Von der inneren Unfreiheit des Menschen: Philosophische Aufsätze über Emotionen 9783495860779, 9783495484326


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Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Knut Eming
Einleitung
Der innere Zusammenhang von Ontologie, Ethik und Anthropologie
Zum Titel des Buches
Zur philosophischen Biographie
I.Teil: Ontologie
Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes
I. Ideenlogik und Vernunftkritik: Idee versus Begriff und das Prinzip der Formalisierung
II. Die Kritik des spekulativen Begriffs am Begriff des Transzendentalen: Die Verwechslung der absoluten Negation mit den einfachen und doppelten Negationen
III. Die Kritik am formalen Denken
a) Kants Begriff einer allgemeinen angewandten Logik und deren äußerliches Verhältnis zur transzendentalen Elementar- und Methodenlehre
b) Der Gegenstand der transzendentalen und der allgemeinen reinen Logik als Beziehung von Etwas und Anderem
c) Die Identität von Analysis und Synthesis als Zirkel des Verstandes
d) Die Form der Einzigkeit als absolute Voraussetzung, als Form der Kritik und als Phrase
IV. Vom Unterschied negativer logischer Ereignisse und dialektischer Vermittlungen als Form der Vernunftkritik
a) Der psychologische Charakter des Logischen
b) Negative logische Ereignisse und die absolute Vermittlung
c) Der Charakter der logischen Wirklichkeit und die Idee der logischen Wahrheit oder: Die fehlende Einheit der Sache und ihrer Darstellung
Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre
1. Vernunftkritik und rationale Ethik
2. Rationale Affektenlehre und Vernunftkritik in Spinozas Ethik
3. Das Zwischenreich der Affekte
4. Von der Affinität zwischen dem Vernunftlosen und dem Vernünftigen
a) Qualität und Quantität der Affekte
b) Kausale Determination und Indetermination im Bereich des Psychosomatischen
c) Der Begriff des Einzeldings und die ontologische Wende
d) Das aktuale Wesen eines Einzeldings
5. Das wahre Gute und die Bedingungen seiner Möglichkeit
Spinoza und das psychophysische Problem
1.
2.
3.
4.
Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?
I.
II.
II. Teil: Anthropologie
Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit
I.
II.
Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen
Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität
1.
2.
3.
Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik
Lebensgefühl und Gefühlsleben.
Vorbetrachtungen zu einer philosophischen Theorie der Gefühle
Einleitung
1. Leben und Empfindung
2. Selbstvergessenheit und Selbstverlorenheit der reinen Gefühle
3. Denken und Leben
3.1. Denken und Selbstsein
3.2. Indetermination und Freiheit
Die Wertung der Gefühle.
Zur Hermeneutik des Gefühlslebens
Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein.
Affekte in der Philosophie des Psychischen
Schmerzausdruck und Schmerzverhalten
I. Schmerzen – ganz allgemein
II. Freuden und Schmerzen – dichterisch
III. Ein philosophischer Gedanke: Meine Schmerzen – Ich
IV. Die methodische Sprache der Medizinischen Anthropologie
V. Ein Philosophenwort zur Humanität
III. Teil: Ethik
Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza
I.
II.
Grenzsituation und ethische Wertebildung
1. »Der Mensch ist immer in Situationen …«
2. »Was im Abnormen geschieht und erlebt wird, ist nicht selten ein Offenbar-werden von etwas, das den Menschen als Menschen angeht«
3. Sie wird Tag für Tag leiden …
Menschenwürde in Grenzsituationen
1. Nachtrag: Menschenwürde und Sterblichkeit
2. Nachtrag
Anthropologische Grundbestimmungen und die Würde des Menschen
Moralische Verantwortung – privat und öffentlich.
Überlegungen im Anschluss Karl an Jaspers Essay über Die Schuldfrage
Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik
I.
II.
III.
Nachweis der Erstdrucke
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Von der inneren Unfreiheit des Menschen: Philosophische Aufsätze über Emotionen
 9783495860779, 9783495484326

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Reiner Wiehl

Von der inneren Unfreiheit des Menschen Philosophische Aufstze ber Emotionen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860779

.

B

Reiner Wiehl Von der inneren Unfreiheit des Menschen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Von den modernen philosophischen Emotionstheorien ausgehend wird gezeigt, dass der Mensch nicht nur in seiner physischen Natur als unfrei anzusehen ist. Der Mensch leidet an seiner Unfreiheit, denn sein Lebensgefühl wie sein Gefühlsleben verändern ihn so, dass er sich selbst fremd wird und seine Unfreiheit als Schwächung und Minderung von Möglichkeiten erfährt. Die Frage einer möglichen Freiheit wird aufgefächert auf dem Boden der Ontologie, der Anthropologie und der Ethik. Als Gesprächspartner werden vor allem vier Philosophen aufgerufen: Spinoza, Nietzsche, Whitehead und Jaspers. Die Aufsätze haben den Charakter von Meditationen, die sich in eine große Tradition meditativer Philosophie (Descartes, Husserl, Wittgenstein) einreihen.

Der Autor: Reiner Wiehl, geb. 1929, war ab 1969 Professor für Philosophie an der Universität Hamburg und von 1977 bis 1997 Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. Präsident der Karl Jaspers-Stiftung. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u. a. »Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays«, »Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte« und »Subjektivität und System«. Der Herausgeber: Knut Eming, geb. 1953, studierte Philosophie, Germanistik, ev. Theologie und Pädagogik in Bochum und Heidelberg. 1987 Promotion bei Hans-Georg Gadamer an der Universität Heidelberg über Logos und Idee bei Platon. 2003 Habilitation an der Universität (TH) Karlsruhe über Affektbewegungen. Eming ist Inhaber des Lehrstuhls für Ethik an der SRH Hochschule Heidelberg und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe.

https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Reiner Wiehl

Von der inneren Unfreiheit des Menschen Philosophische Aufsätze über Emotionen Herausgegeben von Knut Eming

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Gedruckt mit Hilfe der SRH Hochschule Heidelberg

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48432-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86077-9

https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Inhalt

. . . . . . .

7

Einleitung von Knut Eming . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Geleitwort von Jörg Winterberg und Knut Eming

I.Teil: Ontologie 1.

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

2.

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre . . .

71

3.

Spinoza und das psychophysische Problem . . . . . . . . .

125

4.

Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146

II. Teil: Anthropologie 5.

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

6.

Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen

7.

. . . . 163

. . . . . . 178

Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

. 204

8.

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

9.

Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu einer philosophischen Theorie der Gefühle . . . . . . . . . . . .

218

5 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

10. Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens . . . . . . . . . . . .

238

11. Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein. Affekte in der Philosophie des Psychischen . . . . . . . . .

249

12. Schmerzausdruck und Schmerzverhalten . . . . . . . . . .

265

III. Teil: Ethik 13. Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza . . . . . . . . . .

291

14. Grenzsituation und ethische Wertebildung . . . . . . . . .

311

15. Menschenwürde in Grenzsituationen . . . . . . . . . . . .

323

16. Moralische Verantwortung – privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluss Karl an Jaspers Essay über Die Schuldfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

17. Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik . . . . . . . .

358

Nachweis der Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

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Geleitwort

Unsere Hochschule dankt Reiner Wiehl, dem jüngst verstorbenen Emeritus für Philosophie an der Ruprecht Karl Universität Heidelberg, dafür, dass er unsere Hochschule in den letzten Jahren durch gemeinsame Projekte gefördert hat. Vor allem ist die Vorbereitung eines KarlJaspers-Symposions in Moskau (1.–3. Juni 2005) hervorzuheben, dessen inhaltliche Leitung ihm als Präsidenten der internationalen Karl-Jaspers-Stiftung (Basel) oblag, während wir die Organisation, Durchführung und Dokumentation der Tagung übernahmen. Seinen Rat wie seine Erfahrung und Umsicht als Wissenschaftler haben wir hoch geschätzt. Mehrfach durften wir Reiner Wiehl als Gast an unserer Hochschule begrüßen. Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass Reiner Wiehl aufgrund seiner jüdischen Herkunft in der Nazizeit verfolgt und mit dem Tode bedroht war. Diese dunkle Seite unserer Vergangenheit hat er uns nicht zugemutet. Wie hätte das auch zugehen sollen? Und: Was hätte es bewirkt? Goethe trifft das Geschick Reiner Wiehls mit wenigen Worten. »Warum ist Wahrheit fern und weit? Birgt sich hinab in tiefste Gründe?« Niemand versteht zur rechten Zeit! Wenn man zur rechten Zeit verstünde, So wäre Wahrheit nah und breit Und wäre lieblich und gelinde. J. W. Goethe Bekanntlich bestimmt Hegel die Philosophie als »Wissenschaft von der Wahrheit des Bewusstseins«, für die der Philosoph eine eigene Begriffssprache zu entwickeln hat. Vielleicht hat Reiner Wiehl in seiner

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Geleitwort

Philosophie der Emotionen unter anderem auch daran gearbeitet, unseren nahen Irrtümern und der fernen Wahrheit näher zu kommen. Jörg Winterberg Rektor der SRH Hochschule Heidelberg Knut Eming SRH Hochschule Heidelberg

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Knut Eming

Einleitung

Die vorliegenden Aufsätze versammeln Arbeiten des Heidelberger Emeritus für Philosophie Prof. Dr. Reiner Wiehl. Die früheste Arbeit stammt aus dem Jahre 1966, es ist seine Heidelberger Antrittsvorlesung, 1 in der er aus den Begriffs- und Ideenlogiken von Platon und Hegel eine spekulative Vernunftphilosophie entwickelt. Der jüngste Aufsatz 2 ist entstanden aus einem Eröffnungsvortrag (2006) zur Tagung Die Schmerzen der Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, in der sich Wiehl mit zwei prominenten philosophischen Schmerztheorien (Wittgenstein und Weizsäcker) auseinandersetzt. Von diesen aus 40 Jahren philosophischen Nachdenkens entstandenen Arbeiten gilt, dass die meisten zwar schon einmal an entlegenen Orten publiziert wurden, wodurch sie aber nur wenigen eingeweihten Fachkollegen bekannt wurden. Warum werden die Beiträge heute einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt? Zum einen, weil der hochaktuelle Zusammenhang zwischen der Unfreiheit des Menschen und den klassisch philosophischen Emotionstheorien erstmalig wieder hergestellt wird. Gemeint sind hier die Freiheitstheorien von Kant, Spinoza und Heidegger – um nur die Vordenker zu nennen, mit denen sich Wiehl hauptsächlich auseinander setzt. Zum anderen ist auch der methodische Zugang von Wiehl im wahrsten Sinn des Wortes klassisch zu nennen. Sein Bezugsrahmen ist nicht an die Erkenntnisfortschritte der Neurowissenschaften gebunden, die bekanntlich die menschliche Willensfreiheit experimentell geprüft und verneint sowie gerade die Unfreiheit des Menschen an den emotionalen Zuständen plausibel gemacht haben. Philosophisch kann Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes. Nur einmal publiziert in der Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt 1966, S. 327–365. 2 Schmerzausdruck und Schmerzverhalten. In: Schiltenwolf, M. und Herzog, W. (Hrsg.), Die Schmerzen. Würzburg 2011, S. 35 ff. 1

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Knut Eming

man sich mit ihren Ergebnissen nicht zufrieden geben, denn ob die Unfreiheit des Menschen damit schon verstanden ist, ist immer noch offen – und mehr noch: Ob die Freiheit des Menschen nicht doch möglich ist, ist gar nicht ausgemacht. Klassisch ist die Zugangsweise von Wiehl deswegen, weil er im Unterschied zu Kant nicht transzendental, sondern ontologisch an die Grundfrage nach der Freiheit und Unfreiheit des Menschen herangeht. Analog zur klassischen Metaphysik untersucht Wiehl zuerst die Grundbegriffe philosophischen Nachdenkens, indem er die philosophischen Theorien von Spinoza, Kant und Heidegger spekulativ reflektiert, bevor er sich der Ethik und Anthropologie zuwendet. Nach Wiehl kann man nicht Ethik treiben, ohne über Grundbegriffe räsonniert zu haben, die man in der Ethik ständig verwendet. Für ihn steht ein spekulativer Vernunftbegriff im Zentrum seiner Überlegungen. Das Manko der gegenwärtigen Philosophie sieht er in dem minimierten Anspruch der Vernunft. Wenn die modernen Ethiken die Vernunft als Richtschnur verwenden, dann meinen sie – in der kantischen Einteilung – den Verstand, der in der Frage der Rechtfertigung von Handlungseinstellungen überfordert ist und keine hinreichenden Kriterien liefern kann. Ähnliches gilt für die Anthropologie, die direkt mit der Ethik benachbart ist. Wiehl hat zuweilen auf die eine von Kants Bestimmungen der Anthropologie zurückgegriffen, wonach sie untersucht, »was der Mensch aus sich macht.« 3 Weil sich die heute bekannten Anthropologien von dieser Rückbindung an die Ethik abgelöst haben, hat er die systematische Zugehörigkeit von Anthropologie und Ethik wieder zur Geltung bringen wollen. Wenn also die Arbeiten von Wiehl hier in der systematischen Gestalt einer modernen Metaphysik geordnet werden, liegt etwas ganz Neues vor uns, die Erarbeitung einer philosophischen Theorie der Emotionen, die ganz und allein auf dem Boden einer Ontologie als spekulativer Philosophie der Vernunft entwickelt wird.

Der innere Zusammenhang von Ontologie, Ethik und Anthropologie Die wichtigste Abhandlung nicht allein im ersten Teil, sondern im ganzen Werk ist die schon erwähnte Heidelberger Antrittsvorlesung. Mit 3

Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, B III

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Einleitung

ihr betont der frisch gebackene Privatdozent Reiner Wiehl von Anfang an seine intellektuelle Eigenständigkeit. Die Antrittsvorlesung war zugleich auch die Grundlage für seine spätere Berufung nach Heidelberg. Seinerzeit war insbesondere Dieter Henrich von ihr so sehr beeindruckt, dass er Wiehls Berufung entscheidend förderte. Unabhängig von dieser akademischen Erfolgsgeschichte kann sich jeder heute noch durch intensive Lektüre davon überzeugen, dass wir mit der Antrittsvorlesung den Ursprungsort von Wiehls Philosophieren vor uns haben. Worum geht es? In der Antrittsvorlesung geht es um eine philosophische Reflexion der Ideen- und Begriffslogiken von Platon und Hegel. Wiehl stellt die für ihn zentrale These auf, dass das Reflexionsniveau – man kann auch sagen der Theoriestatus – vieler Philosophien sich daran bemisst, inwieweit sie von »negativen logischen Ereignissen« 4 ungewollt bestimmt werden. An Hegels Kant-Kritik wird gezeigt, dass Kant seinen eigenen kritischen Vernunftstandpunkt nicht durchhalten kann, weil er nicht die begrifflichen Unterscheidungen erarbeitet, die er benötigt, um zu einer umfassenden Selbstkritik der Vernunft zu kommen. Um es mit Platon zu formulieren, entschlägt sich Kant der Möglichkeit, von einer Begriffslogik zu einer Ideenlogik zu gelangen oder anders gesagt, er verstellt sich die Möglichkeit, die Logik des Verstandes zu transzendieren und zu einer Logik der Vernunft zu kommen. In ihr hätte er den Grund für die Unterscheidungen des Verstandes, der Anschauung und der Urteilsformen erkennen und zugleich das Vernünftige als Reflexion in sich begreifen können. Die Grundform einer möglichen Logik der Ideen sieht Wiehl in Platons Spätdialog Sophistes entwickelt, den er zeitgleich zu seiner Antrittsvorlesung neu herausgegeben und kommentiert hat. Platon zeigt in seiner Dialektik der größten Gattungen, dass jede Seinssetzung unmittelbar nach sich zieht, etwas von ihr zu unterscheiden, was man als Setzung eines Nichtseins bezeichnen könnte. 5 So bald man beide Siehe unten S. 61 ff. So geschieht es in der eleatischen Logik. Wenn Parmenides sagt, nur das eine in sich zusammenhängende Sein ist, dann muss er zur Absicherung seiner These das Gegenteil auch behaupten: Das Nichtsein ist nicht, es ist weder zusammenhängend, noch eines, sondern unzusammenhängend und zwei oder gar vieles. Es stehen sich also einfache Bestimmungen gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen: Sein versus Nichtsein, eins versus zwei/vieles, zusammenhängend (einheitlich) versus nichtzusammenhängend (diskontinuierlich). Parmenides Ontologie wird von Platon durch wenige logische Einwände dazu gezwungen, einzugestehen, dass das Nichtsein auch ein eigenartige Form

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Knut Eming

Setzungen voneinander unterscheiden will, kommen die Ideen der Identität und Verschiedenheit hinzu, weil man sagen muss können, dass beide Setzungen voneinander verschieden – oder , was gleich bedeutend ist – nicht-identisch sind. Dieses Spiel mit einfachen Bestimmungen gehört zur logischen Form dessen, womit und woran sich die Philosophie, die eine Unterscheidungskunst sui generis ist, fortan immer abarbeitet. In den platonischen Dialogen entdeckt Wiehl ein Theorie-Verhalten, dem er später immer wieder neu nachspürt, und das man die Erfahrung des Denkens nennen könnte; neben den Begriffsbestimmungen, neben den Setzungen einer philosophischen Theorie gibt es immer Gegenteile und/oder Gegensätze, die ausgeschlossen und/oder unbestimmt bleiben, weil zwischen beiden »nicht zu vermitteln ist« 6 und so die Vermittlung – mit Hegel gesprochen die Versöhnung – der Gegensätze ausbleibt. Diese einfach anmutende Vorgehensweise, die Unbestimmtheit und Unterbestimmtheit begrifflicher Unterscheidungen in philosophischen Theorien aufzudecken, bildet gleichsam die Unruhe für alle weiteren philosophischen Reflexionen und Erörterungen, mit der Wiehl insbesondere moderne Ontologien daraufhin prüft, ob sie einer begriffslogischen Kritik standhalten. 7 Aus spekulativen Gründen führt er eine Störung, eine Unterbrechung in den theoretischen Apparat von philosophischen Theorien ein, und untersucht sie darauf hin, ob sie zur Erkenntnis und damit zur Anerkennung der Wahrheit ihres Gegenteils in der Lage sind. Zur Veranschaulichung der Vorgehensweise einer logisch motivierten Philosophiekritik nehmen wir ein einfaches Beispiel aus dem platonischen Dialog Gorgias, an dem man nachvollziehen kann, wie eine Position in ihr Gegenteil verkehrt wird. Ein Sophist namens Kallikles stellt die Behauptung, die These auf, dass die eigentliche Natur der Gerechtigkeit darin besteht, dass es ein natürliches Recht des Stärdes Seins aufweist: die der Verschiedenheit. Platon macht sich in seiner Kritik an der parmenideischen Ontologie die Vieldeutigkeit des Wortes »nicht sein« (ouk einai) zunutze; sie changiert zwischen »nicht (me¯)« – »nichts (me¯den)« – »die Idee des Nicht-… (idea tou¯ me¯)« – »das Nichtsein (to me¯den)« und »das Nichts (to me¯)«. Auf diese Weise werden verschiedene Bedeutungen von Negationen entdeckt, die allesamt seiner Auffassung nach zur vagen Idee der Verschiedenheit gehören. 6 Siehe unten S. 59. 7 Man vergleiche dazu Wiehls Kritik an Husserls Phänomenologie, Heideggers Fundamentalontologie und Gadamers Hermeneutik in »Metaphysik und Erfahrung« (Frankfurt 1996), S. 127 ff. und S. 155 ff.

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Einleitung

keren gibt. Aufgrund seiner Stärke bekommt einer mehr als ein anderer, weil er sich dieses Mehr an Gütern nicht nur aneignen kann, sondern schlicht nimmt. Dieser Naturalismus des Stärkeren wird dadurch unterlaufen, dass Platon sich wiederum die Mehrdeutigkeit dessen, was »stärker sein« bedeutet, zunutze macht. Zunächst kann man bekräftigen, dass der Stärkste sich nicht nur gegen einen anderen, sondern auch gegen mehrere andere durchsetzt. Dieser Sinn von »stärker sein« heißt so viel wie, an Körperkraft stärker oder gar außerordentlich stark sein – so wie z. B. Herakles. Und natürlich ist der Stärkere schlicht der, der die anderen, die Schwächeren, besiegt und dominiert. Stärker zu sein heißt also allgemein, wenn »Stärkere die Schwächeren besiegen«. Diese Begriffsklärung wird von Sokrates im Gespräch mit dem Sophisten Kallikles vorgenommen, weil die Ausgangsthese so ausgeweitet wird, dass sie den Boden bereitet für die Widerlegung. Die Begriffsbestimmung »stärker« wird schlicht dadurch unterlaufen, dass die Relativität des Begriffspaars »stärker – schwächer« umgedreht wird. Wenn die Schwächeren sich zusammentun, um den Stärkeren zu stürzen und ihm die Vormachtstellung zu nehmen, dann sind sie (i. e. die Schwächeren) in diesem Fall stärker. Und »stärker sein« heißt neben der Bedeutung, an Körperkraft stärker sein, auch noch stärker und also besser zu sein in der Fähigkeit, sich zusammenzuschließen und an Verabredungen festzuhalten. Der Satz »Gerechtigkeit ist das Recht des Stärkeren« muss also erweitert werden, wenn er zutreffend bleiben soll; dazu muss er so umformuliert werden, dass er das Gegenteil auch in sich aufnimmt, nämlich »Gerechtigkeit ist das Recht der Schwächeren«. Man kann sich trefflich darum streiten, wie im einzelnen die Erweiterung aussehen würde und welche Konsequenzen man daraus ziehen will. Ist Gerechtigkeit das Recht der Schwächeren, das darauf zielt, die wenigen (körperlich) Stärkeren schwächer zu machen? Oder beruht die Aufhebung des Gegensatzes »stärker versus schwächer« darin, dass man die Relativität der Prädikate »stärker« bzw. »schwächer« durch ein objektives Prädikat versöhnt? Unabhängig von diesen grundsätzlichen Fragen ist klar, gerecht kann nur sein, wenn die Schwächeren bei der Verteilung von Gütern nach einem bestimmten Maß beteiligt werden. Nur dann kann zwischen den Gegensätzen Versöhnung stattfinden. Der kleine Exkurs hat gezeigt, dass Begriffsbestimmungen von theoretischen Setzungen auch ethische Prädikate sein können. Grundsätzlich gilt, das Verfahren der Auflösung von Gegensätzen soll überall 13 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Knut Eming

anwendbar sein. Die damit verbundene Absicht ist, nicht einseitige, sondern umfassende Behauptungen zu formulieren, unabhängig von dem Standpunkt, den ein Sprecher einnimmt. Wiehl verbindet in seiner Antrittsvorlesung Denkformen der platonischen mit der hegelschen Philosophie, weil Hegel in der Moderne die platonische Ideenlogik in seiner spekulativen Philosophie kongenial entfaltet, indem er sie sowohl in seiner Logik wie in seiner Theorie des Geistes aktualisiert und neu zur Geltung bringt. 8 Was haben wir erreicht, wenn es uns philosophisch gelingt, die entgegengesetzten Behauptungen nicht auszuschließen, sondern in die Prämissen einer These aufzunehmen? Der Fortschritt lässt sich ethisch als Forderung ausdrücken: Jede Philosophie muss es schaffen, in sich die Wahrheit von Anderssein und Verschiedenheit aufzunehmen. In dieser Maxime steckt die hermeneutische Erfahrung der Anerkennung des Anderen, oder wie Gadamer es ausdrückt, die Erfahrung, dass der Andere gegen mich recht haben könnte. Wiehl geht darüber weit hinaus, denn er bezieht die begriffliche Erfahrung der Vermittlung von Gegensätzen nicht allein auf Prozesse der Verständigung und des Verstehens, sondern auf die systematischen Prämissen von philosophischen Theorien generell. Er entdeckt, dass gerade die verborgenen oder verschwiegenen Voraussetzungen jede Theorie von innen heraus negativ bestimmen und als »negative logische Ereignisse« ihr Unwesen treiben. Sie sind seiner Auffassung nach die Ursachen von Streit und bilden den Anfang des Misslingens von Versöhnung. Es darf nicht verschwiegen werden, dass Wiehl auch einen Impuls des späten Whitehead aufnimmt, den er allerdings in seiner Antrittsvorlesung mit keinem Wort erwähnt. Nach Whitehead haben alle Systeme – auch manche philosophische – das Bestreben, ihre eigenen Voraussetzungen und Unterscheidungen so zu befestigen, dass sie über der Freude der Selbstbestätigung des eigenen Ansatzes übersehen, was sie ausgeschlossen haben. (A. N. Whitehead, Denkweisen. Frankfurt 2001, S. 120 ff.) Gerade aber das von ihnen ausgeschlossene, das meist als unwahr oder unwesentlich bewertet wird, muss – wenn man sich nicht im Kreis drehen möchte – mit den eigenen Prämissen vermittelt werden. Erst wenn man über die eigenen Voraussetzungen hinausgehen kann und die Seinsart dessen anschaut, was ausgeschlossen und mit Platon gesprochen als nicht-seiend gesetzt wurde, erfährt man über den eigenen Ansatz mehr und kann ihn durch Integration des Ausgeschlossenen erweitern und vervollständigen. Nach Whitehead macht es den Reiz der großen Systeme von Platon, Aristoteles und Leibniz aus, dass sie sich meist jenseits ihrer Systembildungen bewegen und weiterentwickeln. Jede in sich reflektierte Philosophie hat diese Stärke in sich, die letztlich nichts anderes ist als eine Abneigung gegen jede Art von Dogmatismus.

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Einleitung

Diese Einsicht hat theologische Implikationen als jüdisch-christliche Frage nach dem Ausbleiben der Versöhnung, sie hat aber auch philosophiegeschichtliche Implikationen. Die Gigantomachie verschiedener sich bis heute ausschließender Schulen 9 währt seit Platons Zeiten bis heute. In seiner Antrittsvorlesung spielt Wiehl die möglichen Kombinationen durch, unter welchen Voraussetzungen welche Formen von Nicht-Versöhnung bis hin zum Grenzfall der möglichen Versöhnung denkbar sind. 10 Damit führt Wiehl, der zuerst ein Studium der Mathematik und Physik begonnen hatte, die Kombinatorik in die Philosophie ein, von der er dann immer wieder freien Gebrauch machen wird. Was sind also negative logische Ereignisse? Wir finden sie überall dort, wo Phänomene sich in einem Feld zeigen, die sich aber nicht ohne weiteres kategorisieren lassen. Wiehl selbst nennt als Beispiel aus der Philosophie des Geistes die Assoziationen. Sie sind plötzlich da, sie haben eine lockere Verbindung zu ihrer Umgebung, sind aber selbst unbegründet. Diese wunderliche Natur haben die Assoziationen gemein mit unseren Wünschen, wie auch mit unseren Emotionen. Sie treten plötzlich mit kleiner oder großer Intensität auf, sie unterbrechen und lenken uns von Aufgaben und Absichten ab, sie sind als das Andere der Vernunft erst einmal unvermittelt, ja vielleicht sogar unvernünftig. Als solche sind sie Gestalten des Zufalls, Zeugen unserer Kontingenz, modal betrachtet das Gegenteil der Notwendigkeit, aber zugleich mit Zwang verbunden. 11 Es ist also gar nicht verwunderlich, dass Wiehl sich ein ganzes Forscherleben lang mit den Emotionen – oder wie er, ein Bewunderer der Gedankenrevolution des 17. Jahrhunderts, gern formuliert – mit den Affekten beschäftigt. Die zweite große Abhandlung des ersten Teils 12 handelt denn auch konsequent von der Vernunft in der menschlichen Unvernunft, also von der verborgenen Ordnung in der scheinbaren Unvernunft der Affekte. Hier kann man studieren, welche BePlaton, Soph. 246aff Vgl. unten S. 61 ff. 11 Als modernes Beispiel für negative logische Ereignisse könnte man die zerstörerische Kraft von Familiengeheimnissen oder von Traumatisierungen – z. B. bei die »flash backs« bei Verfolgten des Nazi-Regimes – nennen, die aus dem Verborgenen heraus verhindern, dass Menschen in Freiheit und Selbstbestimmung leben können. 12 Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. Vgl. unten S. 71 ff. 9

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Knut Eming

griffsarbeit zu leisten ist, wenn die philosophische Vernunft sich anschickt, das ihr Andere und Fremde zu erkennen; sie hat – wenn es ihr gelingt – anzuerkennen, dass es eine eigene Wahrheit der Emotionen bzw. Affekte gibt. Die Erkenntnis der Natur der Affekte bringt allein keinen Fortschritt in Richtung Versöhnung, wenn nicht die Vernunft sich in ihrem eigenen Anderssein erkennt und anerkennt: sie ist selbst ein Affekt, der größte von allen, nämlich – wie Wiehl im Rückgriff auf Spinoza und Nietzsche herausstellt – die Liebe. 13 Negative logische Ereignisse bilden nicht bloß in der Ethik und in der Philosophie des Geistes den Anfang für Streit wie für Versöhnung, sondern sie haben in der Philosophie selbst ihren Ort. Als Negationen – ob eingestanden, verschwiegen, unterdrückt oder nicht erkannt – wirken sie fort und dekonstruieren eine philosophische Position hinterrücks. Insofern eignet sich Wiehls ursprüngliche Einsicht auch dazu, kritisch Philosophie und Philosophiegeschichte zu betreiben. Tatsächlich ist die Philosophiegeschichte voll von Demaskierungen scheinbar plausibler Positionen, die sich dann in das Gegenteil ihrer selbst verkehren, wenn man ihren Anspruch an ihnen selbst prüft. Zu dem Zweck muss man nur die lange Geschichte von Platon bis Nietzsche studieren und man findet genügend Beispiele. 14 Generell vollzieht sich die Prüfung einer philosophischen Stellungnahme daran, ob die zugestandenen Prämissen untereinander und angesichts ihrer Folgen stimmig sind. 15 Nachdem wir den systematischen Ort von Wiehls Philosophieren Im Grunde haben das schon die Alten gewusst, denn Platon und Aristoteles nennen die Philosophie, die von ihnen als ein vernünftiges Streben verstanden wird, die Liebe zur Weisheit. Noch deutlicher kommt die affektive Seite im niederländischen Wort »Wissbegierde« zum Ausdruck, das man bei Spinoza auch findet. 14 In seinen Seminardiskussionen mit den Studierenden hat Wiehl die Umkehrung einer Position immer genossen, weil es sich um eine schöne gymnastische Übung für die Verbesserung der Vernunft handelt. Auch hier gibt es verschiedene mögliche Formen; vom Zugeständnis der Möglichkeit des Gegenteils bis hin zum Eingeständnis der Wahrheit des Gegenteils und der Falschheit der eigenen Behauptung. 15 Es muss betont werden, dass Wiehls Konzept der »negativen logischen Ereignisse« im Kern die Vorwegnahme dessen ist, was Derrida als das Ereignis der difference beschreibt, also eines Unterschieds, der nicht markiert ist, aber Konsequenzen und Zugeständnisse zeitigt. Mit Platon gesprochen liegt bei beiden eine Logik des Nichtseins vor, eine Logik des Anders-Seins, die aber von Reiner Wiehl nicht dafür verwendet wird, die Metaphysik oder gar die traditionelle Philosophie zu dekonstruieren oder gar zu destruieren. Im Unterschied zu Derrida führt er die Metaphysik im 20. Jahrhundert fort, indem er an philosophischen Positionen die übersehenen und/oder nicht thematisierten 13

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Einleitung

gefunden haben, können wir uns nun der Ausarbeitung des Zusammenhangs von Vernunft und Ethik zuwenden. Und auch hier gilt es, unter der Perspektive von Wiehl die modernen Ethiken geschichtlich danach einzuteilen, inwiefern sie unter dem Vorzeichen der Vernunft entwickelt werden – das wären einerseits die Ethiken bis einschließlich Kant – , und die Ethiken, die unter dem Vorzeichen des Anderen der Vernunft, also der Unvernunft entwickelt werden, – das wären andererseits die Ethiken ab Schopenhauer (vielleicht auch schon Schelling) bis heute. Von diesen beiden grundsätzlich möglichen ethischen Theorien sind diejenigen zu unterscheiden, die beides tun, die unter den Bedingungen von Vernunft und Unvernunft die Frage nach Freiheit und Unfreiheit des Menschen stellen. Auch in dieser Klasse lassen sich prominente Positionen finden, allen voran Spinoza und Hegel, in gewisser Weise aber auch noch Nietzsche und Jaspers. Hat man sich erst einmal Wiehls gedankliche Systematik klar gemacht, so verwundert es nicht, dass Spinoza – und am Ende seines philosophischen Arbeitens – auch Jaspers zu seinen Gesprächspartnern gehörte. Beide entfalten die Wirklichkeit der Unfreiheit sowie die Möglichkeit zur Freiheit unter der Perspektive von Vernunft und Unvernunft. Gleichwohl konzentriert Wiehl sich nicht bloß auf die Mischformen, sondern versucht jenseits möglicher Schematisierungen die jeweiligen Stärken und Schwächen herauszustellen. Zur Verdeutlichung schauen wir uns drei Positionen an, an denen sich Wiehl immer wieder orientiert: Kant, Spinoza und Heidegger. Niemand wird sich wundern, dass Kant – der Freiheitsphilosoph per se – zu Wiehls Gesprächspartnern gehört. Freiheit ist nach Kant möglich, wenn wir die empirische Welt überschreiten und als Vernunftwesen aus Freiheit uns zur Anerkennung der Würde anderer bestimmen. Diese andere Kausalität aus Freiheit – in der wir zur Ursache unserer selbst werden – ist nach Wiehl bei Kant unterbestimmt. Mit Nietzsche versteht Wiehl Kausalität nicht bloß als Kategorie von Ursache-Wirkungsverhältnissen, sondern als Interpretationsbegriff. Die Freiheit des Menschen ist genau da am Werk, wo wir uns die Freiheit nehmen, auch gegen die Erfahrung der Unfreiheit neue Kausalitäten zu erfinden, um auf diese Weise unsere Freiheit zu retten. Derartige Umdeutungen finden nicht bloß statt, wenn wir gegen andere Recht behalGegenseiten aufdeckt und sie sowohl an dem eigenen Anspruch wie dem vorliegenden kategorialen Apparat misst.

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ten wollen, sondern auch dann, wenn wir uns falsch verstanden fühlen und wir andere Gründe bemühen, die ein mögliches Fehlverhalten, das uns vorgehalten werden könnte, vor uns selbst rechtfertigen. Indem Menschen einen solchen inneren Gerichtshof nicht bloß akzeptieren, sondern zum Zentrum ihres Selbstverständnisses machen, verhalten sie sich ethisch. Wiehl bemüht die in der Moderne seit Kant und in der Antike seit Platon bekannte Figur eines forum internum nicht ausdrücklich, weil er einen Schritt weiter geht: Auch angesichts unserer Emotionen und Gefühle versuchen wir uns vernünftig zu verhalten. Auch hier gilt es, dem nachzugehen, was Wiehl in den feinsten Verästelungen unseres Gefühlslebens wie unseres Lebensgefühls zuerst beschrieben hat – es gibt eine Logik der Gefühle im Dienste der Freiheit. Der wichtigste Gesprächspartner für Wiehl ist bekanntlich Baruch de Spinoza, der Ausnahmephilosoph des 17. Jahrhunderts. Vielleicht verwundert es manche, dass Wiehl gerade Spinoza zum Urheber einer Freiheitsphilosophie macht. In dieser Weise hat Spinoza eigentlich nicht gewirkt, sondern – aufgrund einer verwickelten Werkgeschichte – wurde Spinoza bekannt als Urheber eines Pantheismus, der als Pantheismusstreit Ende des 18. Jahrhunderts in die Philosophie- und Geistesgeschichte einging. Zwischen Wiehl und Spinoza gibt es eine Geistesverwandtschaft; sie sind beide Metaphysiker, die die Auffassung vertreten, dass Ethik und Anthropologie nur dann sinnvoll entwickelt und dargestellt werden können, wenn sie auf dem Hintergrund unseres Wissens von Gott und der Natur betrachtet werden. In diesem großen Zusammenhang gesehen kann der Mensch nur dann frei sein bzw. werden, wenn er seine Natur und sein Wesen erkennt und in Übereinstimmung mit sich handelt. Selbsterkenntnis ist gebunden an die Erkenntnis der eigenen Natur; diese Erkenntnis meint zugleich auch die Akzeptanz des eigenen Wesens. Die zweite Geistesverwandtschaft besteht darin, dass Spinoza als erster in der Moderne die Bedeutung der Gefühle für die Ethik ausgearbeitet hat. 16 Im Blick auf die Unfreiheit spricht Spinoza von der Knechtschaft des Menschen verursacht durch die Affekte, wogegen die ihm mögliche Freiheit wesentlich darin besteht, aus der Liebe zu Gott zu gewahren, dass der Mensch nicht causa sui sein kann, er sich nicht selbst erschaffen hat bzw. erfinden kann. Spinoza setzt in seiner Philosophie eigenwillig fort, was die Wegbereiter einer modernen Emotionstheorie – Descartes und Hobbes – begonnen haben.

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Diese Freiheit gelingt aufgrund der Bindung an etwas, was das schlechthin Gute ist, das selbst die menschliche Vernunft übersteigt. Eine dritte prominente Freiheitstheorie, mit der Wiehl sich beschäftigt, ist die von Martin Heidegger. Mancher mag sich darüber wundern, denn nur wenige halten heute den Freiburger Fundamentalontologen und Seynsmetaphysiker für einen Freiheitsdenker. Wegen Heideggers großer Wirkungsgeschichte – vor allem aber wegen seiner Metaphysikkritik – wird Heidegger diese Ehre zuteil. Der Streit um die Frage, inwiefern man aus Sein und Zeit eine Ethik und eine Politik herausdrehen kann, wird insofern gewürdigt, als Wiehl ihn verabschiedet. Bekanntlich hat Heidegger in der Sorge eine existenzielle Weise des Daseins gesehen, die nicht als Verfallenheit, sondern als freies Sein bei (den Dingen) bzw. als freies Sein mit (den Menschen) zu verstehen ist. In Heidegger findet Wiehl einen Gesprächspartner, der das Verhältnis von Unfreiheit und Freiheit thematisiert hat. Allerdings hat Heidegger nur die Problemstellung entwickelt. Wie und ob es möglich ist, frei zu werden und zu sein, ist von den Voraussetzungen des Heideggerschen Seinsdenkens nicht ersichtlich. Wiehl muss die Position Heideggers letztlich angreifen, denn er halbiert die Vernunft auf das Verstehen und kann so gar nicht das Andere, die Unfreiheit, thematisieren, geschweige denn aufklären. 17 Es gibt zwei weitere philosophische Positionen, die bei Wiehl im Hintergrund immer mitschwingen. Nietzsche und Whitehead. Für Wiehl kommen beide als Freiheitsdenker in Betracht, weil sie neue Denkräume eröffnen. Wichtig an Nietzsche ist seine Demaskierung der Freiheit. Er beschreibt vor allem im Rahmen einer Problematisierung und Selbstkritik von philosophischen Grundbegriffen die Idee der Freiheit als Geschichte des Stolzes, der sich aufgrund einer Selbsttäuschung meint, sich über die Natur seines Leibes erheben zu können. Wichtig an Whitehead ist die Öffnung der Freiheit auf die Prozesshaftigkeit der Natur hin. Er entfaltet im Rahmen einer Prozessontologie eine spekulative Kosmologie der Gefühle, in der das Fühlen nicht mehr bloß der menschlichen Subjektivität vorbehalten bleibt, sondern ontologisch den Organismen öffnet und sich an die Lebendigkeit knüpft. Von all diesen philosophischen Entwürfen aus wird erst die systematische Vieldeutigkeit des Gefühlslebens als einem Zwischen von 17 Es bleibt Jaspers vorbehalten, die Vernunft in die Existenz zu integrieren. Vgl. dazu K. Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen. Groningen 1935

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Affekt, Empfindung und Gefühl/Emotion verständlich. Unfreiheit wird so auf vielfältige Weise beschreibbar. Weder die Unfreiheit noch die Freiheit wird zu einem Zustand des Systems, sondern aus der Erfahrung von Unfreiheit wie Freiheit entsteht erst die Möglichkeit der bewussten Bewertung und Neuorientierung eines Verhaltens, das man sich zurechnet. Wenn wir uns mit Wiehl auf das Andere der Vernunft und der Freiheit konzentrieren, entdecken wir die Wirklichkeit der Unvernunft und der Unfreiheit; wir stoßen auf die Wirklichkeit des Andersseins, was uns erst einmal die Sprache verschlägt. Kant hat diesen Bereich umschifft, denn für ihn galt es als ausgemacht, dass unter empirischen Bedingungen die Selbstbestimmung des Menschen unter vielfältigen Weisen der Fremdbestimmung, der Heteronomie steht und die Idee der Freiheit der Gefahr ausgesetzt ist, verloren zu gehen. Wiehl geht einen Schritt über Kant und viele andere moderne Ansätze hinaus, indem er gegen alle Vernunftkritik die Zusammengehörigkeit 18 von Vernunft und Unvernunft aufspürt, indem er gegen alle moderne Metaphysikkritik die Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Erfahrung aufdeckt und das Widerfahrnis der Unfreiheit im Lichte der Freiheit sieht. Ihm gelingt es so, die Vernunft in der menschlichen Unvernunft aufzuzeigen, indem er die Zusammengehörigkeit von Metaphysik und Erfahrung, von Freiheit und Unfreiheit wieder findet. Weil er die Zusammengehörigkeit behauptet, gelingt es ihm die wechselvollen Erfahrungen des Menschen mit seiner Freiheit zu beschreiben. Um es paradox zu beschreiben: Weil Wiehl an seiner Idee einer Ontologie festhält, eröffnet er den menschlichen Erfahrungsraum von Freiheit und Unfreiheit, den der Unfreiheit in der Freiheit genau so wie den der Freiheit in der Unfreiheit. Weil er den Eigenwert der Erfahrung sieht, beginnt er als Philosoph damit, die Feinheiten in der Selbsterfahrung des menschlichen Umgangs mit der Freiheit und Unfreiheit zu beschreiben, 19 um immer wieder seinen Anfang zu behaupten, dass es eine Zusammengehörigkeit von Freiheit und Unfreiheit, dass es eine In der Tradition Spinozas stehend spricht Wiehl von der Zusammengehörigkeit von Vernunft und Unvernunft, von Freiheit und Unfreiheit. Grund dafür ist die Einheitslehre Spinozas, die Geist und Körper als Modi der einen Substanz versteht. Den Gedanken der Komplementarität gibt es bei Wiehl in einer anderen Form; vgl. dazu Die Komplementarität von Selbstsein und Bewusstsein. Ders., Subjektivität und System. Frankfurt 2000, S. 46 ff. 19 Vgl. dazu die beiden Aufsätze: Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu 18

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Zusammengehörigkeit von Vernunft und Erfahrung gibt. Die Vernunft ist nicht nur in dem ihr eigenen Bereich zu finden, in dem »Logischen« – den Wiehl den der Logik von Begriffen und Idee nennt, hat die Vernunft aufgrund ihrer Fähigkeit zur Ordnung auch in der Erfahrung des Selbst und seiner Leiblichkeit ein Eigenrecht, das sie meist unbemerkt ausübt. Ordnen ist immer schon bewerten, egal ob es um die Ordnung von Affekten – die Psychologen sprechen von Affektregulation – von Handlungen und ihrer Verantwortbarkeit, von Selbstauffassungen und ihren Brechungen geht. Diese Vernunftbegabung der Bewertung kann sowohl zur Befreiung von überflüssigen Ordnungsgewohnheiten eingesetzt werden – tatsächlich arbeitet sie aber häufig im Dienste eingeschleifter Bewertungen und wiederholt so die Unfreiheit des Selbst. Angesichts der individuell sehr verschiedenen Ordnungsmöglichkeiten ist eine ethische Kritik unserer Bewertungsbegriffe notwendig, denn mit Spinoza geht Wiehl davon aus, dass unsere Erkenntnis der Affekte inadäquat ist. Um das einzusehen, braucht es zuvörderst eine Selbstkritik der Vernunft. 20

Zum Titel des Buches Der Buchtitel ist Wiehls Dankesrede für die Verleihung des MargitEgner-Preises entlehnt. Vom Leiden des Menschen an seiner inneren Unfreiheit zu reden, ist philosophisch ungenau, denn was ist »innere Unfreiheit«? Obwohl Wiehl um diese Ungenauigkeit weiß, wiederholt er den Titel noch einmal in der direkt benachbarten Abhandlung Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen. So gelungen die Formulierung ist, so angreifbar ist sie – zumindest für streng denkende Philosophen. Auf den ersten Blick könnte es einer philosophischen Theorie der Gefühle (unten S. 218 ff) und: Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens. (unten S. 238 ff) 20 Im Grunde ist Wiehl von der im 20. Jahrhundert sich vollziehenden Dekonstruktion der Subjektivität unbeeindruckt. Trotz Nietzsches und Freuds Kritik an der Vernunft, die bis zu Derridas Kritik am Logozentrismus reicht, ist Wiehl mit Whitehead ein Anhänger einer monadischen Subjektivitätsphilosophie, wie sie von Platon begonnen und von Leibniz breit dargestellt wird. Personen sind Monaden; sie ordnen von Anfang an ihre Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen und Konzepte nach eigenen Prinzipien. Die Änderung von innerpersonalen Ordnungsgesichtspunkten kann von außen nicht vorgenommen werden. So gesehen sind Personen ipso facto frei – nur wissen sie von dieser Freiheit nichts.

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so scheinen, dass der Autor mit der unter Philosophen wenig beliebten Unterscheidung von »innen« und »außen« arbeitet. Tatsächlich kennt Wiehl diese Relativität bestens und hat sie selbst in einem seiner Aufsätze 21 zu Hegels Phänomenologie des Geistes problematisiert. So wie der sinnlichen Gewissheit – man könnte sie auch das Alltagswissen des common sense nennen – angesichts der Relativität von »links« und »rechts« schnell Sehen und Hören vergeht, ebenso schnell ließe sich eine Dialektik von »innen« und »außen« so zuspitzen, dass diese Unterscheidung hinfällig wird. Warum also benutzt Wiehl diese ungenaue Redeweise? Zunächst trifft auf Wiehls Umgang mit Begriffen zu, was Platon im Theaitet als Mahnung an die Mitunterredner des Sokrates weitergibt: Man soll es mit den Wörtern nicht zu genau nehmen. Es gab und gibt heute noch die Sophistik der genauen Rede, 22 also die Gewissheit von Schnelldenkern, denen zufolge man alles nur richtig bezeichnen müsse, dann gebe es keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Als Schüler von Gadamer hätte Wiehl auch versuchen können, die Bezeichnungen »innen« bzw. »inneres« bzw. »innerlich« durch einen Exkurs in die Begriffsgeschichte aufzuwerten. 23 Aber genau das tut er nicht. Der Begriffslogiker Wiehl geht in diesem Punkt auf Distanz zur Hermeneutik, denn tatsächlich betreibt er nirgendwo in seinen Aufsätzen – auch nicht in seinen Lehrveranstaltungen – das Geschäft der Begriffsgeschichte. Natürlich passt der Titel ganz und gar zu den Aufsätzen des vorliegenden Bandes, denn alle Menschen teilen diese Erfahrung, dass sie die Grade des Verfehlens oder des Verlusts von Freiheit innerlich bemerken und zu reflektieren versuchen. So wie es seit Kant eine Begabung des Menschen für die Philosophie gibt, so auch eine für den Gebrauch der Selbstreflexion. Von der inneren Unfreiheit zu reden meint, Vgl. R. Wiehl, Vom Sinn der sinnlichen Gewissheit in Hegels Phänomenologie des Geistes. Hegel-Studien. Beiheft 3. 1966, S. 103–134 Wiederabgedruckt in: Hegel in der Sicht der neueren Forschung. Hrsg. Von I. Fetscher. Wiss. Buchgesellschaft. Darmstadt 1973 22 Bekanntlich hat Whitehead vom Standpunkt der modernen Logik gezeigt, dass eine genaue Rede insofern nicht möglich ist, als der vollständige und widerspruchsfreie Nachweis von Vordersätzen eines logischen Systems misslingt. Aus diesem und anderen Gründen hat er die Genauigkeit als Maßstab für Wissenschaft und Philosophie verabschiedet. A. N. Whitehead, Denkweisen. Frankfurt 2001. 23 Wenn man über die Nähe von »innen« und »innerlich« versuchen wollte, auf die Innerlichkeit des Gefühls o. Ä. zu kommen, hätte man Wiehls Intention völlig verfehlt. 21

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dass Menschen ihre Unfreiheit nicht nur spüren, sondern wie Wiehl betont, daran leiden. Das Leiden an der Unfreiheit ist auch nicht bloß ein Gefühl, sondern sie ist eine Kontrasterfahrung. 24 Das Leiden an der Unfreiheit wird dadurch umso deutlicher, dass Menschen in ihrem Selbstverhältnis ihre Unfreiheit dadurch vergrößern, dass sie die ihnen mögliche Freiheit dagegen halten. Es geht also gar nicht um die Innerlichkeit des Verhältnisses von Unfreiheit und Freiheit, sondern um ein Wertbewusstsein, das durch den je hergestellten Kontrast anders moduliert wird. Es gibt viele mögliche Graduierungen, die nach den jeweiligen Bewertungsgewohnheiten anders akzentuiert werden. Sie erstrecken sich von der vorsprachlichen Kontrastierung, die wir in unseren Gefühlseinstellungen 25 vollziehen, bis hin zur Aufstellung und Umdeutung von Kausalitäten, wenn der Kontrast als Leidensdruck wahrgenommen wird. Wo uns Freiheit nicht gelingt und in Unfreiheit umschlägt, behaupten wir unsere Freiheit dadurch, dass wir unser Misslingen deuten und – nötigenfalls – umdeuten. Diese Umdeutungsversuche können fehlschlagen, wenn wir anfangen, uns für unser Misslingen zu ent-schuld(ig)en. Wenn also Wiehl von der inneren Unfreiheit redet, dann bleibt er letztlich als Begriffslogiker der Anwalt der inneren Erfahrung; denn er beschreibt an vielen Beispielen variierend den Übergang von Freiheit in Unfreiheit bzw. umgekehrt von Unfreiheit in Freiheit, er beschreibt, welche Anstrengungen wir unternehmen, uns vom Leiden an der Unfreiheit zu befreien. Trotz aller systematisch begründeten Unterschiede zu Gadamers Hermeneutik wird Wiehl dann zu einem Hermeneutiker, wenn er »ungenau« über das Leiden an der Unfreiheit des Menschen philosophiert. In mehreren Arbeiten geht er doch hermeneutisch vor, denn seiner Auffassung nach haben die Dichter – allen voran Goethe, aber auch Rilke und seine Entdeckung: Jakob Wassermann – das Drama der Seele, ihr Ringen wie die Selbsttäuschungen um die eigene Freiheit breiter und feiner nuanciert als die Philosophie es kann. Hier kommt zum Zuge, dass der Metaphysiker Wiehl zum Anwalt der Erfahrung wird 24 Der Begriff »Kontrast« wurde von Whitehead in das Vokabular philosophischer Grundbegriffe eingeführt. A. N. Whitehead, Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt 1979, S. 186 ff. 25 So kann eine aktuelle Erfahrung von Unfreiheit im Denken, Handeln oder Fühlen kontrastiert werden mit der Erinnerung an eine Zeit, in der jemand sich frei und selbstbestimmt gefühlt hat. Die Bewertung dieses Kontrasts ist seinerseits offen. Wenn nämlich möglich Auswege erdacht werden wächst die Hoffnung.

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und sich nicht scheut, scheinbar ungenaue Begrifflichkeiten zu erfinden, wie etwa den Begriff der »psychischen Freiheit«. 26 Psychische Freiheit meint die Freiheit, die Menschen sich nehmen, wenn sie ihre Unfreiheit gewahren. Um der Behauptung eigener Freiheit willen greifen Menschen zu dem schon erwähnten Mittel der Umdeutung von Kausalitäten. Was er damit meint, lässt sich an der Erfahrung von chronischer Krankheit – die er im Alter erfahren musste – beschreiben. Jeder, der durch chronische Krankheit in seinen Lebensäußerungen gehemmt oder gar entstellt wird, braucht diese Freiheit. Was den anderen als Störung erscheint, ist Ausdruck eines Leidens, das den Menschen bestimmt und insofern unfrei macht, ohne es tatsächlich zu sein. Diese Freiheit zur Umdeutung geschieht im Wissen um das Leiden an der Krankheit, das von den anderen aber als Scheitern und Versagen oder gar als Defizit naturalisiert wird – und sie geschieht im Leiden an den unangemessenen Zuschreibungen durch die anderen. In wenigen Worten beschreibt Wiehl, dass derartige Umdeutungen Kraft kosten und in die Einsamkeit führen, »wenn nicht von außen neue Kraft zufließt.« 27 Aus diesem Grunde fielen seine Urteile über die beiden großen Kranken der neueren Philosophiegeschichte – Nietzsche und Jaspers – immer sehr milde und abwägend aus. Was zeigen Wiehls Beispiele? Dass die Ethik – also der Wille zur eigenen Freiheit – nicht von Metaphysik und Ontologie getrennt werden kann, dass die Begriffsbildung nicht eigens ein wissenschaftliches Verhalten ist, sondern eines, das »lebensdienlich« ist; dass der Umgang mit Kausalinterpretationen ursprünglich ein Verhalten ist, das zum Menschen gehört wie das Sprechen; dass Umdeutung von Kausalitäten Ausdruck von Selbstbehauptung – der Behauptung der individuellen Freiheit eines Selbst ist. Er beschreibt die alltäglich stattfindende innerliche Auseinandersetzung als »gedankliches Experimentieren mit diesen und jenen kausalen Deutungen«, die sich insbesondere auf die Prägung unseres Alltagslebens durch »affektive Modalitäten« bezieht. An ihnen sehen und prüfen wir selbst, ob und inwiefern wir frei sind, nicht nur zu tun, was wir wollen, sondern auch der zu sein, für den wir uns halten. »Freiheit entfaltet sich primär im Spielraum kausaler Interpretationen und im Bereich der kritischen Prüfung derselben auf ihre Vgl. unten S. 163 ff. Wiehl reklamiert für sich »den von mir gefassten Begriff« der »psychischen Freiheit«. 27 Vgl. unten S. 175. 26

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Stichhaltigkeit hin.« Was daran verwundert, ist die Nähe zum amerikanischen Pragmatismus, und natürlich das immer mitschwingende Sokratische »Erkenne dich selbst«, das auf Selbstprüfung und Wahrhaftigkeit abzielt. Wiehl hat – auch in seinem Seminarstil – eine große Nähe zu Sokrates, die bei ihm bis in die Physiognomie, ja sogar bis in die Leiblichkeit führt. An dem Erzieher Sokrates betont er die Tugend der »Gewissenhaftigkeit«, die er allerdings nicht als Instanz der Moral versteht, sondern als Affekt. »Menschliche Freiheit gehört zusammen mit dem Affekt der Gewissenhaftigkeit.« 28 Es gilt eine Verunsicherung aufzuklären, die sich bei manchem einstellt, der aufgrund des Untertitels mindestens ein eigenes Kapitel zu einer der bekannten Emotionen erwartet – etwa Liebe, Hass, Freude, Trauer. Tatsächlich akzentuiert Wiehl wohl bekannte Emotionen in seinen philosophischen Deutungen neu, etwa die Liebe gedeutet als Menschenfreundlichkeit, die Verzweiflung gedeutet als Jasperssche Grenzsituation, die Trägheit (acedia) gedeutet als Gleichgültigkeit, die sich als Rücksichtnahme in gut gemeinte Absichten kleidet. Nur geht es Wiehl nicht darum, den seit Aristoteles in der Philosophie bekannten Emotionstheorien 29 eine weitere hinzuzufügen. 30 – Wiehl selbst spricht mitunter auch von philosophischen Affektenlehren. Er bezieht er die o. g. Basisemotionen zurück auf ihren philosophischen oder zeitgeschichtlichen Hintergrund, auf dem sie entwickelt bzw. problematisiert werden. Dazu bieten ihm Werke der Literatur gute Gelegenheiten, auf Exemplifizierungen von einzigartigen Affektschicksalen zu stoßen. Neben den schon erwähnten Figuren aus Goethes Faust – Gretchen und Faust selbst – haben ihn besonders Beatrices Liebe (Dante), aber auch Penthesileas Zorn (Kleist) und natürlich der Zorn des Achill sowie Odysseus Listen (Homer) fasziniert. In seiner breiten literarischen Lektüre ist er auf Jakob Wassermanns Romanfigur »Caspar Hauser« gestoßen. Der Untertitel »… oder über die Trägheit des Herzens« deutet eine schicksalhafte Emotionsgeschichte an, in der die Trägheit (acedia) der zentrale Affekt ist. Allerdings leidet Caspar Hauser nicht selbst an der acedia, sondern die sich ihm zuneigende MitVgl. unten S. 249 ff. Aristoteles, Rhetorik, B2 ff. 30 Die beiden letzten großen philosophischen Darstellungen der Emotionen oder Affekte, auf die Wiehl immer wieder zurückkommt, stammen von Spinoza und Nietzsche. Erstere findet man im Schlussteil von Spinozas Ethik, letztere ist aufgrund der aphoristischen Arbeitsweise auf das gesamte Werk Nietzsches verstreut. 28 29

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welt. Die Menschwerdung des Findelkindes Caspar Hauser scheitert und verliert sich im Ungewissen, weil die an ihm interessierten Mitmenschen, die meist zu den Gebildeten gehören, in ihm die natürliche Unschuld suchen und so an Caspar Hauser selbst kein Interesse haben. 31 Es handelt sich um eine Tragödie des Scheiterns der allseits bekannten »guten Absichten«, die sehr fein in allen ihren Verstrickungen und symbolischen Interaktionen auslegt wird. Im Sinne der philosophischen Hermeneutik Gadamers setzen die Aufsätze im mit »Ethik« überschriebenen Teil das Gespräch vor allem mit zwei Philosophen fort, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Nietzsche und Jaspers. Zunächst verwundert die Konzentration auf Nietzsche, aber für Wiehl teilen Nietzsche und Spinoza zwei ganz wesentliche Grundsätze; die durchgängige Unfreiheit des Menschen, anders gesagt, seine Fremdbestimmung durch Affekte und äußere Ursachen, und vor allem die These, dass die Vernunft nichts anderes als der stärkste Affekt ist. Zum anderen ist Nietzsche ein Gewährsmann für Wiehl, weil Nietzsche im Sinne historischen Takts (Gadamer) zwischen Platon als »dem zartesten Gewächs des Altertums« und dem Platonismus – damit meint Nietzsche vor allem das Christentum mit Jenseitsreligion und Diesseitsverneinung – zu unterscheiden weiß. Nietzsche ist der vehemente Kritiker des Platonismus und zugleich weiß er, dass er selbst mit dem originalen Platon viele Voraussetzungen teilt. Und schließlich gibt es noch eine Gemeinsamkeit die Wiehl an Nietzsche wie an Spinoza herausstellt: Die Liebe ist als amor dei intellectualis (Spinoza) bzw. als Eros der stärkste Affekt, die den Leib mit der Vernunft versöhnt. Neben Nietzsche dominiert Jaspers den Ethik-Teil. 32 Die ungewohnte Beschäftigung mit Jaspers verwundert nicht, denn Wiehl hat im Zuge seiner Präsidentschaft der Internationalen Karl-Jaspers-GeIm Unterschied dazu ist Faust alles andere als unschuldig; auf seinen Drang nach Freiheit weist Wiehl ausdrücklich hin – am Ende schlägt Fausts Tatendrang in Unfreiheit um, denn der blinde Faust schaufelt sich selbst das eigene Grab. So lange das Begehren zur Freiheit nicht mit der Selbsterkenntnis verbunden ist und so begrenzt wird, so lange bleibt der Mensch in der Unfreiheit – im Rahmen der ihn drängenden Mächte. 32 Wiehl weist in seiner Abhandlung Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz als Ethik (unten S. 358 ff.) eigens darauf hin, dass jeder Satz bei Jaspers auf Nietzsche zurückverweist und bei ihm gefunden werden könnte. Was Jaspers von Nietzsche nicht übernimmt, sind seine anstößigen und verunglimpfenden Übertreibungen. Dazu war Jaspers zu sehr strenger Ethiker. 31

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sellschaft (Basel) über Jahre hinweg Jaspers als Metaphysiker des 20. Jahrhunderts neu entdeckt. Am Ende ging es ihm vor allem darum, aus Jaspers einheitlichem Philosophiekonzept eine moderne Ethik zu entwickeln, die in unausgesprochenen Rückblick auf Max Weber die Verantwortung eines jeden aus zweierlei Hinsicht problematisiert – ethisch wie politisch. Gegen die übliche Gegenüberstellung des Ethischen als Sphäre des Privaten und der Politik als Sphäre des Öffentlichen betont Wiehl auch hier eine Zusammengehörigkeit von Ethik und Politik. Er scheut sich in der Darstellung der existentiellen Verantwortungsethik nicht, die von Jaspers in der legendären 1. Vorlesung des Wintersemesters 1945/46 gestellte Schuldfrage wieder aufzugreifen, obwohl diese Grundfrage Wiehl selbst existenziell betrifft. Immer wieder hat Wiehl betont, dass er diese Vorlesung für das beste hält, was Jaspers vorgetragen und veröffentlicht hat – gerade weil er in vierfacher Weise nach Schuld fragt, als persönliche, moralische, rechtliche und vor allem metaphysische Schuld. Es ist vor allem die metaphysische Schuld, die nach Wiehl am schwersten wiegt und der sich kein Deutscher entziehen kann. Mit Wiehls Aufsätzen zur Ethik kommen wir in der Wirklichkeit unserer Republik an. Im Unterschied zu den in der Literatur üblichen Deutungsschemata ist es weder die Schuld noch die Scham – als Verhalten (emotional) wie als Wert (ethisch) – sondern die Trägheit des Herzens (acedia), die das Zusammenleben in der BRD bis heute bestimmt. Wiehl entwickelt eine Akzentuierung der Trägheit des Herzens als Schweigen. Aus der vermeintlichen Rücksichtnahme den Nazi-Opfern gegenüber kann Schuldbewusstsein nicht entstehen, weil sich die junge BRD entschieden hatte, das Leid der Opfer totzuschweigen – ein Schweigen, das sich selbst vor sich ent-schuldigt und sich im Angesicht der Opfer als Rücksicht geriert. Weder die Opfer des NaziRegimes, noch deren Zeitgenossen oder die Nachfahren von beiden können auf diese Weise frei werden, frei von erlittenem Unrecht wie auch frei von zu verantwortender Schuld. Die Eigenart der vorliegenden Arbeiten liegt darin, dass sie den Charakter von Meditationen haben. In ihnen werden Erfahrungsräume eröffnet, die in vielen Dimensionen – ästhetischen, ethischen, emotionalen wie begrifflich kategorialen – beschrieben werden, ohne dass sie vorschnell auf Probleme reduziert werden, die scheinbar leicht lösbar sind. Die Vielheit und die Vielfalt von Erfahrung und der Reflexion auf Erfahrung wird so in einer modernen Philosophie des Konkreten auf27 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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zeigbar und in feinen Nuancierungen denkbar. Insofern haben wir den Glücksfall vor uns, dass philosophisch grundlegende Ansätze des 20. Jahrhunderts – die Prozessontologie Whiteheads, die Existenzialontologie Heideggers, die Phänomenologie Schelers, die philosophische Hermeneutik Gadamers – aufgenommen und weiter geführt werden. Zugleich wird der Rückbezug zu den Klassikern der Philosophie hergestellt, vor allem Platon und Spinoza. Nicht zum Selbstzweck oder zur Befriedigung eines Bildungshungers, sondern als der Versuch, ein vormals erreichtes Reflexionsniveau philosophischer Begriffsarbeit zu vergegenwärtigen und fruchtbar zu machen. In diesen großen Rahmen philosophischer Selbstverständigung gehören auch die Gefühle und Emotionen, unsere Erfahrungen mit ihnen sowie das Wissen des Menschen von ihnen. Es gibt gegenwärtig in Deutschland nur wenige, die einen solchen Zugang in dieser Breite und historischen Tiefe wagen würden. Wollte man abschließend die vorliegenden Arbeiten bündig charakterisieren, also die Frage entscheiden, ob sie Abhandlungen (Traktate), Begriffsanalysen, Reflexionen, Meditationen oder Essays sind, so könnte man die Bestimmung wählen, die der Autor mitunter selbst benutzt hat: Essays. Zu einem Essay gehört der schnelle Wechsel von Einfällen und gelungenen Formulierungen, ohne dass alle Konsequenzenn ausgeführt werden. Insbesondere die Arbeiten aus dem ersten Teil (Ontologie) sind auf einem hohen Reflexionsniveau, dem zu folgen und gewachsen zu sein, vom Leser einige Anstrengungen erfordert. In den frühen Aufsätzen liegen kleine Traktate vor uns, die keinerlei Rücksicht auf Lesbarkeit nehmen. Je näher wir den letzten Arbeiten Wiehls kommen, fällt eine Eigenschaft auf: Sie werden literarischer. Auf Wiehls späten Arbeiten trifft zu, was er selbst einmal von ihnen gesagt hat; sie sind Versuche einer philosophischen Schriftstellerei. Es vermählen sich aber nicht Philosophie und Literatur, sondern das Philosophieren wird literarisch. Es wird also keine fremde Schreibweise eingeübt, sondern sie ergibt sich aus dem meditativen Umgang mit philosophischen Fragestellungen, die er weiter entwickelt, indem er ihre Grenzen übersteigt. Letztlich liegen also Meditationen vor, die sich in eine große Tradition meditativer Philosophie (Descartes, Husserl, Wittgenstein) einreihen, Meditationen, die sich selbst immer als Gegenentwurf zu jeglichem Dogmatismus verstanden haben. In ihnen hat die hohe Begriffskunst der Reflexionslogik ebenso Platz wie die Erfahrung der Lebenswelt. 28 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Zur philosophischen Biographie In der Nikomachischen Ethik bringt Aristoteles in seiner Diskussion des Glücks (Eudaimonie) das berühmte Wort Solons: »Niemand kann glücklich genannt werden, so lange er lebt.« 33 Wir müssen nicht die Frage beantworten, ob man von Reiner Wiehl das sagen kann, was Wittgenstein seinen Schülern hat ausrichten lassen: »Sagen Sie ihnen, ich habe ein glückliches Leben gehabt.« Aber das Leben Reiner Wiehls war ohne Frage ein philosophisches. Das Wort Solons hat Gadamer einmal so gedeutet, dass nach dem Tod sich ein gelebtes Leben in ein Gebilde verwandelt, das dieses als Ganzes sichtbar macht. Das gilt für die Sichtweise der Zurückgebliebenen wie für das, was das Sterben und der Tod herbeiführt. Die Weiterlebenden tragen all das zusammen, was sie bis dahin in individuellen Gesprächen von dem Verstorbenen und über den Verstorbenen erfahren haben. Aus Gründen der Diskretion hat man zu Lebzeiten des Verstorbenen nicht offen darüber geredet. Erst nach dem Tode darf man dies, weil man beabsichtigt, dem Verstorbenen ein ehrenvolles Angedenken zu bewahren. Im Fall des Todes von Reiner Wiehl hat das eine eigene Tiefenschärfe dadurch erhalten, dass Hans Friedrich Fulda zwei bedeutende Reden gehalten hat, die den Nachlebenden die Augen geöffnet haben; die erste anlässlich des 80. Geburtstags für den Jubilar und die zweite gut ein Jahr später auf den Verstorbenen. Erst nach seinem Tod wurde insbesondere seinen Schülern klar, dass Reiner Wiehl ein Verfolgter des Nazi-Regimes war. Er hat nur fragmentarisch und oft nur in Andeutungen darüber geredet. Reiner Wiehl wurde wegen seiner jüdischen Herkunft als 11-jähriger vom Frankfurter Lessing-Gymnasium ausgeschlossen, im Alter von 14 Jahren wurde er deportiert und hat am Ende des Krieges an einem der berüchtigten Todesmärsche teilgenommen. Seine ihn lebenslang plagende Lungenkrankheit war vermutlich eine Spätfolge dieser Torturen. Nach 1945 wurde er wieder ins Lessing-Gymnasium aufgenommen, machte dort sein Abitur und begann sein Studium an der Frankfurter Universität. Über seinem Schicksal – wie über dem seiner Familie und Anverwandten – lag der bleierne Schleier des Schweigens. Von diesen traumatischen Ereignissen aus gesehen erhalten seine Arbeiten über jüdische Religionsphilosophie wie seine Beschäftigung 33

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29 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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mit Ethik und Anthropologie, mit Freiheit und Unfreiheit, mit Schuld und Verantwortung eine lebensgeschichtlich tiefe Bedeutung. Da redet und philosophiert ein Überlebender. Wenn er einmal und fast nur nebenher Sophokles zitiert: »Nichts ist ungeheurer als der Mensch!«, 34 dann meint er vielleicht auch die Tragödie der deutschen Geschichte, verfällt aber weder in eine Anklage, noch wird er moralisch. Reiner Wiehls akademischer Weg war sehr erfolgreich; er hat nach seinem Studium in Frankfurt und nach seiner Assistentenzeit bei Hans-Georg Gadamer zwei Ordinariate (Hamburg und Heidelberg) bekleidet, bekam in Zürich von der Margit-Egner-Stiftung einen philosophischen Preis zugesprochen, wurde Präsident der internationalen Karl-Jaspers-Gesellschaft (Basel) und hat sich in den letzten Jahre seines Lebens ganz seinen philosophischen Arbeiten gewidmet. Er hatte ein Buch über Methoden in der Philosophie in mehreren Kapiteln fertig und parallel dazu begonnen, eine Einführung in die Philosophie zu schreiben. Gelegentlich hat er noch Vorträge gehalten. Trotz schwerer Krankheit hat er an seinem philosophischen Arbeitsleben festgehalten. Aufstehen gegen sechs Uhr, asketisches Frühstück (ein Apfel), Arbeiten am Schreibtisch, nach zehn ein zweites Frühstück, dann Telefonate und Korrespondenz. Nach der Mittagspause philosophisches Studium, zur Teestunde Gäste und abends »Müßiggang« durch die abendländische Kulturgeschichte, insbesondere Musik und Literatur. Reiner Wiehl ist am 30. 12. 2010 im Alter von 81 Jahren in Heidelberg gestorben.

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Sophokles, Antigone 332

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I.Teil: Ontologie

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

I.

Ideenlogik und Vernunftkritik: Idee versus Begriff und das Prinzip der Formalisierung

Die Frage nach dem Sinn einer Logik der Ideen scheint auf den ersten Blick so unmittelbar negativ beantwortet werden zu müssen, dass es überhaupt nicht mehr bis zum Begriff einer solchen Logik kommt. Von einer Logik der Ideen zu reden, setzt ein Begriffsverhältnis und einen Unterschied voraus: zwischen dem Logischen in der Mannigfaltigkeit seiner Gestalten, den Begriffen, den Urteils- und Schlussformen einerseits und der Mannigfaltigkeit von Ideen andererseits. Von den beiden Seiten dieses Unterscheidungsverhältnisses scheint schon die eine Seite für sich, nämlich der Begriff der Idee im Unterschied zum Begriff des Begriffs soweit seine allgemeine Verbindlichkeit verloren zu haben, dass er nicht nur eine Bestimmung seines Verhältnisses zu seiner Gegenseite unmöglich zu machen scheint, sondern schließlich sogar seine Gegenseite, den Begriff des Begriffs, in den Strudel dieser allgemeinen Unverbindlichkeit mit hineinreißt. Ideen im Sinne reiner für sich seiender Wesenheiten und zeitlos unvergänglicher Wahrheiten scheinen aufgehört zu haben, als solche mögliche Gegenstände philosophischer Betrachtung, Erörterung und Darstellung zu sein. Dieser Begriff der Idee, der einmal das Höchste und Beste der allgemeinen Menschenvernunft, diese Allgemeinheit und Vernünftigkeit selbst umschreiben, benennen und darstellen sollte, scheint nur noch ein nominelles Dasein zu fristen: ein Dasein im luftleeren Raum reiner Spekulation und Abstraktion, das Dasein eines Namens von etwas und zugleich niemandes Namen. 1 Diese Spekulation und Abstraktion, deren Prinzip das An- und Fürsich-Sein ist (auto kat’hauto), scheint so nichtig und nichts sagend geworden, dass Abstraktion als eine Wahr1

Vgl. Plato, Sophistes 244 d.

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heitsbedingung der Philosophie überhaupt nicht mehr in Erscheinung treten kann, von der Spekulation ganz zu schweigen. Die Ideen scheinen ihre Sprache und damit zugleich ihre Logik verloren zu haben und damit stumm aus dem Bereich der so genannten Wirklichkeit herausgetreten zu sein, wenn auch unter Hinterlassung archäologischer Spuren. Auf diese Weise scheint der Unterschied im Verhältnis der Ideen und des Logischen, ja schließlich dieses Verhältnis im ganzen als ein bestimmtes, von bestimmten Inhalten getragenes hinfällig geworden. Es muss den Anschein haben, dass die Zeiten endgültig vorbei sind, da Ideen unbefangen die Rolle der Herren der Wahrheit spielen konnten, die Rolle der konkreten und selbstevidenten Wahrheiten, die, allgemein bekannt und anerkannt, sich der logischen Formen zum eigenen Schmucke und Dekor, zur Erhaltung und Vermehrung ihres Ansehens, zu ihrer Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung dienen konnten, ohne dadurch die leiseste Schwäche zu verraten. Vorbei zu sein scheinen müssen auch die Zeiten, da Ideen und Begriffe unbefangen miteinander umgingen im Sinne eines wechselseitigen Gebens und Nehmens, 2 der Messung der gegenseitigen Kräfte im freien Gedankenspiel, im Blick auf die Einzigkeit und Unteilbarkeit der Idee der Wahrheit und des Guten, und die Idee ihrer Erkenntnis. Dass solche Wechselverhältnisse der Ideen und Begriffe so wenig wie irgendein einzelnes, begrenztes Wechselverhältnis in jeder Hinsicht zeitlose Dauer haben könnten, hat sich bekanntlich zu Beginn der Philosophie der Neuzeit immer nachdrücklicher bemerkbar gemacht. Schon lange hatten die Ideen begonnen, den Schein der Herren der Wahrheit abzulegen und die Eigenschaften ihrer logischen Diener und vermittelnden Begriffe anzunehmen. An den Ideen Gott, Welt und Seele, den Grundideen der rationalen Metaphysik, 3 konnte sichtbar werden, auf welche Weise Ideen formal und abstrakt werden wie das Logische selbst. Ein allgemeines und allgemeinverbindliches Abstraktionsniveau hatte sich ausgebildet, welches in gewisser Weise die Ideen und die Begriffe in eine gemeinsame logische Dimension setzte, sie damit als gleichursprünglich anzusehen und Verhältnisse der All2 Vgl. R. Marten, Der Logos der Dialektik. Berlin 1965, S. 9 ff. Grundsätzlich auch zum Folgenden H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, S. 97 f.: Der Begriff des Spiels, und S. 105 ff.: Die Verwandlung ins Gebilde und die totale Vermittlung. 3 Vgl. K. Löwith, Das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes und Kant. Erichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Heidelberg 1964, 3. Abt.

