deutung von Platons »Symposion«, 381)
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Der philosophische Eros
wenn sie nicht zugleich auf das Gute zielt und es einschließt. (Smp. 205e) Zum anderen übersteigt das Ziel des Eros grundsätzlich die Körperwelt und kann nur mit dem »Auge des Geistes« erfasst werden. (Smp. 219a) Diese Dimension fehlt aber bei Aristophanes. Seine Herleitung des Eros kommt ohne philosophische Anleihen aus und bleibt ganz im tragikomischen Mythos befangen. Als Gegenüber zum großen Komödiendichter Aristophanes würde man einen der drei großen Tragödiendichter erwarten.370 Aber Platon hat offensichtlich ganz bewusst dem Traditionalisten Aristophanes den Neuerer Agathon entgegengestellt, einen Vertreter der neuen Tragödie, der mit den traditionellen mythischen Erzählstoffen bricht, um den Anbruch einer neuen Zeit zu signalisieren.371 Zwei unterschiedliche Menschenbilder werden auf diese Weise kontrastiert: hier der den göttlichen Schicksalsmächten ausgelieferte, aber auch bei ihnen aufgehobene Mensch; dort der sich auf sich selbst und seine eigenen Möglichkeiten besinnende Mensch. Das Liebespaar Pausanias-Agathon steht für die griechische Aufklärung, die sie mit rationalisierenden Argumenten und rhetorischen Mitteln wirkungsvoll vertreten. Agathon präsentiert sich dabei als methodenbewusster Redner, der zunächst das Wesen und die Eigenschaften dessen beschreibt, den er loben will, und sodann die Wirkungen, für die Eros ursächlich verantwortlich sei.372 (Smp. 195a) Entsprechend schreibt er Eros eine ganze Reihe herausragender Qualitäten zu: Er ist nicht nur wie die anderen 370 Das dramaturgische Datum des Symposions fällt in das Jahr 416 v. C. Zu dem Zeitpunkt lebten von den drei großen Tragikern Aischylos, Sophokles und Euripides noch die beiden letzten. Da Sophokles der unangefochtene Liebling der Athener war, wäre er aufgrund seines dichterischen Niveaus und seiner Popularität das ideale Pendant zu Aristophanes gewesen. Wenn Platon sich dennoch für Agathon entschied, so mag neben dem Porträt der geistigen Strömungen seiner Zeit auch der Name Agathon eine Rolle spielen, ermöglicht er doch die inhaltliche Assoziation des Guten als Bezugspunkt des Eros. Das wird in der Sokrates/Diotimarede eine wichtige Rolle spielen. 371 Agathon war zur Zeit seines Tragödiensiegs bereits dreißig, wird aber noch als Jüngling (meam¸sjor, Smp. 198a) bezeichnet. Das kann man auch dahin deuten, dass er nie ein »richtiger« Mann wurde, denn in den Thesmophoriazusen verspottet ihn Aristophanes als weibischen Homosexuellen. Siehe hierzu Brisson, Le Banquet, 24, Anm. 5. Das Verhältnis von Aristophanes und Agathon war also nicht unkritisch. Was Agathons Verhältnis zum traditionellen Denk- und Wertehorizont anbetrifft, ist eine Bemerkung von Aristoteles in der Poetik aufschlussreich. Dort argumentiert er mit Verweis auf Agathon und dessen Tragödie »Die Blume« (Antheus) für die Freiheit von traditionellen Erzählstoffen, weil auch diese keineswegs allen bekannt sind, aber dennoch allen Zuhörern Freude bereiten. Das können auch völlig neu erfundene Tragödienstoffe und Personen leisten. (Arist. PO. 1451b 20 ff.) Die Tragödie löst sich damit jedoch von ihrer ursprünglich religiösen Funktion, denn sie sollte nicht primär ästhetisches Vergnügen bereiten, sondern hatte eine moralische, läuternde Funktion. Platon mag genau diese Loslösung von der katharsis kritisch bewerten. 372 Die klassische Lobrede umfasst »(i) those blessings with which the subject is endowed 5ny t/r !qgt/r ; (ii) his !qgt¶, divided into sov¸a…, !mdqe¸a…, dijaios¼mg… and 1pitgde¼lata 5mdona; (iii) his forebears; (iv) his achievements, including what he has caused to happen through the agency of others.« (Dover, Plato: Symposium, 12)
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Götter glückselig, schön und gut, sondern sogar der glückseligste unter ihnen, weil er auch der schönste und beste ist. (Smp. 195a) Schon diese Begründungsstruktur zeigt, dass Agathon Eros als Gott der Superlative stilisiert, ungeachtet dessen, ob die Beschreibung zutrifft oder nicht, wie Sokrates dazu kritisch anmerken wird. (Smp. 198d f.) Die Zuhörer sind jedenfalls begeistert. Ein weiteres Muster ist das Prinzip der Analogie. (Smp. 195b) Dabei schließt Agathon von den Eigenschaften des Gegenstandes, auf den sich der Eros richtet, auf diesen selbst: Weil der Eros vor allem bei der Jugend zu finden sei und das Alter flieht, muss er selbst jung sein; und ebenso ist er zart, weil er in den zarten Seelen wohnt. (Smp. 195e) Beide Eigenschaften besitzt er wiederum in höchstem Maß. Auch die Kardinaltugenden kommen ihm selbstverständlich zu, so dass sich dank seiner überragenden Kompetenz alles zum Besten fügt: »Daher ordneten sich auch die Verhältnisse der Götter, als Eros hinzukam, die Liebe zum Schönen nämlich; denn bei dem Häßlichen ist Eros nicht.« (Smp. 197b, Üb. Zehnpfennig) In dieser Beschreibung des Eros als »Liebe zum Schönen« gipfelt die Wesensschilderung, und es folgt wie bei einem brillanten Feuerwerk zum Schluss der Rede der überwältigende Lobpreis der Leistungen und Wohltaten des Eros für Menschen wie für Götter.373 Es fällt schwer, auf Anhieb ein Gut zu benennen, für das er nicht als Urheber genannt wird. (Smp. 197 c-e) Ein neues, schönes, mildes, glückliches Zeitalter strahlt unter dem Regiment von Eros auf. Das Publikum (t¹ h´atqom, Smp. 194a) ist begeistert, Agathon scheint den Redeagon aufs Neue gewonnen zu haben. Der Zuspruch der Zuhörer dürfte neben der starken suggestiven Wirkung der gorgianischen Klangmuster auch darauf zurückzuführen sein, dass in dieser Rede die menschlichen Anlagen zu einer ins Göttliche gesteigerten Möglichkeit werden. Darin drückt sich ein Anthropomorphismus aus, bei dem die in der Tradition bewahrte, grundsätzliche Differenz zwischen Gott und Mensch aufgehoben wird. Menschenwelt und Götterwelt unterscheiden sich nur noch graduell, und dank des Eros ist der Übergang fließend. Sokrates wird durchaus anerkennende Worte für Agathon finden, wenn er erstens dessen Methodenreflexion in Erinnerung ruft und zweitens die Charakteristik des Eros als Liebe zum Schönen zum Zentrum seiner Eroskonzeption 373 Dover zeigt, dass Agathon nicht nur den Regeln für ein enkomion mit seiner Rede folgt und sich hierzu an den großen Rhetoriker und Sophisten Gorgias anlehnt, sondern vor allem am Schluss der Rede den kunstvollen, rhythmischen Effekten freien Lauf lässt. »The last section (197 d1-e5) consists of a chain of laudatory phrases organised in pairs or series, with a high degree of symmetry, rhyme and assonance. Its nearest analogue is Gorgias B6, a substantial citation from a funeral speech.« (Dover, Plato: Symposium, 123) Dover belegt diese Anklänge mit einer Vielzahl metrischer Muster, um Mühe und Geschick Platons bei der Nachahmung herauszustreichen: »Plato has taken considerable trouble to give Agathon’s peroration a poetic character in addition to caricaturing its ›Gorgianic‹ structure.« (Ebd., 124.)
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Der philosophische Eros
macht und drittens der Frage nachgeht, inwieweit sich der Mensch mit Hilfe des Eros dem Göttlichen annähern und angleichen kann. Allerdings wird er zugleich kritisieren, dass nicht die formale Wortgewandtheit über die Angemessenheit und Schönheit einer Lobrede entscheidet, sondern die Wahrheit der Aussagen das leitende Kriterium sein muss.374 (Smp. 199a f., 201c) Es ist gerade die einseitige Ausrichtung an der Ästhetik der Worte und die Willkür in der Zuschreibung aller möglichen Wertprädikate, die den unphilosophischen Charakter von Agathons Rede ausmachen. Sokrates fällt es denn auch nicht schwer, in einem kurzen elenchos Agathon das Eingeständnis abzuringen, dass er wohl nichts von dem verstanden hat, was er zuvor wortreich behauptete. (Smp. 201b)
2.4.
Philosophie ist die Liebe zum Schönsten (Sokrates und Diotima)
Nach einem elenktischen Zwischenspiel mit Agathon hält auch Sokrates seine Rede auf den Eros. Jedoch stammt sie nicht von ihm selbst. Er hatte sie in jungen Jahren von der weisen Priesterin Diotima aus Mantinea gehört, als diese ihn über alle Fragen die Liebe betreffend unterrichtete (t± 1qytij± 1d¸danem, Smp. 201d). Kurz vor dem Höhepunkt dieser Rede, wo es um den letzten Schritt zur Schau des Schönen selbst geht, heißt es vom Erotiker, der den langen Weg der Einweihung in die Liebe erfolgreich emporgestiegen ist,375 dass er sich dem weiten Meer des Schönen zuwendet (1p· t¹ pok» p´kacor tetqall´mor toO jakoO), es betrachtet und dabei viele schöne und erhabene Reden und Gedanken erzeugt in einer unerschöpflichen Liebe zur Weisheit (1m vikosov¸ô !vhºm\). (Smp. 210d) Hierbei verbinden sich die Metapher vom Aufstieg und eine zweite vom Ozean des Schönen zum Bild einer Gipfelbesteigung, bei der erst von oben her die unermessliche Fülle des Schönen mit einem Blick überschaut werden kann.376 Auch der Blick des Lesers weitet sich, wenn er zurückschaut auf den Stufenweg, der hinter ihm liegt. Er versteht erst im Rückblick, dass im Verlauf des ganzen Aufstiegswegs zwar von den erotika gesprochen wurde, aber doch die Philosophie ständiger Begleiter und sogar Wegweiser war. Man muss den Weg von oben her überschauen, um zu verstehen, dass die Diotimarede zwar genau wie bei den anderen Rednern ein Lob des Eros ist, aber nichtsdestotrotz zugleich Wesen und Ziel der Philosophie erklärt werden, auch wenn von der Philosophie nur zu 374 Vgl. S. 64 ff. 375 Vgl. Smp. 211 b, wo vom Aufstieg in der rechten Art der Knabenliebe (di± t¹ aqh_r paideqaste?m 1pami¾m) die Rede ist. 376 Das Aufstiegsmotiv verbindet das Symposion besonders mit dem Höhlengleichnis in der Politeia. Zum Verhältnis von Anabasis in die göttliche Sphäre und anschließender, notwendiger Katabasis, die bei Platon ein Weg zurück in die lebensweltliche Wirklichkeit ist, siehe Männlein-Robert, Katabasis und Höhle, 246 – 251.
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Beginn ausdrücklich gesprochen wurde. (Smp. 203d, 204a f., 205d) Hier ist denn auch die Lösung zu unserer eingangs gestellten Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Erkenntnistheorie im Symposion zu suchen: Ob nämlich und in welchem Sinn einerseits alle Erotik im letzten auf die Philosophie zielt und darin ihre eigentliche Erfüllung findet; und andererseits ob und in welchem Sinn alle Philosophie notwendig erotisch ist. Wir kommen also in der Besprechung der Diotimarede nicht darum herum, den Aufstiegsweg des Erotikers Schritt für Schritt nachzuvollziehen, wenn wir verstehen wollen, was es mit der neidlosen, sich unerschöpflich verströmenden Philosophie und der anschließenden Schau des Schönen selbst auf sich hat. Nach der begeistert aufgenommenen Rede von Agathon droht zunächst ein Eklat, denn Sokrates weigert sich, auf die gleiche Art und Weise wie Agathon und die anderen in einen Wettstreit der Reden einzutreten. Der Vorwurf lautet, dass sie nur dem Anschein nach Eros loben, aber auf die Wahrheit nichts geben, und deswegen alles Mögliche, was sie für schön halten, Eros andichten. (Smp. 198d f.) Es ginge aber weder um die Schönheit der Worte und Redensarten, (Smp. 198b) also um die poetische Wirkung der Reden, noch darum, dass Eros den Zuhörern möglichst schön und gut erscheine (fpyr #m va¸mgtai ¢r j²kkistor ja· %qistor, Smp. 199a), das heißt um eine phantastische und um die Wirklichkeit unbekümmerte Dichtung. Vielmehr wird man jemandem nur dann gerecht, wenn man ihn der Wahrheit gemäß lobt, das gilt auch für den Eros. Die Form der Rede hat sich am Inhalt und dessen Sachgehalt zu orientieren und nicht umgekehrt. Das nämlich meint Sokrates, wenn er die Wahrheit über den Eros einfordert. (Smp. 199b) Denn die Wahrheit ist, wie wir im Protagoras gelernt haben, zentrales Kriterium für die philosophische Rede.377 Ungeachtet dieser Kritik knüpft Sokrates an mehrere Aussagen Agathons an, allerdings nicht ohne ihn vorher einem Prüfgespräch unterzogen zu haben. (Smp. 199b – 201c) Sokrates greift dabei die methodologische Vorüberlegung von Agathon auf, dass man zuerst zeigen müsse, wer und welcher Art Eros selbst ist (bpo?ºr t¸r 1stim b =qyr), um dann seine Werke zu beschreiben (t± 5qca aqtoO). (Smp. 199c) Diese Struktur – erst Wesen des Eros, dann Wirkungen des Eros – bestimmt die weitere Rede von Sokrates und damit auch unsere Analyse.378 377 Vgl. S. 59 f., 65. 378 In Smp. 199c – 204c geht es um die Frage nach Wesen und Eigenschaften des Eros (=sti l³m c±q dµ toioOtor ja· ovty cecom½r b =qyr7 Smp. 204d). In Smp. 204d – 206a wird der Gegenstand des Eros einer genaueren Untersuchung unterzogen und dadurch übergeleitet zur Frage nach dem Nutzen des Eros (wqe¸am, Smp. 204c). Das spezifische Werk des Eros (5qcom, Smp. 206b) ist in Smp. 206b – 207a zunächst Gegenstand einer allgemeinen Untersuchung, während Smp. 207a – 209d vielfältige Beispiele anführt. In Smp. 209e heißt es zusammenfassend, dass die Menschen unter dem Einfluss des Eros viele und schöne Werke
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2.4.1. Das Wesen des Eros Die elenktische Untersuchung nimmt ihren Ausgang bei der Frage, ob der Begriff Eros absolut oder relational zu verstehen sei und deswegen nur in Bezug auf seinen Gegenstand angemessen erfasst werden kann. Agathon bestätigt, dass es sich um einen relationalen Begriff handelt, um eine »Liebe zu etwas« (5qyr timºr, Smp. 199e).379 Die Art der Relation des Eros zu seinem Gegenstand lässt sich als Begehren beschreiben (1pihule?m). Und weil Eros das, was er liebt und begehrt, nicht hat, folgert Sokrates, dass er dessen, was er begehrt, bedürftig ist (ox 1mde´r 1stim).380 (Smp. 200a) Damit sind zwei Bestimmungen für den Eros gefunden: 1. seine Begehrensstruktur und 2. seine Bedürftigkeit. Der Gegenstand des Eros hingegen wird zunächst nur negativ bestimmt. Es ist das, was der Eros selbst nicht hat (oqj 5wym, ebd.). Andererseits gibt es auch den Fall, dass man etwas begehrt, was man bereits hat und besitzt. So möchte jemand, der gesund ist, auch gesund bleiben. Diesen Einwand trägt Sokrates vor, um darauf hinzuweisen, dass der Eros und das Begehren Dauer erstreben. Denn wer gesund bleiben will, antizipiert die Möglichkeit, die Gesundheit zu verlieren und krank zu werden. So begehrt er zwar etwas, was er zu dem jetzigen Zeitpunkt schon besitzt, aber auch in Zukunft besitzen möchte, weil es vom Verlust bedroht ist. (Smp. 200d) Das Streben nach Dauer ist also ein 3. Merkmal des Eros. Hier kündigt sich bereits die Intention des Eros auf das Immerseiende und Unvergängliche an (!e· eWmai, Smp. 206a). Nunmehr lenkt Sokrates den Blick auf den Gegenstand des Eros, denn bisher war dieser nur negativ als das Fehlende beschrieben worden. Doch hatte Agathon bereits zuvor Eros als Liebe zu den schönen Dingen charakterisiert (1q÷m t_m jak_m, Smp. 197b), weil die Liebe sich nie auf etwas Hässliches richtet.381 geschaffen haben (pokk± ja· jak± … 5qca). Diese Wirkungen des Eros beziehen sich immer auf ein vom Erotiker verschiedenes, äußeres Objekt, auch dort, wo es sich um die pädagogische Förderung der Tugenden handelt. Erst der letzte Teil der Diotimarede Smp. 210a – 212c führt darüber hinaus. Der Eros bewirkt hier die letzte, höchste Erkenntnis des Schönen selbst oder der Idee des Schönen, und dadurch eine Verwandlung des Menschen. Der Erotiker ist auf dieser Stufe selbst das Werk des Eros, der ihm zur Schau und wahrer Tugend verhilft (sumeqcºm, Smp. 212b), und wird erst dadurch gottgeliebt. 379 Vgl. Sier, Die Rede der Diotima, 3 f. 380 Die Tatsache, dass einem etwas fehlt, ist jedoch keineswegs ein hinreichender Grund, es zu begehren. So begehrt niemand, der gesund ist, eine Krankheit, weil sie ihm fehlt, oder wer reich ist, die Armut. (Smp. 205e) Das Schlechte, das einem fehlt, bewirkt nicht das Begehren, sondern nur das Gute, das man für begehrenswert hält. Das Fehlende, auf das Sokrates hier abhebt, darf deswegen nicht quantitativ verstanden werden, sondern ist qualitativ im Sinn des axiologisch Guten und Wertvollen gemeint. Aus diesem Grund wird auch die These von Aristophanes über die Sehnsucht nach der ursprünglichen Ganzheit (s. Smp. 191a) ausdrücklich zurückgewiesen, weil der Eros sich weder auf die andere, fehlende Hälfte des von den Göttern durchgeschnittenen Kugelmenschen richtet, noch auf das Ganze, wenn dieses Fehlende nicht ein Gutes ist (!cah¹m em, Smp. 205e). 381 Das klang bereits in der Rede von Phaidros an, wenn er die Scham vor dem Schändlichen
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Sokrates greift diese These auf und folgert, dass Eros der Schönheit bedürftig ist und sie nicht besitzt ((Emdeµr %q’ 1st· ja· oqj 5wei b =qyr j²kkor, Smp. 201b). Dabei hat er unbemerkt eine Verschiebung des Objektbereiches des Eros vorgenommen, die sich allerdings auch schon im schwankenden Sprachgebrauch von Agathon findet. (Smp. 197b) Es macht nämlich einen nicht unerheblichen Unterschied, ob der Eros die Liebe zu schönen Dingen ist (5qyr jak_m), das heißt zu singulären Gegenständen, oder ob er die Liebe zur Schönheit ist (5qyr j²kkour, Smp. 201a) als einer Eigenschaft, die allgemein allen schönen Gegenständen zukommt.382 Dieser Unterschied wird später von zentraler Bedeutung sein, wenn der Aufstiegsweg beschrieben wird. (Smp. 210a-d) Während die meisten Menschen den schönen Dingen, die sie lieben, verhaftet bleiben, führt der philosophische Eros, der auf die in den schönen Dingen anwesende Schönheit gerichtet ist, den Erotiker über die Einzeldinge hinaus zum Allgemeinen und schließlich zum Schönen selbst als der Idee des Schönen. Zunächst können wir als 4. Bestimmung des Eros festhalten, dass er die Liebe zu den schönen Dingen ist (5qyr t_m jak_m, s. a. 204d). Dass dies auch die Liebe zur Schönheit (j²kkor) beinhaltet, wird noch zu zeigen sein. Nur »noch eine Kleinigkeit« (slijq¹m 5ti, Smp. 201c) will Sokrates von Agathon wissen, bevor er ihn aus dem elenchos entlässt, ob nämlich die guten Dinge auch schön sind.383 Denn daraus folge, dass Eros auch des Guten bedürftig wäre (j#m t_m !cah_m 1mdeµr eUg, ebd.). Das wiederum erlaubt den Schluss, dass Eros weder schön noch gut ist. (Smp. 201e) Die Annahme, dass das Schönsein eine konstitutive Eigenschaft der guten Dinge ist, wird sich für die weitere Untersuchung als sehr folgenreich erweisen. Denn es ermöglicht eine gewisse Austauschbarkeit der Begriffe für den Zweck der Untersuchung, auch wenn keine Synonymität behauptet wird.384 (Smp. 204e) Die These, dass die guten Dinge schön sind, bereitet die anthropologisch bedeutsame Aussage vor, dass alle Menschen das Gute lieben und dass sie begehren, es immer zu haben. (Smp. 206a) Der eigentliche Gegenstand des Eros ist demnach das Gute.385 Zu-
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und das Streben nach dem Schönen als Leistung des Eros preist (1p· d³ to?r jako?r vikotil¸am, Smp. 178d). Zur Problematik einer fehlenden Unterscheidung der Sache und der ihr zugeschriebenen Eigenschaft bzw. von Bestimmtem und Bestimmtheit siehe Finck: »Etwas Schönes ist als schön von allem Nicht-Schönen unterscheidbar wegen der Anwesenheit des Schönen; das Schöne ist eine Bestimmtheit, durch deren Anwesenheit etwas Schönes als schön unterscheidbar ist.« (Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 15 f.) Wenn Sokrates wie hier mehr oder weniger ironisch nach »Kleinigkeiten« fragt, ist das meist ein Signal, dass Wichtiges zur Sprache kommt; vgl. Smp. 199b; Chrm. 154d; Prt. 328e; Grg. 462d, 497b f.; Tht. 145d. Vgl. Havlicˇek, Die Unsterblichkeit begehren, 245; Chvatk, Himmlische Liebe, wenn ich dein vergäße, 232 f., 241. Zum Zusammenhang von Eros, der Idee des Schönen oder Guten und dem Glücksstreben des Menschen vgl. auch Ackeren, Das Wissen vom Guten, 165 – 171.
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nächst jedoch können wir als 5. Bestimmung des Eros festhalten, dass er des Schönen wie auch Guten ermangelt. Hier endet das Gespräch mit Agathon, und Sokrates schließt sein Lob auf den Eros an. Dazu referiert er aus Gesprächen, die er über einen längeren Zeitraum mit der Priesterin Diotima geführt hatte. Sie hatte ihm zunächst die Unstimmigkeiten seiner Vorstellungen über den Eros aufgezeigt, wie er jetzt Agathon. Die bisherigen Zugeständnisse sind folgenreich, denn sie bedeuten eine implizite Entgöttlichung des Eros. Was des Schönen und Guten ermangelt und seinem Wesen nach bedürftig ist, kann kein Gott sein. Denn nur, wer das Schöne und Gute besitzt, ist auch glückselig (eqda¸lomar, Smp. 202c f.), und das ist eine Wesensbestimmung des Göttlichen. Wenn Eros aber kein Gott ist, ist er dann notwendigerweise ein sterbliches Wesen? (Smp. 202d) Diotima weist den Weg aus dieser unfruchtbaren Alternative. Am Beispiel des Gegensatzes von Wissen und Unkenntnis zeigt sie, dass es einen Zwischenstatus gibt (letan» sov¸ar ja· !lah¸ar), nämlich die richtige Meinung (t¹ aqh± don²feim). Sie ist kein Wissen, weil es dafür konstitutiv wäre, dass man Rechenschaft für das ablegen kann, was man behauptet (kºcom doOmai). Zugleich ist sie aber auch keine völlige Unkenntnis, weil sie die Sache trifft. (Smp. 202a) Der Gegensatz zwischen Wissen und Unkenntnis ist also nicht kontradiktorischer Art, sondern ein konträrer, polarer Gegensatz mit der richtigen Meinung als Zwischenstufe. Analoges gilt auch für den Gegensatz zwischen den unsterblichen Göttern und den sterblichen Lebewesen. Zwischen ihnen befindet sich die Welt der Dämonen (ja· c±q p÷m dailºmiom letan¼ 1sti heoO te ja· hmgtoO, Smp. 202e).386 Eros ist nun einer dieser Dämonen, denen es zukommt, zwischen den polaren Gegensätzen, den Göttern und den Menschen zu vermitteln. Während sich Gegensätze notwendig gegenseitig ausschließen – denn Gott verkehrt nicht mit den Menschen (Smp. 203a) –, verbindet das, was in der Mitte zwischen ihnen ist, beides mit sich selbst zu einer Ganzheit (¥ste t¹ p÷m aqt¹ art` numded´shai, Smp. 202e). Das Unvereinbare wird in dem Dazwischen vereint. Die Funktion oder das Wirken dieser Zwischenstufe besteht jedoch nicht einfach darin, im statischen Sinn eine Verbindung und Ganzheit herzustellen, sondern vor allem Bewegung und Austausch zwischen den Gegensätzen zu ermöglichen. In der mythologischen Vorstellungswelt geschieht diese Interaktion durch Opfer und Einweihung, sowie Besprechung, Wahrsagung und Bezauberung. (Smp. 203a) Auch der Eros wirkt als 386 »Was ist nun das Dämonische? Wenn die Bezeichnung Gott und Daimon bei Homer denselben Wesen ohne Unterschied gegeben wird, so folgt daraus nicht, daß kein Unterschied vorhanden wäre, eher noch, daß zwei alte Gattungen in eins gefallen sind. Beider Bedeutungsumfang gleicht zwei Kreisen, die einander überschneiden, doch nicht decken. … Das erste bedeutet stets das Göttliche im Sinn des Herrlichen, das zweite stets im Sinn des Wirkenden, das erste das Gestaltete, das zweite das Ungestaltete, Unfaßliche…« (Reinhardt, Platons Mythen, 247)
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großer Dämon vermittelnd und ermöglicht den Einfluss des Göttlichen auf den Menschen, wie er umgekehrt auch den Menschen zum Göttlichen hinwendet. Damit haben wir eine 6. Bestimmung des Wesens des Eros gefunden: Er ist ein metaxy, ein Zwischenwesen zwischen der Welt des Göttlichen und des Sterblichen.387 Wer nun in diesem Zwischenbereich zwischen Göttern und Menschen zu den Weisen und Kundigen gehört (sovºr) und sich auf die Welt der Dämonen versteht, der ist selbst ein dämonischer Mensch (dailºmior !m¶q). Das gilt für Priester wie Diotima, aber auch für den Erotiker Sokrates, der von sich behauptet, er verstünde nichts als die Dinge, die den Eros betreffen (t± 1qytij², Smp. 198d).388 Wer dagegen nur auf irgendeinem anderen Gebiet fachkundig ist (%kko ti sov¹r ¥m), ist nicht viel besser als irgendein Handwerker ; er ist ein Banause (b²mausor). (Smp. 203a) Denn trotz seiner Klugheit versteht er nichts von dem Spannungsverhältnis zwischen Gott und Mensch, weil er sich nur mit der Welt des Veränderlichen und Sterblichen beschäftigt.389 Wenn Eros also ein Dämon ist und zwischen der Welt der Unsterblichen und Sterblichen vermittelt, so ist damit noch nichts über seine spezifische Fähigkeit (d¼malir, Smp. 202e) gesagt, durch die er sich von den anderen Dämonen unterscheidet. (Smp. 203a) Hierzu erzählt Diotima einen Mythos über seine Geburt. Dieser Mythos will keine rationale Argumentation sein, sondern den Logos über den Eros in anschaulichen Bildern verdichten, die sich in ihrer Gleichnishaftigkeit dennoch unmittelbar erschließen.390 Dabei verbinden sich traditionelle mythische Motive mit neu erfundenen allegorischen Elementen.391 387 Hinske reflektiert den Begriff des Zwischen und fragt, ob es ein Weder-Noch bezeichnet oder ein Sowohl-als-Auch. Unter Verweis auf die Doppelnatur des Eros und Smp. 203e argumentiert er für das Letztere. (Hinske, Zwischen Armut und Reichtum, 62) Dagegen steht aber die Auffassung des letan¼ im Lysis, wo dieser Zustand als Weder-Noch beschrieben wurde; s. Ly. 217e, 220d u. S. 208 ff. 388 Schon bei der Einführung von Diotima hat Sokrates darauf hingewiesen, dass Diotima weise sei (sovµ Gm), was sie im Licht von Smp. 203a als dämonischen Menschen qualifiziert. Fraglos akzeptiert Sokrates sie auch als Lehrerin in Sachen des Eros, in t± 1qytij² (ebd.), weil sie sich auf Göttliches und dessen Vermittlung versteht. 389 Diese Unterscheidung wirft ein kritisches Licht auf die Symposiasten mit ihren verschiedenen Künsten und Kompetenzen. Sie rücken auf einmal trotz ihrer Klugheit auf die Seite der Banausen, weil sie das dämonische Wesen des Eros verkennen. 390 Manuwald sieht die Funktion dieses Mythos darin, die dämonische Zwischenstellung des Eros genauer darzulegen, weil es sich um Dinge handelt, die man nicht im strengen Sinn wissen kann, die aber dennoch zentrale ontologische Sachverhalte betreffen. Deswegen sei ein den Logos unterstützender Mythos die angemessene Darstellungsform. Dabei verleiht die Allegorie dem aitiologischen Mythos Gleichnischarakter. (Manuwald, Platons Mythenerzähler, 166 f.) Der Mythos hat, so er ontologisch Zutreffendes beschreibt, also den epistemischen Status einer »richtigen Meinung«. Er steht zwischen dem begründenden Logos in Dialog und Argument einerseits und einer auf äußerliche Effekte zielenden Rhetorik oder der willkürlichen und deswegen falschen Dichtung (dem »Märchen-My-
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Als nämlich Aphrodite, die Göttin der Schönheit, geboren wurde, feierten die Götter ein Fest. Und wie bei einem typischen Symposion wurde tüchtig getrunken, so dass schließlich der Gott Poros, Sohn der Göttin Metis, in den Garten des Zeus ging, sich hinlegte und seinen Rausch ausschlief. Penia nun, die das Fest von weitem beobachtete, fasste den listigen Plan, sich wegen ihrer hilflosen Lage von Poros ein Kind machen zu lassen (1pibouke¼ousa di± tµm art/r !poq¸am paid¸om poi¶sashai 1j toO Pºqou, Smp. 203b),392 legte sich zu ihm und empfing den Eros. Da nun Eros am Geburtstag der Aphrodite gezeugt wurde, ist er der angestammte Begleiter der Göttin der Schönheit und von Natur aus ein Liebhaber des Schönen (v¼sei 1qastµr £m peq· t¹ jakºm, Smp. 203c). Aphrodite ist darum Geburtshelferin für den Eros, wo immer dieser dem Schönen begegnet. Aus diesem aitiologischen und allegorischen Mythos leitet Diotima die doppelte Natur des Eros ab, der er sein Dazwischen verdankt. Denn er trägt von beiden Eltern ein Erbe in sich. Der Name Poros meint so viel wie den Weg durch ein Hindernis hindurch: die Furt, auch den Ausweg und im übertragen Sinn das Hilfsmittel. Als Sohn der Klugheit, der Metis,393 ist er eine allegorische Personifikation der findigen Intelligenz, die stets Mittel und Wege hat, ans Ziel zu gelangen, und sich immer zu helfen weiß.394 Penia hingegen ist die allegorische Personifikation des Mangels. Armut und Kargheit sind ihre charakteristischen Merkmale wie auch die ständige Mühsal. Statt der Findigkeit des Poros ist ihr das Gegenteil, die aporia wesenseigen, die Hilf- und Ratlosigkeit. Dennoch über-
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thos«, wie Reinhardt, Platons Mythen, 248, sagt) andererseits. Auch Kobusch betont die didaktische und pädagogische Funktion des Mythos, wo der Logos unanschaulich bleiben muss. Mythos und Logos stehen darum bei Platon in ihrem Wahrheitsanspruch nicht gegeneinander, auch wenn einzelne Bilder des Mythos fragwürdig sein mögen. Aber die grundsätzliche Aussageintention ist durch den argumentierenden Logos abgesichert. (Kobusch, Die Wiederkehr des Mythos, 13 – 22) Siehe dazu Sier, Die Rede der Diotima, 75 – 77, und Manuwald, Platons Mythenerzähler, 166. Der griechische Ausdruck 1pibouke¼ousa meint hier kein harmloses »Sinnen« (so Zehnpfennig, Platon: Symposion, 83). Deswegen ist die Formulierung von Sier treffender : »Von ihrer Not getrieben …, überlistet sie den ‹Sohn der Klugheit› …« (Sier, a. a. O., 53). Der pejorative Klang des Hinterlistigen, Nachstellenden schwingt auch in Smp. 217c, d mit, wo Alkibiades versucht, Sokrates zu verführen, und sich zu ihm legt, um von ihm Weisheit zu empfangen. Hesiod erzählt in der Theogonie, dass Zeus seine erste Frau Metis, den klugen, aber auch listigen Rat, verschlang, um zu verhindern, dass ein Sohn ihn vom Thron stürzen könnte. Auf diese Weise verleibte er sich ihre Klugheit ein, damit sie ihm Gutes und Böses sage. (Hes. Th. V 886 – 899) Vgl. Der Kleine Pauly, Bd. 3, 1275; Abenstein, Griechische Mythologie, 20 f., 60. Poros steht nicht, wie gelegentlich übersetzt wird, primär für Reichtum und Fülle (so Hinske, Zwischen Armut und Reichtum, 61; auch Summerell, Der Wollfaden der Liebe, 82), sondern für den Weg aus einer Enge oder schwierigen Situation heraus, vgl. die Bezeichnung Bo(o)sporos, Ochsenfurt, für die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer. Poros ist der Ausweg, eupoqor, als Gegenpart zur Not der Penia und ihrer Ausweglosigkeit, %poqor. Vgl. a. Sier, Die Rede der Diotima, 76.
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schneiden sich im Mythos die Eigenschaften von Poros und Penia, weil nur so die Grenzüberschreitung, die Begegnung und Verbindung beider und damit die Entstehung des Eros möglich ist. Denn so ganz bei Sinnen und Herr der Situation war Poros trotz seiner Göttlichkeit nicht, als er sich von Penia überlisten ließ. Und umgekehrt trägt Penia mit ihrem planvollen Handeln Züge, die sonst Poros charakterisieren. Penia fällt im Mythos der listige Teil zu, Poros hingegen der bewusstlose. Penia hat den aufstrebenden Part, Poros aber sinkt müde zur Erde herab.395 Von der Mutter nun hat der Eros die Armut geerbt (p´mgr !e¸ 1stim, Smp. 203c). Entsprechend ist seine äußere Erscheinung rauh und verwildert. Ohne Schuhe und ohne Dach über dem Kopf treibt er sich wie sie auf den Straßen und zwischen den Toren herum, immer der Bedürftigkeit Mitbewohner (!e· 1mde¸ô n¼moijor, Smp. 203d). Er ist keineswegs der schöne und zarte Eros (pokkoO de? "pakºr te ja· jakºr, Smp. 203c), den Agathon erdichtet hatte. Von seinem Vater hat er jedoch die findige Natur geerbt (pºqilor): Nach seinem Vater wiederum stellt er den Schönen und den Guten nach, ist tapfer, unerschrocken und unermüdlich, ein gewaltiger Jäger, immer auf irgendwelche Kniffe sinnend, begierig nach Einsicht und nie um einen Ausweg verlegen, sein ganzes Leben philosophierend, ein gewaltiger Zauberer, Giftmischer und Sophist. (jat± d³ aw t¹m pat]qa, 1p_bouk|r 1sti to?r jako?r ja· to?r !caho?r, !mdqe?or £m ja· Utgr ja· s}mtomor, hgqeutµr deim|r, !e_ timar pk]jym lgwam\r, ja· vqom^seyr 1pihulgtµr ja· p|qilor, vikosov_m di± pamt¹r toO b_ou, deim¹r c|gr ja· vaqlaje»r ja· sovist^r. Smp. 203d f., Üb. Zehnpfennig)
Vieles erinnert deutlich an Sokrates: die Unbeschuhtheit und seine ständige Aporie, auch die Jagd auf die Schönen und Guten, die Begierde nach Einsicht, selbst die irritierende Nähe zu den Sophisten findet sich wieder. Und das lebenslange Philosophieren des Eros zitiert geradezu die Apologie. (Ap. 28e, 29d) Zweifelsohne ist dieses doppelsinnige, scherzhaft ironische Porträt bewusst inszeniert. Aber es ist dennoch eine ambivalente Gestalt des Eros, die uns hier vor Augen gemalt wird. Nicht nur wegen seiner doppelten Natur, der Mischung aus hilf- und ratloser Bedürftigkeit einerseits und zielstrebigem Erfindungsreichtum andererseits. Die Ähnlichkeit zu Sokrates sollte nicht vorschnell dar395 Manuwald betont, dass Poros und Penia trotz der äußeren Szenerie, die sich traditioneller Motive aus der Mythologie bedient, »…keine traditionellen Götter [sind], sondern (erstmals bei Platon in dieser Benennung als Paar auftretende) allegorische Personifikationen, so dass schon der aitiologische Mythos selbst etwas Gleichnishaftes hat.« Deswegen sei ihre Einführung nicht an theologische Vorstellungen gebunden, die mit den Richtlinien aus der Politeia, wie man über Götter zu reden habe (R. 376e – 383c f., 379b – 380c), in Konflikt geraten könnten. Das erlaubt Platon, Poros betrunken darzustellen, so dass er in diesem Zustand von Penia zur Zeugung überlistet wird, wodurch das Beweisziel der Zwischenstellung des Eros plausibel gemacht werden kann. (Manuwald, Platons Mythenerzähler, 66)
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über hinwegtäuschen, dass in diesem Abschnitt zunächst noch in einem weiten Sinn vom Philosophieren die Rede ist und Eros jeglichem Schönen nachstellt,396 um es zu besitzen.397 Dazu setzt er zielstrebig seine ganze Intelligenz ein und scheut auch nicht vor trickreichen Kunstgriffen und Zauberstücken zurück. Die sophistische Magie der Worte, die Agathon so trefflich nachahmt, ist dafür ebenso recht wie der praktische Einfallsreichtum, mit dem sich selbst die größten Hindernisse aus dem Weg räumen lassen.398 Das rückt ihn in die Nähe zu den Gauklern, Zauberern und Sophisten. Dieses Porträt des philosophierenden Eros ist deswegen durchaus ein Schelmenstück von Diotima, die wegen ihrer Gesprächsführung später selbst von Sokrates spöttelnd mit den vollendeten Sophisten verglichen wird. (Smp. 208c) Dennoch können wir ein 7. spezifisches Merkmal des Eros festhalten: In Ergänzung zur Bedürftigkeit seiner Mutter (5mdeia) zeichnet sich Eros gemäß dem väterlichen Erbe durch eine findige, zielstrebige Klugheit (pºqor) aus. In der bisherigen Betrachtung des Eros diente die vom Vater geerbte Intelligenz vornehmlich als Mittel, um bei der Jagd auf das vielerlei Schöne und Gute ans Ziel zu kommen (eqpoq¶s,, Smp. 203e). Von dieser instrumentalen Vernunft zeugten auch die Reden der anderen Symposiasten. Aber weil das Wissen zu den schönsten Dingen zählt, (Smp. 204b) ist es nicht nur Mittel, sondern auch Gegenstand des erotischen Strebens. Damit ändert sich die Bedeutung von Philosophieren grundlegend:
396 »To?r jako?r ja· to?r !caho?r« ist maskulin oder neutrum plural und kann insofern die schönen und guten Dinge ebenso bezeichnen wie zum Beispiel die schönen und guten Knaben. Alles, was an Schönem und Gutem denkbar ist, ist hiermit beschrieben. 397 Es ist eine große Streitfrage unter den Platonforschern, ob der philosophische Eros das Schöne und Gute, nach dem er strebt, insbesondere die Erkenntnis des Schönen und Guten selbst, auch erreicht oder ob er nur in einem unablässigen Streben, einer philosophia perennis, dorthin unterwegs ist. Zwei Beispiele seien zu dieser Stelle genannt: »…the chief purpose of the story is to put eros before us as a force which impels us to seek to acquire.« (Dover, Plato: Symposium, 141); anders Rowe, der zwar gleichfalls zugesteht: »we might expect porimos to mean ›resourceful in finding it‹, but if he ›philosophizes through all his life‹, then evidently he never finds wisdom (204a1 – 2)«. (Rowe, Plato: Symposium, 176) Rowe zeigt aber nicht, wie er die Spannung zwischen p|qilor und vikosov_m di± pamt¹r toO b_ou auflösen will, obwohl beide Beschreibungen hier gleichgeordnet sind. Und Dover sagt nicht, warum das Philosophieren noch nötig ist, wenn es erreicht, was es erstrebt. Die Spannung löst sich, wenn Philosophieren nicht nur bedeutet zu begehren, was man nicht besitzt, sondern in Berufung auf Smp. 200d auch meint, zu begehren, was man schon erlangt hat, was aber ständig vom Verlust bedroht ist und deswegen wiedergewonnen werden muss. Poros unterscheidet sich von seinem Sohn Eros darin, dass er als Unsterblicher nicht unter der Bedrohung der Zeitlichkeit und damit des Verlustes steht. Deswegen gehört er zu den Weisen (Smp. 204b) und nicht wie sein Sohn zu den Philosophierenden (Smp. 204a), die nicht nur begehren zu besitzen, sondern auch begehren nicht zu verlieren, was ihnen schon zuteil wurde. 398 Vgl. dazu die Belegstellen zu Philosophieren bei Lysis und Aristophanes, siehe S. 30 f.
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Und auch zwischen Weisheit und Unwissenheit befindet er sich in der Mitte. Damit verhält es sich nämlich so: Von den Göttern philosophiert keiner oder begehrt, weise zu werden; er ist es nämlich schon, wie auch sonst niemand, der weise ist, philosophiert. Ebensowenig philosophieren die Unwissenden, noch begehren sie, weise zu werden. Denn eben dies ist ja das Schlimme an der Unwissenheit, daß sie, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, sich selbst doch zu genügen meint. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch nicht das, von dem er nicht glaubt, es zu bedürfen. (sov_ar te aw ja· !lah_ar 1m l]s\ 1st_m. 5wei c±q ¨de7 he_m oqde·r vikosove? oqd’ 1pihule? sov¹r cem]shai – 5sti c\q – oqd’ eU tir %kkor sov|r, oq vikosove?7 oqd’ aw oR !lahe?r vikosovoOsim oqd’ 1pihuloOsi sovo· cem]shai· aqt¹ c±q toOt| 1sti wakep¹m !lah_a, t¹ lµ emta jak¹m j!cah¹m lgd³ vq|milom doje?m art` eWmai Rjam|m7 oujoum 1pihule? b lµ oQ|lemor 1mdeµr eWmai ox #m lµ oUgtai 1pide?shai. Smp. 203e – 204a, Üb. nach Zehnpfennig)
Philosophieren meint jetzt das Begehren, in einem umfassenden und unverlierbaren Sinn wissend und klug zu sein, wie es nur den Göttern zukommt. Deswegen gelten sie als weise. Dieses Begehren nach Weisheit impliziert für den Eros ein kritisches, selbstreflexives Element. Ihm, der sich entsprechend seiner Doppelnatur in einem dauernden Wechsel zwischen Finden und Verlieren, zwischen Aufleben und Absterben befindet, (Smp. 203e) zerrinnen nicht nur die vielen schönen Dinge zwischen den Fingern. Auch die einmal gewonnene Einsicht ist kein sicherer Besitz, wenn sich die Umstände ändern, unter denen sie ihre Gültigkeit hatte. Was heute richtig und gut war, ist es unter veränderten Bedingungen vielleicht nicht mehr oder muss mühsam erinnert werden. Auch Erkenntnisse haben singulären, partikularen, veränderlichen Charakter. (Smp. 208a, 211a) Dem Eros fehlt die göttliche sophia, nämlich die über den Augenblick hinausreichende, vollendete Einsicht in das, was immer und unter allen Umständen schön und gut ist. Diese göttliche sophia ist etwas grundlegend anderes als die instrumentelle, findige Klugheit, mit der Eros wechselnde, vordergründige Ziele verfolgt. Es ist gleichsam deren Kritik und beinhaltet die Frage nach dem letzten, höchsten Ziel des Begehrens. Bereits aus dem Lysis kennen wir dieses neue Verständnis von Philosophieren und die Verortung des Philosophen zwischen den Weisen und den Unwissenden.399 (Ly. 218a f.) Neben den Göttern, denen die Weisheit wesenseigen ist, rechnet Diotima offensichtlich mit dem Fall, dass unter günstigen Umständen auch ein Mensch an diesem göttlichen Wissen teilhaben kann. Wie die Götter 399 Es hatte sich dort gezeigt, dass die sophia kein spezifisches Kompetenzwissen ausgewiesener Fachleute ist. Vielmehr handelt es sich um ein Wissen, das in sich und unter allen wechselnden Umständen gut und deswegen göttlich ist; sein Gegenpol, die Unwissenheit, ist dagegen in allen Fällen schlecht, weil durch sie alles verdorben wird. Wer dieses unveränderliche, gute Wissen besitzt, begehrt es nicht mehr und philosophiert nicht mehr. Diese Bedingung erfüllen die Götter. Siehe S. 208 f.
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würde auch ein solcher sophos nicht mehr philosophieren.400 (Smp. 204a) Zumindest für diese Zeit ist er am Ziel seiner Wünsche. Die Unverständigen streben dagegen gar nicht erst nach Weisheit, weil sie der Überzeugung sind, dass ihr vermeintliches Wissen hinreichend ist (Rjamºm). Das macht sie zum Gegenteil eines guten, schönen und vernünftigen Menschen.401 Sie erkennen nicht die Begrenztheit ihrer Einsicht, der sie als sterbliche Menschen in einer veränderlichen Welt unterliegen. Ihnen fehlt die Selbstreflexion, das Bewusstsein der eigenen Bedürftigkeit, das Penia auszeichnet und das sie zum Garten von Zeus trieb, damit sie am Göttlichen Anteil habe. Nur so konnte Eros geboren werden. Wer glaubt, dass er schon weiß, fragt und sucht nicht mehr. Wer sind also die Philosophierenden, Diotima, wenn es weder die Weisen noch die Unwissenden sind? Das ist doch schon jedem Kinde klar, daß es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören dürfte. Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten, Eros aber ist Liebe zu dem Schönen, so daß Eros notwendig philosophisch ist. Als jemand, der philosophiert,402aber befindet er sich zwischen dem Weisen und dem Unwissenden. Die Ursache dafür ist ebenfalls seine Herkunft, denn er stammt von einem weisen und findigen Vater, aber von einer gar nicht weisen und findigen Mutter ab. Das also ist die Natur dieses Dämons, lieber Sokrates. (T_mer owm, 5vgm 1c~, § Diot_la, oR vikosovoOmter, eQ l^te oR sovo· l^te oR !lahe?r ; – D/kom d^, 5vg, toOt| ce Edg ja· paid_, fti oR letan» to}tym !lvot]qym, ¨m #m eUg ja· b =qyr. 5stim c±q dµ t_m jakk_stym B sov_a, =qyr d’ 1st·m 5qyr peq· t¹ jak|m, ¦ste !macja?om =qyta vik|sovom eWmai, vik|sovom d³ emta, letan» eWmai sovoO ja· !lahoOr. aQt_a d³ aqt` ja· to}tym B c]mesir· patq¹r l³m c±q sovoO 1sti ja· eqp|qou, lgtq¹r d³ oq sov/r ja· 400 Mit dieser Möglichkeit der Angleichung an Gott rechnet auch Ly. 218a und Ti. 51e u. 53d; vgl. a. Sier, Die Rede der Diotima, 88. 401 Jak¹m j!cahºm steht hier wie auch andernorts bei Platon, zumal in seiner Negation, als kritische Anfrage an diejenigen Mitglieder der attischen Elite, die sich zu den kaloi kagathoi zählen, das heißt zu denen, die nach Herkunft und gesellschaftlichem Stand, aber auch nach Bildung und Begabung zu den »Guten und Edlen« gehören und deswegen Führungspositionen im Staat beanspruchen; siehe Anm. 178. Sokrates weist regelmäßig darauf hin, welche ethischen wie kognitiven und das heißt letztlich philosophischen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Chrm. 154e; Prt. 348e; Grg. 484d, 511b, 515a, e, 518b, c, 526a, 527d; Ap. 20b, 21d; u. ö.; vgl. auch das Zeugnis von Alkibiades über Sokrates in Smp. 222a. 402 Ich verstehe hier vikºsovom nicht wie Zehnpfennig als Substantiv, sondern als Adjektiv ; zum einen um in Parallele zu den anderen diskutierten Eigenschaften (jakºr, sovºr oder 1mde¶r und !lah¶r) den Eigenschaftscharakter zu unterstreichen, zum anderen weil Platon bis zum Phaidon generell die Bezeichnung b vikºsovor, die durch den bestimmten Artikel als Substantiv ausgewiesen ist, vermeidet und statt dessen Umschreibungen wie das substantivierte Partizip oR vikosovoOmter wählt (Smp. 204a8, vgl. Ap. 23d; Grg. 485b, c). Erst im Phaidon werden die wahrhaften Philosophen (oR ¢r !kgh_r vikºsovoi) den gemeinhin Philosophierenden (oR vikosovoOmter) entgegengestellt, terminologisch klar unterschieden und dadurch als eigene Gruppe gekennzeichnet. (Phd. 64b) Das ist aber im Symposion noch nicht der Fall. Vielmehr liegt hier der Akzent auf dem Tätigkeitscharakter des Philosophierens als einem Streben und Lieben, in das alles menschliche Begehren münden sollte.
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!p|qou. B l³m owm v}sir toO da_lomor, § v_ke S~jqater, avtg. Smp. 204a f., Üb. nach Zehnpfennig)
Nur diejenigen philosophieren, welche die Spannung zwischen den Polen Weisheit und Unwissenheit in sich selbst erleben und dabei von der Liebe zur unveränderlichen, göttlichen Weisheit ergriffen sind. Weil Weisheit zu den schönsten Dingen gehört und Eros definitionsgemäß Liebe zu dem Schönen ist, folgt daraus mit Notwendigkeit, dass Eros philosophisch ist, weil er die Weisheit liebt und begehrt. Die 8. Bestimmung des Eros besagt also, dass Eros von Natur aus philosophisch ist und zwischen Weisheit und Unwissenheit steht. Aber ist das wirklich so klar, wie Diotima behauptet und es auf den ersten Blick scheint? Wenn oben ganz allgemein vom Eros gesagt wird, dass er notwendig nach Weisheit strebt und in diesem Sinn philosophisch ist, so wird diese starke These vom bisherigen Argumentationsgang noch nicht hinreichend gestützt. Denn auch wenn die sophia zu den schönsten Dingen gehört,403 ist damit noch nicht gesagt, dass der Eros immer auf das Schönere oder Schönste geht und sich nicht auch an etwas Schönem, aber Geringerem genügen lassen kann. Bisher wurde nur gezeigt, dass der Eros die Liebe zum Schönen ist. Doch nicht jeder, der etwas Schönes liebt wie schöne Knaben, Frauen oder Geld, liebt auch die Weisheit. Deswegen gehören sie ja gerade nicht zu den Philosophierenden. Soll die starke These bewiesen werden, dass alle Liebe notwendig philosophisch ist, so bedarf es noch weiterer Argumente, um die Teleologie auf das Schönste und Beste hin zu erklären.404 Das wird die Aufgabe der Schilderung des Aufstiegswegs des Philosophen zur Schau der Idee des Schönen sein.405 403 Die Behauptung, dass die sophia zu den schönsten Dingen zählt, (Smp. 204b) wird hier nicht eigens begründet, lässt sich aber herleiten, wenn man der allgemeinen Vorstellung folgt, dass die sophia eine Tugend ist, die Tugenden wiederum dadurch definiert sind, dass sie in herausragender Weise gut sind, und weiterhin in Smp. 201c zugestanden wurde, dass das Gute auch schön ist. Dann folgt, dass die sophia zum Schönsten gehört. 404 Ein zwingender Grund für die Wahl des Schöneren oder Schönsten liegt vor, wenn man annimmt, dass die jeweils schönen Gegenstände des Begehrens in Relation und Konkurrenz zueinander treten und der eine im Vergleich zum anderen sich als schöner im Sinn von besser erweist und der andere im Verhältnis dazu schlechter erscheint. Da es ein sokratischer Grundgedanke ist, dass sich niemand bewusst und freiwillig für etwas Schlechtes entscheidet, sondern stets das wählt, was ihm gut oder besser erscheint, ließe sich begründen, warum der Eros stets auf das Schönere und schließlich auf das Schönste geht. (Ähnlich a. Sier, Die Rede der Diotima, 200) Diese Argumentation findet sich zwar nicht an dieser Stelle, aber doch später im Symposion in der Schilderung des Aufstiegs zum Schönen selbst, bei dem das im Vergleich geringere Schöne jeweils als minderwertig (slijq¹m Bcgs²lemom, Smp. 210b) hinter sich gelassen wird zugunsten des Schöneren und Besseren. Eine Entscheidung zugunsten des Geringeren ist demnach nur dann möglich, wenn ein Irrtum über den Wert des eigentlich Schöneren oder Besseren vorliegt, wenn es also eine Form von Unwissenheit ist, die zur Wahl des Schlechteren führt. Diese Argumentation stimmt mit der Position des ethischen Intellektualismus überein, wie er für Sokrates zumindest in den frühen Dialogen charakteristisch ist. Die These, dass der ethische Intellektualismus auch
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Hingegen ist die zweite eingangs geäußerte These bewiesen, dass alle Philosophie notwendig erotisch ist. Denn wenn die sophia schön ist, und wenn weiterhin gilt, dass der Eros die Liebe zum Schönen ist, dann ist die Liebe zur sophia vom Eros inspiriert und also erotisch. Dieser Eros richtet sich aber auf die sophia und ihre Schönheit und gilt nicht anderen, sekundären Zwecken. Wie wir bei Pausanias und Alkibiades gesehen haben, ist das nicht selbstverständlich. Sie schätzen das Wissen auch, allerdings um anderer Zwecke willen und als instrumentales Wissen. Das zeigt sich daran, dass es sie nicht wirklich zu befriedigen vermag. Vielmehr suchen sie Befriedigung in der Knabenliebe oder Ehrliebe, und ihr Wissen dient ihnen dabei als Mittel zum Zweck. Pausanias und Alkibiades sprechen zwar von Philosophie, aber sie verstehen darunter etwas völlig anderes als Sokrates und Diotima. Es liegt darum eine Homonymität vor, aber keine sachliche Identität. Gerade diese Negativbeispiele machen deutlich, dass es nur dann ist es berechtigt, im Wortsinn von Philosophie, von Liebe zur Weisheit zu sprechen, wenn die Erotik sich auf die Schönheit der sophia richtet und an ihr entzündet. Damit ist die Frage nach dem Wesen des Eros zum Abschluss gekommen. Acht Bestimmungen oder Merkmale haben wir ausmachen können: 1. die Begehrensstruktur, 2. die Bedürftigkeit, 3. sein Streben nach Dauer, 4. die Liebe zu den schönen Dingen, 5. die Ermangelung des Guten und Schönen, 6. sein daimonisches Wesen, das metaxy, 7. seine findige Klugheit, 8. seine philosophische Natur. Diese Merkmale müssen mitgedacht werden in der zusammenfassenden Wesensbestimmung, dass der Eros die Liebe zum Schönen ist (5qyr t_m jak_m, ebd.). Zugleich wurde auch die Eingangsthese bestätigt, dass die Philosophie notwendig erotisch ist.
2.4.2. Die Wirkungen des Eros Jetzt wendet sich das Gespräch der zweiten Aufgabenstellung zu, der Frage nach den Wirkungen des Eros und seinem Nutzen für die Menschen (t¸ma wqe¸am 5wei to?r !mhq¾poir ; Smp. 204c). Damit verlagert sich der Blick weg vom Eros und der Reflexion seines Wesens hin zum Objekt des Eros, und es rückt der Gegenstand der Liebe ins Zentrum der Betrachtung. Auch wenn zunächst unklar bleibt, welchen Nutzen der Liebende davon hat, wenn das Schöne, das er begehrt, ihm zuteil wird (cem´shai art`, Smp. 204d), so wird es deutlicher, wenn für das noch im Symposion Anwendung findet, wird neuerdings von Rowe wieder stark vertreten. (Penner/Rowe, Plato: Lysis, 300 f., 306; Rowe, The Symposium as a Socratic Dialogue, 9, 17, 20 f.) Die Entscheidung, das Schönere und Bessere zu wählen, setzt im wörtlichen Sinn eine Ent-täuschung voraus, eine Selbstbezüglichkeit des eigenen Urteilsvermögens, das sich des Irrtums und der Fehleinschätzung bewusst wird. Vgl. S. 263. 405 Siehe dazu S. 252 – 265.
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Schöne das Gute als Strebensziel eingesetzt wird. Diese Substitution wurde bereits durch das Zugeständnis vorbereitet, dass das Gute auch schön ist. (Smp. 201c) Denn wenn der Liebende das Gute, das stets auch schön ist, bekommt und besitzt, so wird er dadurch glücklich (eqda¸lym 5stai, Smp. 205a). Das Glück, die Eudaimonie wiederum, ist unhinterfragtes Lebensziel (t´kor, ebd.) und wird von allen Menschen am meisten und heftigsten begehrt. Folglich besteht der Nutzen des Eros darin, dass man durch den Besitz des Guten glücklich wird. Damit hat die Untersuchung schon ihr Ergebnis erbracht. Aber Diotima problematisiert noch einmal den Begriff des Eros, weil man üblicherweise nur eine bestimmte Form der Liebe (toO 5qytºr ti eWdor, Smp. 205b) damit bezeichnet, nämlich die Liebe zu einem Menschen. Doch sei das eine begriffliche Engführung, die der Tatsache nicht gerecht wird, dass die Menschen höchst unterschiedliche Dinge erstreben, wenn sie ihnen nur gut und begehrenswert erscheinen. Darum sollte der Begriff des Eros viel weiter gefasst werden, so dass jedes Begehren von guten Dingen inbegriffen ist. Dann fielen alle diese Arten des Begehrens extensional unter den Begriff der Liebe, angefangen vom Begehren der Glückseligkeit bis hin zum Streben nach Geld, zur Begeisterung für Sport und auch die Philosophie: Aber diejenigen, die sich ihr auf vielfache andere Weise zuwenden, sei es im Streben nach Gelderwerb oder in der Liebe zur Gymnastik oder in der Philosophie, von denen sagen wir nicht, daß sie lieben und Liebhaber sind, sondern nur diejenigen, die einer bestimmten Art nachgehen und sie mit Eifer betreiben, erhalten den Namen des Ganzen: Liebe, lieben und Liebhaber. (!kk’ oR l³m, %kk, tqep|lemoi pokkaw0 1p’ aqt|m, C jat± wqglatisl¹m C jat± vikoculmast_am C jat± vikosov_am, oute 1q÷m jakoOmtai oute 1qasta_, oR d³, jat± 6m ti eWdor Q|mter te ja· 1spoudaj|ter, t¹ toO fkou emola Uswousim, 5qyt\ te ja· 1q÷m ja· 1qasta_. Smp. 205d, Üb. Zehnpfennig)
So unterschiedlich der Erwerb materieller Güter, Sportbegeisterung oder das Streben nach Wissen und Weisheit auch sind, es liegt ihnen doch die gleiche Begehrensstruktur zugrunde: Sie sind Formen des Strebens nach etwas, was der Strebende für gut erachtet. Damit fallen sie gleicherweise unter den Eros.406 Sie unterscheiden sich in der Bewertung dessen, was gut ist, aber sie erstreben alle mittels dieser für gut gehaltenen Dinge das Glück. Doch ist der Nutzen des Eros noch nicht dadurch hinreichend beschrieben, dass man das Gute erstrebt. Vielmehr möchte man es auch immer und unverlierbar besitzen.407 Der Eros will die unablässige Dauer des Guten, denn das ist Voraussetzung für wirkliches und dauerhaftes Glück. (Smp. 206a) 406 Brisson sieht hier eine funktionelle Dreiteilung der Lebenswahl als Streben nach 1. Reichtum, 2. Ehre und 3. Wissen, s. Brisson, Platon: Le Banquet, 211. 407 Zur Antizipation eines möglichen Verlustes des Guten, das der Eros begehrt, siehe S. 238.
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So bleibt schließlich noch die Frage zu klären, auf welche Weise Eros dieses Ziel erreicht, was also seine spezifische Tätigkeit ist. Die ebenso überraschende wie einfache Antwort lautet: Es ist die Zeugung im Schönen (tºjor 1m jak`, Smp. 206b). Das gilt sowohl in körperlicher wie in seelischer Hinsicht. Es ist in der menschlichen Natur angelegt und ihr wesenseigen, dass sie erzeugen möchte. Sie bedarf dazu lediglich der Schönheit als göttlicher Geburtshelferin (EQke¸huia B Jakkom¶, Smp. 206d), als Inspiration und Auslöser für den Zeugungsakt. Alles Hässliche hingegen wirkt dem natürlichen Zeugungstrieb entgegen. In Bildern der phallischen Zeugungslust, die ebenso physisch konkret wie metaphorisch sind, schildert Diotima die Nähe des Eros zum Schönen: sein Begehren, Aufgehen und Erstarken in der Gegenwart des Schönen und sein Verkümmern angesichts des Hässlichen. (Smp. 206d) Denn weil das Sterbliche nach Unsterblichkeit streben muss, wenn es das Gute dauerhaft und immer besitzen will, ist die Erotik auf Zeugung angelegt. Darum ist auch die Vereinigung von Mann und Frau eine göttliche Sache (he?om t¹ pq÷cla, Smp. 206c). Schwangerschaft und Zeugung sind die Art und Weise, wie etwas Unsterbliches im sterblichen Lebewesen gegenwärtig ist. Der Eros richtet sich also nicht nur auf das Schöne und Gute, das er besitzen will, sondern damit zugleich auch auf die Unsterblichkeit (t/r !hams¸ar t¹m 5qyta eWmai, Smp. 207a). Das Göttliche findet sich hier also keineswegs auf der Seite körperlicher Homoerotik, wie Phaidros und Pausanias behaupteten. Vielmehr werden kreatürliche Prozesse wie Zeugungsdrang und Geburt sinnhaft gedeutet und transzendiert. Damit geht eine Teleologie der verschiedenen Gegenstände des Begehrens einher. Aus »den guten Dingen« (t± !cah²) wird »das Gute« (t¹ !cahºm) und aus dem »Immer-besitzen-Wollen« des Guten das Begehren der »Unsterblichkeit«. (Smp. 205d, 206a, 207a) Dieses einheitliche Prinzip des Eros wirkt in allem Lebendigen, und der Mensch wird mit seinem Streben in diesen größeren Zusammenhang eingebunden. Er ist in seiner Liebe und seinem Begehren nicht autonom, wie es Pausanias, Eryximachos oder Agathon als Vertreter der Aufklärung unterstellten. Er kann sich in seiner Erotik nur verstehen, wenn er die immanente Teleologie bejaht, die im Guten ihr Glück findet und in der Unsterblichkeit zur Ruhe kommt. Gerade das ist die Aufgabe der Philosophie. 2.4.3. Die kleinen Weihen des Eros – die Zeugungskraft der Seele Diotima hat diese Deutungen des Eros mit dem überlegenen Autoritätsanspruch einer eingeweihten Priesterin und Lehrerin, einer Mystagogin vorgetragen. Der Myste, hier Sokrates, wird schrittweise in wiederholten Gesprächen in das
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Mysterium der Liebe eingeführt.408 (Smp. 207a, c) Dabei ist zwischen den kleinen Weihen (Smp. 207a – 209e) und den großen Weihen mit der Schau der höchsten Geheimnisse (Smp. 210a – 212b) zu unterscheiden.409 Auf die Bedeutung des Zeugungstriebes als körperlichen Ausdruck des Strebens nach Unsterblichkeit, das allen Lebewesen gemein ist, war Diotima bereits eingegangen. Nunmehr zeigt sie, dass es auch im Seelischen einen Zeugungsdrang gibt, ein spezifisch menschliches Streben nach Unsterblichkeit, das sich im Wunsch nach Ehre und Ruhm, in der philotimia äußert. (Smp. 208c) Denn mehr noch als für leibliche Kinder sind die Menschen bereit, für einen »unsterblichen Namen«, der ihr begrenztes Leben überdauert, größte Opfer zu bringen und sogar zu sterben.410 (Smp. 208d) Der seelische Zeugungsdrang stellt eine erste Stufe der Einweihung dar, die »kleinen Weihen«, insofern die Hintanstellung der körperlichen Schönheit zugunsten der seelischen eine erste Form der Reinigung ist und Vorbereitung für die »großen Weihen«. Denn ganz analog zur körperlichen Zeugungsfähigkeit bedarf auch die Seele einer gewissen Reife, damit der Mensch in der Seele zeugen und gebären kann. Diese Fähigkeit ist zwar von Jugend auf als etwas Göttliches in ihm angelegt. Aber er muss erst die Schönheit des Seelischen entdecken und dafür empfänglich werden. Dann freut es ihn, wenn er auf eine schöne, edle und wohlgestaltete Seele trifft (#m 1mt¼w, xuw0 jak0 ja· cemma¸ô ja· eqvue?, Smp. 209b), und er begehrt auch im Seelischen zu zeugen. Fallen gar körperliche und seelische Schönheit zusammen, fließen die Reden über die Tugend und was ein guter Mensch zu wirken habe, aus einem solchen Liebenden nur so heraus (eqpoqe? kºcym). (Smp. 209b f.) Dabei befruchtet er die schöne Seele mit seinen Reden und versucht, sie zu bilden und zu erziehen (paide¼eim).411 Auf diese Weise entsteht eine weit engere Gemeinschaft und Freundschaft (pok» le¸fy joimym¸am 408 Zur stufenweisen Einführung vgl. a. Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 257. 409 Die aus den Mysterien entlehnte Begrifflichkeit darf nicht dahin missverstanden werden, als ob es sich um religiöse Praktiken handelte. Vielmehr ist es ein metaphorischer Sprachgebrauch bezogen auf kognitive Akte. Dabei wird die Rationalität nicht ausgegrenzt, sondern einbezogen. Gleichwohl soll durch die Metaphorik gesagt werden, dass das Erkenntnisvermögen bestimmter Voraussetzungen und Übungen bedarf, ohne welche die Transzendierung der Sinnenwelt ins Intelligible nicht gelingen kann. Zur Funktion von Diotima als Mystagogin der kleinen Weihen (l¼gsir) und großen Weihen (t± t´kea ja· 1poptij², Smp. 210a) siehe a. Schefer, Platon und Apollon, 81 f. Zur Epoptie als Mysterium der großen Weihen und ihrer Weiterentwicklung in einer Metaphysik des inneren Menschen im Christentum siehe Kobusch, Christliche Philosophie, 138 – 151. 410 Vgl. die Rede des Phaidros in Smp. 178d f. und S. 226. 411 Das ist ein Hinweis auf die Rollenverteilung im seelischen Zeugungsakt, denn paide¼eim verweist in einem Erziehungsverhältnis auf den älteren erastes, dem die Erziehungsaufgabe zukommt und der zeugend tätig ist, während der jüngere eromenos in der Seele Vorstellungen über die Tugenden gebiert und dadurch erzogen wird.