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gemeinheit und Besonderheit zwischen ihnen zu bilden erlaubte. Diese Macht des Allgemeinen, des logischen Allgemeinbegriffs über die Ideen, war das Wahrheitsprinzip des philosophischen Rationalismus und der Aufklärung und bleibt es, sofern dieser Rationalismus nicht nur eine einseitige geschichtliche Gestalt der Philosophie, sondern ebenso auch ein zeitloses Begriffsmoment derselben ist. Dieses Wahrheitsprinzip beruhte aber auf einer unwillkürlichen und nicht reflektierten Voraussetzung: nämlich auf jener Formalisierung der allgemein herrschenden oder für herrschend anerkannten Grundideen, die sich in Gestalt eines solchen allgemeinen Abstraktionsniveaus gebildet hatte. Es ist Kants kritische Philosophie gewesen, welche dieses Wahrheitsprinzip des Rationalismus auf den Begriff seiner selbst, auf den negativen und kritischen Begriff des Transzendentalen gebracht und diesen im Hinblick auf die herrschenden Ideen in seinen verschiedenen Momenten entwickelt hat. 4 Kants transzendentale Logik ist unter diesem Aspekt die Erkenntnis jener allgemeinen Formalisierung der Grundideen Gott, Welt und Seele, dem logischen Prinzip nach und auf die in dieser Formalisierung gelegenen Wahrheitsmöglichkeiten und ihre Grenzen hin. Dieser von Kant entdeckte Begriff des Transzendentalen reicht in seiner Wahrheitsfunktion über die besondere Gestalt seiner Philosophie, deren Bindung an jene genannten Grundideen hinaus. Jener Begriff bezeichnet das allgemeine Abstraktionsniveau, welches sich unwillkürlich immer da bildet, wo Ideen und Begriffe in ein Wechselverhältnis philosophischer Erkenntnis eintreten, welches weiter reicht als nur bis zur unmittelbaren Affirmation und Bestätigung herrschender Ideen. Die begriffliche Darstellung jenes Begriffs heißt: Darstellung derjenigen allgemeinverbindlichen Formalisierung der Ideen, welche jenes Wechselverhältnis ermöglicht. In seiner »Allgemeinen Einführung in die reine Phänomenologie« unterscheidet Husserl grundsätzlich »die Verhältnisse der Generalisierung und Spezialisierung von den wesentlich andersartigen der Verallgemeinerung von Sachhaltigem in das rein Logisch-Formale bzw. umgekehrt der Versachlichung eines Logisch-Formalen«. 5 Aber Husserl vermag nicht Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) A 57: »Der Unterschied des Transzendentalen und Empirischen gehört also nur zur Kritik der Erkenntnisse und betrifft nicht die Beziehung derselben auf ihren Gegenstand.« 5 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch § 13. 4

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deutlich zu machen, ob überhaupt und wie diese beiden Methoden für die Philosophie und im Hinblick auf die Eigentümlichkeit ihres Gegenstands wesentlich zusammengehören und prinzipiell ineinander und durcheinander im Sinne und in der Absicht eines Erkenntnisbegriffs wirken. In diesem Punkt ist Kants Begriff des Transzendentalen von unvergleichlich höherer Deutlichkeit: nicht nur, sofern er die notwendige Zusammengehörigkeit jener beiden Momente, der Form einerseits und der Allgemeinheit andererseits, im Hinblick auf das Verhältnis von Begriff und Idee unter Beweis stellt, sondern darüber hinaus eine konkrete Darstellung einer bestimmten Formalisierung herrschender Grundideen (Gott, Welt, Seele) zum Zwecke der Ermöglichung allgemeiner Verbindlichkeit (Objektivität) gibt. Ganz allgemein und über die besondere Gestalt der Philosophie Kants hinaus wird so eine gewisse Möglichkeit und Notwendigkeit der transzendentalen Logik sichtbar. Sie beruht darauf, dass die Vorurteile und Voraussetzungen, die in den vorhandenen Gedanken- und Erkenntniswirklichkeiten verborgen wirken, dies nicht einfach in Gestalt ungeformter Inhalte an sich tun, sondern dass sie diese verborgenen Wirkungen in Gestalt bestimmter Formen ausüben, die ihrerseits die Folge verborgener Formalisierungen sind. Die Erkenntnis dieser Formalisierungen ist daher auch eine Bedingung der Möglichkeit, solche verborgen wirkenden Ideen nicht nur als solche zu erkennen, sondern als verschiedene durch den Begriff zu vergleichen, sie auf ihre Veränderungen und wechselseitigen Beziehungen zu betrachten. Eine transzendentale Logik ist daher soweit eine hermeneutische Logik, wie sie sich nicht auf die Herstellung formaler Beziehungen beschränkt, sondern die vorhandenen Inhalte auf ihre Formalisierung hin auslegt. Umgekehrt enthält jede Anschauung ihre immanente transzendentale Logik, sofern sie nicht einfach Vorhandenes auf seinen inhaltlichen Gehalt hin auslegt, sondern Inhalte auf ihre allgemeine Verbindlichkeit hin prüft, sie damit im Hinblick auf Gleichheit und Verschiedenheit vergleichend unterscheidet und sie damit bereits unwillkürlich formalisiert hat. Kants Begriff einer transzendentalen Logik reicht nicht nur in diesem allgemeinen Sinne über sich selbst hinaus, sondern auch durch die Besonderung dieser Logik in eine transzendentale Analytik und Dialektik, durch welche ein eigentümliches Doppelgesicht der philosophischen Wahrheit sichtbar wird: auf der einen Seite ist jene Formalisierung der Ideen, der Begriff der dadurch entstehenden allgemeinen Form, das Prinzip, welches im Hinblick auf das Verhältnis des Begriffs 36 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

eine allgemeine Verbindlichkeit ermöglicht, welche den Ideen an ihnen selbst abgeht. So ist die transzendentale Analytik eine »Logik der Wahrheit« 6 in dem Sinne, »dass ihr keine Erkenntnis widersprechen kann, ohne zugleich allen Inhalt zu verlieren.« 7 Und die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe beweist, inwiefern ein solches formal-inhaltliches Wahrheitskriterium aufgrund einer durchgehenden Formalisierung des ganzen menschlichen Erkenntnisvermögens möglich wird. Auf der anderen Seite zeigt sich aber ebenso die Kehrseite dieses Prinzips der durchgehenden Formalisierung. Und zwar zeigt sich nicht nur im Verlauf dieser konsequenten Formgebung, inwiefern die ursprünglich inhaltlich bestimmten Ideen aufgehört haben, als solche Inhalte selbstverständliche Wahrheiten und Wahrheitsgründe zu sein. Darüber hinaus ist es so, dass jene als Inhalte wirkende Ideen ihren Wahrheitsgehalt und ihre Begründungsfunktion gerade durch ihre Formalisierung allererst verlieren. So ist diese Formalisierung schließlich nur eine Bestätigung (Affirmation) und Bekräftigung des bereits stattgefundenen Verlusts allgemeiner Verbindlichkeit, der jener Affirmation bereits vorangegangen ist. Was sich von den Ideen ablöst als die zu rettende allgemeinverbindliche Wahrheit und als Wahrheitsgrund, ist so ein absolut reduzierter Inhalt: So bleibt von der Idee der menschlichen Seele nur der transzendentale »Begriff, oder wenn man lieber will, das Urteil: Ich denke« 8 bzw. »die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet« …, welches »nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll.« 9 Diese verschiedenen Aussagen Kants über das Bewusstsein »ich denke«, die sich eng neben einander in seiner ersten Kritik finden, könnten von unbestimmter Widersprüchlichkeit zu sein scheinen: dass es sich bei diesem Bewusstsein um einen Begriff handle und doch nicht um einen Begriff; um ein Urteil und doch nicht um ein Urteil; um eine Vorstellung und doch nicht um eine Vorstellung; um eine Form der 6 7 8 9

KrV, A 62 f. Ebd. Ebd., A 341 Ebd., A 346

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Erkenntnis, und doch in Wahrheit nicht um eine Form, sondern nur um einen leeren Inhalt. In Wahrheit aber ist die Mannigfaltigkeit dieser logischen Gestalten, welche jenes Bewusstsein anzunehmen fähig scheint, die Folge der Reduktion jener herrschenden und zugleich fragwürdig gewordenen Ideeninhalte Gott, Welt, Seele, auf eine absolute Form zur Ermöglichung allgemeinverbindlicher Erkenntnis, welche jene Ideen als solche überhaupt nicht begründen können. So ist jenes Bewusstsein durch die Beziehung auf die Ideen selbst ein transzendentaler Begriff der Vernunft, eine Idee, welche zur Tafel der Vernunftideen »gezählt werden muß, ohne doch darum jene Tafel im mindesten zu verändern«, 10 da sie deren reine Form ist, jene Inhalte allen Inhalts entleert vorstellt. So ist das Bewustsein »ich denke« als Vorstellung (repraesentatio) nur das Allgemeine, die Gattung für alle Vorstellungsarten überhaupt, unter die jede besondere und einzelne Erkenntnis formal subsumierbar ist. Sofern es Begriff ist, bildet es den Mittelbegriff eines Vernunftschlusses, welcher die Notwendigkeit verschiedener Erkenntnisgründe – Anschauung und Verstand formal betrachtet – zum formalen Begriff allgemeinverbindlicher Erkenntnis zusammenschließt. 11 Als ein solcher Mittelbegriff ist jene Vorstellung zugleich ein Urteil und darüber hinaus ein Prinzip der Wahrheit, welches in dieser absolut reduzierten Form den Inhalt der transzendentalen Analytik, der Logik der Wahrheit ausmacht. 12 Diese Logik der Wahrheit aber hat direkt eine Logik der Unwahrheit und des täuschenden Scheins zur Folge: Aus der transzendentalen Analytik geht eine transzendentale Dialektik hervor. Dieser Zusammenhang zwischen der transzendentalen Logik der Wahrheit und der des täuschenden Scheins entspringt aus der Gemeinsamkeit des Grundes der einen und der anderen; und zwar aus einer Gemeinsamkeit nicht nur dem Inhalte, dem materialen, stofflichen Grunde nach, sofern diese und jene Logik in der allgemeinen menschlichen Erkenntnisnatur ihren Ursprung haben; sondern ebenso und wesentlicher noch aus einer Gemeinsamkeit der Form, dem formalen Grund und transzendentalen Begriff nach, sofern jene allgemeine menschliche Erkenntnisnatur – einem Vorbegriff von ihr entsprechend – unter eine Ebd., A 341 Ebd. A 320. 12 Zur Auslegung des Bewusstseins »ich denke« als Begriff, Urteil, Mittelbegriff, Schluss und Idee vgl. Hegel, Glauben und Wissen, Werke I, S. 23–24, [Ausgabe »Freunde des Verewigten«], Berlin 1832 ff. 10 11

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allgemeine Form gesetzt und dem Ausmaß der Leerheit des Inhalts »ich denke« angemessen durchformalisiert ist. Im Hinblick auf die Wahrheit der »allgemeinen Logik« und ihr negatives Wahrheitskriterium hatte Kant festgestellt: Es »liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhaltes noch so leer und arm sein mag, dass jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der Tat dadurch gemißbraucht worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik«. 13 Diese mögliche Verwechslung eines Kanons der Beurteilung mit einem Organon zur Hervorbringung objektiver Behauptungen und die entsprechende mögliche Verwechslung von Wahrheit und Schein entspringt in der allgemeinen Logik daraus, dass diese von allem Inhalt, insbesondere aber von dem inhaltlichen Unterschied reiner und empirischer Erkenntnis absieht und Erkenntnis nur unter der ausschließlichen Form des reinen Verstandes betrachtet. Im Unterschied zu dieser Betrachtungsweise der allgemeinen Logik setzt die transzendentale Logik nur die reine, apriorische Gegenstandserkenntnis unter die reine Verstandesform. 14 Aber sie entgeht darum nicht der Möglichkeit jener Verwechslung von Wahrheit und trügerischem Schein. Im Gegenteil. Was für die »allgemeine Logik« nur eine Möglichkeit ist, dies, dass die durch eine konsequente Formalisierung ausgeschlossenen Unterschiede sich nicht zugunsten der Wahrheit der entstandenen Form geltend machen, sondern gegen diese, wird in der transzendentalen Logik zu einer unvermeidlichen Notwendigkeit. Denn hier sind einerseits alle Momente einer reinen, apriorischen Gegenstandserkenntnis: Anschauung, Verstand und Vernunft unter die einheitliche Form des Verstandes gebracht, ohne dass dadurch verhindert würde, dass die Formen der Anschauung und der Vernunft, in der Verschiedenheit ihrer Erkenntnisfunktionen, sich nicht nur für, sondern auch gegen die Form des Verstandes geltend machen. Auf diese Weise entsteht ein unvermeidliches Doppelgesicht der Wahrheit, dargestellt durch eine Logik der Wahrheit (Analytik) und eine Logik des Scheins (Dialektik). Etwas von diesem Doppel13 14

KrV, A 60 f. Ebd., A 55 ff.

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gesicht der Wahrheit verrät sich in der doppelten Bedeutung des Wortes absolut, auf die Kant ausdrücklich hinweist: »Das Wort absolut wird jetzt öfters gebraucht, um bloß anzuzeigen, daß etwas von einer Sache an sich selbst betrachtet und also innerlich gelte. In dieser Bedeutung würde absolutmöglich das bedeuten, was an sich selbst (interne) möglich ist, welches in der Tat das wenigste ist, was man von einem Gegenstande sagen kann. Dagegen wird es auch bisweilen gebraucht, um anzuzeigen, daß etwas in aller Beziehung (uneingeschränkt) gültig ist (z. B. die absolute Herrschaft), und absolutmöglich würde in dieser Bedeutung dasjenige bedeuten, was in aller Absicht in aller Beziehung möglich ist, welches wiederum das meiste ist, was ich über die Möglichkeit eines Dinges sagen kann.« Kant bemerkt dabei ausdrücklich, dass beide Bedeutungen »manchmal zusammentreffen« – z. B. ist, was innerlich unmöglich ist, auch in aller Beziehung unmöglich – dass die beiden Bedeutungen »aber in den meisten Fällen sind sie unendlich weit auseinander ….« 15 Eben dies letztere gilt nun offenkundig in besonderem Hinblick auf die Ideen der reinen Vernunft und ihre Wahrheitsfunktionen in der Erkenntnis, sofern ihre logische Form das Absolute ist. So sind die reinen Vernunftideen zur Einheit einer Vorstellung »ich denke« formalisiert, Prinzipien von Vernunftschlüssen, welche die Verstandeserkenntnis allererst zu einer durchgängigen Einheit mit sich selbst und mit ihrem Gegenstand, dem gegebenen Mannigfaltigen der reinen Anschauung, verbinden und dadurch allererst eine durchgängige und wesentliche Einheit der gegenständlichen Welt ermöglichen. Auf der anderen Seite aber bilden sie in ihrer scheinbar entformalisierten Gestalt, in der scheinbar ursprünglichen Mannigfaltigkeit ihrer inhaltlichen Bedeutungen Gott, Welt und Seele, Prinzipien für ein System von Vernunftschlüssen, deren Konklusionen, als objektive Behauptungen verstanden, nur leere und nichts sagende bzw. notwendig widerspruchsvolle und irreführende Sätze bilden, die durch keinerlei Erfahrung nachprüfbar und beweisbar, und darum auch prinzipiell keine wahren Erfahrungsgehalte menschlichen Wissens werden können, jedenfalls nicht im Bereich eines reinen theoretischen Wissens. Allenfalls vermögen sie ein Interesse der Vernunft in diesem oder jenem Sinne zu provozieren, sei es spekulativer oder praktischer Art. 16 15 16

Ebd., A 324 Ebd., A 466 ff.

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

Die reine Vernunftidee stellt, ihrer entformalisierten Form nach betrachtet und objektiv gesehen, ein »Maximum der Abteilung und Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip« dar, subjektiv gesehen ein »Maximum der Vernunft, d. h. einen subjektiven Grundsatz, der auf einem spekulativen bzw. praktischen Interesse der reinen Vernunft beruht.« 17 Ideen aber fallen, wie sich bereits an ihrem formalisierten Begriff, der Vorstellung »ich denke«, zeigte, unter die Gattung »Vorstellung« (repraesentatio), und als eine solche Vorstellung bezeichnet eine reine Vernunftidee etwas, »was schlechthin groß ist (absolute, non comparative magnum) …«, d. h. »was über alle Vergleichung groß, und dem gegenüber Natur als Inbegriff der Erscheinung von Gegenständen gering erscheinen muß.« Eben dies ist die Vorstellung des Erhabenen, welche die menschliche Erkenntnis über alle Grenzen der Erfahrung hinausführt, »jeden Maßstab der Sinne übertrifft«, 18 und die Möglichkeit einer Erweiterung der menschlichen Vernunft enthält. Im objektiven Verstandesgebrauch müssen die Vernunftideen leer und nichts sagend bleiben. Sie sind Absoluta in dem Sinne, dass sie das Wenigste und nicht das Meiste enthalten, was sich von einem Begriff sagen lässt. Sie erscheinen dem spekulativen Interesse der Vernunft nicht nur als zu groß, sondern ebenso sehr auch als zu klein. 19 »Buchstäblich genommen und logisch betrachtet, können Ideen nicht dargestellt werden« 20 oder sind allenfalls einer »negativen Darstellung« fähig. 21 Diesen der Objektivität ermangelnden und nach Maßstäben solcher Objektivität negativen und nichtigen Charakter der Vernunftideen aufzuweisen, gehört im Rahmen einer Kritik der reinen Vernunft zur Aufgabe der transzendentalen Dialektik, dieser Logik des Scheins, welche, als Kritik dieses Scheins, ein notwendiger Bestandteil einer Logik der Wahrheit ist. So enthält der Übergang aus der »transzendentalen Analytik« in die »transzendentale Dialektik« in der Kritik der reinen Vernunft »die Tafel einer Einteilung des Begriffes von Nichts«, deren Einteilungsprinzip dem der Einteilung des Begriffs von Etwas analog, nämlich nach der Tafel der Kategorien geordnet ist und

17 18 19 20 21

Ebd., A 665 f. Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU), § 25. KrV, A 489 KdU, § 29, S. 115 Ebd. S. 124

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I. Ontologie

insofern einen Leitfaden zur Selbstkritik der transzendentalen Analytik wie zur Kritik der transzendentalen Dialektik abzugeben vermag.

II.

Die Kritik des spekulativen Begriffs am Begriff des Transzendentalen: Die Verwechslung der absoluten Negation mit den einfachen und doppelten Negationen

Hegels Kritik an Kants Transzendentalphilosophie kann und muss unter dem Gesichtspunkt einer Kritik an der mangelhaften Kohärenz und Konsistenz der letzteren gesehen werden. Im Sinne einer solchen Kritik hat Hegel selbst seine eigene spekulative Philosophie als die zum Begriff und zur Erkenntnis ihrer selbst gelangte Transzendentalphilosophie aufgefasst, welche ihr eigenes »spekulatives Interesse« und »Bedürfnis« befriedigt. Seine berühmte Kritik an der angeblichen Unerkennbarkeit des Ansich-Seins der Dinge bildet die allgemeine Formel und das Prinzip jener kritischen Auseinandersetzung. Hier kommt es nur auf die wichtigsten Folgen dieser Kritik für den Begriff der Ideenlogik und damit für das Verhältnis von Begriff und Idee an: Hegels Kritik an Kants Ideenlehre richtet sich nicht gegen die dort zugrunde liegenden und zugrunde gelegten Ideen der reinen Vernunft als solche und ihrem Inhalt nach, sondern gegen den logischen Zustand, in dem sie sich dort durchgängig befinden. Jene Kritik richtet sich auch nicht gegen die Bestimmung der Aufgabe der Philosophie im Sinne einer Kritik der reinen Vernunft, sondern dagegen, dass diese Kritik sich unkritisch gegen sich selbst und gegen ihre eigene innere Vernünftigkeit dadurch verhält, dass sie die Formen des Verstandes, die Kategorien, zu den ausschließlich oder wenigstens vorherrschend maßgebenden Formen der Wahrheit macht, diesen Formen also die anderen Formen der Erkenntnis, die der Anschauung und der Vernunft subsumiert und selbst da noch unterordnet, wo sie diesen gerade eine eigentümlich eigene Wahrheitsgeltung verschaffen will. 22 Sie richtet sich dagegen, dass die logischen Formen, in denen sich Kritik überhaupt, insbesondere aber philosophische Selbstkritik äußert und wirksam wird, nicht zur direkten Darstellung kommt, dass also unerkennbar bleibt, wie verschieden sich die Negation als die Grundform aller Kritik gegen die verschiedenen kritisch betrachteten Erkenntnisvermögen und deren 22

Hegel, Glauben und Wissen (GuW), loc. cit.

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

logische Formen verhält. Solche verschiedenen Verhältnisse der Negation wären solche der einfachen und doppelten Negation, also verschiedene Verhältnisse einer absoluten Negation im Verhältnis zu den verschiedenen Formen der Erkenntnis. Eine solche Darstellung würde die Darstellung der möglichen Vernunftverhältnisse im Sinne der möglichen selbstkritischen Vernunftverhältnisse, der Form nach betrachtet, sein. Wenn Hegels Kritik sich mit immer wiederholter Schärfe gegen die Jenseitigkeit der Vernunftideen, gegen ihre Abtrennung von der Welt der Erfahrung durch Kants Transzendentalphilosophie gewandt hat, wenn er nicht den Spott verschmäht hat, um den Begriff des Erhabenen als den des Lächerlichen bloßzustellen, 23 so einmal im Hinblick auf jene Vernunftverhältnisse der Formen der Negation, welche, jenseits der Welt der Erfahrung versetzt, alle Vernunft im Sinne der Selbstkritik unmöglich machen würden; zum anderen, weil der »natürlichste« logische Zustand der Ideen darin liegt, Erfahrungsgehalte aufbewahrt in ihrem Inneren zu enthalten, und weil, solche Erfahrungsfülle zur Möglichkeit der Wiedererinnerung aufbewahren zu können, überhaupt die spezifische Differenz ihrer Form gegenüber der Form der reinen Verstandesbegriffe ausmacht, deren Verhältnis zur Welt der Erfahrung durch ihr Verhältnis zu den Ideen und deren Erfahrungsgehalten bedingt ist. Nur aufgrund der in ihrem Inneren aufbewahrten Erfahrungen ermöglichen die Vernunftideen mittels ihrer Form der Unbedingtheit und Absolutheit, dass jene Formen des Verstandes zu Bedingungen möglicher Erfahrung werden, wie überhaupt Ideen als Prinzipien theoretischer und praktischer Vernunftbetätigung dadurch wirken, dass sie die in ihnen aufgehobenen und bewahrten Erfahrungen mittels ihrer Form der Unbedingtheit und Absolutheit in diesem oder jenem Sinne, sei es positiv oder negativ, zur Geltung bringen. Negationen, als Formen der reinen Vernunft verstanden, unterscheiden sich von ihnen selbst, im Sinne reiner Verstandesformen genommen, dadurch, dass sie die kritisch aufbewahrten Erfahrungen in einem kritischen Zustand befindlich vorstellen. Die verschiedenen Arten der Negation sind daher, als Formen der Vernunft verstanden, Vorstellungen (repraesentationes) verschiedener Arten von Krisen einer Erfahrung. So ist die absolute Negation die Vorstellung einer Krise, welche die absolute Distanzierung und Lossagung von einer Erfahrung zur Folge hat. Diese Form absoluter Lossagung stellt daher einen Vernunft23

Hegel, Wissenschaft der Logik (WdL) I2 , ed. Lasson 1934, S. 226 ff.

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inhalt dar, welcher die allgemeine Form für alle Arten von Negation, diese im Sinne reiner Verstandesformen betrachtet, bildet, sofern es den Begriff der reinen Verstandesform ausmacht, von allem Erfahrungsgehalt befreit zu sein. So wie jedes Verhältnis von Form und Inhalt Anlass zu mancherlei Verwechslungen zwischen seinen beiden Momenten gibt, so gilt dies vorzüglich auch für die Form der absoluten Negation, welche einerseits die besondere Eigentümlichkeit der Vernunftform, andererseits das Allgemeine für die verschiedenen negativen Verstandesformen ausmacht. Was sich unter diesem grundsätzlichen Gesichtspunkt Hegelscher Spekulation für die Wahrheit der Transzendentalphilosophie zu ergeben scheint, ist folgendes: Diese beruht auf der bestimmten Voraussetzung eines logischen Zustands der herrschenden Vernunftideen, 24 den sie, angesichts der Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit im Verhältnis der Ideen, dem Wesen der Vernunft nicht angemessen findet, diesen Zustand vielmehr als einen Widerspruch gegen die Vernunft und als eine Verletzung ihres Wesens erfährt. Der transzendentalphilosophische Begriff versteht sich daher als die absolute Negation eines logischen Zustands der Ideen in Gestalt der so genannten Kopernikanischen Wende, nachdem er einmal jenen Zustand als der absoluten Veränderung notwendig bedürftig erkannt hat: nicht einer Veränderung in dieser oder jener Hinsicht, sondern einer absoluten Veränderung bedürftig, d. h. einer absoluten Negation, die nicht nur dieses oder jenes an dem vorhandenen Zustand zu bemängeln hat, sondern ihn im ganzen und absolut negiert. Aber in diesem Selbstverständnis erkennt jener Begriff nicht hinreichend das Wesen der absoluten Negation, eine Form der Vernunft und eine Erfahrung des Wesens derselben zu sein. Er unterscheidet nicht ihre allgemeine Form, die Negativität, von deren besonderer Gestalt, der Subjektivität. Er erkennt deswegen auch nicht, dass er, sowohl der Form als auch dem Inhalt nach, eine Erfahrung dessen, was Vernunft ist und sein kann, zur eigenen Grundlage hat. Deswegen kann er, als Kritik der reinen Vernunft, den logischen Zusammenhang unter seinen ihm zugrunde liegenden Erfahrungen nicht hinreichend erkennen, obwohl er diese Erfahrungen aufgehoben in sich enthält. Sofern die der absoluten Negation zugrunde liegenden Erfahrungen bereits kritische Erfahrungen Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, Werke I, 172, Berlin 1832 ff.

24

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und in einem absolut kritischen Zustand befindlich sind, sofern die herrschenden Vernunftideen also bereits angefangen haben, ihre natürlichen Erfahrungsgehalte zu verlieren, und diese Geschichte der Erfahrungsverluste also bereits in vollem Gange befindlich, wenn nicht sogar zum Abschluss und Stillstand gekommen ist, wird die absolute Negation nichts verändern, was nicht bereits in ihrem Sinn verändert wäre. Denn ihr Prinzip ist die allgemeine und durchgehende Formalisierung des ganzen Vernunftvermögens zum Zweck der Kritik desselben, und eben eine solche Formalisierung liegt ihr bereits zugrunde als etwas, was bereits stattgefunden hat, und insofern zu ihrer Grundlage gehört, möglicherweise die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit ausmacht. Die einzig mögliche Veränderung, zu der sich die absolute Negation imstande sieht, ist also offenkundig bereits erfolgt. Eine absolute Negation, diese absolute Kritik und Lossagung von herrschenden Ideen, ist durch ihre Form des Absoluten nicht zugleich eine in jeder Hinsicht unbedingte Negation. Das Absolute und das Unbedingte sind ihrer Form und ihrem Begriff nach nicht einfach dasselbe. 25 Die absolute Trennung und Distanz von dieser und jener Erfahrung hängt wesentlich von Bedingungen ab, die den logischen Charakter der Negation mitprägen, insbesondere von Bedingungen des bestimmten Begriffs und der Erkenntnis eben jener Bedingungen selbst. Es macht das Wesen der absoluten Negation aus, einen solchen Vorbegriff von den eigenen Bedingungen zu enthalten, wie auch, angesichts dieses Vorbegriffs und Vorurteils, eine eigene Absicht oder einen Zweck. Die Frage nach der möglichen Vollständigkeit und Wahrheit eines solchen Begriffs ist damit ebenso wenig entschieden, wie die nach dem Sinn oder Unsinn des entsprechenden Zwecks. Sofern die absolute Negation eines jeden derartigen Begriffs und eines entsprechenden Zwecks ermangelt, hört sie auf, die Grundform der Kritik der erkennenden Vernunft zu sein. Sie ist dann nur noch einfache Negation, welche der absoluten zum Verwechseln ähnlich sieht, wie überhaupt das Einfache und das Absolute. Als einfache Negation ist sie zunächst aber nur Feststellung eines Nichtseins und insofern Affirmation einer Negation, Bestimmung von etwas durch Negation und insofern Limitation. Nicht mehr aber ist sie dann die Grundform aller Kritik. Was allenfalls Mittel zu einem Zweck sein könnte, ist dann zum Selbstzweck geworden. Die absolute Negation in Gestalt der Koper25

Hegel, WdL II, S. 160, und Kant, KrV, A 324

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I. Ontologie

nikanischen Wende der Transzendentalphilosophie Kants erwies sich unter dem hier betrachteten Gesichtspunkt als eine solche, welche den vorliegenden logischen Zustand der Ideen als absolut veränderungsbedürftig und dem Wesen der Vernunft unangemessen begriffen hatte, ohne dabei hinreichend zu erkennen, ob und inwiefern dieser Zustand bereits in eben demselben Sinne verändert war, auf den sie selbst alleine und ausschließlich abzielen konnte: nämlich im Sinne einer durchgehenden Formalisierung zur Ermöglichung allgemeiner Verbindlichkeit. Unter solchen Umständen musste jene absolute Negation leer und ohne jeden bestimmten Inhalt zu sein scheinen. Tatsächlich ist aber diese Leerheit und unbestimmte Nichtigkeit nur die äußere Erscheinungsform, durch welche die absolute Negation in diesem Falle der einfachen Negation zum Verwechseln ähnlich sieht. Vielmehr hat die absolute Negation an dieser Leerheit einen wesentlichen Inhalt, der mehr sagt als irgendeine einfache inhaltliche Unbestimmtheit: sofern diese Leere und Nichtigkeit nämlich die Folge eines bestimmten Begriffs von den Voraussetzungen und Bedingungen jener Negation und die Folge eines entsprechend gesetzten Zwecks ist; und sofern darüber hinaus die entstandene Leere nicht nur einfach da und vorhanden ist, vielmehr die Leerheit und Nichtigkeit eines Grunds bildet, welche alles andere als wesenlos sein kann: wenn etwa eine erwartete Wirkung ausbleibt und stattdessen nur einen Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Wirklichkeit, Sollen und Sein sichtbar werden lässt. Wenn hier von einer Unversöhnlichkeit zwischen dem Zweck und der Wirklichkeit der absoluten Negation die Rede ist, so doch zunächst nur in einem besonderen Sinne: Nicht, weil unüberwindliche Schwierigkeiten der absoluten Negation als Form der Kritik im Wege stünden, verwirklicht sie ihren Zweck nicht, sondern weil bereits geschehen ist, was erst geschehen soll, weil der gesetzte Zweck auf einer trügerischen Auslegung des Gegebenen beruht, dass noch nicht geschehen sei, was bereits geschehen ist. Auf diese Weise verkehrt sich aber die absolute Negation ihrem Wesen nach in ihr Gegenteil. Während ihr Zweck die absolute Veränderung des logischen Zustands der Ideen ist, ist ihre Wirkung die entgegen gesetzte: sofern sie überhaupt etwas bewirkt, ist diese Wirkung nicht die absolute, qualitative Veränderung; vielmehr verstärkt sie nur eine bereits vorhandene Tendenz in der Entwicklung jenes Zustands und treibt die vorhandene Bewegung des Verhältnisses von Begriff und Idee in der gleichen, gegebenen Richtung weiter. Anstatt absolute, wahre Kritik zu sein, wirkt 46 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

sie vielmehr im entgegen gesetzten Sinn der Affirmation und Bestätigung des vorhandenen Zustands. Dass dieser bereits ein negativer und kritischer Zustand ist, reicht nicht hin, die Kritik desselben zu einer wahren und absoluten zu machen. Ohne einen Erkenntnisbegriff von ihren eigenen Bedingungen und von deren Begriffszusammenhang mit den Ursachen und Gründen des Negierten ist eine solche Negation und Kritik der Form nach zwar ein Absolutes, der Wirklichkeit nach aber nur die Negation einer Negation, welche noch keine wirklich absolute Negation macht. Im Gegenteil. Die Negation der Negation ist zunächst eine selbstverständliche Wahrheit des Verstandes, welche unmittelbar ein Positives zur Folge hat. Dieses Positive aber kann ebenso wie sein Ursprung, die doppelte Negation, mit dem Begriff der absoluten Negation verglichen, nur etwas Äußerliches und Formelles sein. Gerade weil aber die Negation der Negation ihrer bloßen Form nach absolute Negation ist, verwechselt sie sich mit dieser und erweckt den Anschein absoluter Kritik. In Wahrheit aber ist durch diese Art von Kritik an dem Bestehenden überhaupt nichts verändert. Vielmehr sind nur die verschiedenen Verhältnisse der Negation, Verhältnisse der Realität und Negation, des Positiven und Negativen, und damit alle Wahrheitskriterien der Kritik durcheinander gebracht, und es ist auf diese Weise nicht mehr zu erkennen, inwiefern das eine und das andere Kriterium diese oder jene Gültigkeit hat und auf welche inhaltlichen Bestimmungen es sich schließlich überhaupt bezieht.

III. Die Kritik am formalen Denken Hegels Kritik an Kants Transzendentalphilosophie hat sich bekanntlich immer wieder gegen die Leerheit des formalen Denkens gewandt, dagegen, dass dort die Ohnmacht der Vernunft gegenüber der Herrschaft des Verstandes demonstriert, eine Wahrheit nur auf Kosten einer anderen Wahrheit bewiesen werde und dieser Zustand auf alle Verhältnisse der Erkenntnis übertragen sei. Sie richtet sich gegen die Verkennung des Wesens der absoluten Negation und ihres Unterschieds gegen die einfachen und doppelten Negationen, gegen die Verkennung der Wahrheit dieser Unterscheidung als Wahrheit des spekulativen Begriffs, welcher das Prinzip einer Vernunftkritik bildet: also gegen das Fehlen eines Erkenntnisbegriffs von den Begriffszusammenhängen unter den Bedingungen einer Kritik der reinen Vernunft und den 47 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

Ursachen des vorgefundenen kritischen und kritisierten logischen Zustands der Vernunft. Insbesondere kritisiert Hegel, dass als Folge dieses fehlenden Begriffs für den transzendentalphilosophischen Begriff Zweck und Wirklichkeit unversöhnt und scheinbar schlechthin unversöhnlich auseinander fallen und dadurch alle vorkommenden Begriffsunterscheidungen mit diesem scheinbar unversöhnlichen Gegensatz durchziehen: Solche unversöhnlichen Differenzen bilden die Unterschiede von Sein und Sollen, von Erfahrung (Empirie) und Form, von Aposteriorität und Apriorität, Ansich-Sein und Erscheinung, von Bedingtheit und Unbedingtheit; und schließlich sogar, von besonderer Bedeutung im Hinblick auf alle diese Differenzen: der Unterschied von Unterscheidung und Selbigkeit selbst, von Analysis und Synthesis. Diese Kritik Hegels an Kants Transzendentalphilosophie, dass diese das Prinzip der Subjektivität und des formalen Denkens zum höchsten Wahrheitsprinzip erhebe und dieser Schwäche des formalen Begriffs geradezu »geständig« 26 sei, ist aber missverständlich. Sie richtet sich nicht gegen den Begriff der Subjektivität, noch gegen das Prinzip des formalen Denkens im Sinne einer durchgehenden Formalisierung des Vernunftvermögens, d. h. durch eine Formgebung der reinen Vernunft durch sie selbst, sondern gegen die Art und Weise, in der diese Prinzipien zur Anwendung kommen. Sie richtet sich nicht einmal gegen die Leerheit dieser Prinzipien als solcher, sondern dagegen, dass diese Leerheit ohne Begriff von ihren eigenen Gründen und Folgen bleibt und daher als der einzig wahre Zustand des Begriffs erscheinen muss: dass also nur scheinbar der leere Inhalt, die Vorstellung »ich denke« ein Absolutes sei, wie auch die leere Negation als Form der Vernunftkritik nur dem äußeren Anschein nach absolute Negation. 27 So ist die Vorstellung »ich denke«, dieses Bewusstsein, welches alle meine Vorstellungen muss begleiten können, unter die Bedingungen a priori des Erkennens gemischt, einerseits etwas gänzlich Überflüssiges, sofern sie, als ein bestimmter Inhalt verstanden, nichts zur Objektivität des Inhalts der Erkenntnis, d. h. des Erkannten beitragen kann und darf. Insofern scheint sie aus gutem Grunde ohne Inhalt zu sein. Andererseits ist sie aber auch als Form überflüssig, sofern sie unabhängig davon, auf welche Weise sie Bedingung a priori der Erkenntnis ist, als etwas LeeGuW, S. 18 f. Kants »Geständigkeit« des formalen Denkens vgl. u. a. KrV, A 491 Anm., A 707. 27 Ebd., S. 17 26

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res vorgestellt wird, so dass ihre Leere weder aus der Art ihrer Formgebung und einer bestimmten Wechselwirkung ihrer Form mit dem zu formenden Inhalt, noch aus den Gründen der Formgebung und dem Begriffszusammenhang derselben mit den Bedingungen des Gegebenen als eines gegebenen Formlosen begriffen ist. Insofern widerspricht die Vorstellung, der leere Inhalt »ich denke« geradezu dem Begriff eines Selbstbewusstseins und kann vielmehr als ein beredter Ausdruck dafür genommen werden, wie die Unterscheidung von Form und Inhalt, des Transzendentalen und Empirischen – als Prinzip einer Kritik der reinen Vernunft verstanden – kein hinreichendes Wahrheitskriterium zur Verwirklichung einer derartigen Kritik abgibt; wie vielmehr die leere Vorstellung »ich denke« von der Wahrheitsfunktion der absoluten Negation als Grundform der Kritik abzulenken imstande ist, sofern an ihr selbst überhaupt keine kritische Funktion zu erkennen ist.

a)

Kants Begriff einer allgemeinen angewandten Logik und deren äußerliches Verhältnis zur transzendentalen Elementar- und Methodenlehre

Die Kritik an der Formalität transzendentalphilosophischen Denkens will also zunächst sagen, dass dessen Formalisierung nicht »gründlich« genug, d. h. nicht weit genug auf die Begriffe ihrer eigenen Voraussetzungen und damit auf die vorausgesetzten begrifflichen Grundunterscheidungen erstreckt sei: dass insofern Form und Inhalt nur formal unterschieden seien und daher entsprechend auch alle anderen Begriffsunterscheidungen; dass unter diesen das ausschließliche Verhältnis der »formalen Identität«, der reinen Tautologie herrsche;28 dass aber die Irrtümer und Täuschungen, die durch die kritische Unterscheidung der Form und des Inhalts von der Erkenntnis abgehalten werden sollen, sich dadurch wieder in die Erkenntnis hineinschleichen, dass jene Unterscheidung eben formal bleibt und insofern den Beweis ihrer eigenen Wahrheit schuldig bleiben muss, den sie nur dadurch antreten könnte, dass sie sich ihrerseits von einem gegebenen Inhalte unterscheidet und sich mit diesem auseinandersetzt. Es fehlt daher der formalen Identität als dem Wahrheitsprinzip der reinen Form die Auseinandersetzung und Wechselwirkung mit dem Verschiedenen, dem 28

Ebd. S. 28 ff.

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I. Ontologie

Ungleichartigen und Gegensätzlichen als den formalen Wahrheitsprinzipien unmittelbarer Erfahrung und Aposteriorität. 29 Daher bleibt die allgemeine Verbindlichkeit der Erkenntnis, welche durch die Formgebung der Vernunft kritisch erforscht und begründet werden soll, von formaler Allgemeinheit und deswegen der aus dieser Allgemeinheit entspringende Kanon einer kritischen Beurteilung der Erkenntnis in seiner Anwendbarkeit unbestimmt. Diese Unbestimmtheit verrät sich insbesondere in der Unbestimmtheit des Verhältnisses der transzendentalen Elementar- und Methodenlehre, welches ebenso wie alle Begriffsverhältnisse innerhalb desselben über eine formale Identität nicht hinauszukommen scheint, 30 andererseits seine Äußerlichkeit dadurch verrät, dass es den Begriff einer »allgemeinen angewandten Logik« übrig lässt, welche im Unterschied zur »allgemeinen reinen« und zur »praktischen Logik« überhaupt keine transzendentalphilosophische Entsprechung findet und »niemals eine wahre und demonstrierte Wissenschaft abgeben kann, weil sie empirischer und psychologischer Prinzipien bedarf« und deswegen »auch weder ein Kanon des Verstandes überhaupt, noch ein Organon besonderer Wissenschaften, sondern lediglich ein Kathartikon des gemeinen Verstandes« ist. Diese allgemeine angewandte Logik ist »(wider die gemeine Bedeutung dieses Wortes, nach der sie gewisse Exerzitien, dazu die reine Logik die Regeln gibt, enthalten soll) eine Vorstellung des Verstandes und der Regeln seines notwendigen Gebrauchs in concreto, nämlich unter den zufälligen Bedingungen des Subjekts, die diesen Gebrauch hindern, und die insgesamt nur empirisch gegeben werden«. 31 Es wird sich im folgenden, zeigen, dass diese allgemeine angewandte Logik, welche nach Kant niemals wahre und demonstrierte Wissenschaft werden kann, ungeachtet der »empirischen Bedingungen«, die in sie eingehen, einer objektiven Demonstration in concreto fähig ist, und daher nicht nur als »Kathartikon des gemeinen Verstandes«, sondern auch und in Einklang mit dieser Rolle als Kanon des reinen Verstandes dienen kann.

29 30 31

Ebd. S. 31. KrV, A 707–712. Ebd., A 54–55.

50 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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b)

Der Gegenstand der transzendentalen und der allgemeinen reinen Logik als Beziehung von Etwas und Anderem

Eben jene Unbestimmtheit und Äußerlichkeit im Verhältnis der transzendentalen Elementar- und Methodenlehre und der allgemeinen angewandten Logik wiederholt sich im Verhältnis der transzendentalen zur »allgemeinen reinen« Logik, 32 um sich weiter in der innerlichen Unterscheidung der transzendentalen Logik in eine entsprechende Analytik und Dialektik und in deren Begriffsunterscheidungen fortzusetzen. So unterscheidet sich die transzendentale von der allgemeinen reinen Logik durch eine besondere Art von besonderem Verstandesgebrauch. Denn sie sieht nicht wie die allgemeine reine Logik von jedem Unterschied in der Ursprungsart der Erkenntnis ab, um diese ausschließlich auf ihre innere Form des reinen Verstandes hin zu betrachten, sondern sie untersucht die Erkenntnis hinsichtlich ihrer apriorischen Gültigkeit auf die Mannigfaltigkeit ihres Ursprungs und auf die entsprechende Verschiedenheit der Formen dieses Ur-Sprungs hin. 33 Die Besonderheit ihres Gegenstands liegt infolgedessen auf einer anderen Linie, in einer anderen Dimension als die Besonderungen des allgemeinen Verstandesgebrauchs, welch letzterer den Gegenstand der allgemeinen reinen Logik und in seiner Besonderung »das Organon dieser oder jener Wissenschaft« 34 ausmacht. Die Besonderheit des Gegenstands der transzendentalen Logik entspringt vielmehr aus der allgemeinen, reinen Vernunft, ist also letzten Endes irgendwie die Besonderung einer allgemeinen, aber aufgehobenen und daher kritisch negierten Vernunfterfahrung, einer Vernunftidee. Andererseits erweist sich der von der reinen Vernunft ermöglichte Verstandesgebrauch in der transzendentalen Logik als von höchster Allgemeinheit, sofern er aller Erkenntnis überhaupt, und daher mittelbar auch dem formalen allgemeinen Verstandesgebrauch die Bedingungen a priori seiner Möglichkeit vorschreibt, ohne diesen dadurch allerdings seiner höchsten Allgemeinheit zu berauben, seinen Gebrauch zu einem besonderen und ihn damit zu einem Organon dieser oder jener Wissenschaft zu machen. Insofern stellt sich das Verhältnis des vernünftigen, d. h. des von der Vernunft ermöglichten, und des formalen Ver32 33 34

Ebd., A 53 Ebd., A 57 Ebd., A 52

51 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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standesgebrauchs dieser und jener Logik so dar, dass es eben sowohl als Verhältnis einer Art von Allgemeinheit zu einer anderen Art von Allgemeinheit, als auch als Verhältnis einer Besonderheit zu einer anderen Besonderheit, nicht aber als ein bestimmtes Begriffsverhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit in Erscheinung tritt, infolgedessen vielmehr nur als Verhältnis eines Etwas zu einem anderen Etwas. 35 Die Allgemeinheit und Besonderheit ihrer Funktion in ihrem Verhältnis reicht daher wesentlich über ihr Verhältnis und damit über sie selbst, also über die transzendentale und die allgemeine reine Logik hinaus in eine andere Begriffsdimension, nämlich in die eines »Organon der Wissenschaften«. Die einzig wahre Differenz, die aber zunächst nur vorhanden ist, ist so beschaffen, dass auf der einen Seite eine kritisch aufgehobene, also mit Negation behaftete Vernunfterfahrung, die Idee, auf der anderen Seite eine reine Verstandesform, der Begriff in positiver oder negativer Urteilsgestalt, einander gegenüberstehen, und zwar so, dass sie sich wie das Unbedingte und das Bedingte zueinander verhalten, ohne dass ein bestimmter Begriff zwischen ihnen vermittelte. So kommt es, dass jenes Verhältnis des vernünftigen (transzendentalen) und des verständigen (formalen) Verstandesgebrauchs allem Anschein nach leer, und diese Leerheit nur von der Art der einfachen Negation, nämlich eben jener absoluten Vermittlung durch den Begriff ermangelnd ist. So enthält Hegels kritische Darstellung dieses formalen Verhältnisses der Identität zwischen dem vernünftigen und dem formalen Verstand in seiner »Logik des Seins« eine Darstellung der Leerheit des Verhältnisses von Begriff und Idee in seiner Konsequenz einer unendlichen Reproduktion dieser Leere, einer schlechten Unendlichkeit. Diese Unendlichkeit beherrscht das Verhältnis der kritisch aufgehobenen Vernunfterfahrung und der reinen Verstandesform wegen der zugrunde liegenden Leerheit der reinen Vernunftform in Gestalt der Unterscheidung des Bedingten und Unbedingten. Hegels Darstellung dieser Zusammenhänge ist kritisch, indem sie die Voraussetzungen sichtbar macht, unter denen eine Vernunftkritik nur den Schein wahrer Kritik, nämlich nur unbestimmte Verhältnisse von Realität und Negation zustande bringt. 36

35 36

WdL II, S. 103 ff. Ebd. S. 103, 116 ff.

52 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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c)

Die Identität von Analysis und Synthesis als Zirkel des Verstandes

Dass die Vernunftunterscheidung des Bedingten und Unbedingten leer und ohne Begriffsunterscheidung ist, wirkt sich insbesondere in der Unterscheidung der transzendentalen Logik in eine transzendentale Analytik und Dialektik aus, sofern der Unterschied dieser und jener nur auf dem unterschiedslosen Erkenntnisgrund der allgemeinen menschlichen Erkenntnisnatur beruht und sofern die verschiedenen Erscheinungsformen derselben (Anschauung, Verstand und Vernunft) nur auf das Gemeinsame ihrer Funktion, die Ermöglichung a priori gültiger Gegenstandserkenntnis, hin betrachtet und insofern ebenfalls unter das Verhältnis der formalen Identität gesetzt werden. Insofern scheint aber der Grundunterschied aller Erkenntnis, der von Wahrheit und Unwahrheit, jeglichen erkennbaren Unterschied zu verlieren. Die Unterscheidung einer Logik der Wahrheit und einer Logik des Scheins scheint damit ihres Unterscheidungsprinzips, und damit eines Prinzips der Anwendbarkeit ebenso wie eines Prinzips zum Beweise ihrer Wahrheit, verlustig zu gehen. Damit aber scheint die transzendentale Logik als eine Logik der Wahrheit sich im ganzen in eine Schein-Logik zu verkehren, welche im ganzen von der Art einer äußerlich räsonnierenden Dialektik bleibt, welche sich ihres eigenen, selbstkritischen Wahrheitskriteriums, der kritischen Vernunfterfahrung des absoluten Unterschieds von Wahrheit und Unwahrheit, beraubt hat. Unter diesem Aspekt kritisiert Hegel Kants transzendentale Logik, dass deren Begriff nicht nur die eigene Absicht nicht zu verwirklichen vermag, der selbst gesetzte Zweck vielmehr durch die Art seiner Verwirklichung in sein Gegenteil umschlägt. Während die transzendentale Logik Bedingungen zur Möglichkeit der Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit der Erkenntnis zu demonstrieren unternimmt, und zwar über das Unzureichende der entsprechenden formalen Unterscheidung der allgemeinen reinen Logik hinaus, widerfährt es ihr, dass sie sich durch die Art ihrer Unterscheidung in der Folge jeder Unterscheidungsmöglichkeit dieses Unterschieds beraubt. Dieses logische Missgeschick überträgt sich aber von jener Grundunterscheidung wesentlich auf jede Art von Unterscheidung, sofern diese für den Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit wesentlich ist. Jede, in diesem Sinne wahre, Analysis erweist sich unter diesen Voraussetzungen als so beschaffen, dass durch ihre Art und Weise, das Gegebene zu analysieren, gerade der 53 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Unterschied des zu Unterscheidenden zum Verschwinden kommt, so dass jede wahre Begriffsanalyse nur eine, ihrem analytischen Charakter entsprechende formale Synthesis zur Folge hat, d. h. eine solche, deren Apriorität letzten Endes auf der formalen Identität und daher auf einer Tautologie beruht, welche dem Wesen der Synthesis dem Begriff nach zu widersprechen scheint. Umgekehrt wird aber die Analysis, und damit jede formale Unterscheidung, zu einem Wahrheitsprinzip des Erkennens, deren Funktion über die beschränkte Rolle einer bloß formallogischen Urteilsform hinausgeht, sofern sie sich auf analytische Urteile bezieht, um deren Wahrheit kritisch zu beurteilen. 37 Unter diesem Gesichtspunkt erfährt der Grundsatz von Kants transzendentaler Logik, dass aller analytischen Einheit des Bewusstseins »ich denke« eine synthetische Einheit zugrunde liege, 38 seine mögliche kritische Auslegung. Dies, dass die synthetische Einheit der analytischen unmittelbar zugrunde liege, erscheint unter diesem Aspekt nur als die einseitige Folge einer einseitigen formalen Identität, unter die alle Begriffsunterscheidungen (Analysen) gesetzt sind. Diese Einseitigkeit beruht in der Beziehung aller unterschiedenen Momente des Erkennens auf ein- und derselben Grundlage: dem Gegebenen der Anschauung. Durch diese Einseitigkeit aber widerspricht die Identität ihrem Begriff, formal zu sein. Umgekehrt liegt daher in Wahrheit auch der synthetischen Einheit unmittelbar eine analytische Einheit zugrunde, sofern jenes Gegebene, auf welches alle Erkenntnis bezogen ist, in Wahrheit eine aufgehobene, kritisch mit Negation behaftete, Vernunfterfahrung darstellt, eine gegebene Idee oder Anschauung, welche bereits unter eine Urteilsform gesetzt ist. Insofern erweist sich die leere Vorstellung »ich denke«, nicht schlechthin einfach und nicht nur von der Art der einfachen Negation zu sein, welche als leere Form einen gegebenen Inhalt negiert. Sie ist vielmehr von der Art der doppelten Negation, der nur die Form des Absoluten zum Begriff ihrer selbst ermangelt. Sie ist sowohl Form als auch Inhalt, und diese beiden Momente verhalten sich so zueinander, dass jedes sich selbst und sein Gegenteil negiert, und die eine dieser Negationen auf dem Grunde der anderen beruht. Kant spricht ausdrücklich von einem Zirkel in der Vorstellung »ich denke«, davon, dass die inhaltliche Leere dieser Form in Wahrheit 37 38

KrV, A 151 ff. Ebd. B 133

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nur ein »Er oder Es« (das Ding), welches denkt, = X vorstellt, »welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen.« 39 In dieser Darstellung des Zirkels des Bewusstseins »ich denke« wiederholt sich aber nur jene grundsätzliche Einseitigkeit des Verhältnisses zwischen der Gegebenheit der Anschauung und der Form des Begriffs, welches die wichtigste Voraussetzung von Kants Vernunftkritik bildet. Die Unwahrheit dieser Einseitigkeit kommt nun aber gerade an der Vorstellung »ich denke« zum Vorschein und erweist sich allererst und insbesondere in Beziehung auf diese. Denn ein Ich, welches prinzipiell zuerst sich vorstellt und anschaut, bevor es urteilt oder handelt, ist nur ein einseitiges Ich. Es wird an seinem Begriff verkannt, dass ein solches Ich ebenso auch umgekehrt seine Urteile, Begriffe und Handlungen, wie auch Begriffe von den Folgen der letzteren seinen Vorstellungen von sich und Anderem mit zugrunde legt. Der wahre hermeneutische Zirkel des Ich hinsichtlich seiner logischen Form besteht daher darin, dass nicht nur dessen Vorstellungen und Ideen einem Urteil und Begriff derselben zugrunde liegen; sondern dass wir auch umgekehrt, um solcher Vorstellungen und Ideen willen, uns immer schon bestimmter Urteile und Begriffe, bejahend und verneinend, bedienen müssen, wenn wir um einen Begriff von jenen Vorstellungen und Ideen bemüht sind, gleichgültig wie unangemessen jene Vorurteile sein und wie vorurteilsvoll die abschließenden Begriffe bleiben mögen. Die allgemeinste Form dieses Zirkels des Bewusstseins bildet der beschriebene Zirkel des Verhältnisses von Analysis und Synthesis der Einheit des Selbstbewusstseins, und die Auslegung dieser Einheit bewegt sich – formal gesehen – im Zirkel von Selbigkeit und Verschiedenheit. Innerhalb dieses Umkreises bewegen sich dann auch die mannigfaltigen, untergeordneten logischen Formen und übernehmen eine logische Doppelfunktion: einerseits die logische Funktion der Vorurteile und Vorbegriffe gegebener Vorstellungen und Ideen, der antizipierten Schlussfolgerungen aus diesen; andererseits die logische Funktion der Urteile, Begriffe und Schlüsse, die aus jenen Gegebenheiten und damit für die logischen Formen aus ihrer primären Funktion folgen. Die logischen Formen sind insofern 39

Ebd. A 346

55 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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spekulativ, d. h. sie spiegeln ihre doppelte Funktion ineinander, indem sie das Gegebene auf ihre eigenen logischen Möglichkeiten und damit auf eine mögliche primäre Funktion ihrer selbst hin auslegen. In dieser kritischen Spiegelung ihrer zweifachen Funktion bilden die logischen Formen die Bedingungen ihres theoretischen und praktischen Gebrauchs.

d)

Die Form der Einzigkeit als absolute Voraussetzung, als Form der Kritik und als Phrase

Die hier in bestimmter Absicht dargestellte Anwendung des kritischen Prinzips der spekulativen Philosophie Hegels gegen Kants Begriff des Transzendentalen ist für die Frage nach dem Sinn des Verhältnisses von Begriff und Idee deswegen so wesentlich, weil diese Kritik die einzig mögliche Kritik an ihr selbst antizipiert und insofern jede mögliche Kritik an ihr auf dem Grunde einer Gemeinsamkeit des Begriffs in Bann geschlagen zu haben scheint. Tatsächlich sind – der Form des Begriffs nach – gegen den philosophischen Idealismus im allgemeinen, aber ebenso gegen Hegels spekulative Philosophie im besonderen und einzelnen jene Punkte der Kritik wiederholt worden, von denen Hegel selbst gegen den formalen bzw. transzendentalen Idealismus Gebrauch gemacht hatte: die Kritik an der verdinglichten Subjektivität ebenso wie die Kritik am Prinzip der Subjektivität überhaupt im Sinne einer unendlichen Subjektivität; die Kritik am formalen Denken und an dessen Begriffsursachen und Wirkungen. Wiederholt hat sich auch die Auslegung dieser Kritik am Leitfaden der Unterscheidung von Zweck und Wirklichkeit des philosophischen Begriffs. Wiederholt hat sich schließlich sogar der Schein eines Wiederholungszwangs, der sich aufdrängt, sofern Hegels Kritik an Kants Transzendentalphilosophie diese wie eine Wiederholung der Metaphysik des Rationalismus erscheinen lässt, ungeachtet ihrer Kritik an derselben und diese Kritik als Vorwegnahme jener Kritik an ihr, die sie nur wiederholt. Hegel hat diesen Schein eines absoluten Wiederholungszwangs sehr wohl erkannt, ja, darüber hinaus den Begriff dieses Zwangs als Folge des Begriffs einer entsprechend leer und formal, und entsprechend ohnmächtig gewordenen Vernunfterfahrung angesehen. Zugleich aber hat er diesen Begriffszusammenhang mit der Grundvoraussetzung seiner Philosophie zusammengeschlossen, und zwar so, dass jene Leerheit und Ohnmacht 56 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

und die daraus folgenden Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen der Vernunft sich als ein Schein erwiesen, welcher gerade in Wahrheit das zugrunde liegende freiheitliche Wesen der Vernunfterfahrung zu verraten imstande war. Es war dies die bekannte Grundvoraussetzung, dass die Erfahrungen der menschlichen Vernunft in der Mannigfaltigkeit ihrer geschichtlichen Erscheinungsweise überall in Wahrheit nur eine einzige Vernunfterfahrung zugrunde liegen haben, deren logische Form die der Einzigkeit ist, die alle anderen logischen Formen affiziert. Diese Form der Einzigkeit erwies sich als diejenige, welche erlaubte, die verschiedenen Erscheinungsweisen der Vernunfterfahrung als Verschiedenheiten des logischen Zustands derselben anzusehen, so dass jene Verschiedenheiten ausschließlich durch Unterscheidungen des reinen Begriffs ihre vernünftige Erklärung finden konnten. Einzigkeit erwies sich insofern als das Grundprinzip der Formalisierung zur Ermöglichung allgemeinverbindlicher Vernunfterfahrung, als das Prinzip der spekulativen Transzendentalphilosophie, welches Kant im Begriff »ich denke« vergeblich gesucht hatte. Unter dieser Form der Einzigkeit ließen sich die verschiedenen zeitlichen Erscheinungen der Vernunfterfahrung, einem zeitlosen Begriff des Erkennens folgend im Hinblick auf die Idee der Wahrheit und Vorstellung eines bestmöglichen logischen Zustands hin, zeitlos ordnen, d. h. konstruieren und in diesem bestmöglichen logischen Zustand »aufheben«. Der Begriff der dialektischen Aufhebung bildet in diesem Sinne das methodische Prinzip der absoluten Verwandlung der zeitgebundenen Erscheinung der Vernunftwahrheit in die Wahrheit ihrer zeitlosen Vernünftigkeit. Auf diese Weise erweist sich die kritisch aufgehobene geschichtliche Erscheinung der Vernunfterfahrung als ein und dieselbe mit dem reinen Vernunftbegriff der Erkenntnis. Es ist insofern die Form der absoluten Einzigkeit der Vernunfterfahrung, welche den allgemeinen Verstandesgebrauch in jedem Hindernisse, welches ihm entgegensteht, am Ende Vernunft erkennen lässt, so etwa im Wesen des Widerspruchs, welches für ihn die Wahrheit ist, nach der er andere Wahrheit beurteilt. Der allgemeine Verstand erscheint in dem Maße als vernünftig, indem er keine Widerstände seines Gebrauchs mehr anerkennt, diese als selbst gesetzte erkennen und überwinden lernt. Unter diesem Aspekt ist Kants Begriff einer allgemeinen angewandten Logik als eines Kathartikon des gemeinen Verstandes ohne jede philosophische Bedeutung geblieben. Es gehört nun zu den wichtigsten Momenten der Wirkungs57 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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geschichte der spekulativen Philosophie, dass jene Grundvoraussetzung der absoluten Einzigkeit einfach verschwunden, das Wort für die entsprechende Begriffsform nicht nur als Bezeichnung der absoluten Subjektivität, 40 sondern jeder Vernunfterfahrung zur Phrase geworden ist und damit die Philosophie im ganzen unter die Form der Phrasenhaftigkeit getreten ist, welche ein Bedürfnis nach Reflexion des Wesens der Sprache hervorgebracht hat. Demgegenüber verhält sich der Ideologiebegriff, der weitgehend die Funktion des Ideenbegriffs und damit auch eine Reihe formaler Eigenschaften desselben übernommen hat, vergleichsweise dogmatisch, sofern er sich einfach in Gegensatz zu der Voraussetzung der absoluten Einzigkeit der Vernunfterfahrung setzt und die Verschiedenheit derartiger Erfahrungen nicht als einen Schein, sondern als die Wahrheit setzt. Auf diese Weise beraubt er sich aber der Möglichkeit eines kritischen Begriffs seiner selbst im Sinne einer Unterscheidung verschiedener logischer Zustände, indem er versäumt, die Kategorie der Einzigkeit im methodisch-kritischen Sinne zu gebrauchen. Eine transzendentale Logik ist insofern hermeneutisch, als sie die absolute Einzigkeit der Vernunft sowenig wie irgendeine Gemeinsamkeit der Vernunfterfahrung voraussetzen kann und daher auch im Hinblick auf Gegebenheiten von der Form des Begriffs keinen selbstverständlichen Gebrauch machen kann; dass ihr vielmehr die Anwendbarkeit einer Form des Begriffs einen Hinweis auf die mögliche Gemeinsamkeit einer Erfahrung gibt, wie umgekehrt eine angenommene derartige Gemeinsamkeit zur Voraussetzung einer selbstkritischen Anwendung einer Form des Begriffs wird und sie sich bewusst in diesem Kreis bewegt. Unter diesen Umständen kann das methodische Prinzip der dialektischen Aufhebung keine ausschließliche, sondern nur eine beschränkte, gleichwohl notwendige, Gültigkeit haben. Es wird sich an ihm eine Seite bemerkbar machen, die unter der Voraussetzung der Form der absoluten Einzigkeit wesenlos ist: die Voraussetzung nämlich, dass die Verwandlung einer Zeiterscheinung in ein Zeitloses ein Ereignis ist, welches selbst der Zeit unterworfen ist. 41 Vgl. K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, § 45 Wolfgang Cramer hat in seiner Grundlegung einer Theorie des Geistes die Zeitlichkeit zum Prinzip und zur Substanz des Denkens im transzendentalen Sinne gemacht (§§ 1–33). Soweit ich sehe, hat er dieses Prinzip aber wieder dadurch aus der Hand gegeben, dass er das Denken in den ausschließlichen Kategorien des Bestimmens, SichBestimmens auffasst, Unbestimmtheit daher nur als Bestimmbarkeit und als Moment des Sich-Bestimmens, insofern nur im Hinblick auf Aufhebung, aber nicht als deren

40 41

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

Die dialektische Vermittlung stellt insofern ein logisches Ereignis dar, welches eine Gegenseite hat, die mit ihm nicht zu vermitteln ist und sich zu ihm zunächst wie Etwas und Anderes verhält. Von dieser Gegenseite spreche ich im folgenden als von negativen logischen Ereignissen. Unter diesem Aspekt können die oben beobachteten mangelnden Vermittlungen und äußeren Reflexionsverhältnisse des transzendentalen Begriffs nicht ausschließlich unter dem Aspekt ihrer absoluten Vermittlung durch den spekulativen Begriff gesehen werden. Sie gehen mit diesem vielmehr ein Verhältnis ein, welches dieser nicht in seinen Begriff aufgenommen hat. Dieses Verhältnis wird im folgenden unter der reinen Form negativer logischer Ereignisse und dialektischer Vermittlungen erörtert. Diese Form gibt an ihr selbst wie auch in ihrer Entwicklung ein Prinzip der Kritik in Gestalt eines Kathartikon des allgemeinen Verstandes an die Hand.

IV. Vom Unterschied negativer logischer Ereignisse und dialektischer Vermittlungen als Form der Vernunftkritik a)

Der psychologische Charakter des Logischen

Was den philosophischen Idealismus heute überhaupt philosophisch interessant macht, ist die Kategorie der logischen Hilflosigkeit, die er – von ihm selbst unbeabsichtigt – in die Geschichte der Philosophie hineinbringt, eine Kategorie, die ihm im Zusammenhang seiner Logik und Methode zuwider sein musste. Plato, der immer wieder als trauriger Urheber eines doktrinären Idealismus herhalten muss, war mit dieser Kategorie wohl vertraut. Allerdings: an einer berühmten und viel zitierten Stelle des Sophistes erscheinen die so genannten »Ideenfreunde« nicht als hilflos, wie einmal an anderer Stelle Sokrates im Gespräch mit zwei Sophisten derart, dass derjenige, der dieses Gespräch berichtet, am Ende sagt: »Wir haben uns seiner, des Sokrates, geschämt.« 42 An dieser Stelle des Sophistes ist vielmehr mit unüberhörbarer Ironie von einer Gigantomachie, einer Gigantenschlacht die Rede, zwischen Gegenbild. Besonders deutlich erkennbar in Spinozas Philosophie des Absoluten (S. 42 ff. und S. 50 – 53). (Dort auch die Entgegnung auf meinen Einwand.) Der transzendentale Begriff hat dort nur konstitutive, nicht auch kritische Funktion. 42 Platon, Euth. 304e

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I. Ontologie

denen, die sich einfach als Freunde oder Anhänger der Existenz von Ideen bezeichnen lassen, und einer gegnerischen Gruppe, die sich nicht auf eine entsprechend einfache Formel bringen lässt. Was der Begriff der Gigantenschlacht durch seinen ironischen Unterton hören lässt, ist dies, dass es wohl vieles gibt, worüber sich streiten lässt, wohl aber kaum ein dankbareres Objekt endlosen Streites als diese umstrittene Existenz der Ideen. Logische Unmündigkeit hat Plato in diesem Zusammenhange den Mythologen und Rhapsoden, den Geschichtenerzählern über das Sein des Seienden vorbehalten. Dagegen scheinen in dieser Auseinandersetzung die Ideenfreunde und -feinde so wenig um Worte und Argumente verlegen, dass man im Gegenteil schließen muss: dass je wesentlicher und entscheidender der Gegenstand einer Auseinandersetzung ist, desto besser auch die geschmiedeten logischen Waffen sein werden, desto größer der angewandte logische Scharfsinn, desto reicher die Mannigfaltigkeit entwickelter Denkformen. Handelt es sich im Streit um Existenz oder Nicht-Existenz der Ideen um eine wesentliche oder gar entscheidende Auseinandersetzung, so wird hier der ganze Reichtum des Logischen in Erscheinung treten, während das Logische selbst hier nur den Sinn und die Bedeutung einer Waffe, eines Streitmittels hat. Es kommt hier nicht auf die Einzelheiten in der Charakteristik des logischen Verhaltens der Gegner dieser Schlacht an. Wesentlich und im Auge zu behalten ist allerdings dies Allgemeine, dass das Verhalten, insbesondere das logische Verhalten der Streitenden mit der von ihnen verfochtenen Sache zusammengebunden ist, und zwar nicht nur quantitativ im Sinne der Entfaltung logischen Reichtums, sondern auch qualitativ: Die vertretene Sache spiegelt sich in einem bestimmten Denkstil dessen wider, der sie vertritt. So benutzen nach Plato die Ideenfreunde »vorsichtig« die Methode der Verteidigung, 43 obwohl sie anscheinend gar nicht angegriffen werden. Sie scheinen im ganzen überhaupt vergleichsweise zahme Wesen zu sein, indem sie der früher erarbeiteten Wesensbestimmung des Menschen im Sinne eines zahmen Tiers aufs Wort gehorchen. Die anderen scheinen verstockter, selbstsicherer, selbstbewusster, aus härterem Holz und aus weniger spirituellem Stoff gemacht: möglicherweise gehören sie zu den Besserwissern, oder jedenfalls zu denen, die immer zu wissen glauben, was sie meinen, die, was sie gesagt haben, gesagt und, was sie geschrieben 43

Soph. 246b5–6

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

haben, geschrieben haben: Praktiker, ohne große Vorliebe für Theoretisierungen, Leute des common sense, und doch am Ende im Besitz einer massiven Weltansicht und Ideologie, einer These, auf die sie sich etwas zugute halten: nämlich nur das für wahr zu halten, was handgreiflich und unmittelbar vor Augen liegt, was zu packen und zu greifen ist, also am Ende Empiristen oder gar Materialisten. Dass diese Thesenvertreter sich zu einer Veränderung ihrer Ansichten sollten bewegen lassen können, ist angesichts dieses ihres logischen Naturells, ihres logischen Verhaltens alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Damit es hier im Sinne der Philosophie zu einer Änderung komme, scheinen Voraussetzungen notwendig, über die die Philosophie nicht mehr verfügen kann, in denen sie ihre Grenze zu finden scheint. Plato hat dies durch eine fast unscheinbare Andeutung eines Partizips ausgedrückt: Jene Ideengegner müssen schon gebessert sein, damit sich ihr logisches Verhältnis zu ihrem Gegner, wie überhaupt dieses logische Verhältnis selbst und das Verhalten beider Thesenvertreter in ihm, bessern kann. 44

b)

Negative logische Ereignisse und die absolute Vermittlung

Es soll nun im folgenden weder zugesehen werden, wie Plato die beiden entgegengesetzten Ansichten in Richtung auf eine gemeinsame Mitte und eine mögliche Versöhnung fortbewegt, indem er den Streitenden die von beiden anerkannten Voraussetzungen aufweist, noch auch dieses Verfahren der versöhnlichen Gedankenbewegung auf seine formale Struktur hin betrachtet werden. Beides ist oft genug untersucht worden. Die Frage richtet sich hier auf die logische Form jenes Zwischenraums zwischen der endlos hin und her wogenden Gedankenschlacht und jener Besserung eines logischen Verhaltens, welches die Philosophie allem Anschein nach voraussetzen muss, um anfangen zu können. Dieser Zwischenraum enthält in seiner Struktur vier mögliche Momente: 1. Es ereignet sich – logisch gesehen – überhaupt nichts. Das Besserwissen und die Selbstgewissheit versagen sich dem Logischen. Es finden also keine logischen Ereignisse statt. 2. Es finden zwar solche logische Ereignisse statt, aber so, dass diese ohne alle Konsequenzen bleiben. Die Wirkung dieser logischen Ereignisse ist gleich Null: Die ursprünglich vorhandenen Ansichten bleiben unberührt und unver44

Soph. 246e

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ändert. 3. Die Wirkung der logischen Ereignisse ist eine solche der Veränderung des ursprünglich vorhandenen logischen Zustands. Die herrschenden Ansichten verändern sich, aber nur quantitativ und intensiv, nicht qualitativ: d. h., jede der herrschenden Ansichten sieht sich durch den Verlauf der logischen Ereignisse in ihrer eigenen Wahrheit bestätigt. Die logischen Ereignisse wirken also im Sinne der Bestätigung des Faktisch-Vorhandenen, im Sinne einer alles andere ausschließenden Affirmation. Auf diese Weise gewinnt das Faktische eine zunehmende Tendenz zur Unversöhnlichkeit. 4. Die Wirkung der logischen Ereignisse ist nicht wie unter 2. eine Wirkung ohne Wirkung, das Dasein dieser Ereignisse nicht ein Dasein ohne Konsequenzen. Die logischen Ereignisse wirken hier auch nicht wie unter 3. im Sinne der Bekräftigung und ausschließlichen Affirmation eines Vorhandenen, also auch nicht im Sinne wachsender Spannung überhaupt, wachsender Spannung in der faktischen Welt. Die Folge der logischen Ereignisse ist hier vielmehr das logische Nichts: d. h. es verschwindet über den logischen Ereignissen und in ihrem Verlauf der Sinn, der den Anlass zu diesen Ereignissen bildete. Die Konsequenzen dieses entstehenden logischen Nichts sind dadurch bestimmt, dass sie nicht zu übersehen, nicht im voraus zu berechnen sind. Die Folge eines entstandenen logischen Nichts, eines vergehenden Sinns überhaupt kann ebenso wohl zunehmende Unversöhnlichkeit wie auch Versöhnlichkeit im Bereich des Faktischen sein, ebenso gut aber auch irgendein dritter, jenseits dieses Gegensatzes liegender, unbekannter logischer Zustand. Das 4. Moment in dieser Reihe logischer Negativitäten knüpft sich nun mit dem 1. und dem 2. Moment unter Ausschluss des 3. zusammen: Ein logisches Ereignis, dessen Folge der Verlust desjenigen Sinnes ist, der seinen eigenen Anlass ausmachte, ein solches Ereignis, welches sich selbst absolut zerstört, kann oder muss sogar als ein Ereignis erscheinen, welches nie stattgefunden hat. Als ein solches Ereignis kann es aber auch den Anschein eines Daseins ohne alle Konsequenz und ohne Beziehungen erwecken, während in Wahrheit seine Wirkung die schwerwiegendste ist: nämlich die eines von ihm ausgehenden Scheins der Grundlosigkeit, Folgelosigkeit und Sinnlosigkeit. Beispiele für derartige Formen negativer logischer Ereignisse bilden die so genannten Assoziationen, die zu Unrecht in die psychologistische Logik verbannt worden sind. Kant hat sie immerhin in die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft übernommen, ohne dabei allerdings ihren komplexen, nicht in einem einfachen Begriff zu 62 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

erschöpfenden logischen Sinn bestimmen zu können. Auch die so genannten Elementarsätze des Tractatus logico-philosophicus von Wittgenstein gehören unter die eine oder andere Form solcher negativen logischen Ereignisse. Es ist übrigens Kant gewesen, in dessen Kritik der reinen Vernunft der hier angedeutete Verlauf der verschiedenen Momente logischer Negativität antipiziert ist, in Gestalt einer Kategorientafel eines Nichts logischer Gegenstände, die einen vierfachen, nach Kategorien geordneten Sinn des Nichts des Logischen enthält. Es sind Gründe der traditionellen Ontologie, die Kant hier nur bis zum Begriff des Nichts logischer Gegenstände kommen lässt, und nicht zum Begriff negativer logischer Ereignisse. Welchen Sinn hat nun im Rahmen einer Logik der Ideen der hier angedeutete Kreislauf der vier Momente eines negativen logischen Ereignisses, dessen Begriff sich übrigens unter bestimmten Voraussetzungen auf den negativer Ereignisse überhaupt ausdehnen ließe? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage wird nun durch jenen Begriff ermöglicht, welcher als Grundbegriff der Dialektik und insbesondere als Grundbegriff der Hegel’schen Philosophie bekannt ist: ich meine den Grundbegriff der Aufhebung in der bekannten Triplizität seines Sinnes: nämlich ein Vergehen, ein Bewahren und schließlich ein Verklären oder Erhöhen darzustellen. Es lässt sich relativ leicht zeigen, dass die zuvor beschriebene Vierfaltigkeit eines Nichts des Logischen sich sozusagen umgekehrt im Begriff der Aufhebung widergespiegelt findet, dass also der Begriff der Aufhebung negativ auf eine solche Vierfaltigkeit eines Nichts des Logischen bezogen ist, allerdings ohne diese eigene Negativität wirklich unmissverständlich zur Erscheinung zu bringen. So ist erstens der Ausgangspunkt der logischen Aufhebung immer ein Sein, ohne dass dieses näher dadurch bestimmt wäre, das Nichts eines logischen Ereignisses zu sein. Unbestimmte Unmittelbarkeit, als welche dieses Sein bestimmt wird, ist, ungeachtet einer gewissen Affinität zum Begriff eines nicht stattgefundenen oder nicht stattfindenden logischen Ereignisses, mit diesem Begriff nicht einfach identisch. Vielmehr wird eine solche Logik, welche in der Aufhebung eines Seins von Etwas ihren Ausgangspunkt nimmt, in der Kategorie ausgefallener, d. h. nicht stattgefundener logischer Ereignisse nur eine Kategorie der Unwahrheit sehen können, der gegenüber sie selbst die Sphäre der Wahrheit für sich beansprucht. So ist zweitens im Begriff der Aufhebung allerdings dies enthalten, dass Gegensätze und Widersprüche ganz und gar nichtig, also 63 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

gleich Null sind, dass der Widerspruch zwischen den Gegensätzen leer ist. Was die Aufhebung aber in einem emphatischen Sinn bestreitet, ist dies, dass leere Gegensätze und Widersprüche ein Nichts des Logischen sein könnten. Leere und nichts sagende Gegensätze, die immerzu aneinander vorbeireden, sind in der Dialektik immer gewordene Leerheiten und Nichtigkeiten. Als gewordene haben sie Gründe, und diese Gründe sind es, die ihnen schließlich und mittels eines logischen Schlusses ihre Leerheit nehmen, und sie zu konkreten verklärten und versöhnten Einheiten erheben. Ein endloser, zu nichts führender Gegensatz ist für die Dialektik nicht vorhanden. Wenn diese Dialektik mit einer Logik von Beziehungen, von Seinsbeziehungen beginnt, so nicht, weil diese Beziehungen ein schlechthin Beziehungsloses in Beziehung setzen, sondern weil die Gründe und Folgen des zu bestimmenden Daseins noch nicht bestimmt und erkannt sind, und solange Beziehungen an die Stelle der zu erforschenden Gründe und Begriffszusammenhänge zu treten und diese Forschung vorzubereiten haben. Drittens enthält der Begriff der Aufhebung dies, dass Gegensätze nie dabei bleiben können, sich bis zum Extrem zuzuspitzen und weiter zu erhitzen. Die zunehmende quantitative und intensive Steigerung eines Gegensatzes steht hier immer schon unter der Bedingung der Qualität, welche einer solchen Logik zufolge immer das Primäre gegenüber Quantität und Intensität sein muss. Deswegen ist hier ein Gegensatz nicht einfach nur ein Mehr oder Weniger an Unversöhnlichkeit, aber auch nicht einfach nur als qualitativer Gegensatz bestimmt, sondern weiter dadurch, dass er immer schon auf eine Mitte und ein Maß (metron) bezogen ist, welches die Gegensätze nicht bis zur Weißglut und Wütigkeit kommen lässt, sie immer schon an einen Mittler und Schiedsrichter, an die Gerechtigkeit verwiesen hat: an die Möglichkeit der Versöhnung, in welcher die Gegensätze ihre Wesensbestimmungen austauschen, die Wahrheit des Gegenteils ihrer selbst anerkennen. Insofern gehört zum Begriff der Aufhebung der Begriff eines spontanen, unmittelbaren Ereignisses der Versöhnung, der Begriff eines logischen Ereignisses, welches nie ausbleibt. Dieser Begriff eines nie ausbleibenden logischen Ereignisses hat seinen theologischen Hintergrund, der hier nicht zur Erörterung steht. Doch darf ich hier anmerken, dass dieser Begriff auch ohne theologischen Hintergrund seinen guten, wenn auch beschränkten Sinn hat. Der Begriff der Aufhebung richtet sich emphatisch gegen die Ausschließlichkeit von Affirmationen, sowohl gegen die Tendenzen zur bloßen Bestätigung eines 64 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

Faktisch-Vorhandenen, als auch gegen die Intensivierung von faktischen Spannungen als Selbstzweck. Was schließlich das vierte Moment des Nichts des Logischen betrifft, so ist hier die Gegenfunktion der Aufhebung von der größten Bedeutung. Es liegt zwar im Begriff der Aufhebung die Anerkennung einer Notwendigkeit des Vergehens, des Vergehens von Bestimmungen, Gründen und Begriffen. In diesem Vergehen gründen die mannigfaltigen logischen Formen der Negation. Hegels Logik ist dadurch bestimmt, dass sie durch und durch eine Logik der Negationen ist. Jede Kategorie findet ihre Darstellung als eine bestimmte Formgestalt eines Verhältnisses einfacher und gespiegelter Negationen. Aber diese Negationen machen das Logische aus und haben das logische Nichts auf unklare und missverständliche Weise von sich ausgeschlossen. Es ist schwer zu unterscheiden, ob der Begriff der Aufhebung über die Anerkennung einer Notwendigkeit des Vergehens von Bestimmungen und Begriffen hinaus auch die Notwendigkeit des Vergehens von Sinnhaftigkeit in sich einschließt. Wie dem auch sei, eines ist dabei sicher: Was der Begriff der Aufhebung entschieden, d. h. durch einfache Negation negiert, ist dies: dass ein solches Vergehen von Bestimmungen und Begriffen am Ende das Letzte sein könnte, dass das Vergehen von Sinnhaftigkeit ein Fürsich-Seiendes würde, im Sinne eines negativen logischen Ereignisses, welches causa sui im negativen Verstande wäre. Was vielmehr durch den Begriff der Aufhebung gesetzt ist, ist dies: dass alles Vergehen im Bereich des Logischen aus guten Gründen vergeht und Wirkungen hinterlässt und auf den höheren Zweck der Bewahrung und Erschließung eines Sinnes bezogen ist: auf Erkenntnis und auf die Idee der Sinngebung, welche für die Philosophie und ihre Logik die absolute Idee und Wirklichkeit ist. Es zeigt sich nun am Verhältnis des Begriffs der Aufhebung zu den entwickelten Momenten des logischen Nichts, dass Aufhebung nichts anderes sein kann als eine philosophische Idee, allerdings eine Grundidee, auf welche Philosophie nicht verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben: die Idee der Besserung eines logischen Zustands zum Besten, welche schon Plato, 45 wie gesagt, als die absolute Voraussetzung der Philosophie erkannte. Der Begriff der Aufhebung ist insofern der anfängliche Begriff der Idee des Guten, sofern dieser logisch betrachtet wird: Der erste Begriff der Idee des logisch guten Zustands 45

Soph. 246d4 ff.

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und eine erste Verallgemeinerung der Idee des Vernünftigen, welche unter diesem Aspekt für die Philosophie das Logisch-Einzige ist. Die dialektische Logik ist nur die begriffliche Explikation dieser absoluten Voraussetzung, unter die sie sich selbst gestellt hat. Diese Voraussetzung ist aber, wie sich gezeigt hat, nicht schlechthin einfach. Sie kann und muss zwar vereinfacht werden, um überhaupt einen Begriff von ihr zu gewinnen. Aber diese Vereinfachung ist nur unter bestimmten und limitierenden Voraussetzungen auf schlechthin einfache Weise möglich. Es gibt viele Möglichkeiten, die Komplexion solcher Vereinfachungen ins Spiel zu bringen. Ich habe hier aus Gründen, die aus der gegenwärtigen philosophischen Situation der Ideenlogik entspringen, eine einfache Komplexion und Folge negativer logischer Ereignisse gewählt, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass diese sich relativ einfach auf die Momente des Begriffs der Aufhebung und deren Abfolge beziehen lassen. Diese Komplexion kann nicht nur konkretisiert, sondern auch verändert werden, derart, dass sich die hier veränderten Grenzen der philosophischen Logik noch einmal verändern.

c)

Der Charakter der logischen Wirklichkeit und die Idee der logischen Wahrheit oder: Die fehlende Einheit der Sache und ihrer Darstellung

Eine solche Logik ist also nicht nur durch den Begriff der Aufhebung, durch die Möglichkeit der Verallgemeinerung der Vernunft bestimmt, sondern ebenso auch durch die beschriebenen Formen negativer logischer Ereignisse. Diese wirken in jede Darstellung der Idee des Guten hinein. Durch dieses Hineinwirken kommt es, dass jede philosophische Logik einen eigentümlichen Denkstil aufweist, 46 der mit der dargestellten Sache unmittelbar eins ist. Eine solche Logik hat einen Charakter, welcher der Charakter einer bestimmten logischen Wirklichkeit im Verhältnis zur Idee der logischen Wahrheit ist. Dieser Stil des Logischen ist – allgemein und logisch betrachtet – wesentlich geprägt durch Formen negativer logischer Ereignisse. Die Idee einer philosophischen Logik, in der jedes positive logische Ereignis stattgefunden haben müsse, ist ganz und gar unsinnig. Diese Unsinnigkeit bleibt aber verdeckt durch den Begriff des immerwährenden logischen Ereignisses, welches 46

Zur Objektivität des Stils vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, S. 467

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Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

kein unsinniger, sondern ein sinnvoller, allerdings beschränkter Begriff ist. Der logische Stil einer philosophischen Logik ist also geprägt durch logische Ereignisse, die mit Grund oder ohne Grund ausgeblieben sind, durch Ereignisse, die nicht stattfinden und auch nicht stattfinden werden; durch Ereignisse, die grundlos kommen und grundlos gehen, also jeder Vermittlung spotten. Assoziationen beherrschen nicht nur den Bereich der Wahrnehmungen, sondern ebenso den Bereich der reinen Abstraktionen. Dass ein philosophischer Text widerspruchsvoll sei, ist demgegenüber sekundär. Widersprüchlichkeit und Widerspruchslosigkeit gehören nicht nur auf die Seite der Idee der Wahrheit, wie es die Dialektik will, sondern zuvor auf die Seite des philosophischen Stils, wo Gegensätzlichkeit sich als bloße zunehmende Intensität bemerkbar macht, was vom Wesen der Wahrheit wohl zu unterscheiden ist. Geprägt ist der Stil philosophischen Denkens weiterhin durch Tendenzen zur ausschließlichen Affirmation, zur Bestätigung einer Ansicht, zur konsequenten Entwicklung einer aufgestellten These. Dieser Stil ist der der einfachen Position oder Negation und ist insbesondere in der philosophischen Sekundärliteratur zu Hause, ein Prinzip logischer Wirklichkeit, welches nicht einfach mit dem Prinzip logischer Wahrheit zusammenfällt, sondern dessen philosophischer Wert als Form zunächst nur die Intensität ist. Schließlich und am Ende gehört zum philosophischen Stil der Sinnverlust unter gleichzeitigem Verlust der Intensitäten und Affirmationen: der Sinnverlust, sofern er sich nicht kompensieren lässt durch Erkenntnis und Sinngewinnung; ein Verlust, der einen begrenzten Bereich der philosophischen Logik erfassen, von hier ansteckend weiter wirken und schließlich sich auf das Ganze ausdehnen kann. Alle diese Momente wirken im allgemeinen, besonderen und einzelnen in das Wesen der dargestellten logischen Idee hinein, welche sich mittels des Begriffs der Aufhebung ihrerseits in den Formen des Begriffs, also nach Allgemeinheit und Besonderheit entfaltet, also in jenen bekannten Wahrheitsformen, die hier nicht eigens erwähnt werden müssen. Der philosophische Begriff unterscheidet sich vom unphilosophischen Begriff nicht dadurch, dass seine Allgemeinheiten und Besonderheiten keine festen sind, dass eine Besonderheit und eine Allgemeinheit in ihrer Gültigkeit verwechselt werden könnte und infolgedessen Besonderheit und Allgemeinheit in dieser oder jener Gestalt einander negieren müssen. Diese Bewegung gehört in Wahrheit zur Erscheinung eines jeden Begriffs, sofern er auf Erkenntnis gerichtet ist, nicht nur zur Erscheinung des philosophischen Begriffs. Die 67 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

Auflösung allgemein anerkannter Gesetze ist ebenso wenig wie die ihrer Bildung ausschließlich Sache der Philosophie. Über diese Gemeinsamkeit mit jedem Erkenntnisbegriff hinaus reicht die Selbstnegation des philosophischen Begriffs tiefer: Sie ist Affektion und Modifikation durch Formen negativer logischer Ereignisse. Eine philosophische Logik in dem hier dargestellten Sinne ist als Einheit von logischem Stil und logischer Sache eine unlösbare Einheit der Darstellung mit der dargestellten Sache, die unlösbare Verbindung einer bestimmten logischen Wirklichkeit mit der logischen Idee der Wahrheit, dem Logisch-Guten. Diese Einheit ist aber nun nach dem Gang dieser Erörterung wesentlich unterschieden von jener Einheit von Begriff und Wirklichkeit, wie er durch die spekulative Methode Hegels gesetzt ist. Dort entspringt diese Einheit unmittelbar aus dem Begriff der logischen Wahrheit selbst. Dieser Begriff schließt durch seine Idee die Möglichkeit aus, dass die Darstellung und Vermittlung des Logisch-Guten schlechter und unvollkommener sein könnte als das Logisch-Gute selbst. Denn die Vermittlung ist die Wahrheit des Begriffs selbst. Deswegen hat Hegel seine Logik im Prinzip für die Vollendung einer philosophischen Logik überhaupt gehalten, an ihr nur die Möglichkeit akzidenteller und unwesentlicher Verbesserungen anerkannt. Nach unserer Darstellung aber muss diese Idee der Wahrheit eine Idee bleiben, welche in die Wirklichkeit eines bestimmten Denkens eingemischt ist. Was auf diese Weise in der Einheit der Darstellung und der dargestellten Sache zur Sprache kommt, ist deswegen etwas anderes: die Verbindung einer bestimmten und begrenzten logischen Wirklichkeit mit der Idee der Wahrheit. Diese Verbindung stellt sich immer her, sofern der Mensch im Hinblick auf Wahrheit denkt. Aber die Sache der Philosophie ist – unter dem hier erörterten Gesichtspunkt – die Darstellung dieser Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Menschen, sofern er ein denkendes Wesen ist. Diese Darstellung, die Darstellung dieses logischen Wesens mittels reiner Abstraktionen, erfordert, wie schon Plato bemerkt hat: die höchste Kunst. Und es ist nicht ganz zufällig ein Text von Plato, der vielleicht als einziger unter den Texten der abendländischen Metaphysik unter dem Zeichen einer solchen Einheit von Idee und Wirklichkeit geschrieben wurde. Ich meine den Dialog Parmenides, dessen Strukturform die einer Vierfaltigkeit von Hypothesen, von positiven und negativen Affirmationen ist, in deren jede der Begriff eines logischen Nichts eingeht. Dieser Begriff vom Wesen eines solchen ideenlogischen Textes 68 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes

wirft aber nun die Frage auf, wie man überhaupt Texte dieser Art lesen könne und solle, diese abstrakten Texte, die aus reinen Abstraktionen gewebt sind, transzendentale Texte, sofern jeder ihrer Buchstaben mehr zu sagen scheint als jedes Seiende und insofern absolut viel sagend. Man kann sie lesen und wird sie lesen müssen im Sinne des Begriffs der Aufhebung, im Sinne der Verbesserung logischer Zustände, also analysierend um der Gewinnung eines klareren und deutlicheren Begriffs ihrer selbst. Eine solche Lektüre erfordert Entscheidungen, in welchem Sinne die Elemente dieses Textes zu verstehen sind, ob als Buchstaben, Silben, Worte, Sätze oder Satzzusammenhänge. Darüber hinaus aber wird sich ein solcher Text widersetzen, nämlich sofern er ein Bild negativer logischer Ereignisse ist und bleibt. Ein solcher Text ist nicht vergleichsweise dunkler und schwieriger als andere Texte, sondern schlechthin dunkel und verschlossen, nicht nur logisch hilflos, wie der nun lange zurückgelassene Idealismus, sondern die logische Hilflosigkeit selbst. Er ist nicht nur stumm, wie sonst ein Text, der keinen Leser findet, sondern er ist möglicherweise und notwendigerweise stumm, auch wenn er seinen Leser gefunden hat. Als Darstellung negativer logischer Ereignisse ist er nichts sagend. Dieses nichts sagende Wesen gehört zu seiner Wahrheit, wie es zur Wahrheit der Philosophie gehört. Die Lektüre eines solchen Textes kann sich zwar am Leitfaden inhaltlicher Bestimmungen fortbewegen, sie kann Beziehungen herstellen, diese auf logische Eigenschaften der Kohärenz und Konsistenz prüfen. All dies wird gewisse Folgen an den inhaltlichen Bestimmungen haben. Was eine solche Lektüre nicht kann, ist dies, dass sie den Text dem logischen Nichts entzieht. Sie kann zwar die negativen logischen Ereignisse im Sinne von Irrtümern, Widersprüchen und Inkonsequenzen produktiv missverstehen, aber sie wird damit nicht weiter kommen als mit den anderen Verfahrensweisen. Immer wieder steht sie vor der Möglichkeit des Eintretens solcher Ereignisse, die hier negativ logische genannt wurden. Ich formuliere hier im übrigen nur Begriffe für Erfahrungen, die jedermann mit diesen Texten macht. Abstrakte Texte in diesem Sinne sind nicht nur genießbar, nicht nur lesbar, auch wenn die Lektüre derselben immer die Frage nach dem Sinn derselben aufwirft. Sie haben aber darüber hinaus eigentümliche logische Eigenschaften, und zwar an ihnen selbst wie auch in ihren Einmischungen in Aussageformen, die nicht von der Art der reinen Abstraktion sind. Das Studium der logischen Eigenschaften der reinen Abstraktionen hat einen besonderen Sinn im Hinblick auf Texte und 69 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

Aussagen, in denen sich Abstraktion und Konkretheit auf unklare Weise verbinden. Schließlich lassen sich aus solchen Texten auch allgemeine Grundsätze herausdestillieren, aus denen sich andere derartige Texte weben lassen. Es gehört meines Erachtens für die Philosophie zu der tiefen Wahrheit der so genannten abstrakten Kunst unserer ersten Jahrhunderthälfte, dass sie der Philosophie die Freude an ihren eigenen Abstraktionen und deren Wahrheitsmöglichkeiten zurückzugeben imstande ist. Zum Abschluss sollen mit Hilfe des angedeuteten Begriffs eines negativen logischen Ereignisses in der Vielfalt seiner Momente drei Grundsätze formuliert werden, die es gestatten, entsprechende Grundsätze der traditionellen Ideenlogik und der neuzeitlichen Hermeneutik wechselweise ineinander zu übersetzen: 1. Der Satz des Bewusstseins: Dieser lautet in der Sprache der traditionellen Ideenlogik: »Analysis und Synthesis stehen im Verhältnis der Spontaneität der Begriffe.« An die Stelle dieses Satzes tritt nun der Satz: »Analysis und Synthesis stehen im Verhältnis eines negativen logischen Ereignisses zu einem Begriff der Aufhebung.« 2. Der Satz der Einheit der Darstellung mit der dargestellten Sache, auch Satz des philosophischen Stils: Dieser lautet in der traditionellen Ideenlogik: »Jeder philosophische Gegenstand steht unter dem Prinzip durchgängiger Bestimmtheit.« Dieser Satz heißt hier: »Die Darstellung eines philosophischen Sachverhalts ist wahr, sofern sie in sich den Inbegriff der möglichen Unwahrheit desselben enthält.« 3. Der Satz der philosophischen Wirklichkeit: Dieser lautet in der Sprache der traditionellen Ideenlogik: »Wirklichkeit und Begriff stehen im Verhältnis eines spekulativen Vernunftschlusses.« Der entsprechende Satz soll hier mit Hilfe eines Grundbegriffs der mathematischen Funktionstheorie umschrieben werden. Er würde dann lauten: »Zu jeder Wirklichkeit liegen die logischen Ereignisse, unter Einschluss der negativen, unendlich dicht.« Diesen Satz kann man auch den Satz der logischen Freiheit nennen.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre

1.

Vernunftkritik und rationale Ethik

Spinozas Ethik gehört unter die großen spekulativen Systeme der neuzeitlichen rationalen Metaphysik. Diese Ethik erscheint nicht nur als eine gewisse Konsequenz, sie stellt sich nicht nur als Teilstück eines umfassenden metaphysischen Systems dar. Vielmehr ist sie nichts anderes als die Metaphysik selbst und so identisch mit dem Ganzen der theoretisch-praktischen Vernunfterkenntnis. Sie ist metaphysische Ethik und ethische Metaphysik. Es gibt wenige so umstrittene Denksysteme in der Philosophie der Neuzeit, wenige, die so leidenschaftliche Bewunderung und so leidenschaftliche Ablehnung erfahren haben wie das Spinozas. Dies ist nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, mit welcher Konsequenz und Gestaltungskraft hier der Gedanke der vollständigen Determination allen Naturgeschehens unter Einschluss des menschlichen Verhaltens bis in die mathematische Form der philosophischen Darstellung hinein verfolgt ist. So sehr der Ausdruck einer absoluten Bestimmtheit alles Seienden, auch des Menschen, das Erkenntnisbedürfnis einer theoretischen Vernunft befriedigen konnte, so sehr musste das menschliche Verlangen nach Freiheit und Selbstentfaltung sich durch einen solchen rigorosen Determinismus verletzt fühlen. Der theoretische Erkenntnisgewinn schien hier bitter bezahlt durch den praktischen Erkenntnisverlust und dies, obwohl theoretische und praktische Vernunft, Intellekt und Wille ein- und dasselbe sein sollten, gemäß der Identität von Metaphysik und Ethik. Es ist Kant gewesen, der durch seine kritische Transzendentalphilosophie den Wahrheitsanspruch der ganzen überlieferten rationalen Metaphysik bestritten, ihre Vernunftidee in Zweifel gezogen und eine neue Norm der Rationalität zur Geltung gebracht hat. Aber das eigentliche Ziel dieser Vernunftkritik war nicht die Zerstörung, sondern die Neubegründung der Metaphysik auf einer festen und dauerhaften Ver71 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

nunftgrundlage. Diese transzendentale Vernunftkritik stellt einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der okzidentalen Philosophie dar, der alle Metaphysik überhaupt in eine vorkritische und eine kritische einzuteilen erlaubt. Aber diese Kritik hat zugleich noch eine ganz andere längerfristige Wirkung erzeugt neben dem Schein der Zerstörung der alten Metaphysik der Substanz und neben dem Schein einer dauerhaften Begründung einer neuen Metaphysik der Subjektivität; nämlich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber jeder Form metaphysischen Denkens, ein Misstrauen, das der Philosophie nur noch Kritik um der Kritik willen gestattet. Die neue Norm der Rationalität, die Kant der alten Metaphysik vorgehalten und philosophisch zu begründen versucht hat, entsprach der Rationalität der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaft, für die theoretische Vernunft eine Funktion im Blick auf mögliche Erfahrung ist, eine Vernunft in der Erfahrung und Bedingung möglicher Erfahrung. Diese neue Norm der Rationalität setzte zwangsläufig der philosophischen Vernunfterkenntnis eine wohlbestimmte, unüberschreitbare Grenze. Damit schien eine Epoche endgültig zu Ende gegangen, in welcher die Philosophie einem unbefangenen Vernunftglauben hatte anhängen und auf die Möglichkeit bauen können, dass die notwendige Existenz eines absoluten Vernunftwesens aus dessen Begriff allein sich müsse beweisen lassen. Dies wurde die eigentliche Grundfrage aller kritischen Philosophie: Ob überhaupt reine Vernunft möglich und zur theoretischen und praktischen Vernunfterkenntnis tauglich sei und nach welchen Prinzipien sich eine Affinität zwischen dem Vernunftlosen und dem Vernünftigen denken lasse, damit eine allgemeingültige Erkenntnis theoretischer und praktischer Gegenstände gewährleistet sei. So aufwendig und kompliziert sich die Argumentation der Kritik der reinen Vernunft, dieses Grundbuchs aller modernen Vernunftkritik, ausnimmt, so einfach erscheint letzten Endes die Antwort auf jene selbst gestellte Frage, welche besagt: Theoretische und praktische Gegenstandserkenntnis ist nur unter allgemeinen anthropologischen Bedingungen möglich, die den Gebrauch der reinen Vernunft des Menschen auf eben diese Bedingungen seines eigenen Daseins, Formen seiner sinnlichen Rezeptivität und seines Verstandes einschränken. Diese mit der menschlichen Existenz gegebenen Bedingungen des menschlichen Wesens setzen dem reinen Vernunftgebrauch eine feste unüberschreitbare Grenze: die Grenze des Gesamtbereichs möglicher Erfahrung. 72 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

Kein Werk der neuzeitlichen rationalen Metaphysik ist von diesem Resultat der Vernunftkritik so hart in seinem Wahrheitskern getroffen worden wie das des Spinoza. Zwar hat sich Kant selbst nicht direkt mit Spinozas Ethik auseinandergesetzt. Aber um so heftiger haben dies, an seine Kritik der reinen Vernunft anknüpfend und deren Vernunftmaßstab anlegend, Jacobi und Fichte besorgt, welche die Ethica ordine geometrica demonstrata zum Urbild des philosophischen Dogmatismus und zum Gegensystem des wahren philosophischen Kritizismus hochstilisiert haben. Nun gehört es zu den großen Merkwürdigkeiten der neuzeitlichen Spinoza-Rezeption, dass diese pauschale und undifferenzierte Kritik wesentlich dazu beigetragen hat, Spinoza neben Descartes zum wichtigsten Entwicklungshelfer der nachkantischen spekulativen Metaphysik zu machen. 1 Die onto-theologischen Fundamente seiner Ethik wurden zum eigentlichen Anlass, eine Logik der Substanz zu einer Logik der Subjektivität fortzuentwickeln. Aus heutigem Abstand erscheint eine pauschale Kritik am Determinismus und Fatalismus, am Atheismus und Akosmismus der Ethik als wenig erhellend für deren Verständnis. Und doch ist nicht zu bestreiten, dass fundamentale Prinzipien dieses Werks in offenkundigem Gegensatz stehen zu den wichtigsten Prinzipien der Kantischen Vernunftkritik. So finden wir bei Spinoza als ersten und fundamentalsten Begriff seines Systems den Begriff einer absoluten und unendlichen, aus unendlichen Wesensbestimmungen bestehenden Substanz, die aus der Notwendigkeit ihres eigenen einheitlichen Wesens heraus existiert und wirkt und deren Begriff der wahre Begriff Gottes ist. Diese absolute Substanz ist schlechthin einzig und übersteigt in ihrer unerschöpflichen Seinsfülle die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen, der an ihr nur das Wesen des Denkens und der Ausdehnung zu erfassen vermag. Ferner finden wir in diesem System einer rationalen Metaphysik den Menschen zwar – wie alles Seiende außer der absoluten Substanz – in einer unüberbrückbaren ontologischen Differenz zu dieser Substanz, als bloße »Affektion« derselben und als einen bestimmten Modus gedacht, zugleich aber als mit einer ausgezeichneten Befähigung begabt, nämlich mittels intuitiver Erkenntnis die eigentlichen 1 Zur Wirkungsgeschichte Spinozas in Klassik und Romantik vgl. H. Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. I: Die Spinozarenaissance. 1974, sowie ders.: Amor dei intellectualis. Die teleologische Systemidee des romantischen Spinozismus. Neue Hefte für Philosophie 12 (1977), S 64 f.

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I. Ontologie

natürlichen Schranken zu überwinden und jenseits aller begrenzten Erfahrungsbedingungen die Natur in ihrer göttlichen Substantialität aufzufassen. Die intuitive Erkenntnis ermöglicht die adäquate Erkenntnis der Einzelwesen im Blick auf das umfassende Ganze aller Wesenheiten, die wahre Vernunfterkenntnis des Einzelnen in Gott und die wahre Vernunfterkenntnis Gottes vom Einzelnen aus. Zugleich ist sich Spinoza gewiss, dass das allgemeine Wissen, welches wir von Gott bzw. von der Natur (Deus sive Natura) und vom Menschen erwerben können, mathematisch exakt bewiesen werden kann und durch die Form mathematisch-geometrischer Darstellung uneingeschränkte Notwendigkeit der Geltung gewinnt. Die Grundhypothese des Spinoza, dass nicht nur die unendliche Vernunft Gottes, sondern auch die Vernunft des menschlichen Intellekts das endliche Dasein transzendieren und durch diese Grenzüberschreitung das wahre Wesen der Dinge adäquat zu schauen vermöge, musste vom Standpunkt der kritischen Transzendentalphilosophie aus die negativsten Konsequenzen speziell für die praktische Vernunfterkenntnis des Menschen heraufbeschwören. Denn wenn es wahr sein sollte, dass alle Dinge in der Natur, dass insbesondere der Mensch als Naturwesen und seine Handlungen als Naturvorgänge nur Momente an der absoluten Substanz und durch deren umfassende Wesensgesetzlichkeit determiniert sind; – wenn es wahr sein sollte, dass diese Wirkungsmächtigkeit einer alles bestimmenden natura naturans überhaupt erst die Bedingungen möglicher Wahrheitserkenntnis schafft, dann schien offenkundig kein Raum zu bleiben für menschliche Freiheit innerhalb des umfassenden göttlichen Seins. Und die Möglichkeit einer philosophischen Ethik schien vollends zerstört, wenn es wahr sein sollte, dass sittliches Handeln nichts anderes als Wahrheitserkenntnis, Wahrheitserkenntnis nichts anderes als sittliches Handeln ist. Denn damit musste die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen hinfällig werden, welche die Kritik der praktischen Vernunft fordert. Kants transzendental-philosophische Vernunftkritik hat den anspruchsvollen Schein erzeugt, als habe sie einen definitiven, nicht widerrufbaren Fortschritt in der Geschichte des philosophischen Denkens zuwege gebracht, an dem keine philosophische Denkbewegung vorbeigehen könne. Und die Schulphilosophie des Neukantianismus, die bis in dieses Jahrhundert hinein wirksam blieb, hat diesen Schein verstärkt, indem sie alle Philosophie überhaupt in eine kritische und eine vorkritische einteilte und die Geschichte der letzteren zu einer bloßen 74 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

Vorgeschichte und Entwicklungshilfe der Wahrheit degradierte. 2 Aber seit einiger Zeit schon muss sich die Idee einer Fortschrittsgeschichte ganz allgemein ihre Schwächung durch die Gegenidee einer Verfallsund Rückschrittsgeschichte gefallen lassen. Und der Streit zwischen diesen Ideen begünstigt die Ausbreitung einer Kompromissidee der Geschichte des Denkens. Hier ist die Geschichte der Philosophie ähnlich wie die der Kunst als eine Sammlung nach Art eines Museums vorgestellt, indem die Bilder der überlieferten Vernunftwahrheiten zur Anschauung einladen und eine Deutung ihres Wahrheitsgehaltes fordern, der Gewinn und Verlust im Vergleich zu anderen Bildern abwägt. In einer solchen hermeneutischen Perspektive kann die transzendentalphilosophische Vernunftkritik nicht länger unwidersprochen den ganzen Wahrheitsgewinn gegenüber einer kritischen rationalen Metaphysik für sich verbuchen. 3 Sie muss sich vielmehr nun auch ihre theoretischen Schwächen im Vergleich zu dieser nachweisen lassen. Dabei zeigt sich vor allem, dass Vernunftkritik kein Privileg der Kantischen transzendentalphilosophische ist, sondern allem wahren Vernunftgebrauch irgendwie innewohnt; und dass keine Vernunftkritik so vollkommen vernünftig sein kann, dass nicht im Vergleich mit ihr eine vernünftigere vorgestellt werden könnte, die auf die Notwendigkeit einer Kritik der Kritik verweist. Tatsächlich ist Vernunftkritik so alt wie die Metaphysik und seit deren Anfängen ihr ständiger, teils wohlwollender, teils kritischer Begleiter. So hat auch Spinoza seiner metaphysischen Ethik eine kritische Erkenntnistheorie zur Seite gestellt. Sein Tractatus de Intellectus Emendatione kann ebenso als erkenntnistheoretische Einführung wie Besonders charakteristisch für diese Lesart der neuen Geschichte der Philosophie ist E. Cassirers Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, hier insbesondere die Darstellung der Philosophie Spinozas; wieder allgemein abgedruckt in: Texte zur Geschichte des Spinozismus, hrsg. von N. Altwicker, Darmstadt 1971, S. 172 ff., dort insbesondere S. 214 f. 3 Charakteristischerweise steht in einer der jüngsten Diskussionen zum Ursprung der Moderne das Denken Spinozas im Mittelpunkt. Vgl. vor allem die Beiträge von D. Henrich und H. Blumenberg, in: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, hrsg. von H. Ebeling, Frankfurt/M. 1976. Allerdings scheint mir Henrichs Beitrag der neukantianischen Auffassung noch nahe zu stehen, wenn er einen Denkweg vom vorkritischen Prinzip der Selbsterhaltung zu dem des Selbstbewusstseins zeichnet, um diese Gedankenlinie zu Heideggers Denken weiter auszuziehen. Vgl. D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie. Mit einer Nachschrift: Über Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung, a. a. O., S. 122 f. 2

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I. Ontologie

als ein Scholium zur Ethik gelesen werden. Hier findet sich gleich zu Anfang ein Grundprinzip aufgestellt, welches als kritisches Prinzip in aller Vernunftkritik festgehalten zu werden verdient, weil es der Metaphysik vorangehend auch der Vernunftkritik selbst eine Grenze setzt. Nach diesem Prinzip muss jeder Versuch vergeblich bleiben, den falschen Gebrauch der Vernunft grundsätzlich zu verhindern und wahre Vernunfterkenntnis auf eine sichere methodische Grundlage zu stellen, wenn nicht die Wahrheit selbst dank ihres Wesens diesem Versuch zu Hilfe kommt, indem sie sich von sich aus als solche – auch gegen Widerstände – zu erkennen gibt: als Kennzeichen und Unterscheidungskriterium des Wahren und Falschen. 4 In jenem Erkenntnistraktat ist Spinoza den Weg aller Erkenntniskritik im allgemeinen gegangen. Er hat die in seinen Augen wichtigsten Arten der menschlichen Erkenntnis in ihrer Funktion als Quellen möglicher Wahrheit und Falschheit betrachtet, und dies – wie der Titel des Werkes sagt – zum Zwecke einer Verbesserung unseres Erkenntnisvermögens. Unter den aufgesuchten verschiedenen Quellen – Kenntnis vom bloßen Hörensagen und Kenntnis dank unbestimmter Erfahrung, Erkenntnis durch Rückschluss auf die Ursachen sowie Erkenntnis des Wesens der Dinge – wollte er allein die beiden letztgenannten als Instanzen der Wahrheitsfindung anerkannt wissen. Aber die kritische Dimension in Spinozas Metaphysik lässt sich nicht nur an jenem kritischen Wahrheitsprinzip und an der kritischen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens ablesen. Gerade die Grundannahme, in der der spätere Kritizismus das Dogmatische dieser Metaphysik hatte sehen wollen, hat ihre kritische Pointe. Dies gilt einmal für den höchsten Begriff dieses metaphysischen Systems, den Begriff der absoluten und einzigen Substanz, deren unendliche Attribute und Wesensbestimmungen die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen übersteigen, da dieser nur zwei von unendlich vielen Unendlichkeiten zu erkennen vermag: die Unendlichkeit der Extensivität und die Unendlichkeit des Denkens. Die kritische Funktion dieses höchsten Begriffes zeigt sich, wenn man bedenkt, dass jeder Versuch, die Wahrheit des Vernunftgebrauchs an die Einhaltung fester Erkenntnisgrenzen zu binden, gezwungen ist, diese Grenzen genauer zu charakterisieren, und zwar letztlich durch Verweis auf die Idee einer anderen Vernunfterkenntnis, als es die unsrige ist. Darüber hinaus kann Spinozas Hypothese einer 4

Vgl. Tractatus de Intellectus Emendatione. Gebhardt, Bd. II, S. 10–13.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

intuitiven Erkenntnis, die über die gegebenen Erscheinungen hinaus das innere Wesen der Dinge adäquat zu erkennen vermag, sogar kritisch gegen ein Grunddogma des transzendentalen Kritizismus gebraucht werden. Dieses Dogma besteht in der unbewiesenen Annahme, dass wir eine klare und deutliche Idee der allgemeinsten Begriffe unseres Erkenntnisvermögens besitzen, dass wir diese Begriffe als die allgemeinsten Begriffe ausweisen und demonstrieren können, dass diese Begriffe als die allgemeinsten die anthropologischen Bedingungen der uns zugänglichen Erfahrungswelt bilden. Dieses Dogma des transzendentalen Kritizismus, dass diese anthropologischen Grundbedingungen eines sinnvollen theoretischen und praktischen Vernunftgebrauches als Formen einer Erkenntnis a priori so etwas wie unveränderliche Naturkonstanten sind, die einen festen, unveränderlichen Rahmen für unsere Gegenstandswelt bilden, macht allerdings die spekulative Hypothese einer Intuition, die andere Rahmenbedingungen setzen kann, gänzlich sinnlos. Anders dagegen liegen die Dinge, wenn jenem Dogma die Auffassung entgegengestellt wird, dass die ursprünglichsten und allgemeinsten Bedingungen unseres menschlichen Seins und Erkennens, ob veränderlich oder nicht, jedenfalls weder a priori in unserem Bewusstsein noch in unserer vollkommenen Verfügungsgewalt sind. Wenn diese Gegenannahme mehr für sich hat als jenes Dogma, dann allerdings werden wir einer Erkenntnis wohl bedürfen, die anders als diejenige Erkenntnis, die uns innerhalb bewährter Erfahrungshorizonte methodisch leitet, neue Erfahrungshorizonte, theoretische Alternativen und Gegenständlichkeiten von höherer Allgemeinheit erschließt und die den Namen einer intuitiven oder spekulativen Erkenntnis verdient.

2.

Rationale Affektenlehre und Vernunftkritik in Spinozas Ethik

Die Vernunftprinzipien, auf die sich Spinozas Metaphysik gründet, sind – dem Charakter dieser Metaphysik entsprechend – vorrangig Prinzipien einer rationalen Ethik. Deswegen dienen sie auch nicht dazu, ein abgeschlossenes System metaphysischen Wissens zu begründen, sondern gerade dazu, das System dieses Wissens für neue Erkenntnis offen zu halten. Für die Hypothese einer intuitiven Erkenntnis, die über die Grenzen partikularer Erfahrungen hinaus das 77 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

Wesen der Dinge adäquat erkennt, spricht vor allem dies, dass nur unter dieser Bedingung die Wahrheit des Guten und Schlechten den Menschen und in ihrem Verhalten erkannt und vom bloßen Schein unterschieden werden kann. Und für die Annahme, dass alles menschliche Sein und Wirken seinen bestimmten Ort innerhalb des umfassenden Ganzen der Natur hat und durch deren gesetzmäßige Wirksamkeit bestimmt ist, spricht vor allem dies, dass praktische Vernunft nicht auf eine rein intelligible, eine bloße Gedankenwelt beschränkt bleiben kann, sondern dass sie sich in der Welt der alltäglichen Erfahrung und unter Bedingungen der Geltung der Naturgesetze bewähren muss. So hat auch das Prinzip der Identität von theoretischer und praktischer Vernunft, von Wille und Intellekt vorrangig ethische Bedeutung. Denn aus der Perspektive einer philosophischen Ethik ergibt sich evident, dass ein guter Wille durch Erfahrung und theoretische Einsichten nicht verlieren, sondern nur gewinnen kann, wenn er sich als wahrhaft guter Wille in der Tat durchsetzen will. Und ebenso kann es vom ethischen Standpunkt aus der Erkenntnis der Welt und des Menschen keinen Abbruch tun, wenn diese als Wahrheitserkenntnis den Blick auf die Wahrheit des Guten richtet. Gewiss verlangt die philosophische Ethik die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen. Aber diese Unterscheidung bleibt gänzlich abstrakt und ethisch belanglos, wenn sie nicht durch gewisse Vernunftprinzipien einen bestimmten Sinn erhält. Zu diesen Prinzipien, die in Spinozas Ethik eine tragende Rolle spielen, gehört die vernünftige Einsicht, dass sittliche Forderungen nicht im Widerspruch zu allgemein geltenden Naturgesetzen stehen dürfen, wenn sie in die Wirklichkeit menschlichen Daseins sollen Eingang finden können. Denn der gute Wille, der solchen unerfüllbaren Forderungen zu genügen sucht, wird durch die Erfahrung seiner eigenen Ohnmacht unvermeidlich in Resignation, schlimmer noch, in Heuchelei und Zynismus und in die Verzweiflung an der Macht des Guten getrieben. Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist eine Frage der theoretischen und der praktischen Vernunft, eine Frage ihres Zusammenspieles. Gibt es eine wahre und unmissverständliche Einsicht in das Gute, dann ist mit ihr auch das Sollen gegeben. 5 Denn das wahre Gute soll bewahrt und gefördert werden, wo es schon existiert; und es soll ins Auf das Fehlen »deontischer« Termini in Spinozas Ethik macht W. F. Frankena besonders aufmerksam in seinem Aufsatz: Spinozas »New MoraliIty«. Notes on Book IV, in:

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Dasein gebracht und verwirklicht werden, wo es nicht existiert. Dieser Unterschied zwischen Sein und Sollen aber muss notwendig formal bleiben, wenn nur die Möglichkeit einer praktischen Erkenntnis des Guten überhaupt zugestanden, zugleich aber die Möglichkeit einer Erkenntnis dieses Guten in der konkreten Erfahrung bezweifelt wird. Spinozas Ethik geht davon aus, dass theoretisch-praktische Erkenntnis des Guten nicht nur überhaupt, sondern auch in der Erfahrung und im Einklang mit den bestehenden Naturgesetzen möglich ist. Die Lehre von den Affekten bildet das Kernstück in Spinozas metaphysischer Ethik. 6 Sie ist durch die Fülle der in ihr formulierten anthropologischen und psychologischen Einsichten ein aktuelles Lehrstück für die heutige philosophische Anthropologie und Psychologie. Der breite Raum, die fundamentale Rolle, die den Affekten hier im menschlichen Leben und im Blick auf Möglichkeiten der menschlichen Freiheit eingeräumt ist, ist kein Zeichen für einen wie immer beschaffenen Irrationalismus. Im Gegenteil: Die Prinzipien der Vernunft und der Vernunftkritik, die diese metaphysische Ethik im allgemeinen bestimmen, haben ihr besonderes Gewicht in diesem Bereich, der weithin als ein Bereich des Vernunftlosen und Widervernünftigen gilt. Das Prinzip einer allgemeinen Vernunftkritik gewinnt hier eine ausgezeichnete methodische Bedeutung. Denn wenn es einer philosophischen Vernunftkritik darum geht, die Grenzen eines sinnvollen Vernunftgebrauchs zu bestimmen, um Fehleinschätzungen ihrer Erkenntnismöglichkeiten und irreführende Grenzüberschreitungen zu vermeiden, so bleibt eine solche Kritik schief und einseitig, wenn sie nicht die psychischen Instanzen in die kritische Analyse einbezieht, die ihrer scheinbaren Vernunftlosigkeit zum Trotz einen theoretischen und praktischen Eigenwert besitzen. Diesen Eigenwert zu entwickeln und darzustellen, ist die so genannte transzendentale Methode ungeSpinoza. Essays in Interpretation, ed. by E. Freeman and M. Mandelbaum, LaSalle 1975, S. 85. 6 Gegenüber dem spekulativen Interesse an Spinozas Onto-Theologie hat vor allem Johannes Müller die Bedeutung von Spinozas Affektenlehre für eine »wissenschaftliche physiologische Behandlung der Psychologie« unterstrichen und in ihr »wirkliche Erklärung des Lebens der Methode und dem Inhalte nach« gesehen; so in seinem Vorwort zu Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, den Philosophen und Ärzten gewidmet, Koblenz 1826, S. IV. Neudruck München 1967. Zu Recht wird immer wieder daran erinnert, dass Müller die Affektenlehre wörtlich in sein Handbuch der Physiologie des Menschen (1834–40) aufgenommen hat.

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eignet, die diesen Bereich des Vorvernünftigen, der »niederen Seelenvermögen«, aller Formbestimmtheit entkleidet, um an seiner formlosen Materie die Angewiesenheit auf die Formen der menschlichen Vernunft demonstrieren zu können. Für Spinoza haben die Affekte ihre eigene spezifische Rationalität. Ihr Gefüge innerhalb eines konkreten menschlichen Daseins, die Art ihrer Verbindungen hier und im allgemeinen fällt nicht heraus aus dem Gesamtzusammenhang der Natur. Sie bilden keinen Ausnahmebereich in diesem Ganzen. Affekte sind »natürliche Dinge«, die wie alles Natürliche an der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur teilhaben. Ihrem Begriffe nach sind sie psychosomatische Entitäten von größerer oder geringerer Komplexität, deren Verhalten ein dynamisches Element innerhalb des Gesamtverhaltens des Naturwesens Mensch bildet. Die Gesetzmäßigkeit, der diese Entitäten unterliegen, vermag einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung menschlichen Verhaltens zu liefern. Umgekehrt ist ohne Rekurs auf diese Gesetzmäßigkeit eine zureichende Erklärung menschlichen Verhaltens im allgemeinen und einzelnen unmöglich. Die Gesetzmäßigkeit dieser Affekte lässt sich – wie alle Gesetzmäßigkeit in der Natur, soweit wir sie erkennen, – mathematisch darstellen. Für Spinoza besteht angesichts dieser mathematischen Darstellbarkeit keine grundsätzliche Differenz zwischen der Rationalität geometrischer, physischer oder psychischer Entitäten. 7 Die Eigenschaften und Relationen genügen hier wie dort einer identischen oder zumindest analogen Notwendigkeit. Aber der erfolgreiche Gebrauch der mathematisch-geometrischen Methode im Bereich der menschlichen Affekte bestätigt nicht nur deren rationalen Charakter. Vielmehr vermag diese Methode auch in besonderer Weise Transparenz und Übersichtlichkeit in diesen schwer zu durchschauenden Bereich zu bringen. Sie erlaubt es, funktionale Zusammenhänge und Abhängigkeiten dort sichtbar zu machen, wo die Unzulänglichkeit der Umgangssprache einen sinnvollen Gebrauch natürlicher Klassifikationen nicht zulässt. Spinoza war sich des außerordentlichen, von der Überlieferung abweichenden Charakters seiner Affektenlehre wohl bewusst. Das Neue sah er vor allem in der wertfreien Betrachtung, welche durch die Anwendung der mathematischen Methode begünstigt wird. So hat er sich ausdrücklich gegen eine moralisierende Betrachtung der Affekte gewandt, die dort, wo Erkenntnis ganz besonders gefordert ist, sich 7

Ethica III, Praefatio. Gebhardt, Bd. II, S. 138

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begnügt, die Unbeständigkeit und Schwäche der Menschennatur zu beklagen oder zu verspotten. Sein Versuch, eine philosophisch-naturwissenschaftliche Affektenlehre aufzubauen, steht in schroffem Gegensatz zur traditionellen Ortsbestimmung der Affekte innerhalb der Rhetorik und der politisch-pragmatischen Ethik. Die Rhetorik als Kunst der Beeinflussung der Affekte zu gesellschaftlich anerkannten Zwecken hat ihren Mangel darin, dass sie die gesellschaftlich gültigen Werturteile hinsichtlich der Affekte und ihres instrumentellen Gebrauches unbefragt übernimmt und durch ihren reinen Instrumentalismus diesen Vorurteilen Vorschub leistet auch dort, wo diese Werturteile falsch sind. Zwar verlangt eine erfolgreiche rhetorische Praxis ein Wissen um die Zusammenhänge zwischen den häufigsten Affekten und gewissen erwünschten und unerwünschten menschlichen Verhaltensweisen in gesellschaftlich wichtigen Situationen. Aber dieses Wissen hat, ungeachtet einer gewissen Allgemeinheit, nur pragmatischen Charakter und ist deswegen nicht zureichend, das wahrhaft Nützliche und Gute zu erkennen. Aber auch gegenüber der politischen Ethik vollzieht Spinoza bewusst eine Abgrenzung. Er weiß wohl die Vernunft und Klugheit in der Tradition der philosophischen Ethik zu würdigen. Aber es reicht nach seiner Auffassung nicht, eine ethisch-politische Ordnung auf subjektiv richtige Meinung zu stützen, wenn diese nicht auf eine allgemeingültige Theorie des gesetzmäßigen Verhaltens des Naturwesens Mensch gegründet wird. Eine vernünftige politische Gesetzgebung kann sich nicht in Widerspruch zur Ordnung der Natur setzen wollen. 8 Die Rede von der wertfreien Betrachtung der menschlichen Affekte darf nun aber nicht missverstanden werden, so als seien diese Affekte gänzlich wertfreie Gebilde innerhalb eines wertfreien Raumes. Als elementare psychosomatische Gegebenheiten sind die Affekte vielmehr Wertgebilde in einem eminenten Sinne. Ihrer Doppelnatur als physische und als psychische Gebilde entsprechend sind sie vielmehr in einem doppelten Sinn wertbezogen: sie sind wertbestimmt und zugleich wertbestimmend. Ein Affekt kann mehr oder weniger einfach oder komplex sein. Aber immer ist er ein positiver oder ein negativer Wertträger, dessen Verhalten ein mehr oder weniger positives oder negatives Wertverhalten ist. So ist ein Affekt als ein körperVgl. Spinozas Äußerung zu seinem Verhältnis gegenüber der Staatslehre von Hobbes in seinem Brief an J. Jelles vom 2. 6. 1674, in dem er davon spricht, dass er das Naturrecht in der Politik unangetastet sehen wolle. Ep. I, Gebhardt I, S. 238–241.

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liches Gebilde betrachtet eine somatische Zustandsveränderung zum Besseren oder Schlechteren, eine Steigerung oder Schwächung seiner Aktivität; und als psychosomatische Einheit betrachtet bezieht er sich auf die Objekte seiner Umgebung in einer positiven oder in einer negativen Weise, die wir in der gewöhnlichen Umgangssprache als Liebe und als Hass bezeichnen. Die wertfreie Betrachtung der Affekte im Ganzen der menschlichen Natur und innerhalb der Natur im Ganzen bedeutet demnach ein Mehrfaches. Zum einen sind die Affekte selbst immer und notwendig innerhalb bestimmter kausaler Wirkungszusammenhänge gegeben, in denen sie einerseits als Wirkungen, andererseits als Ursachen fungieren. Aber diese Wirkungszusammenhänge schließen zwangsläufig die Werte und Wertbeziehungen der Affekte ein. Und schließlich gilt, dass die kausalen Wirkungszusammenhänge der Affekte unter Einschluss ihrer positiven und negativen Wertbeziehungen allgemeinen und speziellen Naturgesetzen innerhalb der gegebenen Gesamtnatur folgen. Spinozas Ethik ist eine eudaimonistische Ethik auf metaphysischer Grundlage. Das bedeutet, dass die metaphysische Affektenlehre, die ihren Kern bildet, mit der Fragestellung verknüpft ist, wie eine glückliche, den Prinzipien der Vernunft genügende menschliche Lebensführung im Einklang mit den Gesetzen der menschlichen Natur möglich ist. Diese Ethik ist – wie alle philosophischen Ethiken vor Kant – keine reine Handlungsethik. Das Handeln steht vielmehr ausdrücklich im Dienste eines wahrhaft humanen Lebens. Es hängt mit der Aufgabe einer solchen Handlungs- und Lebensethik zusammen, dass wir hier nicht nur bedingt gültige Sätze über dieses und jenes kausal bestimmte Wertverhalten aufgestellt finden, sondern darüber hinaus unbedingt gültige Grundsätze über affektive Werte, die eine allgemeine Orientierung des Lebens unter Handlungsbedingungen ermöglichen. Der wichtigste dieser Grundsätze besagt, dass Hass niemals und unter keinen Umständen gut sein kann (anders als der Affekt der Liebe, der bald gut, bald schlecht ist, je nach Umständen und je nach den spezifischen Objekten der Liebe). Dieser unbedingt gültige Wertgrundsatz von der Schlechtigkeit des reinen Hasses fällt aber keineswegs aus dem Gesamtzusammenhang der allgemeingültigen Naturgesetzlichkeit heraus. Vielmehr ist er selbst als ein allgemeines Naturgesetz anzusehen. Diese umfassende Perspektive einer wertfreien Betrachtung des Wertverhaltens aller natürlichen Dinge ist nun in Verbindung zu sehen mit einer radikalen Wertkritik, durch die sich Spinoza zum wichtigsten 82 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Vorläufer Nietzsches gemacht hat. 9 Die wertfreie Betrachtung des Seienden ist ein Standpunkt jenseits von Gut und Böse. Von ihm aus erweisen sich die meisten Wert- und Normvorstellungen als gesellschaftliche, durch Konventionen gesicherte Vorurteile, die in ihrer Geltung wohl zu unterscheiden sind von der Objektivität der Eigenschaften und Relationen natürlicher Dinge. Diese radikale Wertkritik ist zugleich eine radikale Sprach- und Erkenntniskritik. Denn die sprachlichen Ausdrücke der Alltagssprache sind untrennbar mit diesen konventionellen Wertvorstellungen verbunden, die gesellschaftlichen Bedürfnissen entstammen und entsprechenden pragmatischen Zwecken dienen, und die deswegen ihre sprachlichen Korrelate zur wahren Erkenntnis der Dinge selbst und der Natur insgesamt nur schwer tauglich machen. Hinter allen diesen normativen und sprachlichen Vorurteilen unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses steht nun ein Vorurteil, welches den Namen eines Vorurteils aller Vorurteile, eines Grundvorurteils der Vernunft verdient und welches im Zentrum der Vernunftkritik des Spinoza steht. Es ist dies das teleologische Vorurteil, welches uns zu der grundsätzlichen Annahme veranlasst, »alle Dinge in der Natur handelten wie wir Menschen wegen eines Zweckes«, und welches uns dazu verleitet, den natürlichen Dingen unsere subjektiven Ordnungsvorstellungen anzusinnen, so als ob es sich bei diesen um objektive Eigenschaften und reale Zusammenhänge der Dinge selbst handelte. In seiner Kritik an aller Teleologie ging es Spinoza in erster Linie darum, die Verknüpfung telexlogischer Prinzipien mit dem Begriff Gottes zu verhindern und von diesem die Vorstellung eines freien, bewusst nach Zwecken handelnden Wesens fernzuhalten. Wenn der Gebrauch von Zweckursachen als Erklärungsprinzipien sinnlos, und wenn in einem solchen Gebrauch eher der Ausdruck menschlicher Unwissenheit als der wahren Erkenntnis der Dinge gefunden werden musste, um wieviel bedenklicher musste die Anwendung dieser Prinzipien auf das höchste Wesen als den wahren Grund alles Seienden sein. Der AnthroVgl. den berühmten Brief vorn 30. 7. 1881 an Franz Overbeck, in dem Nietzsche schreibt: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt: Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht. Dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine Instinkthandlung. Nicht nur, dass seine Gesamttendenz gleich der meinen ist, die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen, in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder.« Zu Nietzsches Spinoza- Rezeption vgl. K. Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967, S. 197 f.

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pomorphismus, der in einer solchen Anwendung liegt, untergräbt notwendig das menschliche Vertrauen in die Möglichkeit von Erklärungen überhaupt und den Glauben an die Macht des Guten. Wird Gott nicht als absolute Substanz jenseits von Gut und Böse begriffen, sondern als ein Wesen vorgestellt, das mit einem freien Willen begabt ist und das sich für das von ihm als gut Vorgestellte entscheidet, so folgt für uns Menschen, dass der göttlichen Idee des Guten die irdische Wirklichkeit des Schlechten entspricht und dass Gott als die wahre Ursache dieses Schlechten in unserer Welt angesehen werden muss. Spinoza bestreitet in seiner Kritik des teleologischen Denkens nicht die Existenz des menschlichen Bewusstseins, nach gewissen Zwecken zu handeln und sich frei zu fühlen in der Wahl dieser Zwecke. Aber er erklärt dieses Bewusstsein, welches seine Zweckvorstellungen für wahre Ursachen hält, für ein falsches Bewusstsein, welches seine Unwissenheit durch Pseudoerklärungen kompensiert. In anderen Worten: Die Kritik an der Teleologie beschränkt sich nicht darauf, den Gebrauch von Zweckursachen in den Bereich menschlichen Handelns einzuschließen. Sie verneint vielmehr den Erklärungsgehalt von Zweckvorstellungen grundsätzlich und uneingeschränkt. Gerade für den Bereich menschlichen Verhaltens gewinnt diese Kritik ihr besonderes theoretisches und praktisches Gewicht. Was für das höchste und vollkommenste Wesen, was für die Natur insgesamt und für alle Dinge in der Natur gilt, das muss auch für die menschlichen Affekte. gelten, sofern diese als natürliche Dinge in der Natur gedacht werden. Die Naturkausalität im allgemeinen verlangt, dass die Affekte dort, wo sie in Erklärungszusammenhängen gebraucht werden, von Zweckursachen auf Bewegursachen (causae efficientes) zurückgeführt und als solche untersucht werden. Spinozas ontologische Ethik weist eine Reihe von Zügen des überlieferten Platonismus auf. Aber es gibt in der europäischen Philosophie kaum einen so antiplatonischen Satz wie diesen Satz des Spinoza: »Unter dem Zweck, um dessentwillen wir etwas tun, verstehe ich den Trieb«, und jenen anderen Satz, der diesen aufs beste erläutert: »Wir begehren etwas nicht deswegen, weil wir es für gut halten, sondern wir halten es für gut, weil wir es begehren.« 10 Das aber heißt: Sowohl alle physischen und psychosomatischen wie alle rein psychischen Instanzen, die als Ursachen zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Han10

Eth. III, prop. ix, scholium.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

delns dienen, haben den Charakter von »Bewegursachen« (causae efficientes), auf die alle vermeintlichen Zweckursachen zurückzuführen sind. Und jede Bewegursache setzt andere Ursachen voraus, deren Wirkung sie ist. Die ursprünglichste aller Bewegursachen im Bereich der natürlichen Dinge ist deren Streben (conatus) nach Selbsterhaltung, der natürliche Selbsterhaltungstrieb (appetitus) lebendiger Wesen, der im Menschen unter den Bedingungen möglichen Bewusstseins die Form der natürlichen Begierde (cupiditas) annimmt. Trieb und Begierde lebendiger Wesen artikulieren sich in der Zuwendung zum Nützlichen, zu den guten Dingen und in der Abwendung vom Schädlichen, von den schlechten Dingen. Diese Artikulation des elementaren Selbsterhaltungsstrebens in Zuwendung und Abwendung, Zuneigung und Abneigung wird in der gewöhnlichen Sprechweise als Liebe und Hass bezeichnet. Der ursprüngliche Maßstab für Nützlichkeit und Schädlichkeit, den die Lebewesen in ihrem Verhalten gegenüber den Dingen anlegen, ist der Maßstab ihres je eigenen Seins und Wesens im Streben nach Selbsterhaltung.

3.

Das Zwischenreich der Affekte

Die drei genannten Verhaltensweisen – Trieb bzw. Begierde sowie Liebe und Hass – sind die elementarsten Verhaltensweisen menschlicher Wesen. Sie bilden gewissermaßen die menschlichen Uraffekte, die ursprünglichsten Antriebskräfte menschlichen Verhaltens. Sie sind, als Bewegursachen betrachtet, die ihre eigenen Ursachen haben, keine isolierten Entitäten, sondern sie greifen ineinander und bilden so einen ursprünglichen Funktions- und Regelkreis, der die Grundlage des komplexen psychosomatischen Verhaltens des Lebewesens »Mensch« bildet. In direkter Verbindung mit der Kritik am Prinzip der Teleologie steht die berühmte Kritik, die Spinoza am Prinzip der Willensfreiheit geübt hat. Die Kritik an diesem Prinzip ist eine unmittelbare Folge der Kritik an jenem, lässt jedoch der Kritik an aller Teleologie keine andere theoretische Möglichkeit als die, entweder die Existenz eines Willens als Verhaltens- und Handlungsursache überhaupt zu verneinen, oder aber den Willen als eine spezifische Bewegursache und als Wirkung anderer Ursachen aufzufassen. Spinoza hat sich für das letztere entschieden. So bestimmt er den Willen als den menschlichen Trieb nach Selbsterhaltung, der aber anders als die Begierde, die sich auf den gan85 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

zen Menschen als psychosomatische Einheit bezieht, als rein psychische Ursache zu denken ist und somit allein im Blick auf das mentale Geschehen im Menschen gedacht wird. Wenn Spinozas spekulative Ethik zu einem Skandalon werden konnte, wenn sie immer wieder die kritische Frage heraufbeschworen hat, ob ihr offenkundiger Determinismus nicht zwangsläufig zum Fatalismus, zur Resignation und Passivität, zur Zerstörung des Vertrauens in die Möglichkeit menschlicher Freiheit führe, so kann nur Blindheit oder Oberflächlichkeit sich bei dieser Kritik auf die Verneinung der Willensfreiheit berufen. Denn Willensfreiheit als die Fähigkeit, sich ohne weiteren Grund für etwas und gegen etwas zu entscheiden, ist gewiss nicht die einzige Form, menschliche Freiheit vorzustellen. Schon die Alltagserfahrung spricht gegen die Annahme einer absoluten Willensfreiheit, die jedem äußeren Einfluss, jeder Einwirkung von außen entzogen ist. Und außerdem lässt sich der Begriff einer Bewegursache, die eine Reihe von Ursachen eröffnet, ohne selbst die Wirkung anderer Bewegursachen zu sein, nicht mit dem universalen Prinzip einer Kausalität natürlicher Bewegursachen verbinden, ohne dass man sich in Widersprüche und Aporien verwickelt. Was liegt daher näher als dies, nach einem anderen, angemesseneren und besseren Freiheitsbegriff Ausschau zu halten, der uns solche Aporien erspart. Und tatsächlich findet sich in Spinozas Ethik ein solcher ganz anderer Freiheitsbegriff, der als einer der wichtigsten Grundbegriffe unter die ersten Definitionen aufgenommen ist und daher die Funktion einer ersten Wahrheit hat. Als frei wird hier ein Ding definiert, welches allein aus der Notwendigkeit seines eigenen Wesens heraus existiert und allein von sich aus zum Handeln bestimmt wird. Der Gegensatz zu einem solchen freien Ding ist ein Ding, welches unter äußeren Zwängen steht, das heißt, welches durch andere Dinge dazu bestimmt wird, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken. 11 Aber dieser wahre Begriff eines freien, sich selbst bestimmenden Dings bringt eine andere und größere Schwierigkeit mit sich. Kann sich der einzelne Mensch aufgrund seiner Unwissenheit und in Verkennung der ausnahmslosen Gültigkeit des Kausalprinzips in der Natur immer wieder in die falsche Fiktion einer eigenen Willensfreiheit flüchten, so lässt die wahre Definition der Freiheit eine solche Ausflucht nicht zu. Der Begriff dieser Freiheit lässt klar und unmissverständlich erkennen, dass dem Menschen als einem endlichen Wesen 11

Eth. I, def. VII.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

und kontingenten Ding eine solche Freiheit im wahren und eigentlichen Sinne verwehrt ist; dass er einer solchen Freiheit nicht mächtig ist, ihrer grundsätzlich auch nicht mächtig werden kann. Die wahre Freiheit ist Gott allein als der absoluten und unendlichen Substanz in ihrer absoluten Einzigartigkeit und Einzigkeit vorbehalten. Nur für diese Substanz gilt, dass mit ihrem Wesen notwendig die Existenz gegeben ist, dass all ihr Tun und Wirken die Konsequenz ihres Wesens und dass dieses höchste Wesen nichts anderes als die Gesetzmäßigkeit einer absoluten, allumfassenden Wirksamkeit ist. Das ist es, was der erste aller Begriffe in Spinozas System aussagt: Das Ursache-Sein an sich und für sich, welches ausschließlich Gott zukommt. So wie überhaupt kein Ding innerhalb des Naturganzen, so vermag auch der Mensch nicht, aus eigener Machtvollkommenheit heraus zu existieren. Es ist unmöglich, ihn aus ihm selbst heraus adäquat zu begreifen. Es bedarf des anderen – letzten Endes des absoluten, allumfassenden Wesens und seiner intuitiven Erkenntnis, um menschliches Wesen begreifen zu können. Die Art und Weise der jeweiligen menschlichen Existenz und Wirkungsweise ist grundsätzlich nicht hinreichend aus dem jeweils zugehörigen begrenzten Wesen heraus zu erklären. Und doch: Auch wenn der Begriff der wahren göttlichen Freiheit als transzendent gegenüber dem menschlichen Wesen und eine absolute ontologische Differenz zwischen göttlichem und menschlichem Sein im Denken Spinozas gesetzt ist, die empörte Kritik an seinem angeblichen Determinismus wird damit keineswegs verständlich. Denn warum sollte dem Menschen nicht eine dritte Möglichkeit offen stehen, eine begrenzte Freiheit zwischen göttlicher Freiheit und den schlechten Fiktionen falscher Freiheitsbegriffe. Es muss in der Tat ein weiteres theoretisches Element hinzugedacht werden, um die berühmte Determinismus-Kritik als solche überhaupt verständlich werden zu lassen. Dieses hinzukommende Element besteht in dem Prinzip, welches weithin als das Grundprinzip des Spinozismus gilt: Es ist das Prinzip der Immanenz des Seins alles Seienden in Gott, das Prinzip des Pantheismus, genauer des Panentheismus: Alles in Einem (hen kai pan). 12 Dieses Prinzip ist es, welches allererst definitiv den Raum möglicher 12 Eigentümlicherweise hat Spinoza anders als die meisten Kritiker seines Pantheismus die eigene Immanenzlehre im Einklang mit der Philosophie der Antike und den Lehren des Christentums gesehen. Vgl. seinen Brief an Oldenburg vom 14. 1. 1676, Ep. LXXIII, Gebhardt I, p. 324 f.

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I. Ontologie

menschlicher Freiheit zu vernichten scheint. Denn indem alle Dinge in Gott sind und durch ihn begriffen werden, ist er ihr allumfassender, sie begründender Grund. Die göttliche Seinsweise, Grund aller Dinge zu sein, ist aber nicht nur allumfassend. Sie ist auch allwesentlich in dem Sinne, dass sie sich auf alle wesentlichen Züge der Dinge erstreckt: auf ihr Wesen, ihre Existenz und auf ihre Wirksamkeit. Gott ist dieser dreifache Grund alles Seienden, der Grund ihres Wesens und die Ursache ihrer Existenz und Wirksamkeit. Dementsprechend sind alle Dinge – und so auch der Mensch – in jedem wesentlichen Sinne durch Gott, die absolute Substanz, bestimmt (determiniert). Erst der Gedanke einer absoluten, einer allumfassenden und allwesentlichen Determination der Dinge, und nicht schon der Gedanke der Verneinung der Willensfreiheit, scheint eine Verteidigung des Spinoza gegen den Vorwurf des Determinismus zur Aussichtslosigkeit zu verurteilen. Und doch, sieht man nur etwas genauer hin, so stellt sich statt des Eindrucks einer Aussichtslosigkeit solcher Verteidigung vielmehr Verwunderung darüber ein, wie es möglich sein konnte, das Prinzip der Immanenz und der Determination alles Seienden so gründlich misszuverstehen. Denn Determination ist von äußerem Zwang klar und eindeutig, nicht zuletzt durch die anfängliche Definition eines freien Dinges unterschieden, dessen Freiheit mit der eigenen Determination zusammenfällt. Gott zwingt den Menschen nicht wie äußere Dinge. Er bestimmt ihn. Offenkundig kann menschliche Freiheit nicht darin bestehen, das eigene Wesen zu erzeugen, die eigene Existenz ins Leben zu rufen und die Lebensfähigkeit aus eigener Kraft hervorzubringen, diese Fähigkeit zu leiden und tätig zu sein, aus der alles bestimmte Tun und Handeln erst hervorgeht. Freiheit, die dem Menschen die absolute Verfügungsgewalt über Wesen, Existenz und Lebensfähigkeit einräumt, ist eine sinnwidrige Begriffsfiktion. In Wahrheit gibt die göttliche dreifache Determination des Menschen allererst die Bedingungen für eine mögliche Freiheit des Menschen, indem sie dieser einen wohlbestimmten Spielraum einräumt, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Das Problem der menschlichen Freiheit findet seine zureichende Darstellung nicht in der Behandlung der Frage, wie diese Freiheit mit absoluter Determination in Einklang gebracht werden könne. Der Kern des Problems ist vielmehr. ein anderer. Wie ist menschliche Freiheit angesichts der bestehenden Zwänge möglich, denen alle Wesen in der Natur ausgesetzt sind? Es ist eine Illusion zu glauben, der Mensch könne sich von allen äußeren Zwängen freimachen; und es sei ein 88 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

Menschenleben möglich, welches ganz frei ist von Leiden und Schmerzen. Es ist auch dies ein Naturgesetz, dass kein Wesen in der Natur, wie weit auch immer es seinen Machtbereich ausdehnt, sich aller äußeren Zwänge entledigen könne. Das Problem der menschlichen Freiheit lautet demnach: Wie ist menschliche Freiheit im Blick auf die göttliche Bestimmung des Menschen und angesichts der unaufhebbaren äußeren Zwänge der Natur möglich? Dass menschliche Freiheit möglich ist, daran lässt Spinozas Ethik nicht den geringsten Zweifel. Andernfalls wäre der Titel des letzten und entscheidenden Teils dieses Werkes nicht zu erklären, der lautet: »Von der Macht des Intellekts oder von der menschlichen Freiheit« (De potentia intellectus seu de libertate humana). Es fällt auf, dass Spinoza von der menschlichen Freiheit eigentümlich verhalten und nur selten in Form von Lehrsätzen spricht, die etwas exakt Beweisbares über diese Freiheit aussagen. Aber gerade die wenigen beweisbaren Aussagen über die menschliche Freiheit lassen Spinozas Freiheitsverständnis und den hohen Wert deutlich erkennen, den seine Ethik dieser Freiheit einräumt. 13 Der Mensch ist nicht von Geburt an im Stande der Freiheit. Wäre er dies, er stände a priori wie Gott »jenseits von Gut und Böse«. Wie alles menschliche Wissen, so will auch die menschliche Freiheit gelernt sein. Wie das Wissen, so verdankt auch sie sich der fortschreitenden Erkenntnis der Dinge innerhalb des Naturzusammenhangs. Sie ist nicht apriorischer Besitz des Menschen, sondern etwas, was von diesem als Naturwesen errungen und bewahrt, gefördert und fortentwickelt werden will. Anders als die falsche Vorstellung der Willensfreiheit erwarten lässt, ist die wahre menschliche Freiheit mehr als nur der jeweilige momentane und vorübergehende Zustand eines Bewusstseins, welches eine Handlung begleitet. Die natürliche, Freiheit des Menschen vermag schon mehr zu sein als bloße Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Sie ist eine hohe Lebenseinstellung und Lebenshaltung, die ein Mensch gewinnen kann, wenn es ihm gelingt, sein Leben in vernünftiger Einsicht zu gestalten. Eine solche natürliche Freiheit ist die Bedingung der ursprünglichen natürlichen Tugenden des Menschen: der Tugenden der Dankbarkeit und der Aufrichtigkeit gegenüber den Mitmenschen. Der wahrhaft freie Mensch weiß, was er Gott und was er dem freien Mitmenschen verdankt: dem einen die Bedingung möglicher Freiheit überhaupt, dem

13

Eth. IV, prop. LXVII-LXXIII.

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I. Ontologie

anderen die Möglichkeit einer Gemeinschaft, durch die sich menschliche Freiheit gemeinsam gegen äußere Zwänge sichert. Die Frage nach den Bedingungen möglicher menschlicher Freiheit zwischen göttlicher Determination und natürlichen Zwängen findet ihre Beantwortung im Rahmen einer allgemeinen Vernunftlehre, durch eine Verhältnisbestimmung des Vernunftlosen und des Vernünftigen. Die menschlichen Affekte stellen als ein komplexes anthropologisches Gefüge ein Zwischenreich dar: ein Reich zwischen reiner Unvernunft und reiner Vernunft. Die wertfreie Betrachtung, die Spinoza für die rationale Ethik und Affektenlehre fordert, ist mehr als nur ein formales wissenschaftliches Methodenpostulat. Vielmehr entspricht dieser methodisch-wissenschaftlichen Betrachtungsweise die Natur der Affekte selbst, die als einzelne partikulare Gegebenheiten innerhalb des umfassenden Wertraums des Vernunftlosen und des Vernünftigen keineswegs definitiv auf einen Wert innerhalb dieses Raumes fixierbar sind. Vielmehr repräsentiert das Zwischenreich der menschlichen Affekte die Zwischenstellung des Menschen zwischen möglicher Knechtschaft und möglicher Freiheit. Wie lässt sich nun angesichts menschlicher Vernunft und Unvernunft eine Antwort finden auf die Grundfrage der rationalen Ethik nach der Möglichkeit eines vernunftgeleiteten Lebens, welches freie Tugenden und die Tugend der Freiheit entfaltet. Die Erörterung dieser Frage setzt nun ein in Spinozas Ethik nicht genanntes Prinzip voraus. Dieses hat das Aussehen eines teleologischen Prinzips, ist aber von einem solchen wohl zu unterscheiden. Es ist das Prinzip einer formalen, einer nicht-materialen Zweckmäßigkeit, einer Affinität oder Entsprechung zwischen dem Vernunftlosen und dem Vernünftigen. 14 Dieses Prinzip einer formalen Zweckmäßigkeit ist ein formales Prinzip. Seine Formalität lässt sich in bestimmter Weise strukturieren und ermöglicht so eine Strukturanalyse der Ethik hinsichtlich der Kohärenz und Inkohärenz ihrer propositionalen Inhalte. Die formale Struktur jenes Prinzips enthält nun die folgenden einfachen Strukturelemente: I. Das Vernunftlose und Unvernünftige erIch spreche hier von Form der Zweckmäßigkeit entsprechend dem von Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelten Terminus. Vgl. dort vor allem §§10–11. R. Spaemann hat an Nietzsches Spinoza-Kritik erinnert, die bemängelt, dass Spinoza inkonsequenterweise doch wieder zu einem teleologischen Prinzip greife. Allerdings bindet Spaemann ebenso wie D. Henrich dieses Prinzip ausschließlich an das der Selbsterhaltung. Vgl. R. Spaemann, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, in: Subjektivität und Selbsterhaltung, a. a. O., S. 81.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

weist sich im Extremfall als ein Widervernünftiges, welches sich unter gewissen Bedingungen oder schlechthin jeder möglichen- Vernunftgebung entzieht oder verweigert. Dieser Grenz- und Extremfall ist der einer negativen, einer verneinten Affinität. II. Dem zweiten Strukturelement entsprechend stehen das Vernunftlose und das Vernünftige nicht in unlösbarem Gegensatz und Widerspruch. Vielmehr erweisen sich beide Seiten in ihrer Beziehung zueinander als nicht unverträglich. Es herrscht zwischen beiden eine gewisse Indifferenz und Neutralität, die aber die Möglichkeit nicht ausschließt, dass das Vernunftlose und Unvernünftige sich der vernünftigen Sinngebung fügt. III. Das Fehlen von Unverträglichkeit ist freilich etwas anderes als echte Verträglichkeit, so wie Indifferenz und Neutralität etwas anderes sind als die positive Einstellung. So kommt dem dritten Strukturelement entsprechend das Vernunftlose und Unvernünftige positiv der Vernunft entgegen. Es begünstigt die Tätigkeit der Vernunft in ihm und in Beziehung auf es. Hier ist also positive Affinität zwischen dem Vernunftlosen und der Vernunft von seiten des ersteren aus gegeben. Dem Verhalten des Vernunftlosen und Unvernünftigen in diesen verschiedenen Vernunftverhältnissen korrespondiert jeweils ein entsprechendes Verhalten der Vernunft: Die Vernunft kann sich der Unvernunft verweigern oder sich dieser gegenüber als ohnmächtig erweisen (I’); sie kann sich angesichts der Indifferenz und Neutralität des Vernunftlosen, gegen größere oder geringere Widerstände des Unvernünftigen durchsetzen (II’), oder sie kann das positive Entgegenkommen der Gegenseite durch ein eigenes Entgegenkommen beantworten (III’). In allen diesen Verhaltensweisen der Vernunft ist aber (IV) weiterhin zu unterscheiden, ob 1. die Vernunft im Vernunftlosen still und unbemerkt wirkt, mit einer »List der Vernunft«, die sich der Gegenseite des Vernunftlosen als eines Mittels zum eigenen Gebrauch bedient; oder ob sie 2. sich mit dem Unvernünftigen über Gemeinsamkeiten verständigt, oder ob sie 3. als reine Vernunft für sich allein und ohne Bezugnahme auf die andere Seite tätig wird.