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t/r t_m paid_m), als es durch leibliche Kinder möglich ist, wie auch die Früchte dieser erotischen Begegnung, die Tugenden der Seele und die Werke, in denen sie sich manifestieren, schöner und unsterblicher sind (jakkiºmym ja· !hamatyt´qym pa¸dym).(Smp. 209c) Die seelischen Kinder sind den leiblichen dadurch überlegen, dass sie den Grenzen von Raum und Zeit gegenüber freier sind. Zwar ist auch für die seelische Befruchtung zunächst die beidseitige unmittelbare Begegnung notwendig. Das drückt sich darin aus, dass der Liebende den Schönen und dadurch das Schöne »berührt« und mit ihm auf vertraute und innige Weise zusammen ist ("ptºlemor c±q … toO jakoO ja? blik_m aqt`, ebd.).412 Aber die seelische Berührung und Inspiration ist nicht auf eine dauernde raum-zeitliche Begegnung festgelegt, weil sich die Zeugungsfähigkeit nunmehr innen, in der Seele befindet. Die Seele kann sich das Schöne, das als Inspirationsquelle dient, durch das Denken vergegenwärtigen. Ob der Liebende nun mit dem Geliebten zusammen ist oder getrennt von ihm, er gedenkt daran, was sie verbindet. Und gemeinschaftlich mit jenem erzieht und ernährt er auf diese Weise das innerlich Erzeugte (ja· paq½m ja· !p½m lelmgl´mor, ja· t¹ cemmgh³m sumejtq´vei joim0 let’ 1je¸mou, ebd.). Nicht die körperliche Nähe ist also bei der seelischen Liebe und Zeugung das Entscheidende, sondern die Erinnerung, das heißt die innere Vergegenwärtigung dessen, was es heißt, ein guter und tüchtiger Mensch zu sein. Diese Vorstellungen über die Tugenden und der daraus erwachsenden schönen und guten Tätigkeiten verbinden die Liebenden dauerhafter und begründen eine festere Gemeinschaft, als es leibliche Kinder vermöchten. (Smp. 209c) Auf diese Weise führen die kleinen Weihen in die Zeugungskraft der Seele ein.
2.4.4. Die großen Weihen des Eros – die Schau des transzendent Schönen Diotima macht in ihrer Einführung in die Liebeskunst an dieser Stelle einen auffälligen Einschnitt, indem sie auf die Schwierigkeit des letzten Wegabschnitts hinweist. »Soweit kannst wohl auch du, Sokrates, in die Mysterien der Liebe (t± 1qytij²) eingeweiht werden (j#m s» lughe¸gr); ob du aber für die letzten und nur der Schau zugänglichen Weihen (t± d³ t´kea ja· 1poptij²), derentwegen auch diese (taOta) da sind, sofern man sich recht darum bemüht, schon empfänglich bist, weiß ich nicht.« (Smp. 209e f., Üb. nach Zehnpfennig) Die Sprache Diotimas ist der religiösen Mystagogie entlehnt, wie sie in den eleusinischen 412 Die Doppelsinnigkeit von toO jakoO als mask./ntr. Sg. deutet an, dass die Liebe zu »dem schönen Knaben«, der sich durch eine schöne Seele auszeichnet, zugleich ganz allgemein und noch unverstanden die Liebe zu »dem Schönen« ist, von dem der schöne Knabe nur eine unter vielen Verkörperungen ist.
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Mysterien praktiziert wurde.413 Sie verweist damit auf die höchste Form der Einweihung, die Schau des Göttlichen, in welcher der konkrete Übungsweg und das menschliche Leben an ihr Ziel gelangen. Es ist zugleich die Einführung in das genuin Philosophische des Eros. Es handelt sich also nicht um eine religiöse Form der Einweihung, sondern um eine philosophische. Die Diktion Diotimas deutet eine Analogie an, aber keine Identität der Einweihungswege. Da erstaunt es, dass ausgerechnet bei Sokrates Zweifel angemeldet werden, ob er überhaupt in der Lage ist, die Ausführungen der Priesterin nachzuvollziehen. Nun liegen zwischen den wiederholten Gesprächen mit Diotima und der Wiedergabe ihrer Rede durch Sokrates gut und gerne dreißig Jahre, in denen Sokrates den Weg der erotika offensichtlich erfolgreich bis zum Ende gegangen ist.414 Dafür spricht seine wiederholte Bemerkung, dass er sich auf nichts anderes verstehe als auf die Dinge, welche die Liebe betreffen.415 (Smp. 177d, 198d, 212b) Der von Diotima geäußerte Zweifel zielt denn auch gar nicht in erster Linie auf Sokrates, sondern ist ein literarisches Mittel, den Leser darauf hinzuweisen, dass der Erfolg der philosophischen Einweihung weder ausschließlich im Bemühen des Mysten noch des Mystagogen liegt, sondern neben der langjährigen Übung auch eine entsprechende Eignung und Reife voraussetzt.416 An Hilfestellungen will es Diotima jedenfalls nicht fehlen zu lassen. Sie wird keine Hinweise zurückhalten, die für einen erfolgreichen Abschluss des Weges hilfreich sind.417 413 Zum Gebrauch der Mysteriensprache siehe Anm. 409. Zu den Riten der Eleusinischen Mysterien, die in der Epoptie gipfeln, siehe Bruit Zaidman / Schmitt Pantel, Die Religion der Griechen, 134 – 140. 414 Sokrates ist zum dramatischen Zeitpunkt des Symposions über 60 Jahre alt; zur Altersangabe des jungen Sokrates in den Lehrgesprächen mit Diotima s. Erler, Platon, PhdA 2/2, 196; Sier, Die Rede der Diotima, 12. 415 Vgl. a. Smp. 207c und das Fremdzeugnis Smp. 193e sowie Ly. 204c, 206a, 211e. 416 Deswegen betont Sokrates gegenüber Alkibiades, dass das »Auge des Geistes« erst scharf zu sehen beginnt, wenn das leibliche Auge schon an Sehschärfe verliert. (Smp. 219a) Dem jungen Menschen, auch einem genialen wie Alkibiades, steht nicht jede Einsicht nach Belieben zur Verfügung, und erst recht nicht die philosophische. Denn für die Dialektik ist eine »Sehunschärfe« im körperlich-sinnlichen Bereich notwendig, um im Intelligiblen umso schärfer erkennen zu können. Eine erfolgreiche Dialektik und Ideenschau setzt darum erfahrungsgemäß ein fortgeschrittenes Alter voraus. (Vgl. R. 540a) 417 Die Tübinger Schule betont in solchem Zusammenhang die Aussparungstheorie, wonach das für die philosophische Erkenntnis Entscheidende, die Erkenntnis der Prinzipien, dem mündlichen Dialog vorbehalten blieb und nicht in den schriftliche Dialogen zu finden ist. »Zu meinen, wir besäßen in den Dialogen alles von Platon, hieße Platon mit den Augen des Alkibiades zu sehen.« (Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 270) und also notwendig an der Oberfläche zu bleiben und Platon misszuverstehen. Freilich haben wir mit den schriftlichen Dialogen nicht den ganzen Platon, und zweifelsohne wäre der mündliche Austausch mit einem Sokrates, einer Diotima oder Platon von unschätzbarem Gewinn für den philosophischen Fortschritt. Dennoch sollte man ernst nehmen, dass Diotima hier ankündigt, es ihrerseits an keinen Hinweisen fehlen zu lassen, die für einen gelingenden Aufstiegsweg notwendig sind – eine geeignete Seele und entsprechende Be-
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Im Vergleich zu den großen Mysterien sind die kleinen Mysterien verbreiteter und leichter zugänglich. Aber ihre Erfüllung finden sie erst in der darauf folgenden höchsten Schau, der Epoptie. Ohne diese bleiben sie defizitär. Für den philosophischen Aufstiegsweg bedeutet dies, dass eine Erotik, die nicht in die Erkenntnis des letzten Zieles mündet, in die Irre führt. Darum betont Diotima immer wieder, wie wichtig es ist, den Weg recht zu gehen (aqh_r) und richtig geführt zu werden.418 (Smp. 210a, e, 211b) Der Weg des philosophischen Erotikers wird darum bereits in jungen Jahren beginnen. Anfangs wird er schöne Körper (t± jak± s¾lata) bewundern und sich zunächst für einen einzigen Menschen und dessen wohlgestalteten Körper begeistern, ihn lieben und dabei schöne Gedanken und Reden gebären (6mor aqt¹m s¾lator 1q÷m ja· 1mtaOha cemm÷m kºcour jako¼r). Denn anders als bei der körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau, aus der leibliche Kinder entstehen, werden hier Logoi geboren. Ihr Gegenstand ist der schöne Mensch. Schließlich wird der Liebende jedoch bemerken, dass auch andere Körper schön gestaltet sind und dass ihre Schönheit (j²kkor) einander verwandt ist (!dekvºm 1sti). (Smp. 210a) Und da er auf das gestalthaft Schöne aus ist (di¾jeim t¹ 1p’ eUdei jakºm) und nicht nur auf den Körper in seiner bloßen Materialität,419 wird er bemerken, dass es das ästhetisch Schöne am Körper ist, was ihn fasziniert, und dass es ganz unvernünftig wäre, die Schönheit, die allen Körpern eignet, nicht für ein und dieselbe zu halten (pokkµ %moia lµ oqw 6m te ja· taqt¹m Bce?shai t¹ 1p· p÷si to?r s¾lasi j²kkor). Gerade durch den Vergleich verschiedener mühung vorausgesetzt. Dass eine mündliche Unterweisung eine große Erleichterung darstellt, bedeutet keineswegs, dass der mühsame Weg über den schriftlichen Dialog und das prüfende Selbstgespräch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist und nicht zur Erkenntnis letzter Prinzipien führen kann. Ob diese dann direkt aussagbar und propositional beschreibbar sind, sei es mündlich oder gar schriftlich, kann bezweifelt werden. Jedoch ist das eine weiterführende und wieder kontrovers diskutierte Frage; siehe dazu a. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, insb. 224 – 236. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass Platon oft bewusst unterminologisch spricht oder eine starre Terminologie vermeidet, denn die Schriftkritik richtet sich nicht nur gegen das Schriftliche, sondern grundsätzlich gegen das »Missverständnis …, man könne in philosophicis etwas (sei es nun schriftlich oder terminologisch) Festgelegtes besitzen und handfertig in Gebrauch nehmen, ohne es verstanden zu haben.« (Schäfer, Manische Distanzierung, 409) Das betrifft auch die Hinweise der Diotima. 418 Die Rede vom richtigen Weg impliziert natürlich auch die Möglichkeit des Irrwegs, selbst wenn dieser hier nicht beschrieben wird. Offensichtlich ist es dem Urteil des Lesers überlassen, ihn vor dem Hintergrund der positiven Darstellung zu erkennen. Gerade der Rückblick auf die Lobreden der anderen Symposiasten wird solche Irrwege aufzeigen können. 419 Sier bemerkt hierzu treffend in einem bildlichen Vergleich, dass ein Spiegelbild (d. i. der schöne Leib) nicht durch die Beschaffenheit der Spiegelfläche (d. i. der Körper), sondern durch das Gespiegelte (d. i. die Schönheit) charakterisiert ist. (Siehe Sier, Die Rede der Diotima, 155) Die Schönheit ist danach etwas, was zu dem Körper hinzutritt und an der er Anteil hat, dem Körper aber nicht an sich eignet.
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schöner Körper wird er zum Liebhaber aller schönen Körper (p²mtym t_m jak_m syl²tym 1qast¶m) und entdeckt die Eigenheit und Einheitlichkeit körperlicher Schönheit (j²kkor). (Smp. 210b) Das ist ein erotisches Widerfahrnis.420 Er kann gar nicht umhin, von der Schönheit, die ihm in unterschiedlichster Körpergestalt begegnet, gleicherweise angezogen und fasziniert zu sein. Diese Entgrenzung löst ihn von der Fixierung auf einen einzelnen schönen Körper, dessen Schönheit ihn anfangs gefangen nahm. Denn gerade im Vergleich zeigt sich nicht nur die Einheitlichkeit des Prinzips körperlicher Schönheit, sondern auch die Begrenztheit der einzelnen Konkretion. Deswegen wird der Bewunderer schöner Körper nunmehr den einzelnen schönen Körper unbeachtet lassen und für etwas Geringes halten (jatavqom¶samta ja· slijq¹m Bcgs²lemom, ebd.). Dadurch wird er frei nicht nur für andere schöne Körper, sondern vor allem für das diese übertreffende, allgemeine Prinzip körperlicher Schönheit (j²kkor). Kein Einzelkörper vermag seinen erotischen Drang mehr zu befriedigen. Durch diesen Schritt vom einzelnen schönen Körper zu zweien und weiter zu vielen und schließlich zum allgemeinen Prinzip körperlicher Schönheit als der allen schönen Körpern gemeinsamen, innewohnenden Eigenschaft ist der junge Erotiker vorbereitet für die Überschreitung der Grenze, welche die Fixierung auf die körperliche Ästhetik bedeutet. In der Begegnung mit einer schönen Seele wird er jetzt auch von der Schönheit, die den Seelen eignet (t¹ 1m ta?r xuwa?r j²kkor), affiziert und achtet diese höher (tili¾teqom Bc¶sashai) als die Schönheit, die sich in den Körpern findet. (Smp. 210b) Auch eine schöne Seele reizt ihn zur Liebe, selbst wenn die körperliche Schönheit dieses Menschen gering sein mag. Diese Höherbewertung des Seelischen gegenüber dem Körperlichen hat der philosophische Erotiker, der zu den höchsten Weihen berufen ist, mit dem zuvor geschilderten Initianten der kleinen Weihen gemein. Wie 420 Schäfer drückt das in einer zunächst etwas verklausulierten Begrifflichkeit aus, wenn er von einer »manisch-erotischen Weisheitsbesessenheit« spricht, die verbunden ist mit einer »weisheitsdistanzierenden Selbsterkenntnis des Weisheitsliebenden«. Sachlich geht es ihm um die Hingerissenheit und den Verlust der Selbstverfügung in Bezug auf das Liebesobjekt, nämlich die Weisheit. Damit ist gleichzeitig ein Prozess der Abstraktion und Transzendierung verbunden, der die neue, platonische Auffassung von Philosophie kennzeichnet. Das trägt dem für Platon wichtigen Gedanken Rechnung, »dass nämlich in der intensivsten Form von Denken und Verstehen nicht der Denker den Gedanken hat, sondern der Gedanke den Denker in Beschlag nimmt, dass der ›Besitz der Weisheit‹ nicht wie ein Subjektgenitiv aufzufassen ist, sondern im Sinn eines Objektgenitivs.« (Schäfer, Manische Distanzierung, 426) Dieses spezifisch erotische Phänomen der Umkehrung der Besitz- und damit auch der Kraftverhältnisse zeigt sich nicht erst auf der dritten Stufe des Aufstiegs, bei der Wissensobjekte Gegenstände des Begehrens sind. Vielmehr ist es auf allen Stufen ein durchgängiges Merkmal philosophisch-erotischen Strebens. Schäfer weist hier auf einen zentralen Charakterzug platonischen Denkens hin. Das philosophische Begehren ist kein souveränes Besitzergreifen, kein denkendes Be-Greifen, sondern primär ein Angezogenund Ergriffensein durch die sich selbst erschließende Schönheit der intelligiblen Welt.
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dieser erzeugt auch er unter dem Eindruck einer aufnahmebereiten, schönen Seele Reden, die darauf abzielen, dass die jungen Leute dadurch besser werden (t¸jteim kºcour toio¼tour … oVtimer poi¶sousi bekt¸our to»r m´our, Smp. 210c). »Besser« ist hier eine Umschreibung für die Intention auf die Tugend, wie sie für die kleinen Weihen kennzeichnend war. Dementsprechend schaut er auf das Schöne, das in den unterschiedlichsten Tätigkeiten, Sitten und Gesetzen verwirklicht wird (he²sashai t¹ 1m to?r 1pitgde¼lasi ja· to?r mºloir jakºm, ebd.). Und wie schon beim körperlich Schönen wird er auch beim Schönen, das die Seele hervorbringt, sehen können, dass dies alles mit sich selbst verwandt ist (fti p÷m aqt¹ art` nuccem´r 1stim, ebd.). Der entscheidende Unterschied zu den kleinen Weihen besteht nun im Schritt vom seelisch Schönen (jakºm), wie es sich in Dichtung und Gesetzgebung konkretisiert, zu der Wahrnehmung der ihnen allen gleicherweise innewohnenden Schönheit und Gutheit (j²kkor). Ganz analog zum körperlichen Bereich erkennt der philosophische Erotiker und Initiant der großen Weihen die Relativität der jeweiligen konkreten Gestalt des ethisch Guten und Schönen und damit der Tugendvorstellungen. Darauf hatte zwar auch Pausanias schon hingewiesen, doch hatte er nicht nach dem Gemeinsamen der unterschiedlichen Sitten gefragt, sondern ihre Relativität für sein eigenes Argumentationsinteresse, die Legitimation der Päderastie, genutzt. Der philosophische Erotiker sucht jedoch die Schönheit und Gutheit, die allen Sitten und Gebräuchen zugrunde liegt und durch die sie einander verwandt sind. Sonst bliebe er entweder in der Verabsolutierung einer begrenzten Moralvorstellung und damit in einem ethischen Rigorismus gefangen, oder er verfiele einem sittlichen Relativismus und damit der Willkür. Auf körperlicher Ebene würde dem die Fixierung auf einen einzigen schönen Körper entsprechen oder die Promiskuität auf der anderen Seite. Die Fixierung ist wegen der offenkundigen Relativität und Begrenztheit des Einzelschönen ein Problem. Denn das Einzelne wird verabsolutiert, wenn es kein anderes Schönes neben sich zulässt und an die Stelle des letzten Ziels des erotischen Strebens tritt. Der Pluralismus des Schönen wird wiederum zum Problem, wenn er den Libertinismus zur Folge hat, der keine verbindliche Norm über sich anerkennt. In beiden Fällen würde ein falscher Weg beschritten, den der Philosoph nicht einschlagen darf. Der richtige Weg aus diesem Dilemma führt dagegen zum Verständnis der allen eignenden Schönheit (j²kkor), durch welche das vielfältig Einzelschöne (jakºm) einander verwandt ist (numcemm´r). Diese Wendung vom konkreten Einzelschönen hin zur allgemeinen Eigenschaft der Schönheit leitet die zunehmende Transzendierung des Gegenstandes des Eros ein.421 Dadurch unterscheiden sich die großen und philosophischen Weihen von den kleinen. 421 Die Schönheit (j²kkor) ist für Platon eine reale ontologische Entität, die allen schönen
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Durch diese Wiederholung der verallgemeinernden Zusammenschau und Transzendierung ist der philosophische Myste vorbereitet auf die nächste Stufe, auf der sich der gleiche Vorgang ein drittes Mal abspielt. Denn nach dem sittlich Schönen wird er zum geistig Schönen geführt, zu den Wissenschaften. Auch hier wird er der Schönheit in unterschiedlichen Erkenntnissen und Wissenschaften gewahr (Ud, aw 1pistgl_m j²kkor, Smp. 210c).422 Zurückblickend überschaut der philosophische Erotiker das vielfältig Schöne (pok» … t¹ jakºm), das seinen Aufstiegsweg begleitet hat. Angesichts dieser Fülle ist es ihm unmöglich, sklavisch (¦speq oQj´tgr) auf die Schönheit eines Knaben oder irgendeines Menschen fixiert zu sein oder das Interesse ausschließlich einer Einzelbeschäftigung zuzuwenden.423 (Smp. 210d) Dieser Blick aus der Höhe und in zeitlicher Distanz lässt das, was früher großartig und fesselnd wirkte, jetzt im Überblick und im Vergleich gering erscheinen. Wäre der philosophische Erotiker immer noch in dessen Bann, würde er sich als minderwertig und kleingeistig erweisen (vaOkor × ja· slijqokºcor, ebd.):424 … vielmehr soll er sich auf das weite Meer des Schönen begeben und es betrachten, damit er viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in unerschöpflichem philosophischem Streben, bis er, hierdurch gestärkt und gereift, eine einzige Erkenntnis erblickt, die die Erkenntnis eines Schönen der folgenden Art ist. Versuche nun aber, so aufmerksam zu sein, wie du nur kannst. (!kk’ 1p· t¹ pok» p]kacor tetqall]mor toO jakoO ja· heyq_m, pokko»r ja· jako»r k|cour ja· lecakopqepe?r t_jt, ja· diamo^lata 1m vikosov_ô !vh|m\ 6yr #m, 1mtaOha Nyshe·r ja· aqnghe·r jat_d, tim± 1pist^lgm l_am toia}tgm F 1sti jakoO toioOde. peiq_ d] loi, 5vg, t¹m moOm pqos]weim ¢r oX|m te l\kista. Smp. 210d f., Üb. Zehnpfennig)
Mit der erneuten Aufforderung zu höchster Aufmerksamkeit deutet die Diotima an, dass der Höhepunkt des Aufstiegswegs fast erreicht ist und die Vollendung der philosophischen Einweihung unmittelbar bevorsteht. Die Metapher vom Gegenständen (jak²) eignet. Sie ist keine bloß gedankliche Abstraktion der materialen Eigenschaften von Einzeldingen wie bei Aristoteles. Vielmehr bestimmt sie die Art der Teilhabe (let´womta, Smp. 211b) der konkreta an der Idee. Fink spricht darum von »Bestimmtheit« statt »Eigenschaft« oder »Qualität«, um aristotelische Assoziationen zu vermeiden. Siehe a. Fink, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 17, Anm. 30. Die Abwendung vom Einzelschönen und dessen Transzendierung ist pädagogischer und epistemischer Art. Ihr entspricht in umgekehrter Richtung die ontologische Abhängigkeit der Instanzen von der sie begründenden Idee. 422 Aus der Analogie zu den vorhergehenden Stufen folgt, dass der philosophische Erotiker sich nicht mit einer Fachwissenschaft begnügt, sondern nach dem allgemeinen Prinzip von Wissenschaft und Erkenntnis fragt. In der Politeia ist dies die Beschreibung des philosophischen Dialektikers in Abgrenzung zum Fachwissenschaftler. 423 Das wendet sich zum Beispiel gegen Pausanias und dessen Fixierung auf die körperliche Befriedigung in einer päderastischen Beziehung, aber auch gegen die anwendungsdominierte Enge der ärztlichen Kunst bei Eryximachos. 424 Nicht das Einzelschöne wird diskreditiert, sondern die sklavische Bindung daran, die den Aufstieg hindert.
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weiten Meer des Schönen steht für die Zusammenschau aller Konkretionen des Schönen auf körperlicher, sittlicher und kognitiver Ebene, denen der Erast auf seinem Aufstiegsweg begegnet ist. Dabei treten die relativen Unterschiede zwischen ihnen in der Fülle der Erscheinungen ebenso zurück wie die zwischen den verschiedenen Ebenen der Schönheit, der körperlichen, sittlichen und geistigen. Denn diese Unterschiede sind den spezifischen Eigenheiten der Träger der Schönheit geschuldet und nicht dem Schönen selbst, das sich in ihnen manifestiert. Ein letzter Akt der Transzendierung ist notwendig, um das Gemeinsame und Einheitliche im Meer des Schönen zu erkennen. Auch dieser letzte Schritt wird durch die Geburt von Logoi vorbereitet. Im reflektierenden Gespräch mit dem Mystagogen wie auch innerem Selbstgespräch werden die Gedanken über das Schöne geboren.425 In der Betrachtung 425 Das Selbstgespräch als Gebären von Gedanken über das Schöne wird mit dramaturgischen Mitteln bereits zu Beginn des Symposions eingeführt, als Sokrates im Begriff ist, »schön zum Schönen zu gehen« (jak¹r paq± jak¹m Uy, Smp. 174a), und plötzlich in Gedanken versunken solange im Vorhof des Nachbarn stehen bleibt, bis er gefunden hat, was er suchte. (Smp. 174d, 175d) Diese poetische, wenngleich mit Blick auf das Verhältnis von Sokrates und Agathon ironische Wendung vom »Schönen, der zum Schönen geht«, kann als Motto für den gesamten Aufstiegsweg des Mysten zum Schönen selbst gelten. Es bedeutet eine Reflexion auf Intention und Bedingungen einer gelingenden Suche nach der Idee des Schönen. Zu dem Motiv des gedankenversunkenen Sokrates und dessen Einsamkeit vgl. a. Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 254 f. »…das einsame Nachdenken ist nicht der kuriose Einzelfall, als der er bei Alkibiades erscheint [vgl. Smp. 220c f., Anm. d. Verf.], sondern eine Gewohnheit des Philosophen. … Der denkende Umgang mit sich selbst – in Rahmenstellung zu Beginn und gegen Ende erwähnt – ist die Voraussetzung und tragende Grundlage allen philosophischen Tuns.« (Ebd. 268 f.) Rehn trägt allerdings gegen Szlezk und dessen Betonung der »intellektuellen Einsamkeit des Dialektikers« den Einwand vor, dass auch im Symposion das dialogische Prinzip zentral ist und es sich weniger um ein Lehrgespräch der Diotima handelt als um einen fortgesetzten Dialog. Deswegen betont Rehn die »Unentbehrlichkeit des anderen im philosophischen Erkenntnisprozeß«, weil »…für Platon Philosophieren in strengem Sinne nur als ein sulvikosove?m, als gemeinsames Philosophieren realisierbar [ist].« (Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion, 91) Es ist aber eine unfruchtbare Alternative, den äußeren Dialog gegen den inneren im Selbstgespräch auszuspielen. Der äußere Dialog setzt sich im inneren fort und umgekehrt. Unbestreitbar ist die Bedeutung des Dialogpartners für Platon wichtig für die Selbstprüfung. Ob ein Dialogpartner aber auch auf der letzten Stufe des Aufstiegswegs notwendig ist, ist zumindest offen. Der VII. Brief scheint davon auszugehen, dass das plötzliche Erkennen der Idee sich aus einem häufigen gemeinsamen Nachdenken ergibt, 1j pokk/r sumous¸ar, (Ep. VII 341c), während das Symposion den Eindruck erweckt, dass dieser gleiche Vorgang die unabgelenkte Einsamkeit des Schauenden voraussetzt oder mindestens bewirkt. Für Letzteres spricht auch die zunehmende Entpersonalisierung, die mit dem Aufstieg verbunden ist. Der Gegenstand der Liebe, das Einzelschöne, ist im Fall der Wissenschaften nicht mehr mit einer Person identisch, und auch die Liebe zur Schönheit (j²kkor) bedeutet bereits eine Loslösung von der konkreten schönen Person, dem eromenos. Wenn es also um die generelle Beschreibung der Aktivität auf der Stufe des weiten Meeres des Schönen geht, ist nicht mehr der geliebte Mensch, der eromenos, notwendig Adressat der Logoi, allenfalls ein Anlass unter vielen Schönen. Doch verweist Smp. 210e (dr c±q #m l´wqi 1mtaOha pq¹r t±
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und Reflexion der grenzenlosen Weite des Schönen und ihrer dennoch gegebenen Einheitlichkeit vollzieht sich die kognitive Reifung des Erotikers. Diotima beschreibt diesen Prozess als ein unerschöpfliches Streben nach Weisheit (vikosov_ô !vh|m\). Der Begriff der Philosophie taucht hier überraschend wieder auf, nachdem er in der Darstellung des Aufstiegsweges gänzlich aus dem Blick geraten zu sein schien. Aber es zeigt sich, dass sachlich das Gegenteil der Fall ist. Denn die Weisheit, nach der hier gesucht wird, ist kein Wissen über die Einzeldinge, kein partikulares Fachwissen wie in den verschiedenen Wissenschaften, sondern die Einsicht in das wesenhaft Schöne, das alles Schöne verbindet. Das unerschöpfliche Weisheitsstreben zielt auf die Erkenntnis der Idee des Schönen. Der Weg dorthin führt stufenweise (¦speq 1pamabaslo?r, Smp. 211c) über die Vergegenwärtigung und Erkenntnis des Allgemeinen im Besonderen: die Schönheit (j²kkor) im Einzelschönen (jakºm) und schließlich das Gemeinsame, das alle Ebenen der Schönheit und damit der Wirklichkeit verbindet, das Schöne selbst (aqt¹ t¹ jakºm).426
1qytij± paidacycgh0) auf die kontinuierliche Leitung durch den Mystagogen oder Bco¼lemor, der zumindest bis zur vorletzten Stufe den Aufstieg des Mysten dialogisch reflektierend und helfend begleitet. Zur Kontinuität des Bco¼lemor vgl. a. Sier, Die Rede der Diotima, 158, 279, 281. 426 Hier wurde zu Recht auf die Parallelen zu den Gleichnissen in der Politeia, insbesondere zum Liniengleichnis hingewiesen. Vgl. Sier, Die Rede der Diotima, 152 f. Das Zwischenglied der Schönheit (j²kkor) ist 1. notwendig, um das Verbindende unter den Einzelschönen, nämlich den einzelnen Instanzen des Schönen, auf der jeweiligen ontologischen Ebene zu charakterisieren, denn sie ist das einheitliche Moment in dem vielerlei Schönen (jakºm), vgl. Anm. 421. Sie ist 2. notwendig, um den unterschiedlichen Charakter der Schönheit auf der sinnlich-körperlichen Ebene, der sittlich-seelischen und ebenso auf der geistig-intelligiblen Ebene zu beschreiben. Erst auf der höchsten ontologischen Stufe fehlt sie, weil sie dort identisch ist mit dem Schönen selbst (aqt¹ t¹ jakºm). Da die Idee des Schönen eingestaltig ist (lomoeid´r) und es kein zweites Schönes neben ihm gibt, mit dem es zu vergleichen wäre, gibt es auf dieser Ebene auch keine Schönheit mehr, die von der schönen Sache, nämlich dem Schönen selbst, unterschieden werden könnte. Die Zusammenhänge lassen sich wie folgt skizzieren: die Idee des Schönen oder das Schöne selbst , Smp. 211d
die Schönheit in den Wissenschaften , Smp. 210c
die Schönheit in den Seelen , Smp. 210b
die Schönheit in den Körpern , Smp. 210b
wahre Kenntnisse , Smp. 211c
tugendhafte Tätigkeiten und Sitten , Smp. 211c
schöne Körper , Smp. 211c
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Der Erotiker philosophiert also von Jugend an, weil er stets nach dem Verbindenden und Einheitlichen fragt. Das gilt bereits für seine Liebe zu schönen Körper, an denen ihn die körperliche Schönheit fasziniert, die allen schönen Körpern gleicherweise eignet. Auch der Tugendliebhaber, der sich an der Schönheit einer Seele erfreut, philosophiert, wenn er das Gute und Schöne im Blick hat, das den unterschiedlichsten Sitten und Gebräuchen zugrunde liegt. Und erst recht der Wissenschaftler, der das Erkenntnisprinzip in allen Wissenschaften verstehen will. Die Frage nach dem Einenden und Allgemeinen bewirkt die Transzendierung des Schönen auf allen Erkenntnisstufen und damit den durchgängig philosophischen Charakter des Eros in allen Wirklichkeitsbereichen, im Körperlich-Materiellen wie im Sittlich-Seelischen und GeistigIntelligiblen. Hiermit kommen wir dem Beweisziel, dass jeder Eros notwendig philosophisch sein muss, einen entscheidenden Schritt näher.427 Umgekehrt aber bleibt derjenige, der sich der Transzendierung verweigert, ein unphilosophischer und letztlich unerotischer »Banause« (Smp. 203a), weil er dem konkreten Schönen sklavisch verfallen bleibt.428 Unabhängig davon, welcher Ebene der Wirklichkeit sein Interesse gilt, bleibt er uneingeweiht, wenn er sich vom Einzelschönen nicht lösen kann: sei es, dass er einem einzigen Schönen verhaftet bleibt wie der halbierte Kugelmensch bei Aristophanes, der seine andere Hälfte sucht; (Smp. 191a f., 192d f.) oder sei es dass er zum Swinger wird wie Agathon in seinem orgiastischen Lob auf alles erdenklich Schöne.429 (Smp. 196b – 197e) In jedem dieser Fälle tritt das konkrete Einzelschöne an die Stelle des letzten, göttlichen Zieles, auf das der Eros als ein Zwischenwesen in seinem Begehren von Natur aus angelegt ist. Wer aber bis hierher das viele Schöne in der richtigen Abfolge und auf richtige Weise betrachtet hat, der ist schon fast am Ziel (t´kor) auf dem Einweihungsweg der Liebe angelangt. Nun kann es sich ereignen, dass er unvermittelt und plötzlich (1na¸vmgr) ein Schönes erblickt von wunderbarer, sonderbarer Natur (ti haulast¹m tµm v¼sim jakºm, Smp. 210e),430 jenes nämlich, um dessentwillen er den anstrengenden Aufstieg unternommen hat. Dieses Schöne unterscheidet 427 Siehe S. 217, 247. 428 Dieses sklavische oder knechtische Verhalten hatte Pausanias für den erastes ausdrücklich als Mittel gebilligt, um den eromenos für seine sexuellen Interessen zu gewinnen (douke¸a, douke¼eim, Smp. 183a; vgl. douke¼ym, Smp. 210d). 429 Der Swinger-Charakter von Agathon wird in der Schlussszene dramaturgisch inszeniert durch den Wechsel der Liegeplätze von Agathon, Alkibiades und Sokrates. (Smp. 223a) 430 Das 1na¸vmgr im Symposion wie auch im VII. Brief charakterisiert den plötzlichen Umschlag von einem Zustand der Unwissenheit in den des Wissens. »Es [das 1na¸vmgr im Smp. o. Ep. VII, Anm. d. Verf.] benennt den zwar vorbereiteten, aber dann doch unvermutet im zeitlosen Nu einbrechenden Akt der Erleuchtung. Dieses 1na¸vmgr ist … das seltene, geradezu glückhafte Ereignis der philosophischen Existenz.« (Beierwaltes, 9na¸vmgr oder : Die Paradoxie des Augenblicks, 275)
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sich grundsätzlich von allem, was er bisher an Schönem gesehen hat. Deswegen spricht Diotima vor allem in Negationen von ihm, weil es seinem Wesen nach unvergleichlich ist: Es ist 1. immer (!e· em), und zwar auf eine zeitlose Weise, die keinem Sterblichen oder Werdenden zukommt, das heißt, es entsteht weder, noch vergeht es, noch ist es veränderlich. 2. ist es nicht auf relative Weise schön, nämlich in Bezug auf einen bestimmten modalen, temporalen, finalen, situativen oder subjektiv urteilenden Aspekt. Auch nimmt es 3. keine konkrete Gestalt an, sei es im Bereich des Körperlichen und sinnlich Wahrnehmbaren oder im Geistigen. Und schließlich kommt es 4. nicht als akzidentielle Eigenschaft zu irgendeinem Seienden hinzu oder wird von diesem, so es an ihm teilhat, auf irgendeine Weise beeinflusst. Vielmehr ist es »an sich und für sich und ewig eingestaltig« (!kk’ aqt¹ jah’ art¹ leh’ artoO lomoeid³r !e· em).431 (Smp. 211a f.) Diese Beschreibung bestimmt das Schöne, welches Gegenstand der Schau ist, positiv als Idee. Der Schauende, der versucht, die Natur der Idee des Schönen zu erfassen, erlebt als erstes, dass die Kategorien, in denen er üblicherweise denkt, gesprengt und überstiegen werden müssen. Dieses Schöne lässt sich nicht angemessen propositional aussagen, so wie man sonst über Gegenstände der sinnlichen oder intelligiblen Welt spricht. Es ist in diesen Kategorien nicht fassbar, weswegen Diotima in apophatischen Antithesen spricht und zugleich eine feierliche, gehobene Sprache verwendet, die etwas Hymnisches hat, ohne pathetisch zu sein. Hier spricht die eingeweihte Priesterin von dem »göttlich Schönen« (t¹ he?om jakºm, Smp. 211d), das sich der menschlichen Vernunft nicht in direktem Zugriff erschließt wie andere Gegenstände des Denkens, das sich aber dennoch zeigt als das wesenhaft Eine (lomoeid´r) zugleich in und jenseits von allem Schönen.432 Mit der Schau dieses unvergleichlichen, göttlich Schönen kommt der Mensch in seinem Streben nach Glück an sein Ziel. Denn an dieser Stelle wird das Leben lebenswert, wenn er das Schöne selbst schaut (9mtaOha toO b¸ou … biyt¹m !mhq¾p\, heyl´m\ aqt¹ t¹ jakºm, 211d). Das gilt nicht nur für Philosophen, sondern für alle Menschen. Das Ziel ist für alle das gleiche, nur bleiben die meisten unterwegs stehen und richten sich irgendwo auf einer abkünftigen Stufe des Schönen ein. Die Vorredner von Sokrates und die Figuren der Rahmenhandlung stehen jeweils für eine bestimmte Form der Täuschung oder Verweigerung, in die ihr irrendes Streben sie geführt hat. Sie vollziehen den Prozess der Transzendierung des Schönen aus unterschiedlichsten Gründen nicht mit.433 431 Für eine eingehende Analyse der Charakterisierung der Idee des Schönen siehe Sier, Die Rede der Diotima, 173 – 182. Zur Idee als aqt¹ jah’ art¹ siehe Fink, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 15 ff. 432 Vgl. Halfwassen, Philosophie als Transzendieren, 29 – 42; Strobel, Art. Transzendenz, 339 – 342. 433 Die Frage nach der Bedeutung der Vorredner und ihres Beitrags zum Ganzen des Sympo-
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sions wird sehr unterschiedlich beantwortet. Neuerdings mehren sich die Stimmen, die sie nicht als überflüssiges, literarisches Beiwerk ansehen, sondern ihren konstruktiven Beitrag zum philosophischen Gehalt der Reflexionen über den Eros herausstreichen. Ein formales Argument ist der erhebliche Umfang, den Platon ihnen im Ganzen des Werks einräumt. Aber vor allem die Tatsache, dass viele inhaltliche Thesen in der Abfolge der Reden wieder aufgegriffen, korrigiert und weitergeführt werden und schließlich auch in die Rede von Sokrates einfließen, ist ein wichtiges Sachargument, das allerdings ganz unterschiedlich gedeutet wird. Sheffield liest die Reden wie ein »intertextual web«. (Sheffield, The Role of the Earlier Speeches in the Symposium, 27) Nach ihm sind die Reden für sich genommen zwar unvollständig, aber bieten insgesamt ein umfassendes Bild von der Rolle des Eros für ein gutes Leben. Sie legen zeitgenössische Wissenskonzepte und Meinungen über die Liebe dar und zeigen deren Inkonsistenzen und Rätsel auf. Diese Konzepte sind nicht unbedingt sachlich falsch, sondern nur unzureichend begründet und bedürfen einer besseren, philosophischen Rechtfertigung. Das spezifisch Philosophische sieht Sheffield im endoxischen Perfektionieren teils richtiger, teils falscher Einsichten. (Ebd., 45 f.) Das Problem dieser eklektisch synthetisierenden Lesart des »intertextual web« ist jedoch, dass der grundlegende epistemologische Unterschied zwischen der Diotimarede und den Vorreden nivelliert wird. Die Vorreden sind nicht einfach defizitäre Formen des Wissens, die man nur richtig zusammenstellen muss. Vielmehr stellen sie nach Diotima überhaupt kein Wissen dar, sondern gehören streng genommen auf die Seite des Banausentums, weil sie sich über das Göttliche und damit auch über das daimonische Wesen des Eros täuschen. (Smp. 203a) »…earlier speakers may say things that sound like things Socrates says; but they are not the same things, because the speakers lack the perspective, the whole system, to which they belong, and without which they are mere disiecta membra. What Plato is doing is to contrast the peculiar Socratic view with more ordinary views, not derive it from them – for the fact is that it cannot be derived from them.« (Rowe, The Symposium as a Socratic Dialogue, 21) Sier plädiert darum für eine der gewöhnlich »parataktischen« Lesart gegenläufige, »hypotaktische« Lesart der Reden. Der parataktische Wechsel rechtsherum gemäß der Sitzordnung der Gäste entspricht symposiastischer Konvention. Dabei bauen die Reden der Teilnehmer in Variation, Widerspruch und Weiterführung inhaltlich aufeinander auf und treten in einen Agon miteinander, bei dem sich der philosophische Vortrag von Sokrates von dem der anderen nicht grundsätzlich unterscheidet, auch wenn er den Sieg davonträgt. Sheffield liest in diesem Sinn parataktisch. Die hypotaktische Lesart hingegen beginnt mit der Diotimarede und liest von hinten nach vorn. Sie setzt die Kenntnis des Ziels, die Schau des Schönen selbst, bereits voraus. Elemente der Diotimarede finden sich zwar auch in den anderen Reden, doch treten sie dort disparat auf, während sie in der Diotimarede notwendige Teile eines synoptischen Ganzen sind und transzendiert werden. Die Vorreden zeigen also durchaus Merkmale, die einzelnen Vorstufen des Aufstiegswegs zugeordnet werden können, doch mangelt ihnen völlig die von Diotima angemahnte »teleologische Progression« in der rechten Ordnung des Aufstiegs. (Sier, Das Philosophische im Symposion, 34, 38, 40) Es ist wichtig, die Einheit des Symposions zu betonen, und es ist auch gerechtfertigt, den inhaltlichen Beitrag der Vorredner zu würdigen und ihnen vielleicht einen Platz bei den allgemeineren, kleinen Mysterien zuzubilligen, weil sie als Intellektuelle nicht nur auf körperliche Zeugung aus sind, sondern in ihrer Frage nach der Tugend auf unterschiedliche Weise auch seelisch produktiv sind. Aber sie sind vor allen Dingen Negativbeispiele dafür, dass der Aufstiegsweg, den Diotima beschreibt und den der Philosoph in seiner Liebe zum Schönsten erstrebt, scheitert, wenn der entscheidende Schritt der Transzendierung des Einzelschönen auf jeder Stufe und schließlich der Überstieg zur Idee des Schönen nicht vollzogen wird. Insofern haben diese Reden ähnlich wie die Gerichtsszenen in den platonischen Mythen in erster Linie eine paränetische Bedeutung. Die Einheit des Symposions liegt in der allen gemeinsamen Liebe zum Schönen. Aber der fundamentale
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Das wäre kein Verlust, wenn es sie zufrieden stellen würde. Aber die Freude an der Wissenschaft, an materiellen Gütern oder schönen Knaben ist stets mit dem Wunsch verbunden, diese dauerhaft zu haben und immer damit zusammen zu sein (numºmter !e· aqto?r, Smp. 211d). Der Eros ist aufgrund seines daimonischen Wesens nicht zufrieden, wenn ihm das Schöne und Gute, das er erstrebt, nur auf defizitäre Weise zuteil wird. Er muss deswegen zum Göttlichen durchdringen, das wesenhaft ewig und auf vollkommene, eingestaltige Weise das ist, was es ist, und also schön.434 Unsere oben gestellte Frage, warum der Eros notwendig das Schönere und schließlich das Schönste wählen muss, hängt wesentlich hiermit zusammen. Wenn die Menschen sich dennoch nicht nach dem Schöneren und Schönsten ausstrecken, hat das seinen Grund darin, dass sie sich über das Schöne und Schönere täuschen und eine falsche Wahl treffen.435 Die Philosophen unterscheiden sich von ihnen nicht durch einen anderen Eros, es gibt keinen spezifisch philosophischen Eros im Sinn einer eigenen Gattung oder Art. Sie lieben auch keine anderen Dinge, sondern gleichfalls schöne Körper, Seelen oder Wissenschaften. Sie unterscheiden sich aber durch eine andere epistemische Haltung, mit der sie dem Schönen begegnen. Das ist das spezifisch Philosophische an ihnen. Ausgehend vom Einzelschönen fragen sie vergleichend nach dem Schöneren und Schönsten und transzendieren jegliches Schöne auf das Allgemeine und Vollkommenere hin. Deswegen ist die Philosophie wesentlich die Liebe zum Schönsten, nämlich zur Idee des Schönen selbst. Damit ist auch die zweite eingangs aufgestellte These begründet, dass es keine befriedigte menschliche Erotik ohne philosophische Erkenntnis gibt.436 Der Eros, der eine falsche Wahl trifft, weil er sich über das Schönere täuscht, kommt nicht an sein Ziel und bleibt notwendig unbefriedigt, ein sklavischer Diener des Einzelschönen oder ein rastloser Jäger. Zur Ruhe gelangt der Eros erst angesichts des unveränderlich und auf alle Weise Guten und Schönen. Erst dann führt der Mensch kein minderwertiges Leben mehr (vaOkom b¸om, Smp. 211e, vgl. 210d), Unterschied zwischen der Diotimarede und den Vorreden besteht in der Befreiung von der sklavischen Fixierung auf das konkrete Einzelschöne und der aufsteigenden Transzendierung. Denn das ist die Voraussetzung für einen gelingenden Aufstieg und die Einweihung in das Wesen der Philosophie. Auch das Symposion beschreitet einen Weg »von hier nach dort«. 434 Zur Selbstprädikation und dessen Diskussion siehe Sier, Die Rede der Diotima, 173 ff. »Die Idee gilt ihr [Diotima] … nicht als Universale, sondern als Individuum, als das ›göttlich Schöne‹ (211e3), das in substantieller Weise ist, was das Prädikat meint, etwa so wie die Götter nicht einfach unsterblich, sondern die Unsterblichen sind.« (Ebd. 174 f.) 435 Dieses als ethischer Intellektualismus bekannte epistemische Problem, das Sokrates gerade in den frühen Dialogen eingehend diskutiert, gilt auch im Symposion, weil hier noch keine Seelenteilungslehre vertreten wird, die für den zugrunde liegenden innerpsychischen Konflikt eine andere Lösungsstrategie anbietet. Siehe a. Anm. 404. Vgl. Rowe, The Symposium as a Socratic Dialogue, 9, 17, 20 f., Penner/Rowe, Plato: Lysis, 300, 306. 436 Siehe S. 217.
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wenn er statt auf das Einzelschöne »dorthin« sieht und mit dem geistigen Auge das göttlich Schöne schaut und mit ihm zusammen ist (1je?se bk´pomtor !mhq¾pou … ja· numºmtor aqt`). Denn die Frucht dieser Schau ist wahre Tugend (tejºmti d³ !qetµm !kgh/), die in der Seele des Erotikers geboren wird, weil er nicht mehr defizitäre Abbilder des Schönen (eUdyka !qet/r), sondern das wahre, immerseiende und ursächliche Schöne selbst berührt. Hier, in der Liebe zum göttlich Schönen, wird der Mensch gottgeliebt und erlangt in der wahren Tugend Unsterblichkeit (heovike? cem´shai, ja· … !ham²t\), soweit es überhaupt für einen Menschen möglich ist.437 (Smp. 212a) Diese Form der Unsterblichkeit transzendiert die horizontale Zeit-Ebene in die Vertikale.438 Es ist die Gegenwart des ewigen, unveränderlichen, vollkommenen, eingestaltigen Schönen selbst, der Idee des Schönen, die immer und überall in allem Schönen präsent ist und eine Form der Angleichung an Gott. Diese großartige Sicht auf den Menschen in seinem erotischen Streben und dessen Erfüllung in der Schau des Schönen selbst kann nur der im Letzten verifizieren, dem diese Epoptie zuteil wurde. Das dürfte nur für wenige der Fall sein, doch wird es nicht für unmöglich erachtet. Bis dahin ist der philosophische Erotiker auf den wissenden Mystagogen angewiesen, der ihn den richtigen Weg führt; oder in Ermangelung dessen auf den eigenen inneren Führer und Helfer, nämlich Eros, den Sokrates den besten Mitarbeiter für die menschliche Natur nennt (t0 !mhqype¸ô v¼sei s¼meqcom !le¸my =qytor, Smp. 212b). Dieser Zuspruch ist den Symposiasten wie dem Leser mit auf den Weg gegeben. Er kann anhand von Diotimas Wegbeschreibung sein eigenes Streben und Lieben verstehen lernen. Dann zählt er zwar noch nicht zu den Weisen und Wissenden im Sinn der vollendeten Schau, aber auch nicht zu den Unwissenden und Unverständigen, sondern er befindet sich irgendwo zwischen ihnen und gehört zu denen, die aufgrund ihrer richtigen Meinung auch den richtigen Weg finden können. (Smp. 202a, 204a) Und eben das sind, wie Diotima zeigt, die Philoso437 Hierbei handelt es sich um das auch sonst im platonischen Werk zu findende Prinzip der Angleichung an Gott, der h´ysir oder blo¸ysir he` durch die Philosophie. (R. 500c, 613b; Tht. 176b; Ti. 47b f., 90c f.; Phdr. 253a f.) Dies gilt immer unter der Einschränkung des »so weit als einem Menschen möglich«. Diese rein geistige Schau der Idee bedeutet einen Zustand, der nicht nur plötzlich eintritt und nicht erzwingbar ist, sondern in dem der Mensch auch nicht dauerhaft verweilen kann. Dennoch geht er verwandelt daraus hervor. »Weisheit fest zu besitzen sei, so will es Platon, den Göttern vorbehalten, die in ständiger, unmittelbarer Anschauung der Ideen leben. … Weisheit ist das Höchstmaß von Wissen, nicht im quantitativen Sinn der Akkumulation und sicheren Handhabung von vereinzelbaren Kenntnissen, … sondern im qualitativen Sinn der Nähe zu den Ideen und ihrer Anschauung.« (Schäfer, Manische Distanzierung, 424) 438 Die Unsterblichkeit, an der der Philosoph in der Schau des Schönen teilhat, überwindet die horizontale, linear verrinnende Zeitdimension und erstreckt sich in die überzeitliche Vertikale des Augenblicks, weil die durch den Eros im Schönen erzeugte wahre Tugend ein Kind des Göttlichen ist. Vgl. auch Gotshalk, Loving and Dying, 176 f.
Symposion: Philosophie ist die Liebe zum Schönsten
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phen, die durch ihre Liebe zum Schönsten in einem unerschöpflichen Philosophieren immer weiter fragen, bis der Eros sein Ziel findet. 2.4.5. Der Philosoph und die Liebe zum individuell Schönen Für unser modernes Selbstverständnis, das stark vom Individualitätsgedanken geprägt ist, stellt die platonische Erostheorie eine Herausforderung dar. Es kann der Eindruck entstehen, als würde hier der einzelne Mensch in seiner unverwechselbaren Persönlichkeit und seinem Wert einem rigorosen Standard unterworfen, bei dem nicht nur die personale Liebe zu einem naturgemäß defizitären Individuum auf der Strecke bleibt, sondern der Geliebte auch zum Mittel degradiert wird in einem Aufstiegsweg, dessen Ziel einzig und allein eine abstrakte Entität, die Idee des Schönen oder Guten ist, falls es so etwas überhaupt gibt. Diese Einwände wurden von prominenter Seite vorgetragen und sind immer wieder Gegenstand der Diskussion gewesen. Auch in unserem LysisKapitel wurde bereits darauf eingegangen.439 In dieser neuerlichen Wiederaufnahme geht es nun weniger um eine defensive Widerlegung der Einwände, als vielmehr um einen positiven Aufweis der konstruktiven Leistung der platonischen Erostheorie für die personale, individuelle Liebe. Es soll gezeigt werden, dass der philosophisch verstandene Eros, wie Platon ihn im Symposion cha-
439 Der einschlägige Artikel hierfür stammt von Vlastos, The Individual as Object of Love in Plato. Seine Einwände gegen Platons Philia- und Erostheorie lassen sich in drei Grundgedanken zusammenfassen: (1) Der sokratische Liebhaber ist unfähig, jemanden um seiner selbst willen zu lieben: »The lover Socrates has in view seems positively incapable of loving others for their own sake, else why must he feel no affection for anyone whose goodproducing qualities he did not happen to need?« (Ebd., 8 f.) (2) Der sokratische Liebhaber liebt ein abstraktes Konstrukt der besten Eigenschaften und nicht die ganze Persönlichkeit in ihrer Individualität und Einzigartigkeit: »… if our love for them is to be only for their virtue and beauty, the individual, in the uniqueness and integrity of his or her individuality, will never be the object of our love. This seems to me the cardinal flaw in Plato’s theory. It does not provide for whole persons, but only for love of that abstract version of persons which consists in the complex of their best qualities.« (Ebd., 31) (3) Die Liebe zur Idee steht in Widerspruch und Konkurrenz zur personalen Liebe: »…were we free of mortal deficiency we would have no reason to love anyone or anything except the Idea: seen face to face, it would absorb all our love.« (Ebd. 32 f.) Vlastos setzt dabei explizit oder implizit voraus, dass (1) der Mensch um seiner selbst willen geliebt werden soll und Endzweck ist, (2) die Individualität und Einzigartigkeit ein axiologischer Grund für die Liebe ist und (3) die Liebe zu einer absoluten Entität die personale Liebe ausschließt. Auch wenn hier keine ausführliche Diskussion dieser Thesen durchgeführt werden kann, können die drei Einwände durch den Nachweis des positiven Beitrages der platonischen Erostheorie für die personale Liebe entkräftet werden. Für die weitere Auseinandersetzung mit Vlastos sei verwiesen auf Penner/Rowe, Plato’s Lysis, 211 – 214; Bordt, Platon: Lysis, 136 – 140; Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, 2 f., 10 – 12, 50 f. Zu dieser Diskussion siehe auch Anm. 319 u. 326 im Lysis-Kapitel.
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Der philosophische Eros
rakterisiert, geradezu Bedingung der Möglichkeit freier, unverzweckter und dauerhafter zwischenmenschlicher Liebe ist. Die Diotimarede beschreibt den Aufstiegsweg des philosophischen Erotikers bis zur Schau der Idee des Schönen. Damit schließt sie und überlässt dem Leser, über die Folgen dieser außerordentlichen Erfahrung nachzudenken. Es wird nur andeutungsweise gesagt, dass der Philosoph, der das Schöne selbst geschaut hat, wahre Tugend gebiert, weil er das Wahre berührt hat.440 Zugleich ist deutlich, dass es sich bei der Schau nicht um einen dauerhaften Zustand handelt, weil der Philosoph als raum-zeitlich gebundener Mensch nicht im Zustand reiner Vergeistigung leben kann, was Voraussetzung dafür ist, das rein Geistige der Ideen wahrzunehmen. Denn die Schau ist nur dann erreichbar, »… wenn der Geist ganz allein und ungetrübt ist, womit sensu stricto ein außerweltlicher Zustand definiert wird«,441 wenn also das »Auge des Geistes« (Smp. 219a) nicht durch irgendetwas Einzelnes und Besonderes abgelenkt wird, weder im körperlichen noch im seelisch-geistigen Bereich. Diese Konzentration ist dem Menschen als einem Zwischenwesen zwischen der körperlich-materiellen und der vernünftigintelligiblen Welt nicht dauerhaft möglich. Er ist im besten Fall ein »Wanderer zwischen den Welten«,442 ein dailºmior !m¶q. (Smp. 203a) Nach dem Aufstieg zur Idee des Schönen folgt also notwendig der Abstieg in die Welt des Besonderen und Individuellen, von den Prinzipien und der eingestaltigen Idee zu ihren Instanzen. Es wäre nun völlig verfehlt zu meinen, der Philosoph, dem die Schau des Schönen selbst zuteil wurde, würde die Schönheit im einzelnen Schönen nicht mehr wahrnehmen und schätzen. Das Gegenteil ist der Fall. Er hat ein geschärftes Auge dafür. Er steht nur nicht mehr in der Gefahr, das Einzelschöne mit dem Ziel seines Begehrens, mit dem eingestaltigen Schönen zu verwechseln. Er ist »frei von« derlei Täuschungen und Substitutionen, die den unphilosophischen Erotiker notwendig immer zu Enttäuschungen führen,443 aber auch den jungen Philosophen, der noch die Mühsal des Aufstiegs vor sich hat. Doch gerade dadurch ist er auch »frei zu« einer zweckfreien Hinwendung zum Einzelschönen, das ihm das Schöne, wenn auch unvollkommen, widerspiegelt. Er wird nicht mehr wie früher ein Spiegelbild (eUdykom) für die Sache selbst halten und darum auch nicht von einem schönen und geliebten Menschen oder einer Gemeinschaft, einem politischen Sozialwesen oder Kunst 440 Zur Verwirklichung der »wahren Tugend« als Ziel des Aufstiegs und der erstrebten Unsterblichkeit vgl. Chvatk, Himmlische Liebe, wenn ich dein vergäße…, 240 – 243, und Havlicˇek, Die Unsterblichkeit begehren, 252 f. 441 Schäfer, Manische Distanzierung, 424. 442 Siehe ebd., 422. 443 Deswegen rechnet Pausanias als rationaler Realist selbstverständlich mit der Enttäuschung in der Liebe und plant sie in seiner Rechtfertigung der Päderastie schon argumentativ ein. (Smp. 185a f.)
Symposion: Philosophie ist die Liebe zum Schönsten
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oder Wissenschaft erwarten, was sie nicht geben können: die Begegnung mit der Schönheit im umfassenden und unveränderlichen Sinn und die Befriedigung an der dem Göttlichen vorbehaltenen Vollkommenheit. Das Bewusstsein und die Annahme der Relativität bedeutet gerade die »Befreiung zum« Einzelschönen. Es steht nicht mehr in einer Konkurrenz, in der es nur verlieren und enttäuschen kann, sei es im Vergleich mit anderem Schönen, sei im Verhältnis zum absolut Schönen. Während der Zyniker die Unvollkommenheit geißelt, weil er die Existenz des Vollkommenen leugnet und das Ungenügende doch kritisiert, ist der Philosoph, der dem Schönen selbst begegnet ist, seinem Wesen nach ein Liebender, der das Schöne, so keimhaft und defizitär es auch ist, im Individuellen und Einzelnen zu entdecken und zu fördern vermag. Darauf beruht gerade die maieutische Fähigkeit von Sokrates, (Tht. 148e, 150b – 151d) die er in so vielen Dialogen unter Beweis stellt, nicht zuletzt im Symposion. Denn dieses endet dramaturgisch nicht mit der entrückten Schau des Schönen selbst, in dessen Gegenwart alles Einzelschöne nichtig ist, sondern mit dem in ein freundschaftliches Gespräch vertieften Sokrates. (Smp. 223c) Zu einem gelingenden menschlichen Leben gehört darum nicht nur die Anabasis und die Schau, sondern auch die Katabasis, das liebende Sich-Einlassen auf das individuell Schöne mit seinen Möglichkeiten, aber auch seinen Grenzen.444 Nun schwingt in dem Bedürfnis, als unverwechselbares Individuum geliebt zu werden, zum einen die Angst vor dem Verlust mit, deren Kennzeichen die Eifersucht ist. Im Symposion wird das dramaturgisch repräsentiert in der Figur des eifersüchtigen Alkibiades, (Smp. 213d) der sich seiner Schwächen ebenso bewusst ist wie der Tatsache, dass er durch seine Stärken dennoch nicht in der Lage ist, Sokrates an sich zu fesseln. Zum anderen ist damit auch der Irrtum verbunden, die individuelle Einzigartigkeit sei Voraussetzung für eine dauerhafte Beziehung und menschliche Bindung. Diese Vorstellung ist aber nur eine moderne Variante des aristophanischen Mythos vom Kugelmenschen, der sich, von den Göttern durchgeschnitten, nach seiner unverwechselbaren anderen Hälfte sehnt und in ihr seine verlorene Ganzheit und Vollkommenheit wiederzugewinnen glaubt. (Smp. 192e) Doch wie wir von Diotima gelernt haben, ist nicht die Ganzheit das in der Liebe Erstrebte, sofern es nicht ein Gutes ist. (Smp. 205e) Gleiches gilt für das Individuelle. Die individuelle Einzigartigkeit als solche ist nicht der Grund der Liebe.445 Bei einem nüchternen Blick auf sich selbst gibt es genügend Eigenheiten, die man gern los wäre, weil sie keineswegs »liebenswert« sind. Dauer und Genügen in der Liebe werden nicht durch die 444 Siehe dazu Männlein-Robert, Katabasis und Höhle, 246 – 251. 445 »Die Antike aber hatte durchweg kein positives Verhältnis zum Individuellen.« Das gilt auch für die Ethik und die Frage der Lebensform. »Deswegen ist das Selbst, von dem die antike Philosophie spricht, kein individuelles, [sondern ein Allgemeines.]« (Kobusch, Apologie der Lebensform, 108 f.)
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Unverwechselbarkeit des Individuellen gewährleistet, sondern durch das Zugeständnis der Relativität und Defizienz, der eigenen und der des anderen, und durch das Sich-genügen-Lassen an dem Schönen, wie es sich jeweils zeigt. Das aber kann niemand so gut wie derjenige, der im Licht des Schönen selbst das eigene Ungenügen erkannt und angenommen hat. Angesichts der göttlichen Weisheit weiß Sokrates, dass seine angebliche Weisheit etwas Schlechtes und Unsicheres ist wie ein Traum. (Smp. 175e) Und er wird deswegen auch von einem anderen Menschen nichts anderes erwarten als von sich selbst. Doch macht ihn das nicht weniger liebenswert und liebesfähig. Nun bleibt das Problem, dass man zwar einem Sokrates und einer Diotima diese Liebesfähigkeit zubilligen möchte, nehmen sie doch glaubwürdig in Anspruch, Experten in der Liebe zu sein, dass man aber selbst vermutlich zu den weitaus meisten Menschen gehört, denen die höchste Schau des Schönen nicht zuteil wurde. Was für Folgen hat das für die Fähigkeit zur personalen Liebe? Es könnte beim Lesen des Symposions der Eindruck entstehen, als handelte es sich um ein streng kontrolliertes, pädagogisches Konzept oder auch Selbsterziehungsprogramm, bei dem die Liebe und der Geliebte als Mittel missbraucht würden, um sich Stufe für Stufe zu einer apersonalen Transzendenzerfahrung emporzuarbeiten.446 Das hätte dann geradezu die Unfähigkeit zu freier, unverzweckter zwischenmenschlicher Liebe zur Folge, weil jede Begegnung mit dem Schönen unter dem Gesichtspunkt des Nutzens bewertet würde. Zudem brächte es menschliche Unzuverlässigkeit hervor, weil es immer ein Schöneres gibt, dem man sich zuwenden kann. Aber die Diotimarede macht aus dem Eros keine handhabbare techne.447 Das haben Pausanias und Eryximachos mit ihren Mitteln versucht. Bei Diotima ist der Eros nie in der Verfügung des Menschen, weder beim Mystagogen noch beim Mysten, sondern unter geeigneten äußeren und inneren Bedingungen, auf die der Mensch zwar einen gewissen, aber doch nur begrenzten Einfluss hat, wird der Eros in der Begegnung mit dem Schönen geboren. Der Heranwachsende verliebt sich, weil er für das Schöne empfänglich wird und davon affiziert ist und nicht weil er ein geeignetes Mittel zur Selbstvervollkommnung sucht. Und da es nicht nur ein Schönes auf der Welt gibt und man sich folglich auch ein zweites und drittes Mal verlieben kann, entsteht daraus normalerweise ein nicht geringes moralisches Problem für die Beteiligten. Das Symposion deutet dieses verwirrende, erotische Streben und hilft, es zu verstehen. Das ist eine große Entlastung und Befreiung. Denn dadurch ist der Eros nicht mehr eine vorrationale, mythische Macht, welcher der Mensch auf 446 Siehe Anm. 439. 447 Vgl. hierzu die Kritik am »Selbsterschaffungsparadigma« der modernen, ästhetischen Lebenskunst im Sinne Nietzsches und ihrem Missverständnis der antiken LebensformPhilosophie. (Kobusch, Apologie der Lebensform, 99 – 115)
Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe
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Gedeih und Verderb ausgeliefert ist wie noch bei Phaidros. Indem der Liebende angeleitet wird, den Blick auf die Eigentümlichkeit der Schönheit (j²kkor) zu richten, die ihm in verschiedenen schönen Menschen begegnet, hat er die Chance, dem Kreislauf von Begeisterung und Enttäuschung zu entkommen, der auf horizontaler Ebene sonst unvermeidlich ist. Er kann sich binden, ohne sklavisch gefesselt zu sein. Eine grundlegende Unerfülltheit aber und Bedürftigkeit wird den philosophischen Erotiker, der noch nicht das Schöne selbst geschaut hat, weiterhin begleiten. Nur verliert die Bedürftigkeit immer mehr ihre bedrängende Macht und wird stattdessen im teleologischen Sinn zu einer richtungs- und sinngebenden Kraft. Da sich auf jeder Ebene der gleiche strukturelle Zusammenhang des Schönen wiederholt, bekommt das Leben je länger je mehr in seiner körperlichen, seelischen und geistigen Dimension eine einheitlich erotische Gestalt. Das ist zwar nicht mit der Erfahrung und Schau des eingestaltig Schönen gleichzusetzen, aber es ist doch eine Einheit im Vielfältigen und als solche schön und gut und beglückend. Nicht erst in der Schau des Schönen selbst, sondern bereits im Aufstieg, in der Zwischenwelt des Eros, ist das Leben für den Philosophen lebenswert (biytºm).
3.
Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe
Die Dialoge Phaidros und Symposion ähneln sich nicht nur darin, dass sie eine Reihe von Reden bieten, die miteinander in Wettstreit treten. Hier wie dort wird auch der Eros als Kraft gepriesen, durch die sich der Mensch über die sinnlich wahrnehmbare Welt in das Reich der Ideen erheben kann. Dennoch ist der Phaidros keine Neuauflage des Symposions oder des Lysis, sondern Platon will andere Schwerpunkte setzen als in den beiden früheren erotischen Dialogen. Es geht ihm um die Verbindung der Kunst der Rede mit der Kunst der Liebe. Nicht zufällig ist der Dialog darum zweigeteilt: Auf drei Reden über die Frage, ob ein Knabe eher dem Nichtverliebten als dem Verliebten seine Gunst schenken sollte, folgt eine Metareflexion über die rechte Art zu reden. Beide Hauptteile halten sich ungefähr die Waage. Bereits in der Antike wurden deswegen sehr unterschiedliche Meinungen zum Dialogthema vorgetragen, wobei »Über die Liebe« und »Über die Rhetorik« sich von selbst nahe legen.448 In der jüngeren, kontroversen Diskussion über die »ungeschriebene Lehre« Platons wird außerdem dem zweiten Dialogteil wegen der dort geäußerten Schriftkritik viel Aufmerksamkeit zuteil. Dabei gibt es eine gewisse Neigung, in der Metareflexion über Möglichkeit und Grenzen von Rede und Schrift den Schwerpunkt des Phaidros 448 Siehe dazu Erler, Platon, PhdA 2/2, 215.
270
Der philosophische Eros
zu sehen. Aus dieser Perspektive erhalten die vorangegangenen Reden den Charakter praktischer Beispiele für die nachgelieferte Theorie.449 Die Reden über den Eros sind dann unter formalen und methodischen Gesichtspunkten eine reizvolle Demonstration philosophischer Gesprächsführung. Aber ihr Beitrag zur Klärung des Wesens der Rhetorik und auch der Philosophie hält sich in Grenzen. Sie sind kein notwendiger Teil der Metareflexion und könnten prinzipiell durch andere Beispiele philosophischer Erörterung ersetzt werden. Doch diese Sicht verkennt die inhaltliche Einheit des Phaidros. Zwar ist es in der Tat ein raffinierter Kunstgriff von Platon, dass die Reden des ersten Dialogteils in der Praxis zeigen, was erst im zweiten Teil theoretisch erörtert wird. Aber die Metareflexion über Rhetorik läuft ins Leere, wenn der Seelenmythos des Phaidros sich in einer »faszinierenden Poesie dieser Interpretation von Seele, Liebe, Erkenntnis, Unsterblichkeit« erschöpft, die angeblich »ohne Resonanz im Fortgang des Dialogs« bleibt.450 Das Gegenteil ist der Fall. Der Phaidros will mit den Mitteln von Mythos und Logos zeigen, dass es keine Kunst der Rede gibt ohne eine Kunst der Liebe; und umgekehrt keine Kunst der Liebe ohne die Leitung durch den Logos und die Fähigkeit zu dessen kunstgerechter Anwendung. Diese These soll im Folgenden belegt werden. Dabei zeigt sich, dass beide, die Kunst der Liebe wie die Kunst der Rede, erst in der Philosophie zu ihrer je wesensgemäßen Form finden. Die Philosophie ist deswegen die Klammer, die beide Künste umschließt. Im Phaidros findet sich der Philosophiebegriff vierzehnmal: Die Rede des Rhetors Lysias über den Vorzug von nichtverliebten Liebhabern gegenüber Verliebten in einem pädophilen Verhältnis kommt ohne begriffliche Anleihen bei der Philosophie aus.451 Diese Rede liest der junge Phaidros Sokrates vor, dem »Liebhaber von Reden« (toO t_m kºcym 1qastoO, Phdr. 228c; s.a. %mdqi vikokºc\, Phdr. 236e), weil er sie für unübertrefflich hält. Eine Rede zum gleichen Thema, durch die Sokrates in einen Wettstreit mit Lysias um die Gunst von 449 Siehe Alt, Diesseits und Jenseits in Platons Mythen (Teil II), 19; Heitsch, Platon: Phaidros, 121 f.; Ders., Dialektik und Philosophie in Platons Phaidros, 139 f., 146; Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 34 – 37. 450 Alt, ebd. 451 Ich neige der Auffassung zu, dass es sich bei der Lysias-Rede um eine parodistische Imitation handelt, weil Platon häufig Redestile und Argumente seiner Zeitgenossen imitiert, um anschließend die Schwachstellen einer Kritik zu unterziehen. Da aus einer unter Lysias’ Namen verbreiteten Anklageschrift hervorgeht, dass Lysias die antilogische Disputierkunst, bei der man eine beliebige These ebenso stark machen kann wie ihr Gegenteil, als Philosophieren bezeichnet, (siehe S. 37, Anm. 51) wirft das auch ein klärendes Licht auf die Lysias-Rede im Phaidros. Denn dort verficht Lysias in einem als Musterrede konzipierten Text eine offensichtlich bewusst unplausible Behauptung, um dadurch seine rhetorische Könnerschaft unter Beweis zu stellen. Platon kritisiert denn auch im zweiten Teil des Phaidros eine derartige Auffassung von der Kunst der Rede. Zur Diskussion der Frage der Autorenschaft der Lysias-Rede siehe Heitsch, Platon: Phaidros, 77 – 80.
Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe
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Phaidros tritt, bringt den Philosophiebegriff nur einmal, und zwar im absprechenden Sinn. Neunmal hingegen findet er sich in der so genannten Palinodie, der zweiten Rede von Sokrates, mit der er seine erste widerruft und nunmehr die Gegenthese vertritt, dass der Verliebte dem Nichtliebenden vorzuziehen sei. Damit endet der erste Teil des Phaidros. Der zweite Teil über die Rhetorik wird eingeleitet und abgeschlossen durch je zwei ausdrückliche Verweise auf die Philosophie, die sprachlich und inhaltlich auf den ersten Teil anspielen. Der Philosophiebegriff bindet also die zweite Sokratesrede und die anschließende Metareflexion zusammen.
3.1.
Keine Kunst der Rede ohne Erkenntnis
Eine Schlüsselstelle kommt im Phaidros dem Gebet zu, das Sokrates zum Schluss seiner Widerrufsrede spricht. Ein solches ausformuliertes Gebet ist in den Dialogen eher ungewöhnlich und ein Zeichen, dass hier Wesentliches zur Sprache kommt. Darin bittet Sokrates Eros, den Gott der Liebe, dass ihm die Kunst der Liebe (tµm 1qytijµm … t´wmgm, Phdr. 257a) auch weiterhin zuteil werde. Das Gebet schließt mit einer Art Fürbitte für den Redenschreiber Lysias. Dieser möge sein Leben doch auch der Philosophie widmen statt wie bisher Reden auszuarbeiten, die wegen ihrer Beliebigkeit und Unwahrheit frevelhaft sind. Doch eigentlich zielt die Fürbitte auf den jungen Phaidros. Er ist der heimliche Adressat, an dessen Hinwendung zur Philosophie Sokrates offensichtlich viel gelegen ist: Das, lieber Eros, ist die Palinodie, die wir dir nach Maßgabe unserer Kräfte so schön und gut wie möglich als Entschädigung bieten … So sei denn nachsichtig mit meinen früheren Worten und gnädig mit diesen, wolle in Güte und Geduld mir die Kunst der Liebe, die du mir verliehen, weder nehmen noch schmälern im Zorn, und gib, daß ich mehr noch als jetzt in Ehren stehe bei den Schönen. Haben aber Phaidros und ich in der früheren Rede etwas gesagt, was dir mißfallen, so sieh die Schuld bei Lysias, dem Vater der Rede; bring ihn ab von Reden dieser Art und wende ihn hin zur Philosophie …, damit auch dieser sein Verehrer hier nicht mehr schwankt wie jetzt, sondern ohne Vorbehalt auf die Liebe sein Leben ausrichte in philosophischen Reden. (Avtg soi, § v_ke =qyr, eQr Blet]qam d}malim fti jakk_stg ja· !q_stg d]dota_ te ja· 1jt]tistai pakim\d_a, …, !kk±, t_m pqot]qym te succm~lgm ja· t_mde w\qim 5wym, eqlemµr ja· Vkeyr, tµm 1qytij^m loi t]wmgm Dm 5dyjar l^te !v]k, l^te pgq~s,r di’ aqc^m7 d_dou d’ 5ti l÷kkom C mOm paq± to?r jako?r t_liom eWmai. 9m t` pq|shem d’ eU ti k|c\ soi !pgm³r eUpolem Va?dq|r te ja· 1c~, Kus_am t¹m toO k|cou pat]qa aQti~lemor, paOe t_m toio}tym k|cym, 1p· vikosov_am d] … tq]xom, Vma ja· b 1qastµr fde aqtoO lgj]ti 1palvoteq_f, jah\peq mOm, !kk’ "pk_r pq¹r =qyta let± vikos|vym k|cym t¹m b_om poi/tai. Phdr. 257a f., Üb. nach Heitsch)
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Der philosophische Eros
Dieses Gebet ist gleichsam ein Scharnier, das beide Hauptteile verbindet, die Kunst der Liebe, um die es bisher ging, und die Kunst der philosophischen Rede, zu deren Verständnis sie überleitet. Dabei steht nicht das Redenschreiben als solches in der Kritik. Es ist an sich nichts Hässliches (oqj aQswq¹m aqtº ce t¹ cq²veim kºcour, Phdr. 258d). Vielmehr ist es wie alle Handlungen für sich genommen wertneutral.452 Die Kritik richtet sich vielmehr darauf, dass jemand nicht gut zu reden oder zu schreiben weiß (t¹ lµ jak_r k´ceim te ja· cq²veim, ebd.). Es geht Sokrates ganz generell um den richtigen, angemessenen Gebrauch der Sprache, unabhängig davon, ob es sich um mündliche oder schriftliche Rede handelt. Dafür macht es auch keinen Unterschied, ob die Reden vorher ausgearbeitet wurden wie im Fall von Lysias oder aus dem Stegreif gehalten werden wie seine beiden Reden, deren erste er als schlecht und frevelhaft verwirft (!seb/, Phdr. 242 d), während er die zweite dem Gott Eros weiht. Was also ist die rechte Art (b tqºpor, Phdr. 258d), gut zu reden und zu schreiben? Es ist die verständige, kunstgerechte Art der Rede. Diese Kunst der Rede (tµm t¾m kºcym t´wmgm, Phdr. 260d) darf ebenso wenig verlästert werden wie die Kunst der Liebe. Sie wird aber dann verlästert, wenn der Redner meint, es sei nicht nötig zu wissen, wie etwas wirklich und in Wahrheit ist (t!kgh³r §m), ob es wahrhaft gerecht ist (t± t` emti d¸jaia), was er behauptet, und wirklich gut oder schön (t± emtyr !cah± ja· jak²). Vielmehr reiche es hin, wenn es nur so zu sein scheint (dºnei), weil die Überredung und Überzeugung (t¹ pe¸heim) der Zuhörer nur eine Frage der Meinung sei und nicht des Wissens. Die Erzeugung des Scheins sei wichtiger als der Nachweis der Wahrheit (oqj 1j t/r !kghe¸ar). (Phdr. 259 e f.) Sokrates’ Kritik gilt dieser Zentralthese der sophistischen Rhetorik.453 Für ihn ist deswegen das erste Kriterium einer Kunst der Rede die Kenntnis der Wahrheit der Dinge, über die man redet: dass man weiß, wie es sich mit ihnen in Wirklichkeit verhält. »Echte Redekunst … ohne Erfassung der Wahrheit, gibt es nicht und wird es niemals geben.« (Phdr. 260e, Üb. Heitsch) Das Bemühen um die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge ist aber die vornehmliche Aufgabe der Philosophie. Philosophische Rede steht für Sokrates immer unter der Maßgabe der Wahrheit.454 Damit stellt er sich gegen Vertreter zeitgenössischer Rhetorik wie Gorgias und Protagoras, die Opponenten in früheren Dialogen, oder Lysias, Isokrates und Alkidamas, die im Phaidros kri452 Siehe S. 72, 78, 227. 453 Siehe zum Sophistes S. 338 ff., zum Sophisten Gorgias S. 35 f. Darum fordert Sokrates zum Schluss des Phaidros Isokrates auch auf, er möge sich der Philosophie zuwenden, und das heißt, dem Bemühen um die Erkenntnis der ontologischen Wahrheit der Dinge, über die er spricht. (Phdr. 279a f.) 454 Siehe das Kapitel »Die Wahrheit und sich selbst prüfen«, S. 64 ff. Zum Verhältnis von episteme und doxa siehe auch die Diskussion bei Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, 183 – 222.
Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe
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tisch betrachtet werden.455 Sie alle meinen zwar, dass ihre rhetorische Technik eine Form der Philosophie sei. Aber die Wahrheitsfrage halten sie mindestens für sekundär, (Phdr. 260d) wenn nicht gar für entbehrlich oder hinderlich. Sokrates und nun auch Phaidros räumen ihr dagegen den ersten Platz ein. Zu Philosophieren meint für sie, zuallererst danach zu fragen, wie es sich mit dem Gegenstand der Rede wirklich und in Wahrheit verhält, also die ontologische Wahrheitsfrage zu stellen. Erst dann ist man auch in der Lage, gut zu reden. Kommt also herbei, ihr edlen Geschöpfe, und überzeugt Phaidros, den Vater schöner Kinder [d.i. schöner Reden]456, dass, wenn er nicht tüchtig philosophiert, er auch niemals tüchtig über irgendetwas reden wird. (P\qite d^, hq]llata cemma?a, jakk_paid\ te Va?dqom pe_hete ¢r, 1±m lµ Rjam_r vikosov^s,, oqd³ Rjam|r pote k]ceim 5stai peq· oqdem|r. Phdr. 261a, Üb. B.S.)
Ob jemand die Wahrheit über den Gegenstand seiner Rede kennt, zeigt sich aber daran, ob er in der Lage ist, ihn zu bestimmen: zum einen, indem er das Zerstreute seiner vielfältigen Erscheinungen durch Zusammenschau zusammenbringt und unter einen einheitlichen Begriff zusammenführen kann (eQr l¸am te Qd´am sumoq_mta %ceim t± pokkaw0 diespaql´ma, Phdr. 265d); und zum anderen, indem er gemäß der natürlichen Gestalt einer Sache wiederum ihre verschiedenen Glieder und Teile zu unterscheiden und einzuteilen vermag (t¹ p²kim jat’ eUdg d¼mashai diat´lmeim, Phdr. 265e). Sokrates ist ein großer Freund dieser Kunst der Einteilungen und Zusammenfassungen (1qastµr …t_m diaiq´seym ja· sumacac_m), weil sie notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass die Menschen überhaupt reden und denken können (k´ceim te ja· vqome?m). (Phdr. 266b) Es geht ihm also um nicht weniger als um die menschliche Sprachund Denkfähigkeit, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Bereits in seiner Palinodie hat er dieses Wesensmerkmal des Menschen herausgehoben. (Phdr. 249b f.) Wer nicht willkürliche Benennungen und Unterscheidungen vornimmt, sondern sich an den Gegebenheiten der Gegenstände seines Denkens und Redens und ihrer ontologischen Wahrheit orientiert, den nennt Sokrates einen Dialektiker. (Phdr. 266b) Die Fähigkeit zur sachgerechten Anwendung der 455 Lysias und Isokrates werden im Phaidros ausdrücklich genannt, Alkidamas steht als Verfechter von Stegreifreden (aqtoswedi²fym, Phdr. 236d) durch die Auseinandersetzung mit Isokrates um die Schriftlichkeit oder Mündlichkeit von Reden ungenannt im Hintergrund, siehe dazu S. 37. 456 Als »Vater der Rede« wurde Phaidros schon im Symposion bezeichnet, weil er dort die Lobreden auf Eros anregte. (Smp. 177d) Er hat also offensichtlich ein ausgeprägtes Interesse an der Rhetorik, was auch in der Einleitungsszene des Phaidros deutlich wurde. Augenscheinlich fallen aber Interesse und Fähigkeit auseinander, wenn man wie Sokrates den Maßstab philosophischer Reden anlegt. Szlezk charakterisiert ihn deswegen zutreffend als »autoritäts- und bildungsgläubigen« »Typ des Literaten«, der von der Buchbildung weg zu eigenständigem Denken geführt werden soll. (Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 24, 26)
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dialektischen Methode ist folglich die zweite Bedingung kunstgerechter, philosophischer Rede. Aber auch das ist noch nicht hinreichend. Denn das Wesen der Rede (t/r toO kºcou v¼seyr)457 kann nur begreifen, wer das Wesen der Seele (xuw/r v¼sim) versteht. (Phdr. 270c) Das ist die dritte Voraussetzung für die Kunst der Rede. (Phdr. 270e) Denn die Kraft der Rede besteht in der Seelenleitung (xuwacyc¸a).458 (Phdr. 271c) Wer kunstgerecht reden will, muss darum wissen, was die Rede bewirkt (poie?m), und was die Seele dabei erfährt und erleidet (pahe?m). (Phdr. 271a) Denn Rede und Seele sind komplementär in ihrer aktiven und passiven Fähigkeit (d¼malir). Weiterhin muss man wissen, ob die Seele ein einheitliches Wesen hat oder wie der Körper vielgestaltig ist (pokueid´r, ebd.). Im letzteren Fall gehört dann notwendig auch die Kenntnis dazu, welcher Teil der Seele und damit auch welcher menschliche Charakter durch welche Art von Reden überzeugt werden kann.459 (Phdr. 271b) Man muss also nicht nur die 457 Ich lese in Phdr. 270c 2 mit G. Müller t/r toO kºcou v¼seyr statt t/r toO fkou v¼seyr. Müller hat überzeugend dargelegt, dass kºcou die sinnvollere Variante bietet, die sich stringent in den Kontext einfügt, während fkou nicht nur isoliert steht, sondern auch unklar ist, ob das Universum oder das Ganze der Seele oder des Begriffs gemeint sein soll. Auch v¼sir stellt keine Stütze für toO fkou dar, denn der Ausdruck meint hier nicht die Naturphilosophie, sondern das Wesen als metaphysisches Merkmal. Müller übersetzt dementsprechend: »Die Wesensart der Seele also in nennenswertem Sinne zu verstehen, hältst du das für möglich ohne die Wesensart der Rede?« (G. Müller, Eine verkannte Lesart in Platons Phaidros, 243, 246) 458 Die Seelenleitung war sachlich schon Gegenstand im Symposion (Aufstieg zum Schönen selbst unter der Leitung eines philosophischen Mystagogen) und im Höhlengleichnis der Politeia (Befreiung aus der Höhle und Aufstieg an das Licht der Sonne unter der notfalls gewaltsamen Leitung eines Führers). Heitsch weist darauf hin, dass der Begriff xuwacyc¸a hier von Platon erstmals auf lebende Seelen bezogen wird, während xuwacyce?m, xuwacycºr ursprünglich die Beschwörung der Toten bzw. ihrer Seelen meint. (Heitsch, Platon: Phaidros, 130) Diese Umkehrung von Wertungen und Konnotationen als bewusste Infragestellung von Denkgewohnheiten ist bei Platon häufig zu beobachten. Die Verkehrung des Bezugs toter Seelen zu lebenden durch die Seelenleitung erinnert an die Umwertung von Leben und Tod in der soma-sema-Formel in Grg. 493a, siehe S. 150. 459 G. Müller bezieht die dihairetische Differenzierung der eUdg der Seele (Phdr. 271d) allerdings nicht auf die Seelenteile, sondern sieht in Analogie zu verschiedenen »Typen der [körperlichen] Konstitution«, die der Arzt unterscheidet, verschiedene »Typen der Seelenverfassung« angesprochen, die es »unabhängig von der Trichotomie aus welcher Ursache immer« geben kann. (G. Müller, Eine verkannte Lesart in Platons Phaidros, 244) Die verschiedenen menschlichen Charaktere und die unterschiedlichen bioi sind allerdings schwerlich unabhängig von den Seelenteilen und deren jeweiliger Dominanz zu denken, wie schon die Liste der verschiedenen Inkarnationen zeigt. (Phdr. 248d f.) Dass es anderer Reden bedarf, um die Vernunft anzusprechen, den leitenden Seelenteil, als den unvernünftig begehrenden oder den muthaften Seelenteil, liegt auf der Hand. Wenn Sokrates im Gespräch mit Phaidros verschiedene Arten der Rede einsetzt, vernünftige Argumentationen ebenso wie den inspirierenden Mythos, zeigt das, dass bei ein und derselben Charakterveranlagung alle Teile der Seele überzeugt werden müssen, besonders wenn der Mensch noch ungefestigt ist und schwankend wie Phaidros.
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Redegattungen in ihren verschiedenen Wirkungen unterscheiden können, sondern auch über grundlegende Einsichten in psychische Zusammenhänge verfügen und Menschenkenntnis besitzen, um seine Rede zur rechten Zeit richtig anbringen zu können. Dieser Zusammenhang von Rede und Seele wird in der so genannten Schriftkritik reflektiert und dem Adressatenbezug besonders Rechnung getragen. (Phdr. 274b – 277a) Erst mit dieser komplexen, dritten Forderung sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Kunst der Rede schön und vollkommen beherrscht wird, vorher jedoch nicht (jak_r te ja· tek´yr 1st·m B t´wmg !peqcasl´mg7 pqºteqom d’ ou, Phdr. 272a).460 Wenn jemand ein vollkommener Redner sein will, sind neben einer natürlichen Veranlagung darum vor allem Wissen (1pist¶lg) über den Gegenstand der Rede, die verschiedenen Redeformen und über die Seele notwendig sowie schließlich sorgfältige Übung (lek´tg). (Phdr. 269d) Am Schluss des Phaidros spricht Sokrates wiederum ein Gebet, diesmal in Form einer protreptischen Werbung um Lysias, den Phaidros bewundert, und um Isokrates, den Phaidros für einen Freund von Sokrates hält. Beide Redner mögen sich doch dieser Auffassung der Kunst der Rede anschließen. Über Isokrates, der zum dramaturgischen Zeitpunkt noch jung war, sagt Sokrates, dass er mehr noch als Lysias große Begabung habe. Als gereifter Mann werde er sicherlich seine Konkurrenten weit hinter sich lassen. Vielleicht führe ihn aber auch ein göttlicheres Verlangen zu etwas Größerem (1p· le¸fy d´ tir aqt¹m %coi bqlµ heiot´qa, Phdr. 279a). Dieser göttlichere Drang ist die Philosophie, das Streben nach Wissen und Erkenntnis, die größer sind als Meinung und Schein in der gemeinen Rhetorik. Denn schon durch seine natürliche Veranlagung, mein Lieber, steckt etwas Philosophisches im Denken des Mannes. (v}sei c\q, § v_ke, 5mest_ tir vikosov_a t0 toO !mdq¹r diamo_ô. Phdr. 279a f., Üb. B.S.)
Es ist ein dramaturgisch geschicktes, aber dennoch zweifelhaftes Lob des Isokrates, weil sich die vermeintliche Hoffnung auf eine philosophische Entwicklung des Rhetors aus der Perspektive des alten Platon, der diesen Dialog schreibt, nicht erfüllt hat. Darum dürfen wir hier eine Replik von Platon auf die Überheblichkeit von Isokrates sehen. Dieser hatte sich in seiner Sophistenrede kritisch über Leute ausgelassen, die die Erkenntnis der Wahrheit zum Kriterium der Philosophie machen, womit er vor allen Dingen die Sokratiker meinte. Darum liegt es erstens nahe, das angebliche Lob aus dem Mund von Sokrates als indirekte Kritik an Isokrates zu verstehen, der trotz seiner Begabung hinter seinen Möglichkeiten und seinem eigenen Anspruch auf die Philosophie zurückblieb. Denn für die philosophische Kunst der Rede reicht eine natürliche Begabung 460 Vgl. auch die Zusammenfassung in Phdr. 277b f.
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ebenso wenig hin wie die praktische Übung, wenn die grundlegende Bedeutung der Erkenntnis, der episteme, verkannt wird. Darüber herrschte zwischen Isokrates und den Sokratikern, und insbesondere Platon, grundsätzlicher Dissens.461 Das ironische Lob aus dem Mund von Sokrates sagt darum eigentlich: Täusche dich nicht. Ohne Erkenntnis gibt es keine Kunst der Rede und auch keine Philosophie! Wer sich nicht um Erkenntnis bemüht, kann seine philosophische Begabung nicht entfalten. Hierauf beruht der Unterschied zwischen dem gemeinen Redner und Rhetoriklehrer, wie Isokrates trotz seiner philosophischen Veranlagung einer geblieben ist, und dem Philosophen, wie Phaidros hoffentlich einer werden will. Darum ist bei diesem Gebet wieder Phaidros der heimliche Adressat, den Sokrates für die Philosophie gewinnen möchte. Der göttlichere Drang zu Größerem, den Sokrates hier im Gebet erbittet, (Phdr. 279a) meint darum die Philosophie, die über die gemeine Rhetorik hinausgeht. Dafür werden im Prinzip die gleichen Kriterien genannt wie schon für die Kunst der Rede: Man muss wissen, wie es sich mit der zur Diskussion stehenden Sache in Wahrheit verhält (t¹ !kgh³r 5wei, Phdr. 278c). Dies geschieht im Streben nach Erkenntnis des wahren Seins der Dinge. Dem korrespondiert die dialektische Kunst, weil sie die sachgemäße Anwendung dieser Erkenntnis ist, damit man nicht falsche Einteilungen und Benennungen vornimmt.462 So461 Zur Polemik von Isokrates s. S. 38 f. Szlezk übersieht die Ironie der Aussage über Isokrates am Schluss des Dialogs und billigt dem Werk von Isokrates unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu, auf »Größeres« zu verweisen als Lysias. (Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 29) Diese Einschätzung übergeht den inhaltlich gravierenden Dissens zwischen Isokrates und Platon über die Bedeutung der episteme, die auch nach Szlezk für das »Größere« der sokratisch/platonischen Philosophie steht. Heitsch dagegen versteht das zweifelhafte Lob von Isokrates als indirekte Kritik. (Heitsch, tili¾teqa, 285 f.) Zum Verhältnis von Sokrates-Isokrates-Platon siehe ansonsten auch Heitsch, Platon: Phaidros, 219 – 225, 257 – 262. 462 Zum Zusammenhang von diakejtijµ t´wmg und 1pist¶lg siehe auch Phdr. 276e. Heitsch versteht unter diakejtijµ t´wmg dort allerdings nicht die dialektische, sondern die dialogische Kunst, da es sich in dem Kontext um spezifische Unterschiede handele, durch die sich die Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit auszeichne. Und das sei nicht die Dialektik, weil »Wissen zu haben, hinlänglich Bescheid zu wissen« »Grundvoraussetzung für jeden angemessen Umgang mit der Sprache« ist. »Der fragliche Ausdruck [diakejtijµ t´wmg] meint also nicht die platonische ›Dialektik‹, sondern die rhetorische Kompetenz, wie Sokrates sie in 269d – 274b entwickelt hatte.« (Heitsch, Dialektik und Philosophie in Platons Phaidros, 132) Ich halte das weder mit Blick auf die Skizze der Dialektik in Phdr. 265d – 266c für überzeugend noch mit Blick auf die häufige Forderung nach Kenntnis der ontologischen Wahrheit der Dinge, wie diese sich in Wirklichkeit verhalten (t¹ !kgh³r 5wei, Phdr. 278c, vgl. 247c, d, 248b, c, 259e u. ö.). Damit ist das Seiende im Sinn der Ideen gemeint (t± emta, Phdr. 247e, 248a, b, 249e u. ö.) als Voraussetzung jeglicher sachgemäßer Einteilungen und Benennungen. Das ist Gegenstand der Dialektik als dihairetischem Verfahren. Dagegen stehen willkürliche Unterscheidungen, die auf Unkenntnis (t¹ %vqom, Phdr. 265e) beruhen, aber gemeinhin die Regel sind. Die Forderung, die Wahrheit über die Dinge zu kennen und vermitteln zu können, insbesondere wenn es um die Erkenntnis des Gerechten, Schönen
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dann darf man nicht auf das fixiert sein, was man ausgearbeitet und schriftlich verfasst hat. Vielmehr muss man bei Missverständnissen dem Schriftstück, das sich nicht selbst erläutern kann, zu Hilfe zu eilen, indem man es einer Prüfung unterzieht (boghe?m eQr 5kecwom Q½m peq· ¨m 5cqaxem, ebd.). Damit ist nicht nur der widerlegende elenchos gemeint, sondern vor allem die Fähigkeit, das Gemeinte mit Blick auf den jeweiligen Adressaten angemessen zu erörtern und darzulegen. Es geht also um die Entsprechung von Rede und Seele, die zwangsläufig durch die schriftliche Fixierung sehr eingeschränkt ist, während der mündliche Dialog flexibler, adressatenbezogener und darum sachgemäßer ist. In dieser Weise ist er wertvoller (tili¾teqa, Phdr. 278d) als das, was ein Rhetor oder Schriftsteller durch noch so sorgfältige Ausarbeitung seines Textes sagen kann.463 Ein Schriftstück muss immer erst zu einem lebendigen Diskurs werden, sei es mit einem Gegenüber, sei es in einem selbst.464 Wer nun nichts Besseres vorzuweisen hat als das, was er in den Rhetorikschulen lernt, nämlich die verschiedenen Redegattungen zu beherrschen und nach Vorgabe der Musterstücke ein Schriftstück zu erstellen, indem er hier etwas anfügt, dort etwas ausstreicht, der ist und bleibt ein Schreibstubenmensch.465 Ihm ermangelt der freie Umgang mit dem Logos. Dafür ist wie bereits gezeigt die eingehende Kenntnis der Seele notwendig, damit sie durch die Rede auch angesprochen und einsichtig wird. Denn die Kenntnis der Seele ist das Komplement zur Kenntnis der Rede. Wer sich nun mit Ernst um diese Dinge bemüht, gehört nicht wie die Dichter, Redenschreiber oder Gesetzesverfasser zur Gattung der Schriftsteller, sondern zu den Philosophen, weil er durch einen göttlichen Drang, das ist sein Streben nach Weisheit und Erkenntnis, den Göttern nahe steht. und Guten geht, findet sich nun auch im Kontext der diakejtijµ t´wmg. Dort heißt es, dass die Schrift das Wahre nicht hinreichend lehren kann (!dum²tym d³ Rjam_r t!kgh³r did²nai, Phdr. 276c). Aber die Mündlichkeit allein ist auch kein Garant, sondern nur die Kenntnis der Ideen durch die dialektische Kunst ist Voraussetzung jeglichen richtigen Denkens und Sprechens und also auch Voraussetzung einer dialogischen Kunst. Dafür muss man das Wahre eines jeden Dinges kennen, über das man redet oder schreibt (tº te !kgh³r 2j²stym … peq· ¨m k´cei C cq²vei, Phdr. 277b). Heitsch unterscheidet hier unnötig zwei verschiedene Bedeutungen von diakejtijºr, deren Einheit gerade die dialogisch-dialektische Kunst ausmacht. Zum Bezug der diakejtijµ t´wmg auf die Kenntnis des Wahren und also der Ideen vgl. auch Ferber, Warum hat Platon die »ungeschriebene Lehre« nicht geschrieben?, 32 ff.; und Benz, Hat Platon die Philosophie als eine im sokratischen Dialog verwirklichte Rhetorik und Kommunikationstheorie verstanden?, 188 f. 463 Zur kontroversen und teilweise sehr polemisch geführten Diskussion über die Bedeutung von tili¾teqa siehe stellvertretend Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 19 – 23, und Ders., Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge?, 259 – 267; Ferber, Warum hat Platon die »ungeschriebene Lehre« nicht geschrieben?, 35 – 38; dagegen Heitsch, tili¾teqa, 278 – 287. 464 Zum Denken als einem Selbstgespräch der Seele mit sich selbst siehe auch S. 92, 335, 355. 465 Zur sokratischen Polemik gegen die »zusammengekitteten Reden« siehe auch Mx. 236b und S. 50 f.
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Der philosophische Eros
»Welche Bezeichnungen also hast du für ihn?« – »›Weise‹, Phaidros, scheint mir als Bezeichnung zu groß zu sein und allein Gott zuzukommen. Doch ›Liebhaber der Weisheit‹ oder etwa dergleichen dürfte eher für ihn passen und auch angemessener klingen.« (VAI. T_mar owm t±r 1pymul_ar aqt` m]leir ; SY. T¹ l³m sov|m, § Va?dqe, jake?m 5loice l]ca eWmai doje?, ja· he` l|m\ pq]peim. t¹ d³ C vik|sovom C toioOt|m ti l÷kk|m te #m aqt` ja· "ql|ttoi ja· 1llekest]qyr 5woi. Phdr. 278d, Üb. Heitsch)
Der Philosoph ist also derjenige, der die Kunst der Rede beherrscht und sich dadurch vom gemeinen Rhetoriker unterscheidet. Dabei ist für den spezifisch philosophischen Umgang mit der Sprache das Streben nach Erkenntnis in dreifacher Hinsicht ausschlaggebend: im Streben nach Kenntnis der Wahrheit der Sache, des geeigneten Logos und schließlich auch der Seele.
3.2.
Keine Erkenntnis ohne Liebe
Wenn es nun keine Kunst der Rede gibt ohne Erkenntnis, was befähigt den Menschen dann zur Erkenntnis, und wieso gibt es Unterschiede der Begabung, aber auch des Strebens nach Erkenntnis? Diese Fragen, die sich am Ende des Phaidros auftun, beantworten sich durch einen Blick zurück auf den ersten Teil des Dialogs und besonders auf die zweite Rede des Sokrates. Dort entfaltet er in einem faszinierenden Mythos anschaulich das Wesen der menschlichen Seele. 3.2.1. Die Erhebung der Seele an den überhimmlischen Ort der Ideen Nachdem er die unsterbliche Natur der Seele aus ihrer Fähigkeit zur Eigenbewegung hergeleitet und damit ihr dynamisches Wesen begründet hat, (Phdr. 245b – 246a) führt Sokrates das Bild des Seelenwagens ein. (Phdr. 246a-e) Götter wie Menschen besitzen eine vielgliedrige Seele, eine Einheit aus drei Teilen, die einem Wagengespann vergleichbar ist. Dieses besteht aus zwei Pferden, welche die bewegende Kraft der Seele versinnbildlichen, und dem vernünftigen Wagenlenker, dem nous, dessen Aufgabe es ist, dem Gespann die Richtung vorzugeben.466 Das Gespann ist von Natur aus befiedert und verfügt deswegen über 466 Die göttlichen und menschlichen Seelen haben grundsätzlich die gleiche dreiteilige Struktur, wie die Metapher vom Seelenwagen zeigt. Allerdings sind bei den Göttern die Strebe- und Zugkräfte der Pferde gleichgerichtet und wirken der Leitung des Führers nicht entgegen, sondern im Einklang mit ihm. Die der Menschen aber sind heterogen. Vom Führer wird gesagt, dass er mit dem nous identisch ist. (Phdr. 247c) In Anlehnung an die Dreiteilung der Seele in Politeia IV (R. 439d f.) liegt es deswegen nahe, nicht nur den Führer mit dem kocistijºm, dem vernünftigen Selenteil, zu identifizieren, sondern auch die Pferde jeweils mit dem huloeid´r und 1pihulgtijºm, den mutigen und begehrenden Seelenkräften. (Siehe auch Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, 42 ff.; Reinhardt, Platons Mythen, 260) Der Logos wäre dann der Zügel der Vernunft zur Leitung der Pferde.
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die Fähigkeit (d¼malir, Phdr. 246d), die Schwere zu überwinden. Dadurch zieht es den Seelenwagen nicht nur nach vorn, sondern auch nach oben in den Bereich, in dem die Götter zu Hause sind. Die Pferde der göttlichen Seelenwagen und ihre Führer sind nun alle guter Art (!caho¸). Das Gespann der Menschen hingegen ist gemischt (l´lijtai), dergestalt dass ein Pferd edel und gut ist (jakºr te ja· !cahºr), das andere aber dem entgegengesetzt (1mamt¸or). (Phdr. 246b) Während die Kraft der göttlichen Gespanne im Gleichgewicht ist und sie deswegen leicht zu lenken sind, gelingt das bei den menschlichen Seelengespannen nur mit Mühe. (Phdr. 246b, 247b) Der Grund liegt in der unterschiedlichen Beschaffenheit der Pferde, deren Kräfte nie zu völliger Übereinstimmung und ins Gleichmaß kommen. Bei den Zugkräften der menschlichen Seele gibt es also eine naturgegebene Differenz. Während die göttlichen Seelenwagen angeführt von Zeus den Himmel in einem wohlgeordneten Zug sternengleich durchziehen, (Phdr. 246e) kommen die menschlichen Seelenwagen, die je einem der Götter folgen, schnell miteinander ins Gedränge, weil ihre gemischten Gespanne aufgrund der Ungleichheit der Zugkräfte schwerer zu lenken sind. Dabei verletzen sie sich und ihr Gefieder wird beschädigt, so dass sie nicht weiter am himmlischen Zug der Götter teilhaben können und abstürzen.467 (Phdr. 247b, 248b) Trifft die entfiederte Seele nun bei ihrem Sturz auf einen irdenen Körper, bleibt sie an ihm haften und wird durch die Verbindung von Seele und Leib zu einem sterblichen Lebewesen (f`om hmgtºm).468 (Phdr. 246c) Zu vorplatonischen Bildern des Seelenwagens, durch den der Mensch Raum und Zeit überwinden kann, insbesondere bei Parmenides und Homer, siehe Heitsch, Platon: Phaidros, 98 – 100. 467 Vieles in diesem Mythos antizipiert schon die Weltseele im Timaios: die olympischen Götter, die wie die Gestirne auf einer ekliptischen Bahn den Himmel durchziehen, die menschlichen Seelen, die ihnen zugeordnet sind, und die in sich differenzierte Einheit der Einzelseele. Während im Timaios ausdrücklich gesagt wird, dass der Demiurg die menschlichen Seelen um der Vollkommenheit des Kosmos willen erschafft, obwohl sie durch die Inkorporation in einem sterblichen Körper notwendig den Abstieg aus der himmlischen, göttlichen Welt erleiden, (Ti. 41b, siehe dazu S. 169 f., Anm. 286) wird im Phaidros nur das Faktum des Seelensturzes festgestellt. Dennoch ist hier wie dort die Polarität, das Göttliche und sein Gegenteil (1mamt¸om), dessen Ursache. Während die Seelen der Götter durch und durch gut sind, ist der eine Teil der menschlichen Seele gut und der andere ihm entgegengesetzt und also schlecht. (Phdr. 247b) Das ist zuallererst eine logischanalytische Aussage und hat erst in Folge ethische Implikationen. Der Gleichheit und Reinheit der göttlichen Seelenrosse auf der einen Seite entspricht die Mischung der menschlichen auf der anderen. Erst aus der polaren Spannung lässt sich der Sturz der Seele und späterhin die Vielfalt der Lebewesen erklären. Vgl. auch Reinhardt, Platons Mythen, 257, 259. 468 Göttliche wie menschliche Seelen gehören gleicherweise der vielgestaltigen, veränderlichen Welt an. Doch während ein Gott ein unsterbliches Lebewesen ist (!h²matom f`om, Phdr. 246c f.), dessen Seele und Leib eine ewige, unvergängliche Einheit bilden, sind
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Ob die Seelengespanne den Himmelszügen folgen können, hängt also entscheidend vom Zustand des Gefieders ab, das durch das göttlich Schöne, Weise und Gute und alles, was derart ist (t¹ d³ he?om jakºm, sovºm, !cah¹m ja· p÷m f ti toioOtom), genährt wird und wächst und dadurch die Kraft erhält, die Schwere zu überwinden. (Phdr. 246d f.) Die Schau dieser göttlichen Ideen wird nur dem Führer des Seelengespannes, der Vernunft, zuteil, wenn die menschlichen Seelenwagen im Gefolge der Götter bis zum äußersten Rand des Himmels an den überhimmlischen Ort (tºm rpeqouq²miom tºpom, Phdr. 247c) aufsteigen. Nur durch Absprechung alles Sinnlichen kann diese Sphäre als das farblose, gestaltlose, unberührbare wirklich seiende Wesen (B c±q !wq¾latºr te ja· !swgl²tistor ja· !mavµr oqs¸a emtyr owsa, ebd.) umschrieben werden. Schaut die Seele nun Ideen wie die Gerechtigkeit selbst, die Besonnenheit und das Wissen (jahoqø l³m aqtµm dijaios¼mgm, jahoqø d³ syvqos¼mgm, jahoqø d³ 1pist¶lgm, Phdr. 247d),469 so freut sie sich an diesem überhimmlischen Seienden, nährt sich davon und lässt es sich bei der Betrachtung des Wahren wohl ergehen (!capø te ja· heyqoOsa t!kgh/ tq´vetai ja· eqpahe?, ebd.). Der Mythos vom Seelenwagen ist eine einzige, großartige Metapher für die erhebende Kraft der Kontemplation der rein geistigen Ideen durch den nous. Dabei steht der überhimmlische Ort für die Transzendenz der Ideen, die noch über die dem Kosmos zugehörige Götterwelt hinausragen. In eindrücklichen Bildern wird die Erhebung der Seele zur Welt der Ideen beschrieben, die den Sinnen unzugänglich ist und deswegen auch in Begriffen der Sinnenwelt nicht erfasst werden kann. Nur in einem äußersten Aufschwung der Vernunft kann sie wahrgenommen werden, weil es eine rein geistige Welt ist. Die Ideen der Tugenden und der werthaften Normen sind die Gegenstände dieser Gattung der wahren Erkenntnis (t¹ t/r !kghoOr 1pist¶lgr c´mor, Phdr. 247c f.). Denn sie bezieht sich nicht wie eine Einzelwissenschaft auf die Welt des Werdenden und Veränderlichen, sondern gilt dem Bereich des wirklich Seienden.470 (Phdr. 247e) Diese Ideenerkenntnis ist bei Göttern vollkommen, bei den menschlichen Seelen jedoch eingeschränkt und abhängig von der Lenkbarkeit der Seelenkräfte. Sie sterbliche Lebewesen nur eine Einheit auf Zeit. Vgl. dazu die parallele Konzeption im Timaios, Ti. 38c f., 41a f., siehe a. S. 169. 469 Mit der »Gerechtigkeit selbst« etc. sind Tugendideen gemeint, so wie oben mit dem göttlich Schönen, Weisen und dergleichen die werthaften normativen Ideen. Anstelle der üblichen sophia steht synonym die episteme. 470 Die lokative Umschreibung 1m t` f 1stim cm emtyr läßt an das mogt¹m f`om in Ti. 31a denken, in dem die Ideen sind, auf die der Demiurg bei der Erschaffung der Welt hinschaut. Das Geschlecht der wahren Wissenschaft ist die Dialektik beziehungsweise die Philosophie als die Wissenschaft vom wahren Seienden. (Vgl. R. 531d – 534e) Die anderen Wissenschaften, so folgt daraus, beschäftigen sich mit dem sichtbaren Kosmos und den ihn beherrschenden Gesetzen. Dazu gehören alle Einzelwissenschaften, also die propädeutischen Wissenschaften im Sinn von R. 525b – 531c, die nur Mitarbeiterinnen der Dialektik sind. (R. 533a) Siehe auch Phlb. 55c – 59b.
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wird ihnen nicht durch diskursive Reflexion, sondern durch einfache Schau zuteil. Darum findet sich in diesem Zusammenhang auch nicht die Bezeichnung Philosophie, weil es ein vorgeburtliches, gegenwärtiges Wissen vom wirklich Seienden ist.471 Gleichwohl sind alle Seelen, auch die der Götter, auf die Ideenschau angewiesen, wie die Metapher vom Ernähren und Wachsen des Gefieders zeigt. Die Seele als ein Zwischenwesen zwischen der rein geistigen und der körperlichen Welt bedarf der Erkenntnis der Ideen, um die ihr eigene Fähigkeit zur Bewegung aufrechtzuerhalten und glücklich zu sein. (Phdr. 247a, 250b, c) Ist diese Erkenntnis jedoch eingeschränkt, weil einander widerstrebende Kräfte in der Seele wirken, kommt sie aus dem Gleichgewicht und stürzt ab, wie es das Schicksal der menschlichen Seelen zeigt. Der Mythos beschreibt aber nicht nur die rein geistige Schau der transzendenten Ideen, sondern auch den Absturz der menschlichen Seele in die veränderliche Sinnenwelt sowie die Bedingungen ihres Wiederaufstiegs durch die Kraft der Liebe, die eine Form der Erinnerung an die göttliche Welt ist. Doch zunächst scheint das Schicksal der Seele die ewige Verbannung aus der göttlichen Welt zu sein. Denn statt der wahren Erkenntnis des wirklichen Seins ist sie nunmehr bestimmt von Vergessen und Trägheit (k¶hgr te ja· jaj¸ar, Phdr. 248c).472 Doch auch nach der Inkarnation in einem sterblichen Leib hat die himmlische Welt noch entscheidenden Einfluss auf das weitere Schicksal der menschlichen Seele. Je nach Maßgabe dessen, was die Seele vorgeburtlich im Gefolge ihres Gottes schauen konnte, erhält sie eine spezifische Charakterveranlagung. Die Seele, die am meisten von der Welt der Ideen, vom »göttlich Schönen, Weisen und Guten und dergleichen« (Phdr. 246d f.) geschaut hat, trägt darum eine natürliche Begabung zum Philosophen in sich: Die [Seele], die sehr viel gesehen hat, geht ein in den Keim eines Mannes, der einmal ein Freund des Wissens oder des Schönen wird oder vielleicht ein Diener der Musen oder
471 Hier wird im räumlichem Bild plausibel gemacht, was bereits im Lysis und im Symposion argumentativ entwickelt wurde: Dass die sophia allein den Göttern zukommt durch ihre dauerhafte Nähe zu den Ideen und die damit verbundene vollkommene Anschauung, während die menschlichen Seelen der sophia nur zeit- und annäherungsweise nahe kommen. Sie können als inkorporierte Seelen die sophia nur durch Erinnerung und Angleichung an Gott im Sinn der Geistwerdung erstreben und also philosophieren. Denn sophia als Gegenwärtigkeit der transzendenten Ideen meint in letzter Konsequenz einen rein geistigen, außerkörperlichen Zustand. Siehe dazu auch Schäfer, Manische Distanzierung, 423 f. 472 Vries argumentiert dafür, jaj¸a hier nicht im streng moralischen Sinn zu verstehen, sondern als erklärenden Zusatz zu k¶hg mit nahezu identischer Bedeutung. (Vries, A Commentary on the Phaedrus of Plato, 142) K¶hg drückt dann die epistemische Privation aus und jaj¸a die dynamische im Sinn von Trägheit, wie auch Schleiermacher treffend übersetzt. K¶hg und jaj¸a meinen den Verlust der aufwärts strebenden Kraft, im mythischen Bild den Verlust der Flügel, vgl. Reinhardt, Platons Mythen, 259.
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des Eros. (!kk± tµm l³m pke?sta QdoOsam eQr comµm !mdq¹r cemgsol´mou vikosºvou C vikoj²kou C lousijoO timor ja· 1qytijoO, Phdr. 248d, Üb. Heitsch)
Wer dagegen im Gedränge des Umzugs und aufgrund der schwierigen Lenkung des Seelenwagens weniger geschaut hat als der potentielle Philosoph, wird bei seiner Inkarnation vielleicht die Veranlagung zum König, Krieger oder Herrscher mitzubringen, je nachdem, welchem Gott er folgte. Die nächste Stufe darunter ist die Begabung zum Politiker oder Ökonom, als vierte die zum Turnlehrer oder Arzt, als fünfte zum Seher oder Mysterienpriester, als sechste die zum Dichter oder bildenden Künstler, als siebte die Veranlagung zum Handwerker oder Bauern, als achte die zum Sophisten und Demagogen und schließlich als neunte und letzte Stufe der menschlichen Inkarnationen die Neigung zum Tyrannen.473 (Phdr. 248d f.) Alle neun Lebensformen sind auf charakterliche Dispositionen zurückzuführen, die sich aus dem unterschiedlichen Grad der Erkenntnis des wahren, rein geistigen Seins herleiten. Der Philosoph nimmt dabei die höchste Stufe ein. Er ist ein »Freund des Wissens und des Schönen«, weil er am meisten an der göttlichen Erkenntnis teilhatte und vom göttlich Schönen geschaut hat.474 Aber er muss diese Veranlagung auch bewähren und ausbilden, denn sie ist nur keimhaft in ihm vorhanden. Sonst fällt seine Seele bei der nächsten Inkarnation auf eine der niederen Stufen zurück, je nach Maßgabe dessen, was er von den vorgeburtlich geschauten Ideen in seinem Leben verwirklicht oder versäumt. Das trifft auch für die anderen Lebensformen zu. Denn wer gerecht gelebt hat, erhält bei der nächsten Inkarnation schicksalhaft eine bessere Naturveranlagung, wer dagegen ungerecht, eine schlechtere. (Phdr. 248e) Das erklärt die charakterliche Präfiguration der Menschen. Der Grad der Realisation der vorgeburtlichen Schau einer Idee wie der Gerechtigkeit ist also auch hier Maßstab für die Seelenwanderung. Nach der ersten Inkarnation kann eine menschliche Seele sogar in einen Tierkörper absteigen, wenn sie ihre Vernunftanlage völlig vernachlässigt hat.475 (Phdr. 249b f.) 473 Cürsgen weist darauf hin, dass die Skala der Lebensformen auf dem Grundgegensatz von philosophisch und unphilosophisch beruht, innerhalb dessen vermittelnde Abstufungen erfolgen. Dem entspricht auch der Gegensatz von Vernunft und Lust sowie Sein und Schein. (Cürsgen, Eros, Dialektik und Rhetorik, 34) 474 Die Verbindung der »Liebe zum Wissen« und der »Liebe zum Schönen« findet sich als Ausdruck des attischen Selbstverständnisses schon bei Thukydides, Hist. II 40,1,1, siehe auch S. 28. Zur Charakterisierung des Philosophen als »Diener der Musen oder des Eros« siehe S. 292 f. 475 Vgl. die Seelenwanderung zwischen Mensch und Tier im Timaios als Folge der Deformierung der menschlichen Seele aufgrund der Vernachlässigung von Vernunft und Philosophie, Ti. 91d – 92c und S. 186 f. Gerson weist darauf hin, dass die Annahme, eine menschliche Seele könne in einem Tier reinkarniert werden, grundsätzlich nicht weniger erstaunlich ist als die umgekehrte Annahme einer Angleichung an Gott und Rückkehr in die
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Vor diesem Hintergrund einer durchlässigen Hierarchie der Inkarnationen wird nun auch das Urteil von Sokrates über Isokrates am Schluss des Phaidros verständlich. Dort wurde Isokrates durchaus eine natürliche Veranlagung zur Philosophie zugesprochen. Aber es war fraglich, ob er dieser charakterlichen Disposition auch entsprechen und zu Größerem als der Rhetorik durchdringen würde. Das setzte nämlich voraus, dass er nach Wissen und Erkenntnis des wahren, wirklichen und unveränderlichen Seins der Ideen strebt, welche die Seele in ihrer vorgeburtlichen Existenz geschaut hat. Da er jedoch die Notwendigkeit von Erkenntnis des Wahren als Grundlage der Philosophie leugnet, droht ihm der Absturz auf die achte Stufe in der genannten Hierarchie der Lebensformen, wo der Sophist angesiedelt wird. Das vermeintliche Kompliment von Sokrates ist also, wie bereits angedeutet, in Wirklichkeit mindestens eine Ermahnung, wenn nicht gar eine indirekte Kritik an jemandem, der seine philosophische Begabung verschleudert. Wer dagegen seiner philosophischen Veranlagung gemäß lebt und sie bei einer dreimaligen Inkarnation in einem Leben bewährt, das auf das Streben nach Erkenntnis ausgerichtet ist, dem bleibt nicht nur der Abstieg auf eine niedere Stufe erspart, sondern er wird, anders als die übrigen Seelen, auch durch eine vorzeitige Rückkehr zu den himmlischen Göttern belohnt: Denn an den Ort ihrer aller Herkunft kehrt während eines Zeitraums von zehntausend Jahren keine Seele zurück, denn erst nach dieser Zeit wird sie wieder beflügelt; mit Ausnahme der Seele dessen, der nach Erkenntnis gestrebt oder ehrlich seine Liebe zu einem Jungen verbunden hat mit seinem Streben nach Erkenntnis. (eQr l³m c±q t¹ aqt¹ fhem Fjei B xuwµ 2j\stg oqj !vijme?tai 1t_m luq_ym – oq c±q pteqoOtai pq¹ toso}tou wq|mou – pkµm B toO vikosov^samtor C !d|kyr paideqast^samtor let± vikosov_ar, Phdr. 248e f., Üb. nach Heitsch)476 göttliche Welt, weil in beiden Fällen vorausgesetzt wird, dass die Art der Lebensführung Auswirkungen auf die Struktur der Seele und damit auf die Persönlichkeit hat. »We should have no more or less difficulty in conceiving of a person being reincarnated in a wild animal than of a person being identified as a pure rational agent. Just as the tripartite embodied soul can be imaged in a purely appetitive, i. e. animal, nature, so it itself can image a purely rational one. Just as one’s embodied life can justly lead to one’s embodiment as an inferior, so one’s embodied life can lead to one’s eternal vindication. What this means in general is, I take, that rationality and hence personhood are affected by embodied life.« (Gerson, Knowing Persons, 139) 476 Vries diskutiert die Lesart von Vollgraff, der toO vikosov¶samtor C !dºkyr paideqast¶samtor let± vikosov¸ar liest, weil er die Verbindung vikosov¶samtor !dºkyr für sinnlos hält. Vries steht diesem Vorschlag zurückhaltend gegenüber unter Hinweis auf R. 619d und Sph. 253e, wo vikosove?m durch rci_r qualifiziert wird beziehungsweise durch jahaq_r. (Vries, A Commentary on the Phaedrus of Plato, 144) Dennoch neige ich der Lesart von Vollgraff zu, da im Phaidros, anders als in der Politeia oder im Sophistes, nicht der Anspruch eines falschen Philosophierens zurückgewiesen wird, demgegenüber dann ein ehrliches, wahrhaftiges oder reines Philosophieren eingefordert würde. Vielmehr geht es im ersten Teil des Phaidros um die Abgrenzung einer hinterlistigen päderastischen Liebe des
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Die menschliche Seele kann keine höhere Inkarnation als in einem Philosophen erreichen. Darum ist die dauerhafte Bewährung des philosophischen Strebens gleichbedeutend mit der Rückkehr zur göttlichen Welt der Ideen. Zwar ist jeder Mensch gegenüber den Tieren durch sein Vernunftvermögen ausgezeichnet, denn er hat vorgeburtlich das wirkliche, unveränderliche Sein im Gefolge der Götter geschaut. Wird nun die Erinnerung daran durch vielfältige Wahrnehmungen geweckt, kann er die Gestalthaftigkeit dieser Vielfalt begreifen und in Begriffen ausdrücken (numi´mai jat’ eWdor kecºlemom), indem er sie mittels seiner Verstandestätigkeit zu einer Einheit zusammenfasst (eQr 4m kocisl` numaiqo¼lemom). (Phdr. 249b f.) Doch allein auf den Philosophen trifft zu, dass er dieses allen Menschen eignende Denk- und Sprachvermögen auch vollkommen ausbildet, weil er sich im Gegensatz zu anderen der einmal geschauten Ideen richtig erinnert: Deshalb also wird zurecht allein das Denken des Philosophen befiedert; denn er ist immer, so weit möglich, in seiner Erinnerung bei jenen Dingen, auf deren Gegenwart die Göttlichkeit der Götter beruht. Wenn also einer die entsprechenden Anstöße der Erinnerung richtig nutzt, dann wird er ständig in die vollkommenen Mysterien eingeweiht und eben dadurch als einziger wahrhaft vollkommen; (di¹ dµ dija_yr l|mg pteqoOtai B toO vikos|vou di\moia· pq¹r c±q 1je_moir !e_ 1stim lm^l, jat± d}malim, pq¹r oXspeq he¹r £m he?|r 1stim. To?r d³ dµ toio}toir !mµq rpolm^lasim aqh_r wq~lemor, tek]our !e· teket±r teko}lemor, t]keor emtyr l|mor c_cmetai· Phdr. 249c, Üb. Heitsch)
Die Fähigkeit, die Sprache richtig und sachgemäß zu benutzen, wird also zurückgeführt auf die Fähigkeit zur Erinnerung an die jenseitige, transzendente Welt und die dort gewonnenen Einsichten in das wirklich Seiende, die Ideen. Das ist die metaphysische Begründung für die im zweiten Dialogteil aufgestellte Behauptung, dass es ohne Erkenntnis keine Kunst der Rede gibt. Jetzt zeigt sich, dass mit dieser Erkenntnis keine Sachkenntnisse der Einzelwissenschaften gemeint sind, sondern vor allem die metaphysischen Voraussetzungen des richtigen Denkens und Sprechens. Darauf zielte auch die Forderung nach Kenntnis der Seele, wodurch die Kunst der Rede erst vollkommen wird. Denn um die menschliche Sprachbegabung richtig zu nutzen, muss sich das Denken mittels der Erinnerung am göttlichen Sein und dessen Gestalthaftigkeit und also an den Ideen orientieren, die den Begriffen zugrunde liegen. Damit ist der Philosoph so sehr beschäftigt, dass er darüber seine menschlichen Angelegenheiten ver-
Nichtliebenden, der insgeheim auf körperliche Befriedigung zielt und den Liebling von der Philosophie abzuhalten sucht, (Phdr. 239b) von der ehrlichen, aufrichtigen Liebe zu einem Knaben in der gemeinsamen Begeisterung für die Philosophie. Vor diesem Hintergrund ist !dºkyr paideqast¶samtor let± vikosov¸ar die schlüssigere Lesart.
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nachlässigt und die Leute ihn für verrückt halten.477 Denn es ist ihnen verborgen (k´kghe), dass er in Wahrheit gottbegeistert ist (1mhousi²fym). (Phdr. 249d) Der Grund dieser allgemeinen Ignoranz liegt im Vergessen (k¶hgr pkgshe?sa, Phdr. 248c) der früher geschauten, göttlichen Welt. Der Philosoph hingegen sucht im Denken und Sprechen sich beständig der Wirklichkeit der Ideen zu erinnern und bewirkt dadurch seine kontinuierliche Angleichung an Gott. Denn auch die Göttlichkeit der Götter im himmlischen Zug und ihre Weisheit beruht auf nichts anderem als auf der Schau der überhimmlischen Welt der Ideen.478 Einer Vollkommenheit in der Kunst der Rede, die im zweiten Teil des Phaidros gefordert wurde, korrespondiert darum die Vollkommenheit des Philosophen, seine Angleichung an Gott aufgrund seiner Erinnerung an das wahre, unveränderliche Sein durch das Medium des Logos. So ist es nur folgerichtig, wenn die Seele des mehrfach bewährten Philosophen wiederbefiedert wird und er vorzeitig heimkehrt zur ungehinderten Schau der göttlichen Ideen. 3.2.2. »Von hier nach dort« – Liebe ist Erinnerung an die göttliche Welt Warum aber bleiben die einen in ihrem Vergessen des wirklichen Seins, der Ideen, weitgehend befangen, während andere das Vergessen, das auch sie mit der Inkarnation erlitten haben, durch die Erinnerung überwinden können? Neben der Intensität und Dauer der dortigen Schau bedarf es eines Auslösers für die Erinnerung. Herausragende Verkörperungen der ehemals geschauten Ideen können solche Auslöser sein. So geraten potentielle Philosophen außer sich, wenn sie ein Ebenbild, ein Gleichnis des Dortigen sehen (ftam ti t_m 1je? blo¸yla Udysim, 1jpk¶ttomtai, Phdr. 250a). Während die Instanzen normativer Ideen wie der Gerechtigkeit und Besonnenheit für die meisten Menschen schwer erkennbar sind und deswegen nur auf wenige eine Anziehung ausüben, (Phdr. 250b) wird die Schönheit (j²kkor, ebd.) von allen wahrgenommen. Denn sie leuchtete am überhimmlischen Ort so hell, dass sich noch der irdische Mensch an die Glückseligkeit im Chor der Götter und an die vollkommene Schau erinnert, sobald er ein göttergleiches Angesicht erblickt oder auch die Gestalt eines Körpers, welche die Schönheit trefflich nachbilden (ftam heyeid³r pqºsypom Ud,, j²kkor ew lelilgl´mom, E tima s¾lator Qd´am). (Phdr. 250b, 251a) Dann verfällt ein solcher Liebender der Begeisterung und er wird ein Liebhaber 477 Zum Vorwurf der Verrücktheit gegen die Philosophen s.a. Tht. 216c und S. 329; Smp. 173e und S. 220. 478 Finck weist zu Recht darauf hin, dass die anthropomorphen Götter im Phaidros nicht mit den Ideen um den Titel der Gottheit in Konkurrenz stehen. Angleichung an Gott bedeutet darum auch Vervollkommnung des im Menschen angelegten Charakters gemäß der Gottheit, in deren Gefolge die Seele an der Schau teilhatte. Vgl. Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 250 – 252.
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der Schönen genannt (let´wym t/r lam¸ar, b 1q_m t_m jak_m 1qastµr jake?tai, Phdr. 249e). Es fehlte nicht viel, dass er dem Geliebten wie einem Götterbild opferte, weil er die Schönheit in ihrem Abbild schaut und verehrt. (Phdr. 251a) Sogleich beginnt das Gefieder der Seele wieder zu treiben und ihr wachsen Flügel, so dass sie sich über die irdische Welt erheben und durch die Erinnerung in die göttliche emporschwingen kann.479 Die Liebe ist also eine Form der Erinnerung, ein Wiedererkennen, durch das der Liebende »von hier nach dort« gezogen wird (1mh´mde 1je?se), zur Schönheit selbst (pq¹r aqt¹ t¹ j²kkor, Phdr. 250e). Sie trägt ihn über das irdische Abbild (eUdykom, Phdr. 250d, 255d) hinaus zur göttlichen Idee der Schönheit. Darin ist die Liebe eine Kraft der Transzendierung. Durch sie gewinnt die Seele die ihr eigentümliche Fähigkeit, sich über die Sinnenwelt zur geistigen, ideellen Welt zu erheben. Das bezeichnet zusammenfassend der Ausdruck »von hier nach dort«.480 Ohne die Liebe gibt es darum für die inkarnierte Seele keine Erinnerung sowie keine Erkenntnis der göttlichen Welt und des wahren, wirklichen Seins. Ein Nichtliebender bleibt in der Körperwelt gefangen, wie es die Rede des Lysias offenbarte. Die Liebe bewirkt dagegen, dass der Seele metaphorisch gesprochen Flügel wachsen, weshalb der Eros, wie Sokrates in einem Wortspiel belehrt, bei den Göttern der Flügler heißt (t¹m … =qyta jakoOsi … Pt´qyta, Phdr. 252b). Denn er beflügelt die Seele, dass sie wieder Kraft hat, sich dem unveränderlichen Sein zuzuwenden. Jeder Mensch entwickelt also gemäß seiner Charakterveranlagung eine Liebe zum Schönen und verehrt dieses wie ein Götterbild, weil es
479 Das Austreiben des Gefieders durch die Liebe wird im Phaidros (Phdr. 251a – 252b) mit ähnlich doppelbödigen und tiefsinnigen Anspielungen an den sexuellen Akt beschrieben wie das Zeugen der Logoi im Symposion (Smp. 206b – 207a). Es sind meisterhafte Beispiele für die Vermischung von Spiel und Ernst in der philosophischen Schriftstellerei Platons. »Was im Symposion das Zeugen bedeutet, bedeutet im Phaidros der Flügel.« (Reinhardt, Platons Mythen, 253) Beides steht für eine dem sterblichen Lebewesen mögliche Weise des Zugangs zur göttlichen Welt: die »Zeugung im Schönen« (Symposion) und die »Erinnerung an das Schöne« (Phaidros). 480 Der Seele eignet eine zweifache Art der Selbstbewegung: auf der horizontalen Zeitebene, symbolisiert durch die Pferde, und in der vertikalen Transzendenz, symbolisiert durch die Flügel. Die Fähigkeit zur Selbstbewegung in der Horizontalen bleibt der Seele auch nach dem Sturz aus der göttlichen Welt und der Inkorporation erhalten. Die Fähigkeit zur Selbstbewegung in der Vertikalen hingegen, die Erhebung in die Welt des Göttlichen und an den überhimmlischen Ort der Ideen, ist mit dem Verlust des Gefieders verloren gegangen. Erst durch die Liebe wird diese Fähigkeit wieder aktiviert, weil sie der eigentlichen Natur der Seele entspricht. »Eros … ist als vierte und zugleich höchste Manifestation der he¸a lam¸a das zu geistiger Zweisamkeit vereinte Streben nach philosophischer Wahrheitsfindung … Dies geistig-dynamische Prinzip aktualisiert sich im Aufschwung der Seele zum Reich der Ideen ([Phdr.] 250e1 1mh´mde-1je?se).« (Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, 41) Zur Wendung »1mh´mde 1je?se« siehe auch S. 101, Anm. 158 u. S. 296 u. 299, Anm. 498.
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ihm die göttliche Welt vergegenwärtigt, an deren Glückseligkeit er einst durch die Schau teilhatte. Und die Diener des Zeus also streben danach, dass der von ihnen Geliebte in seiner Seele glänzend sei wie Zeus;481 so sehen sie darauf, ob er seiner Natur nach ein Freund der Erkenntnis und zum Herrschen geeignet, und haben sie ihn gefunden und sind ihm in Liebe zugetan, dann tun sie alles in ihrer Macht, dass er diese Veranlagung in sich ausbildet. (oR l³m dµ owm Di¹r d?ºm tima eWmai fgtoOsi tµm xuwµm t¹m rv’ art_m 1q~lemom· sjopoOsim owm eQ vik|sov|r te ja· Bcelomij¹r tµm v}sim ja· ftam aqt¹m erq|mter 1qash_si, p÷m poioOsim fpyr toioOtor 5stai. Phdr. 252e, Üb. nach Heitsch)
Im Mythos gehören die potentiellen Philosophen zum Gefolge von Zeus, der den himmlischen Umzug der Götter anführt und über den Himmel in göttlicher Weisheit herrscht. Darum sind auch die Philosophen potentielle Führer und in besonderer Weise Freunde der Weisheit und der Erkenntnis. Denn weil ihre Seelen in ihrer vorgeburtlichen Existenz im Gefolge von Zeus den himmlischen Chor mit anführten, konnten sie auch am meisten von der überhimmlischen Wirklichkeit, der Welt der Ideen, erkennen. Diese Affinität zur Ideenerkenntnis haben sie auch nach der Inkarnation als natürliche Veranlagung den anderen menschlichen Seelen voraus. Der Charakter des Philosophen, seine Liebe zum Wissen und sein Streben nach Erkenntnis, wird also zurückgeführt auf die transzendente, göttliche Wirklichkeit. Diese göttliche Mitgift ist für den Liebenden wie für den Geliebten von entscheidender Bedeutung. Denn die Liebe bewirkt, dass der Liebende im Geliebten den göttlichen Ursprung des Charakters wieder erkennt. Er sieht mehr als die nur keimhafte und noch unentwickelte Veranlagung und wird deswegen nach Kräften darauf hinwirken, sie so vollkommen wie möglich auszubilden. So wird der Liebende zum Pädagogen, indem er Vorstellungen davon entwickelt, was es heißt, dem göttlichen Leitbild nachzustreben und ihm ähnlich zu werden. Dazu forscht er, inspiriert durch die Liebe, den Spuren des Gottes in sich selbst nach, und indem er konzentriert auf Gott schaut (sumtºmyr … pq¹r t¹m he¹m bk´peim), findet er das Wesen ihres gemeinsamen Gottes mittels der Erinnerung (t0 lm¶l,) in sich selbst und übernimmt voller Gottbegeisterung dessen Eigenheiten und Betätigungen. Weil er seine Begeisterung dem Geliebten zuschreibt, der Auslöser der Erinnerung an die göttliche Schönheit war, unternimmt er alles, um die Seele des Geliebten dem gemeinsamen Gott so ähnlich wie möglich zu machen (¢r dumat¹m bloiºtatom t` svet´q\ he`). ( Phdr. 253a) Die Liebe löst also eine dialektische Erkenntnisbewegung aus: vom Geliebten 481 Mit Di¹r D?|m liegt eine Anspielung auf Dion von Syrakus vor, den Freund Platons, auf den er bei der eventuellen Realisierung eines von Philosophen geleiteten Staates große Hoffnungen gesetzt hatte. Zugleich weckt es etymologische Konnotationen, da d?or glänzend, erhaben bedeutet; siehe Heitsch, Platon: Phaidros, 38.
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als dem äußeren Abbild der Schönheit nach innen durch die Erinnerung an das göttliche Urbild und wiederum nach außen in der bewussten Ausgestaltung der charakterlichen Veranlagung, die dem Gott zu danken ist. Denn gemäß dem alten Leitsatz, dass Gleiches Gleichem freund ist, erkennt der Liebende im Geliebten nicht nur den Gott, dem dieser zugehört, sondern auch sich selbst. Wen und was ein Liebender liebt, gibt Auskunft darüber, welchem Gott er angehört und wie er selbst veranlagt ist. So gibt Sokrates mit seiner Deutung der Liebe nicht nur eine metaphysische Begründung der Erkenntnis, sondern auch der Selbsterkenntnis.482 Zugleich macht Sokrates die Begeisterung für die in einem jungen Menschen verheißungsvoll erscheinende Schönheit zur Grundlage neidlos fördernder Pädagogik. Damit widerruft er die Behauptung aus seiner ersten Rede, dass der Liebende dem Geliebten zum Schaden gereicht. Zu dieser gotteslästerlichen Aussage (paq± heo?r !lbkaj¾m, Phdr. 242c, !seb/, Phdr. 242d) hatte er sich durch den Redeagon mit Lysias verleiten lassen, welcher an einem paradoxen Beispiel demonstrieren wollte, dass ein überragender Redner jede beliebige These verfechten kann. Sokrates wollte daraufhin zeigen, dass die These von Lysias, ein Knabe solle einem Nichtverliebten eher zu willen sein als einem Verliebten, rhetorisch leicht zu überbieten ist. (Phdr. 231a ff., 235e) Also behauptete er in einer ersten Rede, dass ein Liebender grundsätzlich neidisch ist und den Geliebten von allem abhält, was ihm zugute kommt, weil er befürchtet, dadurch selbst minderwertig zu erscheinen. Das gelte insbesondere für die Philosophie, weil der Geliebte durch die Tugenden, die er dabei erwirbt, über den Liebenden hinauswachsen könnte: Zwangsläufig also ist er [der Liebende] mißgünstig und verursacht dadurch, daß er ihn [den Geliebten]von vielem anderen nützlichen Verkehr, durch den er am ehesten zum Manne werden könnte, fernhält, großen Schaden, den größten aber, wo er wahrhaft besonnen werden könnte. Das aber ist die göttliche Philosophie, von der den Geliebten der Verliebte weit entfernt zu halten hat aus Angst, verachtet zu werden. (vhomeq¹m dµ !m\cjg eWmai, ja· pokk_m l³m %kkym sumousi_m !pe_qcomta ja· ¡vek_lym, fhem #m l\kist’ !mµq c_cmoito, lec\kgr aUtiom eWmai bk\bgr, lec_stgr d³ t/r fhem #m vqomi482 Die Götter sind Verkörperungen idealer bioi in Abhängigkeit von den Ideen. Gerson versteht darum hier Selbsterkenntnis als Einsicht in die Persönlichkeit eines Menschen. Die Persönlichkeit ist das Bild eines idealen Originals, nämlich eines bestimmten Gottes, dem der Mensch angehört: »Self-knowledge is the recognition that I am an image of an ideal.« (Gerson, Knowing Persons, 146) Auch der Geliebte, durch den man sich selbst erkennt, wird als Bild des Gottes verehrt und nicht als der Gott selber. Anders als der normale Liebhaber verwechselt der Philosoph nicht Abbild (eUdykom, eQj¾m, %cakla, Phdr. 250b, d, 251a, 252d) und Urbild. (Siehe ebd., 141) Zum Verhältnis von Selbsterkenntnis und Angleichung an Gott im Phaidros vgl. auch Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 250. Zur Freundschaft der Guten siehe Ly. 214c f. und S. 206, 213, zur Gleichheitsthese auch Anm. 483.