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I. Ontologie

4.

Von der Affinität zwischen dem Vernunftlosen und dem Vernünftigen

a)

Qualität und Quantität der Affekte

Es ist nicht ohne weiteres zu sehen, warum diese elementare Voraussetzung eines Vernunftprinzips der formalen Zweckmäßigkeit in Spinozas Ethik überhaupt nicht thematisch wird, auch wenn es unausdrücklich eine maßgebliche Rolle spielt; ob es die scheinbare Nähe zwischen den Prinzipien einer formalen und einer materialen Affinität und die radikale Kritik an aller Teleologie sind, die Spinoza mit dem einen Prinzipien auch das andere verwerfen lässt; oder ob für ihn die jeweilige Beweisbarkeit jedes einzelnen Lehrsatzes so wichtig war, dass er darüber die Beachtung der Bedingungen möglicher Kohärenz und Ordnung der unterschiedlichen Inhalte der Lehrsätze für gering veranschlagt hat. Kohärenz aber ist eine ebenso wichtige, vielleicht eine wichtigere theoretische Tugend als zwingende Beweisbarkeit. Insofern ergänzt die Strukturanalyse der Affektenlehre deren mathematischgeometrische Rekonstruktion, ja sie muss einer solchen Rekonstruktion der einzelnen Beweise vorangehen. Hier können freilich nur einige andeutende Hinweise auf die Möglichkeiten einer solchen systematischen Strukturanalyse gegeben werden. Das erste Strukturelement einer reinen Unvernunft, die sich aller Vernunft widersetzt, findet ihre exemplarische Verwirklichung in all den Fällen, in denen ein Affekt vom Menschen so sehr Besitz ergreift, dass dieser zu nichts weiter fähig ist. Anstatt Herr zu sein über diesen Affekt – sei er Liebe oder Hass, Reue oder Neid – wird er von dem Affekt beherrscht. Er erscheint geradezu als ein Besessener, dessen Vernunft außer Kraft gesetzt und zu keiner Verhaltensmodifikation fähig ist. Ein Mensch, der auf diese Weise von einem einzelnen, mehr oder weniger komplexen Affekt, von seinem Affekt vollständig beherrscht wird, ist ein leidender, ein im Grunde unglücklicher Mensch. Er leidet an seiner affektiven Fixierung, an seiner Unlust, an seiner Reue, an seinem Hass. Er leidet im Grunde sogar an seiner fixierten Liebe. Er ist ein unfreier Mensch in einer Grenzsituation. Denn er leidet nicht nur an seinem affektiven Zustand, sondern auch daran, dass er diesen nicht aus eigener Kraft verändern kann. Er leidet am Mangel eigener Spontaneität, an seiner Existenz zwischen zwanghafter Unfreiheit und pathologischer Befindlichkeit. 92 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

Ähnlich ist die Situation eines Menschen, der ohnmächtig zwischen widerstrebenden Begierden und sonstigen Affekten hin und her gerissen wird, ohne einen Ausweg aus dieser affektiven Zwangslage zu finden. Das zweite Strukturelement, demzufolge Vernunft und Unvernunft anders als im vorherigen Falle nicht unverträglich sind, sondern dank ihrer neutralen Affinität zu einem Verhältnis der Vernunft im Vernunftlosen gelangen können, lässt sich an vielen theoretischen Zügen innerhalb der Ethik exemplarisch belegen. Hierher gehört einmal das unübersehbare Faktum, dass es letzten Endes zahllos viele Affekte gibt, in deren kaum zu überschauender Mannigfaltigkeit sich die vielfältigen Unterschiede menschlichen Wesens, menschlicher Zustände und Lebenssituationen ausdrücken. Die Verschiedenheit der Affekte scheint soweit zu reichen wie die Verschiedenheit der menschlichen Individuen und ihre momentanen Zustände. So scheint jeder Mensch sowohl von sich selbst als auch von den anderen Menschen in jedem Augenblick seines Lebens hinsichtlich der jeweiligen Affekte unterscheidbar. Unsere Alltagssprache, mit deren Hilfe wir diese Affekte benennen und zu spezifizieren versuchen, ist offenkundig viel zu arm und zu abstrakt, um dieser konkreten Vielfalt und diesem Nuancenreichtum gerecht werden zu können. Und doch ist dieses scheinbare Missverhältnis zwischen der Fülle und Differenziertheit der Affekte und der Armut und Abstraktheit des sprachlichen Ausdrucks kein unüberwindliches Hindernis für den Aufbau einer rationalen Affektenlehre. Eine solche Theorie der Affekte bedarf vielmehr nur der Einsicht, dass hinter jenem scheinbaren Missverhältnis sich die Verträglichkeit des Vernunftlosen mit der Vernunft verbirgt. Es fällt auf, dass der dritte Teil der Ethik, der »vom Ursprung und von der Natur der Affekte handelt« (De origine et natura affectuum), mit einem Katalog abschließt, der die Definition der bekanntesten menschlichen Affekte enthält. Durch diese ungewöhnliche Stellung der Definitionen, die wider Erwarten nicht am Anfang, sondern am Ende einer systematischen Gedankenentwicklung stehen, bringt Spinoza sein Misstrauen gegen die Fähigkeit der Alltagssprache zur Artikulation einer rationalen Affektenlehre zum Ausdruck. Wie kein anderer Bereich sonst ist gerade hier verlangt, sich von sprachlichen und pseudobegrifflichen Vorurteilen freizumachen und die Erkenntnis der Natur der Dinge vor die sprachlichen Bezeichnungen zu stellen. 15 15

Vgl. Eth. III. Affectuum Definitiones, def. xx, Explicatio.

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I. Ontologie

Eine Theorie der Affekte kann nicht an der angeführten Vielfalt vorbeigehen. Sie muss eine dieser Vielfalt entsprechende, in ihr zum Ausdruck kommende Gesetzmäßigkeit zu formulieren versuchen: So finden sich eine Reihe beweiskräftiger Aussagen, die diesen Sachverhalt der unendlichen Vielfalt des emotional-affektiven Bereichs von verschiedenen Seiten zu beleuchten und in Gestalt von allgemeingültigen Naturgesetzen zu formulieren versuchen. So etwa der Lehrsatz, dass »verschiedene Menschen von ein und demselben Gegenstand verschiedenartig affiziert werden können und dass ein und derselbe Mensch von ein und demselben Gegenstand zu verschiedenen Zeiten verschiedenartig affiziert werden kann«, oder der andere Lehrsatz, der aussagt, dass es so viele Arten (species) der Affekte gibt wie Arten affizierender Gegenstände 16 und der somit einen Sachverhalt formuliert, der es im Prinzip erlaubt, die allgemeine Beschreibung der Affekte durch die Beschreibung derjenigen Gegenstände zu spezifizieren, auf die sich die betreffenden Affekte richten. In der angesprochenen unendlichen Fülle der Affekte verbirgt sich eine fundamentale, für das Verständnis des menschlichen Verhaltens besonders wichtige Eigenschaft. Die Affekte sind in einer eigentümlichen Weise gegenständlich ungebunden. So gehört es zum Wesen der menschlichen Begierde, dieses elementaren Strebens nach Selbsterhaltung, dass diese in ihrer positiven Zuwendung und in ihrer negativen Abwendung, in ihrer Artikulation der Liebe und des Hasses, nicht von vornherein auf ganz bestimmte Gegenstände fixiert ist, vielmehr sich erfolgreich oder von Misserfolg bestimmt diesem und jenem zuwendet, sich von diesem und jenem abwendet; in der Sprache des Lehrsatzes: »Jedes Ding kann unter Umständen (per accidens) Ursache der Lust, der Unlust oder der Begierde werden.« 17 Entsprechendes lässt sich für Liebe und Hass, Hoffnung und Furcht und für viele andere Affekte beweisen. Gerade diese gegenständliche Ungebundenheit, die eine sachgerechte Systematik unmöglich zu machen scheint, bildet aber die eigentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer gesetzmäßigen Kombinatorik der Affekte, die eine Erklärung einfachen und komplexen menschlichen Verhaltens ermöglicht. So genügt etwa die einfache Zusatzannahme einer gegebenen Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Objekten, denen unsere Liebe oder unser Hass oder das 16 17

Eth. III, prop. LI und prop. LVI. Eth. III, prop. XV.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

eine und das andere gilt, um daraus Gesetze der Übertragung von Affekten und Gesetze der Ambivalenzbildung aufzustellen. Aber die Verträglichkeit des Vernunftlosen mit der Vernunft reicht wie gesagt über eine neutrale Beziehung hinaus. Sie ist dem dritten Strukturelement zufolge auch als positive Affinität zu denken. So lässt sich in Form von Lehrsätzen darstellen, unter welchen Bedingungen Liebe mit Liebe, Hass mit Hass vergolten wird und wie es prinzipiell möglich ist, Hass mit Liebe zu vergelten. Dieses Gefüge von Lehrsätzen ist es, dem positiv ein Grundgesetz des vernünftigen Verhaltens entspricht. Diesem Gesetz zufolge liegt es im wahren Begriff eines von der Vernunft geleiteten Lebens, wenn der Mensch Hass, Zorn und Verachtung, die sich gegen ihn richten, mit Liebe und Großmut beantwortet. Was für die qualitative Seite der Affekte gezeigt werden kann, lässt sich auch für ihren quantitativen Aspekt darlegen. Wie immer die Affekte bestimmt sind, ob als positive oder als negative Einstellungen des Verhaltens gegenüber gegebenen Objekten, immer unterscheiden sie sich untereinander auch hinsichtlich ihrer Stärke und Schwäche, hinsichtlich des Grades ihrer Intensität, – und dies teils in Abhängigkeit, teils in Unabhängigkeit von ihrer qualitativen Bestimmtheit. Diese unterschiedlichen Intensitäten lassen sich nicht wie physikalische Größen, also nicht etwa wie Geschwindigkeiten oder Temperaturen messen. Dabei geht es nicht um die Exaktheit, nicht um die Genauigkeit der metrischen Werte der Messung. Vielmehr lassen sich die Affekte als psychosomatische Gebilde von jeweils unterschiedlicher Intensität überhaupt nicht in der Weise vergegenständlichen wie materielle Objekte, die einer Messung ihrer physikalisch definierten Größen ausgesetzt werden. Aber auch wenn den jeweiligen intensiven Größen der Affekte keine bestimmten numerischen Werte zugeordnet werden können, so heißt dies nicht, dass die allgemeinen Naturgesetze für diese Größenbestimmungen keine Geltung hätten; dass Intensitätsunterschiede überhaupt nur innerhalb des subjektiven Erlebens ihren Ort hätten und als Schwankungen des Gefühls dunkel gespürt würden, aber keine allgemeingültigen Aussagen gestatteten. In Wahrheit gibt es gesetzmäßige funktionale Abhängigkeiten nicht nur zwischen Differenzen affektiver Qualitäten, sondern auch Quantitäten. Diese funktionalen Abhängigkeiten sind allgemein und setzen allgemeine Bedingungen ihrer Möglichkeiten voraus. So spielen bei den funktionalen Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen affektiven Intensitäten unter den allgemeinen Bedingungen vor allem 95 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

zeitliche, modale und strukturelle Gegebenheiten eine besondere Rolle, welche die jeweiligen Affekte an ihren spezifischen intentionalen Gegenständen vorfinden. Ein besonders einfaches und allgemein bekanntes Gesetz besagt etwa, dass zeitlich ferner liegende Sachverhalte uns emotional weniger stark berühren als die zeitlich näher liegenden. Dieses Gesetz einer funktionalen Abhängigkeit intensiver Affektgrößen von zeitlichen Entfernungen gilt sowohl für Entfernungen des Zukünftigen wie auch des Vergangenen. Der jeweilige zeitliche Abstand und seine Vergleichung setzt dabei eine einheitliche Vergegenwärtigung und eine einheitliche Beziehung auf eine definitive Gegenwart voraus. Weniger evident ist auf den ersten Blick die Abhängigkeit affektiver Größen von modalen Bestimmungen der Affektgegenstände. So hängt die Stärke eines Affektes unter anderem auch davon ab, ob das Objekt, auf welches der Affekt in diesem oder jenem Wertverhalten gerichtet ist, sich aus der Perspektive dieses Verhaltens als notwendig oder als möglich oder zufällig darstellt. Und von besonderem Gewicht ist es, ob ein solches Objekt als notwendig gegeben oder als frei handelnd vorgestellt wird. Auch dies, ob das Objekt des Affekts in Form der Einfachheit gegeben ist oder nicht, gehört unter die allgemeinen Bedingungen dieser Abhängigkeiten unterschiedlicher Intensitäten. Im übrigen verbindet sich auch hier das eine Strukturelement mit dem anderen, die Verneinung von Unverträglichkeit mit der Bejahung von Verträglichkeit. Denn es gilt einerseits, dass ein Affekt stärker als ein ihm entgegengesetzter sein muss, wenn er diesen soll überwinden und sich an seine Stelle soll setzen können. Es muss also ein besserer Affekt zugleich eine höhere Intensität gegenüber dem schlechteren aufweisen, wenn er diesen verdrängen will. Aber ebenso gilt auch, dass die Funktion des stärkeren Affekts im Prinzip immer auch von der Vernunft übernommen werden kann, sei es, dass sie sich des stärkeren Affekts bedient, sei es, dass sie aus eigener Kraft die Erkenntnis des wahrhaft Guten vorantreibt. Die zahlreichen Lehrsätze, in denen Spinoza Gesetze funktionaler Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Qualitäten und Quantitäten von Affekten formuliert, lassen nun über den jeweiligen Gesetzesinhalt hinaus eine allgemeine Einsicht hervortreten. Es kommt in einer metaphysischen Ethik immer auf zweierlei an: einmal auf das Sein des Seienden als solches, darauf also, ob das Sein des Seienden so oder so bestimmt ist, ob es die universale Bestimmung des Seienden als eines solchen ist, schlechthin determiniert zu sein und dabei alle Freiheit 96 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

auszuschließen, oder ob die allseitige Determination dieses Seienden Raum für mögliche Freiheit lässt. Ein entsprechendes metaphysisches Wissen vom Sein des Seienden ist für eine metaphysische Ethik unvollständig, wenn es nicht darüber hinaus das wichtigste AlIgemeinwissen des Menschen vom Menschen enthält: Ein Wissen, wie der Mensch als Naturwesen sich unter Bedingungen natürlicher Ursachen gegenüber anderen natürlichen Dingen verhält, und welche Konsequenzen sich insbesondere für seine eigene Befindlichkeit und für sein eigenes weiteres Verhalten aus vorangehenden Zuständen und Verhaltensweisen ergeben. Das oben gegebene Beispiel zeigte exemplarisch, wie die Stärke eines bestimmten menschlichen Affekts von der entsprechenden Betrachtungsweise der umgebenden Dinge abhängt. Das allgemeingültige Wissen des Menschen vom Menschen stellt sich in Form eines je vereinzelten propositionalen Wissens dar. Kein einziger der aufgestellten und mathematisch bewiesenen Lehrsätze der Ethik kann den Anspruch erheben, ein unbedingt gültiges Gesetz zu sein. Vielmehr hängen sowohl sein Inhalt wie seine Beweisgründe von den anderen Lehrsätzen und deren Gültigkeit ab. Wieweit diese wechselseitige Abhängigkeit geht, ist schwer auszumachen. Nur in Gott selbst, in der absoluten Substanz lässt sich die Mannigfaltigkeit der einzelnen Lehrsätze zu einem universalen göttlichen Weltgesetz vereinigt denken. Wir müssen uns mit der gegebenen Vielfalt der Lehrsätze begnügen, die wir unter der Bedingung der Verträglichkeit des Verschiedenen vorstellen. Unser metaphysisch-ethisches Wissen hat notwendig diese Form der propositionalen Vereinzelung. So erweist sich – wie merkwürdig dies auch angesichts der Kantischen Kritik an der rationalen Metaphysik klingen mag – der Gebrauch der mathematisch-geometrischen Methode in Spinozas Ethik als Ausdruck einer gewissen Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Wissens. Aber dieses endliche Wissen in Form eines lockeren Verbundes, eines Aggregats von Sätzen, deren Verträglichkeit untereinander wir unterstellen, ist die Bedingung der Möglichkeit eines vernunftgeleiteten menschlichen Lebens in Freiheit.

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I. Ontologie

b)

Kausale Determination und Indetermination im Bereich des Psychosomatischen

Unter den mannigfachen Beispielen für das Ineinandergreifen der beiden Strukturelemente der Negation von Unverträglichkeit und der Position von Verträglichkeit zwischen dem Vernunftlosen und der Vernunft kommt nun einem Theorem eine besondere Bedeutung zu. Dieses Theorem ist in der metaphysischen und empirischen Psychologie unter dem Titel »psychophysischer Parallelismus« bekannt. In Spinozas System findet dieses Theorem seine Darstellung in einer Reihe zusammengehöriger und einander ergänzender Lehrsätze. Der innere Zusammenhang zwischen diesen unterschiedlichen Sätzen lässt sich nun vom Zusammenspiel jener beiden Strukturelemente aus besser verstehen. Dabei geht es zunächst um das Verständnis eines besonders wichtigen Satzes, der besagt: Überall dort, wo wir es in der Natur mit der Verbindung des Physischen und Psychischen, des Körperlichen und Seelischen, des materiellen und geistigen Seins zu jeweils bestimmten Einheiten zu tun haben wie in allen lebendigen Wesen, besteht zwischen den beiden jeweils zusammengehörigen Seiten der Einheit ein Verhältnis der kausalen Indetermination. Von dieser kausalen Indetermination ist der Mensch besonders betroffen, ist er doch ein einheitliches psychophysisches Wesen nicht nur überhaupt, sondern in jedem seiner Zustände und Verhaltensweisen. In jeder seiner Wahrnehmungen, in jedem seiner unbewussten und bewussten Affekte sowie in all seinem niederen und höheren kognitiven Verhalten findet sich die psychosomatische Einheit seines Wesens in der einen oder anderen kategorialen Einheitsform, als so oder so beschaffenes psychosomatisches Gebilde. Aber es gilt hier, sich angesichts des Theorems der kausalen Indetermination vor einem folgenschweren Missverständnis zu hüten: Kausale Unbestimmtheit ist nicht gleichbedeutend mit Nichtkausalität; und das Nicht-Bestehen bestimmter Kausalbeziehungen ist nicht dem Nicht-Bestehen kausaler Beziehungen überhaupt gleichzusetzen. Die psychosomatischen Gebilde entziehen sich keineswegs der universalgültigen Naturgesetzlichkeit eines durchgängigen Kausalgeschehens dadurch, dass zwischen ihren beiden zusammengehörigen Seiten, zwischen ihrem materiellen und ideellen Sein kein Kausalzusammenhang besteht. Ebenso wenig läuft die Begründung des Theorems der kausalen Unbestimmtheit auf die Einführung einer neuartigen, einer Ausnahmekausalität hinaus, welche allein für Lebewesen 98 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

im Unterschied zur leblosen Natur oder speziell für das Lebewesen Mensch Gültigkeit beansprucht. Und schon gar nicht darf die kausale Indetermination als eine Beweisinstanz zugunsten der Annahme eines freien, kausal nicht bestimmten Willens aufgefasst werden. Unbestimmtheit ist etwas anderes als Nicht-Bestimmtheit. Kausale Interdetermination und Determination gehören vielmehr im Blick auf den Gesamtbereich des Psychosomatischen untrennbar zusammen. Sie bilden zwei einander notwendig ergänzende Züge in der Anwendung des Kausalprinzips auf diesen Bereich. Sie genügen ein- und derselben Grundordnung der Natur. Man kann die Zusammengehörigkeit der beiden Seiten auch unter dem Gesichtspunkt einer einheitlichen Regel in der Anwendung des Kausalitätsprinzips auf diesen Bereich des Psychosomatischen ansehen. Diese Regel besagt dann: Eine adäquate Ursachenerkenntnis in diesem Bereich ist für das Verhältnis der beiden zusammengehörigen Seiten des Somatischen und des Psychischen nicht möglich, und zwar aufgrund von Bedingungen, die allgemein für jede Anwendung des Kausalitätsprinzips gelten. Eine Ursachenerkenntnis, welche den Zusammenhang zwischen dem somatischen und psychischen Sein erklären will, muss sich notwendig immer mit inadäquaten Ursachen abfinden. Eine adäquate Ursachenerkenntnis im Bereich des Psychosomatischen ist dagegen auf dem Wege möglich, dass man die jeweiligen physischen und psychischen Komponenten eines psychophysischen Gebildes streng voneinander trennt und diese Komponenten je für sich innerhalb physischer und psychischer Kausalzusammenhänge erklärt. Dies ist der eigentliche Gehalt des so genannten »psychophysischen Parallelismus«. Es ist dabei aber nicht zu übersehen, dass eine solche auf adäquate Ursachenerkenntnis zielende Ursachenforschung nicht nur ihren Ausgang nehmen muss von einem bestimmten psychophysischen Gebilde und dessen psychophysischer Unbestimmtheit. Vielmehr haben die physikalischen und psychologischen Erklärungen eines solchen Gebildes am Ende nur einen Sinn, wenn sie sich auf ein- und denselben fraglichen Sachverhalt beziehen lassen. Diese Frage, wie sich die physikalische und die psychologische Erklärung eines psychosomatischen Gebildes als wesenverschiedene, komplementäre Erklärungen auf ein und denselben Sachverhalt beziehen lassen, und wie angesichts solcher heterogenen Erklärungen des Heterogenen überhaupt eine adäquate Kausalerkenntnis möglich ist, gehört zu den zentralen Problemen der rationalen Metaphysik im all99 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

gemeinen, und der des Spinoza im besonderen. Im Zusammenhang unserer Betrachtungen muss ein kurzer Hinweis auf Spinozas Lösungsversuch genügen. Bedingung einer möglichen adäquaten Ursachenerkenntnis im Bereich des Psychosomatischen ist nicht nur das Bestehen einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit kausaler Determination und Indetermination, die zwischen dieser und jener zu unterscheiden erlaubt; und nicht nur im Einklang damit die Geltung des Theorems des psychophysischen Parallelismus, der Physisches durch Physisches und Psychisches durch Psychisches zu erklären verlangt. Damit wahre kausale Erklärungen in diesem Bereich überhaupt möglich werden, bedarf es darüber hinaus einer weiteren grundsätzlichen Bedingung innerhalb einer allumfassenden und allseitigen Perspektive. Einander ergänzende physikalische bzw. physiologische und psychologische Erklärungen psychosomatischer Gegebenheiten sind nur dann sinnvoll und vernunftgemäß, wenn sie sich nicht nur auf ein- und dasselbe psychosomatische Gebilde beziehen, sondern in jener grundlegenden Perspektive den Charakter einer identischen Erklärung eines identischen Sachverhalts zu gewinnen vermögen. Die Möglichkeit einer solchen Identität heterogener Erklärungen ist die Bedingung der Möglichkeit adäquater Erklärungen im Bereich psychosomatischer Gegebenheiten. Die dabei vorausgesetzte Perspektive ist die des allumfassenden und allwesentlichen göttlichen Standpunkts, des Standpunkts der absoluten, unendlichen Substanz in ihrer universalen, für alles Seiende geltenden Gesetzmäßigkeit. So besteht nicht nur Affinität zwischen kausaler Indetermination und Determination und nicht nur Affinität zwischen parallelen heterogenen Kausalreihen. Es besteht darüber hinaus eine Affinität zwischen der Komplementarität heterogener Erklärungen und der Identität einer einheitlichen mit sich identischen Ursache. Es besteht Affinität zwischen der menschlichen und der göttlichen Vernunft. Jene ist ein Teil dieser. So vermag die menschliche Vernunft den allgemein zugänglichen Bereich des Psychosomatischen zu überschreiten und als reine Vernunft tätig zu werden. Sie vermag in dieser Transzendierung des Erfahrungsbereichs zu erkennen, dass die Gesetzmäßigkeiten kausaler Determinationen und Indeterminationen und das Theorem des Parallelismus heterogener Kausalreihen keineswegs nur für den Bereich des Psychosomatischen, sondern darüber hinaus für alle Vernunfterkenntnis Gültigkeit haben, sofern diese ihre kausalen Erklärungen auf eine Komplexion unterschiedlicher Wesens100 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

bestimmungen gründet. Die Gesetzmäßigkeit vernünftiger Erklärungen gilt für Wesen beliebiger Wesenskomplexität, sofern diese auf der Grundlage des komplexesten, d. h. vollkommensten aller Wesen ihren Erklärungsgrund finden. 18 Die beiden hier hervorgehobenen Gesetzmäßigkeiten, die der Zusammengehörigkeit von Determination und Indetermination und die des Parallelismus der Kausalreihen haben nun, sowohl im allgemeinen wie speziell für den Bereich des Psychosomatischen, noch einen anderen Aspekt. Es gehört zu den methodisch-kritischen Eigentümlichkeiten im Denken Spinozas, dass so gängige Unterscheidungen wie die zwischen Ontologie und Erkenntnistheorie sowie die zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis nicht klassifikatorisch fixiert, sondern als funktionale Differenzen betrachtet, und dementsprechend nach bestimmten im jeweiligen theoretischen Kontext wichtigen Gesichtspunkten unterschieden werden. Gerade in dieser Hinsicht geht Kants Kritik an der rationalen Metaphysik ins Leere, wenn sie dem angeblichen Primat der Ontologie vor der Gnoseologie in der metaphysischen Überlieferung den entgegengesetzten Primat unter der Losung einer »kopernikanischen Wende« entgegenstellt. Tatsächlich finden wir in Spinozas Ethik einen solchen absoluten Primat der Ontologie vor der Erkenntnistheorie nicht, nur einen Primat des Absoluten und Unendlichen vor dem Bedingten und Endlichen. Was wir anstelle des absoluten Primats der Ontologie vor der Erkenntnistheorie finden, ist vielmehr so etwas wie eine funktionale Äquivalenz zwischen dem einen und dem anderen. Diese zeigt sich vor allem als funktionale Äquivalenz zwischen dem Reich der Ursachen und dem Bereich der Erklärungen, zwischen dem Bereich kausaler Relationen und dem Bereich der Erkenntnisbeziehungen. 19 Diese funktionale Äquivalenz, die nicht mit einer meta-ontologischen Identität zu verwechseln ist, er18 Dies berührt eines der schwierigsten und seit Schulten und Tschirnhaus’ Einwänden gegen Spinoza umstrittensten Probleme. das der Annahme unendlich vieler Attribute der Substanz. Neuerdings hat E. E. Harris, ausgehend von einer Kritik der Deutung M. Gueroults einen einleuchtenden Deutungsvorschlag gemacht, mit dem sich meine Überlegungen hier berühren. Vgl. E. E. Harris, Infinity of Attributes and Idea Ideae, in: Neue Hefte für Philosophie 12(1977), S. 9 f. 19 St. Hamphire spricht von einer Entsprechung zwischen Ursachen und Erklärungen, unter der Berücksichtigung eines extrem weiten Sinnes des Ausdrucks Ursache, nämlich des Sinnes einer jeden sinnvollen Antwort auf eine Warumfrage, in seinem Aufsatz Spinoza and the Idea of Freedom, in: Spinoza. A Collection of Critical Essays. Ed. by M. Green, Notre Dame 19792 , S. 299.

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I. Ontologie

streckt sich auch und insbesondere auf die zuvor thematische Gesetzmäßigkeit. So wie kausale Determination und Indetermination im Bereich psychosomatischer Entitäten innerhalb einer allumfassenden einheitlichen Gesetzmäßigkeit zusammengehören, so auch die funktional äquivalenten adäquaten und inadäquaten Erkenntnisse. Auch wenn verschiedene Arten und Typen des Erkennens als unterschiedliche Quellen inadäquater und adäquater Erkenntnisse zu unterscheiden sind, so genügen diese unterschiedlichen Erkenntnisprodukte einer umfassenden und grundlegenden Gesetzmäßigkeit vernünftigen Erkennens. Die Einsicht in diese Gesetzmäßigkeit im Bereich des Psychosomatischen und über diese hinaus hat nun eine besonders wichtige Bedeutung in erkenntniskritischer Hinsicht, und dies nicht zuletzt für den Bereich einer philosophischen Ethik. Denn aus dieser Gesetzmäßigkeit folgt, dass, indem inadäquate Ursachen und Erklärungen als ständige Begleiter der entsprechenden adäquaten Ursachen und Erklärungen auftreten, menschliche Vernunft grundsätzlich nicht zu einer vollständigen Erkenntnis der letzteren gelangen kann. Die Gegebenheit adäquater Ursachen und Erkenntnisse geschieht im Bereich der menschlichen Vernunfterkenntnis notwendig auf Kosten der Vollständigkeit. Diese Unvollständigkeit, die als Konsequenz der Wahrheitserkenntnis in Kauf genommen werden muss, kann als Schranke menschlicher Vernunfterkenntnis aufgefasst werden. Aber diese Schranke bedeutet keinen Mangel. Die Beschränkung ist nicht die notwendige Folge einer Bindung der menschlichen Vernunft an psychosomatische Bedingungen. Die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Begrenzung durch diese speziellen Bedingungen zu transzendieren, führt vielmehr zu der Einsicht, dass es sich bei jener Beschränkung der Möglichkeit vollständiger adäquater Erkenntnis um eine Grundgesetzlichkeit der menschlichen Vernunft handelt, die in allen ihren begründeten Erklärungen den Wesensunterschieden Rechnung tragen muss, die ein mehr oder weniger komplexes Wesen bestimmen. Psychosomatische Komplexität ist nur ein Spezialfall von Komplexität überhaupt. Für das menschliche Verhalten und Handeln hat diese Einsicht aber zur Folge, dass hier sowenig wie irgendwo eine vollständige adäquate Erkenntnis möglich ist; und dass, auch wenn wir dieses und jenes menschliche Verhalten adäquat zu erkennen und zu beurteilen vermögen, dabei zugleich immer komplementäre Verhaltenszüge einer solchen adäquaten Erkenntnis entzogen bleiben. Daraus ergibt sich 102 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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für eine vernünftige kritische Selbsteinschätzung der theoretisch-praktischen Vernunft des Menschen, dass zwar kein Anlass zur Skepsis, wohl aber Zurückhaltung in der moralischen Beurteilung menschlichen Verhaltens geboten ist. In diesen Zusammenhang gehört die Geringschätzung, die Spinoza bekanntlich der Reue entgegengebracht hat. Wichtiger aber noch ist die Zurückhaltung in der moralisierenden Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen. Wieviel Kummer können wir uns allein dadurch ersparen, dass wir das feindselige Verhalten anderer Menschen gegen uns aus dieser und jener Ursache, nicht aber aus deren freiem Willen oder aus ihrem Wesen allein erklären. Die funktionale Unterscheidung zwischen kausalen Relationen und Erkenntnisbeziehungen hat nun aber direkte Konsequenzen für die Bestimmung der menschlichen Affekte und für die mit diesen verbundenen Verhaltensweisen, wie insbesondere die Perzeptionen und Imaginationen. Es fällt auf, mit welcher Nachlässigkeit Spinoza die Frage nach dem ontologischen Status der Affekte behandelt, und welche Sorgfalt er im Vergleich dazu auf die Bestimmung ihrer mannigfachen Funktionen innerhalb der Kausalrelationen und Erkenntnisbeziehungen verwendet. Mit dieser vorrangig funktionalen Bestimmung hängt zusammen, dass auch die Unterscheidung zwischen ihnen und Wahrnehmungen und Imaginationen in erster Linie funktional ist. Diese Funktionsbestimmungen betreffen spezielle Bedingungen und Leistungen im Blick auf das menschliche Verhalten gegenüber seiner Umwelt als Kausalverhalten einerseits und als Erkenntnisverhalten andererseits. Auch für die Affekte gilt die erwähnte funktionale Äquivalenz: Als Affektionen des menschlichen Körpers, denen bestimmte Ideen korreliert sind, stellen sie – ähnlich wie Perzeptionen – psychosomatische Gebilde dar. Für diese gilt entsprechend das eine wie das andere: Sie sind einerseits kausal indeterminiert – in der vorher beschriebenen Weise – und andererseits inadäquate Erkenntnisse. Aber damit gehorchen sie einer umfassenden Gesetzmäßigkeit, welches kausale Determinationen und entsprechend funktional äquivalent adäquate Erkenntnisse einschließt. So sind sie zugleich Bedingungen möglicher kausaler Determinationen ebenso wie Bedingungen einer möglichen adäquaten Erkenntnis.

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I. Ontologie

c)

Der Begriff des Einzeldings und die ontologische Wende

Die funktionale Äquivalenz von kausalen Beziehungen und Erkenntnisrelationen gilt im Blick auf das menschliche Verhalten. Dieses Verhalten kann sowohl als kausales Verhalten wie als Erkenntnisverhalten angesehen werden. Dabei wird der Mensch in Beziehung auf dieses Verhalten als bestimmtes Einzelding mit einem konkreten individuellen Wesen vorgestellt. Die ontologische Unbestimmtheit der Affekte ist als solche bezogen auf dieses Ding und Wesen. Gerade an dem Dingund Wesensbegriff tritt Spinozas eigentümlich funktionale Betrachtungsweise mit besonderer Schärfe hervor. Hier wird eine Wende gegenüber der traditionellen Ontologie sichtbar, die sich Kants »Kopernikanischer Wende« durchaus gleichrangig zur Seite stellen lässt. Dabei geht es keineswegs einfach nur darum, dass Spinoza den traditionellen Ding- und Wesensbegriff »dynamisiert« hat. 20 Er hat zunächst den neuzeitlichen Nominalismus in eigentümlicher Weise zugespitzt, indem er die Kritik an den umgangssprachlichen Ausdrücken und an ihrer Verwendung als empirische Allgemeinbegriffe direkt mit der Kritik an der teleologischen Weltauffassung verknüpfte und diese Kritik als Wertkritik auf die ganze menschliche Lebenswelt ausdehnte. Aber dieser antiteleologische Nominalismus konnte innerhalb einer rationalen Metaphysik kein theoretischer Selbstzweck sein. Er bildete nur eine, wenn auch wesentliche erkenntniskritische Komponente innerhalb einer neuen Grundlegung des Realismus und Essentialismus. Offenkundig konnte eine rationale metaphysische Ethik auf die Hypothese der Existenz von Wesen nicht verzichten. Denn zur Ergründung der Möglichkeit eines vernunftgeleiteten menschlichen Lebens bedurfte es mehr als nur der Annahme, dass der Mensch ein natürliches Einzelding unter Einzeldingen ist, welches wie diese einer universalen Naturgesetzmäßigkeit unterliegt. Ohne die Voraussetzung menschlichen

Mit besonderem Nachdruck hat C. Gebhardt die dynamistische Spinoza-Auffassung gegen Lotze und Windelband vertreten und sich dabei auf die Spinoza-Rezeption Herders und Goethes berufen. In: Spinoza, Heidelberg 1927, S. 67. Die heutige SpinozaForschung vermag nicht mehr einen so strengen Gegensatz zwischen einem dynamistischen und einem geometristischen Spinoza zu sehen. Vgl. hierzu die ausgewogenen Betrachtungen H. G. Hubbelings, der Spinoza gegen gewisse Missverständnisse A. N. Whiteheads verteidigt. »Whitehead and Spinoza«, in: Whitehead und der Prozessbegriff, hrsg, von H. Holz und E. Wolf-Gazo, München 1984, S. 375 ff.

20

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

Wesens im allgemeinen und im einzelnen, und ohne die begründete These der Erkennbarkeit des Menschenwesens durch den Menschen schien eine solche Ethik ihrer rationalen Grundlage beraubt. Aber zugleich bedurfte der auf diese Weise gebotene Essentialismus, Spinozas Grundanschauung entsprechend, einer Einbettung in das Ganze der Natur. Und so musste der entsprechende Wesensbegriff in Einklang gebracht werden mit dem Begriff eines Einzeldings, wie ihn die moderne Naturwissenschaft in Verbindung mit ihrem Begriff einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit voraussetzt. Um Spinozas neuen Realismus und Essentialismus verständlich zu machen, ist der gründlich strapazierte Begriff des Mechanismus kaum geeignet. Dies zeigt sich schon allein daran, dass die ursprünglichen natürlichen Bewegursachen in seiner Metaphysik, ungeachtet ihrer Reinigung, von teleologischen Vorstellungen, den Charakter von Strebungen (conatus), von Triebkräften (appetitus) und von Begierden (cupiditates) besitzen, deren Kausalität Werte und Wertverhältnisse einschließt. Die vorherige allgemeine Feststellung, dass sich in Spinozas Denken eine grundsätzliche Kritik der Teleologie mit einem mehr oder weniger unausdrücklichen Gebrauch teleologischer Prinzipien verbindet, die zwar nicht direkt zur Erklärung eines bestimmten Kausalzusammenhangs, wohl aber zur Begründung der Möglichkeit von Erklärungen überhaupt dienen, bestätigt sich vielmehr in besonderer Weise im Blick auf die neue Konzeption von Einzeldingen und Einzelwesen. Dieses neue Konzept enthält vor allem zwei besonders wichtige Aspekte: Einmal handelt es sich um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Einzelding und Wesen einerseits und Kausal- und Erkenntnisrelationen andererseits, und in Verbindung damit ferner um eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Einzelding und Wesen. In der Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte zeigt sich zugleich der tiefere Grund für Spinozas Verzicht auf eine endgültige Entscheidung hinsichtlich der möglichen ontologischen Priorität von Kausalrelationen einerseits und Erkenntnisbeziehungen andererseits im Vergleich der einen mit den anderen. Die eine jener beiden Neubestimmungen besagt, dass im Gegensatz zur überlieferten aristotelischen »Ding-Ontologie« nicht Einzeldinge (mitsamt ihren jeweiligen Wesen) die Grundlage für mögliche Kausal- und Erkenntnisrelationen bilden, vielmehr umgekehrt diesen Beziehungen der ontologische Primat vor den Einzeldingen und deren Wesen zukommt; dass also die Einzeldinge nicht so selbständig sind, um in diese und jene unter105 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

schiedlichen Kausal- und Erkenntnisbeziehungen treten zu können, sondern dass sie dank ihres Wesens allererst innerhalb solcher bestimmter Beziehungen ihre Bestimmtheit als konkrete Einzeldinge gewinnen. Diese Umkehrung der traditionellen ontologischen Prioritäten im Verhältnis von Ding, Ursache und Erklärung ist es, welche die Rede von einer Wende rechtfertigt, die der späteren, von Kant propagierten »kopernikanischen Wende« als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausgeht, zugleich aber eine echte theoretische Alternative zu dieser Wende darstellt. Diese »nicht-kopernikanische Wende« der neuzeitlichen rationalen Metaphysik entspringt aus der Revision des traditionellen Begriffs eines Einzeldings durch die neuzeitliche Naturwissenschaft. Hier wird das Einzelding im Rahmen eines atomistischen Modells und unter den Prämissen eines universalen Atomismus gedacht. Dabei kommt es aber nicht so sehr darauf an, ob die letzten elementaren Einheiten, aus denen die Einzeldinge zusammengesetzt sind, als absolut oder als relativ unteilbar in die Konstitution eines komplexen Dings eingehen, und ob sie innerhalb dieses Dings als elementare Bestandteile identifiziert werden können oder nicht. Wichtiger in dieser Vorstellung eines Einzeldings als eines zusammengesetzten Ganzen ist, dass die Teile dieses Ganzen als reale Bestandteile begriffen sind, die im Vergleich miteinander und mit dem Ganzen denselben Realitätskriterien genügen. Diesen Begriff eines Einzeldings, welches aus realen Individuen und realen Individuenkomplexen besteht, finden wir bei Spinoza sowohl auf materielle und geistige Gebilde, als auch auf psychosomatische Entitäten angewandt. So bestehen die materiellen Gebilde aus extensiven Bewegungsgrößen, die geistigen aus Ideen und Ideenverbindungen, während die psychosomatischen Entitäten aus diesen und jenen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Auch der Mensch ist als ein natürliches Ding unter natürlichen Dingen betrachtet, ein solches Einzelding, allerdings ein Einzelding von sehr großer Komplexität. Die funktionale Abhängigkeit der Einheit eines solchen Einzeldings von einer bestimmten Kausal- und Erkenntnisbeziehung ist die Abhängigkeit seiner Einheit von der Einheit seiner Wirkung: »Wenn mehrere Individuen so zu einer Handlung zusammenkommen (in una actione ita ta concurrant), dass sie alle zugleich die Ursache einer Wirkung sind, so betrachte ich sie insofern als ein Einzelding (unam rem singularem)« heißt es bei Spinoza in Verbindung mit der Definition des Einzeldings als eines endlichen Dings, dessen Existenzweise eine je106 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

weils bestimmte ist. 21 Durch diese funktionale Abhängigkeit der Einheit eines Einzeldings von der Einheit seiner Wirkung wird die faktische Unabhängigkeit dieser Einheit von der Vollständigkeit aller realen Bestandteile und von der vollständigen Erhaltung dieser Bestandteile für die Dauer der Existenz des Einzeldings gewährleistet. Es müssen nicht alle zu einer bestimmten Zeit in einem Einzelding vorhandenen realen Bestandteile für die ganze Zeit seiner Dauer in ihm vorhanden sein, damit seine Einheit gewahrt ist. Vielmehr kommt es nur auf diejenigen realen Bestandteile an, die einen bestimmten Beitrag zu einer einheitlichen Wirkung liefern, und zwar zu der Wirkung, welche die Einheit des fraglichen Einzeldings definiert. Mit anderen Worten: Es ist diese einheitliche Wirkung, die mit der Einheit des Einzeldings zugleich Kriterien der Unterscheidung zwischen seinen wesentlichen und seinen akzidentellen realen Bestandteilen an die Hand gibt. Diese funktionale Abhängigkeit der Einheit eines Einzeldings von der Einheit einer bestimmten Wirkung ist in theoretischer und in praktischer Hinsicht höchst bedeutsam. Diese Bedeutsamkeit liegt darin, dass durch diese Abhängigkeit die Unabhängigkeit der Einheit eines Einzeldings von speziellen Details seiner momentanen Verfassung für die Dauer seiner Existenz gesichert wird. Es ist dies eine Unabhängigkeit seiner Einheit und ihrer Dauer vorn Kommen und Gehen vereinzelter Individuen, die vorübergehend zu dem fraglichen Einzelding gehören, ohne in dessen einheitlicher Wirkung irgendeine Spur zu hinterlassen. Von dieser funktionalen Bestimmung eines Einzeldinges aus fällt nun auch ein zusätzliches Licht auf das Theorem der kausalen Indetermination psychosomatischer Zusammenhänge. Denn wenn es richtig ist, dass die physische und psychische Komponente eines psychophysischen Einzeldings keine bestimmte kausale Wirkung aufeinander ausüben können, so folgt daraus, dass sie damit notwendig als solche und in Beziehung aufeinander des Charakters von Einzeldingen entbehren. Daher kann kein psychophysisches bzw. psychosomatisches Gebilde unter der Bedingung der kausalen Indetermination als ein Einzelding so zusammengesetzt gedacht werden, dass die Bestandteile seiner Zusammensetzung ein physisches und psychisches Einzelding sind. 22 Dies gilt insbesondere für psychosomatische Gebilde, wie 21 22

Eth. II, def. VII. In einer scharfsinnigen Analyse hat H. P. Schütt das analoge Problem des Verhält-

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I. Ontologie

menschliche Affektionen und Wahrnehmungen, sowie für den Menschen selbst als ein lebendiges Ganzes. Wenn die physische und die psychische Komponente eines psychophysischen Einzeldings ihrerseits den Charakter von Einzeldingen sollen annehmen können, so setzt dies den psychophysischen Parallelismus, das heißt: die eindeutige Differenz zwischen physischen und psychischen Kausalreihen als Bedingung möglicher kausaler Determination voraus. Gerade die Unmöglichkeit, die Einheit eines psychophysischen Gebildes unter den Bedingungen der kausalen Indetermination als Zusammensetzung aus einem physischen und einem psychischen Einzelding zu denken, spricht für den beschriebenen funktionalen Gebrauch des Begriffs eines Einzeldings in diesem Anwendungsbereich. Vor allem aber spricht für diese Betrachtung der Einheit eines Einzeldings von der Einheit seiner Wirkung aus, dass diese dazu beiträgt, den Illusionen einer idealistischen Bewusstseins- und Subjektivitätstheorie zu wehren, soweit diese sich auf einseitige Erfahrungen und entsprechend schlechte Begriffsfiktionen stützt. Zu diesen zählt insbesondere die Fiktion einer ständig gesicherten Einheit des Bewusstseins und einer immer vollziehbaren Selbstbeziehung des menschlichen Subjekts. Was wie eine Schwäche des Begriffs des Einzeldings aussieht, ist zunächst seine Stärke. Entspricht doch seiner Anwendung auf den Bereich menschlichen Verhaltens in ihrer Konsequenz eine menschliche Selbsterfahrung, die nicht weniger ursprünglich und weitreichend ist als diejenige, an die sich die idealistischen Subjektivitätsphilosophien halten: die Erfahrung nämlich, dass die Einheit des menschlichen Bewusstseins immer gefährdet ist und dass wir den Mangel der Einheit, den Ausfall des Einheitsgefühls nicht weniger lebhaft spüren als umgekehrt das Vorhandensein einer eigenen Einheit und das Empfinden ihres Zustandekommens. Die Anwendung des Begriffs eines Einzeldings auf den Menschen besagt zunächst dies, dass der Mensch als ein bestimmtes Einzelding nur soweit eine Einheit zu sein vermag, wie die von ihm ausgehenden Aktivitäten zur Einheit einer einheitlichen Wirkung sich vereinigen; und dass er notwendig soweit eine bloße Mannigfaltigkeit von Einzelnisses der einen und einzigen Substanz zu ihren Attributen untersucht in seinem Aufsatz: »Zu Henry Mores Widerlegung des Spinozismus«, in. Spinozas Ethik und ihre frühe Wirkung. Hrsg. von K. Cramer, W. G. Jacobs und W. Schmidt-Biggemann, Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 16 (1981), S. 19 ff.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

dingen bleibt, wie die Mannigfaltigkeit seiner Handlungen einer eigenen Einheit ermangelt. Hier nun, im Anwendungsbereich einer rationalen Anthropologie und Ethik, treten allerdings auch die Unzulänglichkeiten des Begriffs eines Einzeldings deutlich in Erscheinung. Denn eine philosophische Ethik des menschlichen Verhaltens bedarf über den Begriff eines mehr oder weniger stabilen, eines mehr oder weniger dauerhaften Einzeldings hinaus des Begriffs eines Handlungssubjekts. Von einem solchen Subjekt gilt nicht nur, dass es in der Zeit dauert, dass es sich in einer bestimmten von ihm ausgehenden Wirkung darstellt und sich als identische Grundlage und als Träger verschiedener Handlungen durchhält – Handlungen, die ihm wie Eigenschaften einem Ding anhaften. Was das eigentliche Wesen eines Handlungssubjekts ausmacht ist dies, dass es unter den mannigfachen durch ein Einzelding ausgelösten Wirkungen einige spezifische auszusondern, diese aus guten Gründen dem fraglichen Einzelding als dessen Handlung zuzuschreiben und damit dieses Ding als Subjekt anzuerkennen weiß. Solcher Zuschreibungen und Anerkennungen muss ein Handlungssubjekt im Hinblick auf sich selbst als ein bestimmtes Einzelding wie auch im Hinblick auf andere Einzeldinge fähig sein. Es kommt nun aber hinzu, dass Spinozas rationale Ethik mehr ist als eine bloße Handlungsethik, nämlich eine Ethik des menschlichen von der Vernunft geleiteten glücklichen Lebens, und dass eine solche Ethik über den Begriff eines Handlungssubjekts hinaus den Begriff eines Subjekts gelebten menschlichen Lebens erfordert. Dieser Begriff verlangt die Vorstellung eines menschlichen Subjekts, welches für den Verlauf seines Lebens grundsätzlich zu Zuschreibungen von Handlungen und zur Anerkennung von menschlichen Subjekten im Blick auf sich und auf andere fähig ist, und dies unabhängig davon, wieweit es diese Zuschreibungen wirklich und im einzelnen immer vollzieht; und auch unabhängig davon, ob sich am Ende alle ihm persönlich zuschreibbaren Handlungen zur Einheit eines Lebenswerks, einer schlechthin einzigartigen und einheitlichen Wirkung zusammenfügen oder nicht. Es ist der Begriff eines Subjekts gelebten menschlichen Lebens, einer Person, die in gewisser Weise alle von ihr als einem Einzelding ausgehenden Wirkungen transzendiert, in anderer Weise hinter diesen Wirkungen zurückbleibt, die teils mehr, teils weniger ist als die Summe dieser Wirkungen.

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I. Ontologie

d)

Das aktuale Wesen eines Einzeldings

Offensichtlich genügt der Begriff eines von seiner Wirkung her gedachten Einzeldings für sich allein diesen theoretischen Anforderungen einer rationalen Lebensethik nicht. Aber seine Unzulänglichkeiten bleiben keineswegs auf den ethischen und anthropologischen Anwendungsbereich beschränkt. Es sind darüber hinaus ontologische Unzulänglichkeiten, die nach Ergänzung und Kompensation dieser Mängel durch andere ontologische Grundbegriffe verlangen. Der wichtigste dieser komplementären Begriffe ist der Wesensbegriff. Und es ist Spinozas Essentialismus, an dem die beobachtete Verschränkung der Kritik und des Gebrauches teleologischer Prinzipien besonders deutlich zutage tritt. Die ontologische Unzulänglichkeit des Begriffs eines einheitlichen Einzeldings liegt darin, dass eine wie immer strukturierte, Mannigfaltigkeit von Ursachen sich nicht als die bestimmte einheitliche Wirkung eines Einzeldings denken lässt, wenn nicht eine spezifische Form der Einheit in der gegebenen ursächlichen Mannigfaltigkeit vorausgesetzt werden kann als die notwendige Bedingung der Möglichkeit der Synthesis der mannigfachen Ursachen zu einer einheitlichen Wirkung. Die Einheit eines bestimmten Einzeldings, welches wir als bestimmte Ursache einer bestimmten Wirkung von dieser Wirkung her begreifen, setzt demnach eine solche Form der Einheit hinsichtlich der mannigfaltigen auf es einwirkenden Ursachen als Bedingung seiner möglichen Einheit voraus. Die Form der Einheit, welche als eine solche Bedingung einer möglichen, aus vielen Ursachen resultierenden Bedingung vielen einheitlichen Wirkung fungiert, findet in Spinozas Ethik ihren begrifflichen Ausdruck im Terminus »aktuales Wesen« (essentia actualis). Nun gilt allerdings für ein solches Wesen, dass auch es nicht als eine für sich seiende Entität, sondern nur in Verbindung mit einem jeweiligen Einzelding und insofern wie dieses in funktionaler Abhängigkeit von einer bestimmten Kausal- und Erkenntnisbeziehung gedacht ist. Aber während das Einzelding von einer einheitlichen Wirkung her und als eine bestimmte Wirkung begriffen wird, ist das aktuale Wesen vom Begriff der Ursache her und als wohlbestimmte Ursache vorgestellt. Die Rede von der Dynamisierung des Wesensbegriffs in der spinozanischen Metaphysik bezieht sich auf den Begriff des aktualen Wesens und besagt hier: ein solches aktuales Wesen ist als eine dynamische Ursache, als eine Bewegursache vom Typus der Strebungen 110 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

(conatus) zu begreifen. Das aktuale Wesen ist immer das aktuale Wesen eines Dings, speziell eines Einzeldings, und es ist als solches, nach Spinoza, nichts anderes als das natürliche Streben dieses Dings nach Selbsterhaltung. 23 Das bedeutet, dass das aktuale Wesen psychosomatischer Einzeldinge ihr jeweiliger Lebens- und Lebenserhaltungstrieb ist. Der Mensch ist seinem allgemeinen begrifflichen Wesen nach ein denkendes Ding, ein Ding, welches seinem Denken die Möglichkeit des Bewusstseins verdankt. Daraus ergibt sich, dass das aktuale Wesen des natürlichen Einzeldings »Mensch« die Begierde ist, sofern diese nichts anderes ist als der Lebenserhaltungstrieb des Lebendigen unter den Bedingungen des Denkens und des möglichen Bewusstseins. Der Begriff des aktualen Wesens eines realen Einzeldings scheint nun den theoretischen Anforderungen an den Begriff eines Handlungssubjekts zu genügen, welches die von ihm ausgehenden einzelnen Wirkungen transzendiert. Denn es lassen sich die von einem Einzelding in seiner Verbindung mit anderen Einzeldingen ausgehenden wirklichen und möglichen Wirkungen daraufhin unterscheiden, wieweit sie dem einheitlichen Selbsterhaltungsstreben jenes Dings entspringen und aus diesem aktualen Wesen erklärt werden können. Damit gibt der Begriff eines aktualen Wesens aber auch Bedingungen der Möglichkeit an die Hand, um gewisse Wirkungen im Unterschied zu anderen als Handlungen einem bestimmten Einzelding als dem Subjekt dieser Handlungen zuzuschreiben. Voraussetzung für solche eindeutige Zuschreibung von Handlungen und von Anerkennungen von Dingen als Subjekten ist die Unterscheidbarkeit zwischen Tun und Leiden eines Einzeldings; und es ist der Begriff eines aktualen Wesens eines Einzeldings, der diese Unterscheidung ermöglicht. Das Verhältnis von Tun (actio) und Leiden (passio) fällt nun nicht einfach mit einer Kausalrelation zusammen, derart, dass dem Tun die Ursache und dem Erleiden die Wirkung entspräche. Bei dem Tun und Erleiden von Einzeldingen handelt es sich vielmehr um eine Kausalbeziehung unter der Voraussetzung des Selbsterhal23 Die Frage, ob das Prinzip der Selbsterhaltung oder das der Selbstveränderung im Mittelpunkt von Spinozas Ontologie und Anthropologie stehe, entscheidet sich zugunsten des einen oder des anderen, je nachdem, ob man vom Begriff des Einzeldings oder von dem des aktualen Wesens ausgeht. Insofern scheint mir die zwischen H. Blumenberg und D. Henrich diskutierte Alternative keine echte zu sein. Vgl. die bereits erwähnten Beiträge in: Subjektivität und Selbsterhaltung, allem dort Blumenbergs Antwort auf Henrich, a. a. O., S. 146.

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I. Ontologie

tungsstrebens eines Einzeldings, welches seinerseits einer Mannigfaltigkeit äußerer Ursachen ausgesetzt ist. Die so betrachtete Kausalbeziehung ist es nun, welche die funktionale Äquivalenz zwischen Kausalität und Erkenntnis ermöglicht, von der oben die Rede war. Das Kausalverhalten von Einzeldingen, die sich teils tätig, teils leidend verhalten, kennzeichnet vor allem das Verhalten der Lebewesen. Allerdings ist eine exakte und definitiv gültige Analyse dieses Verhaltens hinsichtlich der jeweiligen aktiven und passiven Faktoren alles andere als einfach. Nicht nur, dass solche lebendigen Einzeldinge einer großen Vielzahl äußerer Ursachen ausgesetzt sind. Darüber hinaus ist die jeweilige einheitliche Wirkung, die von jedem einzelnen von ihnen ausgeht und die dessen Einheitlichkeit mitdefiniert, ihrerseits aus einer Fülle einzelner kausaler Wirkungsfaktoren zusammengesetzt, in denen die anfänglich wirksamen Ursachen nur unvollständig und nicht adäquat wieder erkannt werden können. Denn sofern jedes Einzelding sein eigenes aktuales Wesen in Form seines Selbsterhaltungsstrebens besitzt, leistet es selbst einen eigenen spezifischen kausalen Beitrag zum Zustandekommen der einheitlichen Wirkung, die insofern mehr und etwas anderes ist als die anfängliche Mannigfaltigkeit gegebener Ursachen. Vom Tun bzw. Handeln (agere) eines Einzeldings, und insbesondere des Menschen spricht Spinoza, wenn der Fall gegeben ist, dass die Wirkungen, die von einem Einzelding ausgehen, aus dessen aktualem Wesen alleine entspringen, das heißt, wenn diese Wirkungen aus dem Streben jenes Dings nach Selbsterhaltung allein zureichend erklärt werden können. Und vom Erleiden eines Einzeldings ist dementsprechend dann die Rede, wenn die Bedingungen tätigen Verhaltens nicht gegeben sind, wenn also das gegebene Verhalten des Dinges aus seinem aktualen Wesen nicht zureichend verständlich werden kann. 24 Mit der Unterscheidung von Tun und Erleiden wird die Frage nach Zur fundamentalen Bedeutung dieser Unterscheidung für Spinozas Affektenlehre als einer ebenso philosophisch wie wissenschaftlich bedeutsamen Psychologie vgl. M. Wartofsky, Action and Passion: Spinozas Construction of a Scientific Psychology, in: Spinoza, ed. by M. Green, a. a. O., S. 329 f. Besonders aufschlussreich ist der Versuch des Spinoza-Schülers von Blyenberg, den Zusammenhang von Einzelding und aktualem Wesen im Sinne eines momentanen Einzelwesens zu denken, den er in seinem Brief an Spinoza vom 19. 2. 1665 unternimmt. Ep. XXII, Gebhardt I, S. 134–144. Dieser Denkversuch wirkt wie ein Vorgriff auf die in unserem Jahrhundert von A. N. Whitehead entwickelte Ontologie aktualer Entitäten. Zum Verhältnis Spinoza und Whitehead vgl. den in Anm. 20 zitierten Aufsatz von H. G. Hubbeling.

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Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

der Möglichkeit menschlicher Freiheit auf die Frage nach der Möglichkeit menschlichen Tuns und Handelns und damit auf die Frage nach der Möglichkeit eines menschlichen Verhaltens verlagert, welches aus dem aktualen menschlichen Wesen allein hinreichend erklärbar ist. Dabei ist eines evident: Wenn jene Unterscheidung zwischen dem Tun und dem Erleiden eines Einzeldings innerhalb des Kausalzusammenhangs der Natur etwas soll beitragen können zur Begründung der Möglichkeit menschlicher Freiheit, so muss es im Hinblick auf menschliche Einzelwesen zumindest einige Wirkungen geben, in denen deren Aktivität und Tätigkeit zum Ausdruck kommt und die entsprechende Wesenserklärungen zulassen. Wenn der Mensch immer und unaufhebbar im Spannungsfeld zwischen natürlicher Freiheit und naturgegebenen Zwängen steht, so heißt dies in diesem Zusammenhang, dass dieses Verhältnis in der unauflösbaren Verknüpfung von Tun und Leiden im menschlichen Verhalten zum Ausdruck gebracht wird. Das aktuale Wesen eines Einzeldings ist, so gesehen, nicht nur die konstitutive Bedingung der möglichen Einheit eines Einzeldings hinsichtlich seiner einheitlichen Wirkung, sondern eine innere Ursache im Unterschied zu den äußerlich einwirkenden Ursachen: die anfängliche Innerlichkeit eines lebendigen Einzeldings. Ein solches Zusammenspiel zwischen Einzelding und seinem aktualen Wesen ist nun auch für den anthropologischen Bereich und speziell für die Verknüpfung der Affekte untereinander innerhalb des menschlichen Gesamtverhaltens bestimmend. In der Regel vermögen wir an gegebenen Affekten nicht ohne weiteres zu unterscheiden, wieweit das jeweilige Einzelding »Mensch«, dem die Affekte zugeschrieben werden, sich in diesen tätig oder leidend verhält. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob es sich um die eigenen, von uns jeweils selbst empfundenen Affekte handelt, oder um Affekte, die wir am Verhalten anderer Menschen wahrnehmen. Für beide Fälle gilt zunächst, dass sich in den gegebenen Affekten des Einzeldings »Mensch« »mehr« dessen Wesen ausdrückt als das Wesen der Dinge, die als Ursachen zur Hervorrufung der Affekte beitragen. Es verhält sich hier analog wie in der körperlichen Wahrnehmung, die zwar einerseits mehr die wahrgenommenen Dinge als den Wahrnehmenden selbst sehen lässt, in der sich aber andererseits »mehr« das Wesen des wahrnehmenden als der wahrgenommenen Körperdinge ausdrückt. 25 Dem25

Eth. II, prop. XVI, corr. II.

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I. Ontologie

zufolge haben die menschlichen Affekte nicht nur hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität, sondern auch und insbesondere hinsichtlich der Relation der Expressivität den Charakter des unbestimmten Mehr und Weniger. Aber wie überhaupt die Unbestimmtheit der vernunftlosen und unbewussten Affekte nicht unverträglich ist mit ihrer möglichen Bestimmung durch die Vernunft, so auch die Unbestimmtheit ihrer Ausdrucksbeziehung. So ermöglicht das aktuale Wesen des einzelnen Menschen im Prinzip eine Unterscheidung zwischen seinen passiven und aktiven Affekten im Einklang mit den Definitionen des Tuns und Erleidens. Diese Unterscheidung, die wie so viele die Affekte betreffenden Differenzierungen in der Alltagssprache verborgen bleibt, spielt eine besonders wichtige Rolle in der rationalen Anthropologie und Ethik Spinozas. Die Affekte sind Spinozas Theorie zufolge nicht nur innere Zustände eines bestimmten lebendigen Einzeldings. Sie sind elementare Verhaltensweisen eines solchen Dinges gegenüber seiner Umwelt, nämlich Weisen der Zuwendung und der Abwendung angesichts gegebener Objekte im Dienste seiner natürlichen Selbsterhaltung. Sofern diese Affekte Tätigkeiten, um nicht zu sagen Handlungen sind, gewinnen sie den Charakter von bewussten Erkenntnissen. So kann Spinoza sagen, dass Affekte unter den Bedingungen des Bewusstseins Erkenntnisse des Guten und des Schlechten sind, das heißt, dass sie aus dem Selbsterhaltungsstreben des betreffenden Einzeldings alleine entspringen und insofern aus dessen aktualem Wesen ihre klare und bestimmte Kausalerklärung finden. Zugleich ermöglicht die Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Affekten eine Fülle zusätzlicher Kombinationen und Verknüpfungen zwischen diesen ursächlichen Gegebenheiten menschlichen Verhaltens: Nicht nur, dass sich aus unbewussten Affekten der Liebe und des Hasses unter Umständen bewusste Erkenntnisse des Nützlichen und Schädlichen, des Guten und Schlechten, kurzum bewusste Liebe und bewusster Hass entwickeln. Besonders wichtig sind daneben die Fälle, in denen unbewusste Zuneigungen und Abneigungen bewusste Begierden hervorrufen, die das jeweilige Streben des Menschen nach Selbsterhaltung in die eine oder andere Richtung drängen. Der Begriff des aktualen Wesens ist ein Formbegriff. Als ein solcher ist er durchaus von einem Zweckbegriff unterscheidbar. Und doch ist es eben dieser Begriff, an dem die erwähnte Verschränkung, das Ineinandergreifen von Kritik und Verwendung teleologischer Prinzi114 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

pien besonders deutlich in die Augen springt. Der Begriff eines aktualen Wesens muss nicht unbedingt als ein Wertbegriff aufgefasst werden. Er fungiert wie der Begriff eines Prinzips. In dieser Funktion ist er aber nicht nur ein Prinzip des Einen, sondern zugleich auch ein Prinzip des Guten. Wenn der Standpunkt der spinozanischen Ethik zunächst als ein solcher »jenseits von Gut und Böse« gekennzeichnet werden konnte, so verlangt der Essentialismus dieser Ethik eine Modifikation und Ergänzung jener Kennzeichnung. Es ist sehr viel angemessener, nunmehr von einem Standpunkt des Wahren und Guten »diesseits« des Scheins von Gut und Böse zu sprechen, von einem Standpunkt des natürlichen Wahren und Guten. Tatsächlich bedarf die Bestimmung des aktualen Wesens als Streben eines Einzeldings nach Selbsterhaltung, als Trieb und als Formursache ihrerseits einer Vervollständigung. Dabei gilt es zu bedenken, dass ein Einzelding in seinem Selbsterhaltungsstreben in der Natur nicht allein steht. Es muss sich vielmehr mit allen anderen realen Dingen, die den gleichen Trieb in der Realität geltend machen, die Existenz- und Wirkungsmöglichkeiten der einen, allumfassenden Natur teilen. Es liegt in der Definition eines aktualen Wesens, dass die Kräfte der Zerstörung, die auf die einzelnen Dinge wirken, nicht deren Wesen entstammen, sondern von äußeren Ursachen herrühren, auch wenn diese sich am Ende so des Einzeldings bemächtigen, dass von diesem der Schein eines selbstzerstörerischen Verhaltens ausgehen kann. Aber gerade weil die zerstörerischen Kräfte eigentlich von außen kommen, hat hier das aktuale Wesen eines Einzeldings eine ausgezeichnete Funktion. Denn wenn es eine schlechte Fiktion ist anzunehmen, alle Dinge in der Natur wirkten unter allen Umständen harmonisch zugunsten einer allseitigen Selbsterhaltung zusammen, so bedarf es eines Prinzips, welches als Unterscheidungsgrund zwischen nützlichen und schädlichen, die Selbsterhaltung fördernden und sie behindernden Faktoren fungiert. Mit anderen Worten: Das aktuale Wesen eines Einzeldings ist ein Prinzip der Selektion. Diese Funktion ist vom Standpunkt der endlichen Dinge aus eine notwendige. Denn der Untergang und die Zerstörbarkeit des Endlichen ist vom Standpunkt der Endlichkeit aus eine unbestreitbare Realität. 26 So »wirkt« ein aktuales Wesen, indem 26 W. Bartuschat hat in mehreren Arbeiten Spinoza gegen den schon von Leibniz erhobenen Vorwurf verteidigt, dass die Einzeldinge als Modi der absoluten Substanz nur eine scheinhafte und nichtige Seinsweise hätten und damit auch die Zerstörbarkeit der

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I. Ontologie

es die äußeren, auf das einzelne Ding einwirkenden Ursachen nach ihrer Verträglichkeit und Unverträglichkeit mit der möglichen Einheit einer einheitlichen Wirkung voneinander sondert. Eine solche Sortierung gegebener äußerer Ursachen eines Einzeldings hinsichtlich ihrer Verträglichkeit mit einer möglichen Wirkung ist die Bedingung der möglichen Einheit eines Einzeldings. Diese Funktion der Sortierung und Selektion äußerer Ursachen, die das aktuale Wesen eines Einzeldings ausübt, setzt aber ihrerseits Bedingungen ihrer möglichen Verwirklichung voraus.

5.

Das wahre Gute und die Bedingungen seiner Möglichkeit

Zu den Bedingungen der möglichen Selbsterhaltung eines Einzeldings gehört zunächst, dass nicht alle Dinge in der Natur für die Selbsterhaltung eines bestimmten Einzeldings relevant sind, dass es vielmehr Dinge gibt, die sich einem solchen Lebenstrieb gegenüber ganz indifferent verhalten. Nach Spinoza genügen Dinge, die hinsichtlich ihres jeweiligen Wesens überhaupt keine Gemeinsamkeiten aufweisen, dieser allgemeinen Bedingung, füreinander weder nützlich noch schädlich, weder gut noch schlecht zu sein. Eine solche Wertindifferenz findet sich exemplarisch im Verhältnis des Physischen und des Psychischen, deren Wesensverschiedenheit eine wechselseitige kausale Indetermination einschließt. So kann, streng genommen, von einer Nützlichkeit oder Schädlichkeit im Verhältnis zwischen dem Physischen und dem Psychischen keine Rede sein. Die Wertindifferenz, die zwischen den mannigfachen Dingen immer und notwendig besteht, sofern sie unter unterschiedliche allgemeine Wesensbestimmungen fallen, ermöglicht einen Raum, der zu den Vorbedingungen eines möglichen Zusammenbestehens und Zusammenwirkens der Einzeldinge gehört. Dieser Wesensraum erstreckt sich aber unendlich weiter als der durch die Wesensdifferenz körperlichen und geistigen Seins gegebene. Denn die absolute Substanz setzt durch ihre unendlichen Wesensbestimmungen ebenso viele »logische« Räume, die entsprechende Wertindifferenzen und kausale Indeterminationen von Einzeldingen Dinge ein bloßer Schein sei. Vgl. Bartuschat, Selbstsein und Absolutes, in: Neue Hefte für Philosophie 12(1977), S. 23 f.; ferner: Spinoza in der Philosophie von Leibniz, in: Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 16 (1981), a. a. O., S. 53 f.

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ermöglichen. Diese logischen Räume gehören alle zu der einen, alle Dinge umfassenden Natur. 27 Aber selbst unter der Voraussetzung, dass sich für unterschiedliche reale Dinge aufgrund einheitlicher Wesensbestimmungen Gemeinsamkeiten ergeben, folgt nicht notwendig, dass diese Dinge einander in ihrem jeweiligen Selbsterhaltungsstreben beeinträchtigen müssen, und dass sie auf nichts anderes aus sind als auf wechselseitige Schädigung oder Zerstörung. Vielmehr folgt aus dieser Bedingung nur so viel, dass die Dinge einander in ihrer Selbsterhaltung teils förderlich, teils hinderlich und schädlich sind, dass sie aber dank ihres Lebenserhaltungstriebs auch entsprechende Unterschiede an den Dingen ihrer näheren und weiteren Umgebung wahrnehmen können. Dass alle Dinge unter Umständen einander in ihrer Selbsterhaltung nützlich oder schädlich sein können, ist nur ein anderer komplementärer Aspekt jenes bereits erwähnten gesetzmäßigen Sachverhalts, dass alle Dinge unter Umständen Ursache der Liebe oder des Hasses füreinander werden können. Unter den Bedingungen möglicher Selbsterhaltung zeichnet sich aber eine Bedingung vor allem aus. Und es ist diese Grundbedingung, die in erster Linie an ein teleologisches Prinzip denken lässt. Dabei handelt es sich nicht um die indifferente Verneinung von Unverträglichkeit und auch nicht um die Möglichkeit von Verträglichkeit und Unverträglichkeit im Verhältnis aktualer Wesen von Einzeldingen; nicht um Abwesenheit oder Anwesenheit von wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen diesen Wesen, sondern um eine positive Übereinstimmung (convenientia) und Harmonie, aufgrund der sich die einzelnen Wesen in ihrer jeweiligen Selbsterhaltung fördern. Es ist dieses Grundverhältnis einer positiven Übereinstimmung unter den realen Dingen, dem sich die Möglichkeit eines natürlich wahrhaften Guten verdankt. Dank einer solchen Wesensübereinstimmung vermögen die einzelnen Dinge füreinander wahrhaft gut zu sein. Dementsprechend ermöglicht die Wesensübereinstimmung unter den Menschen die gemeinschaftliche Freude an einem gemeinsamen höchsten Gut. Dieses Grundprinzip einer ursprünglichen Wesensübereinstimmung unter den Dingen entstammt der Tradition der Stoa. Wenn Spinoza in der Übernahme und im Gebrauch dieses Prinzips keinen Widerspruch zu seiner Kritik an der Teleologie zu sehen vermochte, so 27

Vgl. hierzu den bereits zitierten Aufsatz von E. E. Harris, Anm. 18.

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hängt dies offensichtlich damit zusammen, dass eine solche Übereinstimmung nicht die Funktion hatte, ein bestimmtes Verhalten der Einzeldinge zu erklären, sondern die Voraussetzung für mögliche Erklärungen des Verhaltens und Handelns von Einzeldingen zu schaffen. Wenn aktive Affekte den Charakter von Erkenntnissen des Guten und Schlechten haben, so heißt dies, dass sie aufgrund jener Bedingungen möglicher Selbsterhaltung die Dinge ihrer Umgebung auf ihre Nützlichkeit und Schädlichkeit hin unterscheiden können, und dies um so besser, je weiter ihre Wesensübereinstimmung mit den anderen Dingen reicht. Es ist die Gotteserkenntnis des Menschen, die eine Übereinstimmung seines Wesens mit dem Wesen aller anderen Menschen und die Umsetzung dieser Übereinstimmung in ein gemeinsames Wirken zum gemeinsamen Besten ermöglicht. In der menschlichen Gotteserkenntnis liegt somit der tiefste und ursprünglichste Grund eines wahren Menschlich-Guten. Am Ende dieser Untersuchung ist noch ein letzter wichtiger Aspekt zur Sprache zu bringen, der gleichfalls die beobachtete Verschränkung von Kritik und Gebrauch teleologischer Prinzipien berührt. Es geht dabei um die besondere Rolle der Einbildungskraft in Spinozas Ethik und Affektenlehre. 28 Imagination gilt in der Moderne als die wichtigste Instanz der menschlichen Kreativität und schöpferischen Freiheit. Dabei wird diese Freiheit und Freiheitsmächtigkeit häufig in spezieller Einschränkung auf den Bereich künstlerisch-technischer Erzeugnisse vorgestellt. Aufgrund einer solchen Einschränkung, wie überhaupt, gewinnt die Imagination leicht den Anschein einer Gegeninstanz zur theoretischen und praktischen Vernunft, deren eigentliche Wirkung darin besteht, die von der Vernunft gestiftete Gesetzmäßigkeit zugunsten höherer Einsichten zu durchbrechen. Dies ist nun nicht die Betrachtungsweise des Spinoza. Bei diesem erscheint die Imagination im Geflecht der menschlichen Erkenntniskräfte zunächst als eine besonders trübe und trügerische Erkenntnisquelle, die nur inadäquate Ideen gibt und von sich aus zu keiner Einsicht in die Wahrheit befähigt. Sie ist die Instanz, die ursprünglich Abwesendes als Anwesendes vorstellt und damit der Verwechselung zwischen NichtseienZu Recht betont St. Hamphire die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung zwischen reiner Vernunft und Einbildungskraft, zwischen ratio und imaginatio für die Literatur und Philosophie Europas im 17. Jahrhundert. In: (Ders.), Spinoza (1951), Neuauflage Harmondsworth 1988, S. 28.