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l~tator eUg. toOto d³ B he_a vikosov_a tucw\mei em, Hr 1qastµm paidij± !m\cjg p|qqyhem eUqceim, peq_vobom emta toO jatavqomgh/mai7 Phdr. 239b, Üb. Heitsch)
Dieser missgünstigen Behauptung seiner ersten Rede widerspricht Sokrates nun inhaltlich in seiner Widerrufsrede und sagt das genaue Gegenteil. Die Philosophie ist gerade nicht das, was die Liebenden trennt und zu Konkurrenten in der Tugend und im Wissen macht, sondern was sie eint. Denn durch das Streben der Seele, ihre Lust zum Wissen und zu wahrer, göttlicher Einsicht, erkennen die Liebenden sich gegenseitig und sich selbst, weil sie, mythologisch gesprochen, im Gefolge des gleichen Gottes sind. Deswegen ist in den Augen des Liebenden der Geliebte göttergleich (Qsºheor, Phdr. 255a), und er lässt ihm alle Hilfe zuteil werden, deren er fähig ist. Denn so wenig wie ein Böser einem Bösen freund sein kann, kann ein Guter einem Guten nicht freund sein.483 (Phdr. 255b) Weil beide ihren Gott verehren, der Liebende schon bewusst, der Geliebte nur ahnend, (Phdr. 255d) freuen sie sich aneinander und versuchen, dessen Wesen und Eigenheit in Leben so weit wie möglich auszubilden. So sind sie sich gegenseitig ein Spiegel, in welchem sie sich selbst erkennen (1m jatºptq\). Sie reflektieren einander die Schönheit, die ein Abbild der göttlichen Schönheit ist. (Phdr. 255c f.) Ohne die Liebe gibt es darum weder Erkenntnis des göttlich Wahren noch der seelischen Veranlagung des anderen und auch keine Selbsterkenntnis. Das hat weit reichende Konsequenzen, nicht zuletzt für die Kunst der Rede, die das Thema des zweiten Teils des Phaidros war. Dort hatte sich gezeigt: Keine Kunst der Rede ohne Erkenntnis! Und nun gilt für den ersten Teil: Keine Erkenntnis ohne Liebe! Daraus folgt: Es gibt keine Kunst der Rede ohne Liebe! Das ist das inhaltliche Band, das die beiden auf den ersten Blick so disparaten Teile des Phaidros verbindet.484 An der Liebe also hängen für den Menschen gleicherweise das Gelingen von Erkennen und Reden.
483 Hier wird die Auflösung der Aporie aus dem Lysis geboten: Die Gleichheitsthese gilt nicht für die Bösen und kann deswegen keine Freundschaft unter ihnen stiften. Sie gilt aber für die Freundschaft der Guten. Nicht die Gleichheit ist also der Grund der philia, sondern die Gutheit. Siehe S. 213. Für den Phaidros bedeutet dies: Der Grund der philia ist die Zugehörigkeit zu Zeus und die Liebe zur göttlichen sophia. »Die blo¸ysir he` bedingt für Platon das einzig legitime Gleich zu Gleich, das im Bereich des Geistes, wo nicht der Mensch, sondern Gott das Maß der Dinge ist (Lg. 716c), Gültigkeit hat. Sie bestimmt ebenso sehr das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wie auch die wahre zwischenmenschliche Freundschaft.« (C.W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 180 f.) 484 Dass unter formalen Gesichtspunkten die Reden des ersten Teils praktische Anwendungsbeispiele für die Theorie der Rhetorik im zweiten Teil darstellen, wurde von verschiedener Seite gezeigt, siehe Anm. 449.
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3.2.3. Der Philosoph und die Harmonie der Seele Aber nicht immer hat die Liebe positive Wirkung. Vielmehr kann sie wie die Rede schlechte oder gute Folgen haben, je nachdem, ob die Kräfte der Seele im Gleichgewicht sind oder durcheinander geraten. Denn die Liebe ergreift die ganze Seele, nicht nur ihren vernünftigen Teil, den Führer des Seelengespannes, sondern auch die beiden Zugtiere, den begehrenden und den eifrigen Seelenteil. Diese beiden Kräfte ziehen gemäß ihrer Eigenheit in unterschiedliche Richtungen. Während das unbändige Ross (!jºkastor Vppor, Phdr. 255e) auf das körperliche Zusammensein und leibliche Befriedigung drängt, wehrt das andere diesem Begehren durch seine Neigung zur Scham. Und erst recht hält der Wagenlenker mit dem Zügel der Rede dagegen. Scham und Vernunft setzen der Zügellosigkeit Grenzen. (Phdr. 256a) Wenn nun die besseren Teile der Seele, welche zu einem wohlgeordneten Leben und zum Streben nach Erkenntnis hinleiten, den Sieg erlangen, so führen sie [der Liebende und der Geliebte] hier schon ein seliges und gleichgesinntes Leben, sich selbst beherrschend und gesittet, indem sie sich das unterwarfen, worin die Schlechtigkeit der Seele ist, und das befreiten, worin die Tugend entsteht. (1±m l³m dµ owm eQr tetacl]mgm te d_aitam ja· vikosov_am mij^s, t± bekt_y t/r diamo_ar !cac|mta, laj\qiom l³m ja· blomogtij¹m t¹m 1mh\de b_om di\cousim, 1cjqate?r art_m ja· j|slioi emter, doukys\lemoi l³m è jaj_a xuw/r 1mec_cmeto, 1keuheq~samter d³ è !qet^· Phdr. 256a f., Üb. B.S.)
Kennzeichen eines philosophischen Lebens ist die schöne, gute Ordnung aller Seelenkräfte unter Führung der Vernunft.485 Was zunächst den Anschein der Unterjochung des begehrenden Seelenteils hat, ist in Wirklichkeit eine Befreiung. Denn die Kräfte der Seele entwickeln die ihnen gemäße Tüchtigkeit und Tugend erst, wenn sie nicht gegeneinander arbeiten, sondern gleichgesinnt zusammen wirken. Die philosophische Seele gleicht dann dem göttlichen Seelenwagen und dessen harmonischen Zugkräften. Dabei entstehen Abbilder der Ideen in ihr, welche sie vorgeburtlich am überhimmlischen Ort schaute, nämlich Gerechtigkeit, Besonnenheit und über allem die Schönheit einer guten Ordnung. Das Streben nach Einklang der Seelenkräfte, nach ihrer Harmonie, ist darum eine Form der Angleichung an Gott. Die Philosophen bewähren also ihre Liebe in einer geordneten und durch Vernunft geleiteten Lebensführung, die alle Kräfte der Seele integriert. Darum haben sie schon viel der irdischen Schwere überwunden und in einem der drei Lebenszyklen, die zur dauerhaften Wiederbefiederung der Seele notwendig sind, bereits den Sieg davongetragen. (Phdr. 256b) Nicht immer aber gelingt das, auch wenn die Seele von Natur aus philosophisch begabt ist. Wenn nämlich der 485 Siehe S. 151 ff. und S. 181 ff.
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Wagenlenker, die Vernunft, durch irgendwelche äußeren Umstände ausgeschaltet ist und nicht mehr die Leitung ausüben kann, sind die Seelenkräfte führungslos und ungezügelt und realisieren die Art von Liebe, die ihrer Eigenheit entspricht: Führen sie [der Liebende und Geliebte] dagegen ein Leben, das zwar niedriger und unphilosophisch, aber doch um Ansehen bemüht ist, dann kann es wohl geschehen, im Rausch oder anderen unbedachten Momenten, daß die zwei ungezügelten Pferde die beiden Seelen in wehrlosem Zustand überraschen, sie zusammenbringen und dann zu dem greifen, was von der Menge so gepriesen wird, und es durchführen. Und haben sie es getan, so fahren sie darin auch fort, doch selten nur; tun sie doch etwas, was nicht die Billigung ihres ganzen Herzens hat. (1±m d³ dµ dia_t, voqtijyt]qô te ja· !vikos|v\, vikot_l\ d³ wq^symtai, t\w’ %m pou, 1m l]hair E timi %kk, !leke_ô, t½ !jok\sty aqto?m rpofuc_y, kab|mte t±r xuw±r !vqo}qour, sumacac|mte eQr taqt|m, tµm rp¹ t_m pokk_m lajaqistµm aVqesim eRk]shgm te ja· diepqan\shgm. ja· diapqanal]my, t¹ koip¹m Edg wq_mtai l³m aqt0, spam_ô d], ûte oq p\s, dedocl]ma t0 diamo_ô pq\ttomter. Phdr. 256b f., Üb. Heitsch)
Es hängt also entscheidend von der Art der Lebensführung ab, ob der vernünftige, nach Erkenntnis strebende Seelenteil die Leitung behält oder die anderen Seelenteile sich durchsetzen. Wird die Vernunft außer Kraft gesetzt wird, gehen mit den Liebenden in unbedachten Augenblicken »die Pferde durch«. Dann werden sie nicht von der Liebe zur Weisheit und dem Streben nach Erkenntnis (vikosov¸a) geleitet, aber immerhin durch ihre Liebe zur Ehre und ihrem Streben nach Anstand (vikotil¸a) in Zucht gehalten, so dass sie den sinnlichen Triebkräften nicht uneingeschränkt nachgeben. (Phdr. 256c) Die sittlichen Kräfte der Seele, welche durch das gute Pferd symbolisiert werden, wehren der hemmungslosen körperlichen Begierde. Der Preis für die zeitweilige Außer-Kraft-Setzung der Vernunft ist allerdings ein seelischer Zwiespalt und Konflikt, weil es ein Handeln wider besseres Wissen und Wollen ist. Diese Seelen werden darum im Sterben nicht wie die bewährten, vollendeten Philosophen zur himmlischen Welt empor getragen. Aber aufgrund der Begeisterung der Liebe (t/r 1qytij/r lam¸ar) werden auch sie als Freunde miteinander leben und den Trieb zur Befiederung der Seele (¢qlgjºter d³ pteqoOshai), nämlich den Drang zur Transzendenz, in sich tragend miteinander den Aufstieg beginnen und glücklich sein (eqdailome?m let’ !kk¶kym poqeuol´mour). (Phdr. 256d) Die Kunst der Liebe, um die Sokrates den Gott Eros im folgenden Gebet bittet, besteht in der philosophischen Lebensführung, durch welche die Kräfte der Seele im Einklang mit sich selbst, mit dem anderen und mit dem göttlichen Urbild sind, dessen Abbild der Liebende im Geliebten erkennt. Diese Kunst der Liebe ist nicht ohne die leitende Vernunft zu gewinnen. Beide Zugkräfte der Seele bedürfen darum des Zuspruchs und der Überzeugung durch den Logos.
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Das verbindet die Kunst der Liebe mit der Kunst der Rede. Die Kunst der Liebe kann ebenso wenig auf die Rede verzichten wie umgekehrt die Kunst der Rede auf die Liebe. Sokrates fasst diesen Zusammenhang noch einmal mit der ihm eigentümlichen Mischung aus Spiel und Ernst in das Bild der singenden Zikaden, welche ihn und seinen jungen Freund beim Gespräch belauschen: Wessen Vernunft auch in der Liebe nicht außer Kraft gesetzt wird, gleicht jemandem, der vom betörenden Gesang der Zikaden nicht überwältigt wird und dem Schlaf nicht verfällt.486 Ihm verleihen die Zikaden die göttliche »Gabe der Musen« im Vergessen der leiblichen Bedürfnisse über der Schönheit des Gesangs. (Phdr. 259a f.) Denn die Zikaden singen ohne Speise und Trank, bis sie sterben und zu den Musen kommen. Dazu ist besonders der Philosoph berufen, weil er von Natur ein Musenfreund ist (vikºlousor !m¶q, Phdr. 259b) und ein Redefreund (!mµq vikºkocor, Phdr. 236e).487 Belauschen die Zikaden die Gespräche solcher Philosophen, so melden sie den Musen, wer sie verehrt: Der ältesten aber, Kalliope, und ihrer nächstfolgenden Schwester Urania, die vornehmlich unter den Musen über den Himmel und über göttliche und menschliche Reden gesetzt sind und die schönsten Stimmen von sich geben, verkündigen sie [die Zikaden] die, welche philosophisch leben und ihre Art der Musik ehren. (t0 d³ pqesbut\t, Jakki|p, ja· t0 let’ aqtµm Oqqam_ô to»r 1m vikosov_ô di\comt\r te ja· til_mtar tµm 1je_mym lousijµm !cc]kkousim, aT dµ l\kista t_m Lous_m, peq_ te oqqam¹m ja· k|cour owsai he_our te ja· !mhqyp_mour, R÷si jakk_stgm vym^m. Phdr. 259d, Üb. nach Schl.)
Über der Schönheit der Reden und der Schönheit einer philosophischen Seele, die dem eigenen Streben verwandt ist, vergisst der Philosoph die irdische Welt und erhebt sich in der Erinnerung über sie an den überhimmlischen Ort der Ideen. Das ist die »Gabe der Musen« an ihn. Bewirkte die Inkarnation das Vergessen der göttlichen Ideenwelt, so bewirkt nunmehr die Schönheit wahrer Logoi das Vergessen der leiblichen Welt. Sokrates bezeugt mit seiner Palinodie, dass die wahre Kunst der Rede eine Kunst der Liebe ist, die von der irdischen
486 »Aus vielerlei Gründen also müssen wir etwas reden und nicht am Mittag schlafen.« (Phdr. 259d, Üb. B.S.) Zur Metapher des Schlafens und Träumens für das Meinen und der Metapher des Wachens für die Erkenntnis des Seienden vgl. R. 533c ff. 487 Deswegen hieß es von der menschlichen Seele, die am meisten geschaut hatte, nicht nur, dass sie nach der Inkorporation »ein Freund des Wissens oder des Schönen« würde, sondern ebenso »ein Diener der Muse oder der Liebe«. (Phdr. 248d) Wir haben es also nicht nur mit einem vikºsovor und vikºjakor zu tun, sondern auch mit einem vikºlousor (Phdr. 259b) und sinngemäß auch mit einem vik´taiqor (Ly. 211e), selbst wenn dieser Ausdruck hier nicht fällt.
Phaidros: Die Kunst der Rede ist eine Kunst der Liebe
293
Schönheit inspiriert die göttliche Schönheit sucht und findet.488 Denn die Liebe weist dem Philosophen den Weg »von hier nach dort«.
488 Im Kratylos wird die Bezeichnung »Musen« etymologisch aus dem Nachsinnen, dem forschenden Suchen (l²olai) hergeleitet: Die Musen aber und überhaupt die Musik hat er wohl offenbar vom Nachsinnen, also von der Liebe zum Nachforschen und zur Weisheit so genannt. (t±r d³ »Lo}sar« te ja· fkyr tµm lousijµm !p¹ toO l _ s h a i , ¢r 5oijem, ja· t/r fgt^se~r te ja· vikosov_ar t¹ emola toOto 1pym|lasem. Cra. 406a, Üb. Schl.) Damit wird die spezifisch geistig-kognitive Haltung der Philosophierenden, ihre beständige Suche nach Wahrheit und Weisheit, mit dem mythologischen Bild der Musen verbunden. Sie sind die schönen und inspirierenden Schutzgöttinnen der Künste, Personifikationen der in der Seele wohnenden Schönheit, während Aphrodite die körperliche Schönheit symbolisiert. Ihre Schützlinge, die ihnen und ihrer Schönheit nachsinnen, beschenken sie mit den »Gaben der Musen«. Vgl. dazu a. die »Muse der Philosophie« (Phlb. 67a f.) und S. 368.
V. Der philosophische Tod
1.
Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben
1.1.
Philosophie als Einübung ins Sterben
Als Sokrates im Gefängnis den Schierlingsbecher trank, war er nicht allein, sondern umgeben von Freunden und Schülern, die mit ihm die letzten Stunden geteilt und gemeinsam philosophiert hatten. Das Bild des sterbenden Sokrates, des »besten, vernünftigsten und gerechtesten Menschen«, den sie kannten, hat sie zutiefst erschüttert. (Phd. 118a) Aber der Tod dieses Philosophen hat auch in der Geistesgeschichte des Abendlandes unauslöschliche Spuren hinterlassen und sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Warum gerade dieser Tod? Sokrates war nicht der erste und erst recht nicht der letzte Philosoph, der staatliche Anfeindung und Willkür erfuhr. Was machten ihn und sein Sterben so besonders? Es ist die Heiterkeit und Gelassenheit, mit der er das Unrecht trug, das ihm widerfuhr ; und seine unerschütterliche Zuversicht auf ein gutes und sogar besseres Leben nach dem Tod, so dass er selbst im Sterben glücklich erschien; sowie schließlich auch die Tatsache, dass Sokrates bis zur letzten Minute mit dem beschäftigt war, was er immer tat: mit dem Philosophieren.489 Aber es sind nicht nur die Umstände seines Todes, die sein Sterben denk- und erinnerungswürdig machten, sondern auch dessen Deutung durch Platon. Beides hat sich unauflöslich zu einer Botschaft verwoben: Philosophie ist eine beständige, lebenslange Einübung ins Sterben! Diese Aussage ist alles andere als evident, und an ihr scheiden sich damals wie heute die Geister. So verwundert es auch nicht, dass Platon in bisher nicht gekannter Ausführlichkeit die Frage diskutiert, was einen Philosophen ausmacht, und worin sich die »wahren Philosophen« (oR ¢r !kgh_r vikºsovoi) von
489 Vgl. Ap. 29d: »Solange ich atme und dazu imstande bin, werde ich nicht aufhören zu philosophieren!«.
296
Der philosophische Tod
»den Philosophierenden« (oR vikosovoOmter) unterscheiden.490 (Phd. 64b) Erstmals im platonischen Werk taucht das Substantiv »der Philosoph« (b vikºsovor) als Gattungsbegriff auf.491 Dahinter steht die Auffassung, dass es zwar viele gibt, die für sich in Anspruch nehmen zu philosophieren, sei es nebenher wie die reiche und gebildete Oberschicht Athens, sei es als Hauptbeschäftigung wie die Sophisten oder Rhetoren; dass es aber nur wenige gibt, die wirklich Philosophen sind. Ob jemand ein wirklicher oder nur ein vorgeblicher Philosoph ist, zeigt sich gemäß Sokrates an seiner Gelassenheit gegenüber dem körperlichen Tod. Das ist ein untrügliches Erkennungszeichen. Aber es ist nicht das Einzige, was den Philosophen zum Philosophen macht. Das Sterben, das den Philosophen kennzeichnet, umfasst weit mehr. Es ist sein strebendes, begehrendes Verhältnis zur unkörperlichen Welt der Ideen, seine Suche nach Erkenntnis und Wahrheit des Seienden, (Phd. 65a) die es ihm leicht macht, sich von der körperlichen Welt abzuwenden. Das Sterben des Philosophen ist nur die Kehrseite seines Liebens und Begehrens. Beides gehört wie Zeugung und Tod unauflöslich zusammen. Deswegen ergänzen und bedingen Symposion und Phaidon einander. Beide haben teil an ein und derselben Dynamik, die den Philosophen »von hier nach dort« zieht (1mh´mde 1je?se, Phd. 117c, vgl. a. Phd. 107e).492 490 Insgesamt findet sich der Philosophiebegriff im Phaidon 39-mal. Es ist angesichts der Häufigkeit der Belegstellen nicht möglich, wie bisher jedes Vorkommen im Fortlauf der Argumentation zu besprechen. Das Phaidon-Kapitel kann deswegen nur einige der Hauptaussagen exemplarisch herausgreifen und an ihnen die Intension des Begriffs im Phaidon zu klären versuchen. Eine Zusammenstellung aller Belegstellen findet sich im Anhang. 491 Ob das Substantiv »der Philosoph«, b vikºsovor, sich erstmals bei Platon im Phaidon oder bei Isokrates in der Helenarede (Isoc. X 66, 4 f., s. S. 40) findet, lässt sich bei der schwierigen Frage der Datierung der Schriften nicht sicher sagen. Deutlich ist aber, dass es nunmehr zur Kennzeichnung eines professionalisierten Typus von Intellektuellen dient, und zwar in Abgrenzung zum philosophischen Gespräch und Untersuchungen, die jedem geistig Fragenden und Interessierten offen stehen (zumeist durch das substantivierte Partizip oR vikosovoOmter bezeichnet), und zu anderen Intellektuellen wie Rednern, Logographen, Politikern, Astronomen und Mathematikern. 492 So wurde verschiedentlich auf die dramaturgisch tiefsinnige Entsprechung hingewiesen, dass Sokrates im Phaidon den Schierlingsbecher beim Untergang der Sonne trinkt, (Phd. 116b) während er im Symposion nach Sonnenaufgang aufbricht, um die Morgenreinigung zu vollziehen und wie üblich Philosophie zu treiben. (Smp. 223d) In beiden Dialogen bleiben die Freunde, mit denen er philosophiert hatte, zurück. Das eine mal sind sie trunken und schläfrig oder schon weggegangen, das andere Mal sind sie voll Trauer. Beides steht in scharfem Kontrast zur unablässigen Wachheit und heiteren Gelassenheit von Sokrates. Die Bewegung »von hier nach dort« wird dramaturgisch vielfach in Aufstiegsmetaphern ausgedrückt, so neben dem Symposion besonders im Höhlengleichnis der Politeia und im Mythos des Seelenwagens im Phaidros. Siehe a. Anm. 315 u. S. 286, 299. Im Phaidon bezeichnet die Wendung »von hier nach dort« zu Beginn des Schlussmythos die Lösung der Seele vom Körper im Tod und den Gang in den Hades. Das bedeutet aber nicht
Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben
297
Im Phaidon ist Sokrates noch ein letztes Mal aufgefordert, über seine Philosophie Rechenschaft abzulegen; diesmal jedoch nicht vor den Athenern wie in der Apologie, sondern vor dem Kreis seiner engsten Freunde. Es geht um die Begründung der Unsterblichkeit der Seele. Dieses Philosophem durchzieht viele Diskurse, die Sokrates geführt hat. Seinen »Sitz im Leben« hat es aber in besonderer Weise angesichts des Todes. Wenn Sokrates in einer ethischen Grenzsituation wie dieser mit seinem Verhalten und Reden dennoch einen glücklichen Eindruck macht (eqdail_m 1va¸meto, Phd. 58d), ist das ein starkes Indiz für seine Überzeugung. Aber Sokrates wäre kein Philosoph, wenn er die These von der Unsterblichkeit der Seele nicht auch argumentativ zu begründen suchte. In vier Beweisgängen stellt er sich dieser Aufgabe. Anlass ist die missverständliche Auforderung von Sokrates an den Sophisten Euenos, dieser möge ihm folgen, wenn er ein Philosoph sei. (Phd. 61b f.) Die Freunde beziehen das auf den bevorstehenden Tod von Sokrates und sind verwirrt. Aber Sokrates macht deutlich, dass es keineswegs eine Aufforderung zum Selbstmord sei.493 Vielmehr geht es ihm darum, dass sich jeder, also auch Euenos, auf würdige Weise mit der Philosophie beschäftigt.494 (Phd. 61e) Aber euch als meinen Richtern will ich nun Rechenschaft darüber geben, daß ich mit Recht meine, ein Mensch, der sein Leben wahrhaft mit Philosophie zugebracht hat, müsse zuversichtlich sein, wenn er im Begriff ist zu sterben… (!kk’ rl?m dµ to?r dijasta?r bo}kolai Edg t¹m k|com !podoOmai, ¦r loi va_metai eQj|tyr !mµq t` emti 1m vikosov¸ô diatq¸xar t¹m b¸om haqqe?m l´kkym !pohame?shai …, Phd. 63e f., Üb. Zehnpfennig) Es scheinen nämlich alle, die sich auf rechte Weise mit der Philosophie befassen, – verborgen vor den anderen – nichts anderes zu betreiben als zu sterben und tot zu sein. wie in der traditionellen Mythologie einen Abstieg der Seele, sondern ein Hinübergehen aus der körpergebundenen Existenz und sichtbaren Welt in die unsichtbare, göttliche und intelligible Welt. (Phd. 107e) »Der Widerspruch und Einspruch Platons gegen etablierte poetische wie frühe philosophische Hades- und Höhlenbilder zeigt sich nun darin, dass in seinen Schriften der Hades nur noch Chiffre für ein Jenseits überhaupt ist (vgl. R. 614c1: dailºmior tºpor).« (Männlein-Robert, Katabasis und Höhle, 247) 493 Anders als später den Stoikern verbietet sich ihm der Selbstmord gemäß seinem ethischen Leitsatz, dass es besser sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Dazu gehört auch die Gewalt, die man sich selbst zufügt, sei es, dass man sich unrechterweise schuldig bekennt, was Sokrates in der Apologie ablehnt, (Ap. 37b) sei es, dass man seinem Leben selbst gewaltsam ein Ende setzt, bevor der Gott die Seele vom Leib löst und befreit. (Phd. 61d, 67a) 494 Ob die Kennzeichnung von Euenos als vikºsovor affirmativ (Ebert, Platon: Phaidon, 111 ff., 115) oder ironisch (Rowe, Plato: Phaedo, 123) zu verstehen ist, ist strittig. Vor dem Hintergrund von Platons extensiver Abgrenzung der wahren von den vorgeblichen Philosophen im Phaidon halte ich es für plausibler, dass Euenos die sophistische Fraktion repräsentiert (vgl. dessen sophistische Lehrtätigkeit in Ap. 20b u. S. 116) und der in Phd. 97b f. ebenfalls namentlich genannte Anaxagoras die Kosmologen. Beide dienen Platon als paradigmatische Gegenbilder für sein eigentliches Anliegen, die Charakterisierung des wahren Philosophen.
298
Der philosophische Tod
(Jimdume}ousi c±q fsoi tucw\mousim aqh_r "pt|lemoi vikosov_ar kekgh]mai to»r %kkour, fti oqd³m %kko aqto· 1pitgde}ousim C !pohm-sjeim te ja· tehm\mai. Phd. 64a, Üb. Zehnpfennig)
Was versteht Sokrates unter Philosophie, wenn sie nichts anderes ist als Sterben, noch dazu in lebenslanger Beschäftigung und zur Gewohnheit gewordener Grundhaltung, die alle Tätigkeiten des Philosophen durchzieht? Es ist eine der Inkarnation der Seele gegenläufige Bewegung. So wie die Geburt die Verbindung der Seele mit einem Leib ist, (Phdr. 246c; Ti. 43a) ist nach alter Vorstellung der Tod nichts anderes als die Trennung der Seele vom Leib. (Phd. 64c) Dabei gilt das Interesse des Philosophen nicht dem physischen, sondern dem epistemischen Prozess der Loslösung. Weil die Inkarnation der Seele Folgen für ihre Erkenntniskraft hat, gilt das umgekehrt auch für die Exkarnation, für die Befreiung von den Banden leib-seelischer Eindrücke, die die Erkenntniskraft der Seele verwirren. Daraus folgt zunächst ein kritisches Verhältnis zum Leib, der zwar nicht verachtet, aber auch nicht überbewertet werden darf. Denn es ziemt dem Philosophen nicht, sich ständig um den Leib und dessen Bedürfnisse zu kümmern und darüber keine Muße mehr für die Philosophie zu haben.495 (Phd. 64d f., 66d) Vielmehr soll sich der wahre Philosoph so viel als möglich vom Leib ab- und der Seele zuwenden. (Phd. 64e) Wenn tot zu sein heißt, dass die Seele abgesondert vom Leib und für sich ist (wyq·r d³ tµm xuwµm !p¹ toO s¾lator !pakkace?sam aqtµm jah’ artµm eWmai, Phd. 64c), dann trachtet der Philosoph danach, die Seele von leiblichen Eindrücken frei zu halten, damit sie, auf sich gestellt, allein aus sich heraus und in sich die Wahrheit erfassen kann.496 Denn nur die Seele berührt die Wahrheit (t/r !kghe¸ar ûptetai), und im Denken wird ihr das Seiende offenbar. (Phd. 65b f.) Die philosophische Grundübung besteht darum in der Loslösung der Seele von der sinnlichen Wahrnehmung bei ihrer Suche nach Wahrheit und in der Wendung nach innen, auf sich selbst. In diesem Sinn fürchten die Philosophen den Tod nicht nur nicht, sondern sie suchen ihn sogar, sie wollen sterben! (Phd. 62c, 64a f.) 495 Die Gemeinschaft der Seele mit dem Leib (joimym¸a) wird nicht grundsätzlich negiert, sondern auf das Lebensnotwendige beschränkt. Diese Art der Gemeinschaft steht nicht im Widerspruch zur Reinheit der Seele, die Voraussetzung von Erkenntnis ist. (Phd. 67a) 496 Wie Kobusch zeigt, ist die platonische Deutung der Philosophie als »Übung des Todes« Grundlage zahlreicher Weiterentwicklungen und Umdeutungen in der spätantiken paganen und christlichen Philosophie. Sie reichen von der Unterscheidung zwischen physischem und willentlichem Tod über den Tod der Seele und Tod der Sünde bis zum mystischen Tod. Anders als in der Stoa ist die eigentlich platonische Übung des Todes jedoch keine Antizipation des eigenen physischen Todes zur Erlangung der Seelenruhe, sondern eine mentale Reinigung von sinnlichen Vorstellungen und damit eine »praktische Bedingung der Möglichkeit intellektueller Schau«. (Kobusch, Der Tod. Elemente einer Begriffsgeschichte, 167 – 179)
Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben
299
Und eben dieses ist das Bemühen der Philosophen, die Befreiung und Trennung der Seele vom Leib, oder nicht? … In der Tat also … üben sich die wahrhaft Philosophierenden darin zu sterben, und das Totsein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchterregend. (ja· t¹ lek´tgla aqt¹ toOt¹ 1sti t_m vikosºvym, k¼sir ja· wyqisl¹r xuw/r !p¹ s¾lator7 C ou; … T` emti %qa … oR aqh_r vikosovoOmter !pohm-sjeim leket_sim, ja· t¹ tehm²mai Fjista aqto?r !mhq¾pym vobeqºm. Phd. 67d f., Üb. B.S.)
Philosophie als Einübung ins Sterben ist keine bloße Metapher und unzulässige Verharmlosung der Schrecken des physischen Todes. Die standen auch Sokrates und seinen Freunden vor Augen, mehr noch als uns Heutigen. Der physische Tod ist aber die Probe aufs Exempel, er ist die Bewährung der Philosophie in ihrer Kraft der Befreiung von leiblichen Fixierungen. Philosophie zielt auf ein geistiges Sterben, welches in Folge auch das Verhältnis zur sinnlich wahrnehmbaren Welt grundlegend verändert. Ursache dafür ist die Liebe des Philosophen zur Weisheit im Leben wie im Sterben. Wer sein Leben lang die Erkenntnis liebt (Eqym d³ vqom¶seyr, Phd. 68a), wird deswegen nicht ungehalten sein, wenn ihn der leibliche Tod ereilt, sondern ihn begrüßen. Denn er weiß, dass der Leib und mit ihm die sinnliche Wahrnehmung Schwankungen und Unsicherheiten und damit möglichen Irrtümern unterworfen sind und er auf diese Weise niemals zu sicherer Einsicht gelangen kann. (Phd. 79a) Solange der Philosoph noch im Leib ist, wird die Philosophie für ihn zu einer Übung der Loslösung der Seele aus dem Kerker des Leibes. Denn die Seele kann das Seiende mittels des Leibes nur wie durch Gitterstäbe hindurch betrachten. (Phd. 82e) Darum strebt der Philosoph danach, die Seele allein für sich zu haben (aqtµm d³ jah’ artµm 1pihuloOsi tµm xuwµm 5weim, Phd. 67e), frei und losgelöst vom Leib und dessen verwirrendem Einfluss.497 Die Loslösung von allen sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen ist eine Form der Reinigung der Erkenntniskraft der Seele von den Überfremdungen durch den Leib. Denn wenn sie etwas nur durch sich selbst betrachtet (aqtµ jah’ artµm sjop0), wendet sie sich »dorthin« (1je?se),498 wo das Reine, Immerseiende und Unsterbliche ist und das, was sich immer auf gleiche Weise verhält (eQr t¹ jahaqºm te ja· !e· cm ja· !h²matom ja· ¢sa¼tyr 5wom). (Phd. 79d) Damit ist die göttliche Welt der Ideen gemeint. Dem Für-sich-Sein der Ideen 497 Schon Aristoteles kritisierte den vermeintlichen chorismos (siehe Phd. 67d) der beiden Welten, der sinnlich wahrnehmbaren und der Ideen. (Arist. Metaph. 1039a, 1040b – 1041a, 1078b – 1079a, 1086a – 1086b.) Der Ausdruck chorismos besagt in Phd. 67d aber lediglich, dass die Seele das Wesen einer Sache (oqs¸a, Phd. 65d) ohne Hilfe des Leibes erfassen muss, weil die Idee nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Vgl. a. D. Frede, Platons Phaidon, 23. Einen Überblick über die Debatte zum chorismos bietet Thurner, Art. Trennung, 282 – 285. 498 Vgl. die Wendung »1mh´mde 1je?se« Tht. 176a f. u. S. 101, Phdr. 250e u. S. 286, Phd. 107e, 117c u. S. 296.
300
Der philosophische Tod
entspricht das Für-sich-Sein der Seele. Die Hinwendung zur Welt der Ideen in der Wendung auf sich selber ist der Seele nur möglich, weil sie ihnen verwandt ist (succemµr owsa, Phd. 79d) und dem Göttlichen ähnlich (floiom t` he¸\, Phd. 80a). In diesem Zustand erfährt die Seele ihre Unsterblichkeit, weil sie Ruhe hat vom Irren und sich in Bezug auf jene Welt immer selbst gleich bleibt (ja· peq· 1je?ma !e· jat± taqt± ¢saut_r 5wei, Phd. 79d). Wenn sie sich rein loslöst und nichts vom Leib mit sich zieht, da sie im Leben nichts aus freien Stücken mit ihm gemein hatte, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb, weil sie sich immer hierin übte, was nichts anderes heißt, als dass sie richtig philosophierte und wirklich darauf bedacht war, leicht zu sterben; oder sollte dieses nicht eine Einübung und Vorbereitung auf den Tod sein? – Zweifelsohne. – Wenn es sich also so mit ihr verhält, geht sie dann nicht zu dem ihr Ähnlichen und Unsichtbaren, dem Göttlichen und Unsterblichen und Vernünftigen, wo, wenn sie hingekommen ist, es ihr vergönnt wird, glückselig zu sein, losgelöst von Irrtum und Unvernunft, Furcht und ungezähmter Liebe und den anderen menschlichen Übeln …? (1±m l³m jahaq± !pakk\ttgtai, lgd³m toO s~lator sumev]kjousa, ûte oqd³m joimymoOsa aqt` 1m t` b_\ 2joOsa eWmai, !kk± ve}cousa aqt¹ ja· sumghqoisl]mg aqtµ eQr 2aut^m, ûte leket_sa !e· toOto, t¹ d³ oqd³m %kko 1st·m C aqh_r vikosovoOsa ja· t` emti tehm\mai leket_sa Nôd_yr· C oq toOt’ #m eUg lek]tg ham\tou; – pamt²pasi ce. – oqjoOm ovty l³m 5wousa eQr t¹ floiom aqt0 t¹ !eid³r !p]qwetai, t¹ he?|m te ja· !h\matom ja· vq|milom, oX !vijol]m, rp\qwei aqt0 eqda_lomi eWmai, pk²mgr ja· !mo¸ar ja· vºbym ja· !cq¸ym 1q¾tym ja· t_m %kkym jaj_m t_m !mhqype¸ym !pgkkacl´m, …; Phd. 80e f., Üb. B.S.)
Die philosophische Ausrichtung auf die rein geistige, nur dem Denken zugängliche Welt der unveränderlichen Ideen ist für die Seele also kein lediglich theoretischer Erkenntnisakt von distinkten Objekten, sondern auch ein praktischer Akt der Vergewisserung ihres eigenen unveränderlichen und also unsterblichen Seins. Das begründet ihre Furchtlosigkeit wie auch ihre Glückseligkeit. Dieser Introversion der Seele im Phaidon entspricht als Gegenpol die Extroversion im Symposion oder auch im Phaidros. Dort bedarf der Philosoph des Geliebten als eines Spiegels, in dem er sich selbst erkennt. Denn er schaut in ihm ein Abbild des Gottes, den er verehrt und dem beide angehören.499 Generisch betrachtet steht am Anfang des philosophischen Aufstiegswegs die Faszination und die göttliche Begeisterung für das Einzelschöne, das nicht anders als durch die Sinne wahrgenommen werden kann. Der Philosoph ist in dieser Weise ein Ekstatiker, der sich erkennt, indem er von sich selbst weg auf den Geliebten wie auf ein Götterbild sieht. Verstanden werden kann dieses externe Einzelschöne allerdings nicht in seiner Besonderheit, sondern nur in seiner allgemeinen Schönheit durch die Wendung der Seele des Philosophen auf sich selbst. Denn 499 Zur Metapher des Spiegels und des Götterbildes siehe auch Phdr. 251a, 252d, 255d und S. 285 ff.; Chrm. 154c und Smp. 216e, 222a, 209b f. Zur Selbsterkenntnis siehe a. S. 287 f.
Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben
301
nur wenn die Seele für sich allein im reinen Denken (aqt0 jah’ artµm eQkijqime? t0 diamo¸ô) jegliche Sache rein für sich (aqt¹ jah’ art¹ eQkijqim³r 6jastom … t_m emtym) zu erfassen sucht, erschließt sich ihr das Wesen (oqs¸a, Phd. 65d) der Schönheit wie auch des Guten, Gerechten und alles derartig Seienden. (Phd. 65d – 66a) Das Medium der Erkenntnis – die reine Seele – und der Gegenstand der Erkenntnis – die von allem Besonderen gereinigte Idee der Sache – müssen einander entsprechen. Dennoch wäre es falsch, den Blick nach innen und außen gegeneinander auszuspielen. Sie gehören zusammen, wie auch Idee und Instanz nicht zu trennen sind. Ein chorismos im Sinn einer völligen Trennung der Welten ist für Platon keine Option.500 Die Dialoge setzen unterschiedliche Schwerpunkte in einem dialektischen Erkenntnisprozess.
1.2.
Die Flucht zu den Reden und die Auswanderung »von hier nach dort«
Die Reinheit der Seele beruht auf dem Absterben sinnlicher Vorstellungen und dem gesammelten Für-sich-Sein. Wie aber vollzieht sich die philosophische Übung des reinen Denkens, durch das die Seele die Ideen für sich allein in sich erfasst? Diese Frage lässt sich mit Blick auf die sogenannte Autobiographie von Sokrates und seine »Flucht zu den Logoi« (Phd. 99e) sowie das anschließende hypothetische Verfahren zumindest ansatzweise beantworten. Sokrates referiert seine intellektuelle Biographie und berichtet, wie er sich als junger Mensch mit Begeisterung den Theorien der Kosmologen und der Betrachtung der Natur (peq· v¼seyr Rstoq¸am) zugewandt habe.501 Er erhoffte sich von ihnen Aufschluss über die Ursachen (aQt¸ai) des Kosmos und des Werdens und Vergehens aller Dinge. (Phd. 96a) An die Stelle traditioneller göttlicher Gestalten und Mächte traten Urelemente, aus denen die Vielfalt wie auch die Ordnung der Welt erklärt wurden. Aber diese aufklärerischen Theorien befriedigten ihn nicht. So lässt sich die Entstehung der Dinge nicht ausschließlich aus physikalisch-materiellen 500 Hier wäre auch besonders auf die Mittelstellung und Mittlerfunktion der Seele hinzuweisen, wie sie im Timaios entwickelt wird, siehe S. 168. 501 Bei der »Autobiographie« besteht Dissens in der Frage, ob es sich um den authentischen wissenschaftlich-philosophischen Werdegang des historischen Sokrates handelt oder um den von Platon. Für letzteres spricht die sich an die Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern anschließende platonische Ideenkonzeption. Hackforth nimmt ein »Sowohl-alsAuch« an, wonach die Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern bei Sokrates und Platon inhaltlich parallel läuft und die Ideenkonzeption sowie die hypothetische Beweisführung platonische Weiterführung ist. (Hackforth, Plato’s Phaedo, 127 – 131) Ebert hingegen sieht in der ganzen Biographie eine platonische Fiktion. (Ebert, Platon: Phaidon, 338 – 349) Die Frage nach der historischen Authentizität ist jedoch sekundär gegenüber dem offensichtlichen Anliegen Platons, in Sokrates den Typus des wahren Philosophen zu beschreiben, der, wie die Rahmenerzählung deutlich macht, als Paradigma für jeden philosophisch fragenden Menschen dient.
302
Der philosophische Tod
Prinzipien erklären, und mentale Phänomene wie die Erkenntnis (1pist¶lg, Phd. 96b) sind schon gar nicht daraus herleitbar, auch keine mathematischen Gesetzmäßigkeiten. (Phd. 97a f.) Einen Ausweg schien die Ursachenerklärung des Anaxagoras zu bieten, denn er sah nicht in einem materiellen Element, sondern im Geist (moOr) das ordnende Prinzip des ganzen Kosmos. (Phd. 97b f.) Aber für Sokrates war auch diese Erklärung unzureichend, denn der Begriff der Ordnung ist für ihn untrennbar verbunden mit dem Zweckmäßigen und Guten. (Phd. 97c – 98b) Sokrates ist nicht an einer mechanistischen Ursachenerklärung gelegen, wonach der Geist zwar bei der Entstehung des Kosmos physikalische Prozesse initiiert, sich aber dann aus dem weiteren Weltgeschehen zurückzieht und seine Wirksamkeit einstellt. (Phd. 98b – 99c) Er möchte vielmehr wissen, warum die Dinge sich jetzt so verhalten, wie sie sich verhalten, und warum es besser ist, wenn sie so und nicht anders sind. Sokrates verfolgt bei der Ursachenfrage somit eine teleologische Intention. Er fragt nicht nach einer wie auch immer gearteten Ordnung, sondern nach einer vernünftigen, zweckmäßigen und guten Ordnung. Denn die ordnende Vernunft (t¹m moOm josloOmta) wird alles so ordnen, wie es sich am besten verhält (fp, #m b´ktista 5w,). (Phd. 97c) Eine Ursache ist für Sokrates immer das für das Einzelne Beste (t¹ 2j²st\ b´ktistom) und zugleich das allen gemeinsame Gute (t¹ joim¹m p÷sim !cahºm). (Phd. 98b) Auf diese Ursachenfrage können die Kosmologen keine Antwort geben, weil sie mit ihrer Elementenlehre den sinnlich wahrnehmbaren, materiellen Dingen verhaftet bleiben, das gilt auch für Anaxagoras. Denn der Geist ist für ihn zwar das feinste und reinste von allen Dingen, aber keineswegs immaterieller Natur. Vielmehr besitzt auch er eine körperliche Struktur und räumliche Ausdehnung, wenn auch die feinste und kleinste.502 Aufgrund dieser Orientierung am sinnlich Wahrnehmbaren scheiden für Sokrates die Kosmologen allesamt als wahre Philosophen im oben beschriebenen Sinn aus. Sokrates muss also einen zweiten und schwierigeren Anlauf nehmen, einen de¼teqor pkoOr,503 um der Ursache für das Sosein der Dinge und ihren besten Zustand auf den Grund zu gehen.504 Er sucht Zuflucht bei den Logoi, im reinen Denken, um in ihnen die Wahrheit des Seienden zu untersuchen (eQr to»r kºcour jatavucºmta 1m 1je¸moir sjope?m t_m emtym tµm !k¶heiam, Phd. 99e). Nach der vorausgegangen Kritik an den Kosmologen ist klar, dass die Logoi, die Sokrates meint, sich nicht auf Dinge der sinnlich wahrnehmbaren Welt beziehen. Vielmehr ist ein hypothetisches Verfahren gemeint, bei dem eine Aussage zugrunde 502 Vgl. Anaxag., Fr. 12, nach Kirk, Die vorsokratischen Philosophen, 398. 503 Beim Ausdruck de¼teqor pkoOr handelt es sich um eine Metapher aus der Seefahrt, die im Vergleich zum Segeln die mühsamere Fortbewegung mittels Ruder bezeichnet. (D. Frede, Platons Phaidon, 120) 504 Gefragt wird nach den Formursachen und der Zielursache, um die aristotelische Unterscheidung der aitiai aufzugreifen.
Phaidon: Philosophie ist Einübung ins Sterben
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gelegt wird, die er im Sinn der Ursachenerklärung für die stärkste hält (rpoh´lemor 2j²stote kºcom dm #m jq¸my 1qqylem´statom eWmai), und sodann untersucht, was damit übereinstimmt (to¼t\ sulvyme?m).505 Diese Folgerungen nimmt er dann als wahr an. (Phd. 100a) Sokrates hat also logische Zusammenhänge im Sinn, die für ihn ein Wahrheitskriterium darstellen. Sinnvoll und berechtigt ist dieses Schlussverfahren aber nur, wenn die logischen Zusammenhänge auf metaphysische Ursachen zurückgeführt werden, die sie abbilden, nämlich auf die Ideen. Die Ideenannahme stand die ganze Zeit bereits im Hintergrund der Ausführungen. Sokrates geht davon aus, dass er mit diesem Gedanken nichts Neues einführt, sondern auf ein vielfach diskutiertes und bekanntes Philosophem zurückgreifen kann. Er setzt dabei voraus, dass es ein Schönes selbst für sich selbst gibt (rpoh´lemor eWma¸ ti jak¹m aqt¹ jah’ arto, Phd. 100b) und ebenso ein Gutes und ein Großes und entsprechend alles andere. Diese Ideen sind die Ursachen für ihre Instanzen, für deren Sosein ebenso wie für ihre Erkennbarkeit. Denn alles Schöne ist aus keinem anderen Grund schön, als dass es an jenem Schönen selbst, an der Idee des Schönen, teilhat (let´wei, Phd. 100c). Und zugleich ist das Schönsein einzelner schöner Dinge nur erkennbar in Bezug auf die allem zugrunde liegende Idee des Schönen. Und schließlich stehen die Ideen untereinander in einem hierarchisch geordneten Zusammenhang, der sich erschließt, wenn man nach dem beschriebenen Verfahren von den Hypothesen ausgehend immer höher aufsteigt, bis man zu einem letzten Hinreichenden kommt (ti Rjamºm, Phd. 101e). Worin dieses besteht, darüber hüllt sich Sokrates in Schweigen. Aber nach dem Vorausgegangenen dürfte klar sein, dass es eine Ursache nicht nur für das Sosein der Dinge ist, sondern vor allem für ihr Gutsein und ihre Bestheit und also für ihr Sein überhaupt. Dieses Letztbegründende zu finden, ist das Bestreben des Philosophen.506 Die Flucht weg von der sinnlich wahrnehmbaren Welt und hin zu den Logoi und zum reinen Denken, das den wahren Philosophen auszeichnet, ist also eine Flucht zu den nur geistig fassbaren Ideen. Sie erwächst aus der Ursachenerklärung und der Frage nach dem besten Zustand der Welt und also auch dem besten
505 Vgl. die Eingangsbemerkung, dass Sokrates die Philosophie stets für die beste Musik gehalten hat. (Phd. 61a) Jetzt zeigt sich, dass damit »das Zusammenklingende« und Zusammenhängende im Sinn der Kohärenz von Aussagen gemeint ist, die das Verhältnis von Ideen und Instanzen und von Ideen untereinander betreffen. D. Frede hält es deswegen für besser und aussagekräftiger, statt von einer »Flucht zu den Logoi« von einer »Zuflucht zur Ideenhypothese« zu sprechen. (D. Frede, a. a. O., 122) 506 Zum hypothetischen Verfahren und der Unterbestimmtheit wichtiger Begriffe wie der Teilhabe oder des Hinreichenden siehe D. Frede, a. a. O., 120 – 134; Ebert, Platon: Phaidon, 350 – 370.
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Der philosophische Tod
Leben und ist alles andere als ein Zeichen von Weltverneinung.507 Das geistige Sterben des Philosophen dient deswegen sogar zum guten und gerechten Leben. Dazu gehört auch das getroste leibliche Sterben. Sokrates ist nicht nur selbst eine glaubwürdige und beeindruckende Verkörperung dieser Überzeugung. Er legt sie zum Schluss des Phaidon auch noch in mythischen Bildern dar, die das unterschiedliche Schicksal der Seelen im Hades in Abhängigkeit von ihrer früheren Lebensführung schildern. Während die schlechten Seelen, die übel gelebt haben, in den Tartaros kommen, werden diejenigen, die ein heiliges und tugendhaftes Leben führten, befreit und gelangen hinauf in reine Wohnungen.508 Doch selbst unter ihnen zeichnen sich die Philosophen in besonderer Weise aus: Von diesen selbst leben die, die sich durch Philosophie hinreichend gereinigt haben, in der künftigen Zeit gänzlich ohne Körper und kommen in noch schönere Wohnungen als jene, welche zu schildern weder leicht ist, noch ist gegenwärtig hinreichend Zeit dafür vorhanden. (to}tym d³ aqt_m oR vikosov_ô Rjam_r jahgq\lemoi %meu te syl\tym f_si t¹ paq\pam eQr t¹m 5peita wq|mom, ja· eQr oQj^seir 5ti to}tym jakk_our !vijmoOmtai, $r oute Nõdiom dgk_sai oute b wq|mor Rjam¹r 1m t` paq|mti. Phd. 114c, Üb. Zehnpfennig)
Noch einmal wird auf »das Hinreichende« angespielt, das der Philosoph in seinem Streben nach Weisheit, Einsicht und Letztbegründung Zeit seines Lebens gesucht hat. Hat er es gefunden, kann er ganz getrost, ja sogar heiter sterben (l²ka Vkeyr, Phd. 117b), wie es die Freunde über Sokrates berichten. Er versäumt nichts mehr in diesem Leben und ist zuversichtlich, dass die »Auswanderung von hier nach dort« gelingen und glücklich sein werde (tµm leto¸jgsim tµm 1mh´mde 1je?se eqtuw/ cem´shai, Phd. 117c). Sein ganzes Philosophieren war ein Streben »von hier nach dort«, das im Tod zur Vollendung kommt. In dieser Weise hat Sokrates sein Leben im Kreis der Freunde beschlossen. Aber anders als er werden sie dennoch alle von tiefer Trauer ergriffen. Sie verlieren ihre Fassung über den Verlust des Freundes, je näher die Vollstreckung des Urteils rückt, so dass Sokrates sie ermahnen muss, man solle im Angesicht des Todes still und ruhig sein (Bsuw¸am %cete, Phd. 117e). Es ist, als ob die ganze Unterredung über die Unsterblichkeit der Seele und die Philosophie als Einübung ins Sterben vergeblich und »ins Wasser geschrieben« (Phdr. 276c) sei und nicht in die Seelen gesät. Mit einer Ausnahme, die fast vergessen sein könnte, weil sie bereits zu Beginn des Dialogs erwähnt wird: »Platon aber, glaube ich, war krank.« (Phd. 59b) Neben der Apologie (Ap. 34a, 38b) ist dies die einzige Stelle im platonischen Werk, an der der Autor Platon sich selbst als dramatis persona 507 Dass keine Weltflucht gemeint ist, betont auch Zehnpfennig, Platon: Phaidon, XVII f., XXXVIII f. 508 Vgl. die Parallele zum Körper als dem Gefängnis der Seele, aus dem sich der Philosoph durch seine geistige Übung befreit. (Phd. 82e)
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ins Spiel bringt. Es ist aber kaum anzunehmen, dass die Aussage auch zutrifft. Wenn jemand bis ins hohe Alter seinen Lehrer als Inbegriff eines Philosophen verehrt und darstellt, ist das eine außerordentliche Identifikation. Sollte sich so jemand von einer Krankheit abhalten lassen, und sei sie noch so schwer, die letzten Stunden mit seinem Lehrer und Freund zusammen zu verbringen und zu philosophieren? Das ist ganz unwahrscheinlich. Nicht zufällig sagt darum Phaidon auch einschränkend »glaube ich.« Platon selbst wird es wohl besser wissen. Was ist dann aber der Sinn dieser literarischen Krankmeldung? Hätte Platon zugestanden, dass er gleichfalls im Gefängnis zugegen war, wäre er in die dramaturgische Zwickmühle geraten, entweder wie die anderen anwesenden Freunde über den Tod von Sokrates die Fassung zu verlieren. Das aber hätte ihn als wahren Philosophen disqualifiziert. Oder er hätte sich als den einzig wahren Philosophen neben Sokrates schildern müssen, der ihn nicht nur besser versteht als die anderen, sondern auch wie dieser zur vollendeten Gemütsruhe (Bsuw¸a) gelangt ist. Doch diese Art der Selbstbezeugung passt nicht zu Platon. Er hat das Urteil anderen überlassen. Nur einen Wink in diese Richtung hat er mit seiner Krankmeldung gegeben, denn sie ist eine elegante Form indirekter Distanzierung von den anderen Schülern. Das Bild des heiter sterbenden Philosophen leuchtet vor diesem dunklen Hintergrund umso heller.
VI. Die philosophische Erkenntnis
Überblick In der Politeia wird ein philosophischer Erkenntnisweg beschrieben, der die jahrzehntelange Ausbildung eines philosophisch hoch begabten jungen Menschen umfasst, an dessen Höhepunkt die Schau der Idee des Guten steht. Durch die Erkenntnis des Guten ist der vollendete Philosoph qualifiziert für die verantwortungsvollen Aufgaben eines Herrschers im Staat und wird dafür in die Pflicht genommen. Der lange Schulungs- und Übungsweg dient zur Ausbildung und Festigung seiner intellektuellen und sittlichen Naturanlagen. Neben den propädeutischen mathematischen Fächer gehören dazu auch Erfahrungen im Staatsdienst. Die philosophische Schulung im engeren Sinn besteht jedoch in der Dialektik als Wissenschaft vom Seienden, von den Ideen. Sie allein gilt im strengen Sinn als Wissenschaft, weil sie nicht von unbewiesenen Prämissen ausgeht, sondern diese hinterfragt und zum Anfang alles Erkennbaren, zu einer Letztbegründung durchdringt. Dieser Anfang und Höhepunkt wird von Sokrates als Idee des Guten bezeichnet, aber nur gleichnishaft umschrieben. In drei berühmten Gleichnissen, dem Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis, werden die Bedingungen von Erkenntnis, die Gegenstände der Erkenntnis und die Pädagogik der Erkenntnis erläutert. Erst wer den Aufstieg zur Idee des Guten zu Ende gegangen ist, hat volle Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, nämlich der intelligiblen Welt des unveränderlichen Seins wie auch der politisch-sozialen Angelegenheiten der Menschen in der Welt des Werdens. Er überschaut das Ganze des Seins und des Erkennbaren und ist darum in der Lage, sein persönliches Leben wie auch das des Staates zum Guten zu lenken und Gerechtigkeit und Glück der Bürger zu gewährleisten. Gegenüber dieser praktischen Perspektive der Politeia wirkt der Sophistes wie ein theoretisch abgehobener Dialog, der sich vornehmlich mit komplizierten epistemologischen Fragen beschäftigt. Aber auch dieser Dialog hat seinen »Sitz im Leben«, nämlich die Verwechselbarkeit des Philosophen mit anderen Intellektuellen. Gesprächsführer des Dialogs ist ein hoch gebildetes Mitglied der
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Die philosophische Erkenntnis
Philosophenschule in Elea. Sokrates äußert gleich in der Eingangsszene die Vermutung, dass er und seine Freunden sich vor diesem Fremden wie vor einem prüfenden Gott für ihre Art von Philosophie rechtfertigen müssen. Das lässt die Gerichtsszene in der Apologie assoziieren, nur dass es sich diesmal um ein philosophisches Tribunal handelt. Ausgehend von der Frage nach der Erkennbarkeit des Philosophen wird nach unterscheidenden Kriterien gesucht. Woher weiß man, ob jemand ein Philosoph, ein Sophist oder ein Politiker ist? Sich darin zu täuschen, hätte gravierende Folgen. Das zeigt das Beispiel von Sokrates, der aufgrund eines solchen Justizirrtums verurteilt wurde. Doch statt sich selbst zu rechtfertigen und zu erklären, wie man es vor einem Prüfer erwarten würde, fordert Sokrates vom Fremden, die Unterschiede darzulegen. Er selbst beginnt von nun an zu schweigen. Der Fremde setzt mit der Darlegung des Sophisten ein, am nächsten Tag folgt der Politiker, während das dritte Gespräch über den Philosophen trotz der Ankündigung nicht mehr durchgeführt wird. Im Lauf des Sophistes zeigt sich, dass der Fremde auf subtile Weise ein ambivalentes Urteil über Sokrates fällt. Im Lehrgespräch mit dem jungen Mathematiker Theaitetos entwickelt er innerhalb kürzester Zeit nicht weniger als sechs verschiedene Definitionen des Sophisten, die alle in irgendeiner Form an Sokrates und dessen Art zu philosophieren erinnern, ohne dass die Beschreibungen gänzlich auf ihn passen. Besonders die sechste Definition der »edlen Sophistik« lässt an Sokrates denken. Denn sie betrifft das Prüfen von Meinungen auf Widerspruchsfreiheit, den elenchos, den sowohl die Sophisten als auch Sokrates beherrschen. Im Urteil des Fremden ist der elenchos philosophisch unzureichend, weil er nur negative Funktion hat. Im besten Fall dient er der Reinigung von falschen Meinungen in Vorbereitung einer positiven Lehre, die der Lehrer im Vortrag oder im Gespräch zielstrebig entwickelt. Hinter dem Ausdruck »edle Sophistik« steckt daher eine handfeste Kritik an der sokratischen Elenktik, die im Vergleich zur Lehre eines kundigen Philosophen als defizitär erscheint. Sokrates und der Fremde verkörpern zwei unterschiedliche Auffassungen von Erkenntnismethode und Pädagogik. Denn der Fremde führt keinen ergebnisoffenen Dialog mit Theaitetos wie Sokrates tags zuvor mit seinem jungen Freund im gleichnamigen Dialog Theaitetos, sondern ein Lehrgespräch, bei dem er das Ergebnis von Beginn an fest im Blick hat. Die Verwirrung des jungen Theaitetos über die verschiedenen Definitionen und die damit verbundene bunte Vielfalt der Erscheinungsbilder des Sophisten erklärt der Fremde unter Hinweis auf den Scheincharakter des Sophisten. Alle Definitionen haben gemein, dass der Sophist sich nur den Anschein von Erkenntnis gibt, aber nichts anderes zu bieten hat als Phantasiegebilde, als trügerische Bilder aus Worten. Mit dieser Definition ist das epistemologische Problem eingeführt. Denn die Verteidigung des Sophisten besteht darin, dass er bestreitet, dass es Schein gibt und damit auch Irrtum und Lüge. Wer nun den
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Scheincharakter von etwas behauptet, behauptet, dass dieses Etwas nicht wirklich ist. Kann man aber Nichtwirkliches und Nichtseiendes überhaupt denken und aussprechen? Oder muss man nicht wie Parmenides, der philosophische Vater des Fremden, eine solche Vorstellung strikt ablehnen? Weil aber die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen und damit der Primat des Wissens vor der falliblen Meinung für einen Philosophen konstitutiv ist, entscheidet sich der Fremde zum »Vatermord«. Er will gegen das Verdikt von Parmenides zeigen, dass das Sein in gewisser Weise nicht ist und das Nichtsein in gewisser Weise ist. Zu diesem Zweck referiert er seine Odyssee durch die philosophische geistige Landschaft. Er berichtet von den Widersprüchen und Unverständlichkeiten hinsichtlich der herrschenden Seinsvorstellungen und von dem Riesenkrieg, der darüber zwischen Materialisten und Idealisten entbrannt ist. Beide Positionen führen in Widersprüche, wenn sie ihre Sicht auf die Wirklichkeit verabsolutieren. Dazu zeigt der Fremde, dass dem Körper die Fähigkeit zur Veränderung eignet, diese aber selbst nichts Körperliches ist. Und umgekehrt, dass vom Sein nicht angenommen werden kann, dass es gänzlich unveränderlich ist, weil man sonst der Seele das Sein absprechen müsste. Denn der Seele eignet Vernunft und damit Bewegung als Voraussetzung ihrer Erkenntnistätigkeit. Eine Seele ohne Sein ist aber für den Philosophen gänzlich inakzeptabel und ein Widerspruch in sich. Denn Erkennbarkeit und Kommunizierbarkeit des Seins sind für ihn unverzichtbare Voraussetzungen seines Denkens und Redens. Damit hat der Fremde die Begriffe Ruhe und Bewegung als Bedingungen der Ermöglichung von Erkenntnis gewonnen und gezeigt, dass sie nicht mit dem Sein identisch sind. Im Folgenden verdeutlicht er an der Analyse einfacher Satzstrukturen, dass Sein ein Vermögen ist, Begriffe aufeinander zu beziehen, so dass sie miteinander harmonieren und das Satzgebilde eine erkennbare und verstehbare Struktur bekommt. Sein wird dabei nicht im Sinn einer Existenzbehauptung verstanden, sondern syntaktisch, weil die Kopula »ist« lediglich Satzglieder verbindet. Dieses Verbinden von Begriffen zu einem verstehbaren Satzganzen sei die »Wissenschaft der freien Menschen«, nämlich der Philosophen. Denn das Trennen nach Gattungen (t¹ jat± c´mg diaiqe?shai) und die Fähigkeit, die Ideen und Begriffe auseinanderzuhalten und nicht falsch zuzuordnen, gehört zur dialektischen Wissenschaft (t/r diakejtij/r 1pist¶lgr). Damit sei zuerst der Philosoph gefunden, obwohl sie den Sophisten suchten. Rückblickend ist diese Reihenfolge allerdings nicht so erstaunlich, weil am Dialogende der Sophist in Abhängigkeit vom Philosophen als dessen Schattenbild und Nachahmer definiert wird. Die besondere Sprachkompetenz des Philosophen bezieht sich allerdings nicht primär auf den Gegenstandsbereich der Alltagssprache, sondern wie in der Politeia auf das Ganze des Seins und auf die geistige, intelligible Welt. Denn der
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Die philosophische Erkenntnis
Philosoph ist durch sein Nachdenken immer mit der Idee des Seienden beschäftigt. Die Gegenstände seiner Untersuchung sind die göttlichen Ideen, die er mittels der dialektischen Erkenntnis durch Unterscheidung voneinander und in Abtrennung von ihren Instanzen erfasst. Dabei werden die Struktur des Seienden und deren Erkennbarkeit auf die Fähigkeit der Ideen zurückgeführt, miteinander in differenzierter Weise in Gemeinschaft zu treten. Der Fremde demonstriert das an den bereits eingeführten Begriffen Ruhe, Bewegung und Sein. Während Ruhe und Bewegung sich gegenseitig ausschließen und nicht direkt verknüpfbar sind, kann Sein sich mit dem einen wie dem anderen sinnvoll verbinden, ohne damit identisch zu sein. An dieser Überlegung gewinnt der Fremde die Begriffe Identität und Verschiedenheit. Denn jede Idee ist in Bezug auf sich selbst dasselbe und mit sich selbst identisch (taqtºm) und in Bezug auf ein anderes ein von diesem Verschiedenes (t¹ 6teqom). Identität und Verschiedenheit sind als formale Begriffe zur Strukturbeschreibung des Seienden unerlässlich, weil sie das Verhältnis der Ideen untereinander verdeutlichen. Zusammen mit den bereits genannten Begriffen Sein, Bewegung und Ruhe gehören darum Identität und Verschiedenheit zu den größten Gattungsbegriffen (l´cista c´mg), die für die Erkenntnistätigkeit grundlegend sind. Dieser erkenntnistheoretische Exkurs ist das Zentrum des Arguments im Sophistes und zielt auf die Lösung der Aporien über Sein und Nichtsein, auf die der Sophist zur Selbstverteidigung verweisen konnte. Denn wenn behauptet wird, dass etwas nur scheinbar zutrifft oder der Fall ist, dann wird keineswegs etwas Nicht-Wirkliches und Nichtseiendes im parmenideischen Sinn ausgesagt, etwas Nichtexistentes. Vielmehr wird ein vom Seienden Verschiedenes ausgesagt. Die Lösungsformel des Fremden lautet daher : Das Nichtsein ist das Verschiedene (t¹ 6teqom)! Damit kann er begründen, warum es Schein, Irrtum und Lüge gibt, was der Sophist ja bestreitet. Das Einfallstor für Irrtum und Lüge ist die falsche Art der Verknüpfung von Begriffen zu Sätzen, die sich nicht an der wirklichkeitsgemäßen Gemeinschaft der Ideen orientiert. Denn der Logos als Gedanke oder Satz steht in einem Abbildungsverhältnis zur Verflechtung der Ideen. Wer unphilosophisch und unmusisch ist wie der Sophist, bildet die Struktur des Seienden in seinen Aussagen nicht richtig ab, während die Wissenschaft der Dialektik, die sich der formalen Begriffe Sein, Identität und Verschiedenheit zur Verknüpfung und Unterscheidung bedient, das Seiende mittels des Logos richtig abbildet. Der Logos hat also herausragende Bedeutung für die philosophische Erkenntnis wegen des Abbildcharakters der komplexen Struktur des Seienden, ihrer immanenten Logik. Er eröffnet auf diese Weise dem Philosophen den Zugang zur Wirklichkeit. Er ist Erkenntnisgrund des Seienden und für die Philosophie unverzichtbar. Ohne Logos gibt es darum keine Philosophie. Wahre und falsche Rede sind gleicherweise Bilder aus Worten, das eine ein realistisches Bild, das andere ein irreales Scheinbild. Beides kann nur ausein-
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anderhalten, wer wie der Philosoph die richtigen Verknüpfungen und Unterscheidungen kennt. Vage Meinungen und Vorstellungen unterliegen dagegen der Möglichkeit von Irrtum und Täuschung. Das ist der Lebensraum des Sophisten. So gibt der Fremde jetzt seine abschließende Definition des Sophisten: Er ist ein ironischer Verfechter des Widerspruchs, der in Unkenntnis der Tugend aufgrund bloßer Meinung durch phantastische Scheinbilder den Weisen in seinen Reden nachahmt. Damit hat der Fremde seine Aufgabe erfüllt und sein Beweisziel erreicht. Aber Sokrates schweigt dazu, obwohl oder gerade weil auch in dieser letzten Definition das ein oder andere Merkmal wieder an ihn erinnert. Sokrates hatte den Fremden eingangs als »prüfenden Gott« bezeichnet. Es zeigt sich nun, dass dessen Urteil ambivalent ist. Denn die eigentliche Aufgabe der Philosophie, daran lässt der Fremde keinen Zweifel, ist nicht widerlegender Art wie der sokratische elenchos, sondern konstruktiv und systematisch. Über die Dramaturgie des schweigenden Sokrates und den ungeschriebenen Philosophos wurden viele Vermutungen angestellt. Es spricht manches dafür, dass im Sophistes zwei unterschiedliche Philosophiekonzeptionen einander gegenübergestellt und eine wissenschaftliche Methoden- und Grundsatzdiskussion in Szene gesetzt wird, die auf schulinterne Diskussionen verweist und innerakademische Entwicklungen reflektiert. Denn eleatische Philosophie wurde nicht nur in Elea, sondern auch in Athen und im Kreis der Akademie diskutiert. Dabei lässt die Mischung aus Wertschätzung und subtiler Kritik, die der Fremde erkennen lässt, weniger an Platon als vielmehr an die Enkelgeneration von Sokrates denken, zumal wenn es sich bei dem namenlosen Fremden um eine fiktive Gestalt handelt, wofür vieles spricht. Er repräsentiert einen neuen Typus des Philosophen, der andere wissenschaftliche Methoden reflektiert und offensichtlich der Lehre und dem Vortrag zugeneigter ist als dem prüfenden Gespräch. Er steht für eine neue Generation junger Philosophen, die sich nicht scheuen, ihre philosophischen Väter zu befragen und dabei andere Forschungsgebiete vorantreiben; die eine universale Wissenschaftsmethodik und -systematik entwickeln und Ontologie auf der Grundlage von Sprachanalyse betreiben; bei denen Ethik nur ein philosophisches Gebiet unter anderen ist und die Idee des Guten ihre alles Sein überragende Sonderstellung verloren hat. Mit dieser Art von Philosophie hat sich aber auch ihr Gegenspieler, der Sophist, verändert. Der Sophist, wie er hier definiert wird, ist keine historische Gestalt mehr wie die Sophisten der frühen sokratischen Dialoge, sondern eine fiktive Figur. Jeder kann dieser Sophist sein. Er ist zum alter ego des Philosophen geworden, zu seinem Schattenbild. Denn wenn der prüfende Dialog nicht mehr im gemeinsamen Gespräch seinen Platz hat, weil das einsame Nachdenken und die Lehre überwiegen, muss der elenchos nach innen verlagert werden, ins Denken, um der Möglichkeit von Irrtum und Lüge zu wehren. Sonst werden
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Die philosophische Erkenntnis
Phantasiegebilde aus Worten geboren. Wenn Sokrates ins Schweigen verfällt, ist der Sophist nicht weit. Darum gilt es gerade für diesen neuen Philosophentypus, sich der dialogischen Grundstruktur des Denkens bewusst zu werden und Sokrates im inneren Dialog wieder eine Stimme zu geben. Im Philebos, einem der spätesten Dialoge, kehrt nicht nur Sokrates als Gesprächsführer zurück, sondern auch die alte Frage nach dem guten Leben. Nach dem Aufstieg aus der Höhle in die intelligible Welt und das Licht der Sonne oder in die Höhenluft der Betrachtung der Gemeinschaft der Ideen und der logischen Struktur des Seienden folgt jetzt gleichsam wieder der Abstieg hinunter in das leib-seelische Leben, in das »Leben von uns«. Während Philebos und sein Stellvertreter Protarchos die These vertreten, dass das Gute in der Lust besteht, hält Sokrates dagegen, dass Vernunft und Einsicht mit dem Guten identisch seien. Aber weder die Lust- noch die Vernunftthese bestehen die Prüfung und müssen in ihrer starken Form verworfen werden. Sie genügen beide nicht dem Autarkiemerkmal des Guten, vollendet und selbstgenügsam zu sein. Darum ist weder ein Leben wünschenswert, das nur die Lust ohne Vernunft kennt, noch umgekehrt ein Leben der Vernunft ohne Lust. Das gelingende und gute Leben hängt dagegen entscheidend von der richtigen Mischung von Vernunft und Lust ab, von befriedigenden und regulativen Kräften im Menschen. Sokrates dies am Bild des Handwerkers, der aus verschiedenen Materialien ein gewünschte Produkt zusammenzusetzen und zu mischen vermag. Die Untersuchung geeigneter Ingredienzien für ein gutes Leben beginnt mit der Unterscheidung von reinen und gemischten Lüsten. Ganz entsprechend werden auch die Künste und Kenntnisse untersucht. In einer ersten Dihairese werden handwerkliche von bildenden Künsten unterschieden und diese jeweils wieder gemäß ihren Methoden in mathematische und empirische Künste. Bei den im engeren Sinn mathematischen Fächern wird sodann die angewandte Mathematik von der reinen Mathematik abgetrennt. Während die angewandte Mathematik als Hilfsmittel für lebensweltliche Zwecke dient, ist die reine Mathematik mit der Untersuchung der reinen Zahlen beschäftigt und nicht anwendungsbezogen. Es sind streng genommen homonyme, aber dennoch unterschiedliche Disziplinen, deren eine sich auf das Sicht- und Vorstellbare bezieht, den Bereich der Wirklichkeit, der in der Politeia bqatºm genannt wurde, und deren andere das nur Denkbare zum Gegenstand hat, das mogtºm. Diesem Unterschied der Gegenstandsbereiche des Mathematischen entspricht ein Unterschied im Grad der Reinheit und Gewissheit der Erkenntnisse aufgrund einer geringeren oder größeren Genauigkeit. Die Philosophen sind lediglich an der reinen Mathematik interessiert, an den Zahlen als unveränderlichen Einheiten und an der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten. So führt diese Einteilung der Künste zu einer Hierarchie der Wissenschaften gemäß ihrem Grad an Genauigkeit und Wahrheit in Abhängigkeit von ihren Gegenständen.
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Obwohl sich die Philosophen der reinen Mathematik bedienen, sind Philosophie und Mathematik aber doch nicht identisch. Reine Mathematik ist im besten Fall philosophische Propädeutik. Philosophie im engeren und eigentlichen Sinn ist allein die Dialektik. Denn die Dialektik fasst das ontologisch Gewisse, Genaue und Wahre ins Auge. Der Dialektik als Wissenschaft vom wahrhaft Seienden entspricht im Menschen das Vermögen, das Wahre zu lieben und alles um seinetwillen zu tun. Dieses Vermögen der Seele ist identisch mit Vernunft und Einsicht, also mit dem Seelenteil, der in der Politeia als philosophisch charakterisiert wurde und dem in der Seele die Leitungsfunktion für alle ihre Teile und damit auch für den ganzen Menschen zukommt. Die Dialektik erstrebt selbst keine Kenntnisse über die sinnlich wahrnehmbare Welt, aber übt über die wahrnehmungsbezogenen Kenntnisse und Lüste die Leitungsfunktion aus. Denn beide gehören zum Menschen als einer Verbindung von Leib und Seele und sind für ein gelingendes Leben notwendig. Weltuntüchtigkeit ist kein spezifisches Kennzeichen des Philosophen. Der Nutzen der Dialektik liegt vielmehr in ihrer Unterscheidungskompetenz. Sie erkennt die Eigenheit jeder Lust und kann reine, gute von schlechten, unvernünftigen Lüsten unterscheiden. Anders als die schlechten Lüste werden die reinen als positive Lebenskräfte zum guten Leben zugelassen. Von den Wissenschaften braucht der Philosoph dagegen keine auszuschließen, weil Kenntnisse grundsätzlich keinen Schaden anrichten, vor allem wenn darüber die Kenntnis der immerseienden Wesenheiten wie des Wahren und Guten thront. Dieses regulative und normative Wissen, das der Dialektik eignet, gewährleistet die einträchtigste Verbindung von Vernunft und Lust zur Mischung des guten Lebens. Die Dialektik ist also nicht nur auf Ideenerkenntnis und das transzendente Sein beschränkt. Ihr kommt auch eine vermittelnde Funktion zwischen der Welt der Ideen und der Sinnenwelt zu, die in ihrer Bedeutung für ein gutes Leben und das Glück des Menschen nicht geleugnet wird. Weil das menschliche Leben zwischen der gänzlichen Lustorientierung der Tiere und der reinen Vernünftigkeit der Götter steht, ist dem Menschen eine aus Vernunft und Lust gemischte, maßvolle Lebensform aufgegeben. Die Logoi sind als Medium der Dialektik das geeignete Mittel der Wahl, um dieses Ziel zu erreichen. Denn durch seine Liebe zu den Reden ist der Mensch vor andern Lebewesen ausgezeichnet. Weil der Mensch das Gute nicht direkt erfassen kann, sondern nur in Gestalt von Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit und die Musen deren göttliche Verkörperungen sind, steht er unter dem besonderen Schutz der »Muse der Philosophie«, die über die Harmonie der schönen Reden wacht. Das anmutige Bild der »Muse der Philosophie« versinnbildlicht noch einmal die Bedeutung der Liebe zum Schönen als Quelle der Inspiration: für das Streben nach göttlicher Weisheit wie auch für ein gelingendes menschliches Leben.
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Die philosophische Erkenntnis
1.
Politeia: Vom Werden zum Sein
1.1.
Die philosophische Natur und ihre Gefährdung
In der Politeia509 findet sich an zentraler Stelle, nämlich ungefähr in der Mitte des Dialogs, eine Aussage, an der viele Menschen Anstoß genommen haben. Sie betrifft das Verhältnis von Philosophen und Staat: dass es nämlich erst dann ein Ende der Übel in den Staaten und sogar für das Menschengeschlecht gäbe, wenn entweder Philosophen die Herrschaft ausüben oder aber Könige und Machthaber zu Philosophen werden, wenn also Politik und Philosophie zusammenfallen. (R. 473c f.) Sokrates weiß, dass er hier ein Paradox vorträgt (paq± dºnam, R. 473e), welches der allgemeinen Meinung völlig entgegensteht. Aber er sieht keine andere Möglichkeit für das Glück der Menschen, weder im privaten noch im öffentlichen Leben. Nun ist dieser Satz nicht deswegen anstößig, weil die Verbindung von Politik und Philosophie im antiken Griechenland völlig abwegig wäre. Auch Sophisten wie Gorgias und Isokrates waren entweder selbst politisch tätig oder bildeten Politiker aus.510 Ärgerlich für die meisten Athener und auch viele Heutige ist vielmehr die Behauptung, dass die Philosophenherrschaft eine notwendige Bedingung für das Ende der politischen Schrecken und das Glück der Menschen sein soll. Denn erfahrungsgemäß traf das Gegenteil zu.511 Viele derjenigen, die die meiste philosophische Bildung genossen hatten, haben das größte Unglück über die polis gebracht. Die Skepsis gegenüber den Philosophen sitzt deswegen tief im Volk. In seinen Augen sind die Philosophen wunderlich und schlecht und nur wenige unter ihnen im besten Fall politisch unbrauchbar. (R. 498c ff.) Sokrates stimmt dem Einwand sogar zu, denn ebenso wenig wie es bisher einen vollkommen gerechten Staat gab, haben die Leute einen vollkommen gerechten und tugendhaften Menschen erlebt, eben einen wahren Philosophen. Das würde sich erst ändern, wenn die wenigen Philosophen, die jetzt als 509 Die Politeia ist der Dialog, in dem sich mit Abstand die meisten Belegstellen zum Philosophiebegriff im Werk Platons finden, nämlich insgesamt 109-mal. Die bei dieser Arbeit zugrunde gelegte Methodik, alle Vorkommen des Begriffs im jeweiligen Dialogkontext zu besprechen, stößt dabei an Grenzen. Es wäre eine weitere Arbeit vonnöten. Darum schien mir hier eine Beschränkung auf die zentralen Gedanken des Philosophieverständnisses der Politeia sinnvoll, wobei der Schwerpunkt auf der philosophischen Begabung und deren angemessener Ausbildung liegt sowie der Umwendung der Seele vom Werden zum Sein bei ihrem Aufstieg zur Idee des Guten. Angesichts der Fülle der Literatur zur Politeia sei unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung vor allem verwiesen auf den Sammelband von Höffe, Platon: Politeia; auf Kersting, Platons Staat; Rufener/Szlezk, Platon: Der Staat; Reeve, Philosopher-Kings; sowie Notomi, Plato: Republic. 510 Siehe a. Ti. 20a und S. 161 f. Vgl. a. die Charakterisierung von Solon als Philosoph bei Herodot (Hdt. I 30,2) u. S. 29, zu Isokrates s. S. 38 f. 511 Siehe dazu vor allem die Diskussion um die Schrift von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.
Politeia: Vom Werden zum Sein
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unnütz verschrien werden, durch eine äußere Notwendigkeit genötigt wären, für die Stadt Sorge zu tragen, oder wenn durch eine göttliche Eingebung jungen, künftigen Königen eine wahre Liebe zu wahrer Philosophie eingeflößt würde (!kghim/r vikosov¸ar !kghim¹r 5qyr 1lp´s,, R. 499c). Das Problem sind für Sokrates daher nicht die Philosophen oder gar die Philosophie selbst. (R. 489d f.) Problematisch sind vielmehr einerseits die falschen und nur so genannten Philosophen, die entweder keine gute Veranlagung mitbringen oder aber durch ihre Umgebung verdorben werden und deswegen die Philosophie in Verruf bringen, und andererseits ein Staat, der so sehr vom Übel beherrscht wird, dass er die wenigen mit einer guten philosophischen Natur nicht sachgemäß ausbildet und im politischen Leben von ihnen keinen Gebrauch macht. Es ist ein circulus vitiosus: ohne einen gerechten Staat keine Förderung potentieller Philosophen und ohne wahre Philosophen keinen gerechten Staat. Dennoch will sich Sokrates nicht damit zufrieden geben, dass der gerechte Staat bloß ein Ideal und frommer Wunsch bleibt und ebenso sein analogon, der wahrhafte Philosoph, der für das Gemeinwohl politische Verantwortung trägt. (R. 499c, 540d) Sokrates gesteht zu, dass die Realisierung schwer, aber doch nicht unmöglich ist. Eine solche Ausnahmesituation sieht er bei großer äußerer Not gegeben oder durch göttliche Fügung. Im ersten Teil der Politeia beschäftigt sich Sokrates mit dem Entwurf eines paradigmatischen, gerechten Staates. Im zweiten Teil, der mit dem Philosophenkönigssatz beginnt, reflektiert er die Bedingungen von dessen Realisation.512 Zur Verteidigung seiner provokanten These über die Philosophenherrschaft bestimmt Sokrates den Philosophen als jemanden, der nicht auf die Vielfalt der Dinge Acht hat, sondern sich dem Einheitlichen zuwendet, das den vielen Erscheinungen zugrunde liegt. Denn während die schaulustige Menge nach vielen schönen und guten Dingen strebt, die aber nur von relativer Schönheit sind: in mancher Hinsicht schön, in anderer weniger,513 sind die Philosophen »schaulustig nach Wahrheit«. (R. 475e) Sie fragen nach der Idee, der einheitlichen, unveränderlichen Gestalt (eWdor, R. 476a), die allem Schönen, Guten und Gerechten zugrunde liegt und die kein Mehr oder Weniger kennt. Die meisten Menschen lieben zwar schöne Dinge, sind aber unfähig, »das Schöne 512 Auf die sich durch das Werk hindurch ziehende Analogie von Seele und Staat kann hier nicht näher eingegangen werden, obwohl deren Ergebnisse, zum Beispiel die Bedeutung des leitenden, philosophischen Seelenteils für das Wohl und die Harmonie der ganzen Seele, in diesen Überblick einfließen. In anderen Kapiteln dieser Arbeit wurde auf die Konzeption der Seele bereits ausführlicher eingegangen, siehe dazu das Phaidros-Kapitel, S. 278 ff., 290 f. und im Timaios-Kapitel S. 170 ff., 175 ff. Die Analogie von Staat und Seele und die Konzeption der Seele als einer »polis im Menschen« untersucht eingehend Blößner, Dialogform und Argument, 152 – 213. 513 Vgl. dazu die Beschreibung des Schönen selbst in Abgrenzung zu dessen Instanzen, den schönen Dingen, in Smp. 210e – 211b und S. 260 f.
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Die philosophische Erkenntnis
selbst« (aqt¹ d³ j²kkor, R. 476c) zu erkennen und zu lieben. Der Philosoph hingegen erkennt den Unterschied zwischen der Schönheit selbst und den schönen Dingen, die an ihr teilhaben (t± 1je¸mou let´womta, R. 476d). Was für das Schöne gilt, trifft auch auf ethische Wertprädikate wie das Gute und Gerechte zu. (R. 479e) Wer nicht wie der Philosoph zwischen Idee und Instanz zu unterscheiden vermag, »träumt« nur von den Dingen, (R. 476c) weil er ihr wahres Sein verkennt. Er hat lediglich eine mehr oder weniger zutreffende Meinung (dºna, R. 476d) über sie und unterliegt deswegen der Gefahr der Täuschung und Verwechslung. Der Philosoph hingegen ist kein Träumer, sondern er lebt im Wachzustand, weil er um den fundamentalen ontologischen Unterschied zwischen der unveränderlichen, vollkommenen Idee und den veränderlichen, partikularen Realisationen weiß. Er liebt das vollkommen Seiende, das auch vollkommen erkennbar ist (t¹ l³m pamtek_r cm pamtek_r cmystºm, R. 477a). Wer nun dasjenige liebt (vike?m), wovon es Erkenntnis (cm_sir) gibt, nämlich jegliches Seiende selbst (aqt¹ %qa 6jastom t¹ em), der wird zu recht ein Philosoph (vikºsovor) genannt und nicht ein Meinungsliebender (vikºdonor). (R. 480a) Mit dieser Definition des Philosophen begründet Sokrates dessen Eignung zum Führer im Staat. Denn weil man einem Träumenden die Führung des Staates nicht anvertrauen würde, sind nur wenige Menschen, nämlich die Philosophen, zur Herrschaft qualifiziert. Wer »das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende«, also die Ideen des Guten und Gerechten und Schönen, erfassen kann, wird als Wächter der vielfältigen Gesetze und Sitten im Staat nicht irregeleitet. (R. 484b) Neben dieser epistemischen Eignung sind aber auch noch Tugend (!qet¶) und Erfahrung (1lpeiq¸a) als sittlich-praktische Voraussetzungen nötig, damit der Philosoph seiner staatstragenden Funktion auch wirklich gerecht wird. (R. 484d) Darum gilt es, zunächst einmal die Natur des Philosophen zu verstehen sowie über die angemessene Ausbildung und Förderung seiner natürlichen Veranlagung nachzudenken. Diese Überlegungen stehen im Zentrum der Politeia und nehmen die Bücher VI und VII ein. Die philosophische Natur zeichnet sich durch verschiedene Fähigkeiten aus.514 Dazu gehört als grundlegendes Kennzeichen 1. die Liebe zu jeder Art von Kenntnissen, insbesondere aber zu denen, die das Immer-Seiende betreffen, das nicht partikular und veränderlich ist. (R. 485a f.) Dadurch wird die natürliche Neigung von Anfang an auf Ideenerkenntnis ausgerichtet, auch wenn sie noch nicht ausgebildet ist. Damit geht 2. die Liebe zur Wahrheit einher, denn die Wahrheit ist der Weisheit, der sophia, verwandt.515 (R. 485c) Weil der Philosoph 514 Zu den natürlichen Anlagen des Philosophen vgl. die Arbeit von Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 246 – 262. 515 Zur herausgehobenen Stellung der Wahrheit im Tugendkatalog der natürlichen Anlagen vgl. Szaif, Die AlÞtheia in Platons Tugendlehre, 184, 186 – 193.
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definitionsgemäß die Weisheit liebt, liebt er auch die Wahrheit und kann sich nicht gegen sie stellen. Von Jugend an strebt der Wissbegierige bei allen seinen Untersuchungen und Urteilen nach Wahrheit und würde dem, was er als falsch erkannt hat, nie trauen. Weil er 3. eine natürliche Lust an Kenntnissen und an Wahrheit hat, erstrebt er sie. Die Lust, die er empfindet, wenn die Seele »allein für sich selbst ist«, fördert nicht nur die Konzentration auf die geistige Wirklichkeit, sondern bewirkt auch Zurückhaltung gegenüber den leiblichen Lüsten. (R. 485d) Die philosophische Natur neigt darum zu Besonnenheit und Mäßigung. Weiterhin sind ihm Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit fremd, weil er 4. immer auf das Ganze und Vollständige ausgerichtet ist, sowohl im Bereich des Göttlichen und Intelligiblen als auch in den menschlichen Angelegenheiten. Deswegen sind ihm edle Gesinnung und Weitsichtigkeit zu eigen, die ganze Zeiträume überschaut und das ganze Sein. (R. 486a) Aus eben diesem Grund ist er auch frei von Todesfurcht, weil er nicht glaubt, dass das menschliche Leben etwas Großartiges sei und viel wert. Er kennt und erstrebt Größeres, ohne herumzuprahlen, ist nicht feige oder ungerecht, sondern rechtschaffen und von mildem, freundlichem Gemüt, kurz: Er ist 5. mit guter Sittlichkeit begabt. (R. 486b) Auch sind 6. seine intellektuellen Fähigkeiten herausragend, denn er verfügt über eine gute Auffassungsgabe und gutes Gedächtnis. (R. 486c f.) Und schließlich ist er 7. innerlich ausgeglichen, dem Unmusischen und der Unmäßigkeit feind und der Anmut und dem Wohlbemessenen freund. (R. 486d) Diese guten kognitiven und sittlichen Eigenschaften, von denen Sokrates überzeugt ist, dass sie miteinander zusammenhängen, sind je einzeln notwendig, aber erst zusammen hinreichend für eine philosophische Veranlagung. Ohne diese Voraussetzungen zu erfüllen, wird nie jemand zur »Idee eines jeden, was wirklich ist« hingeführt werden können. (R. 486d f.) Das heißt aber, dass niemand, dem auch nur eine dieser Eigenschaften fehlt, ein Philosoph werden kann. In dieser Aufzählung fehlt allerdings eine Bestimmung, die bereits zuvor ausführlich diskutiert wurde, weil sie in der damaligen Zeit fast so anstößig war wie die Forderung nach der Philosophenherrschaft. Sokrates bestreitet nämlich, dass die philosophische Natur allein den Männern eignet.516 Der Unterschied 516 Für die besondere intellektuelle Begabung der Männer und deren mythologisch begründetes Vorrecht auf die Philosophie argumentiert beispielhaft Pausanias im Symposion, siehe S. 228. Dass diese Front aber bereits bröckelte, geht zum einen aus dem Spott von Aristophanes über die philosophisch ambitionierte Praxagora in der Weibervolksversammlung hervor (Ar. Ec. 571 ff.), siehe S. 31. Zum anderen werden von Platon im Menexenos mit Aspasia, der Frau von Perikles, und im Symposion mit der Priesterin Diotima als Lehrerin von Sokrates, Frauen eingeführt, die nicht nur Nebenrollen in der Philosophie einnehmen. Dass die philosophische Gleichberechtigung der Frauen in der Politeia Schule machte, wird auch durch den Bericht unterstrichen, dass zur Zeit von Platons Nachfolger Speusippos, eventuell schon früher, zwei Frauen Mitglieder der Akademie waren. Diogenes Laertios berichtet namentlich von Axiothea von Phleius und Lastheneia von Mantineia. (DL III 46;
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zwischen Männern und Frauen betrifft die verschiedene körperliche Konstitution und hat ihren Sinn im Zusammenhang der Fortpflanzung. Die seelischen Anlagen hingegen sind bei Frauen ähnlich divergent wie bei Männern. So gibt es auch unter ihnen einige, die ausgesprochen philosophisch begabt sind, und andere, die ihre Stärken eher dem mutigen Seelenteil verdanken oder andere Gaben haben. Darum sollen die Begabungen der Frauen durch die gleichen Übungen gefördert werden wie die der Männer, damit sie auch zu den gleichen Aufgaben herangezogen werden können. Auch Frauen sind ausdrücklich als Philosophenherrscherinnen im gerechten Staat zugelassen und bei gleicher Eignung zu berufen. (R. 456a – 457b, 540c) Als 8. Bestimmung der philosophischen Natur ist also festzuhalten, dass sie nicht geschlechtsspezifisch ist. Eine philosophische Veranlagung macht aber noch keinen Philosophen aus. Vielmehr müssen die philosophisch Begabten durch angemessene Ausbildung (paide¸ô) und Alter (Bkij¸ô), also menschliche Reife, vollendet werden (tekeiyhe?si), bevor ihnen die Leitung im Staat anvertraut werden darf. (R. 487a) Die Ausbildung umfasst darum wissenschaftliche Kenntnisse wie auch praktische Erfahrung im Staatsdienst. Das Alter als solches bietet zwar keine Gewähr für menschliche Reife, aber der junge Mensch ist zu leicht verführbar, als dass er zu den höchsten Kenntnissen, der Schau der Idee des Guten, zugelassen werden dürfte, bevor er nicht ungefähr das fünfzigste Lebensjahr erreicht hat. Die Hürden für den angehenden Philosophen werden hoch gesteckt. Der Sinn dieses langen Ausbildungsgangs liegt in der Bewährung des angehenden Philosophen und in der Scheidung der Geister. Erst die drei Säulen Naturanlage, Erziehung und Reife gewährleisten den wahren, vollendeten Philosophen, der die Herrschaft im Staat nicht missbrauchen, sondern ihn zum Guten lenken würde. Es ist offensichtlich, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die so hoch begabt sind, dass sie alle Anlagen einer philosophischen Natur in sich vereinen. (R. 491a f.) Bei den meisten findet sich nur ein Teil davon. Entweder gehören sie zu den Gelehrigen, Gedächtnisstarken, Geistesgegenwärtigen und Scharfsinnigen, denen es aber oft an sittlicher Beharrlichkeit, innerer Ruhe und Stärke mangelt, weil ihr wendiger Geist sie umher treibt. Umgekehrt sind die Zuverlässigen und Beständigen, auf die sich das Gemeinwesen in Krisensituationen am sichersten verlassen kann, im Lernen eher langsam und schwerfällig. (R. 503b-d) Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, dass die meisten nicht allen Anforderungen, die berechtigterweise an einen Philosophenherrscher gestellt werden, gewachsen sind. Zudem kann jede der genannten Begabungen entarten und sogar die Seele verderben und von der Philosophie abführen. Intelligenz, Mut, Beharrlichkeit und dergleichen innere Gaben und erst recht die äußeren IV 2) Allerdings ist die Historizität umstritten. Literatur siehe bei Erler, Platon, PhdA 2/2, 54.
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wie Schönheit und Reichtum sind keine Werte an sich, sondern können, falsch eingesetzt, Schlimmes bewirken. Zur Erläuterung verweist Sokrates auf andere Lebewesen, auf Pflanzen und Tiere. Sie alle benötigen den richtigen, ihnen gemäßen Nährboden und Nahrung (tqov¶, R. 491d), um sich bestmöglichst zu entwickeln.517 Müssen sie aber unter ungünstigen Bedingungen wachsen, können sie die ihnen gemäße Veranlagung nicht zum Besten entfalten. Gleiches gilt für Menschen. Genialität allein reicht für den Philosophen nicht aus. Sie kann zum Guten wie zum Schlechten ausschlagen und ebensoviel Gutes wie umgekehrt auch größtes Übel hervorbringen. (R. 491e) Damit hatten die Athener reiche Erfahrung. Das steht auch im Hintergrund ihrer Skepsis und der Ablehnung der so genannten Philosophen, die sie als schlecht apostrophieren. Zwar nennt Sokrates keine Namen. Aber der Gedanke an Männer wie Charmides, Kritias oder Alkibiades liegt nahe, zumal sie zum Kreis der Verwandten und Freunde von Glaukon und Adeimantos gehören, den beiden Brüdern Platons, mit denen sich Sokrates hier unterhält. Niemand würde leugnen, dass diese jungen Leute aus besten Häusern überdurchschnittlich begabt waren. Aber sie führten Athen nicht ins Glück, sondern ins Unglück. Die Ursachen einer solchen negativen Entwicklung sieht Sokrates allerdings weniger in einer mangelnden oder schlechten Naturanlage. Vielmehr haben auch äußere Umstände, unter denen die jungen Leute aufwachsen, einen verderblichen Einfluss. Den üblichen Vorwurf, dass die »Sophisten«, mit denen sie Umgang pflegen, die Jugend verderben, weist Sokrates zurück, wohl nicht zuletzt, weil dieser Vorwurf auch ihm gemacht wurde.518 Er betont vielmehr die verführerische Wirkung von öffentlichem Lob und Tadel, gegen die auch die beste Erziehung kaum etwas auszurichten vermag. (R. 492a-c) Um gegen den Strom zu schwimmen, besitzen die jungen Leute noch nicht die sittliche Kraft, so dass sie mehr auf die öffentliche Meinung hören als auf ihre Erziehung. Denn sie sind in ihren Wertmaßstäben noch nicht gefestigt. Drohen gar Ehrverlust, äußere Sanktionen oder der Tod, bleiben wohlmeinende Reden, die sie umstimmen wollen, wirkungslos. (R. 492c f.) Kommt dann noch der Anspruch einer großen Familientradition dazu und das Eigeninteresse der Verwandten und Freunde an einem politischen Engagement der Nachwuchskräfte, führt das fast unvermeidlich zu Selbstüberschätzung und zu unvernünftiger Aufgeblasenheit.519 (R. 494c f.) Intellektuell mögen 517 Zur Doppelbedeutung von tqov¶ als Nahrung und Erziehung und den prägenden Einfluss äußerer Eindrücke auf die Denkfähigkeit der menschlichen Seele siehe a. S. 158, 175, 176 ff. 518 Es ist hier offensichtlich Platons Interesse, vor allem seinen Freund und Lehrer Sokrates freizusprechen, denn andernorts werden die Sophisten in ihrem Einfluss auf die Jugend sehr kritisch bewertet, so in Prt. 313a – 314b. Zu dem Vorwurf, dass die Sophisten die Jugend verderben, siehe Ap. 23d und S. 112. 519 Zur Perversion der philosophischen Natur durch den Einfluss der Menge und den Verruf der Philosophie durch die Sophisten vgl. a. Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 262 – 269.
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die jungen Leute den Älteren zwar oft überlegen sein, aber ihnen fehlt die nötige sittliche Reife. (R. 539c f.) Darin sieht Sokrates die hauptsächlichen Ursachen für das Verderben einer guten philosophischen Natur, so dass sie zu Recht als »schlechte« Philosophen bezeichnet werden. Viele Dialoge Platons bieten reiches Anschauungsmaterial für diese Analysen. Auch dürfte es kein Zufall sein, dass seine Brüder Glaukon und Adeimantos hier Gesprächspartner von Sokrates sind. Sie stehen wohl stellvertretend für Platon selbst, der sich dem Drängen der Familie auf politisches Engagement widersetzt hat und sich hier indirekt rechtfertigt. So ist er zwar nicht den »schlechten«, wohl aber den von der Menge als »unnütz« apostrophierten Philosophen zuzurechnen. Über sie sagt Sokrates, dass sie vor dem Schicksal des Verderbens ihrer guten Naturanlage bewahrt bleiben, weil sie entweder durch äußere Umstände wie Verbannung oder Krankheit an politischer Tätigkeit gehindert sind, oder durch innere Einwirkungen wie das Daimonion oder göttliche Hilfe und ein göttlich bestimmtes Schicksal einen anderen Weg geführt werden. (R. 496b f., 492a, 493a, 592a) Zu diesen wenigen, die aufgrund einer göttlichen Führung vor dem Verderben ihrer philosophischen Natur bewahrt werden, dürfte sich Platon zählen. Sie befassen sich insofern würdig mit der Philosophie, als sie zumindest im Privaten versuchen, ein gerechtes Leben zu führen, weil sie im realen Staat keine Verbündeten finden. (R. 496c-e) Sollte sich an dieser Situation etwas ändern, so ginge das nur durch eine angemessene Schulung in einem Staat, der diese Schulung begleitet und fördert. Mit der Gründung der Akademie hat Platon versucht, einen solchen Kreis von philosophischen Freunden und Verbündeten aufzubauen. Das sizilische Experiment einer politischen Umsetzung ist jedoch, wie der VII. Brief anschaulich schildert, zum Scheitern verurteilt gewesen. Nichtsdestotrotz liegt nach Sokrates – und damit indirekt auch nach Platon – das eigentliche Hindernis nicht im Nichtwollen, sondern im Nichtkönnen, (R. 497e) nicht in fehlender Bereitschaft, sondern in mangelnder Möglichkeit.
1.2.
Die Umwendung der Seele vom Werden zum Sein
Die Richtigkeit und Notwendigkeit philosophischer Schulung wird dadurch aber nicht infrage gestellt. Und auch nicht die Hoffnung, dass sich das Volk für die wahren Philosophen einnehmen lässt, wenn es erkennt, dass seine Ablehnung nur den schlechten Philosophen gilt, durch welche die Philosophie ungebührlich verlästert wird. So wie selbst große philosophische Naturen durch falschen Umgang und schädlichen äußeren Einfluss verdorben werden, wirkt umgekehrt richtiger Umgang und gute Schulung positiv auf die Ausbildung und Stärkung der Naturanlagen. Darum ist es unbedingt notwendig, dass der angehende
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Philosoph sich zunächst von den Geschäften der Menschen mit ihren Streitereien und also aus dem politischen Alltag zurückzieht. (R. 500b f.) Denn es ziemt der Philosophie nicht, sich immer mit der Welt des Werdens zu beschäftigen, weil dadurch selbst die besten Anlagen verdorben werden. Vielmehr muss, wer ein wahrer Philosoph werden will, seine Gedanken auf das Sein richten und auf das Wohlgeordnete und sich immer Gleichbleibende schauen (eQr tetacl´ma %tta ja· jat± taqt± !e· 5womta bq_mtar ja· heyl´mour), um das göttliche Sein nachzuahmen und sich ihm so weit wie möglich anzugleichen (taOta lile?sha¸ te ja· fti l²kista !voloioOshai). Denn dort finden sich, anders als unter Menschen, weder Unrecht noch Unordnung. (R. 500c) Die Begründung für diese Kontemplation ist einfach: Womit man gern zusammen ist und Umgang pflegt, das ahmt man unwillkürlich nach. Das galt im Schlechten für den verderblichen Einfluss von Lob und Tadel, Ehre und Macht. Das gilt nun analog auch im Guten für das Seiende und die göttlichen Ideen, die der philosophischen Natur gemäß sind. Der Rückzug aus der Welt des Werdens in die Welt des Seins ist ein zeitweiliger, aber dennoch notwendiger, wenn es einen Ausweg aus dem circulus vitiosus geben soll, dass Schlechtes Schlechtigkeit gebiert. Wer das Wahre und Gute sucht und liebt, muss sich darum dem göttlich Wahren und Guten zuwenden: Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Menschen möglich ist. (He¸\ dµ ja· josl¸\ f ce vikºsovor blik_m jºsliºr te ja¸ he?or eQr t¹ dumat¹m !mhq¾p\ c¸cmetai7 R. 500c f., Üb. Schl.)
Der Gedanke der Angleichung an Gott, der homoiosis theo, findet sich des Öfteren im platonischen Werk.520 Er ist für Platon von großer Bedeutung. Hier in der Politeia wird besonders deutlich, dass er aus einer inneren Notsituation erwächst. Mangels positiver Vorbilder, die einer kritischen Prüfung standhalten, bleibt einem heranwachsenden Philosophen nur die Orientierung an der Welt der Ideen, wenn er den verderblichen äußeren Einflüssen etwas entgegensetzen will. Dieser Rückzug in die Innerlichkeit ist für die Formung der Seele notwendig, aber kein Selbstzweck. Er dient der Stärkung des inneren Menschen und seiner Naturanlage, dem philosophischen Seelenteil.521 Das wird späterhin in der Politeia noch genauer entfaltet. (R. 589a) Hier aber wird schon in aller Deutlichkeit gesagt, dass die Angleichung an Gott keine Leistung des Menschen ist, sondern eine Wirkung des Göttlichen. Sie nimmt ihren Anfang in dem nicht 520 Siehe dazu Tht. 176a f. u. S. 100 ff.; Ti. 47a f., 90d u. S. 172 ff., 188; Smp. 204a, 212a u. S. 246 f., 264 f.; Phdr. 249c u. S. 283 f. 521 Die Rede vom »inneren Menschen« findet sich erstmals bei Platon. Zur philosophiegeschichtlichen Bedeutung des Ausdrucks in der paganen und christlichen Philosophie siehe Kobusch, Christliche Philosophie, 64 – 71.
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näher begründeten göttlichen Los und Schicksal (heoO lo?qa, R. 493a), wodurch Einzelne bewegt werden, sich dem öffentlichen Einfluss weitestgehend zu entziehen, um das Göttliche und Unveränderliche als Maßstab des Lebens zu gewinnen. Sie vollendet sich in der Formung und Festigung des inneren Menschen, der dann nicht mehr imstande ist, gegen das einmal erkannte göttlich Wahre und Gute zu leben und zu handeln. Es ist zumindest eine vage Hoffnung von Sokrates, und damit auch von Platon, dass diese Philosophen späterhin auch in der Lage sein werden, die Menschen zu überzeugen, dass wahre Philosophen den Staat nicht ins Unglück führen, sondern zum Guten leiten, so man ihnen die Gelegenheit dazu gibt. Der Grund für diese positive Einschätzung liegt in der Orientierung der wahren Philosophen an einem göttlichen Paradigma, während die schlechten und nur vermeintlichen Philosophen Eigeninteressen folgen. Aber Sokrates weiß um die Schwierigkeit und gesteht realistischerweise: »Verleumdung gibt es überall viel.« (R. 500d f.) Alles hängt demnach an dem Einfluss, dem die heranwachsenden Philosophen ausgesetzt sind, woran sie sich orientieren. Sokrates macht deutlich, dass seine Überlegungen zur Gerechtigkeit und deren Definition als »Tun des Seinigen« (t± artoO pq²tteim, R. 433b, 443b) nicht hinreichend sind. Denn es gibt Größeres als die Gerechtigkeit. Der Philosoph muss Kenntnis vom Guten haben, wenn das Gerechte auch nützlich und heilsam sein soll. Die Idee des Guten ist darum der größte Gegenstand allen Lernens und Wissens (B toO !cahoO Qd´a l´cistom l²hgla, R. 504d). Ohne das Wissen des Guten ist das sonstige Wissen richtungs- und ziellos. Alle Habe und sogar jedes Wissen ist nutzlos und im letzten verderblich, wenn man nicht sagen kann, wozu es gut ist. Diese Güterlehre findet sich öfters im platonischen Werk.522 Neu ist die Zuspitzung, dass das auch die Kenntnis der Ideen betrifft wie die der Gerechtigkeit. Obwohl die Menschen alles um des Guten willen tun, haben sie doch nur Ahnungen und kennen es nicht hinreichend (oqw Rjam_r Uslem, R. 505a, e). Vom Philosophenherrscher muss man jedoch erwarten, dass er das summum bonum kennt und nicht nur darüber träumt oder wie ein Blinder seinen Weg sucht. Diesem Ziel, der Idee des Guten, gilt das Streben des Philosophen, und seine Ausbildung muss von vornherein darauf angelegt sein. Problematisch ist jedoch, dass man über das Gute nicht in gleicher Weise reden kann wie über die Gerechtigkeit oder Besonnenheit und die übrigen Ideen. Zumindest erklärt sich Sokrates dazu unfähig. (R. 506d) Um aber doch die Richtung zu weisen, erzählt er drei inzwischen berühmte Gleichnisse: das Sonnengleichnis, das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis.523 522 Siehe Euthd. 281d u. S. 70 ff.; zum Lysis s. S. 200 f. 523 Zu der sehr kontroversen Diskussion um den Status der Idee des Guten, seine Erkenn-
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Das Sonnengleichnis stellt eine bildliche Analogie zwischen der Idee des Guten und der Sonne her. So wie die Sonne Ursache (aUtior, R. 508b) von Sehen und Gesehenwerden ist, ist das Gute Ursache des Erkennens und Erkanntwerdens. Und wie im Sichtbaren das Licht das vermittelnde Element zwischen den beiden geschiedenen Entitäten ist, ist es im Denkbaren Sein und Wahrheit. (R. 508d) Die Idee des Guten aber ist weder mit dem einen noch dem anderen identisch. Sie steht über der Disjunktion und ist ontologisch höherwertig (leifºmyr tilgt´om, R. 509a), weil sie deren Ursache ist und diese ihre Wirkung. Die erkennende Vernunft (moOr, R. 508d) ist also eine Wirkung des Guten und als solche ein indirektes Medium zur Erfassung des Guten und gutartig (!cahoeid/, R. 509a), ebenso wie das klar und deutlich Erkennbare. Daraus folgt, dass die Tugendideen oder werthafte Ideen wie die Schönheit, die zum Bereich des Erkennbaren gehören, nicht auf der gleichen ontologischen Stufe stehen wie die Idee des Guten. Sie steht über diesen an Schönheit (rp³q taOta j²kkei 1st¸m), ist von überschwänglicher Schönheit (!l¶wamom j²kkor) und übertrifft sie auf rätselhafte, göttliche Weise (dailom¸ar rpeqbok/r). (R. 509a-c) Das Gute ist nur negativ bestimmbar als anders (%kko, R. 508e) als all dieses. Darum ist es streng genommen nicht richtig, der Idee des Guten eine ontologische Stufe zuzuordnen, weil das Gute weder mit dem Sein identisch noch vergleichbar ist. Es ist als Ursache jenseits des Seins und überragt es an Vermögen und an Vorrang (1p´jeima t/r oqs¸ar pqesbe¸ô ja· dum²lei rpeq´womtor, R. 509c). Es ist dem Sein transzendent. Man entnimmt diesen Umschreibungen, dass die Worte nicht hinreichen zu einer genauen, positiven Bestimmung, sondern nur im Vergleich auf das Gute als Ursache und erstes Prinzip, als arche des Seienden verweisen. Das Liniengleichnis dient dazu, die Wirklichkeit proportional in vier verschiedene ontologische Bereiche einzuteilen und ihnen entsprechende Erkenntnisstufen zuzuordnen. Die grundlegende Unterteilung trennt den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren (bqatºm oder aQshgtºm) in der Welt des Werdens von dem des Denkbaren (mogtºm) in der Welt des Seins. (R. 509d, 511b) Dem entspricht auf der mentalen Seite die Unterscheidung von Vorstellung und Wissen. Diese Bereiche werden ihrerseits wieder unterteilt gemäß ihrem Urbildbeziehungsweise Abbildcharakter und dem damit einhergehenden unterschiedlichen Grad an Seinshaftigkeit und Wahrheit. (R. 510a f.) Dadurch entsteht eine ontologisch aufsteigende Linie, ausgehend von Bildern über sinnlich wahrnehmbare Gegenstände, Gegenstände der Wissenschaften hin zu den Ideen barkeit und Aussagbarkeit vgl. die Beiträge von Krämer, Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis; Szlezk, Das Höhlengleichnis; Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 159 – 185; Ferber, Warum hat Platon die ungeschriebene Lehre nicht geschrieben?, 15 – 27; Ackeren, Das Wissen vom Guten, 171 – 199. Eine ideengeschichtliche Reflexion der umstrittenen Kennzeichnung der Idee des Guten als »jenseits des Seins« bringt Schaeffler, »9p´jeima t/r oqs¸ar«. Wandlungen, Recht und Grenzen eines Programms.
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als Gegenständen der Dialektik. Analog führt eine aufsteigende epistemische Linie über Wahrscheinlichkeitsannahmen, Glauben, Verstandeserkenntnis hin zur Vernunfteinsicht (eQjas¸a, p¸stir, di²moia, moOr, R. 511d f.). Der angehende Philosoph konzentriert sich dabei auf den Bereich des Denkbaren mit dem Ziel, von den unreflektierten Voraussetzungen des Denkens im Bereich der Verstandestätigkeit zum Anfang (1p’ !qw¶m, R. 511d) der Bestimmungen und Unterscheidungen fortzuschreiten, nämlich den Ideen, die allen Benennungen zugrunde liegen. Das entscheidende epistemische Kriterium ist ihm dabei die Zunahme an Deutlichkeit und Gewissheit (savgme¸ô, R. 509d, 511c, e). Dieses Denken auf den Anfang hin ist das spezifisch dialektische Vermögen, durch das sich der Philosoph gegenüber dem Fachwissenschaftler auszeichnet. Nach den beiden Gleichnissen über den Ursprung und die Gegenstände der Erkenntnis kommt im Höhlengleichnis der Erkennende selbst und dessen Aufschwung der Seele in den Bereich des Denkbaren in den Blick. Das Bild von den Gefangenen in der Höhle, die nur die Schatten der Dinge wahrnehmen und diese für die Wirklichkeit selbst halten, (R. 515c) veranschaulicht den gewöhnlichen kognitiven Zustand der Menschen. Auch der philosophisch besonders Begabte gehört zunächst zu ihnen. Wenn er aber durch äußere Umstände524 der Fesseln entledigt wird und genötigt ist, in die entgegengesetzte Richtung zu schauen, auf den Ursprung des bisher Wahrgenommenen, so bereitet ihm das zunächst große Mühe. Er ist nicht gleich imstande, die Dinge selbst, die Ideen zu erkennen, deren Schatten und Abbilder er bisher wahrnahm und für wirklich hielt. Vielmehr muss er die in ihm angelegte Fähigkeit, das nur Denkbare zu erkennen, erst üben und entfalten. Dazu ist die entschiedene Umkehr der Blickrichtung und Umorientierung der ganzen Seele notwendig, die peqiacyc¶, (R. 518d, 521c) weg vom sinnlich Wahrnehmbaren, dem Werdenden, und hin zum Denkbaren, dem Seienden: Das ist nun freilich, scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der Seele, welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen. (ToOto d^, ¢r 5oijem, oqj astq\jou #m eUg peqistqov^, !kk± xuw/r peqiacycµ 1j mujteqim/r timor Bl]qar eQr !kghim^m, toO emtor owsam 1p\modom, Dm dµ vikosov_am !kgh/ v^solem eWmai. R. 521c, Üb. Schl.) 524 Die Lösung von den Fesseln in R. 515e muss nicht notwendig durch eine Person geschehen, wie meist vorausgesetzt wird, sondern kann als schmerzhafte Desillusionierung auch durch äußere Umstände erfolgen wie die Schrecken politischer Gewalt- und Willkürherrschaft. Denn die Passivform lässt das handelnde Subjekt offen. Damit wäre der he¸a lo?qa, dem göttlichen Los und Schicksal, welches einige philosophisch Begabte vor den verderblichen Einflüssen ihres sozialen und politischen Umfelds bewahrt, als Initiation der anabasis ein lebensweltlicher Ort gegeben. Der Aufstieg selbst wird allerdings gefördert durch die personale Anleitung und Hilfe.
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Bei diesem Aufstieg und der Schau der oberen Dinge (he±m t_m %my, R. 517b) im Bereich des Denkbaren folgen auf die Gegenstände der Wissenschaft die Ideen und schließlich in einem letzten Aufschwung der Seele und nur mit äußerster Mühe die Schau der Idee des Guten. Sie ist allerdings dem Schauenden sogleich evident als Ursprung alles Richtigen und Schönen und als letzter Bezugspunkt für alles Handeln im privaten wie im öffentlichen Leben. (R. 517b f.) Darum gibt es ohne die Schau des Guten kein sicheres und vollkommenes Erkennen und kein gutes Handeln. Erst in der Schau des Guten ist der Philosoph am Ziel. Um dorthin zu gelangen, bedarf es des beständigen Umgangs und der Vertrautheit (sum¶heia, R. 516a) mit den nur denkbaren Gegenständen. Der angehende Philosoph durchläuft dazu eine lange Zeit der Schulung, die bereits in jungen Jahren beginnt und erst im reifen Alter vollendet wird. Im Knabenalter beginnt die Ausbildung mit gymnastischen und musischen Übungen zur Stärkung des harmonischen Empfindens. Daran schließt sich ein Curriculum von vier mathematischen Wissenschaften an, Arithmetik, Geometrie, Stereometrie und Astronomie. Sie haben propädeutische Funktion, weil sie die Seele vom sinnlich Wahrnehmbaren wegführen hin zum nur Denkbaren, dem noeton. (R. 521c – 531c) Sie sind die eigentlichen »Umwender« der Seele von der Welt des Werdenden zum Seienden, weil ihre Gegenstände und Gesetze nicht der Veränderung unterliegen. Ihre Grenze besteht allerdings darin, dass in ihnen die grundlegenden Hypothesen wissenschaftlichen Denkens axiomatisch vorausgesetzt werden. Sie »träumen nur vom Seienden«, (R. 533c) weil ihnen die letzte Klarheit über ihre Prämissen fehlt, wenn sie sich den vielfältigen Gesetzen und Erkenntnissen ihrer Wissenschaft zuwenden. Anders die Dialektik, sie ist die einzig »wache« Wissenschaft, denn sie wendet sich in die andere Richtung, metaphorisch gesprochen nach »oben«, und sucht die grundlegenden Kategorien und den Zusammenhang in allen Wissenschaften zu erfassen. In dieser Weise richtet sich das »Auge der Seele«, das ist das reine Denken des logistikons oder philosophischen Seelenteils, (R. 581b, 586e) aufwärts, auf das Einheitliche und Anfängliche hin. (R. 533c f., 540a) Damit geht eine Relativierung des Vielen und Verschiedenen einher, die zum Verlust sittlicher Normen führen kann, wenn der innere Halt im Guten selbst noch nicht gefunden wurde. Dadurch können sittlich noch ungefestigte Menschen verführt und ihre philosophische Naturanlage verdorben werden, so dass sie statt zu wahren zu schlechten Philosophen werden. Deshalb sollen die dialektischen Übungen erst ab dem dritten Lebensjahrzehnt beginnen, um den Gefahren einer schlecht geübten Dialektik zu wehren und die Philosophie nicht in Verruf zu bringen. (R. 537d f.) Nach ungefähr fünf Jahren dialektischer Übungen folgt dann eine Zeit der Bewährung im Staatsdienst von immerhin 15 Jahren. Der praktischen Erfahrung im Umgang mit Menschen und mit den Bedürfnissen des Staates in nichtleitender Stellung wird also große Bedeutung zugemessen. Erst ein auf diese Weise vielfältig ge-
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prüfter und sittlich bewährter Philosoph wird ab einem Alter von ungefähr fünfzig Jahren zur Vollendung des philosophischen Weges fähig sein. Jetzt hat sein inneres, geistiges Auge genügend Sehkraft und Schärfe gewonnen, nicht nur die Ideen zu erfassen und jegliche Seiende zu erkennen, was es ist, sondern zum Anfang allen Denkens und Erkennens weiterzuschreiten und die Idee des Guten selbst zu schauen. Dabei bestimmt der Philosoph die Idee des Guten durch eine Vernunfterklärung, indem er sie von allem anderen aussondert (dioq¸sashai t` kºc\ !p¹ t_m %kkym p²mtym !vek½m tµm toO !cahoO Qd´am, R. 534b f.). Es handelt sich also ein indirektes Verfahren, bei dem die Idee des Guten nicht positiv beschrieben, sondern nur negativ erschlossen wird durch das, was sie nicht ist, nämlich ein Seiendes dieser oder jener Art.525 Das Gute ist, wie wir hörten, stets ein Anderes (%kko, R. 508e), allerdings nicht im Sinn des Verschiedenen auf der gleichen ontologischen Ebene, sondern jenseits dieser Kategorie als deren Anfang und Ursprung.526 So wie die Dialektik der Abschluss und Sims der Kenntnisse und Wissenschaften ist, (R. 534e) ist die Idee des Guten als höchste Kenntnis der Abschluss der Dialektik. Erst wenn der Philosoph diese äußerste Spitze der Philosophie erreicht hat (%jqoir eQr vikosov¸am, R. 499c), ist auch gewährleistet, dass er imstande ist, frei von Täuschung und Irrtum sein persönliches Leben und den Staat zum Guten zu lenken. Sokrates gesteht zu, dass dieser Aufstieg sehr schwer ist, aber nicht unmöglich. (R. 499d, 540d) Es wäre auch schon viel, wenn sich ein Mensch in seinem philosophischen Streben dem Ideal möglichst weit angleicht. Denn die praktische Umsetzung (pq÷nir) bleibt im Vergleich zum Logos notwendig hinter dem Ideal und der Wahrheit zurück. (R. 473a) Das weiß auch Sokrates und gesteht es für die Staatsbildung und -führung ausdrücklich zu. Entsprechendes darf man auch für den Philosophen in Anspruch nehmen. Dem Streit der Gelehrten, ob es diesen vollendeten Philosophen überhaupt geben kann und ob Sokrates und Platon der Meinung sind, das träfe auf sie zu, liegt eine unfruchtbare Alternative zugrunde. Niemand wird behaupten wollen, dass nur derjenige ein Philosoph ist, der die Letztbegründung alles Seienden erkannt hat, die Idee des Guten selbst. Ein solcher wäre zweifelsohne ein »vollendeter Philosoph« (R. 491a f., 499b, 501d), aber damit letztlich auch ein sophos, der sich den Göttern soweit angeglichen hat, dass er ihr Wissen teilt. Mit dieser zumindest theoretischen Möglichkeit rechnet Platon, doch es ist nicht die einzige und vor allem nicht die vorrangige.527 Der platonische Philosoph ist, wie wir im Lysis, Symposion, auch im Phaidros und Timaios gelernt haben, seinem Wesen nach vielmehr ein me525 Hieran kann eine »negative Theologie« ebenso anknüpfen wie eine Philosophie der »belehrten Unwissenheit«. 526 Vgl. die Erklärung des Nicht-Seins als von einem spezifischen Sein Verschiedenes (t¹ 6teqom) im Sophistes. 527 Siehe Ly. 218a u. Smp. 204a und dazu S. 246 u. Anm. 400.
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taxy. Er steht zwischen Unwissenheit und Weisheit und befindet sich irgendwo auf dem beschwerlichen Weg aus der Höhle hinauf ans Licht der Sonne. Wollte man die Unerreichbarkeit der Idee des Guten behaupten, wie das gelegentlich geschieht, würde aus diesem polaren Gegensatz ein kontradiktorischer werden und für den Philosophen wäre kein Ort mehr vorhanden. Denn ein kontradiktorischer Gegensatz kennt kein vermittelndes Dazwischen. Wollte man umgekehrt die Ideenerkenntnis und also das Erreichen des Ziels zur Bedingung des Philosophen machen, wäre die Welt der Philosophen weitestgehend entleert. Wenn es jedoch gelänge, dem im Gespräch entworfenen Bild und Ideal und damit auch dem Ziel des Aufstiegs so nah wie möglich zu kommen (¢r #m 1cc¼tata t_m eQqgl´mym, 473a), wie Sokrates es für den Staat zugesteht, könnte das auch für uns als Menschen, welche die Weisheit lieben, eine realistische und ermutigende Perspektive sein.
2.
Sophistes: Der Logos als Abbild des Seienden
2.1.
Wer ist ein Philosoph, ein Sophist, ein Politiker?
In der Eingangsszene des Sophistes treffen wir wieder auf unsere alten Bekannten aus dem Theaitetos, auf Sokrates und die beiden Mathematiker Theodoros und Theaitetos. Außerdem haben sie noch einen Gast mitgebracht: Entsprechend unserer gestrigen Verabredung sind wir, o Sokrates, ordnungsgemäß selbst gekommen und bringen noch diesen Fremden mit, der aus Elea stammt, einen Gefährten derer, die zum Kreis von Parmenides und Zenon gehören, einen philosophisch sehr gebildeten Mann. (Jat± tµm wh³r blokoc_am, § S~jqater, Fjolem aqto_ te josl_yr ja· t|mde tim± n]mom %colem, t¹ l³m c]mor 1n 9k]ar, 2ta?qom d³ t_m !lv· Paqlem_dgm ja· F^myma [2ta_qym], l\ka d³ %mdqa vik|sovom. Sph. 216a, Üb. B.S.)
Obwohl Theodoros die philosophische Kompetenz des Gastes herausstreicht, nennt er dennoch keinen Namen. Die Zugehörigkeit zur Schule von Parmenides und Zenon scheint für diese Einschätzung wichtiger zu sein, als dass der Fremde selbst einen Namen hat, der auch andernorts bekannt ist.528 Der Respekt und die 528 Auch die namenlos bleibenden Ionier in der Rahmenerzählung des Parmenides, die aus der Heimat des Naturphilosophen Anaxagoras stammen, werden von Kephalos als »sehr philosophisch« charakterisiert: Hier, antwortete ich, dies sind Landsleute von mir, sehr wissenschaftliche Männer ; und sie haben gehört, selbiger Antiphon habe sehr viel mit einem gewissen Pythodoros, einem Freunde des Zenon gelebt, und er habe die Unterredungen, welche einst Sokrates, Zenon und Parmenides gehalten, durch oftmaliges Anhören von Pythodoros im Gedächtnis. (OVde, eWpom 1c~, pok?ta_ t’ 1lo_ eQsi, l\ka vik|sovoi …, Prm. 126b f., Üb. Schl.) Wenn Schleiermacher hier vik|sovoi mit »wissenschaftlich« übersetzt, so bringt er damit
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Bewunderung, die aus den Worten von Theodoros sprechen, gelten also vor allem den berühmten Denkern aus Elea. Der Austausch mit ihnen wird geschätzt, und die Eleaten sind, anders als der kleine Freundeskreis um Sokrates, längst eine geistige Autorität in Griechenland. Doch Sokrates reagiert mit untergründiger Ironie auf Theodoros, wenn er fragt, ob dieser nicht vielleicht, ohne es zu wissen, einen Gott mitgebracht habe. Denn nach Homer würden die Götter die Menschen besuchen, um den Hochmut und die Rechtschaffenheit der Menschen in Augenschein zu nehmen (vbqeir te ja· eqmol¸ar t_m !mhq¾pym jahoq÷m).529 Das gilt insbesondere für den Gott der Gastfreundschaft.530 Ist der fremde Gast vielleicht ein prüfender Gott (he¹r 1kecjtijºr), der gekommen ist, um sie, die in ihren Reden noch ungeschickt sind, zu beobachten und einer Prüfung zu unterziehen (va¼kour Bl÷r emtar 1m to?r kºcoir 1poxºlemºr te ja· 1k´cnym)? Sokrates vermutet also, dass sie sich vor dem Gast für ihre Unterredungen und Überlegungen, das heißt für ihre Art zu philosophieren, wie vor einer autoritativen Instanz rechtfertigen müssen. Theodoros weist das zwar zurück, weil der Fremde bescheidener sei als die Eristiker, die nur die Auseinandersetzung suchen (letqi¾teqor t_m peq· t±r 5qidar 1spoudajºtym). (Sph. 216b) Aber Theodoros hat nicht nur eine sehr hohe Meinung von seinem Gast, sondern grundsätzlich von allen Philosophen. Deswegen kennzeichnet er sie mit dem Epitheton »göttlich«: Zwar scheint mir der Mann keineswegs ein Gott zu sein, göttlich aber wohl: denn alle Philosophen bezeichne ich so. (ja_ loi doje? he¹r l³m "mµq oqdal_r eWmai, he?or l^m· p\mtar c±q 1c½ to»r vikos|vour toio}tour pqosacoqe}y. Sph. 216b, Üb. B.S.)
Die Erinnerung an das Gespräch des vergangenen Tages ist noch frisch. Dort hatte Sokrates selbst dafür plädiert, dass die größtmögliche Angleichung an Gott das Ziel des Philosophen sei (blo¸ysir he` jat± t¹ dumatºm, Tht. 176b).531 Theodoros leitete daraus offenbar die Berechtigung ab, einen Philosophen als zum Ausdruck, dass diese Leute ein intensives Interesse an wissenschaftlichen Fragen haben, insbesondere an solchen, welche die Prinzipien des Kosmos betreffen. Der Ausdruck l\ka vik|sovor hat hier aber neben den ontologischen und kosmologischen Assoziationen, die durch die Namen der Dialogpartner und die Herkunft der Männer gegeben sind, auch noch den alten, umgangssprachlichen Klang, dass jemand, der sich auf einem Wissensgebiet intensiv schult, ein »kluger Kopf« ist und viel weiß. Vgl. dazu auch Ly. 212d und S. 201 ff. 529 Platon zitiert hier Homer, Od. 17,487, wobei aus dem homerischen !mhq¾pym vbqim te ja· eqmol¸gm 1voq_mter bei Platon ein jahoq÷m wird, also aus dem Anschauen und Beobachten ein Herabsehen und Durchschauen. Wie Bernadete zeigt, ist diese Wortwahl nicht durch eine Homer-Variante begründet, »but was chosen for other reasons« (Bernadete, Some Misquotations of Homer in Plato, 177), um nämlich den Abstand zum Leben der gewöhnlichen Leute zu unterstreichen; vgl. Sph. 216c. 530 Gemeint ist Zeus als Beschützer der Fremden und Gäste, s. Bordt, Platons Theologie, 63, Anm. 31; vgl. Od. 9, 270 f.; 14, 406; 18, 112. Siehe dazu a. S. 341, Anm. 557. 531 Siehe S. 100 ff.
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göttlich zu charakterisieren. Sokrates scheint ihm zuzustimmen. Doch bringt er eine kleine, aber folgenreiche Einschränkung an, wenn er bemerkt, dass das Geschlecht der Philosophen nicht viel leichter zu erkennen sei als das der Götter : Denn diese Männer, ich meine nicht die angeblichen, sondern die wirklichen Philosophen, erscheinen wegen der Unwissenheit der anderen in verschiedener Gestalt und ›besuchen die Städte‹, wobei sie von oben her das Leben derer unten auf der Erde betrachten;532 und einigen scheinen sie gar nichts wert zu sein, andere aber schätzen sie über alles: und einmal ähneln sie den Politikern, dann wieder den Sophisten, gelegentlich mögen sie auch bei einigen den Anschein erwecken, als ob sie gänzlich verrückt wären. (p\mu c±q %mdqer oxtoi pamto?oi vamtaf|lemoi di± tµm t_m %kkym %cmoiam »1 p i s t q y v _ s i p | k g a r « , oR lµ pkast_r !kk’ emtyr vik|sovoi, jahoq_mter rx|hem t¹m t_m j\ty b_om, ja· to?r l³m dojoOsim eWmai toO lgdem¹r t_lioi, to?r d’ %nioi toO pamt|r· ja· tot³ l³m pokitijo· vamt\fomtai, tot³ d³ sovista_, tot³ d’ 5stim oXr d|nam paq\swoimt’ #m ¢r pamt\pasim 5womter lamij_r. Sph. 216c, Üb. B.S.)
So schwierig es für Menschen ist, Götter zu erkennen, weil ihnen naturgemäß das eigentliche Wesen der Götter verborgen bleibt, ist es für Nichtphilosophen, einen wahren Philosophen zu erkennen und ihn von den vorgeblichen und schlechten Philosophen zu unterscheiden. Sokrates deutet damit an, dass sich Theodoros, wie auch viele andere Menschen, möglicherweise darüber täuscht, »wer« ein Philosoph ist, weil er gar nicht weiß, »was« ein Philosoph ist und was ihn als solchen charakterisiert. Denn nicht jeder, der Philosoph genannt wird oder sich selbst so nennt, ist auch einer. Und umgekehrt werden wirkliche Philosophen oft nicht als solche erkannt, sondern mit Sophisten, Politikern und Verrückten verwechselt. Sokrates verweist also auf den Unterschied zwischen der Bezeichnung und der bezeichneten Sache. Wer die Sache, von der die Rede ist, nicht kennt, in diesem Fall den Philosophen, steht in der Gefahr, sie unsachgemäß und also falsch zu bezeichnen, nämlich als Sophisten, Politiker oder Verrückten.533 Die Erscheinung und Wahrnehmung einer Sache und ihr Sein stimmen nicht notwendig überein. Sokrates geht deswegen davon aus, dass es auch Täuschung und Irrtum und dementsprechend falsche Bezeichnungen und Aussagen über die Sache gibt.534 Nur vor diesem Hintergrund macht seine Unterscheidung zwischen wirklichen und angeblichen Philosophen einen Sinn. Er problematisiert die vorschnellen Urteile, die aus Unkenntnis der Sache mit unreflektierten Bezeichnungen einhergehen. Was ein Philosoph ist, woran man 532 Vgl. Tht. 175b-d und S. 93 ff. 533 Die Bemerkung von Sokrates, dass Theodoros möglicherweise, ohne es zu wissen (k´kghar, Sph. 216a), einen Gott mitgebracht habe, ist ein Hinweis darauf, dass Theodoros auch mit Blick auf das Wesen der Philosophen ähnlich unwissend ist. Vgl. dazu die Verweigerungshaltung von Theodoros im Theaitetos, S. 99 f. 534 Diese Streitfrage um das sophisma, dass es keinen Irrtum und Lüge gibt, wurde schon im Euthydemos und Theaitetos diskutiert, siehe S. 67 ff. u. 87 ff.
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ihn erkennt und worin er sich von anderen, von Sophisten und Politikern, unterscheidet, ist das Ausgangsproblem. Es motiviert zentrale Erörterungen im Sophistes: die Dihairese, das ist die Kunst der Einteilung des Seienden nach Gattungen, sowie die größten Gattungen, zu denen das Selbige und Verschiedene gehört, die Voraussetzung jeglicher Unterscheidung sind, wie auch die Erörterungen über Sein und Nichtsein. Das Problem richtiger Unterscheidungen und Zuschreibungen wird zunächst auf dramaturgischer Ebene manifest. Sind die Dialogteilnehmer, und mit ihnen die Leser, in der Lage, einen wahrhaften Philosophen zu erkennen, oder würden auch sie den gängigen Täuschungen erliegen? An vielen Stellen in der dichten Einleitungsszene spürt man regelrecht die Freude Platons, seine Leser zu verwirren und zu verunsichern. Wer täuscht sich hier über wen und wer versteckt sich hinter wem? Ist der Eleatische Fremde ein Philosoph, wie Theodoros meint; oder ein verkleideter Gott, wie es Sokrates nicht ohne Ironie unterstellt; oder ein Sophist, wie sie als Lehrer aus der Fremde nach Athen kommen und sich für Philosophen ausgeben? Oder steht der Gast aus Elea gar für den Autor Platon, der sich ein weiteres Sprachrohr gestaltet, um neue, eigene Gedanken formulieren zu können? Wer also verbirgt sich hinter dem Fremden?535 Ebenso steht aber infrage, ob die sokratische Art zu denken und zu reden philosophischer oder nicht doch eher sophistischer Natur ist. Sokrates weiß, dass man gerade ihm und seinen jungen Freunden Hybris vorwirft, weil sie das eingebildete Wissen der vermeintlichen Fachleute entlarven. Mit dem Hinweis auf den prüfenden Gott in Gestalt des Gastes spielt er darauf an, dass der Fremde 535 Die meisten Interpreten sehen in dem Fremden einen Philosophen, oft verbunden mit der These, dass der Fremde Platons genuin eigene Philosophieauffassung verkörpert. Darin folgen sie der schon von Diogenes Laertios vertretenen Auffassung, dass Platon seine eigene Meinung, seine »Dogmen«, den Hauptrednern seiner Dialoge in den Mund gelegt habe, insbesondere Sokrates, aber auch Timaios, dem Athener Gastfreund und dem Fremdling aus Elea. (DL II,52) Siehe a. Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, 169 f.; Bluck, Plato’s Sophist, 31; Guthrie, A History of Greek Philosophy, V, 123 f.; Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 297, 336; Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes; Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 139 – 141, 145 – 155; Matthews, Socratic Perplexity and the Nature of Philosophy, 97 f., 102; M. Frede, The Literary Form of the Sophist, 135, 139, 150 f. Duerlinger geht sogar soweit, dass er in dem Fremden nicht nur Platons Sprachrohr sieht, sondern ihn in Einleitung und Übersetzung mit »der Philosoph« bezeichnet. Duerlinger, Plato’s Sophist, 4. Vor allem Interpreten, die der Dramaturgie verstärkte Aufmerksamkeit schenken, ziehen jedoch die Möglichkeit in Betracht, dass der Fremde ein Sophist sein könnte oder wie ein Sophist agiert. So argumentiert Cherubin dafür, dass der Eleatische Fremde ein typologisierter Sophist sei zur Demonstration des Genus des Sophisten, da das Wesen des Sophisten sich notwendig der Definition durch Worte entziehe. (Cherubin, What is Eleatic about the Eleatic Stranger?, 231 – 235); vgl. a. Tejera, The Son of Apollo explicated, 79 f; ders., Plato’s Dialogues One by One, 182 ff.; Rosen, The Sophist, 62, aber a. 10, Anm. 9; Dalfen, Wie, von wem und warum wollte Platon gelesen werden?, 74.; anders jedoch Blondell, The Play of Character in Plato’s Dialogues, 318 – 326.