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dem und Seiendem Vorschub leistet. Aber zum anderen steht diese Imagination keineswegs in unversöhnlichem Gegensatz zur theoretisch-praktischen Vernunfterkenntnis. Sie ist mit dieser keineswegs unverträglich, sondern weist eine positive Affinität zu dieser auf und vermag so wesentlich zu einer entsprechenden möglichen Vernunfterkenntnis beizutragen. So eigentümlich dies zunächst klingen mag: Gerade indem Spinoza die Imagination nicht über die Vernunft gestellt, sondern ihr eine wohl bestimmte Aufgabe innerhalb der theoretisch-praktischen Vernunfterkenntnis zugewiesen hat, hat er zu jener eigentümlich künstlerisch-ästhetischen Wirkung beigetragen, die von seinem Werk auf die deutsche Klassik ausgegangen ist. Aber zugleich ist die Funktionsbestimmung der Imagination im Reich der Affekte von der Art, diesem Kernstück der spinozanischen Affektenlehre ein bleibendes Interesse in der philosophischen und wissenschaftlichen Psychologie zu sichern. 29 In Spinozas Theorie gilt die Imagination keineswegs nur als eine Erkenntnisinstanz, die für Täuschungen besonders anfällig ist und anfällig macht. Sie ist vielmehr eine elementare Kraft im Dienste der menschlichen Daseinserhaltung. Auch in dieser Betrachtung der Phantasie als Kraft im Dienste des menschlichen Lebens ist Spinoza der Vorläufer Nietzsches. Er spricht von einem Streben (conatus), das vorzustellen, was die Daseinsfülle und Daseinsmacht des menschlichen Körpers steigert. Und weil es eine Entsprechung zwischen der Daseinsfülle des menschlichen Körpers und des menschlichen Geistes gibt – 29 Zu Recht ist in der Forschung immer wieder die Frage nach dem Verhältnis Freuds zu Spinoza aufgeworfen worden. Besonders wichtige Hinweise finden sich in einer der frühesten Arbeiten zu diesem Thema, nämlich von B. Alexander, Spinoza und die Psychoanalys«, in: Chronicon Spinozanum V(1927),S. 96 f. Besonders wichtig scheint mir die in jener Arbeit hervorgehobene Beziehung zwischen Therapie und Ethik im allgemeinen sowie die Gemeinsamkeit zwischen Freud und Spinoza hinsichtlich des Primats des psychischen Seins vor seiner sprachlichen Ausformung zu sein. Demgegenüber scheint mir die häufig betonte Gemeinsamkeit hinsichtlich des psychischen Determinismus in der Regel viel zu undifferenziert, um einen heuristisch bedeutsamen Vergleich zu ermöglichen. Einen wichtigen Beitrag zu Spinozas philosophischer und wissenschaftlicher Psychologie gibt J. Neu durch seinen konstruktiven Vergleich mit D. Humes Psychologie, in dem er das Verhältnis von »feelings« und »thoughts« hier und dort der Differenz zwischen einer rationalistischen und empiristischen Theorie entsprechend bestimmt. In: Emotion, Thought and Therapy. A Study of Hume and Spinoza and the Relationship of Physical Theories of the Emotions to Psychological Theorien of Therapy. London 1978.

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eine prästabilierte Harmonie im Guten und Schlechten – , wirkt das Streben der Imagination auf die Daseinsfülle des menschlichen Geistes zurück. Das Imaginationsstreben steht im Dienste der Selbsterhaltung des menschlichen Geistes. Aber es kommt dieser Aufgabe nicht defensiv, sondern offensiv nach, indem es auf die Erweiterung der Daseinsund Wirkungsmächtigkeit des jeweiligen Einzelwesens »Mensch« bedacht ist. Dieses Imaginationsstreben (conatus imaginandi) ist so etwas wie eine geistige Grundkraft, die im menschlichen Geiste wirksam ist und die den Menschen zur Steigerung seiner körperlichen und geistigen Kräfte anzuregen vermag. Dieses Streben ist seiner Form nach, wie jedes Streben als solches, eine Beweg- und Wirkursache; und als Streben, gewisse Ideen hervorzubringen, eine spezifisch mentale Ursache dieser Art innerhalb des psychischen Wirkungszusammenhangs des menschlichen Geistes. Die besondere Funktion dieser mentalen Bewegursache besteht nun darin, dass sie gesetzmäßige Zusammenhänge der menschlichen Affekte untereinander und mit dem menschlichen Gesamtverhalten zu erkennen und zu erklären gestattet, und zwar unter Absehung von den korrespondierenden psychosomatischen Zusammenhängen und deren kausaler Indetermination, die eine adäquate Kausalerkenntnis nicht zulässt. Mit anderen Worten: Die Kausalität des menschlichen Imaginationsstrebens, welches im Dienste der menschlichen Daseinserhaltung und Daseinssteigerung steht, ermöglicht eine Erkenntnis der kausalen Gesetzmäßigkeit der menschlichen Affekte hinsichtlich ihrer mentalen Komponenten und als mentale Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes unter methodischer Ausklammerung der zugehörigen psychosomatischen Zusammenhänge. Dieses ursächliche Imaginationsstreben wirkt nach bestimmten elementaren Gesetzen, die sich durch zusätzliche Annahmen und Randbedingungen weiter spezifizieren lassen. So ist der menschliche Geist in seinem Imaginationsstreben bemüht, solche Ideen vorzustellen, die seinem Dasein und seiner Wirkungsmächtigkeit förderlich zu sein scheinen; und zugleich solche Ideen von sich fernhalten, die entsprechend das Dasein beeinträchtigen könnten. Das bedeutet: Das ursächliche Imaginationsstreben des Menschen bemüht sich, angesichts der wahrgenommenen äußeren Dinge, die auf diesen einwirken, nach besten Kräften Ideen von geliebten Dingen zu bilden, so wie es umgekehrt bemüht ist, hinsichtlich des Gegebenen Ideen des Ungeliebten von sich fernzuhalten, solche Ideen gewissermaßen zu »verdrängen«. Eine solche »Verdrängung« von Ideen des Ungeliebten oder des Gehassten ist aber hier kein 120 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Ausdruck eines pathologischen Verhaltens, sondern die natürliche komplementäre Seite des ursächlichen Strebens des menschlichen Geistes nach Ideen, die dem menschlichen Wesen insgesamt bekömmlich sind. Das Kernstück der spinozanischen Affektenlehre besteht in der systematischen Entwicklung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Imaginationen und Affekten, zwischen den Ideen, die die Einbildungskraft bildet und den Ideen, welche die ideellen Komponenten gegebener Affekte ausmachen. So ist es etwa ein elementares Gesetz, dass die Vorstellung des Verlustes eines geliebten Dings Unlust, wenn nicht sogar Schmerz und Trauer hervorruft, während umgekehrt die Imagination des Verschwindens oder der Zerstörung eines ungeliebten Objekts Lust oder Freude mit sich bringt. Aber diese Entwicklung einer umfassenden Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung zwischen den Ideen der Einbildungskraft und den Ideen körperlicher Affektionen, im Hinblick auf die wir von Affekten sprechen, enthält eine zusätzliche Pointe. Diese hängt mit der Kennzeichnung der Einbildungskraft bzw. der Imagination als einer unzuverlässigen Erkenntnisquelle zusammen. Die Imagination ist in erster Linie ein Vermögen der Bilder (imagines). Was sie mit dem Vermögen der Wahrnehmung und mit dem der Affekte verbindet, ist dies, dass sich in ihnen allen die Tätigkeit des menschlichen Geistes als eines aktualen denkenden Wesens ausdrückt. Angesichts dieser Spontaneität des Denkens in all jenen Vermögen sind diese ihrer Form nach Quellen von Ideen. Und diese Ideen, die jenen unterschiedlichen Quellen des Denkens entstammen, sind ihrerseits ihrer allgemeinen Form nach Modi des Denkens. Deswegen unterliegen sie alle der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes, sofern sich in diesem die unendliche Gesetzmäßigkeit des Denkens ausdrückt. Aber diese unterschiedlichen Modi des Denkens, die Ideen der Imagination, der Perzeption und des Affekts weisen noch eine weitere Gemeinsamkeit auf. Sie alle sind inadäquate Ideen, das heißt, keine von ihnen erfüllt die Bedingungen einer klaren und deutlichen Erkenntnis der Dinge. Der Unterschied zwischen jenen Vermögen als unterschiedlichen Quellen von inadäquaten Ideen betrifft nun den spezifischen Charakter der Inadäquation. Die Ideen der Wahrnehmung sind Ideen einer kausalen Einwirkung dieser Dinge auf den menschlichen Körper. Sie sind inadäquate Ideen, sofern sie von sich aus keine klare und deutliche Erkenntnis des kausalen Zusammenhangs zwischen wahrnehmendem und wahrgenommenem Körper vermitteln. Im Unterschied 121 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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hierzu sind die Ideen der Imagination von einer unmittelbaren und direkten Beziehung auf bestimmte Objekte losgelöst. Sie sind inadäquat, sofern sie sich zwangsläufig mit den Ideen der Wahrnehmung verbinden und auf diese Weise in die Beziehung zu bestimmten Objekten eintreten, durch die imaginative Ideen selbst nicht einer adäquaten Erkenntnis zugänglich gemacht werden können. Im Blick auf ihre gegenständliche Ungebundenheit haben die Ideen der Imagination den geltungslogischen Status von Vorstellungen bzw. von bloßen Meinungen (opiniones). Die Idee, die sich in einem Affekt als korrespondierendes mentales Element gegenüber einer körperlichen Affektion findet, kann sowohl unter dem Gesichtspunkt der Perzeptionen wie der Imaginationen betrachtet werden, so wie umgekehrt Perzeptionen und Imaginationen unter dem Aspekt ihres Zusammenhangs mit den Affekten gesehen werden müssen. Es ist nicht ohne weiteres auszumachen, ob die Affekte – allgemein ontologisch betrachtet – Ursachen oder Wirkungen von Wahrnehmungen sind oder beides, ob sie als Elemente und Bestandteile innerhalb bestimmter Wahrnehmungen vorkommen oder ob sie spezielle Wahrnehmungen sind, die zugleich die Bedingungen der Definition von Affekten erfüllen. Ähnlich unbestimmt ist das allgemeine ontologische Verhältnis zwischen Affekten und Imaginationen. Worauf es aber vor allem ankommt, ist dies, dass die Affekte – wie immer sie mit Wahrnehmungen und Imaginationen zu einem Funktionskreis zusammengeschlossen sein mögen – ein duales Wertverhältnis des Menschen zu den Objekten seiner Umwelt darstellen: ein duales, nämlich psychosomatisches Wertverhalten, sei es in der Wahrnehmung, sei es in der Imagination oder in der Verknüpfung der einen mit der anderen. Tatsächlich kommt es in diesem Zusammenhang auf eine allgemeine ontologische Bestimmung des Verhältnisses von Imagination, Perzeption und Affekten überhaupt nicht an. Eine solche allgemeine ontologische Verhältnisbestimmung ist überhaupt nur im Rahmen der umfassenden Gesetzmäßigkeit möglich, die kausale Indetermination und kausale Determination im Bereich des Psychosomatischen umfasst. Die Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung von Imagination und Affekten wird in Spinozas rationaler Ethik zunächst nur als Teil der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes thematisch, nämlich als Teil der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes, sofern dieser einen Körper hat. Insofern handelt es sich um eine Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung inadäquater Ideen. Mit dieser Verknüpfung verhält es sich 122 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft

analog zur kausalen Indetermination. So wie diese nur in Verbindung mit der kausalen Determination in einer umfassenden Gesetzmäßigkeit definiert ist, so gilt die gesetzmäßige Verknüpfung inadäquater Ideen nur in Verbindung mit einer entsprechenden Verknüpfung adäquater Ideen in einer umfassenden Gesetzmäßigkeit des Denkens. Wenn uns zum Beispiel die Wahrnehmung keine adäquate Idee der Sonne hinsichtlich ihrer wahren Größe vermittelt, so ist dies nicht als Ausdruck eines Fehlers oder Mangels der Natur anzusehen, sondern als notwendige Konsequenz einer Gesetzmäßigkeit der Natur, zu der auch das gesetzmäßige Verhalten der sinnlichen Körperwahrnehmung gehört. Dieses genügt speziellen Gesetzen des Psychophysischen im Ganzen der Natur. Im Blick auf diese geltenden Gesetzmäßigkeiten macht es letzten Endes keinen Sinn, von einer falschen Vorstellung dieser Wahrnehmung zu sprechen. Im Hinblick auf die umfassende Ordnung der Natur – in Beziehung auf Gott, sagt Spinoza – sind alle Ideen wahr. Diese Betrachtung gilt nun auch für das Verhältnis zwischen den inadäquaten Ideen der Imagination und der Affekte: Wenn wir uns einbilden, ein äußeres Objekt zu lieben oder zu hassen, unter dessen Einwirkung wir stehen, so mag diese Einbildung zu Recht bestehen oder nicht. Unsere Liebe, unser Hass – sie mögen wohlbegründet sein oder nicht. Vielleicht sind die äußeren Dinge, die uns gut und freundlich gesonnen zu sein scheinen, in Wahrheit von ganz anderem Charakter. Wir mögen uns vorstellen, dass das, was wir lieben oder hassen, vom Untergang bedroht ist, und wir mögen mit dieser Vorstellung im Recht sein oder nicht. Wie immer es um die Wahrheit dieser Vorstellungen bestellt ist, die Gültigkeit ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung mit entsprechenden Affekten der Unlust oder der Lust ist davon unberührt. Es ist dies eine partielle Gesetzmäßigkeit des menschlichen Geistes, welche mit einer umfassenderen Gesetzmäßigkeit des Denkens in Übereinstimmung steht. Was zunächst wie eine Schwäche der Imagination aussieht: ihr Vermögen, Abwesendes als anwesend vorzustellen, Ungegenwärtiges zu vergegenwärtigen, ist aber in Wahrheit ihre eigentümliche Stärke, durch die sie ihre positive Affinität mit der Vernunft ausweist. Denn dank dieser Fähigkeit vermag sie die Dinge von ihrem jeweiligen äußeren kausalen Kontext losgelöst zu betrachten und damit die Voraussetzung für eine Erkenntnis der Dinge in ihrem wahren Wesen zu schaffen. In jener Fähigkeit, die Dinge aus ihrem kausalen Kontext herauszulösen, liegt eine der wichtigsten Quellen möglicher mensch123 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

licher Freiheit. Unsere emotionale Einstellung modifiziert sich nämlich in Abhängigkeit von unseren kausalen Interpretationen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die Veränderung, die in uns vorgeht, wenn wir entdecken, dass ein vermeintliches Unrecht, das uns durch einen nahe stehenden Menschen zugefügt schien, auf andere Ursachen zurückzuführen ist. Wir spüren anstelle des Zorns Erleichterung und Freude. Wir sind in unseren Imaginationen relativ frei, den kausalen Kontext des Handlungsgeflechts zu interpretieren, in dem wir stehen, und wir vermögen als Handelnde diese Interpretation abzustimmen mit dem Gesetz des Zusammenhangs zwischen Imagination und Vernunft. Hier liegt der Berührungspunkt zwischen Einbildungskraft und theoretisch-praktischer Vernunft. Hier vermögen beide im Sinne der wahren Erkenntnis des Guten und Schlechten zusammenzuwirken. Spinoza hat sich nicht damit begnügt, das berühmte Diktum der stoischen Ethik zu erneuern. Es sei die Einsicht in die Notwendigkeit, die uns das Geschenk der Freiheit beschere. Er hat nicht nur die komplexe Notwendigkeit der Gesetze des Zusammenspiels von Imagination und Affekt im Detail nach methodischen Prinzipien entfaltet. Er hat vielmehr auf dieser Grundlage praktische Regeln der kausalen Interpretation entwickelt, welche die Überwindung des Hasses im Prinzip möglich machen. Die Überwindbarkeit des Hasses aber ist die eigentliche und fundamentale Bedingung möglicher menschlicher Freiheit.

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Spinoza und das psychophysische Problem

1. Die philosophische Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang ist keine einfache Frage. Es gehört bekanntlich zu den Eigentümlichkeiten der Wirkungsgeschichte der Ethik des Spinoza, dass dieselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem philosophischen Zusammenhang des Systems herausgelöst und als ein selbständiges Problem Gegenstand der Wissenschaft und der Philosophie geworden ist. An dieser Sachlage hat sich bis heute im Grunde nichts Entscheidendes verändert. Es handelt sich hier also um eine Vereinfachungen einer komplexen Fragestellung; und um dies vorweg zu nehmen: Durch die Vereinfachung ist die anstehende Sachfrage keineswegs klarer und deutlicher geworden. Gemeint ist hier die Behandlung des Problems des psychophysischen Zusammenhangs als eines Problems der empirischen Psychologie. Es ist das 19. Jahrhundert, das diese Fragestellung als eine solche und mit ihr die Bedeutsamkeit der spinozanischen Lösung entdeckt. Nach der allgemein herrschenden Auffassung, die bis heute die verbreitete ist, besagt Spinozas Antwort auf die Frage nach diesem Zusammenhang: Zwischen Körper und Geist (mens) zwischen Leib und Seele besteht kein kausales Wirkungsverhältnis, sondern ein Parallelismus von Kausalitäten, die jeweils getrennt für die Bereiche des Körpers und des Geistes Gültigkeit haben. Die empirische Psychologie war damals geradezu verzweifelt bemüht, mit Mitteln des empirischen Experiments Antwort auf die Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang zu finden. Gelegentlich wurde bei dieser empirischen Forschung die Frage laut, ob es sich in dem fraglichen Falle überhaupt um ein Problem handle, das durch die Mittel des empirischen Experiments eindeutig gelöst werden könnte. Das Missliche an dieser empirisch-wissenschaftlichen Fragestellung lag nun allerdings nicht nur in 125 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

der unreflektierten Reduktion eines komplexen philosophischen Problems auf eine scheinbar einfache empirisch-wissenschaftliche Fragestellung. Das Problem, das sich in jener empirischen Psychologie überhaupt nicht in zureichender Weise stellte, war dies, ob diese Psychologie selbst die geeignete Wissenschaft sei, um jenes Problem zu lösen. Wirft man einen Blick zurück auf Spinozas komplexe philosophische Fragestellung bezüglich des psychophysischen Problems, so ist eines klar: Die von der empirischen Psychologie untersuchte Frage stellt sich in Spinozas Ethik aus einem einfachen Grunde nicht, denn für den wissenschaftlichen Aspekt der Fragestellung gab es überhaupt nur eine einzige Wissenschaft, nämlich die einheitliche Naturwissenschaft, die noch nicht in Teildisziplinen spezialisiert war. Sofern das Psychophysische ein wissenschaftliches Problem ist, gehört es für Spinoza in den Bereich der Naturwissenschaften. Auch die Wissenschaft vom Menschen, die Anthropologie, ist hier ohne Wenn und Aber Naturwissenschaft. Wo sich die empirische Psychologie zum alleinigen Anwalt der genannten Fragestellung macht, muss sie sich in einer Zeit der sich ausdifferenzierenden Wissenschaft die Gegenfrage gefallen lassen, warum nicht die Physiologie und die Biologie, warum nicht die Sozial- und Kulturwissenschaften für die Behandlung dieses Problems zuständig sind? Die Psychologie beanspruchte im 19. Jahrhundert eine ausgezeichnete Sonderstellung im Kanon der Wissenschaften, insbesondere im Blick auf die Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften. Die Auszeichnung des psychophysischen Problems als eines zentralen Problems der empirischen Psychologie ist untrennbar verbunden mit ihrem wissenschaftlichen Anspruch auf eine privilegierte Stellung im System der Wissenschaften. Wenn man die Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang im Systemganzen von Spinozas Philosophie ins Auge fasst, droht die Gefahr, dass sie in eine Vielzahl einzelner Fragen zerfallt: Fragen nach dem wissenschaftlichen, dem metaphysischen, dem anthropologischen, dem ethischen Aspekt dieser Frage. Dies muss nun keineswegs eine irrtümliche, von der Sache wegführende Betrachtungsweise sein. Im Gegenteil. Angesichts des erwähnten Anspruchs der empirischen Psychologie auf alleinige oder zumindest privilegierte Zuständigkeit für das genannte Problem liegt es uns Heutigen sehr viel näher, die unterschiedlichen Beiträge der einzelnen Wissenschaften zu diesem jeweils 126 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinoza und das psychophysische Problem

für sich zu würdigen, ohne unbedingt auf eine allumfassende Problemlösung zu drängen. Man mag versucht sein, unter diesem Gesichtspunkt der spinozanischen Behandlung des Problems eine besondere Aktualität zuzumessen. Doch geht eine solche voreilige Aktualisierung an einem wesentlichen Gesichtspunkt vorbei. Denn es lässt sich in der Tat in Spinozas Ethik eine durchgängige einheitliche Perspektive ausmachen, die in der Frage des psychosomatischen Zusammenhangs und darüber hinaus eine ausschlaggebende Rolle spielt. Dies ist die einheitliche Perspektive der Erkenntnis. Das psychosomatische Problem, ja das systematische Problem der Ethik im Ganzen ist ein Erkenntnisproblem. Nun wird man bei Spinoza leicht zu der Feststellung gelangen, dass die Erkenntnistheorie dort noch nicht das ist, was sie im 19. Jahrhundert wird und sein will: eine theoretische Beschäftigung der Erkenntnis mit sich selbst. In gewisser Weise ist die Erkenntnis jedoch auch hier Selbstzweck und alle philosophische Erkenntnis wird als Wegweisung zur wahren Erkenntnis verstanden, zur wahren Erkenntnis Gottes und des Höchsten Gutes. Damit aber stellt sich für die Suche nach der einheitlichen Perspektive auf das Problem des psychosomatischen Zusammenhangs die Frage: Inwiefern ist die Frage nach dem psychosomatischen Zusammenhang ein zentrales Problem der Erkenntnistheorie? Auf diese Frage kann zunächst jede Wissenschaft so antworten, wie im Prinzip die empirische Psychologie in der vergangenen zweiten Jahrhunderthälfte antwortete: Es ist ein zentrales Problem für die Erkenntnis der jeweils betroffenen wissenschaftlichen Disziplin in ihrem theoretischen wissenschaftlichen Selbstverständnis. Wo eine solche Einzelwissenschaft, wie heute überall verbreitet, darüber hinaus die Neigung und die Kompetenz zur methodisch-kritischen Selbstreflexion unabhängig von der Philosophie besitzt, kann derselben das psychophysische Problem auch zu einem Problem ihrer eigenen theoretischen methodischen Möglichkeiten werden. Für Spinoza ist das psychophysische Problem ein solches der Erkenntnistheorie. Ihm geht es also nicht, wie in der kantischen Transzendentalphilosophie, darum, einen bestimmten Erkenntnistypus mit rein gedanklichen Mitteln als den einzig gültigen auszuzeichnen, der die Bedingungen wahrer Erkenntnis erfüllt; es geht ihm nicht um die Legitimation der Einführung durch den Begriff, sondern um die Unterscheidung verschiedener menschlicher Erkenntnisweisen, die als solche in der Erfahrung vorgefunden werden und die durch ihre philosophische Kritik auf ihre 127 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Wahrheitstauglichkeit geprüft werden. Kants Begründung der einzig legitimen Erfahrungserkenntnis ist logisch-rational. Spinozas kritische Prüfung der in der Erfahrung gegebenen Erkenntnisweisen ist – nicht nur aus Kants kritischer Perspektive – dem Bereich der Erfahrung verhaftet. Dementsprechend ist Spinozas gesamte Erkenntnistheorie und mit ihr jeder der verschiedenen Modi der Erkenntnis in der Erfahrung begründet. Dies gilt nicht nur für die Erfahrungserkenntnis, sondern auch für die Modi der Erkenntnis, die Spinoza selbst als transempirisch angesehen hat, wie die Erkenntnisse der zweiten und dritten Erkenntnisart. Es liegt auf der Hand, dass unter den Bedingungen der spinozanischen Erkenntnistheorie das Erkenntnisproblem des psychosomatischen Zusammenhangs eine ganz spezifische Fassung annimmt im Vergleich zu den Fassungen in der empirischen Psychologie des 19. Jahrhunderts und in Kants Transzendentalphilosophie. Denn für Spinoza stellt sich zwangsläufig das psychophysische Problem im Kontext unterschiedlicher Erkenntnisformen, die von der Wahrnehmung und der Imagination über die Verstandeserfahrung bis zur vernünftigen Intuition reichen. Insofern stellt sich vor der Frage nach der Lösung des benannten Problems die ganz andere Frage nach dem Sinn der Erörterung des thematischen Problems im Zusammenhang verschiedener Erkenntnisformen. Ich möchte gegen das weitverbreitete Vorurteil von Dogmatismen (Descartes, Spinoza, Leibniz) der rationalen Metaphysik eine eigenständige Erkenntniskritik zubilligen, die allerdings auf dem Boden von Kants Transzendentalphilosophie nicht in ihrer Eigenbedeutung gewürdigt werden kann. Allgemein kann man diese Erkenntniskritik als eine Kritik der Erfahrungserkenntnis durch Erfahrungs- und Vernunfterkenntnisse beschreiben. Demzufolge besteht die Vernunfterkenntnis nicht darin, dass sie die Grenzen des Erfahrbaren überschreitet, sondern, um dies in Form eines Kontrasts zu umschreiben, dass sie diese Grenzen unterschreitet. Verstandeserkenntnis springt dort in die Lücken unseres Erkennens, wo wir nicht über zureichend gesicherte empirische Erkenntnisse verfügen. Diese Lücken werden nicht einfach gefüllt durch ungesicherte Erfahrungshypothesen, sondern durch einsetzbare logische Abhängigkeitsverhältnisse, welche entsprechende kausale Interdependenzen vertreten. Wenn diese logischen Abhängigkeiten ihrerseits vernünftig begründet werden können, hat eine Lücke in der Erfahrungserkenntnis nicht jene verwirrenden 128 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinoza und das psychophysische Problem

Konsequenzen, die sie ohne ein Wissen um den fraglichen logischen Zusammenhang hätte. Das psychophysische Problem wird von Spinoza unter dieser methodischen Prämisse erörtert. Dementsprechend ist der Lehrsatz über den psychophysischen Parallelismus im Gegensatz zur Auffassung der empirischen Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts kein empirischer Satz, sondern ein Satz über einen logischen Zusammenhang im Blick auf undurchschaubare kausale Abhängigkeiten. Spinozas Erkenntnistheorie verdient unter dem Gesichtspunkt der Kritik der Erkenntnis also eine eigenständige Beachtung, gerade weil sie in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung durch Kants Erkenntniskritik verdunkelt worden ist. Diese kantische Erkenntniskritik richtet sich in erster Linie gegen den schwärmerischen Vernunftgebrauch, also gegen einen unkritischen Erkenntnisgebrauch der Ideen. Diese Ideen aber sind Vorstellungen von absoluten Ganzheiten im Großen und Kleinen bzw. Vorstellungen von Unbedingtheiten. So gesehen ist Kants Erkenntniskritik gegen die Möglichkeit gerichtet, in Gott, Welt, Freiheit Erkenntnisgegenstände zu besitzen. Sie richtet sich nicht gegen einen Verstandesgebrauch, der in der vorher beschriebenen Weise eine fehlende Erfahrungserkenntnis stellvertretend beschreibt. Dieses Verfahren, welches man in gewisser Weise in die Nähe zum Verfahren der Formalisierung in Heideggers Fundamentalontolgie bringen kann, darf nicht verwechselt werden mit einer Unkenntnis hinsichtlich der Differenz zwischen empirischer Ursachenerkenntnis und Erkenntniswissen von Grund- und Folgebeziehungen. Kant hat diesen Verstandesgebrauch in empirischer Absicht in der Kritik der reinen Vernunft zwar selbst zum Thema gemacht, aber diesem Verstandesgebrauch eine eingehende Würdigung versagt, weil es ihm um etwas anderes ging, nämlich um eine Kritik des Vernunftgebrauchs in der rationalen Metaphysik. Eine Güterabwägung zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Erkenntniskritik fällt nicht zwangsläufig zugunsten der letzteren aus. Denn im ersten Fall werden bestimmte Formen der Erfahrung auf weitere Erkenntnis hin in ihrer typologischen Verschiedenheit allgemein beschrieben und hinsichtlich ihrer Wahrheitskompetenz untersucht. Demgegenüber konstruiert die Transzendentalphilosophie einen einzigen Idealtypus eigentlicher Erkenntnis und muss insofern zeigen, dass alle anderen in der Erfahrung vorkommenden Erkenntnisweisen in Wahrheit abstrakte Komponenten der einen all129 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

gemeinverbindlichen Erkenntnis sind. Dementsprechend finden wir bei Kant Erkenntnisweisen wie Wahrnehmung- und Vernunfterkenntnis dargestellt als analytische Komponenten der einen allgemeinverbindlichen Erfahrungserkenntnis. Der entscheidende Mangel dieser angeblich kritischen Erkenntnistheorie besteht nun darin, dass sie sich im Grunde jeder möglichen Kritik entzieht, wenn nur die Konstruktion der Bedingung logischer Konsistenz genügt und wenn den sprachlichen Ausdrücken, mit denen die analytischen Komponenten der normativ verbindlichen Erkenntnis beschrieben werden, ein phänomenologisch aufweisbarer Sinn zukommt. Ob die Konstruktion der Erfahrungserkenntnis mit den Erfahrungen der Erfahrung übereinstimmt und auf welche Kriterien eine solche Übereinstimmung beruht, bleibt ein Geheimnis dieser Erkenntniskritik. Spinoza entfaltet seine Theorie des psychophysischen Zusammenhangs als Kritik an der cartesischen Bestimmung desselben im Sinne einer kausalen Wechselwirkung. Diese Kritik beruht auf einer Kritik an der cartesischen Erkenntnistheorie, denn sie steht im Widerspruch zu seinen eigenen Erkenntnisprinzipien, die für die klare und deutliche Erkenntnis den strengen Dualismus von Körper und Geist und deswegen die Unmöglichkeit einer kausalen Wechselwirkung postulieren. Aber dies ist nicht Spinozas letztes Wort in der Auseinandersetzung mit Descartes. Vielmehr billigt er diesem durchaus und sehr entschieden die Berechtigung zu, an unsere Alltagserfahrung zu erinnern, die keinen Zweifel aufkommen lässt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Körper und Geist gibt. Die Phänomene all unserer Befindlichkeiten und Bestrebungen, insbesondere die Phänomene des menschlichen Willens, sprechen für einen solchen Zusammenhang. Aber – und dies ist der entscheidende Gesichtspunkt in Spinozas Kritik an der kausalen Wechselwirkung zwischen Körper und Geist in der cartesischen Theorie: Es ist eine Sache, eine solche Wechselwirkung als gesichertes Faktum der alltäglichen Erfahrung anzunehmen, und eine andere, eine nicht zureichend gesicherte empirische Kausalerklärung für diesen gesicherten Zusammenhang zu liefern. Gegen diese Kausalerklärung des Descartes und ihre empirischen Zusatzannahmen von kausalen Beziehungen zwischen vermeintlichen Lebensgeistern und einer vermeintlichen Zirbeldrüse ist Spinozas Kritik gerichtet. Man kann aus dieser Kritik sogar einen skeptischen Zweifel heraushören, ob die empirische Erforschung des Leibes je soweit fortschreiten kann, dass mit dieser Erfahrungserkenntnis auch die Frage der Er130 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinoza und das psychophysische Problem

kenntnis des psychophysischen Zusammenhangs zureichend beantwortet werden kann. Spinozas Lehrsatz, der lediglich eine Korrespondenz der kausalen Ordnung im Bereich des Leiblichen und des Seelischen aussagt, ist im Vergleich zu einer falschen, oder zumindest einer nicht zureichend bewiesenen empirischen Theorie, allein den Kriterien einer sachlich-kritischen Erkenntnis angemessen.

2. Spinoza bleibt aber bei dieser Kritik und bei der Ersetzung einer unausgewiesenen empirischen Theorie durch eine logische Korrespondenz nicht stehen. Die Verneinung eines Kausalverhältnisses zwischen Körper und Geist ist keineswegs Spinozas letztes Wort in der fraglichen Sache. Eher möchte man es sein erstes Wort nennen im Blick auf einen höchst komplexen Zusammenhang. Es ist gewiss nicht schief und keine Übertreibung, wenn man Spinozas Ethik im Ganzen eine Theorie des Psychosomatischen nennt, eine Theorie des Psychosomatischen in ethischer Absicht, in die Gott und Mensch in ihrem Zusammenwirken integriert sind. Jeder Lehrsatz dieser Ethik betrifft in gewisser Weise den psychophysischen Zusammenhang. Das muss nun nicht heißen, dass jener Lehrsatz, der den Parallelismus der kausalen Ordnung von Körpern und Geistern aussagt, ein gänzlich nebensächlicher Lehrsatz wäre, der zu Unrecht ins Zentrum der philosophischwissenschaftlichen Diskussion geraten ist, wie sie uns die Diskussion in der empirischen Psychologie des 19. Jahrhunderts zeigt. Es ist schon so, dass diesem Lehrsatz eine besondere Bedeutung zukommt, aber nicht für sich, sondern um einer anderen wichtigeren Einsicht willen. Er bildet nämlich eine der Beweisgrundlagen für den Satz, dass Irrtümer und Fiktionen des Menschen sich keineswegs dem allgemeinen Naturzusammenhang und dessen Gesetzmäßigkeit entziehen, so wenig wie die wahren und adäquaten Erkenntnisse. Spinozas Beispiel für diesen Sachverhalt ist dem Erfahrungsbereich optischer Phänomene und Täuschungen entnommen, die sich einwandfrei durch die Naturgesetze der Optik erklären lassen. In diesem Punkte besteht gänzliche Übereinstimmung mit Descartes, der auf dasselbe Phänomen einer gewissen inadäquaten Erscheinung der Größe der Sonne für unser optisches Wahrnehmungsvermögen verweist. Bei Spinoza haben wir es aber mit dem Paradigma des psychosomati131 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

schen Verhältnisses und der Kausalität der Affekte zu tun. Diese Entsprechung verkannt zu haben, ist ein zentrales Argument gegen die cartesische Erörterung des psychophysischen Zusammenhangs. Hier handelt es sich, wie gesagt, nicht um das Verhalten des Auges oder der Augenlinse, sondern um das tierische bzw. menschliche Sehverhalten. Damit kommen wir nun zum eigentlichen Kern von Spinozas Kritik an Descartes. In moderner Formulierung würde man sagen: Es ist dies die Kritik an einem der Kategorienfehler des Descartes, also nicht nur eine Kritik an einer empirisch unzulänglichen Erklärung bestimmter Erfahrungsphänomene, sondern auch eine Kritik an der unzulänglichen Erkenntnistheorie als solcher. Darüber hinaus aber ist der kritisierte Kategorienfehler direkt gegen das Verständnis der Kategorie der Kausalität gerichtet und gegen deren fälschlich angenommene ontologische Implikation. Spinoza begreift die Kausalität – ähnlich wie Descartes und Leibniz und wie später noch Hume und Kant – als eine bestimmte Relation zwischen existierenden Dingen (res). Aber zugleich unterscheidet sich sein Begriff der Kausalität von den entsprechenden Begriffen der anderen genannten Autoren in einem entscheidenden Punkte: Die kausale Beziehung zwischen den Dingen ist ihm eine interne Relation zwischen diesen, keine externe, äußerliche Beziehung. Dieses Kausalitätskonzept hat Spinoza ontotheologisch begründet, indem er Gott, das absolut Unendliche, als immanente Ursache der Dinge bestimmt hat. Der vieldiskutierte und vielgeschmähte Pantheismus Spinozas zielt auf nichts anderes als auf die Grundlegung dieses Kausalitätskonzepts. Wie der lemmatische Teil seiner Körperlehre in der Ethik zeigt, war er der Meinung, dass nicht nur die Ethik, sondern auch die neuzeitliche Physik auf diese Kausalitätsauffassung zu gründen sei. Der Denker, der wie kein anderer diesen Gedanken als den Grundgedanken Spinozas erkannt hat, ist Bradley gewesen. Ihm ist in diesem Verständnis A. N. Whitehead gefolgt, der seine ganze spekulative Kosmologie auf ein Konzept der internen Kausalität aufgebaut hat. Wie ist die Theorie der immanenten Kausalität zu denken? Im Blick auf die Geschichte der Philosophie zeigen sich als die Vordenker einer solchen Kausalität Aristoteles und Leibniz. Es ist dabei der Grundbegriff der Entelechie, in welchem die Idee einer immanenten Kausalität ihren idealen Ausdruck gefunden hat. Dementsprechend ist eine immanente Ursächlichkeit zu denken als Verwirklichung einer Möglichkeit, in welcher diese Verwirklichung angelegt ist. Die Ente132 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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lechie ist nun entweder ein rein internes Geschehen oder aber durch äußere Faktoren veranlasst, die lediglich als Auslöser der fraglichen Verwirklichung oder allenfalls als äußere Mitursachen fungieren. Die erste Auffassung ist bekanntlich von Leibniz, die letztere von Aristoteles vertreten worden. Die Annahme, dass es sich im Falle des spinozanischen Kausalitätskonzepts um das Konzept einer immanenten Ursächlichkeit handelt, wirft ein Licht auf die entscheidende Differenz zwischen der cartesischen und der spinozanischen Philosophie. Die letztere ist in ihrer aristotelischen Komponente anticartesisch bzw. antimechanistisch. Die Frage muss dementsprechend lauten: In welchem Sinne ist das Problem des psychophysischen Zusammenhangs für Spinoza ein quasi-aristotelisches Problem, in welchem es überhaupt nicht um äußere und schon gar nicht um mechanische Kausalitätsbeziehungen geht, auch da nicht, wo Spinoza für das Physische und das Mentale die gleiche bzw. die parallele Gesetzmäßigkeit fordert? Eine vorläufige Antwort auf diese Frage ist die Annahme, dass eine Idee bei Spinoza einem jeden Körper zugeordnet ist, so wie umgekehrt jeder Idee ein Körper korrespondiert, und zwar in dem Sinne, in dem Aristoteles die Psyche als Entelechie des Leibes bestimmt hat. Allerdings lässt sich bei Spinoza in diesem Punkt eine gewisse Zweideutigkeit nicht übersehen. So wenn er die mens humana als Wahrnehmung eines realen körperlichen Einzeldings bestimmt. Die mens humana ist eine solche Körperwahrnehmung; und zugleich gilt, dass eine solche Körperwahrnehmung, welche die mens humana konstituiert, unter gewissen körperlichen Bedingungen zustande kommt, d. h. ihr Werden der Erfüllung dieser Bedingungen verdankt. Das Konzept der immanenten Kausalität verlangt unter diesem Gesichtspunkt eine begriffliche Präzisierung. So ist eine solche Kausalität, – gerade durch ihre bestimmte Unterscheidung von der Gegebenheit äußerer Ursachen – immer auf die Gegebenheit von Dingen bezogen, von denen gilt, dass sie in externen kausalen Beziehungen stehen. Man mag dies den ontologischen Charakter der Kausalität nennen. Wie immer diese Dinge (res) selbst ontologisch bestimmt sein mögen, die Differenz zwischen inneren und äußeren Ursachen in Beziehung auf gegebene Dinge lässt sich durch die Unterscheidung von Sein und Haben begrifflich genauer formulieren. So liegt immanente Kausalität dort vor, wo die maßgeblichen Dinge (res) kausale Beziehungen sind. Sie sind Ursachen, die bestimmte Wirkungen hervorrufen, wie sie ihrerseits auch Wirkungen von Ursachen sind. Dagegen liegen äußere 133 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Ursachen dann vor, wenn die maßgeblichen Dinge bestimmte kausale Beziehungen haben, wenn demnach diese Beziehungen zu ihren Eigenschaften gehören, ohne dass sie selbst uneingeschränkt diese Beziehungen sind. Von dieser Unterscheidung zwischen immanenten und externen Ursachen ist nun aber eine andere abzutrennen, die sich in Spinozas Kausalitätskonzept mit jenen vermischt und überlagert. Dieser Unterscheidung zufolge liegen dort immanente Ursachen vor, wo das maßgebliche Ding schlechthin oder in einem gewissen Sinne Ursache seiner selbst ist, seine Kausalbeziehung demnach eine Selbstbeziehung ist. Demgegenüber handelt es sich dort um externe Ursachen, wo das maßgebliche Ding sich auf ein anderes solches Ding in der Weise einer externen Relation bezieht. Klar ist nun, dass Spinoza die Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der internen und der externen Kausalität betrachtet, während aus seiner Sicht Descartes in den Passions de L’Ame nur eine unterschiedliche externe, nämlich eine starke und eine schwache mechanische, Kausalität kennt. Um das Problem des psychophysischen Zusammenhangs als ein Erkenntnisproblem, genauer als ein Problem der Kausalität und der Kausalerkenntnis, beschreiben zu können, bedarf es nun aber nicht nur einer genaueren Bestimmung der internen und der externen Kausalität, hinsichtlich deren sich jenes Problem stellt. Zuvor bedarf die Formulierung jenes Problems auch einer genaueren ontologischen Kennzeichnung der maßgeblichen Dinge, auf die sich die Unterscheidung von internen und externen Ursachen bezieht. Hier stoßen wir nun in Spinozas Ethik, der Vieldeutigkeit in der Fassung interner Ursachen entsprechend, auf eine Vieldeutigkeit der maßgeblichen Dinge. Diese maßgeblichen Dinge sind der onto-theologischen Grundlage entsprechend Ideen einerseits und Körperdinge andererseits. Aber diese sind im Blick auf das psychophysische Problem von vornherein in ganz bestimmter Weise gegeben, als Körperideen und als Ideen von Körpern. Für die Ethik spielen nun die letzteren eine maßgebliche Rolle. Wir haben es dementsprechend in der Ethik im Grunde immer mit psychophysischen Gegebenheiten zu tun – also mit einer unendlichen Mannigfaltigkeit psychophysischer Verbindungen: Solche Verbindungen sind u. a. Wahrnehmungen, Imaginationen, Erinnerungen, Erkenntnisse der verschiedenen Modi und vor allem die Affekte. In der Terminologie der Ethik: Die maßgeblichen Dinge sind Modi des Den134 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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kens. Zwischen diesen Modi des Denkens bestehen gesetzmäßige Zusammenhänge, die in Form von allgemeingültigen Lehrsätzen formuliert werden. Diese Gesetzmäßigkeiten scheinen dem zu entsprechen, was zuvor als externe Kausalität umschrieben wurde, zumindest insofern es sich um Beziehungen zwischen verschiedenen Dingen handelt, also um Beziehungen, in denen dem einen der beiden genannten Charakteristika externer Beziehungen Rechnung getragen ist. Aber zugleich zögert man, hier von einer externen Kausalität zu sprechen. Nicht von ungefähr sieht Spinoza in den aufgestellten und bewiesenen Lehrsätzen ›geometrische‹ Wahrheiten: Wahrheiten, die nicht nur in der Strenge des Beweises den Sachverhalten der Geometrie entsprechen. In der Tat gehen in diese Lehrsätze Logik und Erfahrung in einer Weise ein, die unserem Kausalverständnis nicht ohne weiteres entsprechen: Denn es handelt sich um allgemeine logische Abhängigkeiten zwischen Erfahrungen, die keine bestimmten Ursachenerkenntnisse im empirischen Sinne enthalten; Abhängigkeiten, die ihrerseits durch Erfahrung verbürgt sind, die sich aber aus ihrem Zusammenhang mit anderen Erfahrungen begrifflich begründen lassen. Diese logischen Abhängigkeiten bzw. Verstandeswahrheiten stehen stellvertretend für die Unkenntnis kausaler Ursachen. Allerdings ist in Spinozas Augen eine solche logische Stellvertretung kein Erkenntnismangel, sondern im Gegenteil ein Erkenntnisgewinn im Vergleich zu unausgewiesenen empirischen kausalen Spekulationen. Es kommt hier aber ein weiterer für das psychophysische Problem wichtiger Aspekt hinzu. Zwar betreffen die formulierten ›geometrischen‹ Gesetzmäßigkeiten zunächst allein die Beziehungen zwischen den Modi des Denkens. Aber diese Modi sind, wie das maßgebliche Paradigma der Affekte zeigt, keine reinen Modi, vielmehr Ideen, die ausnahmslos Ideen von Körpern sind und insofern von vornherein einen psychophysischen Zusammenhang darstellen. Insofern sind gewissermaßen alle Gesetzmäßigkeiten, die zwischen Ideen als Modi des Denkens bestehen, zugleich Gesetzmäßigkeiten des psychophysischen Zusammenhangs. Unter diesen Gesetzmäßigkeiten lassen sich nun aber gerade zusätzlich solche aussondern, in denen es nicht nur um Zusammenhänge zwischen Ideen, sondern um Zusammenhänge dieser Art unter der bestimmten Voraussetzung der Einheit einer mens bzw. unter der Bedingung der ausgezeichneten Einheit der mens humana geht. Spinoza hat darauf verzichtet, immer anzugeben, welche Gesetz135 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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mäßigkeiten diese Einheit voraussetzen und welche auch ohne diese Voraussetzung gültig sind. Sicher aber ist: Reine Modi des Denkens stehen unter eben dieser Voraussetzung, sofern sie auf das Ganze der mens humana reflektieren, sich auf diese und mittels der Einheit derselben auf Gott beziehen. Unter dieser Voraussetzung ist eine Idee nicht nur eine idea corporis, sondern sie ist eine solche Idee, die in bestimmten Beziehungen zu ihrem Leib steht und um diese Beziehung weiß. Sie ist insofern idea ideae, eine Idee der Idee des Körpers, eine sogenannte reflexive Erkenntnis. Unter dieser Voraussetzung lassen sich nun Gesetzmäßigkeiten formulieren, in denen geometrische Abhängigkeiten zwischen Ideen von Ideen und Ideen von Körpern fassbar werden. Man kann diese Gesetzmäßigkeiten Gesetzmäßigkeiten des psychophysischen Zusammenhangs zweiter Stufe nennen. Hier zeigt sich mit verschärfter Klarheit, dass das Problem einer psychophysischen Kausalität sich für Spinoza ganz anders stellt als für die Psychologie und Physiologie der modernen empirischen Naturwissenschaft. Nun haben wir in Spinozas Ethik mit maßgeblichen Dingen noch in einem anderen als dem bislang erörterten Sinn zu tun, nämlich mit Dingen, sofern diese ein Wesen haben. Diese Bestimmung ist im Grunde in dem vorherigen Begriff der maßgeblichen Dinge enthalten. Dies sind Dinge, die ein aktuales Wesen besitzen und in dieser ihrer je eigenen Aktualität ihr Sein gegen die Übermacht der ganzen Natur und gegen die Gesamtheit der anderen aktualen Dinge behaupten. Dieses aktuale Wesen der je einzelnen aktualen Dinge gibt in Spinozas Ethik den ursprünglichen Begriff der Kausalität: Nämlich Kausalität als ursprünglich aktualisiertes Streben eines realen Dinges, sich in seinem Sein zu erhalten (conatus). Kausalität ist insofern als Kausalität der Selbsterhaltung aus dem aktualen Wesen eines je einzelnen natürlichen Dings zu begreifen. Damit kommen wir aber allererst zum Kern des hier thematischen psychophysischen Problems. Dieses gilt als ein Erkenntnisproblem, und die Lösung dieses Problems verlangt, wie gezeigt wurde, die Unterscheidung der verschiedenen in der Erfahrung anzutreffenden Erkenntnisgattungen und die kritische vergleichende Prüfung derselben auf ihre Wahrheitsfähigkeit hin. Dabei aber kommt es darauf an, dass auch diejenige Erkenntnisart, die von sich aus einer Wahrheitserkenntnis nicht fähig ist, zu begreifen ist als unter Wahrheitsbedingungen stehend. Auch Wahrnehmungstäuschungen und Erkenntnisirrtümer haben ihre Ursachen und Gründe. Sie fallen als Gegebenheiten der Erfahrung nicht aus dem umfassenden Ordnungs136 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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zusammenhang der Natur heraus, so wenig wie Krankheiten und sonstiges menschliche Ungemach und ebenso wenig wie die Leidenschaften der Menschen, die sich nach allgemeinen Naturgesetzen bilden und einander folgen. Worauf es hier ankommt, ist dies, dass Kausalität nicht eine ursprüngliche Gegebenheit, nicht eine Realität des Gegebenen, sondern eine Weise des Erkennens, also kausale Erkenntnis ist, so wie umgekehrt jede Erkenntnis in einer bestimmten Weise kausale Erkenntnis sein muss. Wenn Spinozas Erkenntniskritik sich von der nachfolgenden Erkenntniskritik der Transzendentalphilosophie unterscheidet, so nicht zuletzt in dieser Verbindung von Kausalität und Erkenntnis.

3. In Spinozas Erkenntnistheorie ist demzufolge Kausalität nicht eine Gegebenheit, die als solche vorliegt und die, sofern sie als Naturgegebenheit vorliegt, auch erkannt werden kann. Nur dann, wenn die Beziehung zwischen Kausalität und Erkenntnis so äußerlich vorgestellt wird, bedarf es einer begrifflichen, einer transzendentalen Begründung dieses Zusammenhangs. Für Spinoza ist die Verknüpfung von Kausalität und Kausalerkenntnis eine Gegebenheit der Erfahrung nicht anders als die Verschiedenheit der Erkenntnisgattungen selbst. Daraus ergibt sich nun aber, dass es eben so viele Kausalitätsformen gibt wie Erkenntnisgattungen. Jede dieser Erkenntnisarten ist ein Modus kausaler Erkenntnis. So finden wir in der Erkenntnis der ersten Erkenntnisgattung, der Meinung (opinio) bzw. der Imagination, eine Kausalerkenntnis, die es lediglich mit vermeintlichen bzw. vorgestellten Ursachen oder der Vorstellung ursächlicher Zusammenhänge zu tun hat. Diese Form der Kausalerkenntnis spielt im alltäglichen Leben der Menschen eine überragende Rolle: Wir sind der Meinung, dass dieser oder jener Umstand, dieser oder jener andere Mensch an den uns betreffenden Gegebenheiten, an unserem Glück oder Unglück, schuld bzw. die Ursache derselben ist, ohne dass wir über eine wahre Erkenntnis dieser ursächlichen Zusammenhänge verfugen müssten. Man kann die Welt des alltäglichen Umgangs der Menschen, mit den ihn umgebenden Dingen und den Mitmenschen, die Welt der kausalen Vorurteile nennen. Diese in Rechnung zu stellen, ist aus Spinozas Sicht eine der Hauptaufgaben einer philosophischen Ethik, gerade weil diese das 137 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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menschliche Verhalten so weitgehend bestimmen. Die kausalen Vorurteile der ersten Erkenntnisart können sich auf jede Gegebenheit erstrecken, auf die Vorstellung Gottes ebenso wie auf das unscheinbarste Vorkommnis in der Natur. Vor allem aber ist es die natürliche Affektivität des Menschen und das durch diese Affektivität bestimmte Verhalten, in dem die kausalen Vorurteile ihre ganze Wirksamkeit entfalten. Unsere Affektivität bestimmt und leitet uns bei unseren unkritischen voreiligen kausalen Zuschreibungen, den Zuschreibungen von Ursächlichkeit und Urheberschaft. Diese kausalen Zuschreibungen erstrecken sich auf die Dinge unserer Umwelt ebenso wie auf die näher- und fernerstehenden Menschen, aber auch auf uns selbst. Mit Hilfe dieser Zuschreibungen beeinflussen wir unsere eigene affektive Befindlichkeit und die affektiven Dispositionen unseres Verhaltens. Insofern haben unsere kausalen Vorurteile ›kausale Folgen‹ für unsere Umwelt und für uns selbst. Daher hat die Kausalerkenntnis der ersten Erkenntnisart ungeachtet ihrer Unwahrheit und Inadäquatheit, die Spinoza ihr zuspricht, eine überaus gewichtige ethische Relevanz. Denn dies lernen wir durch das Studium der Ethik des Spinoza, insbesondere durch deren dritten und vierten Teil, in welchem Ausmaß das menschliche Verhalten von Natur durch diese Vorurteile bestimmt ist. Gäbe es nur diese Erkenntnis und keine andere Erkenntnismöglichkeit des Menschen, so wäre dies gleichbedeutend mit einer Absage an die Möglichkeit einer Ethik überhaupt. Nun ist die Beschreibung des affektiven Gefüges dieser kausalen Vorurteile allerdings nicht Spinozas letztes, nicht einmal sein erstes Wort. Denn die Lehre von Gott und die Lehre von der menschlichen Erkenntnis ist der Darstellung jenes Gefüges vorgeordnet. Vor die Darstellung der ersten Erkenntnisart mit all den möglichen kausalen Vorurteilen, die aus der menschlichen Affektivität entspringen, hat Spinoza seine Wahrheitslehre gestellt. Diese ist ganz konsequent die Lehre von der einzig wahren, der göttlichen Kausalität. Diese ist wahre Kausalerkenntnis und wahre kausale Wirksamkeit in einem. Spinozas Darstellung der kausalen Erkenntnis in der ersten Erkenntnisart enthält nun aber eine Reihe von Charakteristika, die das Gefüge der affektiven kausalen Vorurteile nicht zu einem unüberwindlichen Hindernis für eine mögliche Ethik werden lassen. Eine solche mögliche Ethik verlangt, dass diese Vorurteile als solche erkennbar sein müssen. Eine solche Erkennbarkeit stellt gewissermaßen das minimale Erfordernis für eine philosophische Ethik dar, sofern der Mensch fähig 138 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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sein muss, seine Irrtümer und seine inadäquaten Erkenntnisse als solche zu durchschauen. Die philosophische Ethik muss eine solche Fähigkeit voraussetzen, aber darüber hinaus muss sie demonstrieren, wieweit diese Fähigkeit in der Tat reicht. Die Darstellung des komplexen Gefüges der affektiven kausalen Vorurteile in Spinozas Ethik dient in erster Linie diesem Erfordernis und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten. Zum einen stellen die affektiven kausalen Vorurteile keine bloßen Wahnideen dar. Selbst in all den Fällen, in denen jemand ohne sorgfältige Prüfung und irrtümlicher Weise einem anderen Menschen Schuld zuschreibt, also ein Tun oder Unterlassen dieses Menschen als Ursache eines ihm selbst nachteiligen Geschehens zu erkennen meint, lassen sich dennoch Ursachen bzw. Gründe für diese verkehrte Kausalzuschreibung ausmachen, Gründe, die auf einen umfassenden Verhaltenszusammenhang verweisen. Ein Zweites kommt hinzu: Es ist nicht weniger selten der Fall, dass eine kausale Zuschreibung gemäß der ersten Erkenntnisart nicht gänzlich aus der Luft gegriffen, dass also irgend etwas an dieser Kausalzuschreibung daran ist, auch wenn dieses in seinem Was-Sein nicht adäquat begriffen wird. Immerhin: Die Erkenntnis der ersten Erkenntnisart hat mit kausalen Vorurteilen in der Weise zu tun, dass diese durchaus Provokationen für eine der anderen Erkenntnisarten enthalten, auch wenn es keinen notwendigen Übergang zu diesen anderen auf Wahrheit hin angelegten Erkenntnissen gibt. Was Spinozas Ethik aber auf eindrucksvolle Weise demonstriert, ist dies, dass jene in der menschlichen Affektivität angelegten kausalen Vorurteile so etwas wie ein Gesamtgefüge bilden, in dem nicht nur etwas von der Einheit des Menschen sichtbar wird, in dem sich vielmehr auch durchgängige allgemeine ontologische und psychologische Prämissen aufweisen lassen, die eine logische Darstellung dieses Gefüges ermöglichen. Dieses Gefüge stellt keinen geschlossen Raum dar, sondern ein offenes System, das durch seine Offenheit Anknüpfungspunkte für die anderen Erkenntnisgattungen bildet. Niemand wird heute behaupten wollen, dass es eine empirische Theorie gibt, die diesen Zusammenhang kausaler Vorurteile der menschlichen Affektivität befriedigend zu erklären vermöchte. Nietzsches Versuch in dieser Richtung, vor allem die von ihm aufgeführten Theoreme des Ressentiments und des Willens zur Macht, legen eher die Vermutung nahe, dass entsprechende Bemühungen um allgemeine kausale Erklärungen in diesem anthropologischen Bereich von vorn139 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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herein zum Scheitern verurteilt sind, weil sie an einem Kategorienfehler leiden. Spinoza kennt durchaus das Phänomen pathologischer Affekte, die eine Einsicht in das eigene kausale Vorurteil schlechthin unmöglich machen. Doch sind solche Fälle, sofern sie nicht in die Medizin gehören, letzten Endes temporär und okkasionell und betreffen unter den gegebenen Normalbedingungen allenfalls vereinzelte Affekte, niemals ein größeres Ganzes oder gar das gesamte affektive Leben.

4. Die Erkenntnistheorie und die in ihr implizite Erkenntniskritik des Spinoza zeigt allein durch ihre Unterscheidung der drei Erkenntnisarten und der korrespondierenden drei Formen der Kausalerkenntnis, inwiefern die Frage der empirischen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zumindest im Blick auf Spinozas Ethik, eine falsch gestellte Frage ist, ob es sich nun um die Annahme einer kausalen Wechselwirkung oder um die des Parallelismus handelt. Denn hier geht es vorrangig um die Unterscheidung zwischen dem Gefüge affektiver kausaler Vorurteile und der Möglichkeit, ungeachtet affektiver Befindlichkeiten, ja mit deren Unterstützung, zu einer adäquaten Einsicht in die kausalen Verhältnisse zu gelangen, die das psychophysische Wesen Mensch betreffen. Dabei spielt für Spinoza die Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis eine ausgezeichnete Rolle, einer Selbsterkenntnis, die hinsichtlich des eigenen Verhaltens und der Kausalität dieses Verhaltens bereits ethischen Charakter hat. Eine Klärung der drei unterschiedlichen Weisen der Kausalerkenntnis in ihrer Relevanz für die Ethik bzw. für die sittliche Selbstbestimmung enthält nun aber eine weitere kritische Prämisse. Diese Voraussetzung unterstreicht noch einmal, wieweit Spinozas Ethik von einer vorkritischen bzw. dogmatischen Ontologie entfernt bleibt, ungeachtet der Wichtigkeit, die hier den Begriffen der Substanz und des Dings, vor allem aber dem Begriff des Einzeldings, zukommt. Was für die Beziehung zwischen Kausalität und Erkenntnis ausgeführt wurde, gilt nämlich entsprechend auch für das Verhältnis zwischen Ding und Erkenntnis. Die erkenntniskritische Frage, was für ein Ding – genauer: was für eine Art von Ding – in dem jeweils vorliegenden Fall gegeben sei, lässt sich aus Spinozas Sicht allein in Beziehung auf eine bestimmte korrespondierende Erkenntnisform beantworten. Dem Typus eines 140 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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jeweils gegebenen Dings korrespondiert jeweils ein bestimmter Typus der gegenständlichen Erkenntnis und umgekehrt. Diese Korrespondenz zwischen ontologischen und erkenntnistheoretischen Bestimmungen konstituiert eine formale Wahrheitsbedingung für jede der verschiedenen Erkenntnisarten, also auch eine Wahrheitsbedingung für die Bestimmung der ersten Erkenntnisart in ihrer Wahrheitsunfähigkeit. Indem hier mit Hilfe dieser Korrespondenz eine elementare Wahrheitsbedingung in die kritische Erkenntnistheorie eingebaut ist, entfällt die Berechtigung des Vorwurfs eines erkenntnistheoretischen Subjektivismus und Relativismus. Ebenso unangemessen aber ist es, in der ontologischen Begründung, die Spinoza der Erkenntnis als solcher verliehen hat, einen dogmatischen Ontologismus zu sehen. Die Einführung des intellectus infinitus in die geschaffene Natur stellt zweifellos ein Kernstück spinozanischer Kosmo-Theologie dar, die das Bindeglied zwischen Kreativität und Kreatur, zwischen Schöpfer und Weltschöpfung, artikuliert. Aber selbst die Einführung dieses Bandes hat eine bestimmte erkenntniskritische Bedeutung. Denn dieser unendliche Intellekt ist nicht nur die Gewähr für die Erkenntnis der Schöpfung, das heißt dafür, die geschaffene Natur im Ganzen und als Ganzes zu erkennen. Dieser Intellekt gibt zugleich auch die Gewähr dafür, dass die unüberwindlichen Schranken, die der menschlichen intelligiblen Erkenntnis gesetzt sind, diese beschränkte Erkenntnis keineswegs zur Nichtigkeit und Wesenlosigkeit verurteilt. Der intellectus infinitus ist die Bedingung der Möglichkeit, dass die menschliche Erkenntnis in ihrer unüberwindlichen Beschränktheit zumindest ein Stück des Wesens des absoluten Alls zu erfassen vermag. So gesehen ist die theoretische Alternative, die Kant als Ausgangspunkt seiner »Kopernikanischen Wende« beschworen hat, aus der Sicht Spinozas gegenstandslos. Die Nachfolger Kants konnten hier, wie in so vielem, an Spinozas vorkritische Erkenntniskritik anknüpfen, für die das eine ebenso wie das andere gilt, nämlich: dass die Erkenntnis sich nach den Gegenständen und die Gegenstände sich nach der Erkenntnis richten müssen. Dieses Prinzip der Korrespondenz von Ontologie und Erkenntnistheorie hat Spinoza an den drei zu unterscheidenden Erkenntnisgattungen vorgeführt. Die erste Gattung der Erkenntnis hat ihren ontologischen Mangel darin, dass sich hier in formaler Hinsicht keine eindeutige Beziehung konstituiert, also keine Zuordnung zwischen Ursache und Wirkung möglich wird. So ist hier – wie durch die vorherigen exemplarischen Beschreibungen belegt – die Idee eines Kör141 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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pers (idea corporis) in Gestalt der Körperwahrnehmung einem ›Körper‹ zugeordnet, der nicht als ein bestimmtes Körperding unter anderen ausgewiesen werden kann. Aber es gibt auch hier Beziehungen zwischen Affekten und Körpern sowie zwischen Wahrnehmungen und Körpern etc. Gemeinsam ist allen diesen Korrespondenzen, dass sie nicht hinreichend eindeutig sind, um von adäquaten kausalen Beziehungen bzw. adäquaten Kausalerkenntnissen sprechen zu können. Es hat hier andererseits aber auch keinen Sinn, bestehende Kausalbeziehungen zu bestreiten. Vielmehr sind die hier auftauchenden kausalen Verhältnisse durch kognitive Defizite gekennzeichnet. Die bestehenden Beziehungen erfüllen nicht die notwendigen und zureichenden Bedingungen, um als adäquate kausale Erkenntnisse gelten zu können. Dies ist natürlich eine ganz andere Feststellung als die einer absoluten Verneinung bestehender Kausalbeziehungen. Im Unterschied hierzu sind in der zweiten und dritten Erkenntnisart adäquate Kausalerkenntnisse möglich. Dies allerdings nur, wenn die jeweils bestimmten Bedingungen und Charakteristika der betreffenden Erkenntnisart erfüllt sind. Was zunächst die zweite, die rationale Erkenntnis betrifft, so ist diese nicht Erkenntnis durch Wahrnehmung oder Einbildungskraft, sondern Erkenntnis durch Allgemeinbegriffe. Eine solche Erkenntnis hat es nicht mit schlechthin einfachen Gegebenheiten zu tun, sondern mit zusammengesetzten, also mit Mannigfaltigkeiten, die nach Verbindung zu einem jeweiligen Ganzen und nach bestimmter Einheit eines solchen Ganzen verlangen. Das Mannigfaltige, welches dieser Erkenntnis vorgegeben ist, ist entweder ein Mannigfaltiges von Körperindividuen oder von Ideen oder von Verbindungen von Körperindividuen und Ideen nach Art der Affekte. Eine adäquate Kausalerkenntnis setzt hier zwangsläufig Bedingungen der Einheit des Mannigfaltigen voraus, damit bestimmte Zuordnungen möglich werden, wie sie in einer adäquaten Kausalerkenntnis verlangt sind. Welcher Art sind diese Einheitsbedingungen? Spinozas eigentümliche Lösung dieses Problems lässt erkennen, wie für ihn die Erkenntnis der Dinge und die Kausalerkenntnis untrennbar zusammengehören. Dank dieser Zusammengehörigkeit sind die gesuchten Einheitsbedingungen von beiden Seiten aus zu gewinnen: einmal von Seiten der Kausalität und zum anderen von Seiten der gegebenen Dinge, sofern diese und jene zusammen in der Kausalerkenntnis gegeben sind. So verdankt sich die Einheit eines ganzheitlichen komplexen Dinges der Erkenntnis, dass eine gegebene Wirkung ihre zureichende Ursache im einheitlichen 142 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Ganzen aller Faktoren hat, welche die Teile des betreffenden Ganzen bilden. Das einzelne Ding ist hier ein einheitliches Ganzes dank seiner einheitlichen Wirkung. Andererseits ist aber die hier in Anschlag gebrachte Kausalerkenntnis nicht voraussetzungslos: Sie wird erst dann zu einer adäquaten Kausalerkenntnis, wenn die in dieser Erkenntnis involvierten realen Dinge in ihrer Komplexität adäquat erkannt sind. Eine solche adäquate Erkenntnis eines Zusammenhangs von Dingen (Individuen, Ideen) setzt eine Formbestimmung voraus, der zufolge die begriffliche Bestimmung gleichermaßen im Ganzen wie in den Teilen ist. Es geht hier nicht um die Frage, ob die von Spinoza angegebenen Bedingungen der zweiten Erkenntnisart angemessen sind, um die Möglichkeit einer adäquaten Kausalerkenntnis unter den Voraussetzungen von Wahrnehmung, Imagination und Allgemeinbegriff einleuchtend zu machen. Worauf es hier ankommt, ist dieser Zug einer Erkenntnistheorie, der für die Ethik unterschiedliche Erkenntnisformen fordert, die eben so viele Möglichkeiten des Menschen sind, seinen Lebensweg zu gehen. Wie gesagt: Die Erkenntnis ist in Spinozas Ethik der Kern und der Schlüssel des Ganzen; und die Frage nach dem wahren und glücklichen menschlichen Leben stellt sich hier als Frage nach der wahren Erkenntnis des höchsten Gutes. Zur kritischen Erörterung des Wahrheitsproblems gehört vor allem die kritische Einsicht, dass dem Menschen der endgültige Besitz der einen absoluten Wahrheit verwehrt ist. Der Mensch befindet sich bestenfalls auf dem Weg der wahren Erkenntnis; und das Glück ist ihm nicht dadurch versagt, dass es die eine und vollkommene Wahrheit nicht gibt und auch nicht geben kann. Das psychophysische Problem hat hier seine eminente philosophische Bedeutung. An ihm und seiner Lösung wird deutlich, wie Wahrheitserkenntnis für den Menschen möglich wird, die ihn auf dem Weg zu einem vernünftigen glücklichen Leben leiten kann, auch wenn ihm dabei die vollkommene absolute Wahrheitserkenntnis verwehrt ist. Im Vergleich zu der ersten und der zweiten Erkenntnisart kommt nun der dritten, der intuitiven Erkenntnis, eine ausschlaggebende Bedeutung in Spinozas Ethik zu. Diese Bedeutung gilt gleichermaßen für die Physik wie für die Ethik, für die Wahrheitserkenntnis der Körperwelt ebenso wie für die Erkenntnis des menschlichen Geistes. Diese dritte Erkenntnisart ist von der ersten grundsätzlich, nicht so aber von der zweiten unterschieden. Während der ersteren für sich genommen 143 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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die Wahrheitsfähigkeit abgesprochen wird, liegt die Auszeichnung der zweiten und dritten Erkenntnis in ihrer Befähigung zu einer adäquaten Erkenntnis; während durch die erste Erkenntnisart das lebensweltliche Gefüge kausaler Vorurteile entwickelt und in Gang gehalten wird, erlauben die beiden anderen Erkenntnisarten eine Einsicht in den Zusammenhang und in die Hintergründe jenes Gefüges. Mehr noch: sie vermögen von sich aus teils für sich, teils zusammenwirkend kausale Zusammenhänge in ihrer Wahrheit zu erkennen, soweit der Mensch in seinem Verhalten in diese verflochten ist. Dabei entsteht hier eine Asymmetrie. Der zweiten Erkenntnisart liegt die dritte als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde. Sie ist gegenüber der letzteren wahrheitstheoretisch sekundär. Demgegenüber ist der Mensch der dritten Erkenntnis nur in Zusammenhang mit der zweiten Erkenntnisweise fähig. Erkenntnistheoretisch gesehen ist die zweite primär gegenüber der dritten. Diese, die intuitive Erkenntnis, gibt weder für sich noch in Verbindung mit der zweiten Erkenntnis dem Menschen die absolute Wahrheit. Auch sie bleibt eine Suche und der Weg einer Erkenntnis, die bestenfalls ein Stück der einen allumfassenden Wahrheit, einen Teil des Wesens der Welt zu erfassen vermag. Aber ihre maßgebliche Bedeutung für die Gottes- und Welterkenntnis und für die menschliche Selbsterkenntnis liegt darin, dass sie das jeweilige einzelne Ding und so auch den konkreten Menschen in seinem Wesen, in seiner unverwechselbaren Einheit und Einzigkeit, zu erkennen vermag. Spinozas Ethik unterstreicht durch die Unterscheidung der zweiten und der dritten Erkenntnisart einen für die menschliche Selbsterkenntnis grundlegenden Unterschied: Es ist etwas anderes, ob wir aus bestimmten menschlichen Verhaltensweisen Rückschlüsse auf den betreffenden Menschen ziehen oder ob wir aus der Erkenntnis des betreffenden Menschen heraus seine Handlungen, sein Tun und Lassen beurteilen. Menschliche Verhaltensweisen lassen sich in ihrer Kausalität und in ihrer moralischen Bedeutung erkennen, ohne dass dabei die intuitive Erkenntnis des betreffenden Menschen ins Spiel kommen muss. Aber im Grunde hängt die Möglichkeit einer Ethik, insbesondere die Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis daran, dass Verhaltensweisen und Handlungen nicht nur in ihren kausalen Beziehungen erkannt, sondern auch aus der Selbsterkenntnis des je eigenen menschlichen Wesens begriffen werden. Hier berühren wir das Problem der menschlichen Freiheit. Es besteht ein direkter Erkenntniszusammenhang zwischen der dritten Er144 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinoza und das psychophysische Problem

kenntnisart und der menschlichen Freiheit. Diejenigen, die in Spinozas Ethik nur eine Leugnung der Möglichkeit menschlicher Freiheit zu finden meinten, haben den Text derselben nicht eigentlich verstanden. Spinozas Ethik lässt sich nicht nur als ein Restraum für mögliche menschliche Freiheit begreifen. Sie ist vielmehr im eminenten Sinne Philosophie der Freiheit, und zwar wie nur irgendeine der auf ihn folgenden Philosophien, die sie als Leugnerin der Freiheit kritisiert haben. Eines wird aus dieser Kritik allerdings deutlich: Die Idee und die Realität der Freiheit sind hier an die Bedingung der Möglichkeit eines unendlichen und endlichen Intellekts gebunden, eines Intellekts, der über die Fähigkeit der Wesenserkenntnis durch Intuition verfugt. Wo das Sein von Wesenheiten bzw. die Erkenntnis des Wesens durch Intuition grundsätzlich verneint wird, wird Spinozas Freiheitslehre hinfällig, und die Freiheit bedarf dann, wenn ihre Möglichkeit gewahrt werden soll, einer anderen philosophischen Begründung. Spinozas postulierte intuitive Erkenntnis ist nicht schon als solche gleichbedeutend mit menschlicher Freiheit. Sie ist zunächst nur deren notwendige Voraussetzung. So wie Erkenntnis und Kausalität, hängen auch Erkenntnis und Freiheit untrennbar miteinander zusammen. Freiheit ist eine ausgezeichnete Form von Kausalität, nicht deren Verneinung, nicht die Aufhebung von Kausalität. In diesem Sinne ist Spinozas Bestreitung der Willensfreiheit zu verstehen. Freiheit des Willens bedeutet nicht Befreiung von der Kausalität, sondern eine ausgezeichnete Weise bewusster Kausalerkenntnis. Freiheit ist aus Spinozas Sicht aufs engste mit der Wahrheitserkenntnis verbunden. Wo der Mensch sich im Gefüge der Affekte treiben und bewegen lässt, wo sein Tun durch kausale Vorurteile bestimmt ist, geht ihm die Freiheit ab. Die Freiheit des Menschen beginnt mit der Einsicht in die kausalen Vorurteile und deren Gründe. Sie hat ihren Anfang in der Erkenntnis der eigenen Unwissenheit und im Nachdenken über die Konsequenzen jenes Nichtwissens. So wenig der Mensch in einem absoluten Besitz einer ständigen Verfügungsmacht über sein Tun ist, so wenig ist er im Stande vollkommener Freiheit. Wie die wahre Erkenntnis, so muss auch Freiheit als erstrebenswertes Ziel entdeckt, der Weg zu diesem Ziel gefunden und die Verfolgung dieses Weges stabilisiert werden. Es ist die dritte Erkenntnisart, die intuitive Erkenntnis, welche allererst Unbeirrbarkeit in die Suche nach der Wahrheit und nach der Freiheit bringt.

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

1. Dass die Metaphysik Spinozas dem Prinzip der Subjektivität – diesem Grundprinzip der philosophischen Moderne – keinen Raum in ihrem Denksystem gestatte, ist eine in der Geschichte der Philosophie weithin und nahezu ausnahmslos gültige Auffassung. Verglichen mit der Metaphysik Descartes’, zu der sie den großen Gegenentwurf bildete, zog sie den Anschein historischer Rückständigkeit auf sich, war doch durch den »Vater der Moderne« 1 eben jenes Prinzip entdeckt und zur Grundlage der Philosophie gemacht worden, in dem diese Moderne ihre wahre Physiognomie zu erkennen meinte. Besonders schwer musste jenes Defizit in der Philosophie Spinozas wiegen, soweit diese nicht in erster Linie Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaft, sondern überzeitlich gültige Ethik sein wollte: eine Wegweisung für den einzelnen Menschen zu einem glücklichen Leben in der menschlichen Gemeinschaft und in seiner Einzigkeit vor Gott. Eine Ethik ohne Subjektivität, eine Lehre vom richtigen pflichtgemäßen menschlichen Verhalten und von der Gotteserkenntnis ohne Begriff menschlicher Personalität? Immer wieder ist Spinozas Denken durch dieses auffällige Defizit zum Ärgernis, um nicht zu sagen, zum Skandalon geworden. Dies hat seine Wirkungsmächtigkeit keineswegs geschwächt, eher noch verstärkt. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewinnt Spinozas Philosophie neben der Kants durchaus ebenbürtigen Rang. Liegt dieses große Interesse an seiner Anthropologie, an seiner Triebund Affektenlehre allein in einer materialistisch-szientistischen EinNeue Perspektiven in der Wirkungsgeschichte der Philosophie des Descartes eröffnet Hans-Peter Schütt am Leitfaden des Topos des »Vaters der modernen Philosophie« in: Die Adoption des »Vaters der modernen Philosophie«. Studien zu einem Gemeinplatz der Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 1998.