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aus der berühmten Philosophenschule darüber urteilen wird, ob seine Art zu reden und zu philosophieren überheblich und frevelhaft ist oder recht und billig. (Sph. 216b) Sokrates sieht sich also vor einem philosophischen Tribunal, dessen Repräsentant der Fremde aus Elea ist. Dem Volk von Athen und dessen Richtern kann er sich nicht verständlich machen, das wird in der Apologie deutlich. Im Theaitetos zeigt sich zudem, dass auch ein Riss durch die freien Wissenschaften hindurchgeht und Mathematiker sowie Naturwissenschaftler von den Philosophen trennt.536 Wie steht es aber mit denen, deren Welt der Logos ist, die mit altem und größtem Recht beanspruchen können, Philosophie zu treiben, wie es für die eleatische Schule gilt? Wird Sokrates vor ihnen bestehen, oder halten auch sie ihn bei aller Freundschaft für einen Sophisten? Wenn die These von Sokrates stimmt, dass die wahren Philosophen verkannt werden, so bedeutet das umgekehrt: Nur ein Philosoph wird einen Philosophen als solchen erkennen. Die Frage »Wer ist der Fremde?« verbindet sich daher mit der Frage »Wie sieht er Sokrates – als Philosophen oder als Sophisten?« Da sich Sokrates aber nach der Einleitungsszene nicht mehr zu Wort meldet, ergibt sich das zusätzliche Problem, wie eine Prüfung der sokratischen Reden erfolgen kann, wenn er schweigt. Es wird sich zeigen, dass die sieben verschiedenen Definitionen, die der Fremde vom Sophisten gibt, alle in irgendeiner Form an Sokrates erinnern. (Sph. 221d – 232a, 268a-c) Nur wenn man genau hinschaut, sieht man, wo das Bild jeweils verzeichnet ist und doch nicht ganz auf Sokrates passt. Wer sich aber mit einem oberflächlichen Eindruck begnügt oder zu unerfahren ist, (vgl. Sph. 234b) wird das Zerrbild nicht als solches identifizieren können. Er erliegt der Täuschung und wird den Eindruck haben, dass Sokrates nicht ganz zu Unrecht der Sophisterei und Hybris angeklagt wird. Sokrates möchte darum vom Fremden wissen, was man in Elea darüber denkt. Theod.: Worüber denn? Sokr.: Über den Sophisten, den Politiker und den Philosophen. (HEO. T± po?a d^; SY. Sovist^m, pokitij|m, vik|sovom. Sph. 217a, Üb. B.S.)
Theodoros versteht nicht, woran Sokrates zweifelt (diapoqghe¸r, ebd.). Damit zeigt er, wie schon im Theaitetos, dass er kein großer Freund des Logos und der unterscheidenden Bestimmung ist.537 Das wirft auch ein zweifelhaftes Licht auf seine einführende Charakterisierung des Fremden als »sehr philosophisch«. Theodoros ist nicht der beste Gewährsmann für dieses Urteil. Die Unklarheit 536 Zur Apologie siehe S. 126 f., zum Theaitetos S. 99 f. 537 Bereits eingangs wurde deutlich, dass für Theodoros Elenktik nichts anderes ist als Eristik. (Sph. 216b) Er verkennt ihren philosophischen Wert und ist unfähig, zwischen der philosophisch-elenktischen Methodik und der sophistischen Praxis der Streitgespräche zu unterscheiden. Für ihn ist beides Streit um Worte. Er ist Mathematiker und Fachwissenschaftler, aber kein Philosoph, wenn die Prüfung von Thesen für einen Philosophen konstitutiv sein sollte. Siehe S. 99 f., vgl. a. Zuckert, Who’s a Philosopher? Who’s a Sophist?, 66 f.
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über die Frage, wer Philosoph, Sophist oder Politiker ist und worin sie sich unterscheiden, reicht in Athen bis in die Kreise der Intellektuellen hinein. Das fordert eine grundsätzliche, typologische Klärung. So muss Sokrates seine Frage noch einmal präzisieren: Er möchte wissen, ob man den Sophisten, den Politiker und den Philosophen für ein und dasselbe hält oder für zweierlei oder, wie es der Sprachgebrauch nahe legt, für dreierlei und gemäß den drei unterschiedlichen Namen auch drei verschiedene Gattungen (c´mg) unterscheidet. (Sph. 217a) Im ersten Fall würden sie ein und dieselbe Sache beziehungsweise denselben Personenkreis bezeichnen. Die drei Begriffe wären dann äquivalente Synonyme und hätten die gleiche Extension. Es ist aber auch denkbar, dass nur zwei der drei Bezeichnungen den gleichen Begriffsumfang haben. Und schließlich könnte es sein, dass die Begriffe unterschiedliche Intensionen haben und sich gegenseitig ausschließen oder auch im Sinn einer Teilmenge miteinander verbunden sind wie das Verhältnis von Art und Gattung. Die Frage von Sokrates zielt also darauf, in welcher Beziehung die drei Begriffe zueinander stehen, ob sie Identisches bezeichnen oder Verschiedenes, und, wenn letzteres, ob es sich dabei um subordinierte, disparate oder interferierende Verhältnisse handelt. Dieses Problem ist nicht einfach theoretischer Art, sondern hat seinen lebensweltlichen Hintergrund in der Verurteilung von Sokrates, die sich dramaturgisch schon am Horizont abzeichnet. Denn man hielt ihn nicht nur für einen Sophisten, sondern schrieb ihm auch einen verderblichen Einfluss auf die Jugend und damit indirekt auf die politischen Verhältnisse in Athen zu, während er von sich behauptete, Philosoph und der einzig wahre Politiker Athens zu sein.(Grg. 512d) In welchem Verhältnis stehen also die Begriffe »Sophist«, »Politiker« und »Philosoph« zueinander? Der Gast aus Elea zögert nicht mit seiner Antwort: Nach Ansicht der Eleatischen Schule stehen sie für drei verschiedene Gattungen. Es sei aber schwer, genau zu bestimmen, was jede ist (dioq¸sashai sav_r t¸ pot’ 5stim, Sph. 217b). Das soll in drei aufeinander folgenden Untersuchungen geklärt werden. Den Anfang macht der Sophistes. Am Nachmittag des gleichen Tages folgt der Politikos. Der letzte Dialog in der Reihe, der Philosophos, wird zwar beharrlich weiterhin angekündigt, aber nicht mehr durchgeführt.538 (Sph. 218b; Plt. 257a-c) 538 Im Politikos wird noch zweimal auf den Plan dieser Trilogie angespielt. Gleich zu Beginn dankt Sokrates Theodoros für die Einführung des Fremden aus Elea, worauf Theodoros wie ein schulmeisterlicher Rechenlehrer antwortet, dass Sokrates ihm dann nicht einfachen, sondern dreifachen Dank schulde: Theo.: Und dreifachen [Dank] wirst du vielleicht schuldig sein, wenn sie dir erst den Staatsmann werden fertig gemacht haben und den Philosophen. (HEO. T\wa d] ce, § S~jqater, aveik^seir ta}tgr tqipkas_am· 1peid±m t|m te pokitij¹m !peqc\symta_ soi ja· t¹m vik|sovom. Plt. 257a, Üb. Schl.)
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Gleich zu Anfang macht der Eleatische Fremde deutlich, dass es einer längeren Erörterung bedarf, um die drei Gattungen genau zu bestimmen (dioq¸sashai sav_r, Sph. 217b) und eine ausführliche Entfaltung des gestellten Problems nötig sei, eine epideixis. (Sph. 217e) Gegen diese bei den Sophisten gepflegte Form der Rede hatte Sokrates früher vehement Einspruch erhoben. Ob seine jetzige Zurückhaltung ein Akt der Höflichkeit des Gastgebers ist, oder ob sie der Einsicht in die Grenzen des elenchos geschuldet ist, der nur eine negative Widerlegung leisten kann, bleibt offen. Sicher ist, dass Sokrates von dem Moment an in Schweigen verfällt, an dem er dem Gast freistellt, ob dieser das Thema in einem längeren Monolog (1p· sautoO lajq` kºc\) oder im Wechselgespräch durch Fragen (di’ 1qyt¶seym) darstellen möchte (1mde¸nashai). Der Gast aus Elea wählt die Unterredung in Frage und Antwort, da man ihm zusichert, in Theaitetos ein gutwilliges Gegenüber zu haben, das nicht lästig wird. (Sph. 217c) Eine zu große Eigenständigkeit ist offensichtlich nicht erwünscht. Anders als bei Sokrates hat die Wahl der Dialogform für den Eleaten keinen methodischen Wert, sondern ist der Höflichkeit gegen die Gastgeber geschuldet. (Sph. 217d) Er sieht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Dialog und Monolog. Wichtiger ist ihm, das Beweisziel fest im Blick zu behalten und einen großen Spannungsbogen herzustellen, sei es allein oder im Gespräch mit einem anderen (1jte¸mamta !polgj¼meim kºcom suwm¹m jat’ 1lautºm, eUte ja· pq¹r 6teqom, ebd.). Einwürfe, eigene Lösungsvorschläge oder gar Abschweifungen, wie sie das Gespräch des Vortages prägten und als Kennzeichen des freien philosophischen Diskurses galten, sind da nur störend. Das epideiktische Gespräch ist ein zielgerichteter Dialog zum Nachvollzug bereits durchdachter Gedanken. Sein Ergebnis ist dementsprechend nicht offen, sondern vorgegeben. Auch wenn der Sokrates hält ihm daraufhin scherzhaft einen »Rechenfehler« vor, weil er den Dank nur quantitativ bemisst und nicht qualitativ, als ob die drei Gattungen gleich schätzenswert seien. Der Mathematiker hat eben nur die Zahlen im Kopf, der Philosoph hingegen auch den ontologischen Wert der Gattungen. Theodoros will Sokrates diesen Seitenhieb irgendwann heimzahlen. Zuvor aber soll der Gast aus Elea seine Ausführungen fortsetzen: Theo.: Und dich will ich ein andermal schon dafür heimsuchen; du aber, Fremdling, laß ja noch nicht ab, uns gefällig zu sein, sondern wie es dir lieber ist, sei es zuerst den Staatsmann oder den Philosophen, nimm uns nacheinander durch. (HEO. … ja· s³ l³m !mt· to}tym eQr awhir l]teili· s» d’ Bl?m, § n]me, lgdal_r !poj\l,r waqif|lemor, !kk’ 2n/r, eUte t¹m pokitij¹m %mdqa pq|teqom eUte t¹m vik|sovom pqoaiq0, pqoek|lemor di]nekhe. Plt. 257b f., Üb. Schl.) Diesen mehrfachen Hinweis auf die Trilogie kann man zum einen so deuten, dass es Platon ernst war mit der Ausführung von drei Dialogen und er nur daran gehindert wurde oder den Plan aufgegeben hat. Es kann aber auch ein nachdrücklicher, dramaturgischer Hinweis darauf sein, dass diese drei Gattungen nicht voneinander zu trennen sind, sondern nur in ihrem dialektischen Verhältnis zueinander bestimmt werden können; und dass Platon dennoch nicht gewillt war, nach den Vorarbeiten in zwei Dialogen dem Leser diese Aufgabe gänzlich abzunehmen. Siehe dazu den Abschnitt »Der schweigende Sokrates – oder : der Philosophos«, S. 352 ff.
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Eleatische Fremde davon spricht, dass man gemeinsam mit der Untersuchung beginnen wolle, hat das Gespräch eher einen lehrhaften und demonstrativen als heuristischen Charakter.539 (Sph. 218b) Damit unterscheidet sich diese Ge539 Die Art der Gesprächsführung durch den Eleaten wird sehr unterschiedlich bewertet. Szlezk sieht in ihr die Modellkonstellation zwischen einem Wissenden/Lehrenden und einem Übenden/Lernenden aus dem Phaidros realisiert. Er räumt ein, dass die Wahl der Dialogform nicht methodisch begründet ist, sondern aus Rücksicht auf den Gastfreund erfolgt. Sokrates und der Eleat befänden sich aber auf ein und derselben Ebene souveräner Gesprächsführung. (Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 129, 133, 139) Ähnlich meint Cornford, dass der Fremde die Dialektik als eine kooperative Suche nach Wahrheit verstünde und sich, nachdem das Gespräch begann, durch keinerlei individuelle Züge von Sokrates unterscheidet; (Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, 170) gleichfalls Bluck, Plato’s Sophist, 33. Allerdings ist nicht einsichtig, warum bei so viel Übereinstimmung der Fremde überhaupt als neuer Gesprächsführer eingeführt wird. Dixsaut erkennt zwar Unterschiede zwischen den Teilnehmern der »Philosophendialoge«, jedoch nur in gradueller Hinsicht und nicht in der philosophischen Veranlagung. Dadurch könne sich der Logos ausbreiten »comme le pur mouvement d’apprendre«. (Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 297) Ganz anders Tejera, er sieht im schweigenden Sokrates den skeptischen Abstand gegenüber dem Eleaten gewahrt; (Tejera, The Son of Apollo Explicated, 71) ebenso Friedländer, für den der schweigende Sokrates im Sophistes und Politikos eine ironisch verborgene Verkörperung des Philosophos ist. (Friedländer, Platon I, 162) Auch Dalfen betont das Schweigen von Sokrates, »wenn die Herren aus Elea ihrer Dialektik die Zügel schießen lassen« und über Themen reden, die sie zu Hause im einsamen Nachdenken durchdacht haben. (Dalfen, Wie, warum und von wem wollte Platon gelesen werden?, 73, 79) M. Frede reflektiert darüber, warum Platon den Eleaten nicht gleich einen langen Monolog halten lässt, da dieser anders als Sokrates offensichtlich kein Freund des elenchos ist. (M. Frede, The Literary Form of the Sophist, 138) Kranz betont gleichfalls die Differenz unter den Gesprächsteilnehmern. Die Zustimmung von Theaitetos für die Geltung der Definitionen sei bedeutungslos, weil der Eleat bereits vorab um das richtige Ergebnis weiß und das Gespräch lediglich didaktische Bedeutung hat. (Kranz, Das Wissen des Philosophen, 66) Notomi erkennt in der Person des Eleatischen Fremden und seiner Gesprächsführung ein konstruktives, neues Modell der Philosophie, das dem Vorwurf der Sophistik, unter dem Sokrates steht und der auch die Philosophie trifft, entgehen soll. (Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 62 f.) Und Rosen sieht in der Differenz zwischen dem Eleatischen Fremden und Sokrates sogar das auffallendste dramaturgische Merkmal im Sophistes, und zwar sowohl inhaltlich als methodisch. (Rosen, Plato’s Sophist, 7 f.) Die Bandbreite der Beurteilung des Verhältnisses von Sokrates und dem Fremden umfasst alle Möglichkeiten, von gänzlicher Übereinstimmung bis zu konträren Standpunkten. Eine Auflistung der Gesprächsbeiträge von Theaitetos kann zeigen, dass die Zweifel an der Konvergenz der Gesprächsführung bei Sokrates und dem Fremden und dem damit verbundenen Philosophieverständnis berechtigt sind; siehe dazu a. S. 352 ff. Immer wieder bringt Theaitetos zum Ausdruck, dass ihm die Kriterien der Dihairesen nicht einsichtig sind (Sph. 220b, vgl. a. Plt. 263a f., Plt. 266a), die Untersuchung zu schnell vorangeht (Sph. 226c), auch weil die Muße, bisher ein wichtiges Merkmal philosophischer Untersuchungen, fehlt (Sph. 226e, vgl. a. Plt. 263b, 272b). Er kann deswegen die gestellten Fragen nicht nachvollziehen (Sph. 228a), obwohl er am Vortag bewiesen hatte, dass er eine schnelle Auffassungsgabe besitzt. Er gewöhnt sich daran, den Einteilungen und Darlegungen des Fremden zuzustimmen und sich führen zu lassen (Sph. 236d5 f., 237b f., 237c5), auch wenn ihm gelegentlich die Geduld ausgeht und er deswegen in seine Grenzen gewiesen wird (Sph. 237e7 f.). Der Fremde lässt sich auch nicht aufhalten durch zahlreiche zögerliche
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sprächsform aber fundamental vom sokratisch-elenktischen Dialog. Ob das Lehrgespräch dem philosophischen Anspruch der Wahrheitsfindung genügt oder nicht doch der sophistischen Überredungskunst verfällt, entscheidet sich auch daran, ob auf einer anderen Ebene als dem äußeren Dialog eine Prüfung der Logoi stattfindet.540 Der Theaitetos hatte schon die Richtung angedeutet, in die sich der prüfende Dialog entwickeln kann: das innere Gespräch der Seele mit sich selbst im Denken.541 Hierfür werden im Sophistes grundlegende Begründungen gegeben. Nicht die äußere Form der Gesprächsführung entscheidet dann über den philosophischen oder sophistischen Charakter der Gedanken und Aussagen, sondern ihr Verhältnis zum Seienden und zur Wahrheit oder zum Schein, Irrtum und Lüge. Zur Definition des Sophisten wählt der Eleat eine strenge Methodik (l´hodor, Sph. 219a), bei der man von einem möglichst allgemeinen Begriff ausgeht (eWdor, ebd.), unter den der gesuchte Begriff fällt. Durch fortlaufende Abgrenzung von benachbarten Begriffen kommt man zu einer abschließenden Begriffsbestimmung, wenn keine weitere Unterteilung mehr möglich ist. Der junge Theaitetos ist allerdings ganz verwirrt und ratlos (!poq_, Sph. 231b), weil auf diese Weise innerhalb kürzester Zeit nicht weniger als sechs unterschiedliche Definitionen des Sophisten zustande kommen.542 (Sph. 221c – 231c) Zwar ist keine gänzlich Antworten von Theaitetos (Sph. 255a3, 255b10, 255c4, c11, 256a4, 256e8, 257a7), sondern bewegt ihn immer wieder zur Zustimmung, wenn auch um den Preis, dass Theaitetos den Mut zur Untersuchung zunehmend verliert (Sph. 261b). Gegen Ende des Dialoges gesteht Theaitetos denn auch offen, selber zwar schwankend zu sein, sich aber einfachheitshalber der Meinung des Eleaten anzuschließen (Sph. 265d), was der Fremde im Bewusstsein der Richtigkeit der eigenen Meinung akzeptiert (Sph. 268a). Theaitetos hat verstanden: Der Eleatische Fremde könnte ebenso gut einen Monolog halten. Es würde am Gedankengang nichts Wesentliches ändern. So stellt sich dem Leser die Frage, ob er selbst gern das Gespräch mit diesem Lehrer suchen würde, oder ob er sich nicht doch Sokrates, den maieutischen Seelenfreund und -führer, zurückwünscht, der dieser Art von Gesprächsführung nur schweigend zuhört. 540 Vgl. das Kapitel zum Protagoras: Die Wahrheit und sich selbst prüfen, S. 64 f. und S. 355 f. 541 Siehe S. 91 ff. 542 Eine graphische Skizze der Dihairesen bieten Bluck, Plato’s Sophist, 55 – 57, und Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 340. Dixsaut markiert auch die Stellen in den Einteilungen, an denen der Philosoph abgetrennt wird bzw. zu suchen wäre. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass die Dihairesen keinerlei Kriterien für ihre Unterteilungen angeben und deswegen willkürlich wirken, so Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes, 14, und sogar zu widersprechenden Einteilungen führen. Sie orientieren sich an phänomenal gegebenen Vorstellungen über den Sophisten und unterziehen sie vorgeblich einer Systematisierung. »The [1.] definition is hardly a model of objectivity … whatever Plato’s opinion of the value of diairesis in general, what he is giving us here is satire not philosophy.« »The genera chosen without question – hunter, money-maker, dealer in unrealities – show the satirical, pseudoscientific character of the exercise. Plato evidently had no individual Sophist in mind, but a combination of all that he found objectionable in the sophistic profession. Only the sixth stands apart…« Guthrie, A History of Greek Philosophy, V, 125, 126. Siehe a. Bluck, Plato’s
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falsch, aber vermittelt doch nur ein ungefähres Bild vom Sophisten (v²mtasla, Sph. 223c; vgl. a. Sph. 231d; Sph. 232a) und keine wahre, richtige Vorstellung. Denn der Sophist und seine Kunst stellen sich den Menschen auf bunte, vielfältige Weise dar (poij¸kgr, poij¸kom, Sph. 223c, 226a, 234b). Wenn man den Sophisten sicher bestimmen und erfassen will, muss man darum auf das Einheitliche und Wesentliche in der schillernden Vielfalt schauen, das die verschiedenen Erscheinungsformen verbindet.543 Ebenso befremdlich wie die Vielgestaltigkeit des Sophisten ist allerdings seine irritierende Nähe zu Sokrates. Viele Anspielungen und Ähnlichkeiten in den Definitionen lassen an den sokratischen Dialog denken, um dann doch in einigen Details davon abzuweichen. In der ersten Definition ist der Sophist ein Jäger, der durch seine Überredungskunst reichen Jünglingen nachstellt, indem er mit ihnen Gespräche über die Tugend führt. In der zweiten bis vierten Definition spielt der Austausch von Wissen eine Rolle. Dabei trägt der Sophist das Tugendwissen entweder wie ein Großhändler von Stadt zu Stadt oder bietet fremde oder eigene Ansichten darüber wie ein Einzelhändler vor Ort an. (Sph. 223d, 224d f.) In der fünften Definition geht es um die Antilogik (!mtikocijºm, Sph. 225a f.), eine Technik des Redewettstreits ("likkgtijºm, ebd.) durch Frage und Antwort.544 Und in der sechsten um die Reinigung der Seele vom Übel des Unverstandes (%cmoia, Sph. 227d, 228b, d). Dieser beruht auf der Torheit (!lah¸a), dass man zu wissen glaubt, was man nicht weiß. Durch die widerlegende Prüfung leerer Scheinweisheit, den elenchos (b peq· tµm l²taiom donosov¸am cicmºlemor 5kecwor), wird die Annahme richtiger Kenntnisse in Erziehung (paide¸a) und Belehrung (didasjakij¶) vorbereitet. (Sph. 229c f., 231b) Bei dieser sechsten Definition zögert der Fremde zunächst, den Elenktiker einen Sophisten zu nennen, um dann aber doch abgemildert von einer »edlen und vornehmen Sophistik« zu sprechen (B c´mei cemma¸a sovistij¶, Sph. 231b).545 Während der Sophist es bei allen Definitionen auf den Gewinn und die entgeltliche Entlohnung seiner Tätigkeiten abgesehen hat (lishaqmgtijºm), ergab sich bei den Einteilungen und Abtrennungen auch die Alternative einer unentgeltlichen, schenkenden Ausübung derselben Tätigkeiten (dyqovoqijºm). Sophist, 52 – 54; Rosen, Plato’s Sophist, 47 f.; Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 147. 543 Das zielt auf die Unterscheidung von Intension und Extension des Begriffs. Vgl. das mythologische Bild des vielköpfigen Tieres in R. 588c für die verschiedenen Begierden. 544 Vgl. dazu DK II 82 Fr. 11, wo Gorgias die philosophischen Redewettkämpfe (vikosºvym kºcym "l¸kkar) als dritte Gattung der geschulten Rede beschreibt; siehe dazu S. 35 f. 545 Kerferd argumentiert für ein unironisches Verständnis der »edlen Art der Sophistik«, das heißt, dass der angesprochene Personenkreis in der Tat Sophisten sind bzw. Praktiker der Antilogik einschließlich Sokrates. Platon sei der Meinung gewesen, dass Teile dieser Methodik höchst wertvoll sind und notwendige Vorbereitung für seine eigene Philosophie. Zur Diskussion s. Kerferd, Plato’s Noble Art of Sophistry, 84 – 90.
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(Sph. 222d) Diese gehörten dann entweder in den Bereich der Erotik (1qytij/r t´wmgr, Sph. 222e) oder wurden durch die Lust am Gespräch (di’ Bdom/r, ebd.) oder bloße Geschwätzigkeit motiviert (oqw 6teqom !dokeswijoO, Sph. 225d).546 Diese Beschreibungen sind schon bis in die Wortwahl hinein voller Anspielungen auf Sokrates: entweder wie er sich selber verstand oder von anderen gesehen wurde. Sokrates ist nicht nur der Erotiker par excellence, der den jungen Leuten nachstellt, um sie in Gespräche über die Tugend zu verwickeln. Er ist auch begierig auf Austausch mit allen geistigen Größen in seiner Heimatstadt Athen wie auch in Großgriechenland über die Frage, was für die Seele gut ist und wie sie besser wird. Seine Überlegenheit in Diskussionen ist ebenso berühmt wie berüchtigt. Und seine Behauptung, dass sein Philosophieren dazu diene, von der Illusion falschen Wissens zu befreien, und er nur wisse, dass er nichts wisse, ist geradezu sprichwörtlich geworden. Die Liste der Anspielungen ließe sich in einer Detailanalyse noch verlängern. Der Fremde aus Elea rückt Sokrates damit fast bis zur Ununterscheidbarkeit in die Nähe der Sophisten. Lediglich hinsichtlich der Motivation räumt er Unterschiede ein, weil Sokrates nie Geld forderte, sondern alles um der Liebe willen und aus Freude am Gespräch tat. Allerdings gesteht der Fremde der elenktischen Reinigung von falschen Meinungen eine propädeutische Wirkung zu, weil sie die Annahme der richtigen Kenntnisse vorbereitet. Denn nicht im elenchos, sondern in der Lehre sieht der Fremde die eigentlich philosophische Aufgabe. Der Eleat ist sich offensichtlich der zahlreichen und keineswegs zufälligen Parallelen bewusst. Sokrates schweigt dazu.547 Aber seine ahnungsvolle Eingangsbemerkung, dass der Gast sie wie ein Gott kritisch prüfen wird, hat sich bewahrheitet. Viel mehr als eine vorbereitende und dienende Reinigungskunst scheinen ihre Gespräche aus der Sicht eines philosophischen Tribunals nicht wert zu sein. Zugleich aber ist dramaturgisch noch vom Vortag Sokrates’ Auseinandersetzung mit Protagoras über den Stellenwert der Lehre für die philosophische Erziehung in frischer Erinnerung. Dort hatte Sokrates der vom Sophisten beanspruchten Lehrautorität die Selbständigkeit philosophischen Denkens und deren Förderung durch die Maieutik entgegengesetzt.548 Dieses Problem wiederholt sich im Sophistes, zumal hier wie dort Theaitetos Ge546 Zum Vorwurf der Geschwätzigkeit, der !dokesw¸a gegen Sokrates vgl. Tht. 195b f., Phd. 70c, R. 489a, Prm. 135b; zur Geschwätzigkeit der Sophisten s. Plt. 299b, Phdr. 270a und S. Natali, )dokesw¸a, Keptokoc¸a and the Philosophers in Athens, S. 232 – 241. Zur unterschiedlichen Bewertung philosophierender Jugendlicher oder philosophierender Erwachsener vgl. a. Grg. 485a-d und S. 140 – 145. 547 Friedländer versteht das Schweigen von Sokrates als wortlose Ironie, s. Friedländer, Platon, Bd. I, 162. 548 Vgl. S. 88, Anm. 131, dort Burnyeat zur sokratischen Kunst, etwas aus dem Geist des Gesprächspartners hervorzulocken, statt es ihm einzupflanzen.
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sprächspartner ist und zu philosophischer Erkenntnis geführt werden soll. Sokrates wollte im Theaitetos mit seiner Maieutik bewirken, dass Theaitetos ein Denkender wird, dass er philosophiert, selbst um den Preis möglicher geistiger Fehlgeburten. Der Fremde im Sophistes will hingegen, dass Theaitetos von falschen Vorstellungen gereinigt wird und dann das Richtige denkt, dass er also die richtige philosophische Lehre annimmt. Damit rückt der Fremde aus Sicht von Sokrates aber in gefährliche Nähe zum Sophisten.549 Wer ein Philosoph oder Sophist ist, entscheidet sich demnach auch an der Frage, wie junge Menschen philosophisch angeleitet werden und zu Einsichten gelangen. Damit steht besonders das Verhältnis von Elenktik und Lehre zur Diskussion, das Platon offensichtlich sowohl im Theaitetos als auch im Sophistes beschäftigt. Es liegt nahe, dafür einen lebensweltlichen Hintergrund in der Akademie anzunehmen. Denn diese ist inzwischen selbst eine respektable Lehranstalt geworden und steht zugleich in der Tradition des sokratischen Dialogs. Es geht dann in der Frage nach dem Verhältnis von Philosoph und Sophist nicht wie in den früheren »Sophistendialogen« um die Auseinandersetzung mit anderen, klar benennbaren Personen der Zeitgeschichte wie Gorgias oder Protagoras. Vielmehr ist eine Auseinandersetzung der Akademie mit dem eigenen philosophischen Erbe und dem eigenen philosophischen Profil angesagt sowie deren Gefährdung durch eine interne Sophistik.550
2.2.
Der Sophist und die Phantasiebilder aus Worten
Was ist dann der einheitliche Gesichtspunkt, unter dem das vielfältige und bunte Erscheinungsbild des Sophisten zu fassen ist? Der Fremde setzt bei dem Anspruch der Sophisten an, auf alle wichtigen Fragen eine Antwort zu haben und alles zu wissen. (Sph. 233a f.) Mit diesem scheinbar universalen Wissen rechtfertigen sie ihren Lehranspruch. Das sophistische Kunststück besteht aber nicht darin, tatsächlich in allem Bescheid zu wissen, sondern nur bei den Unkundigen diesen Eindruck zu erwecken, indem sie sich den Anschein des Wissenden geben. »Eine scheinbare Erkenntnis (donastijµm …tim±… 1pist¶lgm) also von allen Dingen, nicht aber die Wahrheit besitzend (oqj !k¶heiam 5wym !map´vam549 Man kann den weiteren Verlauf dieses Dialoges so verstehen, dass Theaitetos, zunächst von seinen unverträglichen Meinungen über Sein und Nichtsein befreit wird, um dann das richtige, nämlich bessere Verständnis vorgelegt zu bekommen, das »ebenso schwer wie schön« ist. (Sph. 259b f.) Das wirft ein neues Licht auf die »edle Sophistik«, die dann gerade in ihrem zweiten, eigentlich erzieherischen Teil eine Kunst der Lehre wäre und der Fremde ihr Protagonist. Die Nähe zu Protagoras sieht auch Kerferd, Plato’s Noble Art of Sophistry, 90. 550 Siehe a. S. 353 ff.
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tai) zeigt sich der Sophist.« (Sph. 233c, Üb. Schl.) Das Phänomen des Scheins ist das zentrale Problem, hinter dem sich der Sophist verbirgt. Darin ist seine Junst der Malerei verwandt. Nur erzeugt er mit Worten statt mit Farben Schattenbilder des Wirklichen (eUdyka, Sph. 234c), so dass es den Anschein hat, als würde er Wahres sagen, während es doch nichts anderes als Phantasiegebilde sind, trügerische Bilder aus Worten (t± 1m to?r kºcoir vamt²slata). (Sph. 234e) Es scheint, als hätte man den Sophisten bereits erfasst, indem man ihn bestimmt als jemanden, der Phantasiebilder aus Worten herstellt und dadurch falsche Vorstellungen bei seinen Hörern hervorruft. Aber es scheint eben nur so. Denn auch jetzt erweist sich der Sophist wieder als ein Meister des Scheins, der sich hinter einem zweifelhaften Begriff versteckt (eQr %poqom eWdor). »In Wahrheit, du Guter, wir befinden uns in einer höchst schwierigen Untersuchung. Denn dieses Erscheinen und Scheinen ohne zu sein (t¹ c±q va¸meshai toOto ja· t¹ doje?m, eWmai d³ l¶) und dieses Sagen zwar, aber nicht Wahres (t¹ k´ceim l³m %tta, !kgh/ d³ l¶), alles dies ist immer voll Bedenklichkeiten (!poq¸ar) gewesen schon ehedem und auch jetzt. Denn auf welche Weise man sagen soll, es gäbe wirklich ein falsch Reden oder Meinen (xeud/ k´ceim C don²feim emtyr eWmai), ohne doch schon, indem man es nur ausspricht, auf alle Weise in Widersprüchen befangen zu sein, dies, o Theaitetos, ist schwer zu begreifen.« (Sph. 236d f., Üb. Schl.) Die Ratlosigkeit über den Sophisten hat sich nur verschoben zur Ratlosigkeit über die Möglichkeit von Schein und Lüge, also von etwas Nicht-Wirklichem. Denn wer dem Sophisten den Scheincharakter seiner Aussagen vorhält, gerät in den Widerspruch, die Wirklichkeit des Nicht-Wirklichen zu behaupten, indem er unterstellt, dass das Nichtseiende sei (rpoh´shai t¹ lµ em eWmai).551 Sonst kann es nichts Falsches (xeOdor) geben. (Sph. 237a) Unser Alltagsbewusstsein geht zwar selbstverständlich von dieser Voraussetzung aus, denn wer würde nicht vielfältig behaupten, dass jemand lügt und etwas Unzutreffendes sagt oder etwas falsch sei, weil es nicht die Wirklichkeit trifft. Aber genau dies bestreitet der Sophist.552 Und er kann sich dabei auf große Autoritäten berufen, auf niemand geringeren als Parmenides. Nach dem Satz von Parmenides »Denn niemals kann das erzwungen werden, dass Nichtseiendes ist. Sondern von diesem Wege des Suchens halte du den Gedanken fern«553 ist das Nichtseiende schlechthin undenkbar und unaussprechbar. (Sph. 237a f., 238c) Wer also behauptet, es gäbe 551 Kamlah sieht das Interesse Platons vor allem darin, dem »Unbegriff« des Nichtseienden als dem Nichtwirklichen den Abschied zu geben, siehe Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes, 47. 552 Vgl. Sph. 260d: »Denn das Nichtseiende könne man weder denken noch sagen.«; s.a. Euthd. 284c, 286a; Tht. 188d, 189a f. 553 Oq c±q l¶pote toOto dal0 eWmai lµ 1ºmta. / !kk± s» t/sd’ !v’ bdoO dif¶sior eWqce mºgla. Prm. B7, 1 – 2, Üb. Heitsch.
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Die philosophische Erkenntnis
Schein und Lüge, und darunter das Nichtseiende versteht, widerspricht sich selbst, indem er vermeintlich Nichtseiendes denkt und ausspricht. Wer etwas sagt, bezeichnet ja etwas, sonst machte seine Rede keinen Sinn und wäre inhaltsleer. Dieses »Etwas« aber wird von etwas Seiendem ausgesagt (t¹ »t·« toOto t¹ N/la 1p’ emti k´colem, Sph. 237d), und wer nicht »Etwas« sagt, sagt nichts, zumindest nichts Verständliches. Die Selbstverteidigung des Sophisten besteht also im Gegenangriff.554 Er bestreitet grundsätzlich, dass es Schein und Lüge in der Rede überhaupt gibt. Gesteht man ihm das zu, hat sich die Charakterisierung des Sophisten als jemand, der Phantasie- und Trugbilder aus Worten herstellt, in Luft aufgelöst. Zugleich bedeutet es die Kapitulation vor dem Wahrheitsanspruch jeder Rede. Wir stehen also von neuem vor dem alten Problem, ob es wahre und falsche Meinungen gibt und entsprechend wahre und falsche Aussagen.555 Damit steht aber zugleich ein Verständnis der Philosophie auf dem Spiel, das im Primat des wahren Wissens vor der falliblen Meinung genau diese Unterscheidung zum Kriterium philosophischer Rede macht. So führt kein Weg daran vorbei, den Satz des »Vaters Parmenides« zu prüfen und zu zeigen, dass das Nichtsein in gewisser Hinsicht ist und das Sein wiederum in gewisser Weise nicht ist (tº te lµ cm ¢r 5sti jat² ti ja· t¹ cm aw p²kim ¢r oqj 5sti p,, Sph. 241d). Bei aller Wertschätzung, die aus dem Ehrentitel spricht, (Sph. 242a) wird auch Parmenides nicht geschont. Und so erklärt der Eleat, dass er selbst auf die Gefahr hin, verrückt (lamijºr) zu erscheinen, nicht vor einem Vatermord zurückschrecken dürfe und das Verdikt von Parmenides in den Wind schlagen müsse, über das Sein des Nichtseins nachzudenken.556 (Sph. 241d) Durch diesen ausdrücklichen Tabubruch wird eine große Spannung und Erwartungshaltung erzeugt. Hatten wir nicht zu Anfang gehört, dass die Philosophen der unwissenden Menge gelegentlich verrückt vorkommen (5womter 554 Zum Prinzip des sophistischen Gegenangriffs vgl. Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 163 – 204. 555 Dieses Problem hatte die Freunde schon im Euthydemos und Theaitetos beschäftigt; siehe S. 67 und 88 ff. 556 Es wird sich zeigen, dass das Nichtseiende vom Fremden nicht als Gegensatz (1mamt¸om) des Seienden verstanden wird, als welcher das Nichtseiende bei Parmenides anzusehen ist, sondern als ein von einem bestimmten Sein Verschiedenes (6teqom). (Sph. 256b) Aber mit der Einführung des Verschiedenen ist nichts grundsätzlich Neues gedacht. Denn erstens wird das Verschiedene als Ermöglichung von Irrtum und falscher Vorstellung bereits im Theaitetos diskutiert, (Tht. 199a f.) und zweitens steht das Verschiedene im Gegensatz zum Identischen und nicht zum Sein. Dementsprechend betont der Fremde später auch, dass sie keineswegs vom Nichtseienden als Gegenteil des Seienden behauptet hätten, dass es sei, denn das sei in der Tat gänzlich unerklärbar und unsagbar. (Sph. 258e f.) Insofern kann man auch der Auffassung sein, dass der Fremde dem »Vater Parmenides« keineswegs unfolgsam war, wie er behauptet, (Sph. 258c) sondern dessen Verbot gar nicht wirklich übertreten hat. Der sogenannte »Vatermord« ist dann weit weniger revolutionär als angekündigt.
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lamij_r, Sph. 216d)? So scheint es ein möglicher Hinweis auf die philosophische Natur des Fremden zu sein, wenn er den Fragen über Sein und Nichtsein ohne falsche Rücksicht auf Autoritäten nachgeht.
2.3.
Der Philosoph und der Logos als Abbild des Seienden
Im Folgenden berichtet der Fremde von seiner Odyssee557 durch die Widersprüche und Unverständlichkeiten der zeitgenössischen philosophischen Landschaft in Bezug auf die Seinsvorstellungen. Weder Xenophanes und die alte Eleatische Schule mit Parmenides noch die ionischen Naturphilosophen oder die Philosophen in Sizilien, die Pythagoreer, kommen ungeschoren davon. (Sph. 242c – 245e) Zu allem Überfluss ist auch noch ein Riesenkrieg, eine Gigantomachie, zwischen Materialisten und Idealisten über das Sein entbrannt.Während die einen nur das für wirklich halten, was der sinnlich wahrnehmbaren Welt angehört, halten die anderen ausschließlich die Welt des Denkbaren und die unkörperlichen Ideen für das wahre Sein. Beide Positionen kranken daran, dass sie ihr Verständnis absolut setzen. Während die ersten in Anlehnung an Heraklit behaupten, es gäbe nur ein Werden der Körperwelt und also Veränderlichkeit und Bewegung, behaupten letztere mit Parmenides, es gäbe nur ein Sein und das sei unveränderlich und damit unbewegt. (Sph. 246a-d) Doch die Materialisten müssen zugestehen, dass allem Werden in der Körperwelt eine Veränderung zugrunde liegt, bei der ein Körper entweder etwas erleidet (pahe?m) oder etwas tut (poie?m). Dazu bedarf es jedoch der Fähigkeit (d¼malir) des Körpers, etwas zu erleiden oder zu tun. Diese Fähigkeit ist selbst nicht körperlich, aber dennoch wirklich (toOto emtyr eWmai), so dass die Materialisten ihre Behauptung einer strikten Körperlichkeit des Wirklichen nicht aufrechterhalten können. (Sph. 247d f.) Die Ideenfreunde wiederum räumen zwar ein, dass der Körper durch die Sinne mit dem Werden Gemeinschaft hat, aber für die Seele bestreiten 557 Den Dialogteilnehmern dürfte bekannt sein, dass das Homerzitat von Sokrates, das auf den Gast als prüfenden Gott anspielt, (Sph. 216a f., siehe a. S. 327) auf der literarischen Ebene auf Odysseus verweist, der in der Maske des Gastes von seiner Odyssee heimkehrt. Wieder daheim findet der Kampf mit den Freiern um seine Frau Penelope statt. (Hom. Od. 22) Der Bericht des Fremden gleicht nicht nur einer geistigen Odyssee durch die Ansichten und Irrtümer über Sein und Nichtsein, sondern die zahlreichen Kampfmetaphern stehen auch für die geistige Auseinandersetzung mit ihnen. In einer Wanderanekdote, die Gorgias zugeschrieben wird, ist Penelope die Personifikation der Philosophie, und ihre Mägde, mit denen sich die Freier zwischenzeitlich vergnügen, versinnbildlichen die enzyklischen Fächer (DK II 82, Fr. 29, Anm. 27); siehe dazu S. 35, Anm. 46. Das Homerzitat von Sokrates kann deswegen auch als Hinweis auf den Kampf von Odysseus mit den Freiern um Penelope gelesen werden. Auf der Ebene des Dialogs ist das der Kampf um den rechtmäßigen Anspruch auf die Philosophie.
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sie jegliche Veränderung, da die Seele nur mit dem wahrhaften Sein Gemeinschaft habe und dieses unveränderlich sei. (Sph. 248a) Wäre aber die Seele gänzlich unveränderlich, wäre sie auch unfähig, etwas zu erleiden oder zu wirken, denn das würde Veränderlichkeit implizieren. Nun ist die Fähigkeit der Seele, etwas zu erkennen, ein Tun, und das Erkanntwerden des Seins ein Erleiden.558 Das aber setzt voraus, dass die Seele belebt ist und Vernunft besitzt.Wenn man darum wie die Ideenfreunde annimmt, dass das Sein gänzlich unbewegt ist und ruht, schließt man nicht nur Bewegung, Leben, Seele und Vernunft (moOr) von dem wahrhaft Seienden aus, sondern auch die Möglichkeit der Erkenntnis. (Sph. 248e f.) Das ist jedoch für einen Philosophen völlig inakzeptabel, weil dann keinerlei Aussagen über irgendetwas möglich sind. Wer Wissen, Einsicht oder Vernunft leugnet (1pist¶lgm C vqºmgsim C moOm !vam¸fym, Sph. 249c), entzieht auch dem Logos den Boden. Für den Philosophen aber sind Erkennbarkeit und Kommunizierbarkeit des Seins unverzichtbare Voraussetzungen seines Denkens und Redens, unabhängig davon, ob er empirisch oder idealistisch argumentiert: Denn der Philosoph, der dieses alles am meisten schätzt [d.i. Wissen, Einsicht, Vernunft und Rede], ist anscheinend gezwungen, ganz entsprechend dem Kindergebet: »alles sei unbewegt und bewegt« vom Sein und vom All beides zusammen zu sagen.559 (T` dµ vikos|v\ ja· taOta l\kista til_mti p÷sa, ¢r 5oijem, !m\cjg di± taOta … jat± tµm t_m pa_dym eqw^m, fsa !j_mgta ja· jejimgl]ma, t¹ em te ja· t¹ p÷m sumalv|teqa k]ceim. Sph. 249c f., Üb. B.S.)
Um der Erkennbarkeit des Seins und der Welt und um der Möglichkeit der Rede willen muss der Philosoph beide Alternativen zugleich behaupten. Der epistemische Zugang zur Wirklichkeit ist für sein Welt- wie für sein Selbstverständnis konstitutiv. Er ist deswegen zu ontologischen Annahmen genötigt, die zunächst selbstwidersprüchlich scheinen. Weil die Struktur, in der sich Denken und Einsicht vollziehen, ihm Erkenntnisgrund für die Struktur des Seins ist, ist es für ihn zwingend notwendig, vom Sein und All anzunehmen, dass es sowohl bewegt ist als auch ruht. Denn wenn das Erkennen eine Aktivität ist, ein poie?m wie das unterscheidende diajq¸meim, das Sortieren, (Sph. 226b, d) dann ist das Erkanntwerden eine Passivität, ein p²sweim, wodurch der erkannte Gegenstand von andern unterschieden, einer bestimmten Kategorie zugeordnet und folglich bewegt wird.560 Umgekehrt aber sind Unveränderlichkeit und Ruhe des Erkannten Voraussetzung dafür, etwas überhaupt als Einzelnes identifizieren und 558 Platon geht hierbei von der aktiven und passiven Sprachform aus: »…wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig, dass das Erkannte leidet.« (t¹ cicm¾sjeim eUpeq 5stai po?eim ti, t¹ cicmysjºlemom !macja?om aw sulba¸mei p²sweim, Sph. 248d f., Üb. Schl.) 559 Fowler versteht die Wendung fsa !j_mgta ja· jejimgl]ma unter Verweis auf Stallbaum als ein ritualisiertes Kinderspiel, das hier zitiert wird. (Fowler, Plato in Twelve Volumes, Vol. 12, Soph. 249d) 560 Siehe hierzu Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 78 – 89, 92 f.
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erkennen zu können. Der Lösungsvorschlag für dieses Problem zielt darauf, dass Ruhe und Bewegung nicht mit dem Sein identisch sein dürfen, denn erst dadurch entsteht der Widerspruch. So muss das Sein als ein Drittes neben Ruhe und Bewegung angenommen werden und beide umschließen.561 (Sph. 250b f.) Dieses Verhältnis der Nichtidentität von Sein und Ruhe oder Bewegung, aber auch deren Verbundenheit verdeutlicht der Eleat am Beispiel der Sprache. Wir bilden sprachlich nicht nur Identitätssätze wie »Das Gute ist das Schöne« oder Selbstprädikationen wie »Das Gute ist gut«, sondern die menschliche Kommunikation vollzieht sich wesentlich in Form prädikativer Sätze der Art »Der Mensch ist gut«. (Sph. 251b f.) Dabei verknüpfen wir verschiedene Satzglieder durch Bindeglieder. (Sph. 252c) Im Fall des Satzes: »Der Mensch ist gut« fungiert »ist« als Kopula zwischen Subjekt und Prädikat. Das Sein dieser unterschiedlichen Begriffe ist ihr Vermögen, miteinander in Gemeinschaft zu treten (joimym¸a 5weim), gleichwie die Glieder eines Satzes durch die Kopula »ist« miteinander verbunden werden. (Sph. 251d f., 252b f., 254c) Da einige aber nicht zusammenpassen, andere wiederum miteinander harmonieren (t± l³m !maqloste? pou pq¹r %kkgka, t± d³ sumaqlºttei), ergibt sich daraus eine erkennbare Struktur. Wie man nicht alle Töne unterschiedslos miteinander vermischt, außer man ist unmusisch (%lousor), oder wie erst die Vokale die Konsonanten zu einem verständlichen Wort verbinden, so gilt das auch für Sätze und Aussagen. Ganz analog zur Wortbildungslehre und zur Musik gibt es eine Kunst, eine techne, die sich auf die Struktur des Seins und ihrer Gattungsbegriffe bezieht und sich in der Sprache abbildet. Die Wirklichkeit wird also nicht durch einzelne, unzusammenhängende Worte sachgemäß wiedergegeben, sondern durch einen Satz mit einer verstehbaren, sinnvollen Struktur. Auch beim Reden bedarf es also einer Wissenschaft, episteme, um zu wissen, welche Gattungsbegriffe mit welchen zusammenstimmen (po?a po¸oir sulvyme? t_m cem_m). Entsprechendes gilt für die dihairetische Unterteilung der Gattungsbegriffe. (Sph. 253a-b) Und wie, Theaitetos, sollen wir diese [Wissenschaft] nennen? Oder sind wir, beim Zeus, ohne es zu bemerken, in die Wissenschaft freier Menschen hineingeraten? Und mögen wohl gar den Sophisten suchend zuerst den Philosophen gefunden haben? (T_m’ owm aw [mOm] pqoseqoOlem, § Hea_tgte, ta}tgm; C pq¹r Di¹r 1k²holem eQr tµm t_m 1keuh´qym 561 Zum Umfasstwerden (peqiewol´mgm) von Ruhe und Bewegung durch das Sein vgl. die viel diskutierte, enigmatische Beschreibung der Ideen-Dialektik in Sph. 253d 7 f. Dort wird die zweite Art der Ideen dadurch beschrieben, dass viele, voneinander verschiedene Ideen äußerlich von einer umfasst werden (peqiewol´mar). Das Sein ist demnach ein Kandidat für diese zweite Kategorie von Ideen. Zur Ideen-Dialektik siehe a. Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, 262 – 268; Bluck, Plato’s Sophist, 125 – 132; Taylor, The Sophist and The Statesman, 157; Dixsaut, M¦tamorphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 177 – 207; Rosen, Plato’s Sophist, 259 f.; D. Frede, Dialektik in Platons Spätdialogen, 157 f.; Finck, a. a. O., 71 – 74; Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 234 – 237; Iber, Platon: Sophistes, 283 – 285.
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Die philosophische Erkenntnis
1lp´somter 1pist¶lgm, ja· jimdume¼olem fgtoOmter t¹m sovistµm pqºteqom !mguqgj´mai tºm vikºsovom; Sph. 253c, Üb. Schl.)
Wie beiläufig kommt hier der Eleat auf den Philosophen und dessen Wissenschaft, die Dialektik, zu sprechen. Das ist kein Zufall. Die Aufgabenstellung der ersten Untersuchung lautete zwar, den Sophisten zu bestimmen. Dass nun aber der Philosoph vor dem Sophisten »gefunden« wird, zeigt, dass der Sophist nurmehr ein Schattenbild des Philosophen ist und dessen Negation. Das wird im Folgenden genauer begründet. Um den Sophisten zu bestimmen, muss zuvor zumindest umrisshaft der Philosoph bestimmt werden. Die Unterscheidung von Sophist und Philosoph ist also ein Anwendungsfall der Dihairese und diese essentieller Bestandteil der Dialektik. Denn das Trennen nach Gattungen (t¹ jat± c´mg dia¸qeshai) und die Fähigkeit, die Ideen und Begriffe (eWdor) auseinander zu halten und nicht fälschlich zuzuordnen, gehört zur dialektischen Wissenschaft (t/r diakejtij/r … 1pist¶lgr). (Sph. 253d) Aber die Dialektik, wirst du, so glaube ich, doch keinem anderen zugestehen als dem, der rein und auf rechte Art philosophiert? ()kk± lµm t| ce diakejtij¹m oqj %kk\ d~seir, ¢r 1cçlai, pkµm t` jahaq_r te ja· dija_yr vikosovoOmti. Sph. 253e, Üb. B.S.)
Der Philosoph ist demzufolge der Dialektiker, der mittels der Dihairese alles Seiende in Gattungen einteilt. Dabei hat er stets das Ganze des Seins und des Alls im Blick.562 (Sph. 249d) In diesem Blick auf das Ganze und seine dialektische Struktur besteht die rechte Art zu philosophieren. Der Rekurs auf die rechte Art zu Philosophieren ruft die Unterscheidung zwischen den angeblichen und wirklichen Philosophen in Erinnerung. (Sph. 216c) Während die angeblichen Philosophen jenen gleichen, die durch ihre Sinne auf die Körperwelt bezogen bleiben, ist der wirkliche Philosoph ständig mit der intelligiblen Welt beschäftigt und gebraucht seine geistigen Sinne. Entsprechend schwer ist er für die meisten zu erkennen: Der Philosoph aber, der durch sein Nachdenken immer mit der Idee des Seienden zusammen ist, ist wiederum wegen des lichten Glanzes der Gegend keineswegs leicht zu erblicken. Denn die Geistesaugen der meisten sind nicht stark genug, den Blick auf das Göttliche zu richten. (j d] ce vik|sovor, t0 toO emtor !e· di± kocisl_m pqosje_lemor Qd]ô, di± t¹ kalpq¹m aw t/r w~qar oqdal_r eqpetµr avh/mai· t± c±q t/r t_m pokk_m xuw/r ellata jaqteqe?m pq¹r t¹ he?om !voq_mta !d}mata. Sph. 254a, Üb. B.S.)
Dem wirklichen Philosophen erschließt sich die intelligible Welt und das unveränderliche Sein der Dinge, ihre Idee, durch das vernunftgeleitete Denken. Dafür steht die Metapher vom Geistesauge.563 Seine vornehmlichen Gegenstände 562 Siehe auch R. 486a, 537c. 563 Schleiermacher übersetzt treffend »Geistesaugen«; vgl. a. Smp. 219a, wo das geistige Auge zur Wahrnehmung der intelligiblen Welt erst im Alter an Schärfe gewinnt; R. 515d f., wo
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sind diese göttlichen Ideen, die er mit dialektischen Mitteln zu erfassen sucht, nämlich durch Abtrennung und Unterscheidung untereinander und von ihren Instanzen. Offenbar werden wir den Philosophen in diesem Bereich finden, wenn wir ihn suchen, sowohl jetzt als auch später, doch ist es schwierig, ihn deutlich zu sehen… (T¹m l³m dµ vikºsovom 1m toio¼t\ tim· tºp\ ja· mOm ja· 5peita !meuq¶solem 1±m fgt_lem, Qde?m l³m wakep¹m 1maqc_r ja· toOtom… Sph. 253e, Üb. B.S.)
Die Schwierigkeit, den Philosophen zu erkennen, ist analog zur Schwierigkeit, das Sein der Ideen, das ist ihre Qualität und Bestimmtheit, zu erkennen.564 Die beim Aufstieg aus der Höhle die Augen vom Licht schmerzen und man das Licht fliehen möchte; R. 533d, wo die propädeutischen Wissenschaften der Dialektik helfen, das im barbarischen Schlamm vergrabene geistige Auge aufwärts zu führen. Die Stelle aus dem Sophistes 254a findet ihren Widerhall in der 1. der 6 Philosophiedefinitionen, die in der spätantiken Schulphilosophie kanonisiert wurden: vikosov¸a 1st· cm_sir t_m emtym Ø emta 1st¸; siehe Dörrie/Baltes. Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, 22 f., 233. 564 Der Dialog Parmenides behandelt Schwierigkeiten und Missverständnisse, die sich aus der Annahme von Ideen im Verhältnis zu ihren Instanzen ergeben. Die großen Eleaten Parmenides und Zenon konfrontieren den jungen, für die Philosophie begeisterten, aber noch nicht sehr geübten Sokrates mit der Frage, von welchen Gegenständen Ideen angenommen werden können. Gegenstände, von denen Wertprädikate ausgesagt werden, also die üblichen Kandidaten wie etwas Schönes, Gutes und Gerechtes, sind für Sokrates unproblematisch, und er setzt dafür fraglos Ideen voraus. (Prm. 130b) Auch für formale Kategorien wie Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Vielheit und Einheit und dergleichen, die im Sophistes als megista gene diskutiert werden, akzeptiert er Ideen. (Prm. 129a-e) Ob es allerdings auch Ideen von körperlichen Elementen wie Feuer oder Wasser oder von Lebewesen wie Menschen gibt, bezweifelt er. (Prm. 130c) Und erst recht widerstrebt ihm die Ideenannahme für minderwertige Dinge wie Haare, Schlamm oder Schmutz. (Ebd.) Aber er kann keine Gründe angeben, die es erlauben, Ideen für die genannten Gegenstände auszuschließen. Genau dies wird von Parmenides getadelt. Entweder muss er für alle existierenden Dinge gleicherweise Ideen annehmen oder alle verwerfen oder ein Ausschlusskriterium benennen. So schwankt Sokrates zwischen dem, was er als bodenlose Albernheit empfindet, und dem Interesse und der Freude an der Beschäftigung mit den Ideen hin und her. Du bist eben noch jung, o Sokrates, habe Parmenides gesagt, und noch hat die Philosophie dich nicht so ergriffen, wie ich glaube, dass sie dich noch ergreifen wird, wenn du nichts von diesen Dingen mehr gering achten wirst. Jetzt aber siehst du noch auf der Menschen Meinungen deiner Jahre wegen. (M]or c±q eW 5ti, v\mai t¹m Paqlem_dgm, § S~jqater, ja· oupy sou !mte_kgptai vikosov_a ¢r 5ti !mtik^xetai jat’ 1lµm d|nam, fte oqd³m aqt_m !til\seir· mOm d³ 5ti pq¹r !mhq~pym !pobk]peir d|nar di± tµm Bkij_am. Prm. 130e, Üb. Schl.) Parmenides fordert hier eine ähnliche Enttabuisierung der philosophischen Reflexion wie der Fremde im Sophistes, der das Verdikt übertritt, über das Sein des Nichtseins nachzudenken. Das Problem von Sokrates lässt sich darauf zurückführen, dass er der Idee die gleichen Eigenschaften prädiziert wie ihren Instanzen. Bei Ideen wie dem Schönen ist das auf den ersten Blick auch unproblematisch. Von ihr wird vielfach gesagt, dass sie selbst schön und das Schönste sei, weshalb der Philosoph danach strebt, die Idee des Schönen zu erfassen und zu berühren. Kann man nun Gleiches auch von einer Idee des Menschen oder negativ konnotierter Dinge wie dem Schmutz sagen? Kommen deren Eigenschaften auch der Idee selbst zu? Der intuitive Zweifel von Sokrates beruht darauf, dass diesen Ideen spezifische Bestimmungen zugesprochen werden, die in Spannung oder gar Widerspruch
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Die philosophische Erkenntnis
Helligkeit und der Glanz des Seins in der geistigen Welt überträgt sich auf den Philosophen, der die Struktur des Seienden erforscht. Wer das Sein erkennt und vom Nichtsein zu unterscheiden vermag, kann auch den Philosophen erkennen und von seinem Gegenspieler, dem Sophisten unterscheiden. Dieser ist gleichfalls schwer zu erkennen, nur aus entgegengesetztem Grund, weil der Sophist in die Dunkelheit des Nichtseins entflieht (eQr tµm toO lµ emtor sjoteimºtgta, Sph. 254a). Allein ein Philosoph vermag das sicher zu leisten. Die Lichtmetapher zu den durchgängig positiv konnotierten Eigenschaften stehen, die den Ideen allgemein qua Idee zukommen. Dieses Problem wird in der Literatur unter den Stichworten »Dritter Mensch« und »Selbstprädikation« diskutiert (siehe dazu zusammenfassend Strobel, Art. Idee/ Ideenkritik/ Dritter Mensch, 289 – 296; Erler, Platon, PhdA2/2, 398; Fink, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 101 – 121). So absurd diese Folgerungen scheinen, soll sich ein Philosoph deswegen nicht davon abbringen lassen, Ideen anzunehmen, sondern die Probleme konsequent durchdenken und nach Lösungen suchen. Genau das fordert Parmenides hier ein. Damit ist nicht gesagt, dass die Skepsis von Sokrates sachlich falsch sei. Vielmehr besteht die Aufgabe der Philosophie darin, Begründungen und gegebenenfalls Unterscheidungskriterien zu finden, die widerspruchsfrei sind. Der Parmenides und die darin aufgeworfenen Probleme intendieren also keineswegs eine grundsätzliche Ideenkritik, wie oft unterstellt wird, sondern stellen einen Diskussionsbeitrag dar zu den Schwierigkeiten und Missverständnissen, die Anfängern und Ungeübten unterlaufen und die wahrscheinlich Gegenstand lebhafter Diskussionen in der Akademie waren. (Vgl. dazu Graeser, Wie über Ideen sprechen?: Parmenides, 147 f.; Strobel, ebd.; Fink, ebd.) Wenn Parmenides hier die Philosophie anmahnt, so meint er die vorbehaltlose Prüfung eines Denkansatzes, in diesem Fall besonders des Begründungsverhältnisses von Ideen und Instanzen. In die gleiche Richtung geht der Kommentar von Parmenides bei der Untersuchung der Frage, ob man von einer Teilhabe der Instanzen an den Ideen sprechen kann und Ideen von allen Einzeldingen annehmen muss. Würde man wegen der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten unveränderliche Ideen für jegliches Seiende ablehnen, stünde man vor dem Problem, sowohl dem Denken als auch dem Sprechen die Grundlage zu entziehen, weil sie angesichts der Veränderlichkeit der Dinge nichts mehr hätten, auf das sie sich beziehen könnten. Das käme einer Selbstaufhebung der Philosophie gleich, weil ihre Erkenntnis auf dem Vermögen zur Unterredung und dialektischen Untersuchung beruht (tµm toO diak´ceshai d¼malim, Prm. 135c). Was also willst du tun hinsichtlich der Philosophie? Wohin willst du dich wenden, wenn du über diese Dinge zu keiner Erkenntnis gelangen kannst? (T_ owm poi^seir vikosov_ar p]qi; p0 tq]x, !cmooul]mym to}tym; Prm. 135c, Üb. Schl.) Wie in Sph. 249c f. wird ein Erkenntnisgrund als Argument für den Seinsgrund der Ideen angeführt. Der Philosoph kann auf die Ideenannahme nicht verzichten. Ideen sind nach Platon für das Denken und Erkennen des Philosophen alternativlos. Der einzig gangbare Weg ist ein tieferes und besseres Verständnis der ontologischen Gegebenheiten. Der Parmenides stellt darum keine grundsätzliche Kritik der Ideenannahme der mittleren Dialoge dar. Finck hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass in der drameninternen Chronologie der junge Sokrates des Parmenides sonst weiter sei als der reife Sokrates der Politeia oder gar der sterbende des Phaidon. Der alte Sokrates hätte aus den Fehlern des jungen nichts gelernt. (Fink, a. a. O., 100 f.) Es ist höchst unplausibel, dass Platon ein solches Bild von seinem Lehrer vermitteln wollte. Die dramaturgische Figur des jungen Sokrates macht hingegen gerade dann Sinn, wenn sie für Anfängerschwierigkeiten mit der Ideenannahme steht, die aber überwindbar sind und vom reifen und alten Sokrates nach der Darstellung Platons auch überwunden wurden.
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besagt, dass nur ein geeignetes und geübtes Auge, das ist die Vernunft, in der Lage ist, das Sein und mit ihm auch den Philosophen zu erkennen, wenn es sich an das Licht gewöhnt hat. Durch die Dialektik gewinnt das Geistesauge des Philosophen seine Sehschärfe und wird fähig zur Erkenntnis der Eigenheit einer Idee wie auch zur Unterscheidung verschiedener Ideen. Die Metapher der Dunkelheit besagt dagegen, dass das Nichtsein und auch der Sophist selbst für ein geübtes Augen kaum zu erkennen sind, sondern nur als Negation indirekt erschlossen werden können. Philosoph und Sophist hängen zusammen wie Sein und Nichtsein oder Licht und Schatten. Im Folgenden demonstriert der Eleat, wie sich die Struktur des Seins und damit ihre Erkennbarkeit auf die Fähigkeit der Ideen, der eide, zurückführen lässt, miteinander in Gemeinschaft zu treten (joimyme?m). Dabei beschränkt er sich auf wenige Begriffe, die er für die wichtigsten hält, die megista gene, (Sph. 254c f.) nämlich Sein, Bewegung und Ruhe. Ihr Verhältnis zueinander ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Idee des Seins sowohl mit der Idee der Bewegung wie mit der Idee der Ruhe verknüpfen lässt, ohne jedoch mit ihnen identisch zu sein. Bewegung und Ruhe dagegen sind gänzlich unvereinbar. Dabei wird deutlich, dass jede dieser Ideen in Bezug auf sich selbst (jah’ art²) mit sich selbst identisch und dasselbe ist (taqtºm) und zugleich als Kehrseite dieser Identität in Bezug auf andere (pq¹r %kka) ein von diesen Verschiedenes (t¹ 6teqom). (Sph. 255c f.) Das Sein ist also mit Bezug auf Bewegung und Ruhe und jede andere Idee ein von diesen Verschiedenes und gerade dadurch mit sich selbst identisch. Gleiches gilt für jede andere Idee. Durch diese Reflexion gewinnt der Eleat Identität und Verschiedenheit als vierten und fünften Gattungsbegriff. Weil Identität und Verschiedenheit wie das Sein von jedem Seienden (t_m emtym) ausgesagt werden können, sind sie zentrale formale Begriffe, die für die Strukturbeschreibung der Ideen unerlässlich sind.565 (Sph. 255c) Jede Idee ist also nicht nur mit sich selbst identisch, sondern auch von allen anderen verschieden. Gerade aufgrund ihrer Fähigkeit, an der Idee des Verschiedenen Anteil zu haben (di± t¹ let´weim t/r Qd´ar t/r hat´qou, Sph. 255e), ist sie aber von den anderen Ideen nicht völlig isoliert, sondern auf sie bezogen. Verschieden ist eine Idee immer in Bezug auf eine andere. Der Bezug, unter dem man eine Idee betrachtet, ist also entscheidend für das, was von ihr ausgesagt werden kann. Das gilt auch hinsichtlich des Seins. So kann man für alle Ideen insgesamt sagen, dass sie sind und ein Seiendes sind, weil sie am Sein teilhaben (fti let´wei toO emtor, eWma¸ te ja· emta). Und wiederum sind sie nicht Seiendes, weil die Natur des Verschiedenen sie von eben diesem Sein ausgrenzt und sie zu 565 Zur Unterscheidung zweier Arten von Ideen, der paradigmatischen Ideen bzw. generellen Begriffe und der Gemeinbegriffe (koina) bzw. formalen Begriffe, siehe D. Frede, Dialektik in Platons Spätdialogen, 147 – 167.
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Die philosophische Erkenntnis
einem Nichtseienden macht (B hat´qou v¼sir 6teqom !peqcafol´mg toO emtor 6jastom oqj cm poie?). (Sph. 256d f.) Sie haben am Sein teil, sind aber nicht mit dem Sein identisch.566 Daraus zieht der Fremde die für seine Argumentation zentrale Folgerung: »Wenn wir Nichtseiendes sagen (t¹ lµ em), so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes (oqj 1mamt¸om ti … toO emtor %kk’ 6teqom lºmom).« (Sph. 257b, Üb. Schleiermacher) Das ist seine Formel zur Lösung der Aporien über Sein und Nichtsein, über Schein und Lüge: Das Nichtsein ist das Verschiedene!567 Damit sind wir der Bestimmung des Sophisten um den entscheidenden Schritt näher gekommen, denn er wurde als jemand beschrieben, der trügerische Phantasiebilder aus Worten herstellt. Seine Verteidigungsstrategie, dass es Irrtum und Lüge ebenso wenig gibt wie das Nichtsein, läuft ins Leere, wenn das Nichtsein nicht im strengen Sinn als Nichtexistenz verstanden wird, sondern als 566 M. Frede argumentiert dafür, dass das Seiende als Drittes neben Bewegung und Ruhe kein »drittes Seiendes« ist im Sinn eines weiteren Seienden, sondern die Rede von der Teilhabe metaphorisch zu verstehen sei derart, »… daß das Sein einer Sache die Form ist, welche das Sein im Falle einer Sache dieser Art annimmt. Daß etwas am Sein teilhat, hieße also, daß etwas eine bestimmte Form von Sein hat.« (M. Frede, Die Frage nach dem Seienden: Sophistes, 196) Das Sein einer Sache ist dann nichts anderes als ihre artspezifische Form. Ähnlich Finck, der anstelle von Form vom Bestimmt-Sein einer Idee als deren Sein spricht. (Finck, Platons Begründung der Seele im absoluten Denken, 92 f.) Vgl. a. Bordt: »Der entscheidende Punkt ist, daß die Möglichkeit, von einem Subjekt das Sein auszusagen, dieses Subjekt nicht charakterisiert. Das ›ist‹ ist kein semantisches Prädikat. ›Ist‹ wird gebraucht, um einem Subjektterm andere Terme zuzuschreiben, und nicht, um damit selbst etwas von dem Subjekt auszusagen.« (Bordt, Der Seinsbegriff in Platons ›Sophistes‹, 528) 567 Die Verneinung des Seins meint keineswegs etwas Nichtseiendes im Sinn des Gegenteils vom Sein, wie es die Argumentation der Sophisten voraussetzte, sondern ein anderes als das bezeichnete Sein. Nicht-A bedeutet nicht das Gegenteil von A, sondern das Komplement zu A, nämlich B, C usw. So bezeichnet etwas Nicht-Großes (ti lµ l´ca) ebenso das Kleine wie das Gleiche (t¹ slijqºm C t¹ Usom, Sph. 257b), und das Nichtschöne (t¹ lµ jakºm) sowie das Nichtgerechte (t¹ lµ d¸jaiom) gehören gleicherweise zum Seienden wie das Schöne und das Gerechte und sind ihnen in ihrem ontologischen Status gleichzusetzen (jat± taqt¹m het´om). Sie bezeichnen nicht das Gegenteil (oqj 1mamt¸om) von jenen, sondern nur ein Verschiedenes (6teqom), das ihnen entgegengesetzt ist. Der Begriff, den der Fremde hierfür einführt, ist !mt¸hesir, die Antithese. (Sph. 257e – 258b) Deswegen sei das Nichtseiende, das man um des Sophisten willen suchte, eine Idee unter vielen Seienden (t_m pokk_m emtym eWdor 6m) und folglich auch aussagbar und prädizierbar. Damit sieht der Fremde sein Beweisziel gegen Parmenides erreicht, weil erstens gezeigt wurde, dass Nichtseiendes ist (t± lµ emta ¢r 5stim) und also zum Seienden gehört, und es zweitens eine spezifische Gestalt hat und unter einem eigenen eWdor zu fassen ist, nämlich der Natur des Verschiedenen (B hat´qou v¼sir). Der Teil des Ganzen, der einem bestimmten Sein entgegengesetzt ist (!mtih´lemom), ist in Bezug auf diesen in Wirklichkeit das Nichtsein (toutº 1stim emtyr t¹ lµ em). Es ist ein relatives Nichtsein, das nur in Bezug auf einen bestimmten Teil des Seins dessen Negation ist. Das absolute Nichtsein aber, die Kontradiktion des Seins, bleibt auch für den Fremden ausdrücklich unsagbar und gänzlich unerklärbar (%kocom, Sph. 259a), wie es Parmenides forderte. Zum Nichtsein als einem relationalen Begriff siehe a. Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes, 38 – 48.
Sophistes: Der Logos als Abbild des Seienden
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das Verschiedene. Die Phantasie- und Trugbilder sind dann nicht etwas NichtWirkliches, wie zunächst angenommen, sondern geben sich für etwas anderes aus, als sie sind. Da es sich bei diesen Wort-Bildern aber nicht um einzelne Worte und Namen handelt wie monochromatische Bilder, sondern um komplexe Sätze und Aussagen, ist das Einfallstor für Irrtum und Lüge vornehmlich die Art der Verknüpfung der Begriffe, die Satzstruktur. Sie unterliegt nicht dem Belieben, derart dass man alle Begriffe miteinander verknüpft oder sie umgekehrt unverbunden nebeneinander stellt. Beides wäre, metaphorisch gesprochen, ein Zeichen fehlender Musikalität. Denn, mein Guter, zu versuchen, alles von allem abzutrennen, ist sonst schon nicht angemessen und ganz besonders für jemanden, der völlig unmusisch und unphilosophisch ist. (Ja· c²q, ¡cah´, tº ce p÷m !p¹ pamt¹r 1piweiqe?m !powyq¸feim %kkyr te oqj 1llek³r ja· dµ ja· pamt²pasim !lo¼sou tim¹r ja· !vikosºvou. Sph. 259d f., Üb. B.S.)
Der unmusische Mensch ist für Platon immer eine Metapher für den unphilosophischen Menschen, der nicht über das Wissen verfügt, wie sich in einem komplexen System die Teile harmonisch zu einem Ganzen fügen.568 Zu diesen gehört auch der Sophist. Deshalb sind seine Reden Phantasiebilder aus Worten. Wer die harmonische Verknüpfung und die strukturelle Ordnung des Seins nicht kennt oder ignoriert und in seiner Rede beliebige Beziehungen zwischen den Begriffen herstellt oder sie nur asyntaktisch aneinander reiht, beweist damit, dass er unphilosophisch ist. Denn der Logos ist uns durch die gegenseitige Verflechtung der Ideen gegeben (di± c±q tµm !kkµkym t_m eQd_m sulpkojµm b kºcor c´comem Bl?m, Sph. 259e). Die Metapher der Musik und Harmonie wird bemüht, um die Struktur des Seins und die philosophische Rede, die diese Seinsstruktur wirklichkeitsgemäß abbildet, zu beschreiben. Dazu ist, wie bereits gezeigt, die Wissenschaft der Dialektik nötig. Während der Sophist keine eigene Einsicht in die Struktur des Seienden hat und deswegen als unmusisch gilt, ist der Philosoph ein musischer Mensch, der sich auf die Harmonie der Ideen und Begriffe versteht. Dementsprechend ist sein Logos auch ein wirklichkeitsgetreues Abbild des Seienden. Er bedient sich der Dialektik als wissenschaftlicher Methode, das ist das Trennen nach Gattungen mit Hilfe der formalen Begriffe Sein, Identität und Verschiedenheit. Bewegung und Ruhe wiederum sind wichtigste Gattungen für den Philosophen, weil sie Erkennen und Erkennbarkeit des Seienden begründen. Durch diesen Abbildcharakter der komplexen Struktur des Seienden kommt dem Logos seine herausragende Bedeutung für die philosophische Erkenntnis zu. Die Logik der wirklichkeitsgemäßen Rede ist die gleiche wie die Struktur des 568 Zu %lousor siehe Sph. 253b und S. 343, zum Zusammenhang von Musen und Philosophie Ti. 18a, 73a u. S. 178 f.; Phlb. 67b u. S. 368 sowie Cra. 406a; Phd. 61a; R. 376b-e, 411c, e, 486d, 548b f.; Phdr. 248d.
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Die philosophische Erkenntnis
Seienden. Darum bildet die Rede Seiendes nicht nur ab, sondern der Logos ist selbst eine von den seienden Gattungen (t¹m kºcom Bl?m t_m emtym 6m ti cem_m eWmai, Sph. 260a). Der Logos ermöglicht uns den Zugang zur Wirklichkeit. Er ist uns Erkenntnisgrund und deswegen für die Erkenntnis des Seienden und in Folge für die Philosophie unverzichtbar : Denn ihrer [der Rede] beraubt, wären wir, was das Größte ist, auch der Philosophie beraubt. (to¼tou c±q steqgh´mter, t¹ l³m l´cistom, vikosov¸ar #m steqghe?lem7 Sph. 260a, Üb. Schl.)
Wenn der Logos selbst eine Gattung des Seienden ist, dann gilt jedoch auch für ihn, dass sich das Nichtseiende in Form des Anderen oder Verschiedenen mit ihm verbinden kann. Wäre das nicht der Fall, so wäre notwendig alles wahr, was ausgesagt wird. Eben das behaupten ja die Sophisten. (Sph. 260b, d) Wenn es aber auch möglich ist, Nichtseiendes anstelle von Seiendem vorzustellen, indem man ein von der wirklichkeitsgemäßen Verflechtung der Ideen Verschiedenes denkt, ein Anderes als den Logos, dann gibt es sehr wohl Falsches im Denken und auch im Reden und folglich auch Irrtum und Betrug (!p²tg, xeOdor, Sph. 260c-e).569 Das aber war das Beweisziel, um den Sophisten zu fassen. Zwangsläufig ist das Vorstellen und Reden, das auf Täuschung und Irrtum gründet, voll von Schattengestalten, Abbildern und phantastischen Vorstellungen (eQd¾kym te ja· eQjºmym Edg ja· vamtas¸ar p²mta !m²cjg lest± eWmai, 569 Der Fremde zeigt, dass das Denken nichts anderes ist als das innere, lautlose Gespräch (di²kocor) der Seele mit sich selbst. Gedanke (di²moia) und Logos sind dasselbe, nur dass umgangssprachlich lediglich der phonetische Satz Rede (kºcor) genannt wird. (Vgl. Tht. 189e f., Phlb. 38d f., Grg. 505e) Ist nun mit dem Satz eine Behauptung (v²sir) oder Verneinung (!pºvasir) verbunden, so entsteht daraus die Meinung (dºna) als Abschluss des Gedankens. Und verbindet sich wiederum die Meinung mit einem Sinneseindruck, so entsteht in uns eine Vorstellung (vamtas¸a). (Sph. 263e – 264a) Auf verschiedenen Ebenen zeigt sich also der Logos: 1. bei der Verknüpfung der Begriffe zu einem Satz im Gedanken; 2. in der lautlichen Äußerung dieses Gedankens in der Rede; 3. durch die abschließende Behauptung oder Verneinung in der Meinung; 4. in der Verbindung von Meinung und Wahrnehmung in der Vorstellung. Der Fremde gibt hier eine Analyse des Logos, die darauf abzielt, dass das Denken einer sprachlichen Logik folgt, deren äußere Erscheinung der gesprochene Satz ist. Logisches Denken ist sprachliches Denken; siehe dazu a. Mojsisch, »Dialektik« und »Dialog«, 168 f. Es ist von seiner Struktur her komplex, schon in jedem einzelnen Gedanken wie auch in der abschließenden Meinungsbildung, an deren Ende ein Urteil steht. Dabei steht die Struktur des Seienden zu der des sprachlichen Denkens im Verhältnis von Original und Abbild. Darin liegt die Auszeichnung des Logos, aber auch seine Gefährdung. Denn weil das Denken eine Aktivität ist, ein poie?m, bei der schon im einfachsten Satz mindestens zwei Denkinhalte miteinander verknüpft werden, nämlich Sache und Handlung, ist die Verknüpfung der Satzglieder die entscheidende Stelle, an der Denken und Satz falsch werden können. Denn es ist ohne weiteres möglich, sinnvolle Gedanken zu denken und Sätze zu bilden, die dennoch falsch sind, weil die Verknüpfung der Satzglieder keine positive ontologische Entsprechung hat, sondern in Bezug auf diesen bestimmten Gegenstand eine Antithese, ein Nichtseiendes ausgesagt wird.
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Sph. 260c). Damit schließt sich der Kreis zu dem ersten Versuch, das Wesen des Sophisten dahingehend zu bestimmen, dass er von allem gesprochene Schattenbilder macht (eUdyka kecºlema peq· p²mtym) und Phantasiebilder aus Worten herstellt (t± 1m to?r kºcoir vamt²slata).570 (Sph. 234c, e) Die wahre, philosophische und die falsche, sophistische Rede sind also gleichermaßen Bilder aus Worten. Nur ist das eine ein realistisches Bild vom Seienden, das die Verknüpfungen wirklichkeitsgetreu wiedergibt, und das andere ein irreales Scheinbild, bei dem die Bezüge vertauscht oder verzerrt sind. Auf diese Weise entstehen sowohl Abbilder des Seienden als auch Phantasiebilder, die nur derjenige auseinander halten kann, der die Gegenstände und ihre Verknüpfungen kennt, die abgebildet und ausgesagt werden. Das aber wurde vom Philosophen behauptet und gefordert. Die meisten Menschen jedoch kennen die Ideen nicht aus eigener Anschauung, sondern sie haben dazu nur eine vage Meinung (don²fomter d´ p,). Das gilt auch für die Tugend. Allerdings geben sie sich den Anschein, als ob sie ihnen einwohnte (¢r 1m¹m aqto?r), indem sie ihre Vorstellungen von der Tugend so weit wie möglich durch Taten und Reden nachahmen. So scheinen sie gerecht zu sein, obwohl sie es nicht sind. (Sph. 267c) Von diesen einfältigen Nachahmern, die zu wissen glauben, wovon sie doch nur eine ungefähre Meinung haben, unterscheidet sich der Sophist durch seine ironische Verstellung. Er hat eine Ahnung von seiner Unwissenheit, täuscht aber dennoch vor, zu wissen, wovon er redet. Er dreht sich deswegen mit seinen Reden im Kreis, weil er die Tugend nicht angemessen erfassen kann. (Sph. 267e f.) Anders als der ihm nahestehende Volksredner, hält er jedoch keine langen Reden, sondern verwickelt seine Gesprächspartner durch Frage und Antwort in Selbstwidersprüche. Dadurch erscheint er den Leuten weise, ohne es zu sein. Weil er nun kein Wissender ist, wohl aber einen Weisen in seinen Reden und im Verhalten nachahmt, leitet sich sein Name Sophist, sophistes, vom Weisen, dem sophos, ab. (Sph. 268b f.) In Wirklichkeit aber ist sein Denken, Meinen, Reden und Handeln voll von Falschheit, Irrtum und Betrug. So steht am Ende der langen Reflexion über Schein und Lüge, über Sein und Nichtsein die letzte Definition des Sophisten: Er ist der ironische Verfechter des Widerspruchs, der in Unkenntnis der Tugend aufgrund bloßer Meinung durch phantastische Scheinbilder den Weisen in seinen Reden nachahmt. (Sph. 267c – 268d) 570 Siehe dazu S. 339. Dixsaut weist zu Recht darauf hin, dass der »wissende Logos« den Unterschied zwischen Sache und Bild nicht verwischt, sondern manifestiert. Er integriert die Differenz zum Original in sich, weil er nicht den Anschein erwecken will, eine Kopie des Seins zu sein. Er steht in einer aktiven Beziehung zum Original, indem er definiert, unterscheidet und vergleicht. (Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 338) Während der Name die Wirklichkeit nur benennt, will der Logos sie abbilden, indem er ihre Struktur verdeutlicht und erklärt. Damit eröffnet er aber die Möglichkeit von Falschheit, die sich durch die Differenz von Original und Abbild auftut.
352 2.4.
Die philosophische Erkenntnis
Der schweigende Sokrates – oder: der Philosophos
Anders als die Sophisten, die sich mit ihren Reden ziellos im Kreis drehen, und auch anders als Sokrates im Theaitetos tags zuvor hat der Fremde seine Aufgabe erfüllt. Das Lehrgespräch über den Sophisten endet nicht aporetisch, sondern mit einem Ergebnis, das die Gesprächsteilnehmer ganz offensichtlich zufrieden stellt. Allerdings bleibt eine Irritation, weil auch diese 7. und letzte Definition des Sophisten wieder in vielen Zügen an Sokrates erinnert: sei es das ständige Umkreisen der Frage nach der Tugend, ohne sie zu erfassen, das Wissen um die eigene Unwissenheit, seine Neigung zur Ironie oder die methodische Widerlegung der Gesprächspartner.571 Sokrates schweigt dazu. Wir erinnern uns an sein Homerzitat: In der Gestalt des Fremden sei wohl ein prüfender Gott gekommen, und er befürchte, dass sich seine Reden als unzulänglich erweisen werden. (Sph. 216b) Bestätigt sich nun diese Befürchtung, und ist Sokrates auch vor dem philosophischen Tribunal der Sophisterei beschuldigt worden? Ja und nein. In allen sieben Definitionen ist es möglich, Ähnlichkeiten aber auch Unterschiede zum Sophisten aufzuzeigen. Für die abschließende, 7. Definition lässt sich verteidigend ins Feld führen, dass Sokrates nie den Anspruch erhoben hat, ein Wissender oder Weiser zu sein, sondern im Gegensatz zum Sophisten immer seine Unwissenheit betont. Dennoch ist er dem Sophisten zum Verwechseln ähnlich, und darin liegt die Kritik des Fremden an Sokrates.572 Das philosophische Vorgehen von Sokrates ist seiner Natur nach eine kritische Prüfung. »Die Wahrheit und sich selbst prüfen« ist ein Motto, das über seinen philosophischen Gesprächen steht. Eine komplexe, positive Lehre, wie sie der Eleat hier entfaltet hat und die sich noch dazu auf Gehörtes beruft (diajgjo´mai c´ vgsim Rjam_r, Sph. 217b), steht dazu naturgemäß in einer Spannung. Der eleatische Fremde würde Sokrates wie auch der »edlen Sophistik« zwar zubilligen, dass der elenchos zur Reinigung von falschen Meinungen beiträgt und dadurch auch der Vorbereitung auf die richtige Lehre dient.573 Aber die eigentliche Aufgabe der Philosophie ist für den Eleaten konstruktiver und systematischer Art. Im Ge571 Zur Unterscheidung der sophistischen und sokratischen Ironie s. Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 292: »They [Sokrates und der Sophist, d.V.] are both in a certain inner conflict and far from the cognitive state of the simple-minded, and both use arguments and … reveal the ignorance of others and of themselves. … Although the sophist is somewhat aware of his own ignorance, he still boldly claims to know what he does not know. By contrast, Socrates sincerely admits that he is ignorant, and it is by that admission that he is qualified as a man of human wisdom. … Irony is an appearance of Socrates, who acknowledges his own ignorance, while it is an essential feature of the sophist because it conceals his own ignorance and makes his deception possible. The ironical sophist may be ›within us‹, if we do not admit our own ignorance.« 572 Vgl. dazu die ähnliche Kritik des unbekannten Zuhörers in Euthd. 304d – 305a und S. 77 ff. 573 Zur Definition der »edlen Sophistik« siehe S. 336 f.
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gensatz zu Sokrates sieht er im Philosophen den Wissenden, nämlich den Weisen, den der Sophist im Reden und Handeln nachahmt. Denn der Philosoph ist nicht nur ständig mit der Idee des Seins beschäftigt, sondern er kennt auch die vielfältigen Verbindungen der Ideen und verknüpft in seinem Denken und Reden die Begriffe zu einem harmonischen Ganzen, zu einem wahren Satz.574 Er kennt die Gerechtigkeit und Tugend aus eigener, wissender Anschauung, die er redend und handelnd nachbildet (tµm d³ let’ 1pist¶lgr Rstoqij¶m tima l¸lgsim, Sph. 267e). Der Philosoph des Fremden ist selbst ein eQj¾m, ein Bild der Tugend, und seine Rede ein wahres Abbild des Seienden, während der Sophist das Zerrbild ist, ein Schatten (eUdykom) des Weisen und seine Rede ein Phantasiegebilde aus Worten.575 An dieser Spannung zeigt sich, dass der Sophistes die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Philosophiekonzeptionen in Szene setzt. Es wurde öfters betont, dass Platon bei der Suche nach dem Sophisten anders als in den Frühdialogen keine historische Gestalt im Blick hat, sondern dass es eine fiktive Figur ist und ein Typus beschrieben wird.576 Gleiches kann man über den Fremden sagen. Es heißt zwar, dass er aus Elea stammt, also einer etablierten Philosophenschule angehört, aber er vertritt dennoch nicht traditionell eleatische Positionen, sondern einen kritisch »aufgeklärten Eleatismus«.577 Nun wurde eleatische Philosophie nicht nur in Elea gelehrt und diskutiert, sondern wie der Sophistes zeigt, auch in Athen und im Kreis der Sokratesschüler – oder man kann auch sagen: der Platonschüler. Die Dramaturgie des Sophistes zeigt den Fremden und Sokrates in einem äußerlich zwar freundschaftlichen Verhältnis gegenseitiger Anerkennung, aber die unterschwelligen Töne kritischer Korrektur seitens des Fremden und die ironischen Eingangskommentare bei Sokrates sowie sein späteres Schweigen dürfen nicht übergangen werden. Wen also repräsentiert der Fremde? Die gelegentlich geäußerte Vermutung, dass er Platons Sprachrohr sei, ist wenig plausibel. Selbst in Anrechnung dessen, dass Platon seine Philosophie weit über das sokratische Erbe hinaus entwickelt hat, gerade auch was die Ideenlehre, die propädeutischen Wissenschaften und die Dialektik betrifft, bleibt das Verhältnis zu seinem Lehrer doch ungebrochen positiv. Das zeigt nicht zuletzt der Spätdialog Philebos, wo Sokrates wieder der 574 Zum Wissen des Philosophen siehe S. 343. 575 Zu Ebenbild, Schattenbild und Trugbild vgl. Sph. 240b, 241e, 260c f. u. 264c. 576 Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, 170: » ›The Sophist‹ is not an individual, but a species.« Vgl. a. Guthrie, A History of Greek Philosophy, V, 126 f.; Cherubin, What is Eleatic about the Eleatic Stranger?, 226. 577 So Bluck, Plato’s Sophist, 32: »The EV is an enlightened or reformed Eleatic…«; ähnlich Cornford, ebd.; vgl. a. Slezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 134; M. Frede, The Literary Form of the Sophist, 142; anders Cherubin, a. a. O., 220 f., 233 – 235. Vgl. a. S. 330, Anm. 535.
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Hauptredner ist. Nicht ganz so klar ist das für die Enkelgeneration von Sokrates. Als zum Beispiel Aristoteles in die Akademie eintrat, war Sokrates bereits 32 Jahre tot. Eine ganze Generation liegt zwischen ihnen. Die erschütternde, kathartische Wirkung von Sokrates und seiner Art zu philosophieren wird gegenüber dem Selbstbewusstsein einer neuen Generation von Philosophen und ihrer nunmehr schon berühmten und institutionalisierten Schule allmählich verblassen, zumal wenn die Schüler selbst zu Lehrern heranwachsen. Wenn deswegen bemerkt wurde, dass die Spätschrift Sophistes wohl eher dem realen Lehrbetrieb in der Akademie entspreche als die Frühdialoge,578 so kann das umgekehrt bedeuten, dass der Sophistes diese Entwicklung reflektiert. Hier wird eine wissenschaftliche Methoden- und Grundsatzdiskussion in Szene gesetzt, welche die eigene Schule und die Konsequenzen eines institutionalisierten Lehrbetriebs kritisch, aber auch mit Witz und Ironie beleuchtet.579 Der Blick geht im Sophistes nicht so sehr nach außen zu historisch fassbaren Konkurrenten und Gegnern, als vielmehr nach innen. Er reflektiert schulinterne Entwicklungen, die mit Namen zu verbinden wenig konstruktiv wäre,580 wie Platon überhaupt mit der Nennung von Zeitgenossen sehr zurückhaltend war und seine Auseinandersetzungen zeitlich zurückprojizierte. Eine Auseinandersetzung mit der philosophischen »Ikone Sokrates« unter dem Vorzeichen grundsätzlicher Wertschätzung macht aber gerade innerhalb der Akademie richtig Sinn. Dann ist sie allerdings auch von besonderer Tragik, weil im dramaturgischen Szenario des Sophistes die Verurteilung von Sokrates wie ein Menetekel im Hintergrund steht.581 Wir vermuteten eingangs, der Fremde sei der Protagonist eines philosophischen Tribunals, vor dem sich Sokrates zu verantworten habe. Wir können 578 Stenzel, Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, 47. 579 In der mittleren Komödie karikiert Epikrates die dihairetischen Einteilungen in einer Szene, bei der Platon, Speusippos und Menedemos tiefsinnig über einen Kürbis gebeugt sind, um ihn durch die Unterscheidung von Tier, Baum und Pflanze der richtigen Klasse zuzuordnen. (Epicr. Fr. 10, PCG) Guthrie bezweifelt die Seriosität der im Sophistes durchgeführten Dihairesen, wenngleich die Methode in der Akademie zweifelsohne Grundlage wissenschaftlicher Klassifikationen war und auch von Platon praktiziert wurde. Weil die Einteilungen im Sophistes so offensichtlich verzerrt und polemisch sind, »… it is at least possible that Plato is, as one might put, being his own Epicrates, and having a little fun at the expense of over-enthousiastic colleagues who were advertising diairesis, especially in its dichotomous form, as the universal key to the problem of knowledge. There may also be an element of self-criticism, as in the later argument against the ›friends of Forms‹…, for having spoiled a fundamentally sound thesis by overextending its field of application.« (Guthrie, A history of Greek Philosophy, V, 132 f.) 580 So vermutet Kerferd im Zusammenhang der 6. Definition des Sophisten der »edlen Art« Anspielungen auf Speusippos; siehe Kerferd, Plato’s Noble Art of Sophistry, 85 f. 581 Erler bemerkt zu Recht: »Platons Ironie rückt in die Nähe tragischer Ironie, insofern sie beim Leser auf ein Vorauswissen zählen kann (z. B. Wissen vom Tod von Sokrates als Resonanzboden mancher Gespräche).« (Erler, Platon, PhdA 2/2, 88)
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das nunmehr genauer fassen: Sokrates kann vor einer Generation junger Philosophen nicht mehr uneingeschränkt bestehen, weil sie neue philosophische Forschungsgebiete und Analysen in den Vordergrund stellen und andere Untersuchungsmethoden anwenden; weil ihr Interesse einer universalen Wissenschaftsmethodik und -systematik gilt; weil das elenktische, dialogische Gespräch bei ihr zwar nicht ausgedient hat, aber doch in die zweite Reihe rückt und dem Lehrvortrag der Vorrang gebührt; weil sie Ontologie auf der Grundlage von Sprachanalyse betreibt und die Logik von Verknüpfungen und Unterscheidungen an die Stelle der Ideenschau tritt; weil Ethik nur ein philosophisches Gebiet unter anderen ist und die Idee des Guten ihre alles Sein überragende und begründende Sonderstellung verloren hat. Die Philosophie hat sich verändert und mit ihr auch ihr Gegenspieler, die Sophistik. Wenn aus dem sokratischen Philosophen, dem bedürftigen Liebhaber der Weisheit und der Schönheit, ein sophos wird, ein kundiger Wissenschaftler, der das Seiende und das All zu kategorisieren versteht, so folgt ihm der Sophist auf dem Fuß wie sein eigener Schatten. Für Sokrates war der äußere, prüfende Dialog konstitutiv, sowohl zur Selbstklärung als auch zur Widerlegung seiner Gegner oder zur Geburtshilfe philosophischer Logoi bei seinen jungen Freunden. Bei der neuen Philosophengeneration ist der Dialog verzichtbar, so er nicht gar stört, wenn der Gesprächspartner nicht folgsam und gefügig genug ist. (Sph. 217c) Die philosophische Forschung verlagert sich vom Gespräch auf das Selbstgespräch und damit auf das Denken. Das hat zur Folge, dass der äußere Monolog eine Renaissance erfährt, die lange, zusammenhängende Rede. (Sph. 217d) Nicht mehr das gemeinsam forschende Denken steht im Vordergrund, das offen ist und Muße hat für zahlreiche Um- und Abwege, sondern die Ergebnisorientiertheit und die Darstellung des bereits Durchdachten und Gehörten. Das kann in einem Lehrgespräch erfolgen, aber auch in einem Vortrag.582 Zwar vollzieht sich, wie der Fremde zeigt, auch das einsame Denken in der Struktur von Frage und Antwort, indem es vergleicht und Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten feststellt. Aber es ist naturgemäß nicht so offen wie der mündliche Dialog, der durch eine zweite Person immer auch eine andere Perspektive einbringt. Nur wer sich der Täuschung hingibt, einen universalen Standpunkt einnehmen zu können, glaubt auch, eines Perspektivwechsels nicht zu bedürfen. Die Wahrscheinlichkeit vorschneller Zustimmung und Selbsttäuschung ist im einsamen Denken ungleich größer als im äußeren Dialog. Der Dialog, sei er ein innerer oder äußerer, ist zwar kein Garant der Wahrheit, wohl 582 Nicht zufällig wird die Gesprächsführung des Eleaten als epideixis charakterisiert (Sph. 217c, e) und rückt damit in die Nähe der sophistischen Praxis epideiktischer Schaureden, wodurch insbesondere junge, unerfahrene Leute überfordert werden können. (Sph. 224b, 234b)
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aber ein Garant der Offenheit und »Frag-würdigkeit« im wörtlichen Sinn. Sonst kann aus dem vermeintlich wahren Logos unversehens ein Phantasiegebilde aus Worten werden und aus dem Redner ein Nachahmer des Weisen, ein Sophist. Dieser Sophist ist keine historisch fassbare Person mehr, er ist das alter ego des »wissenden« Philosophen, seine ständige Gefährdung und Antithese; »wissend« insofern, als er philosophisch sehr gebildet ist (l²ka vikºsovor, Sph. 216a).583 Philosoph und Sophist stehen zueinander im Verhältnis von Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit. Nur indem der Philosoph sich dessen bewusst bleibt, realisiert er seine Identität. Vergisst oder leugnet er sie, »entflieht er ins Dunkel des Nichtseins«. (Sph. 254a) Er ist nur dann Philosoph, wenn er beständig mit der Möglichkeit des Sophisten in sich rechnet und also mit der möglichen Falschheit seines Denkens und Redens.584 Ein Philosoph, in dessen 583 Ähnlich Dixsaut : »Le sophiste est l’autre du philosophe, le philosophe est l’autre du sophiste, et leur diff¦rence est si intime que cherchant l’un c’est toujours l’autre qu’on risque d’attraper, et qu’on attrape effectivement.« (Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 335) Allerdings meint Dixsaut dennoch eher eine externe Alteration, während die interne, innersubjektive Alteration noch näher liegt; so auch Notomi: »…for to ignore the sophist is to avoid examining ourselves. In my view, real philosophy is impossible without serious confrontation with the sophist. The sophist is not an opponent standing outside you and me, but lives within ourselves, or he may be ourselves. This cross-examination of ourselves is the only way, I suggest, to save the philosopher in us.« (Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 204) Diese Zuspitzung zielt auf die sophistische Versuchung des Philosophen. Denn während ein äußerer »Anderer« immer benennbar ist und einen Namen tragen kann wie die Sophisten, die Platon in den frühen Sophisten-Dialogen porträtiert hat, ist der »innere Sophist« als alter ego des Philosophen grundsätzlich nicht benennbar, wie der Fremde in unserem Dialog, er kann Philosoph und Sophist sein. Der innere Sophist hat keinen Namen, weil er den Namen jedes Philosophen tragen kann, der die mögliche Falschheit seines Denkens aus dem Blick verliert, und sei es nur zeitweise. Jeder Philosoph trägt die Möglichkeit zum Sophisten in sich, aber nicht jeder Sophist die Möglichkeit zum Philosophen. Es gibt Sophisten, die den wahren Philosophen stets nur äußerlich nachahmen. Diese unverbesserlichen Sophisten sind dann auch benennbar. Zur Antithese als dem Nichtsein des Seienden siehe Sph. 258b und S. 348, Anm. 567. 584 Ähnlich Dixsaut, a. a. O., 338. Dieser Einwand stellt Wissen und wahre Sätze nicht in Abrede. Es ist Erler zuzustimmen, wenn er Platons Kritik an der Schriftlichkeit auch auf die Mündlichkeit bezieht. Denn auch gehörtes Wissen (akousmata) soll nicht wie » ›Faustregeln‹ oder feste Formeln« (Erler, Platon, 88) eingesetzt werden, sondern muss »im Gespräch entwickelt, begründet und die Implikation des Gehörten« (ebd., 89) entfaltet werden. Das gilt jedoch nicht nur für »Gehörtes«, sondern grundsätzlich für »Gedachtes«, auch für das von einem selbst Gedachte. Wissen ist nicht die Präsentation von Gehörtem oder Gedachtem in Sätzen, die Rekapitulation von zu Formeln geronnenen Gedanken, sondern das Denken des wahren, richtigen Gedankens. Es ist ein aktueller Vollzug der Verknüpfungen des Seienden durch deren Abbildung in wahren Sätzen. Diese Verknüpfungen zu überprüfen und darin das Wissen zu aktualisieren ist Kennzeichen sokratischen Philosophierens. Deswegen hat Kranz zu Recht darauf hingewiesen, dass Sokrates uns in den Dialogen nicht nur als Kritiker von Handwerkern, Künstlern und Sophisten begegnet, sondern ebenso von Philosophen und philosophischen Lehrern und dass die Kritik des Philosophieverständnisses des Eleaten noch erfolgen muss. Das erwartet sie von einem noch
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Gegenwart Sokrates ins Schweigen verfällt, ist keiner mehr. Darin besteht die Mahnung und Kritik des schweigenden Sokrates an der neuen Generation von Philosophen, deren Repräsentant der Fremde aus Elea ist. Die Entwicklung der Akademie zu einer anerkannten philosophischen Lehrinstitution kann Platon Anlass gewesen sein zu diesen Reflexionen über das Verhältnis von Philosophie und Sophistik, von Lehre und Dialog, von Denken und Reden. Aber wir wissen es nicht. Sicher ist nur, dass der sokratische Dialog die seltene und glückliche Ausnahme im philosophischen Leben ist und das einsame Nachdenken und der philosophische Lehrbetrieb der Normalfall. Umso wichtiger ist es, sich der dialogischen Grundstruktur des Denkens bewusst zu werden und sie zu üben, um Sokrates auch im inneren Dialog eine Stimme zu geben. Es wurde immer wieder darüber spekuliert, warum der angekündigte Dialog Philosophos nicht geschrieben wurde.585 Während die einen äußere Gründe der Verhinderung annehmen, vermuten andere, dass Platon nie beabsichtigt habe, ihn wirklich zu schreiben. Dann muss die drameninterne Ankündigung allerdings eine Funktion haben. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die in diesem Zusammenhang genannten Dialoge Sophistes und Politikos zusammen bereits die angekündigte Definition des Philosophen enthalten, vielleicht noch unter Einbeziehung des Theaitetos, da dieser Dialog dramaturgisch eng mit dem Sophistes und dem Politikos verbunden ist. Dafür spricht besonders die Bemerkung, man habe den Philosophen vor dem Sophisten gefunden.586 (Sph. 253c) Aber die gleiche Stelle macht auch deutlich, dass man noch weitersuchen könne und müsse, dass also die Frage nach dem Philosophen noch nicht befriedigend ausstehenden Gespräch zwischen Sokrates und dem Fremden im Philosophos. (Kranz, Das Wissen des Philosophen, 51 – 53) Auch der Eleat rechnet in Sph. 259a mit Widerspruch gegen seine zentrale These, dass das Nichtseiende sei, und fordert, man möge entweder einen überzeugenden elenchos führen oder die These vorläufig anerkennen. Die These bleibt also »frag-würdig« im wörtlichen Sinn, unabhängig vom wirklichen oder vermeintlichen Wahrheitsgehalt. Wer die Notwendigkeit erneuter Überprüfung und Aktualisierung behaupteten Wissens leugnet, ist kein Philosoph mehr, sondern ein Sophist. Gerade philosophisches Wissen kann zwar erworben werden, aber nicht besessen. Es ist vor allem ein Akt. Vgl. dazu die Philosophiedefinitionen in Euthd. 288d – 289b und S. 73 ff., Smp. 203d – 204b u. S. 246 f. 585 Siehe die Darstellung der unterschiedlichen Positionen bei Erler, Platon, PhdA 2/2, 252 f. 586 Notomi nimmt nicht an, dass der dritte Dialog Philosophos wirklich geplant war, sondern sieht die Definition des Philosophen untrennbar mit der des Sophisten verbunden. Die Charakterisierung des Philosophen als jemand, der Kenntnis der Dialektik hat, (Sph. 253e) sei formal hinreichend, müsse aber noch inhaltlich beschrieben werden. (Notomi, The Unity of Plato’s Sophist, 238 ff.) Auch M. Frede geht nicht von einem dritten Dialog aus, weil Platon anders als in der Normalsprache nicht drei natürliche Arten annimmt, sondern der wahre Philosoph der Politiker ist, der fälschlich für einen Sophisten gehalten wird, während der falsche Philosoph in Wirklichkeit ein Sophist ist. »These Dialogues are his answer to the question what a philosopher is.« (M. Frede, The Literary Form of the Sophist, 149 f.) Ebenso Effe, Der Herrschaftsanspruch des Wissenden: Politikos, 200 – 202.
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beantwortet ist. Nur die »Gegend« sei klar, in der er zu suchen sei, nämlich in der dialektischen Beschäftigung mit dem Sein. Sokrates schweigt in den ersten beiden Teilen der Trilogie. Der dritte Teil, der Philosophos, bleibt ungeschrieben. Auch das ist, wenn eine Absicht dahinter stecken sollte, eine Form des Schweigens. Wenn unsere Vermutung stimmt, dass Platon mit dem Sophistes eine schulinterne Entwicklung in Szene gesetzt und problematisiert hat, so hat er das in der für ihn üblichen offenen Form getan, indem er dem Leser zwei Paradigmen vor Augen stellt: Sokrates und den Fremden. Dadurch fordert Platon den Leser zu einer eigenen Antwort heraus. Der Leser soll klären, in welchem Verhältnis Sokrates und der fremde Philosoph zueinander stehen. Der Leser ist also selber Teil des philosophischen Tribunals. Indem Platon Sokrates schweigen lässt, hält er die Antwort für seine Leser offen. Würden dagegen die beiden Protagonisten miteinander den Diskurs über die Grundlagen und die Entwicklung der Philosophie führen, wäre das der angekündigte Philosophos.587 Nun jedoch ist diese Aufgabe dem Leser überlassen. Seine Antwort gibt er nicht zuletzt durch die Art seines Philosophierens.
3.
Philebos: Die philosophische Erkenntnis und das gute Leben
Der Philebos gilt als später Dialog, den Platon schon im hohen Alter geschrieben hat. Umso mehr erstaunt es, dass nach den schwierigen metaphysischen und epistemologischen Problemen aus der Reifezeit Platons hier noch einmal die alte sokratische Frage nach dem guten Leben im Mittelpunkt steht: ob das Gute für den Menschen in der Lust oder in der Vernunft besteht. (Phlb. 11b, 60a f., 66d f.) Diese Rückbesinnung erinnert etwas an den alten Sokrates im Phaidon, der an seinem letzten Tag im Gefängnis gefragt wird, warum er auf einmal angefangen habe, Gedichte zu schreiben. Sokrates begründet das mit einem Traumgesicht, das ihn aufforderte, Musik zu machen. Er habe das zwar als einen Ansporn verstanden, in seiner üblichen Beschäftigung fortzufahren, nämlich Philosophie zu treiben, weil die Philosophie seiner Auffassung nach die erhabenste Musik ist (¢r vikosov¸ar l³m ousgr lec¸stgr lousij/r, Phd. 61a). Aber angesichts des nahenden Todes sei er unsicher geworden, ob der Traum sich nicht doch auch auf die gewöhnliche Art von Musik beziehe (ta¼tgm tµm dgl¾dg lousijµm poie?m, ebd.). Und so habe er es auch an dieser Übung nicht fehlen lassen wollen. Ähnlich wirkt die Rückkehr Platons zur Frage nach dem guten Leben hier in der Sinnenwelt, dem »Leben von uns« (Bl_m b b¸or, Phlb. 62c). Nachdem er zuvor 587 Deswegen ist auch vermutet worden, dass der Philosophos, so er geschrieben worden wäre, den Eleaten und Sokrates als Hauptredner hätte; siehe Kranz, Das Wissen des Philosophen, 52.
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immer größere geistige Höhenflüge ins Licht der Sonne außerhalb der irdischen Höhle oder an den überhimmlischen Ort der Ideen unternommen hatte, gilt seine Aufmerksamkeit wieder dem irdischen Leben. Darin ist nicht nur für die Reden philosophischer Muse (t_m 1m lo¼s, vikosºv\ kºcym, Phlb. 67b) und das reine Denken der Dialektik Platz, sondern auch für die mit Übung gemischte, gemeine Musik (lousij¶, Phlb. 56a, 62c) und die auf Erfahrung beruhenden Kenntnisse. Ob sich darin eine innerakademische Diskussion um den Status des höchsten Gutes widerspiegelt oder die Korrektur einer zu einseitigen Entweltlichung oder ein Zeichen von Altersmilde gegenüber den Bedürfnissen der leibseelischen Existenz, wird sich nicht entscheiden lassen.588 Doch bleibt auch im Philebos die transzendente Welt der letzte Bezugspunkt für ein gutes innerweltliches, menschliches Leben, wobei Vernunft und Lust keine sich ausschließenden Alternativen sind, sondern in ihrer gelungenen Mischung das Geheimnis des guten Lebens liegt. Die 6 Belegstellen zum Philosophiebegriff im Philebos zielen alle auf das spezifisch philosophische Wesen von Erkenntnis in Abgrenzung zur gemeinen Art, Wissenschaft zu treiben. Insofern gehört die Diskussion des Philosophiebegriffs im Philebos trotz der ethischen Grundfrage unter die Überschrift des philosophischen Wissens.
3.1.
Die angewandten und die reinen Wissenschaften
Philebos, der Namensgeber des Dialogs, vertritt nicht nur radikal die Auffassung, dass für alle Lebewesen das Gute in der Lust besteht, sondern er handelt auch nach dieser Maxime. Weil er keine Lust hat, sich weiterhin auf ein Gespräch und eine Prüfung seiner Behauptung einzulassen, verweigert er den Diskurs und zieht es vor, sich auszuruhen. (Phlb. 11c) Die Vernunft geht schlafen. An seiner Stelle übernimmt der moderate Sophistenschüler Protarchos die Verteidigung der Lust-These. Sokrates stellt dagegen die Behauptung auf, dass das Gute für den Menschen in Vernunft und Einsicht besteht und der Lust überlegen ist. Aber weder die Lust- noch die Vernunft-These bestehen die Prüfung. Beide genügen nicht dem Merkmal des Guten, vollendet und selbstgenügsam zu sein. Denn die Lust bedarf der Einsicht, um beurteilen zu können, was lustvoll ist, und daraus Luststrategien zu entwickeln. Lust ohne Vernunft ist also nicht wünschenswert. Aber ebenso wenig ist ein vernünftiges Leben ohne Lust für den Menschen 588 Seit ca. 360 v. Chr. ist der Mathematiker Eudoxos Mitglied der Akademie. Als seriöser und argumentativ geschulter Intellektueller vertritt er einen Hedonismus, der ernstzunehmender ist als der flache Hedonismus von Kallikles, der im Gorgias bereits Gegenstand polemischer Auseinandersetzung war.
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Die philosophische Erkenntnis
hinreichend, weil das menschliche Leben im Gegensatz zum göttlichen nicht autark ist. Vernunft und Lust sind je für sich genommen für das menschliche Leben unzulänglich und darum nicht gänzlich gut. Also wird als dritte Möglichkeit erwogen, dass im guten Leben Vernunft und Lust miteinander gemischt sind.589 (Phlb. 21b – 22a, 60d – 61b) Das gute Leben hängt also entscheidend an der richtigen Mischung von Vernunft und Lust, am ausgewogenen Miteinander von befriedigenden und regulativen Kräften im Menschen. Sokrates vergleicht diese Aufgabe mit der Fähigkeit eines Handwerkers oder Künstlers, die Ingredienzien für sein Werk passend zusammenzumischen.590 Dazu muss er die Bestandteile der Mischung genau kennen, damit das Mischungsverhältnis auch stimmt. (Phlb. 59d f.) In Bezug auf die eigene Person setzt dieser Vergleich ein hohes Maß an Selbsterkenntnis und Selbsterziehung voraus, wenn die Mischung aus Vernunft und Lust gelingen soll. Dazu untersucht Sokrates die verschiedenen Lüste und trennt die reinen und von den gemischten. Ähnlich prüft er auf der Seite der Vernunft die Kenntnisse und trennt dihairetisch die handwerklichen von den bildenden Künsten, um im nächsten Schritt jeweils zwischen den genauen, mit mathematischen Verfahren arbeitenden Künsten und den weniger genauen, empirischen Techniken zu unterscheiden.591 (Phlb. 55c-e) Beispielhaft stehen Architektur und Schiffsbau für eine mit vielen Messgeräten arbeitende, mathematisierte Handwerkskunst, die einen hohen Grad an Genauigkeit erreicht, und die Medizin oder Landwirtschaft für eine mehr auf Erfahrung und Einübung beruhende Fertigkeit, die stärker den Wechsel- und Zufällen des Lebens gehorcht und deswegen weniger genau ist.592 Entsprechendes gilt für die bildenden, erzieherischen Disziplinen. Weil der Musiker die Harmonien mehr durch praktische Übung als durch Berechnung der Maßverhältnisse findet, ist die musikalische Kunst ungenauer als die strengeren mathematischen Disziplinen wie die Arithmetik oder Messkunst, die der Musik an Genauigkeit weit überlegen sind.593 (Phlb. 56a-c) Doch auch innerhalb der mathematischen Fächer ist noch eine weitere Unterteilung angesagt: 589 Zu den verschiedenen Lustarten und die der Vernunft spezifische Lust siehe R. 580d – 583a. 590 Vgl. die Tätigkeit des göttlichen Demiurgen bei der Erschaffung des Kosmos im Timaios, Ti. 34b – 35b, 47e, 53a-c, 57c f. und S. 168 f. 591 Ein Diagramm zur Einteilung der Wissenschaften/Künste findet sich bei D. Frede, Platon: Philebos, 320. 592 Zur Diskussion um den Einfluss philosophischer Reflexionen auf die Medizin siehe Lg. 857d und S. 366, Anm. 602, und kritisch die Hippokratische Schrift Über die alte Medizin (Hp. VM 20), dazu S. 29. 593 Dixsaut weist darauf hin, dass die größere Genauigkeit der reinen mathematischen Disziplinen gegenüber den angewandten Künsten nicht darauf beruht, dass sie genauere Methoden oder Messinstrumente anwenden, sondern dass sie auf andere Weise genau sind als diese. »Elles ne sont pas plus pr¦cises, elles sont autrement pr¦cises.« (Dixsaut, M¦ta-
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Zunächst die Rechenkunst: müssen wir nicht zugeben, daß sie in der Hand der Menge eine Sache ist, eine ganz andere aber bei denen, die sie auf philosophische Weise betreiben? ()qihlgtijµm pq_tom üq’ oqj %kkgm l]m tima tµm t_m pokk_m vat]om, %kkgm d’ aw tµm t_m vikosovo}mtym; Phlb. 56d, Üb. D. Frede)
Sokrates zielt mit dieser Frage auf die Unterscheidung zwischen der reinen und der angewandten Mathematik. Gemeinhin sind die Leute an Mathematik nur insoweit interessiert, als sie ein Hilfsmittel für lebensweltliche Zwecke ist. Sie wollen zum Beispiel die Tiere einer Herde abzählen, gegebene Mengenverhältnisse beim Handeln vergleichen oder das Maß für bestimmte Gegenstände angeben, die im Alltagsleben gebraucht werden. (Phlb. 56d f.) Die Objekte der angewandten Mathematik gehören darum der sinnlich wahrnehmbaren Welt an, die aufgrund der inhärenten mathematischen Struktur korrekt erfasst und beschrieben werden können. Dagegen ist der philosophische Zugang zur Mathematik ein grundsätzlich anderer. Das philosophische Interesse gilt nicht den Gegenständen der sinnlich wahrnehmbaren Welt, sondern den Zahlen als mathematischen Einheiten (lom²der, Phlb. 56e), deren Beziehungen analysiert und beschrieben werden. Diese Untersuchungen sind nicht durch ein anwendungsbezogenes Interesse motiviert. Darum handelt es sich bei dem, was man verallgemeinernd als Mathematik bezeichnet, genau genommen nicht um ein und dasselbe, sondern um zwei verschiedene Dinge. Die reine Mathematik wird im Liniengleichnis der Politeia dem Bereich des Denk- und Erkennbaren, dem noeton zugeordnet. Die Gegenstände der angewandten Mathematik hingegen gehören genau genommen in den Bereich des Sicht- und Vorstellbaren, des horaton, (R. 509d ff.) weil dabei nicht abstrakte Entitäten wie Zahlen zusammengezählt werden, sondern, um mit Sokrates zu sprechen: handfeste Ochsen.594 (Phlb. 56e) Dieser Unterschied ist alles andere als gering. Vielmehr hat er systematische Bedeutung: Was nun aber die Kalkulationen und die Meßkunst betrifft, die in der Baukunst und im Handel verwendet werden, im Vergleich zur Geometrie und den Berechnungen, die auf philosophische Weise betrieben werden, – sollen wir beide zusammen als eine Kunst bezeichnen oder als zwei verschiedene? (T_ d]; kocistijµ ja· letqgtijµ jat± tejtomijµm ja· jat’ 1lpoqijµm t/r jat± vikosov_am ceyletq_ar te ja· kocisl_m jataleketyl]mym — p|teqom ¢r l_a 2jat]qa kejt]om C d}o tih_lem; Phlb. 56e f., Üb. nach D. Frede)
Die Homonymität darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um zwei verschiedene Arten von Erkenntnissen handelt. Sie unterscheiden sich durch
morphoses de la Dialectique dans les Dialogues de Platon, 319) Die hierarchische Einteilung der Wissenschaften folgt dem ontologischen Rang ihrer Objekte. 594 Siehe dazu das Liniengleichnis in R. 509d – 511e.
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Die philosophische Erkenntnis
ihre unterschiedlichen Gegenstandsbereiche und infolgedessen auch im Grad ihrer Reinheit und Gewissheit. Erwies es sich dabei nicht auch als fraglich, ob man eine Kunst, die bisher mit einem Namen bezeichnet und entsprechend auch für eine gehalten wurde, wegen des Unterschieds an Genauigkeit und Reinheit nicht besser als zwei ansehen sollte? Und weiterhin, ob nicht diese Kunst bei denen, die philosophieren, genauer ist als bei denen, die nicht philosophisch vorgehen? (9m to}toir d³ üq’ ou tima t]wmgm ¢r bl~mulom vhecn\lemor, eQr d|nam jatast^sar ¢r li÷r, p\kim ¢r duo?m 1pameqytø to}toim aqto?m t¹ sav³r ja· t¹ jahaq¹m peq· taOta p|teqom B t_m vikosovo}mtym C lµ vikosovo}mtym !jqib]steqom 5wei; Phlb. 57b f., Üb. nach D. Frede)
Diejenigen, die ein philosophisches Interesse an Mathematik haben, beschäftigen sich primär mit reiner Mathematik und nicht mit angewandter. Analog zur Unterscheidung von reinen und gemischten Lüsten werden hier reine von gemischten Wissenschaften unterschieden. Das liegt an den verschiedenen ontologischen Voraussetzungen und ihrem Einfluss auf die Ergebnisse. Man kann zwar Ochsen zählen und hat aufgrund dieser mathematischen Bestimmung der Quantität eine genauere Kenntnis von der Größe einer Herde, als wenn man sie aufgrund von Erfahrung nur grob abschätzt. Aber Ochsen können geboren werden oder sterben, weglaufen oder zulaufen, was Zahlen als mathematischen Einheiten nicht widerfährt. Die angewandte Mathematik arbeitet also mit Zahlen als mathematischen Einheiten, die für Mengen konkreter Individuen stehen, welche der Veränderung unterliegen. Das macht sie zu einer gemischten Wissenschaft und Technik. Wer aber Mathematik als Teil der Philosophie betreibt, zielt auf die abstrakten Zahlen als allgemeine, unveränderliche Einheiten.595 Das begründet den Unterschied der reinen gegenüber der angewandten Mathematik und vor allem ihre epistemische Überlegenheit im Genauigkeits- und Wahrheitsanspruch: Es sei jedenfalls festgestellt, daß diese Disziplinen die übrigen Künste weit überragen, daß jedoch unter ihnen selbst noch diejenigen unendlich überlegen sind, die den Bemühungen der wahrhaft Philosophierenden um Genauigkeit und Wahrheit bei Maßen und Zahlen zu verdanken sind. (ja· eQq^shy ce fti pok» l³m axtai t_m %kkym tewm_m diav]qousi, to}tym d’ aqt_m aR peq· tµm t_m emtyr vikosovo}mtym bqlµm !l^wamom !jqibe_ô ja· !kghe_ô peq· l]tqa te ja· !qihlo»r diav]qousim. Phlb. 57c f., Üb. D. Frede)
Zwar sind mathematisierende, angewandte Künste wie die Baukunst den auf Erfahrung aufbauenden Künsten wie der Viehzucht oder dem Landbau an Genauigkeit überlegen. Aber innerhalb der mathematischen Disziplinen stehen diese gemischt arbeitenden, angewandten Disziplinen an Exaktheit und Ver595 Zur propädeutischen Funktion der mathematischen Fächer siehe R. 510c f., 525a – 531c und Euthd. 290b f.
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lässlichkeit im Sinn ontologischer Wahrheit unter der reinen Mathematik. Daraus ergibt sich eine hierarchische Ordnung der Wissenschaften.
3.2.
Die Dialektik als Wissenschaft vom unveränderlichen Sein
In diesem Zusammenhang fällt jedoch auf, dass Sokrates Mathematik und Philosophie nicht gleichsetzt. Vielmehr spricht er immer nur von »den Philosophierenden« (t_m vikosovo}mtym) oder davon, dass Mathematik »gemäß der Philosophie« (jat± vikosov¸am) betrieben wird. Die Philosophen beschäftigen sich demnach zwar mit Mathematik wie auch mit anderen Wissenschaften und Künsten. Kein Kenntnisbereich ist ihnen grundsätzlich verschlossen. Aber sie verfolgen dabei eine andere Intention und tun es auf andere Weise als dies im Alltagsleben oder auch bei Fachwissenschaftlern üblich ist. Selbst ein Mathematiker vom Schlage des Theodoros, der stolz darauf ist, Mathematik als reine Wissenschaft zu betreiben, würde nicht selbstredend zu den Philosophierenden zählen, die hier gemeint sind, während sein junger Schüler Theaitetos weit eher dazu zu rechnen wäre.596 Mathematik ist, wenn es hochkommt und sie richtig betrieben wird, Propädeutik für die Philosophie, aber es ist nicht dasselbe, auch nicht die reine Mathematik. Es sind zweierlei Dinge. Das wird im Folgenden deutlich, wenn die Dialektik und deren Gegenstände und Aufgaben beschrieben werden. Zwar fällt in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich der Begriff Philosophie, aber sie ist sachlich gemeint. Denn von den Gegenständen der Dialektik her erklärt sich der »den Philosophierenden« spezifische Gebrauch der Mathematik. Über den mathematischen Wissenschaften, die den gemischten und angewandten Künsten an Genauigkeit überlegen sind (!jqibe?r l²kista, Phlb. 57e), steht also noch die dialektische Kunst (B toO diak´ceshai d¼malir, Phlb. 58a).597 Sokrates weist das Missverständnis von Protarchos, es handele sich bei der 596 Siehe die Charakteristik der beiden Mathematiker in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur Philosophie im Theaitetos-Kapitel, S. 99 f. 597 Auch in anderen Dialogen verwendet Sokrates öfters die substantivierte Form des Partizips »die Philosophierenden«. Doch steht der Ausdruck dort entweder als Sammelbegriff für die Intellektuellen der griechischen Aufklärung (vgl. Ap. 23d und S. 112; Phd. 64b; Lg. 967c, s. a. S. 114, Anm. 172) oder für Rhetorikschüler der Sophisten (vgl. Grg. 485b-d und S. 142). Von ihnen grenzt Sokrates die »wahrhaft Philosophierenden« ab (Phd. 67d, e) und leitet dadurch über zum erst seit dem Phaidon gebräuchlichen terminus technicus »der Philosoph« im Sinne dessen, der nach dem unveränderlichen Sein der Ideen fragt (vgl. auch R. 494a). Eine ähnliche Begriffstransformation steht auch hinter dem Ausdruck »die Philosophierenden« in Smp. 204a, der diejenigen bezeichnet, die wissbegierig nach Weisheit streben (s.a. S. 245). In Sph. 253e findet sich dann wie im Philebos das technische Verständnis »der Philosophierenden« für diejenigen, die Dialektik betreiben (s.a. S. 344).
364
Die philosophische Erkenntnis
dialektischen Fähigkeit um die sophistische Rhetorik, ausdrücklich zurück. (Phlb. 58a f.) Auch die Rede- oder Gesprächskunst gehört in den Bereich des Anwendungswissens und ist in diesem Kontext auch von Nutzen für das tägliche Leben. Die Dialektik aber beschäftigt sich nicht wie die Rhetorik mit den Gegenständen der Sinnenwelt, sondern mit dem wahrhaft und immer gleicher Natur Seienden (peq· t¹ cm ja· t¹ emtyr ja· t¹ jat± taqt¹m !e· pevujºr, Phlb. 58a). Aufgrund der Beständigkeit und Unveränderlichkeit dieser Gegenstände kommt der Dialektik die bei weitem wahrste Kenntnis zu (lajq` !kgtest²tgm cm_sim, ebd.). Denn sie fasst immer das ontologisch Gewisse, Genaue und Wahre ins Auge (t¹ sav³r ja· t!jqib³r ja· t¹ !kgh´statom 1pisjope?, Phlb. 58c).598 Die dialektische Wissenschaft vom wahrhaft Seienden hat ihre Entsprechung im Vermögen der Seele, das Wahre zu lieben und alles um seinetwillen zu tun 598 Die Frage nach dem Verhältnis von der Dialektik als einer »Gabe der Götter« und göttlichen Methode, die in Phlb. 16c als wissenschaftstechnische Universalmethode eingeführt wird und auch die Phänomene der immanenten Welt einschließt, und der Dialektik in Phlb. 57e ff., die sich auf die Welt des unveränderlich Seienden, auf die transzendenten Ideen bezieht, hat die Forschung immer wieder beschäftigt. D. Frede argumentiert dafür, dass im Philebos nicht von zwei unterschiedlichen Dialektiken die Rede ist, wie verschiedentlich angenommen wurde, sondern es sich nur um verschiedene »Aspekte« handelt. (D. Frede, Platon: Philebos, 329, 340) Sie bestreitet den Vorwurf eines »Rückfalls in eine rigorose Zweiweltentheorie« durch die neuerliche Betonung des ewig Seienden als ausgezeichnetem Gegenstand der Dialektik. (A.a.O., 331) Sie folgt weder den Unitariern, die an einer durchgängig unveränderten Ideenlehre festhalten, noch den Revisionisten, die davon ausgehen, dass das Philosophem abgetrennter, transzendenter Ideen seit der Ideenkritik im Parmenides aufgegeben oder grundsätzlich modifiziert wurde. Stattdessen argumentiert D. Frede für einen schwachen Evolutionismus, der auf Probleme und Missverständnisse der früheren Ideenlehre reagiert. Danach sind die Gegenstände der »dialektischen Ideenlehre« ideale, unveränderliche Wesenheiten, die in einer Ideenhierarchie von einer obersten Einheit dialektisch bis zur untersten Spezies aufgezeigt werden können. Erst bei den Individuen endet der Bereich der Dialektik, weil sie anders Gattung und Art der Veränderung unterliegen und deswegen Objekte der Einzelwissenschaften sind. Die diskutierte Spannung zwischen der göttlichen Methode und der Ideenannahme erklärt sich daraus, dass Platon im ersten Fall zeigen möchte, wie die Dinge zugleich Eines und Vieles sein können und dieses Verhältnis wissenschaftlich erschlossen wird, während im zweiten Fall die Gegenstände des Wissens in ihrer unveränderlichen Natur ins Auge gefasst werden. (A.a.O., 340) Dieser Ansatz überzeugt, weil er dem sich entwickelnden und ausdifferenzierenden Denken ebenso Raum gibt wie der offensichtlichen Kontinuität zentraler Theoreme, so dem genuinen Interesse des platonischen Philosophen an transzendenten Wesenheiten als unveränderlichen Bezugspunkten des Denkens. Anders argumentiert Gosling, der bezweifelt, dass die Worte eWdor und diakejtijºr im Zusammenhang mit der göttlichen Methode überhaupt als termini technici aufzufassen sind. Er billigt ihr ausschließlich methodologische Bedeutung zu, während die Dialektik metaphysische Funktion habe. Es handele es sich bei der göttlichen Methode um die Weiterentwicklung einer techne für Fortgeschrittene, die aber das metaphysische Einheit-Vielheit-Problem nicht löst. (Gosling, Metaphysik oder Methodologie, 226 ff.) Ein unitarisches Konzept bietet dagegen Szlezk, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, 193 – 217.
Philebos: Die philosophische Erkenntnis und das gute Leben
365
(d¼malir 1q÷m te toO !kghoOr ja· p²mta 6meja to¼tou pq²tteim, Phlb. 58d).599 Dieses Vermögen ist identisch mit Vernunft (moOr) und Einsicht (vqºmgsir), die auf die Erkenntnis des Wahren zielen und deswegen am meisten zu ehren sind. (Phlb. 59b, d) In der Politeia wurde dies als Veranlagung des philosophischen Seelenteils bezeichnet. (R. 581b) Weil der Mensch jedoch eine Verbindung von Leib und Seele ist, wäre es ein lächerlicher Zustand (ceko¸am di²hgsim), wenn das menschliche Leben nur in göttlichen Erkenntnissen (1m ta?r he¸air 1pist¶lair) bestünde, (Phlb. 62b) die sich auf das Immer-Seiende und die unveränderlichen Ideen beziehen. Denn das gute menschliche Leben beinhaltet auch alltägliche Fähigkeiten, die der leiblichen Existenz geschuldet sind. (Phlb. 62c) Weltuntüchtigkeit ist kein spezifisches Kennzeichen des Philosophen, im Gegenteil.600 Auf den ersten Blick erschließt sich nicht gleich der Nutzen der Dialektik für das gute Leben, aber er ist von fundamentalerer Art als der der angewandten Künste. Sogar aus der Perspektive der Lüste zeigt sich, dass die Dialektik für das gute Leben notwendig ist. Denn die Dialektik erkennt die Eigenheit jeder Lust und auch alles Übrige so vollkommen als möglich und gewährleistet dadurch die gute Mischung der Lebenskräfte. (Phlb. 63c) Umgekehrt sind auch Einsicht und Vernunft nicht autonom, sondern bedürfen der Lüste in der Mischung des Lebens. Allerdings sind nicht alle Lüste gleicherweise wünschenswert. Vielmehr werden solche von der Mischung ausgeschlossen, die Verwirrung im Menschen anstiften, weil sie mit Unvernunft und Schlechtigkeit gepaart sind (let’ !vqos¼mgr ja· t/r %kkgr jaj¸ar, Phlb. 63e). Die reinen, wahren Lüste hingegen601 sowie die lebensnotwendigen, unschädlichen oder gar heilsamen Lüste werden durch die übergeordnete Dialektik in ihrer spezifischen Funktion für das gute Leben erkannt und zur Mischung zugelassen. (Phlb. 62e f.) Anders als die Lüste unterliegen die Wissenschaften keinen grundsätzlichen Einschränkungen, weil Kenntnisse als solche keinen Schaden anrichten, auch nicht in den weniger genauen Künsten und angewandten Wissenschaften. Diese Unbedenklichkeit gilt allerdings nur, wenn damit die Kenntnis von den göttlichen, immerseienden Wesenheiten verbunden ist, die Gegenstand der Dialektik 599 Das ist nur eine andere Bezeichnung und Umschreibung für das Gute, das die Seele seiner Natur nach liebt und um dessentwillen der Mensch alles tut, was er tut, siehe Grg. 468c f., 499e. 600 Die berühmte Geschichte von Thales, der in den Brunnen fällt, weil er nur auf die Erscheinungen am Himmel achtet und nicht auf das, was vor seinen Füßen liegt, ist mit komisch-ironischem Spott über die weltfremden Fachleute gewürzt. Sokrates, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, allerdings jedenfalls nicht zu ihnen. Die Funktion dieser Geschichte ist die karikierende Korrektur der vermeintlichen Welttüchtigkeit und Weltgewandtheit der Rhetoren und Gerichtsredner, die sich unter Maßgabe des unveränderlichen Seins gerade als untüchtig und unfähig erweisen. Vgl. Tht. 174a f. u. S. 93. 601 Zu den reinen, wahren Lüsten wie der Lust an reinen Formen, Gestalten oder Tönen sowie der Lust an Kenntnissen siehe Phlb. 51b – 52b.
366
Die philosophische Erkenntnis
sind. Dadurch wird die Orientierung am Wahren und Guten gewährleistet, weil das nicht im Horizont der Einzelwissenschaften liegt. (Phlb. 62a-d) Die Dialektik ist darum wesentlich ein regulatives und normatives Wissen. Dem Philosophen und Dialektiker stehen also alle Wissensgebiete offen.602 Dadurch eröffnet sich ihm die schönste Verbindung von Vernunft und Lust zur Mischung des guten Lebens. (Phlb. 63e f.) Sokrates drückt das in schönen Metaphern aus: »Im Vorhof des Guten« (Phlb. 64c) finden sich die richtige Mischung und das rechte Maß der »süßen Lust« mit der »nüchternen Vernunft«.603 (Phlb. 61c)
602 Ein Beispiel für eine angewandte Disziplin, die sowohl auf empirischer wie auf philosophischer Grundlage ausgeübt wird, ist die Medizin. In dem Spätwerk Nomoi heißt es dazu, dass man sich gemeinhin mit der Behandlung von Symptomen zufrieden gibt, ohne nach den tiefer liegenden, wirklichen Ursachen eines Übels zu fragen. Wer dagegen ein Übel grundlegend bekämpfen will, muss sich über das Wesen dessen, was er verändern und heilen will, im Klaren sein und die Aufgabe philosophisch angehen. Allerdings sollte er mit Spott rechnen, als ob er sich in die falsche Disziplin verirrt habe: Denn darüber muß man sich völlig im Klaren sein: wenn einer der Ärzte, welche die Heilkunst rein empirisch ohne theoretische Grundlage betreiben, auf einen freien Arzt träfe, der sich mit einem freien Kranken unterhält und sich dabei beinahe philosophischer Argumente bedient und die Krankheit bei der Wurzel packt, indem er auf die allgemeine Natur des Körpers zurückgeht, so würde jener gleich in lautes Gelächter ausbrechen und keine anderen Reden vorbringen als die, welche in diesem Fall die meisten der sogenannten Ärzte schnell bei der Hand haben; er würde nämlich sagen: ›Du Tor, du behandelst ja nicht den Kranken, sondern belehrst ihn geradezu, als müßte er ein Arzt, nicht aber gesund werden!‹ (ew c±q 1p_stashai de? t¹ toi|mde, ¢r eQ jatak\boi pot] tir Qatq¹r t_m ta?r 1lpeiq_air %meu k|cou tµm Qatqijµm letaweiqifo l]mym 1ke}heqom 1keuh]q\ mosoOmti diakec|lemom Qatq|m, ja· toO vikosove?m 1cc»r wq~lemom l³m to?r k|coir, 1n !qw/r te "pt|lemom toO mos^lator, peq· v}seyr p\sgr 1pami|mta t/r t_m syl\tym, taw» ja· sv|dqa cek\seiem #m ja· oqj #m %kkour eUpoi k|cour C to»r peq· t± toiaOt’ !e· pqowe_qour emtar to?r pke_stoir kecol]moir Qatqo?r· va_g c±q #m »¯ l_qe, oqj Qatqe}eir t¹m mosoOmta !kk± swed¹m paide}eir, ¢r Qatq¹m !kk’ oqw rci/ de|lemom c_cmeshai«. Lg. 857c-e, Üb. Schl.) Hinter dieser Auseinandersetzung steht die Überzeugung, dass das Gute für den Menschen nicht ohne Kenntnis des allgemeinen, unveränderlichen Wesens der Gattung zu erlangen ist und auch nicht ohne Kenntnis des Guten in Gestalt des Schönen, Angemessenen oder Wahren, wie es im Philebos entfaltet wird. (Phlb. 64e) Gesundheit und das gute Leben insgesamt sind nur in Rückgriff auf Vernunft und Einsicht dauerhaft zu gewinnen. Dafür steht der Verweis auf die paideia, die den Unterschied zwischen dem tatsächlichen, nach philosophischen Grundsätzen praktizierenden Arzt anzeigt und dem gewöhnlichen und nur so genannten. Zur Unterscheidung der freien, philosophischen Wissenschaftler von den gewöhnlichen, empirisch arbeitenden vgl. die Auseinandersetzung im Theaitetos, Tht. 172c f. und S. 93 ff. Die Hippokratische Schrift Über die alte Medizin (Hp. VM 20) äußert sich dagegen in der oben zitierten Weise kritisch zu den philosophischen Prämissen in einer Anwendungswissenschaft wie der Medizin und plädiert für eine rein empirische Kunst, siehe dazu S. 29 f. 603 Zum maßvollen, spielerischen Vergnügen, mit dem sich der Philosoph auf die Naturwissenschaften einlässt, obwohl sie nur zu Meinungen und nicht zu sicherem Wissen gelangen, siehe auch Ti. 59c f.
Philebos: Die philosophische Erkenntnis und das gute Leben
3.3.