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

stellung? Oder ist jenes scheinbare Defizit eines Prinzips der Subjektivität nicht so unmodern, wie es zunächst scheinen möchte? Und vor allem: Ist dieses Defizit etwa durchaus mit einer philosophischen Ethik verträglich? Es sind die Denker der »Philosophie des Deutschen Idealismus« – allen voran Jacobi – gewesen, die in jenem Defizit mehr als nur ein Defizit gesehen haben. Sie erkannten, dass in Spinozas metaphysischer Ethik ein einheitliches Prinzip der Subjektivität nicht nur fehlte, sondern dass die Annahme eines solchen Prinzips bewusst und ausdrücklich verneint war. Diese entschiedene Verneinung fanden jene Denker in den Grundprinzipien seiner metaphysischen Ethik. Vor allem war es hier die maßgebliche Denkbestimmung der Substanz, in der diese Verneinung der Subjektivität ausdrücklich gedacht zu sein schien: Gott – das Absolute, das Unendlich-Unendliche als Substanz zu denken, hieß, jede anthropomorphe Vorstellung von seiner Idee fernzuhalten und insofern auch jede Vorstellung von Personalität. Den Menschen seiner Idee nach zu denken, dies verlangte Spinoza zufolge, ihn im Vergleich zu Gott als unendlich begrenzt, als unendlich-endlich zu denken: als einen lediglich endlichen Modus der unendlich-unendlichen Substanz. Mit dieser ontologischen Bestimmung schien dem Menschen jedes echte Eigensein abgesprochen. Er schien reduziert zu sein auf ein bloßes Wie, auf ein bloßes Epiphänomen göttlichen Seins und Wirkens im Ganzen einer immer schon geschaffenen Welt. Durch eine solche ontologische Charakteristik aber war der Mensch gerade derjenigen Bestimmung beraubt, die ihm allererst den Status und den Rang eines Subjekts verschafft: nämlich die eines selbständigen Seienden, das aus sich heraus zum Handeln bestimmt ist und sich zum Handeln bestimmt. Der so beschaffene ontologische Mangel aber wurde schließlich endgültig fixiert in jenem Grundverhältnis von Gott und Mensch, aufgrund dessen Spinozas Metaphysik das neuzeitliche Paradigma eines vollkommenen Pantheismus darstellt, oder wie auch gesagt wurde, das vollkommene System eines Akosmismus. Die Grundbeziehung dieses Pantheismus ist das In-Sein: das Sein allen Seins im Absoluten. Aufgrund dieses In-Seins ist alles Seiende determiniert. Seine Determination ist die einer durchgängigen kausalen Vernetzung innerhalb des Ganzen göttlich-kosmischer Wirksamkeit. So gesehen ist auch der Mensch als Seiendes unter Seiendem in einen durchgängigen Kausalzusammenhang der Dinge gestellt und ermangelt damit derjenigen Bestimmung, in der das Prinzip der Subjektivität seine reale Erfüllung 147 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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findet, des Prinzips der Freiheit. Jegliches menschliche Verhalten in der Vielfalt seines affektiven Lebens, seines Tuns und Leidens ist unter der Voraussetzung der entsprechenden kausalen Abhängigkeiten zu begreifen. Spinoza hat keinen Zweifel gelassen: Die menschliche Willensfreiheit ist ein bloßes Idol, ein Vorurteil, und ein gewichtiges zudem: denn es entspringe, so Spinoza, direkt aus dem Vorurteil aller Vorurteile, aus dem der menschlichen Gemeinschaft im Grunde nur Unglück erwachsen sei; nämlich aus dem teleologischen Vorurteil, welches besagt, dass alle Dinge und so auch das höchste Wesen nach bestimmten Zwecken handelten – ein Vorurteil, in dem Spinoza bekanntlich die Quelle des Aberglaubens und der Religionskriege gesehen hat. Hier aber wird nun die Überlegung wichtig, dass in Spinozas Metaphysik für eine menschliche Subjektivität nicht nur kein Raum gelassen scheint, sondern dass alle maßgeblichen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Subjektivität auf wohl bestimmte, geradezu methodische Weise durch ein in sich geschlossenes Begriffsnetz negiert zu sein scheinen. Die außerordentlich bestimmte Negation, die in dieser Frage herrscht, war nun geeignet, zu einem Leitfaden einer entsprechenden Bejahung und zur Einführung der korrespondierenden Begriffsbestimmung der Subjektivität zu führen. Eben diesen Weg sind die Denker des »Deutschen Idealismus« gegangen, indem sie diese positiven Bestimmungen entweder direkt denen des Spinoza entgegengesetzt oder aber in seinem Denken vorgeprägt gefunden haben. So konnte man aus der spinozanischen Bestimmung der Substanz die eines Subjekts gewinnen, indem man sie – die Bestimmung des Insich-Seienden und Durch-sich-Begriffenen – mit den definierten Bestimmungen einer causa sui und einer res libera verbunden dachte, wodurch das Absolute, das Unendlich-Unendliche zu einem Wesen wurde, das aufgrund seines Wesens mit Notwendigkeit existierte und durch eben sein Wesen aus diesem heraus in seinem Handeln und Wirken bestimmt war. Und was die Grundrelation des Pantheismus, das In-Sein eines jeglichen Seienden in Gott betraf, so ließ sich aufweisen, dass es sich hier um ein In-Sein besonderer Art handelte, in dem Gott als das Absolute zwar allem kontingenten Seienden gegenüber das Schlechthin-Andere war, die Beziehung des In-Seins dieses absoluten Andersseins aber wieder aufhob, sofern es ein Sein in etwas bedeutet, das von einem gewöhnlichen Sein eines Seienden in einem Anderen wiederum schlechthin verschieden war. Es erwies sich dieses In-Sein in seiner radikalen Differenz gegenüber dem gewöhnlichen In-Sein 148 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

endlicher Dinge ineinander als ein solches, das eine Teilhabe an jener Grundbestimmung nicht mehr ausschloss: eine Teilhabe, die zumindest dem Menschen die Möglichkeit eröffnete, ein freies Ding zu sein, ausgestattet mit einer Freiheit, die in ihrer Wesensdifferenz zur göttlichen Freiheit neu zu bestimmen war; eine Freiheit, entsprungen aus der Kontingenz endlicher geschaffener Wesen. Wenn auf diese Weise die Negation der menschlichen Subjektivität in eine Position derselben verwandelt werden konnte, so stand diese methodische Transformation einer Logik der Substanz in eine Logik der Subjektivität aber bei genauerem Zusehen noch vor einer weiteren Aufgabe. Denn Spinozas metaphysische Ethik enthielt über die erwähnten Grundbestimmungen des Absoluten in seiner Substantialität hinaus eine Charakteristik der endlichen kontingenten Dinge, die geradezu im Gegensatz zur Logik der Substanz die Prinzipien der Subjektivität in ihrer wichtigsten Bestimmung vorwegzunehmen schienen. Ich meine die Bestimmung des Selbstseins bzw. die der Selbstbeziehung. Alle real existierenden Entitäten haben in Spinozas Denksystem diesen Wesenscharakter des Selbstseins, ungeachtet ihrer universalen Verflechtung untereinander in einem kausalen Gefüge, in dem sie tausend- und abertausendfach kausalen Einflüssen von außen ausgesetzt sind. Ungeachtet dieser unabsehbar vielfältigen kausalen Bestimmtheit durch anderes im Ganzen einer göttlich-kosmischen Wirksamkeit hat jedes einzelne aktual existierende Ding in sich einen Drang, einen Trieb, sich in seinem Eigensein gegen die äußeren kausalen Faktoren zu behaupten. Dieses berühmte Prinzip eines Triebs zur Selbsterhaltung war als universales Prinzip der Realität und der konkreten Dynamik der Natur in Anspruch genommen. Hier aber lag die Aufgabe der Gewinnung einer Logik der menschlichen Subjektivität offenkundig in der entgegengesetzten Richtung. Wenn Selbstsein und Selbsterhaltung universal gültige Prinzipien waren und in dieser Universalität das gesamte Naturgeschehen bestimmten, so konnte in diesem Selbstsein jedenfalls das gesuchte Prinzip menschlicher Subjektivität nicht gefunden sein. In der Tat ist Spinoza nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieses ursprüngliche Selbsterhaltungsstreben der Idee der Teleologie eine Bedeutung verleihen könnte, die er derselben entschieden verweigerte: nämlich einen Bezug zur Freiheit zu enthalten. Um das Prinzip des Selbstseins und der Selbstbeziehung, das Prinzip der Reflexion, in ein Prinzip der menschlichen Subjektivität zu verwandeln, bedurfte es 149 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

offenkundig einer begrifflichen Beschränkung dieses Selbstseins. Es bedurfte eines Prinzips der Spezifikation, um aus einem Prinzip natürlichen Selbsterhaltungsstrebens aller aktual existierenden Einzeldinge ein Prinzip spezifisch menschlichen Selbstseins und menschlicher Subjektivität zu machen. Dieses Prinzip ist demnach ein Prinzip der Modifikation und der Spezifikation. Durch es ist die ursprüngliche animalische Triebhaftigkeit und Begehrlichkeit und mit ihr das komplexe Gefüge der natürlichen Affektivität und Emotionalität in bestimmter Weise modifiziert. Dieses limitierende und modifizierende Prinzip ist das Prinzip des Bewusstseins. Wo wir es mit menschlichem Selbstsein, mit dem natürlichen menschlichen Selbstbehauptungsstreben gegenüber den äußeren einschränkenden kausalen Faktoren zu tun haben, da ist Bewusstsein in irgendeiner Weise mit dem Trieb- und Affektgefüge verknüpft. Auf diese Weise ist das natürliche animalische Verhalten des Menschen ursprünglich modifiziert. Der Trieb kann die Gestalt des Willens annehmen, Lust und Unlust können aufgrund des Bewusstseins sich in Freude und Trauer verwandeln. Auf welche Weise aber ist das Bewusstsein ein Prinzip der Modifikation natürlicher Triebhaftigkeit? Das Bewusstsein ist in einem Wort: Prinzip der Erkenntnis, oder, Erkenntnis an ihrer Befähigung zur Wahrheit gemessen und beurteilt: ein Prinzip der Wahrheit. Die Transformation der spinozanischen Metaphysik durch Hinführung der Negationen der Bestimmung der Subjektivität in entsprechende Positionen verlangt demnach ein Zweifaches: zum einen die Modifikation der strengen Determination alles Seienden durch die Eigentümlichkeit seines jeweiligen InSeins, welches das In-Sein in einem Absolut-Anderen und zugleich das In-Sein in einem Absolut-nicht-Anderen ist. Und es verlangt darüber hinaus die Spezifikation des Selbstseins und des Sich-zu-sich-Verhaltens eines jeden endlichen Seienden durch das Bewusstsein. 2

2. Der in Spinozas Ethik auf diese Weise eröffnete Raum für menschliche Subjektivität ruht demnach auf zwei Säulen: zum einen darauf, dass die durchgängige kausale Vernetzung aller endlichen Dinge im Ganzen der Vgl, hierzu Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, S. 142 ff.

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

göttlich-kosmischen Wirksamkeit einen Spielraum lässt für ein elementares, natürliches Selbstsein der Dinge; und zum anderen auf der Begabung des Menschen mit einem Bewusstsein. Das Bewusstsein aber ist als Prinzip des Erkennens nicht als eine zusätzliche ontologische Instanz jenseits des natürlichen Selbstseins bzw. jenseits des natürlichen Selbsterhaltungsstrebens zu denken. Es ist vielmehr als das bestimmte Wie, als die bestimmte Art und Weise des natürlichen Selbsterhaltungsstrebens zu begreifen. Bewusstsein und damit Erkenntnis ist selbst ein Streben und so als Selbsterhaltungsstreben zu begreifen. Erkenntnis will erkennen und sie strebt danach, sich in ihrem Selbsterkenntnisstreben nicht beirren zu lassen. Auf dieses Streben, auf diesen »Willen zur Wahrheit« hat Spinoza seine metaphysische Ethik gegründet. Dieser Wille zur Wahrheit ist – wie auch immer – dem Gefüge der Begierden und Affekte eingeschrieben. Aus dem triebhaften Selbsterhaltungsstreben entsprungen, bleibt er demselben verhaftet, wie immer er sich von diesem seinem Grunde zu lösen, sich von demselben zu distanzieren versucht. Mit den hier aufgeführten Bestimmungen eines absoluten unendlichen Subjektes und eines bewussten Selbstseins, eines Selbstbewusstseins, sind die maßgeblichen Grundbegriffe gewonnen, aus denen die Philosophien des »Deutschen Idealismus«, die Theorien eines Kant, eines Fichte, eines Schelling, ihre jeweiligen Konzepte der menschlichen Subjektivität konstruiert haben. Diese Konstruktionen sind ausnahmslos an einer bestimmten Einheitsvorstellung orientiert, die dem Phänomen des menschlichen Bewusstseins von der Einheit des je eigenen Selbstseins korrespondiert. Ich werde diesen idealistischen Konstruktionen absichtlich nicht nachgehen, auch wenn ich deren Bedeutung für die Erschließung der Aktualität des spinozanischen Denkens in jener Zeit nicht verkenne. Wenn ich hier einen anderen Weg für meine Überlegungen wähle, so deswegen, weil jene Konstruktionen allesamt das Thema der Ethik verfehlen, und damit der Frage nach der menschlichen Subjektivität in dieser Ethik eine verfehlte Richtung geben. Das Thema ist dort der fragliche Zusammenhang zwischen den Wahrnehmungen und Affekten des Menschen auf der einen Seite und den Pflichten und Tugenden sowie dem Streben nach dem höchsten Gut auf der anderen Seite. Dieser Zusammenhang ist jedem Menschen im Grunde in der Form unbestimmter Erfahrung (experientia vaga) gegeben. Die Aufgabe der philosophischen Ethik besteht darin, die Ordnung (ordo) in dieser Erfahrung aufzuweisen. Aufgrund des Nachweises einer solchen Ord151 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

I. Ontologie

nung wird die Voraussetzung für ein Leben aus Vernunft geschaffen, indem die menschliche Erfahrung sich von eben dieser Vernunft leiten lässt (experientia ex ductu rationis). Die Vielfältigkeit des Erfahrungszusammenhangs von Affekten und Tugendpflichten bewahrt ihre Mannigfaltigkeit unter den Bedingungen des Aufweises ihrer immanenten Ordnung. Dank dieser Ordnung gewinnt sie den Status einer bestimmten Erfahrung, die eine bewusste rationale Lebensführung ermöglicht. Der ordo geometricus ist die Methode der Darstellung dieser Ordnung. Die Frage, wieweit Spinozas Ethik dem neuzeitlichen Prinzip der Subjektivität Rechnung trägt, ist unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Das heißt, dass die Ordnung im Erfahrungszusammenhang des menschlichen Lebens Vorrang hat vor der Einheit. Ordnung ist Voraussetzung für eine bestimmte Einheit. Eine bestimmte Ordnung stellt ihrerseits schon eine gewisse Einheit, die Form dieser Ordnung eine bestimmte Einheitsform dar. Aufgrund der aufgewiesenen Wahrheit der entsprechenden Ordnung lassen sich irrtümliche Zusammenhänge korrigieren. Die geometrische Ordnung verlangt eine angemessene Gewichtung der verschiedenen Erfahrungen in ihren spezifischen Gesetzmäßigkeiten und die Unterscheidung der Rechtmäßigkeit dieser Erfahrungen hinsichtlich Beweisbedürftigkeit und Beweisunbedürftigkeit. Unter den mannigfachen Begriffsworten, mit denen das Prinzip der Subjektivität umschrieben wird, ist eines bislang überhaupt nicht erwähnt worden. Ich meine das Wort »Ich«, in dem viele Theoretiker der Subjektivität im Anschluss an Descartes, Kant und Fichte das Schlüsselwort für eine solche fragliche Theorie sehen. Allerdings: nicht alle Philosophien der Subjektivität messen diesem sprachlichen Ausdruck entscheidende Bedeutung für den entsprechenden Begriff des Subjekts bei. Über dem Gewicht, welches Descartes in seinen Meditationen dem Ego in Gestalt des (ego) cogito sum verliehen hat, wird allzu leicht übersehen, dass dieser Ausdruck in der Philosophie des Spinoza keine geringere Rolle spielt. Wie bei Descartes ist auch hier das Wort »Ich« das Anfangswort des philosophischen Denkens. Spinoza beginnt seine Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes mit der Feststellung, was »mich die bisherige Lebenserfahrung gelehrt hat (me experientia docuit), nämlich, dass alles, was im gewöhnlichen Leben häufig vorkommt, eitel und unnütz sei […]. Und es ist die Summe dieser Lebenserfahrung, die mich zu einem Entschluss veranlasst (dico, 152 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

me tandem constituisse …) zu prüfen, wieweit ich meine bisherige Lebensordnung ändern und zu einer neuen Lebensform gelangen könne.« Das je eigene Ich ist hier die maßgebliche Grundinstanz sittlich-praktischer Selbstbesinnung. In Spinozas Hauptwerk, seiner Ethik mit geometrischer Methode begründet (Ethica ordine geometrico demonstrata) gewinnt das Ich eine weitgehende streng methodische Bedeutung, in der der kritische Gegenzug zur cartesischen Methode des Zweifelns (dubito = ich zweifele) scharf pointiert wird. Es ist kein Zufall, sondern Methode, wenn Spinoza alle Definitionen durch alle fünf Teile der Ethik hindurch in der Form der Ich-Aussage formuliert. Dabei ist die Bindung des Ich an den Intellekt gegenüber anderen Ich-Aussagen und ihren Bindungen bevorzugt. Die meisten Definitionen haben die Aussageform »intelligo«: So zum Beispiel in den Definitionen des 1. Teils »Über Gott« definiert er den Ausdruck »Ursache seiner selbst« folgendermaßen: »Ich verstehe darunter das, dessen Wesen das Daseyn in sich schließt, … .« 3 oder den Ausdruck Substanz: »Ich verstehe unter Substanz das, was in sich ist und aus sich begriffen wird; ….« 4 Auch Gott wird bekanntlich in dieser Aussageform definiert: »Ich verstehe unter Gott das schlechthin unendlich Seiende, ….« 5 Diese Form der Ich-Aussage ist in den Definitionen der anderen Teile der Ethik gewahrt, auch wenn wir dabei Ich-Aussagen finden, wie etwa dico, voco etc. Es kommt hier nicht darauf an zu prüfen, wie konsequent Spinoza ist, wenn er in seinen Definitionen die Ich-Aussage an die Bestimmung des Intellekts bindet. Es geht auch nicht um die Frage, ob die Definitionen in der Ethik den Status von Real- oder Nominaldefinitionen haben. Hier ist ihre methodische Bestimmung innerhalb des ordo geometricus und die sich daraus ergebende Bedeutung des Ich maßgeblich: Durch die Definitionen werden primäre wahre Ideen gegeben. Und das Ich – das menschliche Autoren-Ich – wird insofern als der Ort dieser primären Ideen begriffen. Dabei ist nicht dies die Frage, ob es sich um eingeborene oder von außen kommende oder selbst gemachte Ideen handelt, sondern dies, ob sie durch ihre methodische Bestimmung primäre und wahre Ideen sind. Dies bedeutet, dass, sofern sie wahre Ideen sind, kein Zweifel an ihrer Wahrheit möglich ist. 3 4 5

Eth. 1, Def. 1: Per causam sui intelligo id, cuius essentia involvit existentiam. Eth. 1, Def. 3: Per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur. Eth. I, Def. 6: Per Deum intelligo ens absolute infinitum.

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Das Ich ist aber nicht nur ein Raum, in dem verschiedene solcher wahrer Ideen zusammenliegen oder herumschwirren, wie Tauben in Platos Taubenschlag: Sie sind, dem Zusammenhang der Definitionen untereinander entsprechend, aufeinander hingeordnet und sie sind aufgrund ihrer Gegebenheit in Definitionen als primäre Wahrheiten bestimmt, als Wahrheiten, die andere Wahrheiten zu begründen erlauben. Schließlich ist die Ordnung der fünf Teile der Ethik eine auch für sie verbindliche Ordnung. Die durch die Definitionen gegebenen ersten wahren Ideen enthalten eine implizite Ordnung ihrer spezifischen Prioritäten. Für das Ich bedeutet dies, dass es als der Ort der ersten wahren Ideen eine spezifische, auf bestimmte Weise gegliederte Ordnung erster Wahrheiten ist. Über diese erste methodische Bestimmung des »Ich« hinaus haben wir in Spinozas Ethik bei unserer Suche nach einem wie immer beschaffenen Prinzip der Subjektivität mit der Bestimmung der mens humana zu tun. Wenn irgendeine Instanz außer der des Ich, so scheint hier das gesuchte Prinzip der menschlichen Subjektivität gegeben zu sein. Welcher Art ist nun die Beziehung zwischen menschlichem Ich und mens humana? Eine erste Antwort auf diese Frage lautet: Das Ich als Instanz der Definitionen hat die mens humana nicht als primäre Wahrheit in sich. Das heißt: Es gibt keine Definition der mens humana. Es gibt sie nicht, und zwar in einem ganz bestimmten Sinn. Im Grunde handelt die Ethik im Ganzen von der mens humana. In ihr sind die Bedingungen eines möglichen Lebens des Menschen im Sinne einer vernünftigen Lebensgestaltung zu suchen. Spinozas Ethik handelt von der Grundbeziehung zwischen Gott und dem Menschen als einer in sich vielfältig gegliederten Erkenntnisbeziehung. Es geht um die Erkenntnis der Gebote Gottes als von der menschlichen Vernunft gebotene Pflichten und um die Erkenntnis der Vernünftigkeit der Erfüllung dieser Pflichten im Lichte der Erkenntnis Gottes. Es gibt keine unmittelbare Definition der mens humana in ihrer aktualen Erkenntnis, wohl aber einen Lehrsatz, der die erste Proposition über den menschlichen Geist ist: »Das erste, was das wirkliche Sein des menschlichen Geistes ausmacht, ist nichts Anderes, als die Vorstellung eines einzelnen in der Wirklichkeit daseienden Dinges.« 6 Und es wird dem ein weiterer Lehrsatz hinzugefügt, der aussagt, um was für Eth. II, prop. 11: Primum quod actuale Mentis humanae esse constituit, nihil aliud est, quam idea rei aliud est, singularis actu existentis.

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

ein Objekt der Idee es sich hier handelt: »Der Gegenstand der Vorstellung, welche den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper oder ein gewisser, in der Wirklichkeit vorhandener Modus der Ausdehnung und nichts Anderes.« 7 Diese beiden Lehrsätze machen deutlich, in welchem Sinne und inwiefern die mens humana kein Gegenstand einer Definition durch das Ich sein kann. Sie kann nicht hinsichtlich ihres primären aktualen Seins definiert werden, und zwar aus folgenden Gründen nicht: einmal, weil der Begriff dieses primären aktualen Seins mehrere Voraussetzungen enthält und insofern keine primäre Wahrheit darstellen kann. Was Spinoza hier als primäre aktuale Seinsweise des menschlichen Geistes bezeichnet, ist nichts anderes als die Erkenntnis im Modus der Wahrnehmung. Mit der Wahrnehmung beginnt alle geistige Erkenntnistätigkeit. Aber der Begriff der Wahrnehmung enthält eine Fülle von Voraussetzungen: so die Definition der Idee und die eines Einzeldings; und in Verbindung damit ein Axiom über den allgemeinen intentionalen Charakter, der jeder Idee zukommt, sowie eine Definition des Körpers. Vor allem aber ist ein ganzes System von Axiomen mitvorausgesetzt, welches die fragliche Wahrnehmung als spezifisch menschliche Wahrnehmung und das fragliche aktuale Sein einer mens überhaupt als mens humana zu begreifen gestattet. Über all dies hinaus hat die menschliche Wahrnehmung in ihrem primären aktualen Sein aber eine weitere Beschaffenheit, die sie zum Gegenstand einer Definition untauglich macht. Körperwahrnehmungen, wie sie hier bestimmt werden, sind dadurch gekennzeichnet, dass die in ihnen involvierten Ideen inadäquat sind. Auch diese Kennzeichnung und die in ihr gelegene Unterscheidung zwischen adäquaten und inadäquaten Ideen gehört zu den Voraussetzungen der Formulierung der beiden elementaren Gesetze des Wahrnehmungsverhaltens der mens humana. Kurzum: Zwischen dem Ich als der privilegierten Instanz der Definition primärer Wahrheiten und der mens humana in ihrem ersten aktualen Sein klafft eine Lücke. Zwischen dem einen und dem anderen Prinzip der Subjektivität des Menschen besteht hier eine unübersehbare und zunächst unüberbrückbar scheinende Differenz. Diese Differenz aber hat zwei zu unterscheidende Aspekte: Erstens handelt es sich um eine wichtige kognitive bzw. epistemische Differenz zwischen primären bzw. unbezweifelbaren Wahrheiten auf der 7 Eth. II, prop. 13: Objectum ideae, humanam Mentem constituentis, est Corpus, sive certus Extensionis modus actu existens, et nihil aliud.

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einen Seite und einer gesetzmäßig verbürgten inadäquaten Erkenntnis auf der anderen Seite. Aber zweitens konstatieren wir die Differenz zweier verschiedener Reflexionsebenen: Auf der einen Seite die Ebene des denkenden, um Wahrheitserkenntnis bemühten Philosophen, auf der anderen Seite die Ebene des zu erkennenden Gegenstands, das ist: des Gegenstands in Gestalt der menschlichen Tätigkeit des denkenden Erkennens. Spinoza erweist sich hier in dieser zweifachen methodischen Unterscheidung als der Entdecker einer philosophischen Erkenntnismethode, die, in seiner Wirkungsgeschichte stehend und untereinander rivalisierend, Schelling und Hegel jeweils als ihre Entdeckung in Anspruch genommen haben. Für unsere Frage nach einem Prinzip der Subjektivität in Spinozas Ethik ist hier die Antwort zu suchen: Das menschliche Ich in seiner ausgezeichneten Subjektivität ist ausgewiesen durch die Kompetenz, die Spielräume des eigenen Seins in ihren zahlreichen gesetzmäßigen Erfahrungen zu durchmessen, allen Schwierigkeiten des affektiven Lebens und der mannigfachen Täuschungen zum Trotz. Subjektivität ist hier die Befähigung des Umgangs mit den eigenen gesetzmäßig bestimmten Möglichkeiten. Für Spinoza ist diese Befähigung die Tugend der wahren Erkenntnis. Auf diese und auf die Erkenntnis ihrer Bedingungen hat er seine philosophische Ethik gegründet. Die Möglichkeit, die hier der menschlichen Subjektivität zugestanden wird, verlangt aber ein elementares Wissen von der Konstitution des menschlichen Seins. Die dritte Definition des II. Teils der Ethik sagt von der Idee aus, dass diese ein »Begriff (conceptum) des Geistes [ist], den der Geist bildet, weil er ein denkendes Ding ist.« 8 , und in einer Erläuterung wird hinzugefügt, dass der Terminus Begriff (conceptus) dem der Wahrnehmung (perceptio) vorzuziehen sei, wenn dem Tätigkeitscharakter des menschlichen Geistes (mens) Gerechtigkeit widerfahren solle. 9 Diese Definition, durch die die wahre Idee der Idee gegeben wird, bildet demnach die Brücke zwischen Ich und mens. Mit der wahren Idee der Idee ist ein erster Hinweis des Spinoza auf jenes Per ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format, propterea quod res est cogitans. 9 »Erklärung. Ich sage lieber Begriff, als Wahrnehmung, weil das Wort Wahrnehmung anzuzeigen scheint, dass der Geist von dem Gegenstande leide. Aber Begriff scheint eine Tätigkeit des Geistes auszudrücken. (Explicatio. Dico potius conceptum, quam perceptionem, quia perceptionis nomen indicare videtur, Mentem ab objecto pati. At conceptus actionem Mentis exprimere videtur.)» 8

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

Moment seiner Philosophie gegeben, in dem er selbst das Kernstück seiner Methode gesehen hat: die Reflexion. Eine Idee ist, sofern sie ein vom Geist gebildetes Gebilde ist, eine reflexive Idee. Sie ist als solche auf die mens als ein Ganzes bezogen; und diese Ganzheit ist ihrerseits bedingt durch das In-Sein dieser mens in Gott. Aber die Definition der Idee impliziert nicht eine entsprechende Definition des Geistes. Um das Prinzip der Subjektivität in dem zuvor genannten Sinne begreifen zu können, müssen wir uns der elementaren Konstitution unseres Denkens bewusst sein. Die fünf Axiome des II. Teils von Spinozas Ethik artikulieren die propositionalen Grundwahrheiten, dank deren das Ich und die Wahrnehmung menschliches Ich und menschliche Wahrnehmung sind. Der lapidare axiomatische Satz: »Der Mensch denkt.« ist das markanteste Diktum des spinozanischen Anticartesianismus. Bekanntlich hat Spinoza gegen Descartes geltend gemacht, dass ein methodisch geübter Zweifel, dem es um die Bannung des Skeptizismus und um die Gewinnung unumstößlicher Gewissheiten geht, nicht ohne die Annahme primärer Wahrheiten auskommt, die eine Methode der Reflexion erfordern. Diese Methode war insofern nicht ohne weiteres auf eine Methodologie der Analysis oder auf den Gebrauch der synthetischen Methode im streng deduktiven Sinne zu reduzieren. 10 Der Grundsatz: »Der Mensch denkt.«, stellt keine Definition dar, sondern ist ausdrücklich als Axiom zu verstehen. Er gibt insofern nicht eine primäre wahre Idee des Menschen, sondern eine erste propositionale Wahrheit, die nicht aus anderen Wahrheiten abgeleitet werden kann. Diese axiomatische Wahrheit bildet mit den vier anderen axiomatischen Wahrheiten ein Gefüge von Grundsätzen, durch die die wahre Idee als Idee der Idee auf die Bedingungen des menschlichen Denkens eingeschränkt wird. Eben dies ist der entscheidende methodische Mangel des cartesischen cogito sum, dass dessen in Anspruch genommene primäre Wahrheit die Bedingungen der Gültigkeit derselben verkennt oder zumindest verschleiert. Sehr bewusst hat Spinoza deswegen dem zitierten Grundsatz ein anderes Axiom vorangestellt, in dem die universale Kontingenz aller Kreatur als eine für das menschliche Dasein verbindliche axiomatische Wahrheit formuliert wird: »Das Wesen des Menschen schliesst nicht ein nothwendiges Da10 Ausführlich geht Gilles Deleuze diesem wichtigen Punkt in Spinozas Kritik an Descartes nach. Vgl. G. Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Aus dem Französischen von U. J. Schneider. München 1993, S. 139 ff.

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I. Ontologie

seyn in sich; d. h. nach der Ordnung der Natur kann es eben so wohl geschehen, dass dieser und jener Mensch da ist, als dass er nicht da ist.« 11 Das menschliche Denken muss unter Bedingungen der Kontingenz seiner Existenz begriffen werden. Und es wird diese seine Kontingenz gerade allererst im Lichte der menschlichen Gotteserkenntnis begreifen. Die anderen Axiome zu Beginn des II. Teils der Ethik entbehren nicht weniger der anticartesischen Pointen. Dies gilt nicht nur für das dritte Axiom, durch welches der intentionale Charakter des menschlichen Denkens unterstrichen wird. Denken ist – um es in der Sprache der Phänomenologie unseres Jahrhunderts zu formulieren – immer Denken von etwas. Jede Idee hat ihr Ideatum und ist durch dieses auf ein Objekt bezogen. Wahrheit und Irrtum, aber auch die Differenz zwischen wahren und adäquaten Ideen beruhen auf dieser Intentionalität, die das Kennzeichen des Denkens einer mens humana ist. Am wichtigsten aber ist in diesem Zusammenhang die Exemplifikation dieses Denkens von etwas durch die Modi der Affektivität. Wie die Wahrnehmung, so ist auch jeder Affekt als Modus des Denkens ein Denken von etwas. Dies besagt nicht nur, dass die Affekte, wie man heute sagt, einen kognitiven Gehalt haben. 12 Vielmehr ist durch diese Kennzeichnung jeder Affekt, wie jede Wahrnehmung, auf das Ganze einer mens humana bezogen und damit den Bedingungen möglicher Rationalität unterworfen. Jedes gesetzmäßige affektive Verhalten des Menschen ist ein Stück gelebter Subjektivität. Diese stellt sich unter diesem Gesichtspunkt als eine Ordnung gesetzmäßigen affektiven Verhaltens dar. Im Blick auf den Anfang des II. Teils der Ethik sei eine Eigentümlichkeit der dort aufgestellten Definitionen hervorgehoben, die auffällig genug ist, um nicht als flüchtige Inkonsequenz übersehen zu werden. Es ist dies eine auffällige Asymmetrie in den Definitionen des Körpers und des Gedankens bzw. der Idee. Während der erstere ausdrücklich durch Rekurs auf das göttliche Attribut der Ausdehnung und als Modus derselben definiert wird, ist der Bezug im Fall der Definition des Gedankens bzw. der Idee ein anderer. Hier wird nicht auf das göttSpinoza, Eth. II, Ax. 1: Hominis essentia non involvit necessariam existentiam, hoc est, ex naturae ordine, tam fieri potent, ut hic, et ille homo existat, quam ut non existat« 12 So Dieter Birnbacher: Gegenstand und Ursache der Emotion in Spinozas Affektenlehre. In: Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen. St. Hübsch und D. Kaegi (Hrsg.), Heidelberg 1999, S. 103 ff. 11

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Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt?

liche Attribut des Denkens Bezug genommen, obwohl dies formal durchaus möglich gewesen wäre. Der Bezugspunkt ist hier vielmehr eine bestimmte mens, sei es, dass diese eine mens humana oder die mens einer anderen Spezies ist. Der Grund für diese auffällige Differenz der Bezüge in den parallelen Definitionen liegt auf der Hand. Es gibt keine ein-eindeutigen Zuordnungen zwischen Körperdingen und Gedankendingen. Wenn Spinoza immer wieder und unter immer neuen Gesichtspunkten hervorgehoben hat, dass die Ordnung der Ideen und die Ordnung der Dinge ein- und dieselbe seien, so war er bei der Aufstellung dieser Grundgesetzlichkeit weit davon entfernt, diese Ordnung im Sinne einer ein-eindeutigen Zuordnungsbeziehung zu denken. Die Einheitlichkeit eines Dings ergibt sich immer erst im Kontext eines bestimmten Kausalzusammenhangs und seiner Erkenntnis und ist eben von dem Stand der Kausalerkenntnis abhängig. 13 Es ist bekanntlich sein gewichtigstes Argument gegen die cartesische Affektenlehre und Ethik, dass diese mit einem Wissen vom Körper und von psychosomatischen Abhängigkeiten arbeitet, welches wir nicht besitzen. Wir haben kein zureichendes Wissen hinsichtlich des spezifisch menschlichen Leibes, um darauf ein Wissen vom affektiven und ethischen Verhalten des Menschen zu gründen. Das in der Ethik artikulierte lemmatische Wissen vom menschlichen Leib ist zureichend, um die vielfältigen Weisen der Abhängigkeit der mens humana in ihrem Verhalten von körperlichen Bedingungen zu begreifen. Dieses Wissen reicht hin, um die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen affektivem Verhalten einerseits und einem pflichtgemäßen tugendhaften Leben andererseits zu erkennen. Die klassische Frage nach der Einheit der menschlichen Subjektivität ist aus der Sicht des Spinoza eine vieldeutige Frage, deren mannigfachen Bedeutungen entsprechend mannigfache Antworten erfordern. In jedem affektiven bzw. in jedem von Vernunft bestimmten Verhalten ist die Frage nach dieser Einheit neu gestellt. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Frage nach der Einheit der mens humana unter dem Gesichtspunkt ihrer zweifachen Offenheit: Sie ist zum einen nicht 13 Genauer habe ich diesen Zusammenhang in seinen Konsequenzen für Spinozas Philosophie dargestellt in: Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. Berichte aus den Sitzungen der Joachim JungiusGesellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg, Jahrgang l (1982/83), Heft 4, S. 43 f. Vgl. in diesem Band S. 71 ff.

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I. Ontologie

determiniert durch eine korrespondierende Einheit des ihr zugehörigen Körpers. Und sie ist in ihrer spezifischen Einheit offen zu Gott. Sie ist ein endlicher Modus göttlichen Denkens, hierin bestimmt nach Art jeder einzelnen von ihr gedachten Idee. Aber in ihrem Streben nach Erkenntnis ist sie in der Endlichkeit ihrer Einheit auf den unendlichen Intellekt, auf den Geist der Welt bezogen und diesem Geist gegenüber – dem Begriff der Naturgesetzlichkeit – offen. In der Beziehung von Körper und Geist wird ein Grundzug des spinozanischen Denkens offenkundig. Die Metaphysik des Spinoza ist eine Lehre der docta ignorantia. Gerade weil sie dies ist, muss sie die Verwechslung mit der cartesischen Zweifelsmethode besonders fürchten. Als eine Lehre der gelehrten Unwissenheit ist sie grundverschieden von den idealistischen Systemen eines absoluten Wissens. Jede philosophische Ethik wird, wenn sie ernst genommen sein soll, ein Stück weit docta ignorantia sein müssen. Spinozas Grundunterscheidung hinsichtlich des menschlichen Wissens ist die zwischen einer absoluten und einer relativen, das ist: veränderlichen Grenze des Wissens. Diese Grundunterscheidung einer docta ignorantia gilt es vorrangig auf die menschliche Subjektivität anzuwenden.

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II. Teil: Anthropologie

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Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

Sehr geehrte Frau Dr. Egner, meine Damen und Herren Dass mir in diesem Jahr der Dr. Egner-Preis verliehen worden ist, ist für mich eine große Ehre. Ich bin sehr dankbar für diese hohe Auszeichnung und für die darin liegende Anerkennung meiner philosophischwissenschaftlichen Arbeit, die ich als äußerst ermutigend empfinde.

1. Bitte erlauben Sie mir, meinen Vortrag mit einer Vorbemerkung einzuleiten, die mein Verständnis des Themas dieser Festveranstaltung betrifft: Homo patiens – das bedeutet aus meiner Sicht nicht, dass der Mensch durch eine entsprechende Wesensbestimmung als krankes Tier und als elende Kreatur begriffen wird. Gewiss: nichts ist unheimlicher und unbegreiflicher als der Mensch, überhaupt und im Vergleich zu all dem, was wir schlecht und recht, mehr oder weniger klar begreifen können. Gewiss ist auch, dass der Mensch sich zu unser aller Schrecken allzu oft als eben dies zeigt, als krankes Tier und als elende Kreatur; und vor allem, dass er seine destruktiven Kräfte gegen seine Mitmenschen und gegen sich selbst richtet. Aber diese elend-kreatürliche und aggressiv-krankhafte Seite seines Wesens macht nicht das Ganze desselben aus. Es liegt etwas anderes und tieferes zugrunde. Ebenso wenig werden wir versucht sein, die Formel »homo patiens« nur und ausschließlich als eine Absage an den Begriff des homo agens und des homo faber aufzufassen, als eine Verneinung der schöpferischen Kräfte im Menschen, einer Fähigkeit, aus sich selbst etwas zu machen und eine Welt zu gestalten. Gewiss entspricht es unserem heutigen Lebensgefühl nicht, wenn der Mensch als reine absolute Subjektivität begriffen wird; die Philosophie unseres Jahrhunderts hat dementsprechend in 163 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

einer seltenen Einmütigkeit – ich nenne hier Denker wie Scheler, Heidegger und Wittgenstein –, die zu hoch gegriffenen Ideale der Autonomie, der Selbstbestimmung auf ein vernünftiges irdisches Maß zurückzuschneiden versucht. Herrlichkeit und Selbstherrlichkeit des Menschen bleiben menschliche Möglichkeiten mit mannigfachen Seiten. All diese Seiten gehören auch unter den Titel homo patiens, sowohl die stille, in sich ruhende Selbstherrlichkeit, in der ein Mensch für den anderen Menschen zu strahlen und zu leuchten vermag wie ein göttliches Gestirn; aber auch jene schreckliche Gegenseite, in der sich die Selbstherrlichkeit mit dem Trieb der Zerstörung und mit dem Rausch der Macht verbindet. homo patiens ; dies begreift beides unter sich: Elend und Herrlichkeit des Menschen, aber mit einem unübersehbaren Akzent auf dem ersteren, mit einer mitklingenden Skepsis des Menschen gegenüber den Gefährdungen des Menschen, die das Vertrauen zu ihm immer wieder zu einer neuen und unendlich schwierigen Aufgabe macht. Schließlich aber gehört auch dies zur Bestimmung des homo patiens: die Ungewissheit, wo eigentlich das Elend endet und die Herrlichkeit beginnt, der Zweifel hinsichtlich des Verhältnisses von Ohnmacht und Macht, ein Wissen um menschliche Blindheiten, um Unfähigkeiten des rechten Tuns und Wissens zur rechten Zeit; und schließlich gehört auch dies und nicht zuletzt hierzu: der Verzicht darauf, die Gegensätze menschlichen Wesens nach Art einer prästabilierten Harmonie zu ordnen,– indem wir den Versuch machen, eine coincidentia oppositorum zu statuieren. Goethe lässt den letzten Akt seiner großen Menschentragödie, den »Faust« wie den ersten Akt beginnen, nämlich zur nächtlichen Stunde. Nun, der letzte Akt ist zugleich der letzte Akt im Leben des Doktor Faustus. Es ist Mitternacht, da der Bruder Tod sich zum erstenmal ankündigt. Vier graue Gestalten sind seine Vorboten: der Mangel, die Schuld, die Sorge, die Not. Aber noch immer scheint der Mann, der »das ganze Leben durchstürmt hat« obwohl nunmehr hundertjährig – keine Lebensmüdigkeit zu kennen. Drei der vier Vorboten – Schwestern des Bruders Tod – sie kehren auf der Schwelle um. Mangel und Not kommen, so will es scheinen, an einen Reichen, wie Faust es einer ist, so und so nicht heran. Man hat zu recht gefragt, warum in einer solchen Stunde auch die Schuld nichts über diesen Mann vermag, der alles andere als schuldlos ist. Auf diese Frage gibt der Dichter – einer der größten Kenner des menschlichen Herzens – eine Antwort, mit der 164 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

wir wohl oder übel leben müssen: Faust, irgendwie Sinnbild des Menschen, ist immer wieder und gerade erneut im höchsten Alter in Schuld verstrickt worden, wie wissend und unwissend auch immer. Die kleine unschuldige Familie, Philemon und Baucis sind in ihrer Idylle unschuldige Opfer des ungebrochenen Schaffens- und Gestaltungstriebes des Mannes geworden, der sich vorgenommen hat, den Menschen neuen Lebensraum zu erschließen, und der hierfür viel – Goethe sagt nicht: zuviel – in Kauf nimmt. Aber einmal im Leben hat Faust für seine schreckliche Schuld schrecklich gelitten und schrecklich gebüßt; und er ist dabei noch einmal davongekommen. Und nun? Hat er damals gelernt, Schuld zu verdrängen? Hat er sich daran gewöhnt, dass niemand Schuld vermeiden kann? Auf jeden Fall: er scheint nun besser mit seiner Schuld umzugehen, er macht ihr schneller und erfolgreicher den Prozess. So bleibt nur die Sorge, die es allerdings listig anstellen muss, an ihn heranzukommen. Sie muss in diesem Falle durchs Schlüsselloch herein. Aber diese List scheint nichts zu helfen: »Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß, ich werde sie nicht anerkennen«. Diese Macht, sie ist unter den mächtigen Schwestern des Todes die mächtigste. Erfahre sie, wie ich geschwind, Mich mit Verwünschung von dir wende: Die Menschen sind im ganzen Leben blind. Nun, Fauste, werde du’s am Ende Sie haucht ihn an Faust erblindet. Die Macht der Sorge wirkt, wo einer ihr zu widerstehen sucht, durch List und Rache. Ihre Macht besteht darin, dass sie den Menschen blind macht. Bekanntlich zeigt Goethe, wie sein Held immer noch nicht lebensmüde geworden, seinen Lebenswillen nicht brechen lässt. Faust, an den Mangel und Not nie eigentlich herangekommen sind, Faust, der in tiefste Schuld verstrickt, mit der Schuld fertig geworden ist, er scheint auch noch mit der Sorge fertig zu werden: Faust erblindet: Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, Allein im Innern leuchtet helles Licht Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen.

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II.

Anthropologie

Faust – der Mensch der ungebrochenen und nicht zu brechenden Freiheit? Man könnte dies meinen. Aber dann muss man auch diese Seite bedenken: Faust muss angesichts der ihn bedrängenden Sorge – der Vorbotin des Todes – erkennen: Er ist bislang nicht frei gewesen, auch wenn er sich frei wähnte. Sein Freiheitsbewusstsein – wie mächtig auch immer – war Täuschung, wenn nicht Wahnvorstellung; und zwar in jugendlichem Alter nicht anders als im Bewusstsein seines Erwachsenseins. Immer war sein Leben von blinden Mächten beherrscht, dann und gerade dann, wenn er sich Herr dieser Mächte wähnte: Ich bin nur durch die Welt gerannt! Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren, Was nicht genügte, Hess ich fahren … Ich habe nur begehrt und nur vollbracht … Aber diese Mächte, von denen er besessen war, waren keineswegs nur die Mächte der sinnlichen Begierde und der Herrschaftsgelüste: Es gab für ihn auch das Besessensein von der Aufgabe, die die Tüchtigkeit des Tüchtigen verlangt: Nun aber geht es (mein Leben) weise, geht bedächtig … Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? Aber angesichts all dieses Wollens und Könnens und Gewirkt und Geleistet-Habens wird Faust eines klar: Sein unbändiger Freiheitswille war und ist nicht gleichbedeutend mit errungener Freiheit: Noch hab ich mich ins Freie nicht gekämpft. Schlimmer noch: sein ganzes bisheriges Ringen um Freiheit beruhte auf einer ganz und gar verkehrten Bundesgenossenschaft. Die Mächte, mit denen er sich verbündet hatte, waren nicht die richtigen Bundesgenossen: Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stund ich, Natur, vor Dir ein Mann allein, Da war’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein! 166 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

Faust erblindet. Die Einsicht kommt sie zu spät, ist sie umsonst? Faust gibt nicht auf. Er kämpft weiter, sucht ins Freie zu kommen. Und er vermag dies nur, weil er in diesem Augenblick der Einsicht zum ersten Mal wohl auch die Segnungen menschlicher Blindheit erfährt. Die Sorge meint es gnädig mit ihm. Sie lässt ihn nicht sehen, dass der Lärm der Spaten nicht Gewinn neuen Landes bedeutet, sondern die Schaufelung des eigenen Grabes.

2. Goethes »Faust«, dieses Paradigma eines Homo agens und eines Homo faber, dieser Homo politicus und theoreticus als Homo patiens? Der Mensch, der versucht und kämpft, ins Freie zu gelangen, und der am Ende erkennen muss, dass er immer noch dort steht, wo er angefangen hat. Es gibt für den Menschen, besonders für den modernen Menschen, ungezählte Freiheiten und Unfreiheiten, die miteinander verschwistert sind. Magie und Zaubersprüche sind solche Unfreiheiten ebenso wie Mangel und Not, Schuld und Sorge. Wir versuchen, mit Goethe zu reden, uns ins Freie zu kämpfen, indem wir eine Unfreiheit gegen die andere auszuspielen bemüht sind. Die Sorge gehört zu den Unfreiheiten des Menschen. Sie ist eine Unfreiheit und ein Leiden des Menschen an der Unfreiheit. Sie selbst sagt über sich: Wen ich einmal mir besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze: Ewig Düsteres steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter, Bei vollkommenen äußeren Sinnen Wohnen Finsternisse drinnen, Und er weiß von allen Schätzen Sich nicht in Besitz zu setzen. Glück und Unglück wird zur Grille, Er verhungert in der Fülle, Sei es Wonne, sei es Plage, Schiebt er’s zu dem ändern Tage Ist der Zukunft nur gewärtig Und so wird er niemals fertig.

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Anthropologie

Es gibt zahllose Formen und Ausdrucksweisen der Sorge: Tätigkeit und Untätigkeit, hektische Aktivität und Lähmung. Ebenso gibt es unzählige Formen der Anstrengung, mit der Sorge fertig zu werden. Die eine Ausdrucksform ist nicht ohne weiteres von der anderen zu unterscheiden. Es mag sein, dass der Mensch zu einer Existenz ohne Sorge nicht fähig ist, dass es ihm nicht vergönnt ist zu sein wie die Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten; es kann sein, dass die Sorge ein Existential, eine ontologische Grundbestimmung des Menschen ist, wie Martin Heidegger, angeregt durch Konrad Burdachs Aufsatz über »Faust und die Sorge«, wollte. Aber Goethes Faust zeigt uns, dass die Sorge nur eine jener Mächte ist, die den Menschen in den Bann der Unfreiheit schlagen; und dass sie – mag sie immer in der Nähe seines Wesens hausen, doch nicht immer und manchmal erst spät, direkt an ihn herankommt, um von ihm Besitz zu ergreifen. Und vor allem zeigt sich, dass der Mensch gegen sie andere Mächte aufbieten kann, wie mächtig die Sorge auch immer ihn überfallen mag. Die Freiheiten und die Unfreiheiten des Menschen gehören zusammen. Angesichts ihrer Vielfalt möchte ich drei solcher Zusammenhänge unterscheiden: zum einen metaphysische Freiheit und Unfreiheit, zum anderen psychische Freiheit und Unfreiheit und schließlich ethisch-politische Freiheit und Unfreiheit. Diese drei Zusammenhänge bilden ihrerseits einen Zusammenhang. Die drei Freiheiten und ihre Negationen gehören zusammen, nicht nur in Goethes Dichtung, sondern auch in den maßgeblichen Strömungen der neuzeitlichen Philosophie. Metaphysische Freiheit bzw. Unfreiheit. Darunter verstehe ich den allgemeinen Begriff der Freiheit und ihrer Negation. Die Philosophie der Neuzeit bestimmt diesen Allgemeinbegriff in weitgehender Übereinstimmung in dem Sinne: Freiheit ist eine ausgezeichnete Ursache, zu der nur besondere Wesen, wie zum Beispiel der Mensch, fähig sind. Diese ausgezeichnete Ursächlichkeit gilt weithin an die Voraussetzung der Fähigkeit zur vernünftigen Überlegung geknüpft. Besteht weithin Übereinstimmung hinsichtlich dieses Allgemeinbegriffes, so nicht ebenso hinsichtlich der verschiedenen möglichen Interpretationen desselben. Wir finden in der neuzeitlichen Philosophie viele bedeutsame Interpretationen der Kausalität aus Freiheit. Um nur einige bedeutsame zu nennen: Für Spinoza ist Freiheit die ausgezeichnete Fähigkeit, aus der Erkenntnis des eigenen Wesens heraus und in Übereinstimmung mit dem selbsterkannten Wesen zu handeln. In seiner Sprache: Die Fähigkeit eine adäquate Ursache zu sein. Für Kant dagegen ist 168 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

Freiheit im metaphysischen Sinne die Fähigkeit eines Vernunftwesens, die Kette der natürlichen Notwendigkeiten zu durchbrechen und sich durch praktische Vernunft in eine ganz andere Welt zu versetzen, in der nicht die allgemeinen Naturgesetze der Mechanik bzw. die Naturgesetze der Physik, der Chemie, der Physiologie etc. alleine herrschen, sondern in der andere Gesetzmäßigkeiten den tragenden Grund bilden: die Achtung des Menschen vor den Rechten der anderen, der Respekt vor der menschlichen Würde und nicht zuletzt die Liebe der Menschen untereinander. Schließlich kann auch die schon erwähnte Fundamentalontologie Heideggers unter die wichtigen Interpretationen des Grundverhältnisses von Freiheit und Unfreiheit gerechnet werden. Die Sorge – die existentiale Grundbestimmung des Menschen – sie ist weder Notwendigkeit noch Freiheit. Sie versetzt vielmehr den Menschen in einen ursprünglichen Bereich, aus dem heraus überhaupt erst die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens entspringen, sich der Freiheit oder der Unfreiheit gemäß zu verhalten. Anders als die Vernunft ist die Sorge kein Wegweiser in Sachen der menschlichen Freiheit. Der metaphysische Freiheitsbegriff der neuzeitlichen Philosophie stellt das Denken immer wieder vor die sehr einfache Alternative: Freiheit oder Notwendigkeit. In dieser Alternative vermögen sehr viele Menschen eines ihrer wichtigsten Lebensprobleme zu erkennen. Aber die Einfachheit dieser scheinbar ausschließlich geltenden Alternative lässt allzu leicht übersehen, dass die verschiedenen Interpretationen derselben wichtiger sind als die Alternative selbst. Es hat nichts mit schlechtem Eklektizismus zu tun, wenn wir auf die wichtigsten dieser Interpretationen nicht verzichten wollen. Denn diese Unmöglichkeit auf sie zu verzichten bedeutet, dass in ihnen eine wichtige Seite des Grundverhältnisses von Freiheit und Unfreiheit zum Ausdruck kommt. So genügt Spinozas Verhältnisbestimmung der Tatsache, dass jeder Mensch von dem anderen Menschen verschieden ist, dass jeder – seinem einzigartigen Wesen gemäß – sich seinen Weg suchen muss, auch wenn dieser Weg aus der Perspektive Gottes nur ein einziger Weg, der Weg zur Erlangung des wahren höchsten Gutes sein kann. Auch Goethes Faust ist – um dies hier einzurichten – nur eine Entelechie, um das Wort des Leibniz’ zu verwenden, ein einzigartiges Wesen, welches seinen einmaligen Lebensgang gehen muss, der den Stilanforderungen der Tragödie entsprechend ein hoher Lebensgang ist. Aber es gibt auch weniger glanzvolle und auch weniger erschreckende Lebenswege und Entelechien. Auch Kants Verhältnisbestimmung von Not169 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

wendigkeit und Freiheit ist für die Sache des Menschen unverzichtbar. Nicht nur, dass wir es im Grunde können, sondern dass wir es wollen müssen, ist hier das wichtige: nämlich wollen, dass Achtung vor den Rechten und vor der Würde des Menschen in die Welt kommt und in der Welt bleibt. Auch wenn diese Welt quer steht zu der allmächtig scheinenden Welt natürlicher Zwänge. Um schließlich auch Heideggers Bestimmung des Menschen einen Ort zuzuweisen: Aus der existentialen Bestimmung der Sorge lässt sich die nie endgültig zu beantwortende Frage gewinnen, ob das menschliche Wesen in seiner allgemeinen und in seiner singulären Gegebenheit nicht doch tiefer gelegen sei, als wir es zunächst vermutet haben; in den Worten des Heraklit: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, auch wenn du gehst und jede Strasse abwandelst, so tief ist ihr Sinn«. Von dem metaphysischen Begriff der Freiheit und Unfreiheit ist der psychische bzw. psychologische Begriff der Freiheit (und Unfreiheit) zu unterscheiden, auch wenn er, wie die bisherigen Betrachtungen deutlich machen, von demselben nicht endgültig zu trennen ist. Diesem psychischen Freiheitsbegriff zufolge ist Freiheit nicht einfach der freien Ursächlichkeit gleichzusetzen; sie ist vielmehr freies Verhalten, und zwar im Blick auf bestehende Kausalverhältnisse. Ein solches freies Verhalten zeigt sich als Distanz gegenüber gegebenen Tatsachen und Notwendigkeiten, als Fähigkeit zu Tatsachen und Notwendigkeiten Stellung zu nehmen, sie so oder so zu bewerten, in Zusammenhänge einzuordnen, ihnen einen Sinn abzugewinnen; aber auch dies, sie als sinnlos oder sinnwidrig zu empfinden. Eine solche Distanz betrifft keineswegs nur einzelne Gegenstände und gegenständliche Zusammenhänge. Sie kann sich auf die Welt im Ganzen beziehen; und vor allem: diese psychische Freiheit macht vor dem eigenen Selbst nicht halt. Sie ist Distanz des Menschen sich selbst gegenüber; freie Stellungnahme zum eigenen Sein und Wirken. Psychische Unfreiheit ist entsprechend Unfähigkeit zu solcher Distanz. Psychische Freiheit kann die Form des theoretischen und praktischen Verhaltens zu gegebenen Tatsachen und Notwendigkeiten haben. Psychische Freiheit ist demnach Fähigkeit zur Selbstunterscheidung gegenüber bestehenden Kausalverhältnissen und eine entsprechende Aktualisierung dieser Fähigkeit. Eine solche Fähigkeit verlangt nicht nur gewisse psychische Kompetenzen, sondern auch günstige äußere Bedingungen ihrer Verwirklichung. Die Frage, welche psychischen Kompetenzen für eine solche Distanzierung vom Gegebenen erforderlich sind, und wie die günstigen Bedingungen für ihre Ver170 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

wirklichung aussehen müssen, ist eine offene Frage. Hier beginnen jenseits des philosophischen Allgemeinbegriffes die Interpretationen. Zwei wichtige Kennzeichnungen des psychischen Freiheitsbegriffes möchte ich besonders unterstreichen: a) Zwar kann man den psychischen Freiheitsbegriff durchaus als eine spezielle Interpretation des vorher genannten metaphysischen Freiheitsbegriffes ansehen, in dem man feststellt: der Mensch sei eine freie Ursache gerade dadurch, dass er Distanz zu gegebenen Ursachen einnehme und dass er dank dieser Distanz zu handeln und zu wirken fähig sei. Aber auf der anderen Seite ist deutlich, dass der Begriff der psychischen Freiheit den metaphysischen Freiheitsbegriff nicht in dem Sinne notwendig voraussetzt, dass immer und unter allen Umständen gilt: ein Mensch, der Abstand zu den Dingen gewonnen hat, ist eben dadurch als freie Ursache in der Welt wirkend. Dies gilt allgemein nur unter der Voraussetzung, dass alles in der Welt irgendwelche bestimmte Folgen hat. Aber auch dann bleiben verschiedene Möglichkeiten offen, den psychischen Freiheitsbegriff mittels der einen oder der anderen der verschiedenen Interpretationen des metaphysischen Freiheitsbegriffes zu deuten. Die zweite b) wichtige Seite des psychischen Freiheitsbegriffs besteht darin, dass hier deutlich wird: es sind nicht nur die Philosophen, die das menschliche Grundverhältnis von Unfreiheit und Freiheit interpretieren. Vielmehr besteht das menschliche Verhalten in seinem Dasein darin, dieses Grundverhältnis selbst ständig neu zu deuten. Solche allgemeinen menschlich-allzumenschlichen Deutungen lassen sich in gewissen Grenzen idealtypisch beschreiben. Ich selbst möchte hier anstelle solcher Beschreibungen nur einige exemplarische Fälle solcher Interpretationen nennen. So ist jeder Mensch – in gewissen Grenzen – frei, im Blick auf die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur menschliche Freiheit als Möglichkeit des Menschen und als eigene ausgezeichnete Möglichkeit zu akzeptieren oder zu verwerfen. Die Menschen machen von dieser Freiheit gerne, wenn auch nicht immer ruhmreich Gebrauch. Sie halten sich da für frei, wo es um ihr Verdienst und um dessen Belohnung geht; und für unfrei, wo sie sich nicht ohne weiteres mit ihren Taten rühmen können. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Wir interpretieren die Kausalität anderer Menschen uns gegenüber im Lichte der Unterscheidung von Notwendigkeit und Freiheit, von Unabsichtlichkeit und Absichtlichkeit. Wo wir uns von einem anderen Menschen gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht behandelt fühlen, haben wir gleicher171 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

maßen beide Deutungsmöglichkeiten. Wir machen in der Regel von der einen oder anderen Gebrauch, ohne uns auf eine gründliche Prüfung ihrer Zulässigkeit und ihres zureichenden Grundes einzulassen. Es ist dabei erstaunlich, wie oft wir den Menschen, von denen wir Gutes erfahren, die gute Absicht verweigern, indem wir manchmal schlechte Absicht unterstellen oder zumindest die Freiwilligkeit des Tuns bestreiten. Ebenso erstaunlich ist es, verglichen mit diesem Verhalten, dass wir in den Fällen, wo wir von der anderen Seite Unangenehmes oder Ungerechtes erfahren, nicht auf jene Deutungsmöglichkeit verfallen, sondern gerade hier Absicht und Freiwilligkeit unterstellen, wo wir mit der gegenteiligen Deutung besser gefahren wären, wenn uns an unserer inneren Zufriedenheit gelegen ist. Man möchte hier beinahe eine Lust und Neigung an der eigenen inneren Unzufriedenheit, eine Lust am inneren Leiden argwöhnen, wenn man bedenkt, wie leichtfertig der Mensch die Chancen der Dankbarkeit und die Erwägung der Billigkeit und Gerechtigkeit aus der Hand gibt. Schließlich ist der dritte Freiheitsbegriff der ethisch-politische. Diesem Begriff zufolge ist der Mensch allein frei unter Bedingungen, die Menschlichkeit und echte Mitmenschlichkeit gewährleisten; und sofern umgekehrt die Bedingungen ausgeschlossen sind, welche eine solche Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit gefährden und Unmenschlichkeit und Versagen von Mitmenschlichkeit begünstigen. Dieser dritte Freiheitsbegriff setzt den zweiten voraus, wie er umgekehrt, seinem Selbstverständnis zufolge, eine Bedingung der Möglichkeit ist, dass psychische Freiheit unter den Menschen gegeben ist. Auch dieser dritte Begriff und insbesondere dieser erlaubt unterschiedliche Interpretationen, von denen eine jede einen historischen Versuch darstellt, auf die Frage nach der bestmöglichen Verfassung der menschlichen Gesellschaft eine Antwort zu finden. Das Leiden der Menschen an der inneren Unfreiheit ist zweifellos nur eines unter den mannigfachen menschlichen Leiden; und zweifellos ist dieses Leiden nicht für alle Menschen konsumtiv, wie immer man dies bewerten mag. Allzu oft spüren die Menschen ihre Unfreiheit nicht, weder die innere noch die äußere. In diesen Fällen kann von einem Leiden des Menschen im allgemeinen an der Unfreiheit keine Rede sein. Es ist im übrigen kein Zynismus, wenn man in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es auch ein Leiden an der Freiheit gibt. Viele Menschen sind den hohen Anforderungen der Freiheit nicht gewachsen. Sie spüren angesichts entsprechender Herausforderungen allenfalls Stress und Nervosität. 172 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

Den meisten Menschen dient, wie gesagt, die psychische Freiheit zur Interpretation gegebener Kausalitäten allenfalls den Interessen eigener Bequemlichkeit. Man mag die philosophische Unterscheidung zwischen den Begriffen des Innen und des Außen vage, vieldeutig oder metaphorisch finden. Das ändert aber nichts an ihrer besonderen Brauchbarkeit, die sie mit anderen vergleichbar vagen und metaphorischen Begriffen gemein haben, die in der Philosophie, aber auch in der Wissenschaft nützliche Verwendung finden. So können wir, wie immer, recht gut verstehen, was es heißt, dass der Mensch manchmal und unter günstigen Umständen auf äußere Unfreiheit mit innerer Freiheit antworten kann, auch wenn ihm eine solche innere Freiheit höchste Anstrengung abverlangt. Wir verstehen auch, was in dem normalen Falle gemeint ist, dass die Menschen in der Regel auf äußere Unfreiheit reagieren, indem sie dieser durch unfreies Verhalten zuvorkommen und dadurch die maßgeblichen Instanzen und Kräfte der äußeren Unfreiheit ermutigen und befördern. Die unverhältnismäßige Feigheit und Torheit der Menschen – diese überall anzutreffenden Spielarten der Unfreiheit – sind immer schon am Werke, bevor sie von den Diktatoren in ihren Dienst genommen werden. Unfreiheit ist leider nicht immer von Bewusstsein begleitet. Spielarten wie die genannten bilden einen reichen Spielraum für Verdrängungen und kunstvolle Selbstrechtfertigungen. In einem bestimmten Verhalten können Freiheit und Unfreiheit auf schwer durchschaubare Weise vermischt sein. Eine der psychischen Freiheiten besteht darin, sich seine Freiheitsmöglichkeiten zu verdecken. Um noch einmal auf die Freiheiten und Unfreiheiten des Dr. Faustus zurückzukommen. Dieser hat sich als ein Meister im Verdecken seiner Unfreiheiten erwiesen. Erst spät kommt er hinter seine eigenen psychischen Künste. Wir können so wenig wie er selbst im Einzelfall entscheiden, woher die Geister stammen, die wir rufen, wenn wir uns ins Freie kämpfen wollen. Manche von ihnen mögen dem Inneren entstammen, auch wenn sie als äußere Gestalten uns gegenübertreten. Manche, die wir in den Dienst nehmen, sind der äußeren Gestaltenwelt entnommen. Mangel und Not, Schuld und Sorge – diese vier Geschwister – gibt es ebenso als innere wie als äußere Unfreiheiten: Es gibt äußere und innere, Not, äußere und innere Schuld, äußere und innere Sorgen. Die europäische philosophische Tradition kennt seit ihren Anfängen einen beinahe unumstößlichen Satz über die menschliche Psyche: Niemand leidet freiwillig. Denn alle Menschen wollen 173 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

glücklich sein und glücklich werden, jeder auf seine Art, jeder nach seinen Vorstellungen vom Glück und nach seinem Vermögen. Und doch kann kaum bestritten werden, dass es ein Streben, ja eine Sucht zum Leiden geben kann. Weil dieses Streben, diese Sucht so rätselhaft, so unergründlich ist, weil jener traditionsreiche Satz vom Glücksbegehren aller Menschen so unumstößlich gewiss zu sein scheint, sind nicht zuletzt moderne Denker, vor allem Freud und Nietzsche, auf den Ausweg verfallen, dass solche rätselhaften Menschen, die nicht das Glück, sondern das Leiden suchen, im Grunde auf ein feineres und höheres Glück aus sind, auf etwas Sublimes, das nur gewonnen werden kann, wenn man zuvor das Leiden gewollt hat und durch es hindurch gegangen ist. Das Leiden an der inneren Unfreiheit scheint zu den menschlichen Leiden zu gehören, die sich einer solchen Möglichkeit der Sublimierung entziehen. Neben jenem alten und traditionsreichen S atz vom Glücksbegehren aller Menschen steht nun aber auch ein anderer Satz. Genauer genommen steht dieser Satz quer zu jenem. Sokrates hat ihn zuerst ausgesprochen: Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun. Zumindest vermag uns dieser Satz zu zeigen, dass Leiden Tun, ja höchstes Tun sein kann, während umgekehrt Tun, immer auch ein Leiden zu sein vermag. Auch das Leiden an der inneren Unfreiheit ist ein Tun, eine Aktivität – ein vielleicht vergeblicher Versuch, sich aus den Fesseln zu lösen, mit denen man sich selbst gebunden hat – oder sich aus den Banden zu befreien, die aus äußerem Anlass sich gewissermaßen von selbst gebildet haben. Sehr viele äußere Unfreiheiten haben beinahe unvermeidlich innere Unfreiheiten zur Folge: Körperliche Behinderungen, langwierige Krankheiten, vor allem, wenn sie irreversibel sind, führen oft und beinahe unvermeidlich seelische Beeinträchtigungen nach sich. Das gleiche gilt im Falle lang anhaltender und zunehmend unerträglich werdender körperlicher Schmerzen. Seelische Beschädigungen können zu irreparablen geistigen Behinderungen werden. In all diesen Fällen entsteht eine gewisse innere Unfreiheit. Dies gilt auch und nicht zuletzt für Konflikte, wenn diese sich von außen nach innen verlagern und zu rein seelischen Konflikten werden. Ein seelischer Konflikt birgt immer die Gefahr einer inneren Unfreiheit in sich. Und diese Gefahr entwickelt sich leicht zu der eines circulus vitiosus, zu einem Teufelskreis, in welchem eine innere Unfreiheit die andere verfestigt. Der Kampf gegen die Gefahr des Verlustes innerer Freiheit kostet wie jeder Kampf seelische Kraft. Ein solcher Kampf macht wie jeder Kampf müde. Wo aber die Möglichkeiten der 174 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

Erholung, der Rekreation fehlen, da wird die Müdigkeit in einem Zustand irreversibler seelischer Erschöpfung enden. Es ist eine Verkürzung der inneren Gegebenheiten der Seelen, wenn hier von einem ökonomischen Prinzip im wörtlichen, und nicht im übertragenen Sinne gesprochen wird. Einer der ältesten Denker Europas sagt: »Mit der Begierde zu kämpfen ist schwer, was sie will, erkauft sie mit Seele«; 1 ein moderner Dichter sagt: »Aber anderen Fehl denket der Menschen Sinn, / Anderen ehernen Dienst übt er und anderes Recht, / Und es fordert die Seele / Tag für Tag der Gebrauch uns ab« ; 2 und eine weitere Stimme in Prosa, die des größten Psychologen unserer Epoche: »Wenn das Ich durch eine psychische Aufgabe von besonderer Schwere in Anspruch genommen ist, zum Beispiel durch eine Trauer, eine großartige Affektunterdrückung, durch die Nötigung, beständig aufsteigende sexuelle Phantasien niederzuhalten, dann verarmt es so sehr an der ihm verfügbaren Energie, dass es seinen Aufwand an vielen Stellen zugleich einschränken muss, wie ein Spekulant, der seine Gelder in seinen Unternehmungen immobilisiert hat«. 3 Mit nochmals anderen Worten: Innere menschliche Freiheit geht auf Kosten innerer menschlicher Freiheit (wenn nicht von außen neue Kräfte zufließen). Innere Unfreiheit ist ein Zustand und eine Form menschlichen Verhaltens, welche den Zufluss solcher neuen seelischen Energien von außen behindert, wenn nicht unmöglich macht. Eine der Hauptquellen zur Erhaltung seelischer Kräfte ist die oben beschriebene psychische Freiheit, jene Fähigkeit des Menschen und deren Aktualisierung, die es vermag zu den vorfindlichen Notwendigkeiten und Unvermeidlichkeiten eine Distanz zu gewinnnen, und zwar durch die Freiheit der Interpretation bestehender Kausalzusammenhänge. Durch diese Freiheit kann der Mensch sich selbst ebenso wohl seelisch belasten wie entlasten. Der Gewissenhafte macht von dieser Freiheit Gebrauch ohne Rücksicht auf seine mögliche Belastung oder indem er die seelische Belastung bewusst in Kauf nimmt. Derjenige, der es mit dem Gewissen nicht so genau nimmt, nutzt diese Freiheit der Deutung kausaler Daten zum Zwecke der Einsparung seelischer Energien. Man kann sagen: Die Gewissenhaften – das sind die Seelisch-Großmütigen, die Gewissenlosen, das sind die Seelisch-Geizigen. Hier muss man al1 2 3

Heraklit, B 85 Hölderlin, Der Abschied S. Freud, Hemmung, Symptom, Angst. Werke VI, 236

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Anthropologie

lerdings erinnern: diese Freiheit der Interpretation kann sich wie jede menschliche Freiheit abnutzen und erschöpfen. Sie kann wie jede dieser Freiheiten korrumpiert und durch den Menschen zerstört werden. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass solche Abnutzungs- und Zerstörungsprozesse oft unbewusst verlaufen, möchte man doch zumindest Spuren eines Bewusstseins und somit Leidensspuren in Rechnung stellen, die sich an solche Vorgänge heften, solange die entsprechende Freiheit noch nicht endgültig zerstört und verloren ist. In diese Phase gehören die Leiden der Gewissenhaften, der Hoffnungslosen und Verzweifelten. Aber wie gesagt: Wo ein solches Bewusstsein und Leiden an der Unfreiheit ist, da ist immer auch zumindest ein Rest von Freiheit. Erst wo die genannte psychische Freiheit endgültig verloren ist, da erstarren beide: Gewissenhaftigkeit und Gewissenlosigkeit. Welche der beiden gänzlich erstarrten Formen der Unfreiheit schlimmere Folgen für die Menschen hat, kann nicht a priori entschieden werden. Mit der beschriebenen psychischen Unfreiheit und dem entsprechenden Leiden an derselben hängt eine andere innere Unfreiheit und somit ein anderes Leiden an der inneren Unfreiheit zusammen, welche das besondere Interesse des philosophischen Psychologen und Anthropologen verdient. Ich meine das rätselhafte Leiden des Menschen an ihm selbst, an seinem eigenen Wesen. »Er kann einfach nicht aus seiner Haut« pflegen wir über einen Dritten zu sagen, an dessen mangelnder Beweglichkeit wir uns im Blick auf unsere eigenen Interessen und Erwartungen stoßen. Dieser Dritte wird vielleicht seinerseits sagen: Ihr müsst mich nehmen – manchmal sagt derselbe »verbrauchen« – wie ich bin. Heute sagen dies merkwürdigerweise nicht nur alte Menschen, sondern auch junge, auch wenn sie für diesen Sachverhalt, den sie ausdrücken wollen, eine andere Sprache, die der jungen Generation benutzen. Aber auch sie wissen um dieses eigentümliche Ungenügen an dem eigenen Wesen und leiden darunter. In diesen Fällen des Leidens sind die Seelsorger verschiedener Couleur schnell zur Stelle mit dem gutgemeinten Ratschlag: »Du musst Dein Wesen annehmen«. Als ob es so leicht wäre, einem solchen Rat zu folgen, wenn man erst einmal mit sich selbst völlig zerfallen ist. Besser wäre vielleicht schon der Ratschlag, den Rilkes Gedichte haben geben wollen: »Du musst dein Leben ändern!«. Aber dieser Ratschlag hat einen vergleichbaren Haken. Denn es gibt sehr viele Menschen, die vermögen weder das eine noch das andere. Sie können ihr Wesen nicht annehmen, weil sie ihr Leben nicht 176 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit

ändern können und sie können ihr Leben nicht ändern, weil sie ihr Wesen nicht annehmen können. Wir wissen – dank Diltheys Forschungen – um die Wirkungsmächtigkeit der stoischen Überlieferung. Für unser Thema können wir dem die Vermutung entnehmen, dass nicht erst der moderne Mensch gelernt hat, mit sich uneins zu sein. Sonst hätten die Stoiker nicht diese Urforderung an den Menschen richten können, er solle in Übereinstimmung mit seinem Wesen leben. Zweifellos besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem von mir aufgestellten Begriff psychischer Freiheit und dieser eigentümlichen Freiheit des Menschen, sein eigenes Wesen in Frage zu stellen (wieweit ihm dieses Wesen auch immer bekannt oder unbekannt sein mag). Insofern liegt es nahe, dass wir oft auch hier für die eine Freiheit den Preis der anderen so nahe verwandten Freiheit zahlen müssen; und dass es dahin kommen kann, dass wir mit der inneren Freiheit zugleich die andere Freiheit verlieren. Doch auch und gerade hier, angesichts der beiden beschriebenen Unfreiheiten und des Leidens an ihnen, tut man gut daran zu unterstreichen: Wo ein Leiden an der Unfreiheit ist, da ist Freiheit – zumindest in dem speziellen Sinne eines Willens zur Freiheit. Und gerade hier, angesichts des beschriebenen Leidens an den beiden Unfreiheiten ist bei aller Würdigung von Hilfsbereitschaft Vorsicht und Behutsamkeit verlangt. Denn hinter dem Leiden an der psychischen Unfreiheit verbirgt sich nicht selten die ethisch-sittliche Freiheit des Menschen und ein Wille zum Guten. Manchmal ist dieser Wille zum Guten so still und sanft, dass ihn niemand bemerkt, weder der, in dem er wirkt, noch der, dem er Gutes will. Insofern besteht die Gefahr, dass mit der Bearbeitung der psychischen Freiheit die sittliche Freiheit beeinträchtigt wird.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Dr. Margrit Egnér-Stiftung

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Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen

Die Geschichte der menschlichen Trägheit bildet nur ein bestimmtes Kapitel innerhalb der großen und komplexen Geschichte, innerhalb deren sich die menschliche Unfreiheit und Freiheit auf eine schwer zu entwirrende Weise immer neu miteinander verflechten. Aber dieses Kapitel – wie klein oder umfangreich auch immer – ist bedeutsam genug, um eine zentrale Stellung in dieser großen Geschichte einzunehmen. In gewissem Sinne stellt es diese Geschichte im ganzen von einem bestimmten Standpunkt aus dar, nämlich aus der Sicht der inneren Unfreiheit des Menschen. Die menschliche Trägheit ist eine der auffälligsten Seiten der Schwierigkeiten, die der Freiheit anhaften. Schwierige Freiheit ist ein wichtiger und beredter Buchtitel und ein zentrales Thema im Denken von Jeanne Hersch. 1 Um diesen Titel in seiner allgemeinsten Bedeutung zu nehmen: Schwierige Freiheit – das ist unsere Schwierigkeit im Umgang mit der Freiheit. Diese Schwierigkeit ist nicht zuerst die, für die Sache der Freiheit den adäquaten philosophischen Begriff und für ihre rätselhafte Gegebenheit eine vernünftige Erklärung zu finden. Die entsprechenden philosophischen Schwierigkeiten sind hier groß genug, um der Rede vom »Wunder der Freiheit« und von der Freiheit als einer »Chiffre« Raum gegeben zu haben, und dies von Seiten philosophischer Denker, die die Vernunft über alles geschätzt haben. Ich denke hier an Immanuel Kant und Karl Jaspers. Eine der Hauptschwierigkeiten unseres Umgangs mit der Freiheit ist die der richtigen Einschätzung unserer eigenen Freiheitsmöglichkeiten. Freiheit ist für den Menschen nie ein bloßes Datum, keine pure Gegebenheit, sondern eine Gabe, die richtig geschätzt und richtig eingeschätzt werden will. Der Mensch hat einen Hang, seinen eigenen Freiheitsraum grundsätzlich verkehrt einzuschätzen, indem er sich, je 1 J. Hersch, G. und A. Dufour, Schwierige Freiheit. Gespräche mit Jeanne Hersch. Einsiedeln (Benziger) 1998