367
Die Muse der Philosophie und das gute Leben
Die Dialektik als genuine Wissenschaft des Philosophen ist also keineswegs nur auf das transzendente Sein bezogen. Vielmehr lassen sich durch sie Möglichkeiten und Grenzen der anderen Wissenschaften erkennen und das rechte Maß bei der Mischung von Lust und Vernunft gewährleisten. Aus diesem Grund ist sie Bedingung der Möglichkeit eines guten leib-seelischen Lebens, weil die Seele nicht dauerhaft in den Höhen der intelligiblen Schau verbleiben kann, sondern sich wieder mit der menschlichen Welt befassen muss. Die Dialektik hat eine vermittelnde Funktion zwischen den unveränderlichen Ideen, die auch im Philebos nicht ihrer Transzendenz beraubt sind, und der Sinnenwelt, die in ihrer unverzichtbaren Bedeutung für das Glück des Menschen und das gute Leben nicht geleugnet wird.604 Ganz analog dazu kommt dem Menschen in der Gattung der Lebewesen eine Mittelstellung zu. Er steht zwischen Göttern und Tieren. Diese anthropologische Verortung im kosmologischen Ganzen findet sich auch in anderen Dialogen.605 Das menschliche Leben steht in der Spannung zwischen zwei Polen: dem tierischen, ganz lustbetonten Leben und der göttlichen, ganz der reinen Vernunft zugehörigen Existenz. Die göttliche Lebensweise, die frei von Lust und Unlust im Einklang mit der wahrhaften Vernunft ist, (Phlb. 22c, 33a f., 55a) liegt für den Menschen aufgrund seiner leib-seelischen Verfasstheit nicht im Bereich des Möglichen. Das tierische Leben wiederum steht am unteren Ende der Skala, weil es ausschließlich die vernunftlose, unbegrenzte Begierde und Lust kennt. Dazwischen liegt die dem Menschen gemäße Lebensform, in der Vernunft und Lust gemischt sind. Das gilt auch für den Philosophen. Allerdings täuschen sich die meisten Leute darüber. Denn sie halten die Lust für das höchste Gut und berufen sich dabei auf die Tiere, als ob diese besser als der Mensch wüssten, was gut ist: Sokr.: »Und hat nicht die Lust den fünften Rang erhalten, nach dem Urteil, das wir in unseren Diskussionen gefällt haben?« Prt.: »So scheint es.« Sokr.: »Aber nicht den ersten, selbst wenn alle Ochsen, Pferde und die übrigen Tiere zusammen dafür stimmen, indem sie der Lust folgen. Die Menge vertraut ihnen wie Seher den Vögeln und urteilt, daß die Lust den meisten Einfluß auf das gute Leben hat; sie halten sogar das Begehren der Tiere für zuverlässigere Zeugen als die Liebe zu den Reden, die den Weissagungen der Muse der Philosophie zu verdanken sind.« (SY. OqjoOm p]lptom jat± tµm jq_sim, Dm mOm b k|cor !pev^mato, c_cmoit’ #m B t/r Bdom/r d}malir. PQY. =oijem. SY. Pq_tom d] ce oqd’ #m oR p\mter b|er te ja· Vppoi ja· tükka s}lpamta hgq_a v_si t` t¹ wa_qeim di~jeim· oXr piste}omter, ¦speq l\mteir eqmisim, oR pokko· jq_mousi t±r Bdom±r eQr t¹ f/m Bl?m ew jqat_star eWmai, ja· to»r hgq_ym 5qytar oUomtai juq_our 604 Siehe dazu die Mittlerfunktion des Eros im Mythos des Symposions, der zwischen Göttern und Menschen nicht nur aszendent, sondern auch deszendent vermittelt. (Smp. 202e) 605 Vgl. die entsprechenden Abschnitte im Gorgias, Timaios und Phaidros, S. 151, 170 ff. u. 282.
368
Die philosophische Erkenntnis
eWmai l\qtuqar l÷kkom C to»r t_m 1m lo}s, vikos|v\ lelamteul]mym 2j\stote k|cym. Phlb. 67a f., Üb. D. Frede)606
Dem Menschen als einem Mittelwesen eignet die Lust am Wissen und die Liebe zu den Reden. Anders als die unvernünftigen Bewegungen der Vögel, denen viele Wahrsager vertrauen, ist menschliches Denken und Reden für göttliche Inspiration empfänglich, weil Vernunft und Einsicht in der Seele das Wahre lieben. (Phlb. 58 d) Wer das gute Leben sucht, tut darum gut daran, den Wahrsagungen und Reden der »Muse der Philosophie« zu folgen. Sie ist eine verlässlichere Seherin als die gemeinen Mantiker, weil sie auf das unveränderlich Seiende Acht hat und an dessen Schönheit und Harmonie Maß nimmt. Mit diesen Worten beschließt Sokrates den Dialog. Er hat nicht nur die Behauptung von Philebos widerlegt, dass für alle Lebewesen (p÷si f]oir, Phlb. 11b) das Gute mit der Lust identisch sei. Er deckt auch die Entwertung des spezifisch Menschlichen auf, die mit dieser These verbunden ist. Denn Menschen und Tiere gehören zwar gleicherweise zur Gattung der Lebewesen, wie übrigens auch die Götter, aber sie gehören nicht zur gleichen Art.607 Die Menschen verfehlen sich, wenn sie ihrer artspezifischen Liebe zu den Reden nicht nachgehen und ihre Vernunft nicht gebrauchen, sondern wie blinde Mantiker den Tieren (hgq¸a) folgen, die nur die Befriedigung vernunftloser Lust kennen. Weil der Mensch das Gute aber nicht ausschließlich unter einer Gestalt erjagen kann (lµ liø dum²leha Qd´ô t¹ !cah¹m hgqeOsai), entflieht es ihm in die Natur des Schönen (jatap´veucem … eQr tµm toO jakoO v¼sim). Er erfasst das Gute darum auf vielfältige Weise, nämlich in Form von Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit (j²kkei ja· sulletq¸ô ja· !kghe¸ô). (Phlb. 64e f.) Die Musen, insbesondere die Muse der Philosophie, die über die Reden gesetzt ist, künden ihm diesen Zusammenhang.608 Denn sie sind nichts anderes als Personifikationen der jeweiligen Kunst, in der sich das Gute in Gestalt leiblicher Schönheit, seelischer Angemessenheit und geistiger Wahrheit verbirgt. Noch einmal beschwört Sokrates mit dem anziehenden und anmutigen Bild der Musen die erhebende und transformierende Kraft der Liebe zum Schönen. Sie eröffnet den Zugang zur göttlichen Weisheit und gewährt ein gelingendes, menschliches Leben. Mit dem Bild der philosophischen Muse verabschiedet sich die Dialogfigur Sokrates aus dem platonischen Werk. »Lasst mich also los!« sind seine letzten 606 Zur Begründung der gleichzeitigen Annahme eines genitivus obiectivus und genitivus subiectivus in der Übersetzung siehe den Kommentar bei D. Frede, Platon: Philebos, 87 u. 370, Anm. 22. 607 Vgl. Ti. 39e ff. 608 Zum Philosophen als Musenfreund (vikºlousor) und Redefreund (vikºkocor) siehe S. 292 f.
Philebos: Die philosophische Erkenntnis und das gute Leben
369
Worte. (Phlb. 67b) Das »Wenige«, was es noch zu sagen gibt (slijq¹m 5ti koipºm, ebd.), überlässt er den Nachlebenden. Seit fast zweieinhalb Jahrtausenden sind wir gut damit beschäftigt, die »Kleinigkeiten« wie auch die großen Fragen, die er uns gestellt hat, immer neu zu durchdenken. Eine solche Wirkungsgeschichte zeugt von der ständig sich erneuernden Faszination durch die Philosophie. Die Muse der Philosophie altert offensichtlich nicht, sondern behält ihre zeitlose Anmut und Schönheit, wie es sich für eine Göttin gebührt.
Schlussbetrachtung
Diese abschließenden Überlegungen sollen keine Wiederholung der Ergebnisse der Arbeit bringen. Dafür sei auf die Einleitung und die Kapitelüberblicke verwiesen. Vielmehr geht es um einen Ausblick, der über das hinausgeht, was Platon zum Philosophiebegriff in seinen Dialogen explizit gemacht hat. Eingangs wurde an Rilkes dichterischem Bild vom Torso Apollos veranschaulicht, dass Platon die Aufgabe des Lesers darin sieht, die philosophischen Fragen, Probleme und Lösungsansätze, die er in seinen Dialogen in Szene gesetzt hat, im eigenen Philosophieren weiterzuentwickeln und damit wieder zum Leben zu erwecken. Das ist in der Philosophiegeschichte denn auch auf vielfältige Weise geschehen. Wir haben mit Platon das Philosophieren durch die Formel »von hier nach dort« charakterisiert, um die Vielfalt der in den Dialogen gefundenen Philosophiedefinitionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Worte »hier« und »dort« fungieren dabei als Variablen. Das »dort« steht bei Platon wie gezeigt für unterschiedliche Begriffe:609 für das Gute, das Schöne, die Wahrheit, das Sein, das Eine, Gott und anderes mehr. Soviel dürfte unstrittig sein. Man kann aber fragen, ob es sich dabei um verschiedene Namen für ein und dieselbe Sache handelt, oder ob diese Vielfalt eher für einen Pluralismus von Zielen spricht. Es bleibt offen, ob die Dynamik, die sich in der Formel ausdrückt, einen Fluchtpunkt anvisiert, der allen Perspektiven, aus denen die Wirklichkeit betrachtet wurde, gemeinsam ist oder nicht. Weiterhin sagt die Formel nicht, dass die philosophische Dynamik ihr Ziel auch erreichen und dort zur Ruhe kommen kann, oder ob sich die menschliche Seele in diesem Leben dem Ziel ihres Philosophierens nur approximativ anzunähern vermag. Diese unterschiedlichen Positionen wurden und werden mit Hinweis auf einschlägige Stellen im platonischen Werk vertreten. Eine zwingende Antwort lässt sich unter Berufung auf Platon nicht geben. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Philosophieren kein objektivierbarer Gegenstand der Reflexion wie andere ist. Es beinhaltet immer einen 609 Siehe dazu S. 23 f.
372
Schlussbetrachtung
Selbstbezug, der sich dem erkennenden Zugriff und Einfluss entzieht. Die grundlegenden Prämissen und Evidenzen des eigenen Denkens können vielleicht bewusst gemacht, aber nicht zwingend begründet werden. Es bleibt ein vorrationaler Rest.610 Für die Beantwortung unserer eben skizzierten Fragen beinhaltet das eine Grundentscheidung darüber, ob für die Wirklichkeit eine einheitliche Struktur angenommen wird und sie folglich auf ein einheitliches Prinzip zurückgeführt werden kann, oder ob ihre Vielheit dezentral strukturiert ist. Wir hatten gezeigt, dass das philosophische Denken als eine dynamische Bewegung »von hier nach dort« durch einen Prozess der Verallgemeinerung und Vereinfachung bestimmt ist, in dessen Verlauf eine niedere Stufe auf die höhere zurückgeführt wird. Es ist für das Denken höchst unbefriedigend, wenn eben diese Dynamik sich nicht in einem nächsten Schritt fortsetzen sollte, bei dem die Vielfalt des Intelligiblen wiederum auf ein allgemeines und einheitliches Prinzip hin transzendiert wird. Das ist zwar keine logische Notwendigkeit, aber es ist ein Bedürfnis des Denkens, die Kriterien, die es bis dahin geleitet haben, weiterhin anzuwenden bis zu einem nicht mehr zu übersteigenden Ende. Die Neuplatoniker haben es das »Eine in uns« genannt, was bewirkt, dass das Denken diesen einheitlichen Grund seiner selbst wie auch der Welt zu erfassen sucht, bis es sich in einer höchsten Einheit, dem absolut Einen, selbst aufhebt. Der letzte, einheitliche Zielpunkt von allem in der Bewegung »von hier nach dort« ist danach das Eine, das jenseits aller Vielfalt und Differenzierungen ist. Als jenseits des Seins (1p´jeima t/r oqs¸ar, R. 509b) wie auch von Wahrheit und Erkenntnis ist es auch jenseits des Dualismus von Erkennbarem und Erkennen, und das philosophische Denken kommt dort – und nur dort – notwendig zur Ruhe. Ob das eine zutreffende Sicht der Wirklichkeit ist, lässt sich nicht analytisch begründen. Eine Zustimmung hängt nicht zuletzt an der Erfahrung der Einheit stiftenden Dynamik der philosophischen Denkbewegung. Sowohl Platon als auch die Neuplatoniker und in Folge auch die christliche Philosophie haben darauf hingewiesen, dass es an Voraussetzungen gebunden ist, die nicht nur im natürlichen Denkvermögen des Menschen, in seiner philosophischen Seele, grundgelegt sind, sondern auch von einer entsprechenden Lebensform begleitet sein müssen. Wie wir denken, hängt auch davon ab, wie wir leben. Das äußere Leben sollte die Einheit stiftende Kraft des »Einen in uns« fördern, indem es die Zerstreuung ins Viele meidet, wo immer möglich. Bis in die Neuzeit hinein waren darum philosophische Schulen meist auch Lebensschulen. Heute, in unserer individualisierten Zeit, ist das weitgehend Aufgabe des Einzelnen. In diesem Sinne ist diese Arbeit Ausdruck und Ergebnis der eminent philosophischen Frage, »wie man leben soll« (Grg. 500c). Wenn sie nicht nur der 610 Vgl. dazu Kobusch, Vernunftglaube. Das Vorrationale und Nichtpropositionale der menschlichen Vernunft.
Schlussbetrachtung
373
Selbstklärung diente, sondern darüber hinaus auch anderen Anregung gegeben haben sollte, die Einheit von Denken und Leben zu bedenken, hätte sie ihren Zweck mehr als erreicht.
Anhang
1.
Häufigkeitsverteilung und Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie
1.1.
Die Häufigkeitsverteilung der Wortfamilie Philosophie
Das Diagramm zur Häufigkeitsverteilung der Wortfamilie zeigt eindrucksvoll, dass der Phaidon und die Politeia die anderen Dialoge dabei weit überragen. Auffällig ist auch das Fehlen der Wortfamilie in einer Reihe von Dialogen, die – vielleicht mit Ausnahmen des Menon – üblicherweise der frühen Werkphase zugerechnet werden. Diese Aussage bezieht aber schon den chronologischen Aspekt mit ein, und damit beginnen die Schwierigkeiten. Zwar ist die Häufigkeitsverteilung gerade unter diesem Aspekt besonders interessant und aufschlussreich (siehe dazu auch die Einleitung), doch trotz jahrzehntelanger Forschungen auf dem Gebiet ist die absolute Chronologie nach wie vor sehr unsicher. Auch in der relativen Chronologie, der Abfolge der Dialoge untereinander, ist wenig Übereinstimmung zu erlangen. Weitgehend unstrittig ist die Zuordnung der Dialoge zu einer frühen Gruppe (Ion, Kriton, Laches, Euthyphron, Menon, Hippias Mi., Menexenos, Charmides, Kratylos, Apologie, Protagoras, Lysis, Euthydemos, Symposion, Gorgias, Phaidon), einer mittleren (Politeia, Theaitetos, Sophistes, Parmenides) und späten Gruppe (Timaios, Philebos, Politikos, Nomoi, Kritias) auf der Grundlage stilometrischer und formaler Untersuchungen.611 Innerhalb der späten Gruppe besteht mehr Übereinstimmung über eine relative Abfolge durch die Verbindung mit Platons Lebensdaten und durch intertextuelle Bezüge. Das Diagramm kann darum keinesfalls im Sinn einer festen relativen Chronologie interpretiert werden. Es kann aber, mit Blick
611 Vgl. hierzu Erler, Platon PhdA 2/2, 21 – 29; Kahn, Plato and the Socratic Dialogue, 43 – 48; Brandwood, The Chronology of Plato’s Dialogues; Thesleff, Studies in Platonic Chronology, 97 ff., 236 ff.
376
Anhang
auf die verschiedenen Werkphasen, das unterschiedliche Interesse Platons am Philosophiebegriff eindrücklich veranschaulichen.
0
Laches
0
Euthyphron
0
Menon
0
Hippias Mi.
1
Menexenos
1
Charmides
2
Apologie
4
Protagoras
5 7 14
Symposion
16
Gorgias
18
Phaidon
39
Politeia
109
Phaidros Parmenides
120 109 100
2
Kratylos
Lysis Euthydemos
Häufigkeitsverteilung Wortfamilie Philosophie
0
Kriton
80 Häufigkeit
Ion
60 39
40
14 3
Theaitetos
11
Sophistes
11
20
14
16
7
Timaios
9
Philebos
6
Politikos
3
Nomoi
2
Kritias
1
1.2.
Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie
0
0
0
0
0
0
1
1
2
2
4
5
18
14 3
11 11
9
6
3
2
1
Bereits Dixsaut hat ihrer Arbeit Le Naturel Philosophe eine detaillierte Tabelle aller Okkurenzen des Philosophiebegriffs bei Platon beigegeben. (Dixsaut, Le Naturel Philosophe, 383 – 388) Die hier von mir angefügte Tabelle stellt dieses Hilfsmittel dem deutschsprachigen Leserkreis zur Verfügung. Sie ist insofern etwas differenzierter, als das substantivierte Partizip zur Bezeichnung von Personen, die philosophieren, noch gesondert aufgeführt wird. Das erleichtert den Vergleich mit dem dann technischen Begriff »der Philosoph«. Abweichend von Dixsaut habe ich vikºsovor nicht grundsätzlich adjektivisch verstanden, sondern, wenn der Kontext eindeutig war, auch als Substantiv ohne bestimmten Artikel. Meinen Stellenangaben liegt die Textausgabe von Bud¦ zugrunde. Die Belegstelle Phd. 82c hat Dixsaut fälschlich doppelt, nämlich als Verbform und Substantiv gezählt, vielleicht weil die Handschriften hier voneinander abweichen (Burnet liest oR vikºsovoi / oR vikosovoOmter bei Bud¦).
288d1 305b6 305d8 306c4 307b7
275a1 304e7 305d1 306b2 307c2
305c7
212d8
Euthydemos
Lysis
0
335d7 342d5 213d7
Protagoras
342a7 343b5
0 0 0 0 0 0 0 155a1 404a2 0
0 0 0 0 0 363a5 234a5 153d4 406a5 0
Ion Kriton Laches Euthyphron Menon Hippias Mi. Menexenos Charmides Kratylos Apologie
Adjektiv : philosophisch vikºsovor
Substantiv : die Philosophie B vikosov¸a
Dialog
218a4 218a6 218b2 275a6 288d8
0 0 0 0 0 0 0 0 0 28e5 29d4 342e6
282a1
218a5 218b1
29c9
Verbformen: philosophieren vikosove?m
0
0
0
Substantiviertes Partizip: der Philosophierende b vikosov_m 0 0 0 0 0 0 0 0 0 23d4
0
0
0
Substantiv : der Philosoph b vikºsovor, ein Philosoph vikºsovor 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Häufigkeitsverteilung und Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie
377
407c3 0
Politeia III. Politeia IV.
Politeia I. Politeia II.
Phaidon
64d3 68b2 68b9 84a1 95c1 91a2 (vikosºvyr)
61a3 64a5 68d1 82b3 83a2 114c3
411e7
376b1 376c2
526c3
482a5 484c5 485a4 486a6
0 375e10 376b8 376c4 410e1 0
218b3 204b4
204b4
Adjektiv : philosophisch vikºsovor
182c1 184d1 210d6
411c6
173c3 183a1 205d5 218a6 481d5 482a9 484c5 485c4 500c7 59a2 63e9 66d2 81b7 82d9 84a2 0 0
Symposion
Gorgias
Substantiv : die Philosophie B vikosov¸a
Dialog
Fortsetzung
0 0
0 0
80e7 82d5
484c9 485a6 487c7
173a3 204a1 204a3
82b8
485a5 485d2
203d7 204a2
Verbformen: philosophieren vikosove?m
0 0
0 0
64b3 67d6 69d1
485b1 485c6
204a7
64b5 67e3 82c3
485c3
Substantiviertes Partizip: der Philosophierende b vikosov_m
0 0
61c5 62c8 64e2 65c8 67d7 83b6 0 0
0
0
61d4 64b9 65e6 66b2 68d9 102a1
Substantiv : der Philosoph b vikºsovor, ein Philosoph vikºsovor
378 Anhang
487c6 489d2 489d12 491a5 494e2 495d3 496b1 497a6 498b5 499c2 500b2
486b3 489b4 489d3 490a3 491b9 495c2 495d6 496c1 497d8 498b7 499c8 500b5 521b2 529a7 536b5 39c4 543a5 561d2
Politeia VI.
Politeia VIII.
521c7 535c6 536c3 540b2 548c1
474c2
473d3
Politeia V.
Politeia VII.
Substantiv : die Philosophie B vikosov¸a
Dialog
Fortsetzung
0
520a7 527b10
456a4 475c9 476b2 480a11 485a10 485e1 487b10 490c8 494a4 495a5 498a2 501e3
525b8
485c13 486a2 486d2 491b1 494a12 497b2 501d8 502a6
475c3 475d4 480a7
Adjektiv : philosophisch vikºsovor
0
0
495a2
473d1
Verbformen: philosophieren vikosove?m
0
0
494a6
0
Substantiviertes Partizip: der Philosophierende b vikosov_m
0
525b5
484a1 484b7 489a5 490d6 499b4 500c9 501d2
473c11 475b9 475e3
540d4
484b4 487e3 489a8 492a1 499e4 500e1 503b6
474b6 475e2
Substantiv : der Philosoph b vikºsovor, ein Philosoph vikºsovor
Häufigkeitsverteilung und Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie
379
Timaios
Parmenides Sophistes
20a5 88c5
47b1 91e3
135c5
18a6 19e6 24d1 73a7 !vikºsovom
126b7 216a4 254a8 !vikosºvou
0
143d2 168a5 172c9 174b1 130e2 260a6
Theaitetos
155d3 172c5 173c8
248d3 252e3 257b7 278d4 256b8 !vikosºv\
249a2 257b4 279a9
Phaidros
0
611e1
607b5 619d1 239b4 256a7 259d3
Politeia X.
581c5
581b9 586c3
587a7
Politeia IX.
Adjektiv : philosophisch vikºsovor
Substantiv : die Philosophie B vikosov¸a
Dialog
Fortsetzung
0
0
261a4
619e1
Verbformen: philosophieren vikosove?m
0 253e6
0
249a1
0
Substantiviertes Partizip: der Philosophierende b vikosov_m
0 216c1 217a3 253c9 254a8 47b4
155d2 168a8
249c5
581d10 582b9 582d8 0
216c6 249c10 253e8
164d1 175e2
582b1 582c9 582e8
Substantiv : der Philosoph b vikºsovor, ein Philosoph vikºsovor
380 Anhang
Substantiv : die Philosophie B vikosov¸a
56e9
272c1 0 109c8
Dialog
Philebos
Politikos Nomoi Kritias
Fortsetzung
257c1 0 0
67b6
Adjektiv : philosophisch vikºsovor
857d2 0
Verbformen: philosophieren vikosove?m
967c7 0
56d5 57c2
57c2 57d1
Substantiviertes Partizip: der Philosophierende b vikosov_m
257a5 0 0
Substantiv : der Philosoph b vikºsovor, ein Philosoph vikºsovor
Häufigkeitsverteilung und Okkurenzen der Wortfamilie Philosophie
381
382
2.
Anhang
Literaturverzeichnis
Zitiert wird nach der Platon Werkausgabe in acht Bänden, herausgegeben von Gunter Eigler. Die Dialoge Platons werden in der Regel ohne zusätzliche Autorenkennzeichnung nur unter Angabe der jeweiligen Dialogabkürzung zitiert. Werkabkürzungen antiker Autoren orientieren sich an den Siglen bei Liddell/ Scott/Jones. A Greek-English Lexicon, XVI – XXXVIII.
Siglen DK FGrHist FHG HWdPH LSJ PCG PhdA 2/2 TLG Schl.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Hermann Diels u. Walter Kranz (Hgg.). Die Fragmente der Griechischen Historiker. Felix Jacoby (Hg.). Fragmenta Historicorum Graecorum. K. Müller (Hg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 – 13. Joachim Ritter u. a. (Hgg.). Liddell/Scott/Jones. A Greek-English Lexicon. Poetae comici Graeci. R. Kassel u. C. Austin (Hgg.). Grundriß der Geschichte der Philosophie, begr. v. F. Ueberweg. Die Philosophie der Antike 2/2. Thesaurus Linguae Graecae. Übersetzung F. Schleiermacher
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Literaturverzeichnis
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386
Anhang
Lexika, Hilfsmittel Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet u. herausgegeben v. Konrad Ziegler u. Walter Sontheimer. Bde. 1 – 5. München 1979. Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 – 13. Joachim Ritter u. a. (Hgg.). Basel und Darmstadt 1971 – 2007. Liddell, Henry George u. R. Scott (Sigle: LSJ). A Greek-English Lexicon, revised and augmented by St. Jones and R. McKenzie, Oxford 91940; with a revised supplement 1996. Platon im Kontext Plus. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf CD-ROM. Mit allen Übersetzungen und Einleitungen Fr. Schleiermachers, ergänzt um Übersetzungen von Fr. Susemihl, H. Müller u. a.. Karsten Worm. InfoSoftWare Berlin 2001. Thesaurus Linguae. A Digital Library of Greek Literature. University of California, Irvine 2004. http://www.tlg.uci.edu oder : http://stephanus.tlg.uci.edu/ (Stand: 31. 08. 2011).
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Kobusch u. B. Mojsisch (Hgg.). Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, 115 – 130. Szlezk, Thomas Alexander. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühern und mittleren Dialogen. Berlin/ New York 1985. Szlezk, Thomas Alexander (Hg.). Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer. Hildesheim/Zürich/New York 2001. Szlezk, Thomas Alexander. Platons Politeia. Aufbau, Handlung, Philosophiebegriff. In: Noburu Notomi u. L. Brisson (Hgg.). Dialogues on Plato’s Politeia (Republic), 41 – 48. Szlezk, Thomas Alexander. otr lºmour %m tir aqh_r pqose¸poi vikosºvour. Zu Platons Gebrauch des Namens vikºsovor. In: Museum Helveticum 57 (2000), 67 – 75: http:// dx.doi.org/10.5169/seals-44383 (Stand: 04. 03. 2011). Tejera, Victorino. Plato’s Dialogues One by One. A Dialogical Interpretation. Lanham 1999. Tejera, Victorino. The Son of Apollo Explicated: Plato’s Wit, his Irony, and Dialogism. In: R. Hart and V. Tejera (Hgg.). Plato’s Dialogues. The Dialogical Approach, 65 – 86. Thesleff, Holger. An Introduction to Studies in Plato’s Two-Level Model. In: Plato 2. The Internet Journal of the International Plato Society (2002), http://gramata.univ-paris1.fr/Plato/article33.html (Stand: 31. 08. 2011). Thesleff, Holger. Studies in Plato’s Two-Level Model. Helsinki 1999. Thesleff, Holger. Studies in Platonic Chronology. Helsinki 1982. Thurner, Martin. Artikel »Trennung«. In: Ch. Schäfer (Hg.). Platon-Lexikon, 282 – 285. Usener, Sylvia. Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser von Literatur im 4. Jahrhundert v. Chr. Tübingen 1994. Valk, Marchinus van der. Manuscripts and Scholia. Some Textual Problems. In: Greek, Roman and Byzantine Studies 25.1 (1984), 39 – 49. Vlastos, Gregory. Elenchus and Mathematics. A Turning-Point in Plato’s Philosophical Development. In: H. Benson. Essays on the Philosophy of Socrates. New York/ Oxford 1992, 137 – 161. Vlastos, Gregory. Socrates. Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991. Vlastos, Gregory. The Individual as Object of Love in Plato. In: Ders. Platonic Studies. Princeton 1973, 3 – 42. Vlastos, Gregory. The Third Man Argument in the Parmenides. In: The Philosophical Review 63 (1954), 319 – 349, http://www.jstor.org/stable/2182692 (Stand: 16. 08. 2011). Volkmann-Schluck, Karl-Heinz. Plato. Der Anfang der Metaphysik. Herausgegeben von I. Bandau u. I. Strohmeyer. Würzburg 1999. Vries, G. J. de. A Commentary on the Phaedrus of Plato. Amsterdam 1969. Vries, G. J. de. A Note on Plato Symp 173D. In: Mnemosyne 4.19.2 (1966), 147. Weiss, Roslyn. Are the Rulers of Rep. 7 Philosophers? In: N. Notomi u. L. Brisson (Hgg.). Dialogues on Plato’s Politeia (Republic), 278 – 282. Welwei, Karl-Wilhelm. Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert. Darmstadt 1999. Wieland, Wolfgang. Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982. Witte, Bernd. Der EIJYS KOCOS in Platos Timaios. Beitrag zur Wissenschaftsmethode und Erkenntnistheorie des späten Plato. In: Archiv für Geschichte 46.1 (1964), 1 – 16. Wittern, Renate. Die Anfänge der griechischen Medizin. In: F. Ricken (Hg.). Philosophen der Antike I. Stuttgart/ Berlin/ Köln 1996, 145 – 159.
Literaturverzeichnis
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Autorenregister
Abenstein 242 Ackeren 71 f., 147, 239, 323 Agathon 234 Aichele 138 f. Aischines Sokr. 33 Albert 16, 19, 214 Alkidamas 37 f., 51, 272 f. Alt 270 Aristophanes 30 f., 62, 115, 117 f., 134, 234, 244, 317 Aristoteles 32, 62, 67, 89, 234, 299 Baltes 15, 74, 166 f. Becker 36 Beierwaltes 260 Benz 277 Bernadete 328 Blondell 221, 226, 330 Blößner 16, 315 Bluck 330, 334 f., 343, 353 Bordt 52, 101, 119, 166 f., 175, 200, 202, 204, 210 f., 213, 265, 328, 348 Bourriot 62, 117 Brandt 139 Brandwood 375 Brickhouse 113 Brisson 112 f., 115, 120, 126, 168 f., 171, 173, 183, 221, 227, 230, 234, 249 Bruit Zaidman 164, 253 Buchheim 35 Burkert 20, 27, 29 Burnet 376 Burnyeat 88, 92, 125, 337
Carone 178 Cherubin 330, 353 Christiansen 126 Clay 16, 155 Cornford 90, 155, 168, 170, 172 f., 175, 186, 330, 334, 343, 353 Cürsgen 76, 282 Dalfen 16, 131 f., 134, 137, 139 – 141, 147 – 150, 154, 330, 334 Deitz 139 Dilthey 89 Diogenes Laertios 28, 33, 93, 317, 330 Dixsaut 18, 22, 54, 58, 76, 88, 90, 92, 100, 102, 316, 319, 330, 334 f., 343, 351, 356, 360, 376 Dodds 132, 136, 138 f., 141 f., 144 f., 149 f. Dörrie 15, 74, 345 Dover 136, 230, 234 f., 244 Duerlinger 330 Ebert 19, 116, 166, 297, 301, 303 Effe 357 Eggers Lan 173 Enders 129 Epikrates 354 Erler 15, 20, 51, 59, 75 f., 131 f., 137 f., 140 f., 144, 155, 253, 269, 318, 346, 354, 356 f., 375 Eucken 35, 61 Ferber 277, 323 Figal 16, 224 f.
400 Finck 102, 239, 285, 288, 342 f., 346, 348 Flashar 74 Fowler 342 Frede, D. 98, 299, 302 f., 343, 347, 360, 364, 368 Frede, M. 16, 330, 334, 348, 353, 357 Friedländer 334, 337 Gadamer 16, 157 Geiger 91 Gerson 282 f., 288 Gill 156, 162 Gorgias von Leontinoi 35 Gotshalk 264 Graeser 40, 51, 60, 114, 147 f., 278, 286, 346 Guthrie 62, 330, 335, 353 f. Hackforth 301 Hadot, I. 96 Hadot, P. 14, 23, 29, 63 Halfwassen 15, 24, 261 Hardy 14, 72, 76, 88, 97 Havlcˇek 239, 440 Hawtrey 75 f. Heitsch 16, 35, 59, 76, 81, 85, 113, 115, 120, 122, 150, 270, 274, 276 f., 279, 287, 339 Heraklit 28 f., 202, 341 Herodoros 32 f., 40, 128 Herodot 28, 117, 314 Hesiod 61, 156, 242 Hinske 241 f. Hippokrates 29 f., 55 Höffe 314 Homer 149, 177, 328, 341 Horn 211 Huss 35 Irwin 137 – 139, 148 Isokrates 28, 37 – 41, 80, 112, 114, 296 Jacoby 32, 382 Jaeger 27, 117 Johansen 183 Jouanna 30
Autorenregister
Kahn 16, 375 Kamlah 16, 166 f., 330, 335, 339, 348 Kerferd 52, 61, 67, 336, 338, 354 Kersting 314 Kirk 302 Kobusch 14, 56, 70, 131 f., 137 f., 141, 148, 157, 242, 251, 267 f., 298, 321, 372 Krämer 15, 323 Kranz 15, 29, 102, 334, 356 – 358, 382 Krüger 21, 214, 227, 232 f. Lamb 31, 37 Lampert 155 f. Lesher 214 Lysias 30 f., 37, 85 Männlein-Robert 19, 236, 267, 297 Manuwald 15, 61 f., 147 – 149, 241 – 243 Matthews 89 – 91, 330 McDowell 90 Mesch 157 Meyer-Abich 157 Mojsisch 350 Moore 222 Morrison 111, 115 Müller, C. W. 177, 185, 206, 212, 214, 289 Müller, G. 119, 121, 274 Nails 52, 54 f., 134, 155, 219 Natali 85, 141, 337 Neschke-Hentschke 139 Nestle 32 Niehues-Pröbsting 141 Nikolaus von Kues 89 Notomi 97, 314, 334, 340, 343, 352, 356 f. Oeing-Hanhoff 233 Osborne 165, 182, 187 Patzer 136, 199, 227 Penner 16, 200, 204, 212, 225, 248, 263, 265 Perger 168 f., 179 Pieper 19 Piras 221
401
Autorenregister
Planeaux 155 f. Price 204, 211, 213, 265 Reale 166 Reeve 314 Rehn 215, 258 Reinhardt 240, 242, 278 f., 281, 286 Ricken 211 Riedweg 20, 28 f. Robinson 36 f. Rosen 221, 330, 334, 336, 343 Rowe 19, 148, 160 f., 200, 204, 212, 218, 221, 225, 244, 248, 262 f., 265, 297 Rufener 314 Schaeffler 323 Schäfer 15, 21, 197, 209, 214, 254 f., 264, 266, 281 Schefer 16, 166, 251 Schleiermacher 281, 327, 344, 348, 382 Schmidt, J. 214 Schmitt Pantel 164, 253 Scholz 36 Schulz 203 f. Scolnicov 183 Sedley 176 f. Sheffield 262 Sier 232, 238, 242, 246 f., 253 f., 259, 261 – 263 Skemp 222 Slaveva-Griffin 155, 162 Snell 28 Sˇpinka 19 Steel 157, 173, 183 Stemmer 54, 67, 76, 93, 121
Stenzel 354 Strobel 16, 261, 346 Strycker 116, 120, 122 f., 126 Stückelberger 30 Summerell 242 Szaif 65, 272, 316 Szlezk 15, 19, 91, 100, 141, 145, 166, 251, 253, 258, 270, 273, 276 f., 314, 323, 330, 334, 336, 364 Taylor 343 Tejera 16, 330, 334 Thesleff 23, 375 Thukydides 28, 35, 61, 63, 147, 222, 282 Thurner 299 Tsitsiridis 50 Valk 221 f. Vlastos 16, 100, 128, 200, 204, 265 Volkmann-Schluck 16 Vries 222, 281, 283 Weiss 19 Welwei 54, 114, 138, 142 Wieland 254, 323 Witte 157 Wittern 30 Wurm 214, 216 f. Xenophon 29, 33 – 35, 52, 62, 66, 92, 112, 114, 116 f., 133, 140 f., 144, 230 Zehnpfennig 54, 216, 228, 242, 246, 304 Zuckert 157, 186, 331
Sachregister Kursive Ziffern verweisen auf die Fußnoten der betreffenden Seiten.
Ähnlichkeit 98, 100, 102, 109 f., 154, 167, 178, 185, 208, 287, 300, 352 f. Anamnesis siehe Wiedererinnerung Angleichung an Gott (blo¸ysir he`) 15, 39, 49, 89, 100 – 102, 110, 158, 188, 212, 264, 282 f., 285, 289 f., 321 Aporie 48, 87 f., 91 f., 104, 120 f., 123, 129, 193, 204, 242 f., 310 Aufstieg 172 f., 191 – 194, 236 f., 239, 254 – 260, 266, 281, 291, 300, 307, 325 – 327 Autarkie siehe Selbstgenügsamkeit Begierde (1pihul¸a) 21, 32 f., 158, 189, 191, 193, 207, 210 – 213, 238 f., 249 f., 260, 266, 290 f., 367 – Begehren äußerer Güter 106 f., 147 – 154, 171, 176, 185 – Begehren innerer Güter 130, 164, 189, 191, 213, 214, 231, 243 – 247, 250, 296 Böses/Schlechtes/Übel (jaj¸a) 33 f., 72 f., 77 f., 129 f., 132 f., 208, 210, 212, 365 Chorismos 23, 299, 301 Dazwischen (letan¼) 23 f., 119, 168, 197, 210, 212, 240 – 242, 248, 367 Degeneration 110, 158, 170, 172, 178 f., 186 f. Dialegesthai siehe Gespräch Dialektik 22, 49, 89, 99 f., 195, 253, 273 f., 276 f., 307, 309 f., 313, 324 – 326, 344 – 347, 349 f., 363 – 367 Dialog siehe Gespräch
Dihairese 22, 309, 323, 330 f., 343 f., 349, 354 Elenchos siehe Widerlegung Erkenntnis/Wissen 21 f., 28 f., 38 f., 47, 73 – 76, 81, 82 f., 88, 98 f., 104, 109 f., 118 – 124, 129, 168 f., 171, 176 – 178, 191, 195 f., 202, 208 f., 214, 254, 257 – 259, 263, 275 – 278, 280 – 284, 286 – 289, 290, 298 f., 301 f., 310 f., 316, 323 – 325, 329 f., 338, 342 – 344, 346 f., 349 f., 365 f. Eros 191 – 196, 226 f., 231 ff., 234 f., 237 – 241, 243, 246 – 248, 249 f., 252 f., 254 – 261, 263 – 265, 271, 281 – 283, 286 – 289, 291 f. Erziehung (paide¸a) 38, 53, 81 f., 108 – 110, 116, 139 f., 157 – 159, 161, 171, 183, 282, 307, 318 f., 325 Ethik 105, 133, 151 f., 157, 181 f., 256, 147 f., 247 f., 365 f. Eudaimonie siehe Glückseligkeit Ewige, das 165, 169 f., 175, 186, 261, 263 f., 364 Flucht 48 f., 83 f., 87 f., 100 – 102, 301 – 304 Freiheit 93 – 96, 100 – 102, 135 f., 144, 146 f., 367 Freundschaft 185, 189 – 191, 202 f., 205 f. , 207 f., 213 f., 251 Geliebte, das erste 210 f., 214 Gesetz/Gesetzmäßigkeit 94, 98 f., 137 –
404 142, 153 f., 163 f., 167, 173, 176, 177, 183, 206, 256, 316, 325 Gespräch (diak´ceshai) 33 f., 45 – 49, 58 – 61, 66 – 68, 70, 73, 82, 86 f., 91 f., 96, 119, 120, 124, 127 f., 134, 195, 222 f., 258, 333, 335, 337, 350, 355 f. Glückseligkeit (eqdailom¸a) 71 – 74, 95 f., 98, 100 f., 107, 149, 153 f., 170, 173 f., 183, 200, 210 f., 240, 249, 285, 287, 290 f., 297, 300 Gute, das 73, 76, 102, 124 f., 130, 167, 193, 210 – 213, 239 f., 249 f., 263, 280 f., 301 f., 307, 312 f., 315 f., 321 – 323, 325 – 327, 358 – 360, 366, 368 Güter 47, 70 – 75, 77 f., 104 f, 125 – 127, 132, 176, 189, 200, 210, 322 Gymnastik 108, 158, 180, 184 f. Harmonie 21, 91, 95 f., 110, 158, 168, 171, 179 – 185, 188, 231, 290, 313, 325, 343, 349, 353 Hebammenkunst siehe Maieutik Homoiosis theo siehe Angleichung an Gott Idee 24, 76, 98, 99 f., 102, 166 – 169, 259, 261 – 264, 266, 280 – 282, 284 – 287, 292, 296, 299 – 301, 303, 315 – 318, 321 – 327, 341 – 350 Inkarnation der Seele 158, 172, 195, 281 – 285, 287, 292, 298 Katharsis siehe Reinigung Kontemplation/Betrachtung 96, 109 f., 169, 174 – 177, 187 f., 280, 321 Körper 97, 109 f., 125, 146 – 148, 150 – 152, 167, 170 f., 181 – 188, 254 – 256, 259, 279, 304, Kosmos 107 – 110, 165 – 171, 174, 176, 188, 301 f. Lebenswahl 107, 133, 138, 151 – 153, Liebe siehe Eros Logos 56, 93 – 96, 99 f., 135 – 137, 157, 162, 241, 270, 277 f., 285, 310 f., 331, 342, 349 – 351, 356
Sachregister
Lust 149, 179 f., 199, 205, 282, 312 f., 317, 358 – 360, 366 Maieutik 48 f., 86, 91 f., 338 Mania siehe Wahnsinn Metaxy siehe Dazwischen Mündlichkeit/Schriftlichkeit 30, 38, 51, 58, 195, 253 f., 269 f., 275, 272, 277 Muße 95 f., 210 f., 298 Musik 96, 108, 110, 158, 180 f., 184 f., 292 f., 303, 343, 349, 358 – 360 Nachahmung (l¸lgsir) 110, 175 f., 178 f., 185, 188, 351 Natur (v¼sir) 29, 96, 106, 108 f., 114, 137 – 140, 148, 157 – 161, 167 f., 172 f., 174, 176, 182 f., 206, 212, 231 f., 242 f., 250, 260 f., 301 f., 316 – 318, 366 Nichtwissen siehe Aporie Ordnung 91 f., 94, 96, 108 – 110, 154, 163 – 165, 167 f., 170, 175, 177 – 181, 183, 187, 290, 302, 321, 349 Paideia siehe Erziehung Paradigma 102, 166, 167, 173, 175, 181, 188, 301 Philosoph 20, 22, 40 f., 88, 95 f., 99 – 102, 127 f., 149, 175 f., 181, 194 – 196, 205, 266 f., 276 – 278, 281 f., 284 f., 287, 290, 292, 296 – 301, 303 f., 314 – 322, 324 – 326, 329 , 332, 342, 344 – 347, 349, 355 – 357 Politik 37 – 41, 78 – 80, 105, 118, 133, 152 – 154, 314 f., 322, 329 – 332 Proportion 110, 168 f., 179, 181, 184 Prüfung (5kecwor) 45 – 49, 58 – 60, 64 – 68, 70, 77, 85 – 88, 91 – 93, 103 f., 121 f., 126 – 128, 277, 308, 311 f., 336 f., 352, 355 Ratlosigkeit siehe Aporie Rechenschaft ablegen (kºcom didºmai) 45 f., 58 – 60, 65, 103 f., 107, 111, 152, 240, 297
Sachregister
405
Reinigung (j²haqsir) 31, 153, 193, 251, 299, 336 f. Reinkarnation siehe Inkarnation
Transzendierung 194, 196, 256 – 258, 260, 286 Tugend siehe Seele
Schau 24, 28, 195 f., 214, 236 f., 251, 252 – 254, 261, 264, 266 f., 280 – 287, 300, 315, 318, 321, 325 f., 355 Schöne (selbst), das (t¹ jakºm) 167 f., 184, 191 – 194, 239 f., 247, 249, 250, 252, 254, 256, 258 – 261, 263 f., 280, 303, 315 f., 371 Schönheit (j²kkor) 164, 167 f., 181, 192 – 194, 196, 239, 242, 250 f., 254 – 260, 266 f., 285 – 290, 292 f. Seele 167 f., 170 f., 278 – 282 – Sorge um die S. 15, 46, 54, 69 f., 104 f., 124 – 126, 130, 132, 151 f., 184 – Teile der S. .32, 108, 110, 147 f., 158, 161, 169 – 172, 290 f., 318, 321, 325 – Tugend der S. 32 f., 34, 46 f., 69, 70, 72 f., 104 f., 124 f., 147, 153 f., 184, 193 f., 251 f., 264, 290 – Unsterblichkeit der S. 109 f., 169 – 172, 176, 181, 185 f., 188, 212, 278 f., 297, 299 f. Selbsterkenntnis 34, 66, 78, 84, 190 f., 196, 208 f., 220, 224 f., 288 f., 300 Selbstgenügsamkeit (aqt²qjeia) 151, 170, 210, 312, 360 Sorge siehe Seele Staunen 48, 88 – 93
Übel siehe Böses/Schlechtes/Übel Unverstand (!lah¸a) 72, 122, 129, 177, 186, 190, 197, 246 Unsterblichkeit siehe Seele
Täuschung/Irrtum 104, 122, 126, 222, 261, 311, 316, 326, 329 f., 350, 67, 171, 176, 310 f., 335, 348 – 351 Tod 15, 32 f., 104 f., 123, 126 – 130, 149 f., 172, 232 f., 296 – 300, 304 f., 317
Vernunft 66, 105 – 110, 115, 121, 133, 150 – 152, 153 f., 158 f., 167 – 173, 175 – 178, 181 f., 186 – 188, 278, 280, 284, 290, 302, 312 f., 323 f. Von hier nach dort (1mh´mde 1je?se) 24, 49, 97, 101, 129, 188, 286, 296, 299, 304, 371 f. Wahnsinn (lam¸a) 191, 221 – 224, 284 f., 329 Wahrheit 15, 35, 45 f., 58, 60, 64 – 66, 125, 153, 223, 236 f., 272 f., 275 f., 296, 298, 302, 316 f., 323, 338, 362 f., 368 Weisheit (sov¸a) 15, 23 f., 28, 40, 62, 64, 73, 88, 163, 189 – 191, 192 f., 208 – 213, 231, 245 – 249, 259, 277 f., 285, 287, 299, 316 f., 326 f., 335 Widerlegung siehe Prüfung Wiedererinnerung (!m²lmgsir) 178, 196 Wissen siehe Erkenntnis Ziel (t´kor) 24, 47, 76, 98, 103 f., 106, 111, 122 f., 154, 167, 173 f., 183, 214, 219 f., 250, 253 f., 260 f., 322, 325 Zusammenschau 192, 194 f., 257 f., 273, 307, 317
Stellenregister Kursive Ziffern verweisen auf die Fußnoten der betreffenden Seite.
Aischines Sokr. Fr. 49 33 Alkidamas Fr. 15, 2, 4 37 Fr. 15, 1, 2 38 Fr. 15, 15, 2 38 Fr. 15, 29, 4 38 Aristophanes Av. 1281 – 3 62 Ec. 571 ff. 31, 317 Eq. 1340 – 1350 134 Eq.732 – 735 134 Nu. 94 ff. 37, 116 Nu. 101 117, 118 Nu. 128 116 Nu. 142 116 Nu. 184 ff. 141 Nu. 187 – 194 116 Nu. 797 117 Nu. 828 ff. 141 Aristoteles Metaph. 982b12 – 15 89 Metaph. 1039a 23, 299 Metaph. 1040b – 1041a 23, 299 Metaph. 1078b – 1079a 23, 299 Metaph. 1086a – 1086b 23, 299 GA 756b6 32 EN 1095a25 89 PO 1451b20 ff. 234 SE 165b8 67
SE 165b11
67
Diogenes Laertios I 12 28, 61 I 26 93 I 41 f. 62 II 48 33 II 52 330 III 1 55 III 5 33, 55 III 46 317 III 59 131 Dissoi Logoi DK II 90, 1, 1 DK II 90, 9, 1 Gorgias DK II 82 Fr.11 DK II 82 Fr.29
36 37
35, 336 36, 341
Heraklit DK I 22 B 35 29, 29, 202 DK I 22 B 40 29 DK I 22 B 129 29 Herodoros FGrHist I, 31, 218
32
Herodot I 29, 1 61 I 30, 2 28, 55, 62, 314 IV 95, 2 61
408
Hesiod Th. V 886 – 899
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242
Hippokrates VM 1, 15 ff. 30 VM 20 360, 366 VM 20, 1 – 2 29 VM 20, 5 29 VM 20, 8 30 Homer Od. 9, 270 f. 328 Od. 11, 475 f. 149 Od. 14, 406 328 Od. 17, 218 176 Od. 17, 487 328 Od. 18,112 328 Od. 22 341 Isokrates IV 186, 7 – 11 35 IV 47, 1 – 3 61 VIII 17 38 X 6 80 X 66, 4 f. 41, 114, 296 X 66, 4 28 XI 1, 6 f. 35 XI 17 40 XI 17, 6 28 XI 22 40 XI 48, 2 28 XIII 1, 6 40 XIII 14, 19 f. 40 XIII 14, 3 f. 40 XIII 18 39 XV 175, 1 f. 35 XV 183 38 XV 184 38 XV 186 38 XV 217 f. 37 XV 243, 2 – 10 35 XV 265 39 XV 271 39 XV 271 40
Lysias VIII 11 37 XXIV 10 31 Platon Apologie 17a 130, 95 17b f. 121, 130 18d 121 19a-c 118 19c 115 20a 35 20b 53, 116, 117, 117, 118, 246, 297 20b – 23b 34 20c 126 20d 118 20d – 21a 118 20e 115 21a 120 21b 120, 121, 123 21c 115, 121, 121 21d 53, 118, 121, 123, 246 21e 121 22a 121 22b 129 22c 122 22d 122, 130 22e 121, 122, 129 23a 121, 124 23a f. 119 23b 120, 121, 123, 124 23c 111, 112, 121 23d 30, 35, 37, 55, 112, 113, 116, 141, 246, 319, 363 23e 111 24b 121 24b-d 112 24c 121 25a 112, 117 25b 112 25c f. 124 25d 112, 140 26a 112 26b 112 26c-e 115
409
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26d 113 28a 124, 223 28b 118, 121, 124, 126 28e 33, 111, 121, 124, 126, 127, 243 29a 123, 129 29b 129, 131 29b f. 130 29c 111, 121, 126, 126 29d 33, 111, 121, 123, 124, 126, 126, 128, 129, 243, 295 29d f. 125 29e 54, 121, 125, 126 30a 120, 123, 125, 126, 127, 223 30a f. 125 30b 112 30b 69 30c 111 30e 223 31a 123 32a 130 32c 130 32e 118 33c 111, 121, 124 33d 112 33e f. 112 34a 112, 124, 304 34c 95, 130, 230 35a 118 35b 230 35d 122 36c 126 37b 297 37c 127, 130 38a 121, 128, 130 38b 304 39a 130 39a f. 212 39c 103, 111, 121 39d 111, 121 41b 121, 127 41c 128 41d 118 42a 122, 125
Charmides 153d 52 154b 52 154c 300 154d 239 154e 53, 54, 246 155a 53, 54, 219 156e 54, 69 157a 54 157b 36 168a 75 171c 75 174d 75 175b 75 Epistolai VII 323b f. 55 VII 324b – 326b 219 VII 324c f. 54 VII 331b 69 VII 335a f. 55 VII 341c 258 Euthydemos 271b 66 272a f. 67, 67 273d 68, 69 273d – 275a 230 273e f. 68 274c 74 274e 68 275a 14, 68, 69 275a 70 275a – 307a 70 275b f. 69 275e 67, 70 276e 70 277e 67 277e – 278b 70 278b 67 278d 70 278e 70 279a 70 279a-c 71 279b 213 279c f. 71
410 279d – 280a 71 280a 71 280b-e 71 281b 72 281d 72, 322 281e 72 282a 72 282b 72 282c 71, 72 282d 72 284c 339 285c 69 286a 339 288d 14, 74 288d – 289a 74 288d – 289b 357 289b 74 289c f. 78 289c – 290d 74 289d 75 290b 75 290b f. 362 290c f. 69 290c 75, 76 291c 69 292a 69 292b f. 75 292c 69 292c f. 75 292d 69, 75 292d f. 72 293b – 297d 75 293b f. 75 293b 123 295a – 296c 67 303d 67 303e 80 304a 69 304c 77 304d 67 304d – 305a 352 304e 77 305a 77, 85 305b ff. 39 305b 77, 78 305c 38
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305c f. 305d 305d f. 306a-c 306b 306c 306e f. 307a 307b f.
78 79 79 80 80 80 81 81 82
Gorgias 393a – 494b 150 447b f. 52 447c 38 449b 50 449b f. 58, 131 449c-d 67 453b 146 455d 146 461c 50, 132 461d 131 462d 239 463b f. 136 464e ff. 136 466b ff. 132 468c f. 365 468c 132 469b f. 125 470e 132 471e – 472c 93, 131 472a 223 472a f. 35 473c 132 473e 140 474a 131 478e 132 479d 133 480b 212 480b – 481b 133 480e 133 481b 146 481c 133, 146 481d f. 135 481d 134, 147 482a 135 – 137, 137, 147, 223 482c 137, 180
411
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482e 137 483a 137 483b 145 483b-c 138 483d 152 483d – 484c 138 484a 138 484a 139, 152 484b f. 140 484c f. 140 484d 149, 246 484d f. 141, 144 485a-d 33, 40, 143, 337 485a – 486a 151 485b 146, 246 485b-d 363 485c 246 485d 150 485d f. 145 485e 145 486a 144 486b 145 486c 133, 145 486d 146 487a 146 487c f. 146 487e f. 133 488d 146 489d 146 491b 147 491d 147 491d f. 147, 149 491e 133, 148 491e f. 148, 149 492c 148 492c-e 212 492d 133, 148, 149 492d – 494c 133 492e 149 493a 129, 150 493a 274 493a3 147 493b 147 493b f. 150 493c 134, 138 493e f. 151
494a 151 494c 149 497b f. 239 497c 141 499b 151 499e 365 500c f. 133 500c 14, 134, 138, 151, 372 501b 54 501c 136 504d 153 505e 92, 350 507c 147 511b 246 511b f. 133 512d 140, 332 512d f. 133 515a 140, 246 515a – 519d 152 515e 246 515e – 519d 139 517b 153 517d 151 518b 246 518c 246 521d 153 523a – 526c 150 524d 153 524d – 526c 133 525a 153 525b f. 153 526a 246 526c 149, 153 526d f. 133 526e 145 527b-e 133 527c 154 527d 246 527e 134 Hippias Minor 363a 49, 50 363d 49 364b 49 373a 50, 57
412
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Kritias 109c 157 109c f. 163 Kratylos 391c 35 403a – 404b 129 403b 129 403d f. 129 404a 28, 130 404b 129 404b f. 150 406a 293, 398 Menexenos 234a 50 234a f. 140 234c 51 235a 51 235c f. 51 236b 38, 51, 277 236c 51 Menon 80a 223 82c 97 91d 230 99c f. 122 Nomoi 716c 811a f. 819a 857c-e 857d 966e f. 967b 967b f. 967c f. 967c
212, 289 29 29 95, 366 360 114 115 113 115 363
Parmenides 126b f. 327 126b 219 129a-e 345 130b 345
130c 130e 135b 135c
345 345 337 346
Phaidon 100a 303 100b 303 100c 303 101e 303 107c 69 107e 24, 296, 297, 299 114c 304 116b 296 117b 304 117c 24, 296, 299, 304 117d 222 117e 304 118a 111, 295 58d 297 59b 304 61a 303, 349, 358 61b f. 297 61c 28, 116 61c – 62e 129 61d 297 61e 297 62c 28, 298 63c 129 63e f. 297 63e – 65d 130 64a 33, 298 64a f. 298 64b 28, 41, 116, 246, 296, 363 64c 298 64d f. 298 64e 116, 298 65a 296 65b f. 176, 298 65d 299, 301 65d – 66a 301 66d 298 66d f. 176 67a 297, 298 67d 299, 363 67d f. 299
413
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67e 299, 363 68a 299 70c 337 79a 299 79d 299, 300 80a 300 80e f. 300 81a 160 82c 116, 376 82e 299, 304 96a 115, 301 96b 302 97a f. 302 97b 113, 297 97b f. 302 97b – 99d 115 97c 302 97c – 98b 302 98b 302 98b – 99c 302 99e 301, 302 Phaidros 228c 270 231a ff. 288 235e 288 236d 273 236e 270, 292 239b 284, 289 242c 288 242d 272, 288 244a – 245c 222 245b – 246a 278 246a-e 278 246b 279 246c 279, 298 246c f. 279 246d 279 246d f. 102, 280, 281 246e 279 247a 281 247b 279, 279 247c 276, 278, 280 247c f. 280 247d 276, 280 247e 276, 280
248a 276 248b 276, 279 248c 276, 281, 285 248d 282, 292, 349 248d f. 274, 282 248e 282 248e f. 283 249b f. 273, 282, 284 249c 167, 284, 321 249c-e 222 249d 285 249e 276, 286 250a 285 250b 281, 285, 288 250c 281 250d 286, 288 250e1 286 250e 24, 286, 299 251a 285, 286, 288, 300 251a – 252b 286 252b 286 252d 288, 300 252e 287 253a 287, 289 253a f. 264 255b 289 255c f. 289 255d 286, 289, 300 255e 290 256a 290 256a f. 290 256b 290 256b f. 291 256c 291 256d 291 257a 271 257a f. 271 258d 272 259a f. 292 259b 292, 292 259d 292, 292 259e 276 259e f. 272 260d 272, 273 260e 272 261a 273
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265a – 266b 222 265d 273 265d – 266c 276 265e 273, 276 266b 273 269d 275 270a 337 270c2 274 270c 274 270d f. 36 270e 274 271a 274 271b 274 271c 274 271d 274 272a 275 274b – 277a 275 275d 58 275e 84 276c 13, 277, 304 276e 276 277a 84 277b 277 277b f. 275 278c 84, 276, 276 278d 277 278d 278 279a 275, 276 279a f. 39, 68, 272, 275
56e 361 56e f. 361 56e – 57c 39 57b f. 362 57c f. 362 57e 363, 364 58a 363, 364 58a f. 364 58c 364 58d 365, 368 59b 365 59d 365 59d f. 360 60a f. 358 60d – 61b 360 61c 366 62a-d 366 62b 365 62c 358, 359, 365 62e f. 365 63c 365 63e 365 63e f. 366 64c 366 64e 366 64e f. 368 66d f. 358 67a f. 293, 368 67b 349, 359, 368
Philebos 11b 358, 368 11c 359 16c 364 21b – 22a 360 22c 367 33a f. 367 38d f. 92, 350 51b – 52b 365 55a 367 55c-e 360 55c – 59b 280 56a 359 56a-c 360 56d 361 56d f. 361
Politeia 336d 146 375e 158 376a f. 172 376b 157 376b-e 349 376e – 383c f. 243 377b – 380c 159 379b – 380c 243 395d 180 401d f. 179 410e 147 411c 349 411e 349 433a 154 433b 322
415
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433e f. 154 439d f. 158, 278 441e f. 158 441e – 442d 158 443b 322 450c f. 159 456a – 457b 318 471c-e 159 473a 326 473c f. 314 473e 314 475b f. 202 475c f. 29 475d 202 475e 157, 315 476a 315 476c 316 476d 316 477a 316 479e 168, 316 480a 316 484b 316 484d 316 485a 157 485a f. 316 485a – 487e 157 485c 316 485d 29, 202 506d 322 508b 323 508d 323 508e 323, 326 509a 323 509a-c 323 509b 372 509c 323 509d 323, 324 509d f. 361 509d – 511e 361 510a f. 323 510c f. 362 510c – 511a 99 511b 323 511c 324 511c f. 176 511d f. 168, 324
511d 324 511e 324 515c 324 515d f. 344 515e 324 516a 325 517b 325 517b f. 325 518c ff. 176 518d 324 521c 31, 324 521c – 531c 39, 325 522a 180 522c – 533b 96 525a – 531c 362 525b – 531c 280 528d – 529c 188 529a f. 99, 178 529a 24, 188 531d – 534e 280 533a 280 532a f. 176 533b 100 533c f. 325 533c 292, 325 533d 345, 96 534b f. 326 534e 96, 326 535d 202 537c 344 537d f. 325 539c f. 320 540a 253, 325 540c 318 540d 159, 315, 326 548b f. 349 580d – 583a 360 581b 325, 365 586e 325 588c 32, 336 588d f. 32 589a 321 592a 320 597e – 598b 178 611e 158 613a f. 102
416 613b 264 614c1 297 619d 283 619e 24 Politikos 257a 332 257a-c 332 257b f. 333 263a f. 334 263b 334 266a 334 269a – 274e 210 271d 210 272b f. 211 272b 210 273c 210 299b 337 Protagoras 310d 230 312c f. 55 313a – 314b 319 313c – 314b 55 314c – 316a 52 314e – 315d 215 314d 55 314e – 316a 55 315b 56 315e 215 316d 61 318c 56 319a 56 320c 56 322b 56 323a 56 323b 56 325d – 326e 52 326c 52 328c 56 328d 56 328e f. 58 328e 56, 239 329a 63 331c 59, 66 331c-e 60
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334c f. 334c 335a f. 335b 335b f. 335c 335d 335d f. 336a 336b 336c 336d 337d 337d f. 338e 338e f. 339b 340a 340b f. 340c 341c 341d 341e 342a f. 342b 342c 342d 342e 343a 343b 347b f. 347c f. 347e f. 347e 348a 348e
51 50, 57 131 50 57 50 64 57 57, 59 50, 58, 63, 131 59 57 61 59 131 59 59 84 60 60 60, 84 60, 84 60 61 61 61 61 62, 63, 65, 83 63 62, 63, 66 59 57, 64 63 58, 84 35, 56, 60, 65, 93 246
Sophistes 216a 327, 329, 356 216a f. 341 216b 328, 331, 331, 352 216c 328, 329 216c 344 216d 341 217a 331, 332 217b 332, 333, 352
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217c 333, 355, 355 217d 333, 355 217e 333, 355 218b 332, 334 218e – 221c 100 219a 335 220b 334 221c – 231c 335 221d – 232a 331 222d 337 223a f. 230 223c 336 223d 336 223e – 224d 230 224b 355 224d f. 336 225a f. 336 225d 337 225e 230 226a 336 226b 342 226c 334 226d 342 226e 334 227d 336 228a 334 228b 336 228d 336 229c f. 336 231b 335, 336 231d 336 232a 336 233a f. 338 233c 339 234b 331, 336, 355 234c 339, 351 234e 339, 351 236d5 334 236d f. 339 236e 67, 90 237a 339 237a f. 339 237b f. 334 237c5 334 237d 340 237e7 334
238c 339 240b 353 241d 340 241e 353 242a 340 242c – 245e 341 243e 357 246a-d 341 247d f. 341 248a 342 248d f. 342 248e f. 342 249c f. 342, 346 249c 342 249d 344 250b f. 343 251b f. 343 251d f. 343 252b f. 343 252c 343 253a-b 343 253b 91, 349 253b – 254c 91 253c 344, 357 253d 344 253d7 343 253e 283, 344, 345, 363 254a 344, 346, 356 254b – 260a 168 254c 343 254c f. 347 254d – 255d 178 255a3 335 255b10 335 255c 347 255c4, 11 335 255c f. 347 255e 347 256a4 335 256b 340 256d f. 348 256e8 335 257a7 335 257b 348, 348 257e – 258b 348 258b 356
418 258c 340 258e f. 340 259a 348, 357 259b f. 338 259d f. 349 259e 349 260a 350 260b 350 260c 351 260c f. 353 260c-e 350 260d 339, 350 261b 335 263e 92 263e – 264a 350 264a 90, 92 264c 353 265d 335 267a – 268d 178 267c 351 267c – 268d 351 267e 351, 353 268a 335 268a-c 331 268b 50 268b f . 40, 351 Theaitetos 143d 96, 101 144a 87 144d f. 100 145b 100 145d 75, 239 145e 82 146b 99, 100 146e – 147b 82 147b 99 147d – 148a 89 147d – 148b 97 148d 99 148e 267 149c f. 91 150b-c 86 150b-d 31 150b – 151d 267 150c 85, 86, 87
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150d – 151a 92 151d 88 151e 92 152a 83, 84, 85 152a 99 154b 88 154d 90 154e 88, 90, 96 155b 90 155c 88, 90 155d 88, 89 157d 88 160c 85 160d f. 83 161a 87 161c 83, 86, 88 162a 99 162c f. 88 164a 86 164c f. 84 164e 84 165a 84 165b 83 165e 88, 89 166a 86 166c 83, 85, 87, 93 166d 82, 83, 85 166e 83 167a 82 167a f. 85, 90 167b 86 167b-d 87 167c 87 167d 90 167e 83 167e f. 83 168a 88, 101 168a f. 84 168b 83, 84 168c 84 168d 83 169a 99 169d – 170a 86 171b 86, 93 171d 88 171e 84
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172c 95, 96, 96, 141 172c f. 94, 101, 366 172c – 177c 93 172c4, 9 100 172d 96 172d – 173a 94 172e 96 173a 96 173b 96 173c 94 173c7 100 173c – 174b 97 173e f. 96 174a 93, 94, 97 174a f. 365 174b1 100 174d 96, 98, 141 174e f. 97 175b 97, 98, 141 175b-d 329 175c 98 175d 98 175d f. 95 175e 91, 96 176a 101, 101 176a f. 97, 299, 321 176a – 177a 94 176a-c 101 176b 24, 101, 264, 328 176b-e 102 176e 100 176e f. 102 177d 98 185c f. 98 186a 87 186a-e 86 188d 339 189a f. 339 189e f. 92, 350 193d 88 195b f. 337 197b – 198b 82 199a f. 340 210b 91 210c 92 216c 285
419 Timaios 17a ff. 51 17c – 19a 155 18a 157, 158, 159, 159, 161, 171, 180, 183, 349 18a9 159 18b 159, 186 19c 155, 159, 159 19c6 159 19d 99, 155, 178 19d7 159 19e 157, 159, 160, 161, 165 20a 157, 161, 314 20a1 159 20c 155 20d 156 21a 155, 156, 159 21d 156 23b 162 23c 162 23d 157 24c 157, 163, 164 24d 163 26c f. 162 26e 162 27d f. 162, 176 27d – 29d 165 28a 168 28c 165, 166 29a 114, 166 29b f. 157 29c 162, 176 29e 167 29e f. 114 30a 167 30a f. 167 30b 157, 167 30d 168 30d f. 168 31a 280 31c – 32c 39 33c 159 33d 210 34b – 35b 360 35a f. 168 35a – 36d 39
420 35b – 36d 168, 179 36e – 37c 169 37d 169 38c f. 280 39b 169 39d f. 178 39e 169 39e ff. 368 40a 169 40a f. 169 40e 165 41b 169, 169, 279 41c 178 41d2 159 41e 169 42a 170, 170 42b f. 186 42b 170, 170, 172 42d 169 42e 170 43a 170, 298 43b 171 43b f. 170 43e 171 44a 171 44a f. 177 44b 159, 170, 177 44b f. 171 44c 172, 175 44e f. 170 45c 177 46d f. 168 46e 167, 173 47a1 175 47a f. 161, 174, 321 47a-c 160 47b 157, 175 47b2, 5, 6 175 47b f. 39, 102, 169, 175, 264 47c 179, 185 47c3 175 47c f. 178 47d 177, 179, 180, 181 47d f. 179 48c 166, 166 49a 167
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50c 167 51e 246 52a 167 52d 167 53a 185 53b 167 53d 157, 246 54a 167 57d 157 59c f. 186, 366 68e 167, 173, 210 68e f. 173, 174 69a 172 69d 170 69e – 71a 171 70e 172 70e3 159 72d 170 72e 182 73a 157, 170, 182, 349 86c f. 182 86d f. 183 86e2 159 87b7 159 87c 176, 184 87c f. 167 87d 184 88a 184 88b f. 161, 184 88c 157 88d 185 88e 185 89c 184 89d 182 90a 170, 181, 182 90b 170, 185 90b f. 172 90c 170, 170, 176 90c f. 264 90c-d 160 90d 102, 176, 177, 321 90e f. 186 91b f. 186 91d 168, 178, 187 91d f. 178 91d – 92c 170, 282
421
Stellenregister
91e f. 187 91e 157, 172, 187 91e – 92c 172, 212 92b 165 92c 165, 175, 188 Thukydides Th. Hist. II 40,1 28, 35, 61, 63, 147, 222 Th. Hist. IV 17,2 63 Xenophon An. II 1, 12 – 13 35 Cyn. 13, 9 35 Hell. 1, 4, 8 – 20 114 Mem. I 1, 10 144
Mem. I 2, 12 112, 140 Mem. I 2, 19 34 Mem. I 2, 19 – 21 92 Mem. I 2, 2 f. 117 Mem. I 2, 31 35 Mem. I 2, 31 – 38 141 Mem. I 2, 33 – 35 35 Mem. I 6, 13 f. 116 Mem. I 6, 2 – 4 35 Mem. II 1, 21 ff. 33, 133 Mem. IV 2, 23 f. 34, 66 Oec. 16, 9 35 Smp. 1, 5 35, 52, 230 Smp. 4, 62 35 Smp. 8, 39 35, 62