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Von der menschlichen Trägheit

nach Umständen und Gegebenheiten, für unfreier bzw. für freier hält als er in Wahrheit ist. Diese Selbsttäuschung ist keineswegs rein theoretischer Natur. Vielmehr spielen dabei Neigungen und Wünsche eine maßgebliche Rolle: Neigungen zur Durchsetzung eigener Ziele um jeden Preis ebenso wie Bedürfnisse, sich vor sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen. Wenn ich hier von der inneren Unfreiheit handle so nicht, um die äußere Unfreiheit in ihrem Gewicht herabzusetzen. Im Gegenteil. Die äußere Unfreiheit ist für den Menschen kein unabwendbares Schicksal. Viele haben ihre furchtbarsten Seiten so erfahren, dass sie unfähig sind, darüber auch nur zu sprechen. Innere Unfreiheit des Menschen gibt es unter beiden Bedingungen: sowohl unter den Bedingungen äußerer Unfreiheit wie unter denen äußerer Freiheit. Weil die meisten Menschen sich an die äußeren Lebensbedingungen anpassen und weil diese Gewöhnung in der Anpassung im allgemeinen unbewusst erfolgt, wissen sie nicht, wie frei oder unfrei sie eigentlich sind. Wo es darauf ankommt, die Freiheit zu nutzen, halten sie sich für unfrei; und wo es darum geht, sich der Schranken der eigenen Freiheit bewusst zu werden, da wollen sie schrankenlos frei sein. Es ist ein ebenso erstaunliches wie betrübliches Faktum, dass auch die günstigsten äußeren Freiheitsbedingungen nicht hinreichen, den Menschen zu einem innerlich freien Wesen zu machen. Die menschliche Trägheit: dies ist auch ein Kapitel der menschlichen Selbsttäuschung in Sachen der Freiheit oder Unfreiheit. Das bedeutet: Trägheit – wohl verstanden, menschliche Trägheit – ist etwas anderes als nur die physisch-physikalische Schwere, die dem menschlichen Leib aufgrund der allgemeinen körperlichen Schwerkraft anhaftet. Diese Trägheit unterscheidet sich aber auch von Bequemlichkeit und Faulheit, die Menschen einander oft und voreilig vorhalten, wenn die Geschwindigkeit der Aktionen und Reaktionen, der Grad der Impulsivität und Aktivität nicht gewissen Normvorstellungen entspricht. Die Trägheit, die hier gemeint ist, ist aber auch nicht nur die Müdigkeit, die uns am Morgen nicht aufstehen und an einem heißen Mittag in Untätigkeit erschlaffen lässt. Und sie ist auch nicht nur die körperliche Erschöpfung, die die Gliedmaßen schwer und die Bewegungen schwerfällig macht. Alle genannten Phänomene sind Ausdrucksphänomene der hier gemeinten menschlichen Trägheit. Aber diese Trägheit geht nicht in jenen Ausdrucksphänomenen auf. Sie ist immer auch und in erster 179 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Linie eine seelische oder geistige Trägheit, die sich so oder so Ausdruck verschaffen kann. Zum Beispiel kann die vorschnelle Verurteilung der Bequemlichkeit oder Faulheit anderer Menschen eine Sache der Trägheit sein, eine Bequemlichkeit des Urteilens und Verurteilens, die sich nicht die Mühe macht, den Ursachen einer beobachteten Inaktivität und mangelnden Impulsivität nachzugehen. Die meisten unserer geringschätzigen, besserwisserischen Urteile über unsere Mitmenschen beruhen auf einer solchen seelischen oder intellektuellen Bequemlichkeiten. Geistige Trägheit kann in körperlicher Trägheit ihren Ausdruck finden. Aber sie kennt auch die entgegengesetzte Ausdrucksform: die gedankenlose hektische Aktivität und Betriebsamkeit. Die menschliche Trägheit ist eine ausgezeichnete Befindlichkeit, ein Verhältnis zur Freiheit, und zwar ein Verhältnis, in welchem der Mensch dem Wesen der Freiheit nicht entspricht. Die Trägheit, von der hier die Rede ist, ist eine Form innerer Unfreiheit, wenn nicht die innere Unfreiheit selbst. Sie ist eine Unfreiheit, die die Möglichkeit der Freiheit allerdings nicht ausschließt. Wenn hier die menschliche Trägheit als eine Form der inneren Unfreiheit des Menschen zum Thema gemacht wird, so geschieht dies gemäß der methodischen Maxime, der zufolge der Mensch den Wert der wahren Güter am ehesten zu schätzen weiß, wenn er sie entbehren muss, und der zufolge dieses Verhältnis auch auf die Erkenntnis abfärbt. So wie wir an den Phänomenen der Krankheit ablesen, was Gesundheit ist und sein kann, so auch an den Phänomenen der Unfreiheit das Eigentümliche und den Wert der Freiheit. Von der menschlichen Trägheit haben schon die Kirchenväter gehandelt. Sie steht unter dem Namen der acedia im Zentrum der ethischen Analysen der großen Denker des Mittelalters, insbesondere des Bonaventura und des Thomas von Aquin. Sie ist diesen Denkern ein Hauptlaster, eine Sünde, ja eine Todsünde, entspringend aus einer Abkehr des Menschen vom höchsten Gut. Es ist schwer, für den lateinischen Ausdruck der acedia ein befriedigendes Äquivalent in der deutschen Sprache zu finden. In den Übersetzungen der Summa Theologica des Thomas von Aquin habe ich unter anderem die Ausdrücke »Überdruss« und »Wirkscheu« gefunden. 2 Diese beiden Ausdrücke akzentuieren unterschiedliche Seiten ein- und derselben menschlichen Fehlhaltung. Was über diese acedia gesagt wird, ist unmittelbar verständlich auch ohne die spezifischen theologischen Prämissen, an die die Erörte2

Thomas von Aquin, S. Th. II, 2, quaest. 35

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Von der menschlichen Trägheit

rung jener Sünde gebunden ist. Diese acedia – Überdruss oder Wirkscheu oder Trägheit – ist offensichtlich zunächst innerhalb der monastischen Ethik thematisch geworden. Hier ist die Trägheit, die große Müdigkeit, die den Mönch in der Stunde der größten Mittagshitze überfällt und ihm durch mancherlei Anfechtungen zu schaffen macht. Für Bonaventura und Thomas sind Trägheit und Müdigkeit unmittelbare Begleiterscheinungen der sündhaften Abkehr von Gott und der Zuwendung zu den falschen und trügerischen irdischen Gütern. In der falschen Zuwendung zu diesen entspringen Traurigkeit (tristitia) und Überdruss bzw. Ekel (taedium), die bis zur Lähmung gehen können, ferner Verzweiflung und Selbsthass, die den Menschen in den Selbstmord treiben. Man soll sich in der Philosophie nie, und in den Sachen der Ethik schon gar nicht, allein von den Worten, sondern von den ihnen entsprechenden Gegenständen leiten lassen. Und gerade in diesem Bereich ist es geboten, nicht nur subtile Unterscheidungen anzumelden, sondern auch Zusammenhänge hervorzuheben. Deswegen mag es mir erlaubt sein, in dieser kleinen Skizze den Ort zu bezeichnen, wo die Trägheit ihren Platz in der ausgezeichneten modernen Ethik zu finden hätte. Ich meine ihren möglichen Ort in der Ethik Kants, wo sie dem Namen nach nicht vorkommt. Zu den wichtigsten Gedanken dieser neuzeitlichen Ethik gehört der einer wesentlichen Verknüpfung des guten Willens mit einem entsprechenden Wissen a priori um ein Können. Kant schildert den Fall einer Erpressung, einer Lebensbedrohung durch die staatliche Gewalt zur Erzwingung einer unsittlichen Handlung: »Fragt einen Mann, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe zumute, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter einem scheinbaren Vorwande verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde oder nicht, wird er vielleicht nicht sich getrauen zu versichern; dass es ihm aber möglich sei, muss er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, dass er etwas kann, darum, weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« 3 Diesen konsumtiven Zusammenhang zwischen Sollen und Können, zwischen dem Vermögen der Sittlichkeit und dem physischen Ver3

I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (= KpV) A 54

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mögen des Menschen hat Kant in allgemeiner Form einige Seiten weiter so formuliert: »Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit, der empirisch-bedingten Glückseligkeit nur selten und bei weitem nicht, auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht für jedermann möglich.« 4 Diesen ungeheuren sittlichen Anspruch, dass der Mensch immer auch kann, was er unbedingt soll und dass er im Grunde weiß, dass er immer das zu tun vermag, was die unbedingte Pflicht gebietet, scheint einige Seiten weiter in dem genannten Text abgeschwächt, wo Kant einen Unterschied macht zwischen dem möglichen Primat der Materie und der Form als jeweiligen Bestimmungsgründen des menschlichen vernünftigen Willens: »Wenn das Objekt als der Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens angenommen wird, so muss die physische Möglichkeit desselben durch freien Gebrauch unserer Kräfte vor der Beurteilung, ob es ein Gegenstand der praktischen Vernunft sei oder nicht, vorangehen. Dagegen, wenn das Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund der Handlung, mithin diese als durch reine praktische Vernunft bestimmt betrachtet werden kann, so ist das Urteil, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei oder nicht, von der Vergleichung mit unserem physischen Vermögen ganz unabhängig, und die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objektes gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre.« 5 Zwischen diesen Äußerungen Kants besteht – entgegen dem ersten Anschein – kein Widerspruch. Wo unser Begehren und Wollen auf die Güter des Lebens gerichtet ist, auf das Angenehme und Nützliche, und wo wir bemüht sind, dem Unangenehmen und Schädlichen aus dem Wege zu gehen – kurzum, wo wir uns in unserem Wollen durch äußere Güter bestimmen lassen, da werden wir immer zunächst prüfen, wieweit unser physisches Vermögen hinsichtlich unserer Bestrebungen reicht. Dies gilt auch dann, wenn wir in der Erlangung des Angenehmen und in der Vermeidung des Unangenehmen nicht nur mit Geschicklichkeit, sondern mit Klugheit verfahren und bei all diesen Bestrebungen immer das Lebensglück als Ganzes im Auge haben. Ganz anders steht es, wenn wir uns von dem unbedingt Gebotenen und dem unbedingt Unerlaubten in unserem Verhalten leiten lassen, also bewusst dem kategorischen Imperativ folgen. In diesem 4 5

Ebd. A 65 Ebd. A 101

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Von der menschlichen Trägheit

Falle sehen wir uns – Kant zufolge – immer im Besitz eines Wissens a priori, das uns sagt: Du kannst, weil du sollst; oder in einer abgeschwächten Form: Kümmere dich nicht darum, ob du kannst, was du sollst oder nicht, sondern tue es, und du wirst sehen, ob du es gekonnt hast. Man möchte zunächst meinen, dass der Trägheit in dem hier gesuchten und erörterten Sinne in Kants praktischer Philosophie keine, zumindest keine zentrale Bedeutung zukommt, auch wenn man dies angesichts des berüchtigten Kantischen Methodenrigorismus vielleicht bedauert. Trägheit scheint hier allenfalls eine Sache zu sein, die das physische Vermögen des Menschen betrifft. Sie wäre, so gesehen, eine gewisse Unfähigkeit in der Bemühung um das Angenehme und in der Vermeidung des Unangenehmen, vielleicht eine Unfähigkeit in dem Bestreben glücklich zu sein, mit all den Konsequenzen, die wir aus der mittelalterlichen Analyse der acedia kennen: Traurigkeit, Melancholie, Depressivität, Überdruss am Leben, Verzweiflung. Aber Kants Erörterung des Verhältnisses von Sollen und Können lässt durchaus auch Raum für eine andere Ortsbestimmung der Trägheit. Diese wäre die Trägheit in Sachen einer wesentlichen Wahrheitserkenntnis; eine tief greifende Blindheit und Verkennung des wahren Verhältnisses des Menschen als Vernunftwesen zur Freiheit. Diese Trägheit wäre die Verkennung der prinzipiellen Unabhängigkeit der praktischen Erkenntnis des Guten vom Wissen um das jeweilige physische Vermögen, bzw. eine Verkennung der hier waltenden Prioritäten: dass nämlich die Freiheit des Willens gebietet, dass die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen immer und notwendig der Unterscheidung zwischen dem Angenehmen und dem Unangenehmen, zwischen dem Nützlichen und dem Schädlichen vorangehen muss (wenn Freiheit des Willens soll sein können). Diese Ortsbestimmung der Trägheit mag zugleich als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass Kants Bestimmung des Verhältnisses von Sollen und Können wegen der rigorosen Trennung von Eudaimonie und Sittlichkeit unbefriedigend bleibt. Ich möchte schließlich auf eine dritte Quelle meines Themas über die menschliche Trägheit zu sprechen kommen; auf eine eher okkasionelle Quelle vom Standpunkt der professionellen Philosophie aus betrachtet, aber eine umso beredtere. Ein Dichter und Schriftsteller, in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts wohl bekannt und heute kaum noch gelesen, Jakob Wassermann, hat einem seiner bekanntesten Romane, dem Caspar Hauser, den Untertitel gegeben Oder über die 183 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Trägheit des Herzens. In seiner autobiographischen Skizze 6 hat er diesen Untertitel und mit ihm die eigentliche Romanabsicht in der folgenden Weise erläutert: »Die Idee des Caspar Hauser war zu zeigen, wie Menschen aller Grade der Entwicklung des Gemütes und des Geistes, vom rohesten bis zum verfeinertsten Typus, der zwecksüchtige Streber wie der philosophische Kopf, der servile Augendiener wie der Apostel der Humanität, der bezahlte Scherge wie der besserungssüchtige Pädagoge, das sinnlich-erglühte Weib wie der echte Repräsentant der irdischen Gerechtigkeit – wie sie alle vollkommen stumpf und vollkommen hilflos dem Phänomen der Unschuld gegenüberstehen, wie sie nicht zu fassen vermögen, dass etwas dergleichen überhaupt auf Erden wandelt, wie sie ihm ihre unreinen oder durch den Willen getrübten Absichten unterschieben, es zum Werkzeug ihrer Ränke und Prinzipien machen, dieses oder jenes Gesetz mit ihm erhärten, dieses oder jenes Geschehen an ihm darlegen wollen, aber nie es selbst gewahren, das, einzige„ einmalige Bild der Gottheit, sondern das Hohe, Zarte, Traumhafte seines Wesens besudeln, sich vordringlich und schänderich an ihm vergreifen und schließlich morden. Der zuletzt den Stahl führt, ist nur ausübendes Organ; gemordet hat ihn jeder auf seine Weise: die Liebenden so gut wie die Hassenden, die Lehrenden wie die Verklärenden; die ganze Welt ist an ihm zum Mörder geworden.« Caspar Hauser – das ist demnach die leibhaftige, Gestalt gewordene, von allen verkannte und missbrauchte und misshandelte Unschuld, eine Symbolfigur der absoluten Minorität, wenn es wahr ist, dass Unschuld ebenso kostbar wie selten ist. Mir geht es hier nicht um Kritik und Würdigung eines literarischen Werkes. Auch dies ist nicht meine erste Frage, ob der Autor gut daran getan habe, sich die legendäre Gestalt des Caspar Hauser zur großen Metapher für das Sein der Unschuld zu wählen. Und auch darum kann es nicht gehen, die Frage aufzuwerfen, ob es dies überhaupt gebe und geben könne, die reine Unschuld auf Erden unter den Menschen. Denn es genügt, dass es dies gibt: dass ein Mensch dem anderen im Stand der Unschuld gegenübertritt, um von diesem verkannt zu werden. Wenn es eine kritische Frage gegenüber Wassermanns Roman gibt, so am ehesten die, ob hier nicht vielleicht mit einem zu bitteren, einem zu bösen Blick auf das menschliche Treiben geschaut werde. Was der Inhalt des Romans angesichts seines Untertitels »Trägheit des Her6

J. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin 1921.

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zens« zeigt, ist das folgende: Die Trägheit des Herzens, die acedia, ist nicht nur eine Abkehr vom wahren und höchsten Gut, nicht nur eine Verkennung und Verdeckung der ursprünglichen Idee der menschlichen Freiheit. Sie ist auch und vor allem Blindheit und Unverständnis, eine falsche Einstellung und ein abgründiges Versagen im Angesicht der wahren Unschuld des anderen. Von der Trägheit des menschlichen Herzens angemessen zu handeln, würde verlangen, dem einen Zusammenhang zwischen jenen drei Fehlhaltungen und verkehrten Verhaltensweisen nachzugehen. Man mag in Wassermanns Roman einen gewissen konstruktiven Zug in der Darstellung des Romangeschehens kritisieren. Aber diese Schwäche ist auch eine Stärke. Denn die Konstruktion gibt, dem philosophischen Begriff vergleichbar, eine Einsicht in die hier thematische menschliche Untugend, um im Hinblick auf diese starke Ausdrücke wie die des Lasters und der Sünde zunächst zurückzuhalten. Alles dreht sich im Romangeschehen des Caspar Hauser um den Titelhelden, der ein Anti-Held ist. Alle anderen Romanfiguren sind in ihrem Sinnen und Trachten auf diese Hauptperson ausgerichtet, ja geradezu fixiert. Alle sind mit dieser Person ständig innerlich oder äußerlich beschäftigt. Bemerkenswert ist dabei zunächst dies: Trägheit des Herzens ist hier offenkundig nicht bzw. nicht nur Untätigkeit und fehlende Hilfsbereitschaft. Eher scheint im Romangeschehen die gegenteilige Einstellung unter den Menschen zu herrschen. Es gibt eine große Geschäftigkeit um den jungen geheimnisumwobenen Menschen. Alle drängen zu ihm hin, alle wollen ihn sehen, mit ihm – wie auch immer – zu tun haben. Dabei zeigt sich keineswegs nur aufdringliche Neugierde, sondern auch echtes Bemühen und Mitleid. Neben zahlreichen größeren und kleineren Gemeinheiten gibt es auch Zeichen echter Zuneigung und Liebe. Wassermann hat gut daran getan, uns die Trägheit des Herzens nicht nur in Gestalt von Schurken und Bösewichten zu zeigen. Die Menschen sind hier wie sie sind; und doch lastet eine Atmosphäre über dem Ganzen, das Schlimmes und Böses ahnen lässt, das bevorsteht. Wäre Trägheit des Herzens dies und nur dies: Müdigkeit und Schwermut, Apathie und Hilflosigkeit, die eigenen Gefühle zu zeigen und zu gestalten, so wäre jene menschliche Untugend eher auf der Seite der Unschuld als auf der Seite derer zu finden, die sich an der Unschuld vergehen. Deswegen zeigt uns der Roman mit dem Untertitel »Trägheit des Herzens« das damit benannte Phänomen in der Erscheinungsform der allgemeinen menschlichen Betriebsamkeit. Wir finden hier so etwas wie eine Phänomenologie der guten Absicht. Gute 185 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Absichten sind gut gemeinte Absichten. In jeder Absicht, die wir verfolgen, steckt immer zumindest eine Meinung und zumindest immer auch eine gute Meinung. Gutgemeinte Absicht – das heißt: Wir glauben, dass wir es bei unseren Absichten, die wir gegenüber anderen verfolgen, immer gut meinen. Wir meinen es überhaupt gut, und wir meinen es vor allem gut mit den anderen und mit den anderen, denen unsere guten Absichten gelten. Im Grunde meinen wir es immer gut – jedenfalls sind wir dieser Meinung. Die Phänomenologie der guten Absichten zeigt die Menschen, wie sie sind. Die meisten sind nicht schlechthin böse, sondern nur manchmal, in besonderen Situationen. Die Menschen mit den wahrhaft schlechten und bösen Absichten halten sich verborgen. Ihre bösen Absichten kommen aus dem Dunkeln, sie entspringen aus schwer durchschaubaren Zusammenhängen. Das Schicksal der gut gemeinten Absichten aber lässt sich leichter verfolgen. Diese gehen keineswegs alle in die gleiche Richtung, auch dann nicht, wenn sie ein- und demselben Menschen gelten. Sie ziehen nicht alle am gleichen Strang, wie man bei guten Absichten eigentlich hoffen sollte. Die gut gemeinten Absichten kreuzen sich und wollen sich teilweise durchkreuzen. Sie konkurrieren und rivalisieren untereinander. Selbst so gut gemeinte Absichten wie die des Bemühens um persönliches Interesse und Gewogenheit fallen schließlich unter die Gesetzmäßigkeiten der Rivalität. Es kommt so weit, dass die gut gemeinten Absichten sich untereinander bekämpfen und bekriegen, obwohl sie angeblich alle nur das Beste für ein- und dieselbe Person wollen. In diesem Kampf der gut gemeinten Absichten kommt schließlich etwas Allgemeines, etwas Allgemein-Menschliches zum Vorschein, nämlich, dass die meisten, wenn nicht alle Menschen bei ihren gut gemeinten Absichten nur ihr eigenes Interesse und bei ihrer guten Meinung nur die gute Meinung von ihnen selbst im Auge haben. Das vorzügliche Interesse der Phänomenologie der gut gemeinten Absichten gilt dabei weniger dem menschlichen Eigeninteresse als solchem als vielmehr dem Eigeninteresse an der guten Meinung von ihnen selbst. Den meisten Menschen ist es sehr wichtig, dass sie gut von ihnen selbst denken können. So gesehen ist die Phänomenologie der gut gemeinten Absichten eine Phänomenologie des guten Gewissens, des Willens zum eigenen guten Gewissen. Dabei zeigt sich aber sehr schnell, dass dieser Wille und seine Verwirklichung den Menschen nicht glücklich machen können. Denn den Willen zum guten Gewissen haben viele; und der Kampf unter den verschiedenen gut gemeinten 186 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Von der menschlichen Trägheit

Absichten zeigt über kurz oder lang, was es mit den gut gemeinten Absichten unter Umständen und in Wahrheit auf sich hat: dass sie nämlich nicht so gut sind, wie sie vorgeben zu sein; nicht so gut, wie sie gemeint sind. Es muss den Menschen nicht ausdrücklich von anderen gesagt werden, was es mit ihren gut gemeinten Absichten auf sich hat. Der Mensch kann ohne eine solche Äußerung von Seiten anderer diese Erfahrung machen, wenn er nur will. In der Regel reagieren Menschen gekränkt, wenn ihnen ihre gut gemeinten Absichten nicht anerkannt werden und wenn das Gut-Gemeinte in diesen Absichten nicht gewürdigt wird. Das Gekränktsein ist eine beinahe unvermeidliche Folge der Bloßstellung gut gemeinter Absichten. Durch sein Gekränktsein kommt der Mensch einer möglichen Beschämung zuvor. Mittels seines Gekränktseins bekämpft er die mögliche eigene Scham. Es gibt wenige Werke der Romanliteratur, in denen man ein solches Gewimmel von Gekränkten antrifft wie in Wassermanns Roman. Die Phänomenologie der gut gemeinten Absichten und des Strebens nach einem guten Gewissen findet ihre Fortsetzung in einer Phänomenologie des Gekränktseins. Aber die Geschichte der gut gemeinten Absicht findet nicht im Gekränktsein ihren Abschluss. Man ist versucht zu sagen: Nun beginnt diese Geschichte erst eigentlich, denn die Gekränkten sind in ihrem Gekränktsein ebenso wenig glücklich, wie es die Beschämten sind. Der Kampf zwischen den gutgemeinten Absichten setzt sich fort als Kampf der Gekränkten und der Kränkungen. Dieser Kampf der Gekränkten und der Kränkungen ist ein Kampf der eigenen gut gemeinten Absichten gegen die gut gemeinten Absichten der anderen. Aber in diesem Kampf gibt es keine Schuldigen, sondern nur Zuweisungen von Schuld und entsprechende Zurückweisungen. Im Grunde bestehen hier alle auf ihrem guten Recht auf ein gutes Gewissen. Insofern muss es geradezu erleichternd wirken, wenn jemand gefunden werden kann, der außerhalb dieses Kampfes um das gute Gewissen steht und dem es gar nicht eigentlich um ein solches Gewissen geht. Dass der Unschuldige am Ende das Opfer böser Absichten und nackter Gewalt wird, erscheint hier nur als der okkasionelle Schlusspunkt einer allgemeinen Bemühung, jemanden zu finden, auf den die Schuld übertragen werden kann, die keinen Ort im Bereich der Bemühung um ein gutes Gewissen hat. Viele werden die hier skizzierte Phänomenologie der gut gemeinten Absichten, für die ich mich auf Wassermanns Roman Caspar Hauser und seinen Untertitel berufe, als allzu kritisch und misanthropisch 187 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

empfinden. Viele werden daran eine gewisse Ungerechtigkeit gegenüber dem Gut-Gemeinten heraushören und den Mangel an freundlichwohlwollendem Blick beklagen. Sie werden eine gerechtere Würdigung der guten Absichten fordern, insbesondere angesichts guter Absichten, die wahrhaft gut sind. Einer solchen Kritik ist allerdings entgegenzuhalten, dass Dichtung und Philosophie ein gutes Recht auf unbequeme und unmissverständliche und schonungslose Darstellung der Wahrheit haben. Wassermanns Roman gibt uns eine solche schonungslose Darstellung des menschlichen Herzens, deren einseitige Stilisierung nicht verkannt werden soll. Der Leser wird Zeuge, wie alle gut gemeinten und weniger gut gemeinten Absichten sich allmählich zum Unglück für die Unschuld und zu deren gewaltsamen Untergang verbinden. Woher kommt diese fürchterliche menschliche Untugend? Woraus entspringt dieses Laster der Selbstbezüglichkeit und der Kälte des Herzens? Was ist es, was diesen Menschen trägen Herzens eigentlich ermangelt? Wir können nie hoffen, den Abgrund der menschlichen Seele gänzlich zu erhellen, weder im Guten noch im Schlechten, weder im Allgemeinen noch im Einzelnen. Aber es bleibt wahr, dass wir die Ursprünge jener Trägheit an den bezeichneten Orten und in den angegebenen Gründen zu suchen haben: in der Abkehr vom wahren und höchsten Gut, in der Verfälschung und Verkehrung des Wesens der menschlichen Freiheit und in der Blindheit und im Versagen gegenüber der Unschuld. Trägheit des Herzens ist ein Mangel an innerer Freiheit. Nicht von ungefähr zeigt uns der Roman die Menschen tragen Herzens im Vollbesitz ihrer äußeren Kräfte. Wir sehen niemanden, der da in seinen äußeren Freiheiten wesentlich eingeschränkt wäre. Und doch lastet auf all diesen Menschen in ihrer Betriebsamkeit angesichts der Unschuld etwas Zwanghaftes und Unfreies. Vielleicht liegt dies daran, dass sie – dies würde sich aus Kants kritischer Analyse ergeben – zu sehr mit ihrem eigenen Gut-Sein und zu wenig mit dem Guten beschäftigt sind. Was fehlt diesen Menschen, bei denen selbst Liebe und Zuneigung in der Kälte und Gleichgültigkeit verharren oder allzu schnell in diese Zustände zurückfallen? Man ist versucht zu sagen: Es fehlt ihnen, wenn nicht alles, so das Wichtigste. Karl Jaspers hat in seiner Psychologie der Weltanschauungen dem Enthusiasmus ein bedeutendes Kapitel gewidmet. 7 Gewiss: Es gibt angesichts der Trägheit 7

K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919, 3 1925, S. 117 ff.

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Von der menschlichen Trägheit

des Herzens noch Wichtigeres als den Enthusiasmus, dieses Feuer des Herzens, welches den Menschen über sein eigenes Ich hinaus zum anderen seiner selbst bringt. Und gewiss ist der Enthusiasmus allzu oft ein gefährliches Feuer, mit dem die Menschen spielen und das die Menschen zu dem Verkehrten und Unwahren fortreißt. Allzu oft ist es das Feuer dieses Enthusiasmus, das den Menschen mit Blindheit und Uneinsichtigkeit schlägt. Aber wäre der Enthusiasmus eine Begeisterung für das höchste Gut, für die wahre äußere und innere Freiheit des Menschen, eine Begeisterung für seinen unschuldigen Nächsten und Nachbarn, so würden die Menschen nicht so sehr trägen Herzens sein.

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Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität

1. Als vor 350 Jahren Spinoza auf Descartes’ Leidenschaften der Seele (Les Passions de l’Ame) mit einer höchst differenzierten Kritik in seiner Affektenlehre im Kontext seiner großen Ethik antwortete, da durften die beiden großen Metaphysiker der Neuzeit den durchaus berechtigten Anspruch erheben, auf dem benannten Gebiet der philosophischen Anthropologie wissenschaftliches Neuland betreten zu haben. 1 Der hier wie dort erhobene Anspruch war der einer philosophischen Erkenntnis, die den Maßstäben der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft genügt. Die Wissenschaftslehre der Antike und ihre Fortwirkung im Mittelalter war nunmehr für unzulänglich erachtet. Und vor allem konnte die Darstellung der menschlichen Leidenschaften und Affekte im ausschließlichen Kontext der Ethik und der Rhetorik den philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch der neuzeitlichen Metaphysik nicht befriedigen. Bei Spinoza findet sich der antirhetorische Grundzug seiner Affektenlehre besonders hervorgehoben, wenn er für diesen Erkenntnisbereich eine Gesetzmäßigkeit der Natur einfordert, die von vergleichbarer Notwendigkeit und Beweiskraft ist wie die, die den Lehrsätzen der Geometrie eignet, welche die Grundlagen der Naturwissenschaft bilden. 2 Darüber hinaus aber war sich Spinoza mit Descartes darin einig, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnis des emotionalen Seelenlebens des Menschen kein Selbstzweck war, dass diese Erkenntnis vielmehr allererst eine gesicherte Grundlage für eine philosophische Ethik zu geben vermochte. FinVgl. René Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Artikel 1; Spinoza, Ethik, IV. Vgl. Reiner Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. In: Ders., Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays. Frankfurt am Main 1996, S. 277–332. [In diesem Band S. XXX]

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Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

den wir in der aristotelischen Tradition den Ort für die Nähe der Affekte zu den Tugenden und Untugenden in der Ethik, so wird dieser systematische Ort von Descartes und Spinoza in die Metaphysik, in die ursprüngliche philosophische Erkenntnis von Gott, Welt und Mensch verlagert. Die eingehende Kritik, die Spinoza an der cartesischen Lehre von den Leidenschaften der Seele geübt hat, nimmt in ihrer Begründung das Ganze der wichtigsten metaphysischen Theoreme in Anspruch: die philosophisch-wissenschaftliche Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt, die grundlegenden Theoreme über die Stellung des Menschen in jener Verhältnisbestimmung, zentrale Aussagen über die psychosomatische Konstitution des Menschen und seiner Erkenntnisfähigkeiten und schließlich die Einordnung des affektbestimmten Lebens in diese Fähigkeiten. Anders als die theologische Grundlegung der Ethik Spinozas, die vor allem in der Geschichte des deutschen Idealismus eine nachhaltige Wirkung entfaltet hat, hat sich seine Affektenlehre im Verlauf des 19. Jahrhunderts Schritt um Schritt von ihren theologisch-kosmologischen Grundlagen gelöst und sich zu einem Kernstück philosophischer Anthropologie ausgebildet. Es ist diese Anthropologie, nicht zuletzt dank der Wirklichkeitsnähe ihrer Affektenlehre, durch die der Denker Spinoza in jener Epoche gleichrangig neben Kant, den Begründer der kritischen Transzendentalphilosophie, getreten ist. Dabei erweist sich jene Affektenlehre als Kernstück einer Psychosomatik, d. i. einer Theorie der leiblich-seelischen Konstitution des Menschen. Die Affekte sind hier als elementare psychosomatische Entitäten betrachtet, die eine spezifische Eigendynamik entfalten und die aufgrund dieser Dynamik wichtige Einblicke in die gesamte psychophysische Verfassung des Menschen ermöglichen. Im Kontext dieser Entwicklung der Affektenlehre hat die groß angelegte metaphysische Kritik Spinozas an Descartes sich auf ein Problem konzentriert, welches zumindest auf den ersten Blick als ein Spezialproblem erscheint, an dem sich die moderne empirische Forschung der Biologie und der Psychologie abarbeiten und bewähren kann. Es ist jenes berühmte Problem, ob angesichts der dualen Zusammengehörigkeit von Leib und Seele eine kausale Wechselwirkung zwischen den beiden Grundkomponenten dieser Zusammengehörigkeitsbeziehung angenommen und als solche Gegenstand der Forschung werden kann, oder ob der vorausgesetzte ontologische und empirisch verstehbare Dualismus von Leib und Seele zu der Annahme zweier unterschiedlicher Kausalitäten, 191 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

einer physischen und einer psychischen Kausalität, zwingt sowie zur Annahme eines entsprechenden Dualismus von Kausalitäten, der allenfalls bestimmte Relationen der Zuordnung im Blick auf einen Parallelismus jener Reihen zulässt. 3 Bekanntlich hat Descartes die erstere, Spinoza die letztere Auffassung vertreten. Die Erfahrungen, die der Mensch in seinem common sense mit seiner eigenen psychosomatischen Konstitution macht, sprechen bald zugunsten der einen, bald zugunsten der anderen Auffassung. Dabei spielen aber unreflektierte metaphysische Voraussetzungen keine unerhebliche Rolle. Was die Auseinandersetzung des Spinoza mit Descartes über jenes scheinbar hochspezielle Problem der psychophysischen Kausalität so lehrreich macht, das sind eben jene unterschiedlichen Prämissen, die in die entgegen gesetzte Beantwortung jener durch die Problemstellung aufgeworfenen Frage eingehen. Dabei ist es nicht nur die Frage, wie viel wir vom menschlichen Leib und von der menschlichen Seele wissen, und nicht nur die Frage, ob dieses Wissen ausreicht, das benannte Problem in der einen oder in der anderen Richtung aufzulösen. Es geht auch und nicht zuletzt um die Frage nach den Grenzen unseres Wissens, um die Frage, in welcher Richtung wir überhaupt eine Antwort auf die Frage nach der psychosomatischen Verfassung des Menschen suchen wollen. Spinozas Kritik an der cartesischen Lehre von den Leidenschaften der Seele ist von besonderer Aktualität durch ihren grundsätzlichen methodischen Charakter. 4 Diese methodische Kritik besagt zum einen, dass wir über den menschlichen Körper nicht die zureichenden Erkenntnisse besitzen, um so weit reichende Folgerungen einer empirischen Theorie ziehen zu können, welche die Möglichkeit einer psychophysischen kausalen Wechselwirkung zu erklären beansprucht und die an einer solchen Möglichkeit die Bedingungen einer möglichen philosophischen Ethik ableiten zu können glaubt. Wichtiger aber noch ist ein zweites Argument: Der von Descartes vorausgesetzte Zusammenhang zwischen unserem allgemeinen Wissen vom körperlichen Sein und dem spezifischen Wissen um bestimmte psychosomatische GrundAus der umfangreichen Literatur zu dieser Thematik sei hier nur auf eine der jüngeren und prominentesten Arbeiten verwiesen: Karl R. Popper / John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn. München/Zürich 8 1989, S. 220 ff. 4 Vgl. Reiner Wiehl, Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. A. a. O., S. 286 ff. [in diesem Band S. 71 ff.] 3

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Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

beziehungen setzt allgemeine logisch-ontologische Prämissen voraus, die ungeprüft in die Lehre von den menschlichen Passionen eingehen. Spinozas Kritik richtet sich hier in erster Linie gegen die logischontologische und anthropologische Prämisse eines freien Willens. Spinoza ist einem verbreiteten, vor allem von Jacobi und dem deutschen Idealismus propagierten Missverständnis entgegen nicht der Leugner der Freiheit und der Möglichkeit menschlicher Freiheit. Die Pointe seiner Kritik an der cartesischen Annahme eines freien menschlichen Willens ist vielmehr die, dass diese Annahme der elementaren Bestimmung menschlicher Emotionalität ebenso widerstreitet wie der wahren Idee der Freiheit und der Möglichkeit menschlicher Freiheit. Der menschliche Wille ist aus Sicht Spinozas als eine Gestalt menschlicher affektiver Bestimmtheit zu begreifen, als eine Gegebenheit, die wie alle natürlichen Gegebenheiten in einem kausalen Kontext steht und eine spezifische kausale Beziehung darstellt. 5 Das wichtigste anticartesische Argument, welches Spinoza gegen die cartesische Lehre von den Leidenschaften der Seele ins Feld führt, besteht aber nicht in dem erwähnten Rekurs auf unser begrenztes Wissen um die menschliche Körpernatur. Dieses Argument besagt vielmehr in seiner positiven Bedeutung: Wir haben an diesem begrenzten Wissen genug, um unser affektbestimmtes Leben zu einem an der Norm und an den Geboten der Ethik ausgerichteten Leben zu machen. Hierzu bedarf es keiner objektiven empirischen Wissenschaft, sondern der persönlichen Einsicht des einzelnen Menschen in die gesetzmäßige Ordnung, die sich in den Gegebenheiten der Erfahrung und des Umgangs mit den eigenen Affekten und den Affekten der Mitmenschen entdecken lassen. So gesehen liegt in Spinozas Ethik auch in diesem Punkte im Gegensatz zu dem genauso verbreiteten wirkungsgeschichtlichen Missverständnis nicht eine Schwächung, sondern eine Stärkung der menschlichen Subjektivität in ihrer ontologischen und anthropologischen Bedeutung. Wo Descartes die Subjektivität als Prinzip der Gewissheit einführt (ego cogito), setzt Spinoza an den Anfang das Grundprinzip der Wahrheit: ego intelligo. 6 Hinter dieser terminologischen Differenz im Anfang des Philosophierens steht nicht nur die methodische Kritik Spinozas am Zweifelsverfahren des Descartes im Rahmen der Induktion, der zufolge ein me5 6

Vgl. Spinoza, Ethik, V. Mit dieser Formel beginnen bekanntlich alle Definitionen in Spinozas Ethik.

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Anthropologie

thodisches Verfahren zwecks Gewinnung von untrüglichen Gewissheiten wahre Ideen impliziert, ohne die das gesuchte Erkenntnisziel nicht zu erreichen ist. Darüber hinaus ist das ego intelligo nicht das Erkenntnissubjekt objektiver naturwissenschaftlicher Erkenntnis, nicht das Ego eines Neurobiologen, sondern das Ich eines jeden Menschen, der im Bemühen, die Tiefenstruktur des allgemeinen menschlichen Verhaltens in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erschließen, einen Schlüssel für den richtigen Lebensweg finden kann. Anders als die cogitatio ist der Intellekt des Menschen der privilegierte Ort wahrer Ideen, woher auch immer er in ihren Besitz gelangt sein mag, und die höchste Instanz metaphysischer Erkenntnis, d. i. der Erkenntnis des umfassenden Ganzen, in dem sich ein absolut Übermenschliches und ein Unendliches (Gott, Welt und Mensch) Ausdruck verschaffen. Insbesondere ist der menschliche Intellekt die ausgezeichnete Erkenntnisinstanz, um den Menschen seiner allgemeinen Bestimmung nach zu erkennen. Für die Lehre von den Affekten und deren ethische Relevanz ist diese Grundbeziehung des ego intelligo zur Bestimmung des Menschen von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist dies die ebenso theoretische wie praktische Selbsterkenntnis des Menschen. Dieser Selbsterkenntnis zufolge ist der Mensch seiner allgemeinsten Bestimmung nach als Denken begriffen. »Der Mensch denkt« ist ein Axiom, eine Grundannahme, an deren Wahrheit das Ich des menschlichen Intellekts keinen Zweifel haben kann, weil intellectus und cogitatio einen zweifelsfreien Bezug der Grundbeziehung darstellen. Worauf es hier ankommt, ist die an das genannte Axiom geknüpfte anschließende axiomatische Feststellung: Modi des Denkens wie Liebe, Begierde oder was sonst noch mit dem Ausdruck der Gemütsaffekte (nomine affectus animi) bezeichnet wird, gibt es nur, wenn es in demselben Individuum eine Idee des Geliebten, des Begehrten gibt. 7 Hier und im Folgenden zeigen sich wichtige Züge der spinozanischen Affektenlehre, deren aktuelle Relevanz über den historischen Kontext der Auseinandersetzung mit Descartes und den Kontext der traditionellen rationalen Metaphysik der frühen Neuzeit weit hinausreicht. Die Affekte sind ihrer axiomatischen Bestimmung als Modi des Denkens zufolge nicht nur psychodynamische Entitäten von unterschiedlicher Komplexität, nicht nur psychosomatische Zustände, die in ständiger Veränderung begriffen sind: Veränderungen der Intensität, Verände7

Vgl. Spinoza, Ethik, V, Ax. 2 u. 3.

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Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

rungen in der Verbindung mit anderen emotionalen Zuständen und Veränderungen in der Dauer der jeweils bestehenden Emotionen und der Geschwindigkeit im Verlauf der Veränderungen selbst. Sie sind darüber hinaus vielmehr in ihrer Bestimmung als Modi des Denkens Intentionalitäten, um hier unter einem gewissen Vorbehalt den Grundund Schlüsselbegriff der philosophischen Phänomenologie zu gebrauchen. Die Rede von der Intentionalität der Affekte besagt: Ein jeder Affekt verfügt über seine somatische Bestimmtheit hinaus über eine psychische Komponente in Gestalt einer mehr oder weniger komplexen Idee. Eine solche Idee ist ihrer Begriffsbestimmung zufolge nicht ohne ein zugehöriges Ideatum und hinsichtlich dieses Ideatums auf eine so oder so beschaffene Gegenständlichkeit bezogen, je nach der modalen Bestimmung des Denkens. Handelt es sich um den Modus der Wahrnehmung, so wird dem Ideatum des Denkens ein Wahrnehmbares oder ein Wahrgenommenes korrespondieren, handelt es sich um den Modus des Affekts, zum Beispiel um den Affekt der Liebe, so wird dem Ideatum ein Geliebtes korrespondieren: ein geschätzter Gegenstand, ein angenehmes Verhalten eines anderen Menschen, eine geliebte Person. Zu den Affekten als Modi des Denkens gehört, dass mit der Zusammengehörigkeit von Idee und Ideatum eine Wertung vollzogen wird, die im Verhältnis des Ideatums zu dem ihr entsprechenden Gegenstand zum Ausdruck kommt. Die elementaren Grundunterscheidungen der Wertbeziehungen, die mit den Affekten aufkommen, sind die des Angenehmen und des Unangenehmen, des Lustvollen und Leidvollen, also Wertbeziehungen, die Leib und Seele gleichermaßen betreffen.

2. Es geht mir im Folgenden nicht um eine Interpretation der spinozanischen Affektenlehre als solcher, auch nicht um die Interpretation der kritischen Stellungnahmen derselben zur cartesischen Philosophie insgesamt und zu deren Lehre von den Leidenschaften der Seele im Besonderen. Vielmehr ist es mir um die Konsequenzen zu tun, die sich aus der skizzierten Konzeption für die aktuellen Fragen der Affekte und Passionen, der Gefühle und Emotionen ergeben. Die erste dieser Konsequenzen ergibt sich aus der gekennzeichneten Bestimmung der Affekte als Modi des Denkens. In dieser Bestimmung ist impliziert, 195 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

dass es andere Modi des Denkens außer ihnen gibt und dass unterschiedliche Modi des Denkens unter der Bedingung der Einheit des Denkens in so oder so bestimmte Verbindungen untereinander treten können. Die wichtigsten Modi des Denkens außer den Affekten sind die verschiedenen Instanzen der menschlichen Erkenntnis, wie wir sie in der europäischen philosophischen Tradition in immer erneuter Form finden: Wahrnehmung und Imagination, Meinung und Urteil, rationale und intuitive Erkenntnis. Bei diesen unterschiedlichen Formen menschlicher Erkenntnis haben wir es nicht nur mit Funktionen der Gegenstands- und Welterkenntnis zu tun, sondern mit Weisen des psychosomatischen Verhaltens des Menschen in der Welt als Weisen psychischen Wissens unter Einschluss psychosomatischen Wissens unter der Voraussetzung des menschlichen Leibes. Die Konsequenzen dieser modalen Differenzierung der allgemeinen bzw. formalen Wesensbestimmung des Menschen sind mannigfach. Unter diesen seien hier nur die folgenden hervorgehoben: Zum einen (1) ist eine modale Verbindung zwischen allen Modi des Denkens zur Beschreibung eines möglichen Welt- und Gegenstandsverhaltens zu denken, und zwar in allen erdenklichen Kombinationen, unter denen zwei für eine allgemeine Affektenlehre zu unterstreichen sind: Das sind einmal die Affekte, zum Beispiel Liebe und Hass, als Grundmodi angesehen, im Blick auf welche die aufgeführten anderen Modi des Denkens in die Beziehung von Modi zu Modi treten. So ist zum Beispiel der Affekt der Liebe im Modus der Wahrnehmung oder der Phantasie gegeben oder im Modus der intellektuellen Anschauung als »amor intellectualis«. Dem stehen die umgekehrten Verknüpfungen gegenüber, in denen irgendein Modus des Denkens gegenüber dem Affekt als Grundmodus fungiert, und zwar der durch den Affekt in der einen oder anderen Weise modifiziert wird. So wird in der Wahrnehmung zum Beispiel der Wahrnehmungsgegenstand mit Zuneigung oder Abneigung betrachtet, ob es sich um einen beliebigen unbelebten oder belebten oder um ein menschliches Gegenüber handelt. Ein Affekt im Modus der Wahrnehmung unterscheidet sich von einer Wahrnehmung im Modus des Affekts. Diese Differenz ist nicht nur eine des Gewichts des Affekts, seiner Intensität. Vielmehr handelt es sich um grundsätzlich verschiedene Verhaltensweisen des Menschen. Die zweite Konsequenz (2) betrifft nun direkt mein Thema »Emotionalität und Subjektivität«. Von diesem war bislang schon insofern 196 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

die Rede gewesen, als sowohl die formale Bestimmung der Affekte als psychosomatische elementare Gegebenheiten und Modi des Denkens, als auch die allgemeine Bestimmung des Menschen als denkendes Wesen auf den hier fraglichen Zusammenhang zwischen Emotionalität und Subjektivität hingewiesen haben. Genauer war der Zusammenhang der einer jeweiligen spezifischen Verbindung unterschiedlicher Modi des Denkens, darunter auch der Modi der Affekte in der Einheit des menschlichen Denkens als res cogitans. Jede mögliche Verbindung der Modi des Denkens in der Einheit des Denkens stellt insofern eine bestimmte Art und Weise der Verwirklichung der Einheit des Denkens dar. Die hier angenommene Einheit des Denkens spielt in der Tradition der rationalen Metaphysik eine hervorragende Rolle. Es gehört zu den Paradoxa der jüngeren europäischen Philosophie, dass das bezeichnete Rationalitätsprinzip der Einheit des Denkens nicht primär bei den genannten Klassikern der neuzeitlichen rationalen Metaphysik, sondern bei deren schärfstem und wirkungsmächtigstem Kritiker zum Gegenstand wahrer Erkenntnis erhoben wird, nämlich bei Kant. Aber seine berühmte Einheitsformel – »Das ›ich denke‹ muss alle meine Vorstellungen begleiten können« 8 – ist nicht erst von Kants Nachfolgern, sondern schon von den genannten Vorgängern für unzureichend, wenn auch für notwendig erachtet worden, die fragliche Erkenntniseinheit zu begründen. Dieses rationale Einheitsprinzip reicht zwar hin, um eine tatsächliche gegenständliche Einheit in ihrem Dass-Sein zu begründen. Gefragt ist aber nicht nur eine gegenständliche Einheit in ihrem Dass-Sein, sondern die Einheit des Objekts und des Subjekts der Erkenntnis in ihrem Was-Sein, in ihrem Wie-Sein und in ihrem Warum-Sein. In dieser Hinsicht spielen die menschlichen Affekte eine herausragende, selten zureichend bedachte Rolle. Als Modi des Denkens sind die Affekte nicht nur wichtige Zugangsweisen des Ich zu den Gegebenheiten seiner Welt, zu den Dingen und den näher und ferner stehenden Menschen. Vielmehr gehören sie darüber hinaus zu den wichtigsten Instrumentarien zur Regelung der jeweiligen Beziehung zwischen dem menschlichen Umfeld und dem menschlichen Individuum in seiner Individualität und Personalität. Dank der Affekte sind uns die umgebenden Sachverhalte und Mitmenschen näher und ferner. Ihre Regelung der Entfernung zwischen Um8

Kant, KrV, B 131, § 16

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Anthropologie

welt und Subjekt bedeutet: Bestimmung der Nähe und Ferne der Zuträglichkeit und Abträglichkeit, der Nähe und Ferne des Verhältnisses zur Zeit, zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Nähe und Ferne der Einstellung zu den Gegebenheiten. Die hier skizzierten Grundzüge einer allgemeinen Affektenlehre aus der Tradition der neuzeitlichen europäischen Metaphysik enthalten eine explizite und implizite Anthropologie. Das in ihr thematisierte Menschenbild kann formal als das einer allgemeinen Psychodynamik beschrieben werden. In gewisser Weise findet sich dieses Menschenbild bereits bei den Klassikern der griechischen Philosophie und wirkt in der europäischen Philosophie weiter bis in die philosophische und empirische Psychologie des 20. Jahrhunderts hinein, zu Autoren wie Freud und Kurt Lewin. 9 Die psychodynamische Betrachtung des Menschen besagt: Dieser ist in seiner spezifischen menschlichen psychosomatischen Konstitution primär hinsichtlich seines seelisch-geistigen Wesens betrachtet. Das seelisch-geistige Sein aber wird dabei als spezifische Weise menschlichen Bewegtseins begriffen. Die psychosomatische Betrachtung des Menschen wird missverstanden, wenn man diese menschliche Bewegtheit nach Analogie der Bewegtheit materieller Körper und die psychisch-geistigen Bewegkräfte wie physische Bewegungsgrößen betrachtet. Dass eine psychodynamische Anthropologie nicht zwangsläufig in einen Materialismus und Naturalismus einmündet, kann man schon aus Platos Sophistes lernen. Hier wird auch bereits das Prinzip bezeichnet, das einen solchen Irrweg verhindert: Es ist das Prinzip »denken«, genauer: Denken als ausgezeichnete Weise seelischer Bewegtheit des Menschen. Dank des Denkens ist die Bewegtheit des seelisch-geistigen Seins in ihrer Grunddifferenz gegenüber der körperlichen Bewegung gewährleistet. Dank der Bewegung des Denkens Martin Heidegger und ihm folgend Medard Boss subsumieren Freuds Metapsychologie selbstverständlich unter die Psychodynamik, die sie aber im Gegensatz zu den hier vorgelegten Betrachtungen im rein naturwissenschaftlichen Sinne deuten (vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hg. von Medard Boss, Frankfurt am Main 2 1994, S. 7). Kurt Lewin hat seine Konzeption der Psychologie ausdrücklich als psychodynamisch bezeichnet (vgl. Kurt Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Werkausgabe Bd. 1. Bern/Stuttgart 1981, S. 233–278; ders., Der Begriff der Genese in Physik, Biologie und Entwicklungsgeschichte. Eine Untersuchung zur vergleichenden Wissenschaftslehre. Werkausgabe Bd. 2, Bern/Stuttgart 1983, S. 47–318).

9

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sind die Grundbegriffe und Kategorien der Bewertung im menschlichen Bereich ohne Missverständnis anwendbar. Auch und insbesondere im Bereich des psychischen und geistigen Seins gibt es die Geltung der Kategorie der Intensität, die Gültigkeit der Unterscheidung zwischen einem Mehr und Weniger (auch wenn sich diese Unterscheidung nicht ohne weiteres einer quantitativen Größenbestimmung unterwerfen lässt). Und dank der Unterscheidungsfähigkeit des Denkens, dank dieser ausgezeichneten Denkbewegung des Unterscheidens ist das menschliche Verhalten gegenüber seiner Umwelt und seinen Mitmenschen als kausales Verhalten beschreibbar, im Kontext eines Konzepts von Kausalität, welches zwischen Ursache und Grund zu differenzieren verlangt. Und es kann auch kaum ein Zweifel bestehen: Auch die Grundbegriffe der philosophischen Ethik weisen die Grundzüge einer psychodynamischen Betrachtung des Menschen auf: Dies gilt für die Grundbegriffe der Motivation, des Willens und der Handlung. Vor allem gilt es aber auch für den hier thematischen Grundbegriff des Affekts und seine ethischen Nachbarschaftsbegriffe, die Begriffe der Tugend und der Schlechtigkeit.

3. Wenn wir von einer psychodynamischen Betrachtung des Menschen sprechen, so gilt diese Betrachtung vorrangig hinsichtlich der menschlichen Affekte, die in ihren unterschiedlichen Intensitäten, in ihren Funktionen in kausalen Wirkungszusammenhängen ihre genauere Bestimmung erfahren. Die psychodynamische Betrachtung gilt aber auch dem zuvor in erster Linie für die menschliche Subjektivität, wie immer ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt und zu ihrer eigenen Emotionalität bestimmt ist. Die psychodynamische Betrachtung gipfelt in der Betrachtung des Menschen als Ursache: als Handlungsursache und als verantwortlicher Schöpfer seines Wirkens. Diese Betrachtungsweise, die bis in die Anfänge der europäischen Philosophie zurückreicht und bis in die Philosophie eines Henri Bergson und eines Alfred North Whitehead hinein fortgewirkt hat, weist nun aber zahlreiche Bruchstellen auf: Bruchstellen im vermeintlich kohärenten Begriffsgefüge der psychodynamischen Betrachtung des Menschen. Diese Bruchstellen sind gewissermaßen Verletzungen der Kohärenz dieses Begriffsgefüges, welche entsprechende Fragen nach dem Sinn im Blick auf die199 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

ses Gefüge im Allgemeinen und Besonderen aufwerfen. Die hier grob skizzierte psychodynamische Betrachtung des Menschen, dessen Bestimmung als seelisch-geistige Bewegtheit und Kausalität, spielt in der philosophisch-psychologischen Bestimmung des Menschen in der europäischen Kulturtradition eine ausgezeichnete Rolle, insbesondere in der Moderne. Das alltägliche Selbstverständnis des Menschen und seine Redeweisen über das alltägliche zwischenmenschliche Verhalten wirkt mit der philosophisch-wissenschaftlichen Auffassung zusammen. Man kann hier von einer eingewöhnten und aufgrund der Gewohnheit verborgenen, von einer impliziten Metaphysik sprechen. Von einer Metaphysik, in welcher in erster Linie der Mensch für den Menschen infrage steht. Die Verletzungen der Kohärenz, die Brüche in diesem Menschenbild sind Anlässe zu den Fragen, die nicht nur den Philosophen und Wissenschaftler, sondern auch den einzelnen Menschen in seinem alltäglichen Leben immer wieder bedrängen: Die Frage, wer er eigentlich ist und wozu er da ist; wer er eigentlich sein will und sein und werden kann. Jene Bruchstellen können die expliziten Örter der Metaphysik genannt werden: einer Metaphysik, in deren Mittelpunkt die Frage des Menschen nach dem Menschen steht. Der Irrtum Heideggers bestand darin, nur einen einzigen expliziten systematischen Ort anerkennen zu wollen, den Ort, an dem sich die ontologische Differenz von Sein und Seiendem auftut. Allerdings bedeutete für ihn dieser Ort auch die Möglichkeit, die Frage nach dem Menschen neu zu stellen. Aus seiner Sicht erlaubte die psychodynamische Betrachtung des Menschen gerade nicht, diese ihm entscheidende Frage zu stellen. Im Gegensatz zu dieser heideggerschen Auffassung tut sich die Frage des Menschen nach dem Menschen an zahlreichen Örtern und Zeiten auf. Ein solcher Ort ist zum Beispiel nicht schon in dem Gefüge von Bewegung und Ruhe gegeben, die beide untrennbar zusammengehören. Eine Bruchstelle und ein entsprechender expliziter metaphysischer Ort liegt aber vor im Gefüge zweier zusammengehöriger Differenzen: der Differenz von Bewegung und Ruhe einerseits und von Selbigkeit und Verschiedenheit andererseits. In dieser Bruchstelle vollzieht sich ein Entzug von Bewegtheit, etwas, was wir mit dem dunklen Ausdruck »Ewigkeit« umschreiben, um eine andere exemplarische Gegebenheit eines expliziten metaphysischen Ortes zu nennen, der aus der Skizze der Psychodynamik entspringt. Es handelt sich dabei nicht um das Gefüge von Idee und Ideatum, welches mit der Grundbestimmung des Menschen als denkendes Wesen gegeben ist, sondern 200 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

um den Bezug dieses Gefüges zu einer korrespondierenden Gegenständlichkeit. Auch die Erkenntnistheorie, auch die philosophische Phänomenologie in ihrem Bemühen, die Metaphysik zu verabschieden oder sich von derselben entfernt zu halten, entspringen einem metaphysischen Ort und bleiben diesem Ursprung verhaftet. Auch sie fragen zumindest implizit nach dem Sein des Menschen. Der zentrale explizite metaphysische Ort in der psychodynamischen Betrachtung des Menschen aber ist das »ich denke«, ob wir es nun als ego cogito oder als ego intelligo nehmen oder als das »ich denke, welches alle meine Vorstellungen muss begleiten können«. Dieses »ich denke« bildet gewissermaßen den Brennpunkt aller expliziten metaphysischen Örter. Das »ich denke« ist, wie sich ergeben hat, mehr als nur der Grund einer gegenständlichen Einheit der Erkenntnis. Es ist – als Denken – das Regulativ der ausgezeichneten Einheit von Leib und Seele des Menschen: ein Regulativ, das durch dieses und jenes logische Regelsystem die Differenz zwischen physischer und psychischer Kausalität regelt und damit einen sinnvollen Begriff psychischer Kausalität ermöglicht. Aber diese Regulierungen sind nicht ohne Bruchstellen möglich. Weder gibt es eine definitive Regelung der Einheit von Leib und Seele noch auch eine endgültige Bestimmung der psychischen Kausalität. Nicht von ungefähr bildet die Bestimmung der Logik dieses »ich denke« einen ständig neuen Gegenstand philosophischer Denkbemühung, und dies keineswegs nur im Blick auf die ständigen Fortschritte in der Wissenschaft der mathematischen Logik. Das »ich denke« bildet insofern nicht nur die Grundlage der möglichen und wirklichen Einheit gegenständlicher Erkenntnis, sondern auch den Grund der Erfahrung von Deregulierungen und mannigfachen Formen misslingender Einheitsbildung. Im Denken des »ich denke« bleibt aber nicht nur immer ein Bruch zwischen Leib und Seele, sondern auch ein Bruch zwischen Gedanke und Ausdruck des Gedankens. Diese beiden Bruchstellen des Denkens stehen in einem engen Zusammenhang. Die philosophische Hermeneutik ist durch die Verlagerung ihres Gegenstandes vom menschlichen Gedanken auf die menschliche Rede den Problemen der Metaphysik nicht entgangen. Dann aber gibt es über die genannten Bruchstellen hinaus im »ich denke« eine weitere Bruchstelle, welche nicht nur die neuzeitliche Metaphysik, sondern auch noch deren phänomenologische Kritik glaubte übersehen zu dürfen: Die Bruchstelle 201 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

zwischen dem Ich und seinem Gedanken. Es war der philosophische Existenzialismus, der hier mit seinem neuen Begriffsrepertoire ansetzte. Um unter diesem Gesichtspunkt der expliziten metaphysischen Örter auf mein Thema – die menschlichen Affekte und Emotionen – zurückzukommen, so ergibt sich aus dem Bisherigen: So vollkommen diese Gegebenheiten des menschlichen Wesens sich in einen allgemeinen Begriffsrahmen der psychodynamischen Anthropologie einfügen, so offensichtlich ist auch ihr Charakter als explizite metaphysische Örter. Zum einen teilen sie als Modi des Denkens mit dem »ich denke« alle bislang aufgeführten Bruchstellen. Affekte und Emotionen, Gefühle und Stimmungen sind keine vollkommen harmonischen bzw. harmonisierten Einheiten von Leib und Seele. Eher ist das Gegenteil der Fall. Das Gemenge von Stimmungen und Gefühlen, Emotionen und Affekten, welche das seelisch-geistige Leben des Menschen durchherrschen, stellen ein komplexes Gebilde dar, in dem die Dissonanz und die Arrhythmie neben Konsonanz und Rhythmik eine wesentliche Rolle spielen. Die so oft beschworene Irrationalität dieser Gemütskräfte erweist sich bei näherem Zusehen als eine Täuschung, als optische und emotionale Blindheit. Die Erscheinung der Unberechenbarkeit gilt oft für das menschliche Gegenüber in seiner eigenen emotionalen Befangenheit, nicht zwangsläufig für den kühlen, nüchternen Beobachter und Analytiker. Insofern ist auch die Unberechenbarkeit menschlicher Emotionalität mit der psychodynamischen Betrachtungsweise im Einklang. Dank ihrer Bestimmung als Modi des Denkens haben die Gefühle und Affekte aber auch eine Grundeigenschaft des Denkens an sich. Sie lassen eine Selbstdistanz ihres Subjektes zu, auch wenn diese gelegentlich über dem Übermaß des Gefühls verloren zu gehen droht. Der Verlust einer solchen Selbstdistanz in grundsätzlicher Verbindung mit dem Gefühlsleben stellt einen extremen Grenzfall menschlicher Existenz dar. Bruchstellen markieren die Affekte aber auch, wo ihre ethische Relevanz infrage steht. Sie sind dem Begriffe und der Realität nach von Tugenden unterschieden. Aber es besteht immer die Möglichkeit, sich so oder so zu Tugenden und Schlechtigkeiten affektiv zu verhalten. Es war wiederholt auf die Beziehung der Emotionalität zur Subjektivität des Menschen hingewiesen worden. Dabei kommt den Gefühlen und Affekten immer auch eine Beziehung zum Ganzen dieser 202 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Psychodynamik als Metaphysik und wissenschaftliche Psychologie

Subjektivität zu. Diese Beziehung stellt einen besonderen explizit metaphysischen Ort dar. Die menschlichen Affekte und Emotionen beziehen sich auf die menschliche Individualität und Personalität. Einem emotionalen Streben nach Erhaltung des je eigenen menschlichen Lebens korrespondiert ein entsprechendes Streben nach Selbsterhaltung des je eigenen seelisch geistigen Wesens. Auch in dieser Korrespondenz gibt es zahlreiche Bruchstellen: Bruchstellen in den Wertbeziehungen zwischen den Werten der einen und der anderen Bemühung um Selbsterhaltung. Nicht nur die menschliche Individualität, auch die menschliche Personalität lässt sich mit der psychodynamischen Betrachtung in Einklang bringen. Nicht nur die Individualität, auch die Personalität enthält die Bestimmung einer je eigenen Ursächlichkeit. Mit der Bestimmung der Person ist nicht nur deren Bestimmung zur Selbstbestimmung und in dieser die Anerkennung der eigenen Schuldfähigkeit und der Verantwortungsbereitschaft verbunden. Vielmehr ist mit der Bestimmung der menschlichen Person eine Idee verknüpft, welche die psychodynamische Betrachtung transzendiert. Karl Jaspers hat in seinem großen Essay über die Schuldfrage – geschrieben unmittelbar nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur – den Begriff der metaphysischen Schuld aufgestellt. 10 Dieser Begriff ist ohne theologische Implikationen denkbar. Er beruht auf vielfältigen menschlichen Erfahrungen in Grenzsituationen. Metaphysische Schuld bedeutet: menschliches Ungenügen, menschliches Versagen in Sachen konkreter mitmenschlicher Solidarität diesseits und jenseits politischer, moralischer und rechtlicher Verpflichtungen zu einem solchen solidarischen Verhalten.

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Vgl. Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Heidelberg 1946, S. 31 f. u. 64 f.

203 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

Die Ethik des Spinoza hat auf die Frage nach der menschlichen Freiheit eine provozierende Antwort bereit, die die Zeitgenossen des Autors des berühmten Buches Ethica more geometrico demonstrata nicht weniger provoziert hat, als sie die Menschen von heute in Atem hält. Die Antwort lautet lapidar: »Es gibt keine menschliche Freiheit des Willens«. Spinozas philosophisches Hauptwerk hat nicht nur durch diese pointierte These, sondern durch das gesamte theoretische Rahmenwerk die Wirkungsgeschichte desselben in Gang gehalten. Die philosophische Ethik, die hier vorliegt und die in fünf Hauptteilen eingeteilt ist, ist ein Buch über Gott und den Menschen. Man kann sie unter dem Gesichtspunkt einer philosophischen Theologie und Anthropologie mit ethischem Anspruch lesen, aber auch als eine philosophische Ethik, die auf theologischen und anthropologischen Grundsätzen aufgebaut ist. Vielleicht wäre die oben genannte These von der Unmöglichkeit menschlicher Willensfreiheit weniger provozierend empfunden worden, wäre sie von dem Philosophen nicht an eine Grundaussage über Gott und eine entsprechende Grundaussage über den Menschen geknüpft worden, die den eigentlichen Anlass des allgemeine Unmuts gebildet hat. Die Aussage über Gott besagt nicht mehr und nicht weniger als dies, dass Gott keine Person ist – in der philosophischen Terminologie von Spinoza: Gott ist absolute unendliche Substanz, bestehend aus unendlichen Wesensbestimmungen. Und die korrespondierende Aussage über den Menschen lautet: Der Mensch ist nur ein Moment im Ganzen des göttlichen Seins, wie alle endlichen Dinge, die wie er ihr Sein in dem absoluten göttlichen Urwesen haben. Mit anderen Worten: der Mensch hat keine autonome in sich ruhende und durch sich befestigte Existenz. Spinozas Buch, das in fünf Hauptteilen die Grundgedanken über Gott und den Menschen entwickelt, hat sich die spezifische Form der Darstellung ihrer Aussagen in geometrischer Ordnung bzw. in axioma204 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

tischer Form gegeben: Die Grundgedanken sind demzufolge in Definitionen, Axiomen und Postulaten, sowie von Lehrsätzen und deren Beweisen aufgeführt, zwischen die mehr oder weniger ausführliche Erläuterungen eingeschoben sind. Diese Darstellungsform war von grundsätzlicher Bedeutung gedacht. Denn die Philosophie von Gott und den Menschen, wie Spinoza sie vorlegte, verstand sich von selbst ausdrücklich als Wissenschaft, und zwar bewusst als moderne, neuzeitliche Wissenschaft, die sich gerade durch ihre neuzeitliche Wissenschaftlichkeit von der antiken Vorstellung einer philosophischen Wissenschaft abgrenzen wollte. So gesehen formuliert Spinoza das Problem der Ethik und die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit im ausdrücklichen Bewusstsein, dass in einer Epoche tiefgreifenden Wandels in der Idee der Wissenschaft es die Aufgabe der Philosophie sein müsse, die Grundfrage nach der Beziehung von Gott und Mensch in einer solchen gewandelten Welt neu zu stellen. Die genannten Thesen über diese Zusammenhänge sind unter den Stichworten Pantheismus, Akosmismus und Determinismus zu Schlagworten geworden, die Anziehung und Abstoßung zugleich zur Folge hatten. Die Provokation, die von Spinozas Werk immer wieder ausgegangen ist, lag nicht so sehr in der Erörterung der Frage, wie menschliche Willensfreiheit möglich sei, nicht so sehr in der Leugnung ihrer Möglichkeit, als vielmehr in der Frage, wie unter der Voraussetzung einer solchen Leugnung überhaupt eine Ethik möglich sein könne. Für die Menschen von heute stellt sich die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit weiterhin als Frage, und zwar als Alternative zwischen Determination und freiem Willen des Menschen. Auch die heutige Diskussion steht im Banne eines tiefgreifenden Wandels der neuzeitlichen Wissenschaft, dem die Philosophie in ihrer Beziehung auf die Frage nach der Möglichkeit einer Ethik gerecht zu werden versucht. Und wenn Spinoza in der Geschichte der Wirkung seiner Ethik durch einen durchgängigen Determinismus jeglichen Geschehens in der Natur und durch die Verneinung der Freiheit menschlichen Willens positiv und negativ Anstoß erregte, so ist dieser Anstoß vergleichsweise auch heute angesichts der naturwissenschaftlichen Forschung aktuell. Allerdings kommen deren Betrachtungen zu dem scheinbar vergleichbaren Ergebnis, ohne eine, oder auch nur die wichtigste Voraussetzung von Spinozas Ethik zu übernehmen. Soll man als sagen: Sie gilt auch ohne diese Voraussetzungen? Betrachtet man die Wirkungsgeschichte von Spinozas Ethik in der 205 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

Philosophie, so fällt immer wieder auf, wie einige der Grundideen dieses Buches übersehen bzw. von vornherein falsch gedeutet worden sind. Gewiss gibt es die über jeden Zweifel erhaben gedachte, weil mathematisch bewiesene Grundaussage, dass alles Geschehen notwendig und dem Zufall enthoben sei, sofern wir es im umfassenden Kausalzusammenhang alles Seienden betrachten. Aber schon die Bestreitung der Möglichkeit menschlicher Freiheit lässt zögern, ob es erlaubt ist, in Spinoza den Leugner der Freiheit überhaupt zu sehen. Wir haben vielmehr hinsichtlich seiner Ethik nicht anders als heute zu fragen, wie verstehen wir überhaupt Freiheit? Was bedeutet uns menschliche Freiheit? Wie denken wir das, was wir den menschlichen Willen nennen? Denken wir dabei an eine Ursache, und wenn wir dies tun, als eine natürliche oder aber als eine übernatürliche Ursache, d. i. als eine Ursache, die im Unterschied zu den natürlichen Ursachen den Charakter einer solchen Ursächlichkeit transzendiert, etwa durch die Fähigkeit, die den Menschen spezifisch eigen ist und die sie befähigt, ihre eigene natürliche Ursächlichkeit zu modifizieren, zu transzendieren – etwa durch das menschliche Bewusstsein? Etwa durch die Befähigung ursächliche Zusammenhänge überhaupt zu erkennen, nicht nur hinsichtlich seiner selbst, sondern auch die äußeren Ursachen, die auf die eigene Ursächlichkeit einwirken? So gesehen kann die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit durchaus zu der Frage fortgeführt werden, ob es überhaupt so etwas wie einen menschlichen Willen gebe, ob nicht vielmehr die Ursächlichkeit des je eigenen menschlichen Selbst in etwas anderem als einem hypothetisch angenommenen Willen, als einer spezifisch psychischen oder vielleicht spezifisch mentalen Instanz gesucht werden müsse. Man kann sich fragen, ob die Annahme einer Willensinstanz als einer ausgezeichneten Instanz menschlicher Verhaltens- und Handlungsentscheidung sich gerade heute deswegen so aufdränge, weil ihr Besitz sich besonders zum Gegenstand experimenteller Untersuchung eignet durch die Möglichkeit einfacher Zuordnungsbedingungen zwischen Beobachtung und beobachtbarem Objekt, indem der Wille als ein psychisches Objekt verstanden wird, dem ein physischer mehr oder weniger zeitlich ausgedehnter physischorganischer Vorgang des menschlichen Leibes bzw. eines speziellen Teils desselben zugeordnet werden kann. Wenn dem aber so ist, dann muss man sich weiter fragen, wie es mit der Realität von psychischen Gegebenheiten bestellt ist, die wir allein nach der Möglichkeit solcher Zuordnungsmöglichkeiten beurteilen. 206 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

Um in Sachen des Spinoza kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Spinoza erkennt an, dass es einen menschlichen Willen gibt, um dem allerdings sogleich hinzuzufügen, dass dieser Wille nicht frei ist und auch nicht frei sein kann, deswegen, weil er wie alle endlichen Entitäten Ursachen voraussetzt, die ihn bestimmen, und weil diese Ursachen wiederum andere Ursachen zur Voraussetzung haben , und so ins Unendliche. Und noch unmissverständlicher heißt es in seiner Ethik: »Es gibt in der Natur nichts Zufälliges, sondern alles ist aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu sein und zu wirken.« 1 Hier finden wir über die Verneinung der menschlichen Willensfreiheit hinaus die grundlegende These, dass alles Seiende in der Natur auf spezifische Weise determiniert ist, und zugleich haben wir eine unmittelbare Begründung vor uns, die diese durchgängige Determination alles Seienden philosophisch-theologisch begründet. Spinozas philosophische Ethik ist für seine Zeitgenossen in erster Linie durch ihre philosophische Theologie eine ungeheuere Provokation gewesen, nicht nur sofern die menschliche, sondern insbesondere sofern die göttliche Willensfreiheit verneint ist. Für uns heutige ist die Bestreitung einer Willensfreiheit als solche von philosophischem Interesse, sofern ihre Begründung nicht auf rein theologischen Argumenten beruht. Vor allem für die überlieferte philosophische Theorie gilt ein hermeneutisches Prinzip, nämlich das der Produktivität von Missverständnissen der Interpretation. Allerdings ist es hier nicht unwichtig zu unterscheiden zwischen Missverständnissen, die ein gewisses Interesse beanspruchen und vielleicht auch beanspruchen dürfen, und Missverständnissen, die eine willkommene Gelegenheit bieten, dieselben auszuräumen und dies so, dass die entsprechende Richtigstellung ihrerseits ein berechtigtes Interesse für sich beanspruchen kann. Das weithin verbreitete Missverständnis der Ethik des Spinoza findet ihren Ausdruck in der philosophisch-theologischen Annahme, dass Spinozas Gotteslehre Pantheismus sei und dass dieser eine absolute Immanenz jeglichen Seienden im Absoluten die durchgängige Determination dieses Seienden nach sich ziehe und auf dieser Grundlage menschliche Freiheit unmöglich mache. Dem wird hier die gegenläufige Interpretation entgegengestellt, die besagt: Spinozas Ethica ordine geometrico 1 Spinoza, Ethik I, Lehrsatz 29: Sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt ad certo modo existendum, et operandum.

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Anthropologie

demonstrata ist ein großer philosophischer Traktat über die Freiheit. Dieser Traktat handelt von der Freiheit Gottes und von der menschlichen Freiheit, ist also ein theologisch-anthropologischer Text über das Wesen der Freiheit. Diese Lesart gründet sich zum einen auf die kaum zu übersehende Tatsache, dass Freiheit im ersten Teil des Buches und hier unter den am Anfang stehenden Definitionen vorkommt in Form der Definition eines freien Dinges (res libera); und dass der fünfte und letzte Teil des Textes durch seine Überschrift unterstreicht, dass er von nichts Geringerem handelt als von der menschlichen Freiheit. Spinozas Ethik als theologisch-anthropologischer Traktat von der Freiheit verlangt eine genauere Bestimmung des Verständnisses von Freiheit, und dies umso mehr, wenn zugleich die Freiheit des menschlichen Willens geleugnet wird. Diese Frage, ob wir überhaupt Freiheit denken, wie wir sie umschreiben wollen, wenn wir ihre Realität nicht ausschließlich auf den Bereich des rechtlichen und politischen Lebens beschränkt sehen wollen, wenn wir also Freiheit auch in der Sphäre des Psychischen, und noch ursprünglicher, im Wesen des Menschen verankert sehen wollen, dann ist diese Frage auch für uns Heutige unverzichtbar. Spinozas Freiheitsbegriff ist nun in der Tat auf den ersten Blick alles andere als verständlich, zumal er mit einer Reihe von Voraussetzungen behaftet ist, die uns heute keineswegs selbstverständlich sind. Die wichtigste dieser Voraussetzung ist Spinozas theologisch-anthropologischer Essentialismus, das heißt die nirgends bezweifelte Annahme, dass unsere Vorstellungen von Gott und vom Menschen verlangen, diese als Wesen zu verstehen bzw. ihnen ein Wesen zuzuschreiben. Der hier fragliche Begriff der Freiheit ist ohne den Begriff des Wesens nicht denkbar. Allerdings hat Spinoza einen neuen Wesensbegriff entwickelt, der seiner Ethik allgemeines Interesse über die hier anstehende Frage hinaus sichert. Spinoza denkt das Wesen eines Dinges dynamisch. Das Wesen aller Dinge, d. i. jeglichen Seienden, sofern es nicht Gott ist, ist ein Streben, sich in seinem Sein zu erhalten. Eine zweite Schwierigkeit in Spinozas Freiheitsbegriff ist dessen direkte definitive Verknüpfung mit dem Begriff der Notwendigkeit: »Dasjenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur existiert und allein von sich zum Handeln bestimmt wird.« 2 Diese Definition eines freien Dinges ist zunächst schon daEthik I, Def.7: Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae existit, et a se sola ad agendum determinatur.

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Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

durch bemerkenswert, dass in ihr die Begriffsbestimmung der Notwendigkeit, genauer: der Notwendigkeit des Wesens, des Handelns und der Determination in engste Verbindung gebracht sind. Also nicht nur verlangt die Definition eines freien Dinges den Rückgriff auf die Bestimmung der Notwendigkeit, sondern darüber hinaus die ausdrückliche Bezugnahme auf die Bestimmungen der Determination und des aktiven Wirkens. Zugleich aber fordert der hier von Spinoza zur Charakteristik der Freiheit verwendete Begriff der Notwendigkeit eine wesentliche Unterscheidung. Es gibt eine Freiheit, die wir nicht ohne Bezugnahme auf die Bestimmung des Wesens eines Dinges denken können, nämlich auf dasjenige, welches wir als frei bestimmen. Von dieser Notwendigkeit ist aber eine ganz andere, geradezu entgegengesetzte Notwendigkeit zu unterscheiden, die von Spinoza als Gezwungensein bezeichnet wird. Ein Ding ist notwendig – genauer unfrei oder gezwungen – wenn und sofern es von einem Anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken. 3 Das Begriffsnetz, welches Spinoza in seinem ersten Definitionssystem entfaltet, verlangt demnach nicht nur Freiheit und Notwendigkeit zusammenzudenken, sondern zugleich zwei Weisen der Notwendigkeit voneinander zu unterscheiden, und zugleich eine klare Begriffsdifferenz zwischen Notwendigkeit und Determination vor Augen zu stellen. Die genannten Definitionen bilden die Voraussetzungen für einen Beweisgang, in dem gezeigt wird, dass Gott allein – und zwar aufgrund seiner Bestimmung als unendliche Substanz – die Bestimmung eines freien Dinges und darüber hinaus die zusätzliche Bestimmung einer freien Ursache zukommt. Was die Bestimmung einer freien Ursache betrifft, so folgt allein aus der begrifflichen Implikation dieser absoluten Ursächlichkeit, dass Gott als das einzige schlechthin freie Wesen nicht durch einen freien Willen frei bestimmt ist. Folgt dies schon aus der Definition des freien Dinges, so kommt ergänzend die Ausführung einer Gedankenreihe hinzu, demzufolge der Wille in seiner Bestimmung nicht als ein freies Ding aufgefasst werden kann, weil ihm eben dieser Mangel anhaftet, nicht über die Macht zur Selbstbestimmung zu verfügen. Für die heutige Diskussion des Problems der Determination und der Freiheit des Menschen ist eine weitere Eigentümlichkeit in Spinozas Begriffsrepertoire wichtig, nämlich die ausdrückliche UnterEbd.: necessaria autem vel potius coacta, quae ab alia determinatur ad existendum et operandum certa, ac determinata ratione.

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II.

Anthropologie

scheidung zwischen Notwendigkeit und Determination. Die heutige Debatte über die Möglichkeit menschlicher Freiheit läuft ständig Gefahr, das eine und das andere , also Notwendigkeit und Determination, miteinander zu vermengen, und zwar immer dann, wenn die anthropologische Grundfrage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit in Form der ausschließlichen Alternative zwischen ihrer Möglichkeit und einer durchgängigen Determination alles Seienden gestellt wird. Folgt man Spinozas Gotteslehre in ihrem philosophischen Begriffssystem, so drängt sich die andere Frage auf, ob die einfache Opposition von Freiheit und Determination nicht einen Reduktionismus darstellt, der dem unendlich komplexen Sachverhalt der Freiheit nicht gerecht wird. Spinozas philosophische Theologie bindet nicht nur Freiheit und Notwendigkeit definitorisch zusammen, sie unterscheidet nicht nur zwischen zwei grundverschiedenen Notwendigkeiten, sie führt vor allem Unterscheidungen ein, die für die Erörterung des Freiheitsproblems aus Spinozas Sicht unverzichtbar sind. Da ist zum einen die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Determination, die zu verwechseln unvermeidlich zu einem Kategorienfehler führt. Wichtiger ist die Betonung der begrifflichen Unterscheidung zwischen Determination und Ursächlichkeit. So stoßen wir in Spinozas Gotteslehre immer wieder auf diese Differenz, und zwar, dort wo es um die allgemeine ontologische Bestimmung des Verhältnisses von Gott zu den endlichen Dingen geht, um die Frage der Macht Gottes über die endlichen Dinge. Spinoza ist bemüht, dem traditionellen Schöpfungsbegriff in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung zu geben. Voraussetzung für diese neue philosophisch-theologische Fassung der Idee der Schöpfung ist die Definition der Substanz und die auf dieselbe gestützte Definition Gottes als unendliche Substanz und als Inbegriff unendlicher Attribute. Spinozas zahlreiche Folgerungen aus seinem anfänglichen Definitionssystem führen nicht nur auf die Lehrsätze, welche die Einzigkeit des einen Gottes und die Notwendigkeit seiner Existenz beweisen, nicht nur auf die Folgerung der Notwendigkeit der Existenz und des Wesens des Seienden, sie führen über all dies hinaus zu dem Theorem, welches Spinozas Philosophie in der Geschichte der europäischen Philosophie immer wieder als Pantheismus, auch als Panentheismus und Akosmismus hat bezeichnen lassen. Der Grund liegt auf der Hand: Es war und ist das Theorem vom Sein allen endlichen Seins in Gott, in der einen und einzigen unendlichen Substanz, in dem man den ausschließlichen und hinreichenden Grund für die Unmög210 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

lichkeit menschlicher Freiheit gesehen hat. Aufgrund dieses ausnahmslosen In-Seins jeglichen Seienden in Gott wurde Gott auch zur allentscheidenden Ursache jeglichen endlichen Seienden überhaupt und in jedem erdenklichen Sinne gemacht. So gesehen hat Spinoza den traditionellen Ursachen-Begriff der aristotelischen Ursachenlehre in seine philosophische Theologie eingebaut, allerdings in einer Weise, die die Abweichung von jener krass in die Augen springen lässt. Angesichts des durchgängigen In-Seins jeglichen Seienden in Gott ist dieser als die schlechthin immanente Ursache allen Seienden bestimmt und unter dieser Voraussetzung ihm als dem absoluten und allumfassenden Wesen der Charakter einer causa efficiens sowohl hinsichtlich der Existenz als auch hinsichtlich des Wesens der Dinge zugeschrieben. Dabei muss eine solche causa zugleich als causa immanens und unter der Bedingung des Seins jeglichen Seienden in dieser Ursächlichkeit gedacht werden. Der Grundbegriff der Determination – ein Schlüsselbegriff der spinozanischen Ethik – ist im Blick auf diese eigentümliche Sichtweise der Kausalität, also im Blick auf die allein Gott zukommende freie Ursächlichkeit und sozusagen als Grund jeglicher Ursächlichkeit zu denken. Spinozas Ethik spannt nicht nur philosophische Theologie und Anthropologie im allgemeinen zusammen. Dieser Zusammenhang gilt vielmehr insbesondere der Beantwortung der philosophischen Frage nach der Freiheit, einer Freiheit, die der Freiheit im politisch-sozialen Bereich gleichsam als naturwüchsige Freiheit voraus- und zugrunde liegt, wie immer man den Zusammenhang zwischen der philosophischen Theologie des ersten Teils und den vier anderen Teilen denkt, die vom menschlichen Geist und von dessen Erkenntnismöglichkeiten handeln. Die Grundidee dieses Zusammenhangs ist im Blick auf das Problem der menschlichen Freiheit durchaus einleuchtend. Auch als natürliche bzw. naturbestimmte Freiheit ist die menschliche Freiheit beschränkt, beschränkt wie der menschliche Geist überhaupt, dessen Erkenntnis sie entspringt. Es muss eine zentrale philosophische Aufgabe sein, diese Beschränktheit zu bestimmen und die Möglichkeiten der Freiheit – gerade im Blick auf eine grundlegende philosophische Ethik – auszuloten. Was liegt näher als die Bestimmungen dieser spezifischen Begrenztheit auf dem Weg über den Kontrast zu einer ganz anderen Freiheit, einer unbeschränkten Freiheit zu gewinnen? Noch Kant, der Begründer einer transzendentalkritischen praktischen Philosophie, ist diesen Weg gegangen, indem er zwischen der mensch211 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

lichen idealen Möglichkeit eines guten Willens und der Idee eines göttlichen heiligen Willens unterschieden hat. Allerdings ist diese Unterscheidung der kritischen Philosophie Kants bei der formalen Opposition zwischen Sein und Sollen des Guten stehengeblieben, und hat bewusst jede nähere Differenzierung dieses Kontrastes im Zeichen eines philosophischen Kritizismus gemieden. Spinoza hat zwei methodische Formen der Bestimmung der Grenzen menschlicher Freiheit unterschieden: Die eine Form hat er in den Bereich der partikularen, nicht-philosophischen Wissenschaften, nämlich in die Logik und in die Medizin verbannt. Bei der Bestimmung dieser Form der Begrenzung der menschlichen Freiheit war die Überlegung leitend, dass die Möglichkeiten eines angemessenen Freiheitsgebrauches immer unter somatischen bzw. psychosomatischen und kognitiven Bedingungen stehen, deren Erforschung nicht in den Bereich philosophischer Wahrheitserkenntnis gehören. Für die philosophische Erkenntnis des Freiheitsproblems war eine grundsätzlich andere Erkenntnis als die der unbestimmten Erfahrung der mannigfachen menschlichen Einzeldinge erforderlich: eine vernünftige Erkenntnis dessen, was diesen Dingen gemeinsam ist, sowie eine intuitive Erkenntnis, die sich über dieses Allgemeine zur Wesenserkenntnis des Einzelnen erhebt. Spinozas Ethik verbindet beides miteinander: Metaphysik und kritische Erkenntnislehre. Was später in Kants kritischer Transzendentalphilosophie methodisch getrennt wird, bildet hier aus einer anderen methodischen Betrachtung heraus eine Einheit untrennbarer Zusammengehörigkeit. Insofern ist Spinozas metaphysisch-ethische Philosophie alles andere als eine unkritische Dogmatik. Sie ist einerseits die metaphysische Erkenntnis Gottes, der Welt und des Menschen, Erkenntnis des göttlichen Überunendlichen, sowie der unendlichen-endlichen Welt und des endlich-endlichen Menschen: Erkenntnis, dass die unendliche Welt und der endliche Mensch ihr Sein in jenem Überunendlichen göttlichen Sein und in diesem durch ihr In-Sein ihre Bestimmtheit haben. Aber zugleich ist diese metaphysische Erkenntnis Erkenntnis der Erkenntnis. Als solche stellt sie eine Reflexionsphilosophie dar, die die Erkenntnis des Seins alles Seienden unter den Bedingungen der endlichen menschlichen Vernunft betrachtet. Diese metaphysische Erkenntnis bildet den Schlüssel zu Spinozas Freiheitsverständnis: Menschliche Freiheit, das ist, anders als die Freiheit des einen und einzigen göttlichen Überunendlichen, endliche Freiheit. Menschliche Freiheit, das ist menschliche Erkenntnis des All-Einen 212 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

und des Seins allen Seienden in ihm, zugleich aber Erkenntnis des eigenen Seins in ihm unter den Bedingungen der menschlichen Vernunft und der Intuition. Diese Erkenntnis enthält vor allem die Einsicht: dass wir Menschen nicht Gott und nicht wie Gott sind. Erkenntnis unserer Endlichkeit im Unterschied zur Überunendlichkeit Gottes. Wenn gesagt wurde, dass für Spinoza Gott nicht Person ist, wenn ihm die ontologische Grundbestimmung der Substantialität zugeschrieben wird, so wird er damit nicht zur Unperson erklärt. Vielmehr wird er hier in seiner Überpersonalität, in seiner unendlichen Unendlichkeit als ÜberIch erkannt. Dies ist etwas ganz anderes als die irrige Bestimmung als Nicht-Ich. Die maßgebliche Differenz zwischen diesem überunendlichen göttlichen Wesen und dem Wesen der Einzeldinge erstreckt sich sowohl auf dieses Wesen wie auch auf deren Existenz. Es ist dies die Differenz zwischen dem, welches als Ursache seiner selbst bestimmt wird und all demjenigen, was eine solche Ursache nicht sein kann, sofern dieses Andere in seinem Wesen und in seiner Existenz prinzipiell von anderem abhängig ist. Es ist demnach die Differenz zwischen freier und erzwungener Ursächlichkeit. Unter diesem Gesichtspunkt klärt sich die maßgebliche Differenz zwischen Determination und Kausalität. Die Verwechslung des einen mit dem anderen stellt aus der Sicht der spinozanischen kritischen Metaphysik einen weitreichenden Kategorienfehler dar. Die Determination des Seienden durch das göttliche Überunendliche ist nicht nur die Bestimmung dieses Seienden als jeweils Bestimmtes. Es ist vielmehr Bestimmung dieses Seienden in seinem Wesen und in seiner Existenz. Und dies heißt: Es ist Bestimmung dieses Seienden zur Kausalität, zur kausalen Wirksamkeit. Determination des Endlichen durch das Überunendliche bedeutet: Kein endliches Seiendes kann sich dem Gesetz der Kausalität entziehen. Nichts und niemand kann Geschehenes ungeschehen machen, weder Geschehenes noch Geschehendes, und zwar, sofern Geschehen prinzipiell unter der Bedingung kausaler Wirksamkeit steht. Menschliche Freiheit: das ist vor allem und in erster Linie kritische Selbsterkenntnis, Erkenntnis dieser unserer Determination hinsichtlich unseres eigenen Seins und Wesens sowie im Blick auf unseren Zusammenhang mit allem anderen Seienden in der Welt. Menschliche Selbsterkenntnis beginnt mit der Einsicht, dass wir Menschen endliche Einzeldinge besonderer Art sind: dass wir uns von rein körperlichen, aber auch von anderen lebendigen Einzeldingen dadurch unterscheiden, dass unsere mentale Kompetenz in der Befähigung zum Denken 213 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

die ausgezeichnete Möglichkeit der Erkenntnis besitzt, eben jener Möglichkeit metaphysischer und selbstkritischer Erkenntnis. Insofern unterscheidet sich das Wesen des Menschen von der Wesensbestimmung der lebendigen Einzeldinge durch eben diese Erkenntniskompetenz. Das Wesen aller lebendigen Einzeldinge besteht in einem ursprünglichen Selbsterhaltungstrieb. Dieser Trieb ist im Falle des Menschen mit Bewusstsein begabt. Dieser bewusste Selbsterhaltungstrieb ist es, den Spinoza als menschlichen Willen definiert. Wille ist demnach mehr als nur eine momentane Entscheidungsinstanz im Blick auf verschiedene Verhaltensmöglichkeiten. Er ist mit dem Streben nach Erkenntnis identisch. Wille und Intellekt sind dasselbe, sagt Spinoza. Der Wille ist demnach Ursache, aber wie alle anderen endlichen Einzeldinge als Ursache unter der Bedingung anderer Ursachen stehend. Er ist verursacht durch Ursache von Wirkungen. Dank ihrer Identität mit diesem Willen gilt dies auch für die menschliche Erkenntnis: Sie ist wie der Wille verursachte Ursache. Aber zugleich ist sie dies auch, sofern sie Selbsterkenntnis ist. In der Selbsterkenntnis als verursachter Ursache entspringt das Spannungsverhältnis zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Tun und Leiden. Dieses Verhältnis ist nichts anderes als Ausdruck der Selbsterkenntnis im Blick auf das eigene Sein als Tätigkeit und als Passivität. Die menschliche Selbsterkenntnis steht im Zeichen der Erkenntnismöglichkeiten wahrer Erkenntnis. Eine solche Wahrheitserkenntnis ist an die Bedingungen menschlicher Vernunft und Intuition gebunden. Diese Selbsterkenntnis bezieht sich auf die eigene Existenz und das eigene Wesen, und zwar sofern diese Erkenntnis in konkretem kausalem Zusammenhang mit unzähligen anderen Einzeldingen, insbesondere aber in kausalem Zusammenhang mit anderen Menschen steht. Diese Selbsterkenntnis findet an der psychosomatischen Konstitution des eigenen Seins und Wesens ihren ausgezeichneten Erkenntnisgegenstand. Allerdings: diese Erkenntnis des eigenen psychosomatischen Seins kann nicht und niemals von dieser konkreten Verbindung abstrahieren. Spinozas Erkenntnistheorie des psychosomatischen Zusammenhangs ist nicht weniger oft und nicht weniger krass missverstanden worden als seine Freiheitslehre. Die Epoche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in ihren psychologistischen Bemühungen dadurch gekennzeichnet, dass hier der Glaube vorherrschte, auf dem Wege einer experimentellen empirischen Forschung zwischen der cartesischen Theorie der psychophysischen Wechselwirkung und der spi214 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

nozanischen Theorie eines psychophysischen Parallelismus eine Entscheidung herbeiführen zu können. Das Missverständnis resultiert hier aus einer unwissenschaftlichen Reduktion des methodischen Bewusstseins jener Kontroverse. Für Spinoza macht die Erkenntnis der psychosomatischen Konstitution des Menschen im Blick auf die Grundfrage der Ethik nur einen Sinn unter der methodischen Voraussetzung einer Erkenntnis, die der Vernunft und der intellektuellen Anschauung verpflichtet ist. Die vernünftige und intuitive Erkenntnis der psychophysischen Identität des Menschen ist eine andere als die der unbestimmten Erfahrung des vereinzelten Seins. Sie stellt eine grundsätzlich veränderte Betrachtung der Dinge dar, eine Betrachtung des Seienden im Zeichen der Ewigkeit, wie Spinoza gesagt hat. Spinoza lässt in seiner Betrachtung absichtlich offen, ob die Fortschritte der empirischen Forschung der psychophysischen Zusammenhänge immer weiter fortschreiten oder aber an eine endgültige unüberwindliche Grenze stoßen müssen. Die metaphysisch-kritische Erkenntnis weiß – angesichts des Überunendlichen – um die grundsätzliche Grenze, die der eigenen Macht gesetzt ist. Das Überunendliche, die Unendlichkeit der göttlichen Freiheit überragt die unendliche Bestimmtheit der endlich-unendlichen Welt ebenso wie die der endlich-endlichen Natur des Menschen. Aber zugleich weiß diese Erkenntnis auch um ihre eigenen Erkenntnismöglichkeiten innerhalb des Überunendlichen. Die metaphysisch-kritische Erkenntnis, auf der die Möglichkeit menschlicher Sittlichkeit beruht, hat deswegen innerhalb der selbsterkannten Grenzen ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten des Fortschritts. Sie ist in ihrem Fortschritt nichts anderes als die menschliche Freiheit in ihrem Fortschritt. Sie betrachtet die kausalen Zusammenhänge der endlichen Dinge, und so auch das eigene endliche Dasein in der Welt unter dem Gesichtspunkt der in diesen Zusammenhängen wirksamen Determination. Für die menschliche Selbsterkenntnis hat der psychosomatische Zusammenhang im Lichte dieser Determination seine eigene spezifische kausale Bestimmung. Spinozas metaphysische Erkenntnis verkennt nicht die Bindung an die menschliche Erfahrung. Im Gegenteil. Sie rekurriert auf einer Erfahrung, die auch jeder empirischen Forschung zugrunde liegt. Diese Erfahrung ist die der ursprünglichen psychosomatischen Einheit menschlichen Wesens. In dieser Erfahrung ist das somatische Sein in Form der Ausdruckserfahrung gegeben. Wir erfahren diese in der 215 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Wahrnehmung und in der Vernunfterkenntnis und dabei den eigenen Körper und mit ihm und durch seine Vermittlung das uns umgebende Seiende in Form des Ausdrucks, in der Sprache jener Zeit, in Form von Körperideen, die uns, wenn auch inadäquat, unser körperliches Sein widerspiegeln. Menschliche Selbsterkenntnis ist eine Erkenntnis korrelativer inadäquater und adäquater Ideen. In der vernünftigen und intuitiven Erkenntnis begreift der Mensch sich in dieser Korrelation, aber darüber hinaus auch im Lichte der Gesetzmäßigkeit derselben. Es handelt sich hier um Gesetzmäßigkeiten, in denen der menschliche Geist um seine psychosomatische Verfassung weiß. In der metaphysisch-kritischen Erkenntnis erfährt die Erfahrung unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht nur eine Transformation, sondern zugleich eine Modifikation, die wir eine Umwertung derselben nennen können. Die Grenzen, die unserer Erkenntnisfähigkeit gesetzt sind, erweisen sich als Grenzen, die unsere sittliche Erkenntnis nicht beinträchtigen. Was wir nicht wissen und niemals wissen können, ist etwas, was wir für die Möglichkeit unserer Freiheit nicht unbedingt benötigen. Menschliche Freiheit als Fortschritt in der vernünftigen und anschaulichen Erkenntnis ist demnach eine fortschreitende Erkenntnis in dem, was zu dieser Freiheit nötig und was zu ihr überflüssig ist. Freiheitserkenntnis verlangt nicht zuletzt eine Idee von Unfreiheit. Für Spinoza besteht diese Unfreiheit in der Knechtschaft, genauer: in der Beherrschung durch die Macht unserer Affekte. Freiheit des Menschen, das ist zunächst und vor allem: Befreiung von dieser Knechtschaft, von der Auslieferung an die Herrschaft der uns umtreibenden Emotionen. Diese Freiheit ist Freiheit durch Erkenntnis und Freiheit zu einer vermehrten und in sich gesteigerten Erkenntnis. Spinoza hat hier mit großem Nachdruck seine Distanz gegenüber der stoischen und neustoischen Ethik zum Ausdruck gebacht, und zwar so, wie er diese Ethik verstand, als eine Befreiung von der Affektivität menschlichen Daseins überhaupt und als Befreiung zu einer Existenz unerschütterlicher Unbeirrbarkeit. Eine solche Befreiung war in seinen Augen ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mensch bleibt durch seine Erkenntnis, wie sehr er seine Erkenntnismöglichkeit auch steigert, immer an seine Leiblichkeit und mit dieser an die Gemeinschaft mit anderen Seienden in der Welt gebunden. So erstrebenswert der Zustand unerschütterlicher Unbeirrbarkeit auch ist, er ist kein Zustand emotionaler Indifferenz. Wir bleiben körperlich-geistige Wesen auch dann, wenn wir uns zur höchsten geistigen Erkenntnis erheben, indem wir unser Streben 216 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik

nach Selbsterhaltung in der Teilhabe an dem unendlichen Sein zu verwirklichen suchen. Befreiung von der Übermacht der Affekte, Befreiung aus der eigenen Ohnmacht durch Erkenntnis verlangt, zwischen dem Guten und Schlechten zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist uns bereits auf der elementarsten Stufe unseres psychophysischen Seins mitgegeben. Unsere Erkenntnis ist aber imstande, zwischen dem wahren Guten und dem wahren Schlechten zu unterscheiden. Dieser Unterschied erweist sich als ein Unterschied von allgemeiner Gesetzmäßigkeit: Hass ist niemals gut, während die recht verstandene Liebe immer gut ist – recht verstanden, das heißt: wahr und wahrhaftige Liebe, die Liebe zum Mitmenschen im Blick auf den gemeinsamen Ursprung im Überunendlichen. Spinozas Affektenlehre bildet den Kern seiner Ethik. Dabei kommt der Unterscheidung zwischen den Affekten gegenüber den Dingen als solchen und den Affekten gegenüber den anderen Menschen eine zentrale Bedeutung zu. Das Ethos sittlichen Lebens entspringt in der kausalen Interdependenz zwischenmenschlicher Affektivität. Hier ist der Ort, an dem unsere Erkenntnis ihre praktische gesellschaftliche Funktion hat. Durch unsere Vernunfterkenntnis sind wir imstande, in der Vernunft das zu erkennen, was uns mit allen Menschen verbindet. Diese Gemeinsamkeit aller Menschen lässt diese in dem Anderen das Gute erkennen. Nur in einem gemeinsamen Leben mit den Anderen vermögen wir unser eigenes Leben im Sinne einer vernünftigen Lebensgestaltung zu verwirklichen. Menschliche Freiheit ist demzufolge eine gewisse Lebenseinstellung, resultierend aus der Erkenntnis einer allgemeinen menschlichen Vernunft. Sie lässt uns erkennen, dass ein Grundaffekt wie der Neid in sich sinnlos und vernunftwidrig ist, weil wir Menschen des uns möglichen höchsten Gutes allein in der Gemeinschaft mit anderen, also gemeinsam teilhaftig werden können. Diese Lebenseinstellung ist die durchgängige Bejahung des eigenen Seins und des Seins des Anderen. Bejahung des überunendlichen göttlichen Seins, ein Leben in Aufrichtigkeit und Dankbarkeit im Vertrauen auf die Vernunft, auf die eigene wie auf die des Anderen, und Dankbarkeit dafür, dass der Andere mit uns in der Welt ist. Diese elementare Grundeinstellung und das in ihr wirksame Streben des Menschen nach Wahrheitserkenntnis bildet den bleibenden Grund möglicher menschlicher Freiheit in der menschlichen Gesellschaft.

217 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu einer philosophischen Theorie der Gefühle

Einleitung Der philosophische Umgang mit philosophischen Systemen ist hermeneutisch nie problemlos. Man kann sich mit einer generellen oder speziellen immanenten Systemdeutung bescheiden; man kann umfassende oder partielle Theorienvergleiche anstellen, und man kann schließlich den ehrgeizigen Versuch eines eigenen besseren Systementwurfs wagen. Die meisten philosophischen Bemühungen um einen passenden Umgang mit einem Gedankensystem haben von alledem etwas, teils mehr, teils weniger, teils explizit, teils implizit. Gerade deswegen aber sind solche Bemühungen in ihrer Bedeutung schwerer einzuschätzen als das Gedankengebäude, auf das sie sich einlassen. Die folgende Beschreibung einiger Aporien des Gefühlslebens erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Selbstgenügsamkeit. Sie gibt keine Antwort auf die Frage, ob es sich nur um eine einzige oder um mehrere Aporien handelt, und sie gibt vor allem keine Lösung dieser Aporien. Sie will vielmehr nur von einem exemplarischen Teilbereich ausgehend zur Prüfung der Frage beitragen, wieweit A. N. Whiteheads spekulative Kosmologie gegenüber der klassischen Metaphysik der Subjektivität zu diskussionswürdigen theoretischen Alternativen gelangt ist. Wenn diese aporetischen Vorüberlegungen zu einer philosophischen Theorie des Gefühlslebens von ihrem eigentlichen Zweck abgesondert und einem Sammelband beigegeben werden, welcher der Würdigung des systematischen Denkens von Wolfgang Cramer bestimmt ist, so bedarf dies zweifellos einer Rechtfertigung. Dabei gibt es nun neben dem unbestreitbaren äußeren Anlass einen guten sachlichen Grund. Zwischen Whiteheads und Cramers Metaphysik gibt es eine Reihe wesentlicher Gemeinsamkeiten, die auszuloten gerade angesichts ebenso wesentlicher Differenzen in der Theorie der Subjektivität eine lohnende philosophische Aufgabe darstellt. Die218 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

se Gemeinsamkeiten betreffen den Bereich des Erlebens (Cramer) und Fühlens (Whitehead) im Blick auf die zeitliche Verfassung der Subjektivität. Cramer hat Whiteheads Hauptwerk »Process and Reality«, wenn auch nicht im Detail, gekannt. Es sind vor allem die systematischen Denker unter den Philosophen, die eine besondere Begabung besitzen, Wahlverwandtschaften zu ahnen. So war sich Cramer der Bedeutung Whiteheads für eine Philosophie der Subjektivität wohl bewusst. Ich selbst verdanke ihm die erste Anregung zu einer langjährigen Beschäftigung mit dem vielleicht größten Metaphysiker nach Hegel. Die folgenden Überlegungen wollen daher auch zu einem Vergleich zwischen den philosophischen Theorien Whiteheads und Cramers anregen.

1.

Leben und Empfindung

Die mannigfachen Phänomene des Gefühlslebens haben das philosophische Denken nicht von ungefähr seit altersher beschäftigt. Ist es doch keineswegs nur der Bereich des Wahrnehmens und Erkennens, sondern nicht weniger der des Fühlens und Empfindens, in dem der Mensch der Rätselhaftigkeit des Seins, insbesondere seines eigenen Seins begegnet. Sehr oft haben die Rätsel dieser Welt der Empfindung die philosophische Fragestellung direkt bestimmt. Aber nicht weniger häufig machen sich diese Rätsel auch da geltend, wo das eigentliche Thema der denkenden Erkenntnis des Philosophen ein anderes ist. Diese eigentümlichen Rätsel des Fühlens und Empfindens begegnen uns zunächst im unmittelbaren Umgang mit diesen Gegebenheiten. Sie drängen sich dem Bemühen auf, welches den Verlauf dieser Gegebenheiten denken oder auf die eine oder andere Weise beeinflussen will. Die Fragestellungen angesichts dieser Phänomene entspringen der Erfahrung und der Beobachtung und setzen sich in der Nachdenklichkeit fort. Eine der ersten Erfahrungen, die hier zu nennen ist, ist die, dass es die Gefühle und Empfindungen sind, die uns mit dem gesamten Umkreis des Lebendigen verbinden. Auch wenn nicht unbedingt Sympathie im Spiel ist, so lehrt uns doch diese Erfahrung, so weit sie reicht: Immer wieder begegnen wir jenen Phänomenen, in denen sich Leben und Empfindung zu einer untrennbaren Einheit zusammengefunden zu haben scheinen. Wir sind geneigt, aus dieser Erfahrung zu schließen, dass Leben und Empfindung nur verschiedene Ausdrucksweisen, 219 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

nur verschiedene Beschreibungen ein und desselben Sachverhalts sind. Wo Leben ist, ist auch Empfindung; wo Empfindung ist, ist auch Leben. Mit dem einen scheint das andere zu entstehen, mit dem einen das andere zu vergehen. Diesseits und jenseits der Grenzen des Lebens, dort, wo die Herrschaft der leblosen Natur beginnt, da scheinen sich auch endgültig die Spuren der Sensibilität und der Empfindsamkeit im Dunkel zu verlieren. Aber die Kräfte des Fühlens und Empfindens reichen nicht nur in die Tiefen des einfachen Lebens. Sie reichen hinauf bis in die Höhen der komplexesten und kompliziertesten Organisationsformen der belebten Natur, bis hinauf in den Bereich des menschlichen Daseins. Der Mensch, dieses komplizierteste Lebewesen, das wir kennen, hat keineswegs nur als hoch entwickeltes Tier Anteil an Gefühl und Empfindung. Er spürt Lust und Unlust keineswegs nur in Anbetracht seiner animalischen Bedürfnisse. Feinste geistige Güter vermag er in Gefühl und Empfindung zu fassen, sich von diesen Gefühlen in der einen oder anderen Weise affizieren zu lassen. Empfindung als eine besondere Weise der menschlichen Teilhabe am Seienden scheint sich auf alle Bereiche des Seienden zu erstrecken, sofern dieselben dem Menschen überhaupt zugänglich werden können. Der Mensch ist demnach Mensch nicht nur als vernünftiges und vernünftig denkendes, sondern auch und insbesondere als empfindendes Wesen. Hier, in Gefühl und Empfindung, hegen nicht nur die Ursprünge, die ihn mit allem Lebendigen verbinden; hier, so will es scheinen, entspringen auch jene besonderen Fähigkeiten, die ihn instand setzen, sich in der ausgezeichneten Weise des Mensch-Seins von anderem Seienden zu unterscheiden, sich in Beziehung zu anderem Seienden in seiner Welt zu setzen und sich diese seine Welt als die eigene entgegenzusetzen. Der herrschende Grundzug, den wir im gesamten Bereich des Lebendigen glauben ausmachen zu können, diesen allgemein herrschenden Grundzug der Sensibilität und der Empfindlichkeit, der das Unentwickelte mit dem Entwickelten, das Niedrigere mit dem Höheren zusammenzuspannen vermag, scheint sich in dem besonderen Lebensbereich des menschlichen Daseins zu wiederholen. Auch hier scheint den Gefühlen und Empfindungen die besondere Fähigkeit eigen, das Entgegengesetzteste zu umgreifen, das Nächste mit dem Fernsten, das Einfachste mit dem Komplexesten, das Sinnlich-Körperliche mit dem Geistig-Seelischen zu verbinden. Aber dieser Grundzug des Lebens findet hier im Bereich des menschlichen Seins und Soseins nicht einfach nur seine kon220 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

sequente Fortsetzung. Vielmehr hat es den Anschein, als ob sich allererst hier das eigentümliche Wesen der Sensibilität und der Empfindsamkeit zu erfüllen vermag, und als ob insofern allererst von hier aus jener Grundzug des Lebens verständlich werde. Denn dort, wo das Leben sich nur in einfachen, primitiven Organismen und nicht bis zum menschlichen Dasein fortentwickelt darstellt, erweisen sich die Lebenskräfte der Sensibilität in ihrer Fähigkeit zu einer grenzüberschreitenden Einheitsstiftung als äußerst begrenzt. In einem solchen Falle bedarf es des Zusammenwirkens sehr vieler lebendiger Einzelwesen, damit die jeweilige Empfindung des jeweils Einzelnen sich mit den Empfindungen der anderen zu einem einheitlichen, sich genügenden Lebenszusammenhang verbindet. Dagegen ist der Mensch in ausgezeichneter Weise zur Erfüllung des Einheitssinnes der Empfindung befähigt. Denn er vermag nicht nur in Verbindung mit anderem Lebendigen, sondern auch als Einzelwesen in seinem Gefühl das Niedrigste und das Höchste zu umfassen, sich vom Trivialsten ebenso wie vom Erhabensten affizieren zu lassen. Allgemein scheinen die Gefühle und Empfindungen in besonderem Maße geeignet, uns einmal die Weite und Vielfalt des Lebens, dann aber auch die Tiefe und die einzigartige Einheit der menschlichen Seele ahnen zu lassen. Aber gerade die geschilderte Eigentümlichkeit des menschlichen Gefühlslebens, dies, dass der Einzelne in seiner Empfindung eine ganze Welt, die Fülle des Verschiedenen und Einander-Widerstrebenden in einer Einheit zu fassen vermag, stellt uns vor die Frage: Ist die Erfahrung überhaupt im Recht, wenn sie uns in den Gefühlen und Empfindungen die Einheit des Lebens und das Gemeinsame aller Lebewesen zu sehen lehren will? Müssen wir nicht vielmehr argwöhnen, dass uns hier – wie so oft – das einzelne Wort in die Irre führt, indem es durch den Schein seiner einfachen, undifferenzierten Allgemeinheit die Fülle des Verschiedenen und dessen Besonderheiten verbirgt? Gewiss werden sich die verschiedenartigen Lebewesen wie in vielem so auch in ihren Gefühlen und Empfindungen unterscheiden. Aber vielleicht unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Verschiedenartigkeit in nichts so sehr wie in ihrer je spezifischen Sensibilität. Vielleicht gilt diese Möglichkeit für den Menschen in besonderem Maße. Was also ist ein Gefühl, was eine Empfindung? Wie ist die Zusammengehörigkeit von Leben und Empfindung allgemein zu verstehen und zu deuten? Wie erklären sich die eigentümlichen Erfahrungen dieser Zusammengehörigkeit? Schon die einfache Frage nach dem Was 221 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

und dem Wie der Gefühle und Empfindungen – am Leitfaden einfacher Worte gebildet – birgt die Gefahr von Irrwegen in sich. Denn hier, in diesem Bereich schwankender Bedeutungen, in dem wie nirgends sonst die Macht des Vieldeutigen zu herrschen scheint, hält die gewöhnliche Umgangssprache weniger als irgendwo sonst sicher begehbare Erkenntniswege bereit. Die Mängel und Schwächen des sprachlichen Ausdrucks scheinen hier, gemessen an den Maßstäben objektiver und allgemeingültiger Erkenntnis, besonders auffällig. Dass uns angesichts bestimmter Gefühle und Empfindungen die Worte fehlen, dass jene uns gelegentlich geradezu sprachlos machen, dass der eine seine Gefühle so, der andere ganz anders ausdrückt, – dies sind Erfahrungen, die nicht eigens des philosophischen Beweises bedürfen. Zweifellos besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer bestimmten natürlichen Umgangssprache und einer entsprechenden philosophischen Kunstsprache. Aber diese Kunstsprache ist mehr als nur ein Teil von jener, und sie ist weniger als eine eigene selbständige Sache. Insofern erschöpft sich ihre Funktion nicht darin, die Regeln der ihr vorgegebenen Umgangssprache zu fixieren und festzusetzen. Dies vermag sie im Grunde auch gar nicht. Denn die natürliche Umgangssprache wird sich als die lebendige Sprache, die sie ist, nie im Ganzen vergegenständlichen und als ein Ganzes fester Bedeutungen und Regeln überschauen lassen. Andererseits wird die philosophische Kunstsprache in dem Maße, in dem sie am Leben einer Umgangssprache Anteil nimmt, ihre eigenen spezifischen Regeln entwickeln. Aber wieweit auch immer sie in ihrem eigenen Leben fortschreitet, sie wird es doch nie bis zu einer vollkommen selbständigen Sprache bringen. Es ist nicht ihre Aufgabe, eine gegebene Umgangssprache zu ersetzen, auch nicht um des Ideals einer reinen philosophischen Erkenntnis willen. Auch dies vermöchte sie nicht. Was ihr unter anderem immer fehlen wird, ist die Fülle des konkreten sprachlichen Reichtums, der Gefühle und Empfindungen ausdrückt, die die Umgangssprache zu einer lebendigen Sprache im ursprünglichen Sinne machen. Jede Sprache ist Medium des Sagbaren und des Erkennbaren. Aber nirgends fallen die Grenzen des einen und des anderen Mediums zusammen. Hinsichtlich dieser Medien und der Beziehung zwischen den Grenzen des einen und des anderen Mediums bleiben Umgangssprache und Sprache der Philosophie unterschieden, auch wenn diese durch jene zunehmend an Leben gewinnt, und auch wenn die Differenz zwischen beiden Sprachen sich hinsichtlich des Unterschieds von Natürlichkeit und Künstlichkeit relativiert. 222 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

Die Umgangssprache ist immer vorrangig Medium des Sagbaren und Unsagbaren, die Sprache der Philosophie immer vorrangig Medium des Erkennbaren und Unerkennbaren. Beide Sprachen ergänzen einander in der philosophischen Erkenntnis. Diese nimmt die gewöhnliche Umgangssprache in ihren Dienst, um die eigenen Ausdrucks- und Aussagemöglichkeiten zu vertiefen. Aber ebenso stellt sie sich auch in den Dienst der Umgangssprache, um deren Erkenntnismöglichkeiten zu erweitern und zu differenzieren. Dies gilt auch für die philosophische Prinzipien- und Kategorienlehre, sofern sie als Sprache der Philosophie zwar nicht die praktische Sprache der Gefühle und Empfindungen selbst, wohl aber eine bestimmte theoretische Sprache über diese emotionalen Gegebenheiten ist. In der Sprache der Philosophie verbinden sich natürliche und künstliche Sprachelemente in schwer durchschaubarer Weise. Sofern die Sprache gesprochen und geschrieben und insofern lebendige Sprache ist, passen sich das Natürliche und das Künstliche einander an bis hin zur Ununterscheidbarkeit. Die geschilderte Grunderfahrung der elementaren Zusammengehörigkeit von Leben und Empfindung, von Lebendigem und Empfindendem, von Lebendigkeit und Empfindsamkeit lässt sich mit Hilfe philosophischer Grundbegriffe allgemein so formulieren: (1) Das Leben ist Prinzip der Empfindung und des Empfindenden, wie die Empfindung Prinzip des Lebens und des Lebendigen ist. (2) Das Lebendige ist ein empfindendes Etwas, – ein Etwas als solches oder ein Ding, eine Substanz oder ein Subjekt, dem Empfindung zukommt; und umgekehrt ist das Empfindende und Empfindsame ein lebendiges Etwas und entsprechend ein Etwas, welches als solches oder als Ding, als Substanz oder Subjekt, Leben hat. Und schließlich (3) ist Lebendigkeit das Wesen der Empfindung und des Empfindenden, wie umgekehrt Empfindsamkeit das Wesen des Lebens und des Lebendigen ausmacht. In diesen Sätzen mischt sich die Umgangssprache mit der Sprache der Philosophie, und dies hinsichtlich aller vorkommenden sprachlichen Elemente, und keineswegs nur hinsichtlich der Termini aus der philosophischen Prinzipien- und Kategorienlehre. Wie die Umgangssprache zur Sprache der Philosophie, so verhält sich die menschliche Lebenserfahrung zum philosophischen Denken und Erkennen. Diese lässt sich von jener in den Dienst nehmen, wie sie diese in ihren Dienst nimmt. Die drei aufgeführten philosophischen Aussagen bezeichnen drei Weisen der Zusammengehörigkeit von Leben und Empfindung, drei prinzipielle bzw. kategoriale Grundbeziehungen, die ihrerseits auf die eine und die an223 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

dere Weise zusammengehören. Und es ist die menschliche Lebens- und Alltagserfahrung, die eine mehr oder minder vage Vorstellung von der Zusammengehörigkeit dieser Grundbeziehungen gibt.

2.

Selbstvergessenheit und Selbstverlorenheit der reinen Gefühle

So machen wir zum Beispiel, sei es im Umgang mit anderen Menschen, sei es im Umgang mit uns selbst, gelegentlich die Erfahrung, dass der Einzelne als lebendiges Ding oder Subjekt sich ganz und gar in einem einzelnen Gefühl verliert, und dies um so entschiedener, je heftiger die einzelne Empfindung, je leidenschaftlicher das einzelne Gefühl ist. Das lebendige Etwas – der einzelne Mensch – scheint hier ganz einfaches, reines Gefühl zu sein. Das Lebendige ist hier, so scheint es, ganz Freude oder ganz Zorn, ganz Begeisterung oder ganz Ernüchterung. Oder wir machen gelegentlich die Erfahrung, wie das Leben in seinem ständigen Fortgang gleichsam innezuhalten scheint, und wie es in diesem Stillstand den Einzelnen – dieses Lebendige – dazu veranlasst, sein ganzes gelebtes Leben in einem einheitlichen Lebensgefühl zu spüren, in dieser oder jener Tönung, etwa in der Tönung der Freude oder der Trauer. Auch hier in diesem einheitlichen Lebensgefühl scheint das Lebendige ganz einfache, reine Empfindung zu sein. Die Erfahrung mit diesen beiden Gefühlen lehrt, dass es sich dabei um wesentlich verschiedene Formen und Modi des Fühlens handelt. So besteht in den geschilderten Fällen eine wesentliche Differenz nicht nur hinsichtlich Qualität, Quantität und zeitlichem Verlauf, sondern auch und insbesondere hinsichtlich der jeweiligen Empfindung innerhalb des zugehörigen Lebenszusammenhanges. Dementsprechend versucht man im allgemeinen, zwischen Affekten und Leidenschaften einerseits und Stimmungen und Befindlichkeiten andererseits zu unterscheiden. Aber die Lebenserfahrung im Umgang mit der einen und der anderen der beiden unterschiedlichen Weisen des menschlichen Fühlens lehrt neben der beschriebenen Gemeinsamkeit noch etwas anderes: Der lebendige Mensch – sei er nun der Kategorie nach Ding oder Substanz oder Subjekt – verharrt normalerweise nicht ständig, und schon gar nicht lebenslang in einem solchen ihn beherrschenden einfachen, reinen Lebensgefühl, wenn nicht eine weitgreifende Anomalie vorliegt. Solange der Mensch lebt, wird er immer wieder früher oder später durch das 224 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

Leben selbst freiwillig oder unfreiwillig aus seiner emotionalen Selbstvergessenheit herausgerissen werden, um – wie aus einem heftigen oder aus einem still und nachhaltig bewegenden Traum erwachend – zu sich selbst, zu seinem wahren Selbstsein zurückzufinden. Der allausschließende Affekt beginnt sich zurückzubilden; die allbeherrschende Leidenschaft klingt ab, und das alles überschattende und bedrängende Lebensgefühl tritt allmählich in den Hintergrund. Das in jenen extremen Gefühlszuständen scheinbar stillstehende Leben nimmt wieder seinen Fortgang. Andere Gefühle und Empfindungen von anderer Art und anderen Gehalts machen sich gegenüber dem vorherigen bemerkbar. Sie erheben nun ihrerseits gegenüber diesen alten ihren eigenen neuen Lebens- und Geltungsanspruch. Auf diese Weise relativieren sie den Ausschließlichkeitsanspruch der früheren einfachen, reinen Gefühle. Sofern sie nun nicht ihrerseits alle anderen Empfindungen verdrängen, also nicht selbst in Form allausschließender Affekte oder Stimmungen auftreten, werden sich neben ihnen Spuren der alten emotionalen Gegebenheiten in der einen oder anderen Gegebenheitsweise erhalten: als abklingendes Einzelgefühl innerhalb eines komplexen Gefühlszusammenhangs oder als Grundstimmung, die einen vordergründigen vielfältigen Empfindungskomplex weiterhin in der einen oder anderen Weise bestimmt. Mit dem Fortgang des Lebens scheint hier demnach an die Stelle des einfachen, reinen emotionalen Seins ein komplexes Gefühlswesen des Lebendigen getreten, welches in der Komplexität seiner Einheit der Einheitsform des Lebendigen entspricht. Diesem Lebendigen – hier dem lebendigen Menschen – tritt nun das eigene lebendige Wesen in Form eines Scheines entgegen. In diesem Schein spiegelt sich dem Lebendigen sein lebendiges Wesen als Widerschein seines einfachen und komplexen Gefühlswesens, als wechselseitiger Widerschein des einen und des anderen reinen Gefühlswesens. Die Erfahrung mit den geschilderten menschlichen Gefühlen und Empfindungen zeigt uns demnach den lebendigen Menschen in einem bestimmten Verhältnis zu sich selbst, nämlich im Widerschein seines eigenen lebendigen Wesens; und sie zeigt uns zugleich diesen Schein als den Widerschein eines reinen Gefühlswesens und als Ausdruck einer bestimmten zugrunde liegenden Veränderung, eines Übergangs in einer bestimmten Lebensentwicklung. Dieser eigentümliche Widerschein des Lebens in seiner Lebensentwicklung besagt zunächst: Unbestimmtheit und Unentschiedenheit hinsichtlich der bestimmten Möglichkeiten des Rück225 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

gangs in dieser Lebensentwicklung. So ist und bleibt für das Lebendige als solches im Widerschein seines eigenen lebendigen Wesens zunächst unbestimmt, ob es in Wahrheit überhaupt ein solches einfaches, reines Gefühlswesen hatte, ob seine Veränderung überhaupt von der Art war, dass sich sein einfaches, reines Gefühlswesen in einen komplexen Gefühlszusammenhang wandelte; oder ob es nicht in Wahrheit auch schon zuvor und von vornherein ein reines, komplexes Gefühlswesen war, an dem sich die Veränderung und Lebensentwicklung vollzog. Diese Unbestimmtheit und Unentschiedenheit erstreckt sich ebenso auf den Rückgang und Rückblick in der Entwicklung wie auf deren Fortgang. Vielleicht ist auch das Phänomen der Komplexität des reinen Gefühlswesens des Lebendigen eine täuschende Erscheinung, und es herrscht auch hier in Wahrheit das eine und einfache ursprüngliche Selbstgefühl vor. Der wechselseitige Widerschein des einfachen und komplexen emotionalen Wesens betrifft aber auch die unterschiedlichen Möglichkeiten des Selbstseins des Lebendigen. So lässt die Erfahrung der vollständigen Beherrschung des lebendigen Menschen durch einen Affekt oder durch eine Stimmung, die Erfahrungen eines bloßen ›Es‹ des Lebendigen, nicht deutlich werden, ob es sich hier um eine echte Selbstverlorenheit oder aber um eine bestimmte Form der Selbstvergessenheit und der Selbstverkennung handelt: ob die lebendige Entwicklung hier von einer Form des Selbstseins zu einer anderen, von einem uneigentlichen zu einem eigentlichen Selbstsein geht, oder ob die Veränderung nur die Form der Selbstauslegung eines bestimmten Selbstseins des Lebendigen durch dieses selbst betrifft. Die Unbestimmtheit, welche der Schein des Lebendigen mit sich bringt, wirft nun aber die Frage nach den Möglichkeiten einer entsprechenden Bestimmtheit innerhalb und außerhalb des Lebensbereichs des menschlichen Daseins auf. Gibt es innerhalb und außerhalb dieses Bereiches überhaupt Lebendiges von schlechthin einfachem und reinem Gefühlswesen? Und wenn es Lebendiges dieser Art gibt, wie und unter welchen Bedingungen, in welcher Form vermögen sich solche einfachen Wesen im Lebendigen zu komplexen Wesen zu verbinden? Und vor allem: Wenn es solche einfachen Wesen gibt, in welchem Verhältnis stehen sie zu dem geschilderten Schein des einfachen, reinen emotionalen Seins der Affekte, der Stimmung oder eines anderen entsprechenden scheinbar einfachen, reinen Lebensgefühls des Menschen? Besteht nicht Anlass zu der Vermutung, dass das Lebendige sich wie in unzähligem anderen so auch hinsichtlich der Bestimmtheit 226 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

von Einfachheit und Komplexität von Gefühl und Empfindung unterscheidet? Aber auch den Schein selbst als Widerschein des Lebens im Lebendigen betreffen diese Fragen. Müssen wir nicht angesichts der unendlichen Verschiedenartigkeit des Lebendigen neben der Verschiedenheit des jeweiligen Wesens auch entsprechend unterschiedliche Formen und Ursachen des Scheines selbst in Rechnung stellen? Ist der Schein eine Form des Lebens selbst, seiner lebendigen Entwicklung, oder eine spezifische Form entwickelten Lebens, in dem zunächst Spuren der Fähigkeit zum Rückblick und Vorblick, zur Erinnerung und zur Antizipation zu erkennen sind? Ein Lebendiges, ob Ding, Substanz oder Subjekt und welcher Art auch immer, verhält sich immer auf die eine und andere Weise zu sich selbst. Aber ebenso verhält es sich auch zu anderem Seienden außer ihm: zu Leblosem und zu anderem Lebendigen. Es verhält sich zu sich und zu anderem Seienden in einer Lebenswelt, die es selbst und das andere von ihm Empfundene in Form seiner Lebenswelt umgreift. Es ist in diesem seinem ebenso zweifachen wie zwiespältigen Verhalten ein lebendiges, ein empfindendes Selbst. Die Zusammengehörigkeit von Leben und Empfindung besagt unter diesem Gesichtspunkt: Empfindung bzw. Fühlen ist die ursprüngliche Art und Weise des lebendigen Verhaltens des Lebendigen zu sich und zu anderen, sie ist die ursprüngliche Doppelweise des Selbstseins des Lebendigen. Und Leben ist demnach die ursprüngliche zweifache Seins- und Verhaltensweise des Empfindenden, die doppelte Art und Weise seines Selbstseins. Leben und Empfindung haben dem gemäß als Seins- und Verhaltensweise immer eine jeweilige elementare Doppelfunktion: eines Verhaltens nach innen und nach außen. Die fragliche Differenz zwischen Einfachheit und Komplexität des Gefühlswesens eines Lebendigen steht in direktem Zusammenhang mit dieser Verhaltensdifferenz dieses lebendigen Selbst. Denn die Einfachheit eines solchen Gefühlswesens scheint dem Verhalten des Lebendigen zu sich hinsichtlich seines einfachen Lebens zu entspringen, die Komplexität dagegen seinem Verhalten zu der Mannigfaltigkeit des Seienden in seiner Lebenswelt. Aber auch in dieser Hinsicht herrscht der Schein vor als Widerschein des Einfachen im Komplexen und des Komplexen im Einfachen. Denn es scheint das Verhalten des Lebendigen keineswegs nur nach innen und zu sich selbst, sondern auch nach außen und als Verhalten zu anderem Seienden außer ihm einfach, sofern dieses andere nicht in allen seinen Einzelheiten, sondern vereinfacht und in einfacher Weise emp227 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

funden wird. Und umgekehrt scheint das Verhalten des Lebendigen zu sich selbst ungeachtet seines einfachen Lebens keineswegs nur einfach, sondern auch komplex, sofern es sich nicht nur in einer je einzelnen Empfindung, sondern in allen seinen Gefühlen und Empfindungen und deren Vielfalt in Form einer einheitlichen Mannigfaltigkeit spürt. Auch hinsichtlich des zweifachen Verhaltens des Lebendigen und Empfindenden ist der vorkommende Schein und Widerschein Ausdruck eines momentanen Übergangs in der Entwicklung eines Lebendigen, nämlich der Entwicklung der Empfindung des Lebendigen. Das Verhalten des Lebendigen nach außen findet seinen Widerschein im Verhalten nach innen und umgekehrt. Deswegen herrscht in der Lebenswelt eines Lebendigen auch überall der Schein des Lebens. Dieser teilt sich auch den leblosen Dingen mit, sofern diese von dem Lebendigen in Form seines Verhaltens zu sich und unter den Bedingungen dieser Form empfunden werden. Die Erfahrung mit den menschlichen Gefühlen der Affekte und der Stimmungen haben insbesondere in dieser Hinsicht des zweifachen Verhaltens eines lebendigen Selbst eine ausgezeichnete exemplarische Bedeutung. Denn diese Gefühle erwecken den Anschein, als handle es sich bei ihnen um unmittelbar präsente emotionale Gegebenheiten, in denen die konstitutive Differenz des Selbstseins, die des Verhaltens zu sich selbst und zu anderem in eine diffuse, einer bestimmten Differenz ermangelnden Verhaltensweise aufgelöst scheint. Insofern ist die vorherige Beschreibung dieses Verhaltens als Selbstverlorenheit oder Selbstvergessenheit dem fraglichen Phänomen durchaus angemessen. Die Affekte und Stimmungen scheinen ähnlich wie äußerst heftige körperliche Schmerzen in dem Betroffenen die Grunddifferenz zwischen Innenwelt und Außenwelt auszulöschen. Insofern ist man versucht, angesichts dieser Phänomene an den Grenzen zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit ein besonders einfaches, reines Gefühlswesen zu unterstellen, in welches der Mensch in seinem emotionalen Außersich-sein hinausgerissen ist. Aber ist ein solches schlechthin einfaches undifferenziertes Gefühlswesen überhaupt mit dem Wesen des Lebendigen verträglich? Kann hier überhaupt von einer Löschung, von einer Neutralisierung der Differenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit ohne Auflösung des Lebens selbst die Rede sein? Was das menschliche Dasein betrifft, so wird hier wiederum eher die Kategorie des Scheins als die des absoluten Nichtseins angemessen sein: Wenn der lebendige Mensch aus seiner anscheinenden Selbstverlorenheit, aus seiner emo228 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

tionalen Benommenheit und Bewusstlosigkeit zur ›Besonnenheit‹ zurückfindet, zu eigentlichem Selbst- und Bewusstsein, so wird er sich fragen, ob es ein Zustand des Nichtseins von Innen- und Außenwelt, ein Zustand absoluter Indifferenz war, aus dem er zu neuem Leben erwacht ist; ob ihm jener Unterschied, der das Leben selbst auszumachen scheint, wieder geschenkt wurde, oder ob diese Lebensdifferenz nie ganz erloschen, sondern immer und ständig vorhanden war, wenn auch verdunkelt und dem Bewusstsein unzugänglich; ob die mit ihm geschehene Wandlung Entstehung eigentlichen Selbstseins oder nur Veränderung hinsichtlich der ursprünglichen Form lebendigen Selbstseins gewesen ist. Welcher Art aber könnte diese Veränderung gewesen sein? Die exemplarische Bedeutung jener extremen Gefühle des Außer-sich-seins im Affekt, in der Stimmung, im leiblichen Schmerz hat aber noch eine andere, kaum weniger wichtige Seite: Die Frage nach dem Sein und dem Schein lebendigen Gefühlswesens betrifft keineswegs nur die Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen dem Einfachen und dem Komplexen, zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Verhalten zu sich und dem Verhalten zu anderen; sie betrifft auch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen der Reinheit des Gefühlswesens und dem, was man entsprechend dessen mögliche Unreinheit nennen müsste.

3.

Denken und Leben

3.1. Denken und Selbstsein Wenn der lebendige Mensch aus seiner Verlorenheit, aus seiner Benommenheit und Besinnungslosigkeit des Gefühles auftaucht, so wird er sich fragen, wo all dies geblieben ist, was ihm eigentlich als sein eigenes lebendiges Wesen gewohnt und vertraut ist und was er in seinem wiedererwachenden Bewusstsein wieder so vorfindet, als wäre es nie abwesend gewesen: seine Wahrnehmung, seine Erinnerung, seine imaginative Vorausschau, seine theoretische und praktische Lebenstätigkeit. Hat er dies alles mit dem wiedererwachten Bewusstsein zurück gewonnen, oder ist dies alles nie ganz abwesend, sondern nur dem Bewusstsein als solchem entzogen gewesen? Ungeachtet jener erstaunlichen Fähigkeit seines Fühlens und Empfindens, sich mit jeglichem Datum, mit jedem gegebenen Inhalt zu verbinden, sich auf das 229 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

Sinnlichste wie auf das Geistige fixieren zu können, hat der Mensch normalerweise und unter normalen Umständen kein reines Gefühlsleben, welches ohne jede Verbindung zu anderen zusätzlichen Lebensaktivitäten, von diesen abgetrennt und denselben gegenüber ganz selbständig ist. Wenn es so scheint, als ob gelegentlich alles andere außer dem einen absoluten Gefühl verdrängt sei, so kann die Ursache hierfür durchaus in diesem Gefühl selbst oder in anderen mit ihm verbundenen Gefühlen liegen, die in ihrer Wirksamkeit des Verdrängens und des Vergessen-machens selbst unbemerkt bleiben. Aber normalerweise sind die Gefühle und die Empfindungen nicht die alleinigen Ursachen für die Verdrängung der anderen Lebensaktivitäten. Vielmehr sind weitere Ursachen und in der Regel die eigentlichen in diesem und jenem Lebensverhältnis über Gefühl und Empfindung hinaus zu suchen. Die Rede vom reinen Gefühl als einer Möglichkeit menschlichen Seins und Verhaltens hat im Allgemeinen eine andere Bedeutung als die einer nur ontologischen Ausschließung jedes anderen möglichen Verhaltens. Sie enthält spezifische normative Konnotationen. Ein reines menschliches Gefühl ist eine ausgezeichnete Seins- und Erkenntnisweise, in der sich die Empfindung ihrer Sache untrüglich sicher ist, sich also durch eine besondere Klarheit und Selbstgewissheit gegenüber anderen Erkenntnisweisen auszeichnet. Ein reines Gefühl in diesem Sinne ist eine ausgezeichnete Seinsweise des Menschen. Sie lebt nicht von Ausschluss, sondern von der Verbindung mit einer Fülle anderer Lebensaktivitäten. Wo nun überhaupt neben Gefühl und Empfindung andere weitere Lebensaktivitäten wie Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination ins Spiel kommen und die gegebenen Lebensverhältnisse erweitern, da gewinnt die Frage nach den Grenzen zwischen dem menschlichen und dem außermenschlichen Bereich des Lebendigen, die Frage nach den hier möglichen philosophischen Abgrenzungskriterien allererst ihr ganzes Gewicht. Denn es ist hier nicht nur die Frage, ob es irgendwo im Bereich des Lebendigen ein schlechthin reines Gefühlswesen geben könne – rein im ontologischen Sinne. Vielmehr stellt sich mit der widerspruchsfreien Annahme eines solchen Wesens unvermeidlich die weitere Frage, wie Gefühl und Empfindung eines solchen Wesens sich von Gefühl und Empfindung anderer Wesen unterscheidet, bei denen andere Lebensaktivitäten mit im Spiel sind und dementsprechend andere Lebensverhältnisse ermöglichen. Analoge Fragen stellen sich im Blick auf jede weitere Lebens230 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

aktivität eines Lebendigen, sofern dieselbe Anlass gibt, eine bestimmte Art der Lebensverhältnisse von anderen zu unterscheiden. Eine entsprechend und nur scheinbar anders gelagerte Frage ergibt sich im Blick auf diejenige Lebenstätigkeit, die in der Philosophie von jeher unter dem Titel Denken einen ausgezeichneten Rang eingenommen hat. In einem gewissen Sinne nämlich scheint das Denken noch ursprünglicher und elementarer mit dem Leben zusammenzugehören als das Gefühl und die Empfindungen. Denn das Denken gilt weithin und insbesondere in der Philosophie der Neuzeit als der eigentliche und maßgebliche Grund jedes möglichen Selbstseins und damit als Unterscheidungsgrund des Verhaltens zu sich und zu anderen. Wenn also dem Lebendigen ein eigentliches und ursprüngliches Selbstsein zuerkannt wird, so muss – wenn jene Annahme über die Funktion des Denkens richtig ist – der Grund für die Unterscheidung zwischen dem Verhalten des Lebendigen nach außen und nach innen im Denken gesucht werden. Wie aber ist diese ursprüngliche Verbundenheit zwischen Leben und Denken vorzustellen? Denkt das Lebendige selbst im Lebendigen, wenn es in diesem das Selbstsein hervorruft; denkt das Lebendige selbst hinsichtlich seiner elementaren Verhaltensdifferenz? Und vor allem: Wie unterscheidet sich dieses elementare Denken als Grund lebendigen Selbstseins von jenem eigentümlichen Verhalten, welches die Philosophie seit altersher, insbesondere auch in der Neuzeit, dem Wesen des Menschen allein vorbehalten hat? Wo zu dem ontologisch-reinen Gefühlswesen eines Lebendigen andere Formen und Aktivitäten hinzutreten, da bilden sich unvermeidlich neue Lebensverhältnisse in den jeweiligen Lebenswelten und damit möglicherweise auch neue Lebenswelten aus. So können (1) die jeweils neuen Lebensformen und Aktivitäten die vorgefundenen Verhaltensweisen des Lebendigen auf die eine oder andere Weise differenzieren. Möglicherweise gehen die neuen Formen in der Funktion einer solchen Differenzierung völlig auf; unter diesem Aspekt ist die Wahrnehmung nichts anderes als eine differenzierte Form der Empfindung, ob wir sie nun ›Wahrnehmung‹ oder ›Empfindung‹ nennen. Sie erweitert den Spielraum des emotionalen Doppelverhaltens und vermag hier die Gewichte und Intensitäten neu zu verteilen. Ferner (2) können die neuen Lebensformen neue Seins- und Verhaltensweisen gegenüber den alten ausbilden, indem sie diese entweder ganz oder teilweise in ihre Lebensfunktionen integrieren, unter Umständen dabei den alten ein eingeschränktes Eigenleben belassen. Auch für diese Lebensverhältnisse lassen sich zahlreiche 231 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Fälle des Zusammenwirkens von Empfindung und Wahrnehmung angeben. Die Wahrnehmung ist hier dominierend, ohne das Gefühlsleben ganz auszuschalten. Sie hat die Empfindungen vielmehr zu einem erheblichen Teil in ihren Dienst genommen. Mit der Verknüpfung von alten und neuen Lebensformen und mit deren wechselseitiger Anpassung aneinander entsteht (3) wiederum zusätzlicher Raum für die Entwicklung anderer weiterer Lebensformen. So schafft die wechselseitige Anpassung von Empfindung und Wahrnehmung aneinander Möglichkeiten der Imagination und der Erinnerung, die, auf Empfindung und Wahrnehmung angewiesen, deren Verhalten zu differenzieren vermögen und gelegentlich ihre eigene Dominanz entfalten. Nicht nur das Leben des Menschen, alles Leben steht im Zeichen der Endlichkeit. Begrenzt sind die verschiedenen Lebenswelten und Lebensverhältnisse, endlich ist das einzelne Lebendige in diesen Verhältnissen und Welten. Begrenzt sind hier auch die Entwicklungsmöglichkeiten von Welt, Lebensverhältnis und Lebendigem. Das bedeutet nicht generelle Übereinstimmung dieser Grenzen in jeglicher Hinsicht. Die Grenzen einer Lebenswelt können umfassender sein als die Lebensverhältnisse des Lebendigen, um dessen Lebenswelt es sich handelt. Umgekehrt ist ein Lebendiges im Prinzip durchaus fähig, die Grenzen seiner Lebenswelt durch sein Verhalten zu transzendieren. Entwicklung ist nicht nur eine Bedingung für die mögliche Transzendierung einer Welt, sie ist auch eine Weise der realen Transzendenz selbst. Worin besteht das Wesen menschlicher Entwicklung im Allgemeinen und im Einzelnen? Worin unterscheidet sich die Fähigkeit des Menschen zur Transzendierung seiner Umwelt und Lebenswelt von den analogen Entwicklungsmöglichkeiten des anderen Lebendigen? Etwa darin, dass er nicht nur im Allgemeinen, sondern als je Einzelner und in einer je einzelnen Situation über seine Umwelt hinauszuwachsen, seine Lebenswelt zu transzendieren vermag? Das Wesen lebendigen Selbstseins erschöpft sich nicht im Selbstsein der Dinge. Vielmehr sind es die Kategorien der Substanz und des Subjekts, die in der Philosophie der Neuzeit zu den maßgeblichen Formen eigentlichen und konkreten Selbstseins erhoben worden sind. So gibt – der Begriffssprache dieser Philosophie entsprechend – die Kategorie der Substanz die Form der Kausalität. Insofern ist das Lebendige, unter der kategorialen Bedingung der Substanz, als substantielles Lebendiges und als lebendige Substanz, hinsichtlich seines lebendigen Selbstseins kausal bestimmt. Das heißt, dass das lebendige Verhalten hinsichtlich seiner 232 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

Lebenswelt, ein Verhalten nach außen wie nach innen, bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten folgt. Und, sofern dieses Doppelverhalten durchgängig und allgemein die Form der Empfindung hat, heißt dies: die Empfindung des Lebendigen genügt dem Prinzip der Kausalität, und die Kausalität des Lebendigen hat die Form der Empfindung. So gesehen – unter der Bedingung der Kategorie der Substanz – ist das Lebendige hinsichtlich seiner Empfindungen und Gefühle kausal determiniert. Damit stoßen wir auf denjenigen Problemkreis, der für die neuzeitliche Philosophie zu einem Kern- und Schlüsselproblem geworden ist; nämlich auf die Frage nach der möglichen Verbindung von Determination und Freiheit. Indem man das Wesen des Menschen in dieser möglichen Verbindung und die Bestimmung des Menschen in der Freiheit suchte, glaubte man in der Beantwortung jener Frage zugleich eine Antwort auf die Frage nach den spezifisch menschlichen Lebens- und Existenzmöglichkeiten finden zu können.

3.2. Indetermination und Freiheit Das genannte Grundproblem von Determination und Freiheit tritt nun in der Philosophie der Neuzeit zunächst in einer eigentümlichen Vorgestalt auf, nämlich als Problem der Verbindung von Determination und Indetermination. Was hat nun dieses Problem mit jenem zu tun? Was lässt sich von seiner Klärung für die Klärung von jenem erwarten? Die Frage nach dem Zusammenhang von kausaler Bestimmtheit und kausaler Unbestimmtheit stellt sich zunächst im Blick auf die bisherigen Voraussetzungen und unter der spezifischen kategorialen Bedingung der Substanz, also unter den Bedingungen, dass im Lebendigen Leben und Empfindung ursprünglich zusammengehören, dass das Denken dem Lebendigen die spezifische Form des Selbstseins einer Substanz verleiht und dass zum Leben, Denken und Fühlen weitere Lebensaktivitäten hinzutreten können, die den Lebenskreis des Lebendigen modifizieren und erweitern, wie zum Beispiel das Wahrnehmen und Erinnern, das Vorwärtsstreben und das Phantasieren. Dabei zeigt sich, dass der Begriff einer Kausalität der lebendigen Substanzen, einer kausalen Determination des Lebendigen keineswegs so eindeutig bestimmt ist, wie man zunächst vermuten könnte. Denn in mehr als nur einer einzigen Hinsicht, und keineswegs nur hinsichtlich des doppelten Verhaltens des Lebendigen nach außen und nach 233 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

innen, erweist sich diese lebendige Kausalität als eine jeweils zweifache. Insofern lässt sie sich auch nicht eindeutig dem Doppelverhalten des Lebendigen zuordnen, nicht ›eineindeutig‹ auf dieses abbilden. Einmal scheint ein wesentlicher Unterschied zu bestehen zwischen dem kausalen Verhalten des Unlebendigen und des Lebendigen; zwischen dem kausalen Verhalten materieller Körper hinsichtlich der Veränderung ihrer physischen Qualitäten und dem kausalen Verhalten lebendiger Organismen hinsichtlich der Veränderung ihrer psychophysischen Eigenschaften, den Empfindungsqualitäten. Auch drängt sich ein weiterer wesentlicher Unterschied im kausalen Verhalten auf, sofern sich lebendige Substanzen nicht nur gegenüber dem Lebendigen, sondern auch gegenüber dem Unlebendigen kausal verhalten. In der Lebenswelt einer lebendigen Substanz kommen nicht nur lebendige Organismen, sondern auch materielle Körper, also sowohl lebendige wie auch unlebendige Substanzen vor. Die lebendige Substanz wird sich aber zu allen diesen Substanzen lebendig verhalten: Sie wird diese fühlen und empfinden, so als ob es sich bei jeglichem Seienden in ihrer Lebenswelt um Lebendiges handelte. Sie wird insofern durch ihr lebendiges Kausalverhalten in ihrer Lebenswelt zunächst den durchgängigen Schein des Lebens verbreiten, auch wenn sie in ihrer eigenen Entwicklung dahin kommt, zwischen Lebendigem und Unlebendigem in ihrer Empfindung zu unterscheiden. Aber nicht nur im Verhalten nach außen, auch im Verhalten des Lebendigen zu sich selbst lässt sich eine zweifache Kausalität entdecken. Die lebendige Substanz muss sich als eine solche kausal auch zu sich selbst verhalten, zu ihrem einheitlichen lebendigen Wesen, wie sie sich andererseits kausal zu ihren mannigfachen lebendigen Verhaltensweisen verhalten wird. Sie fühlt sich selbst in ihrem lebendigen Wesen, und sie fühlt ihre lebendigen Empfindungen; und sie fühlt so und so in Form der Kausalität. Schließlich scheint sich das kausale Verhalten lebendiger Substanzen noch in einer weiteren Hinsicht zu verdoppeln, wenn nicht zu vervielfachen: Mit jeder Form des Lebens, die zur Form der Empfindung hinzutritt, scheint sich das Verhalten der jeweiligen lebendigen Substanz zu modifizieren und zu differenzieren, so dass die Kausalität ihres Verhaltens die neuen zusätzlichen Verhaltensweisen auf die eine oder andere Weise wird in sich einbegreifen müssen. Die mannigfache Bedeutung der zweifachen Kausalität lebendiger Substanzen scheint nun entsprechende begriffliche Unterscheidungen notwendig zu machen. Man kann einmal unterscheiden zwischen ver234 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

schiedenartigen Kausalitäten, von denen die eine für den einen, die andere für den anderen Seinsbereich Gültigkeit hat. In diesem Falle unterscheidet man zwischen einer Kausalität materieller Körper und einer Kausalität lebendiger Organismen. Man kann aber auch den Unterschied zwischen den beiden Kausalitäten als eine Sache unterschiedlicher Perspektiven ansehen, durch die die einheitliche Geltung der einen, unteilbaren Kausalität nicht in Frage gestellt wird. Es gibt darüber hinaus die Möglichkeit, zwischen einem einfachen und einem differenzierten Kausalverhalten, zwischen einer einfachen und einer differenzierten Kausalität zu unterscheiden. So lässt sich etwa von der Differenzierung einer Ursache sprechen, wenn sich eine gewisse Veränderung rein physischer Qualitäten in eine Veränderung von psychophysischen Empfindungsqualitäten differenziert. Schließlich bleibt eine weitere Möglichkeit, die verschiedenen Kausalitäten zu unterscheiden, nämlich die der Unterscheidung zwischen kausalem und a-kausalem Verhalten, zwischen Determination und Indetermination. Die Probleme, die sich hier im Blick auf die verschiedenen Aspekte und Formen einer zweifachen Kausalität stellen, liegen auf der Hand. Es sind Probleme der Koordinierung der verschiedenen Aspekte und Formen, sowie Probleme der Reduzierung ihrer Mannigfaltigkeit angesichts des einen geltenden Prinzips der Kausalität. Hier in diesem Problembereich spielt die Kategorie Tun und Leiden seit jeher eine fundamentale Rolle. Sie hat ihre Funktion vorrangig in einer solchen Koordination und Reduktion. Tun und Leiden ist die Form des mannigfachen und vielfältigen ineinander greifenden kausalen und a-kausalen Verhaltens lebendiger Substanzen, Form der Einheit in der Mannigfaltigkeit von Beziehungen der Determination und der Indetermination. Was aber unterscheidet nun diese zweifache Kausalität von jener anderen, die unter dem Titel »Determination und Freiheit« auftritt und die den Weg zum Wesen und zur Bestimmung des Menschen eröffnen soll? Wenn die Philosophie der Neuzeit hier einen Schwerpunkt für ihre Fragestellung gesetzt hat, so nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Differenz zwischen dem Unlebendigen und dem Lebendigen, zwischen materiellen Körpern und lebendigen Organismen, zwischen dem Physischen und dem Psychophysischen. Die von ihr vorausgesetzte ontische Grunddifferenz erscheint demgegenüber gleichsam ›verschoben‹; und sie erscheint als die ursprünglichere und grundlegendere: nämlich die Differenz von materiellem und geistigem Sein, von Leib und Seele, Körper und Geist, von Rein-Physischem und Rein235 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Psychischem. Allerdings: sofern auch diese gewissermaßen ›verschobene‹ Grunddifferenz Zusammenhänge und Wechselbeziehungen nicht ausschließt, tritt auch hier das Problem einer doppelten Kausalität auf, das sich von dem zuvor geschilderten – zumindest in formaler Hinsicht – nicht unterscheidet. Daher herrscht, ungeachtet der anderen Voraussetzung einer anderen Grunddifferenz, auch hier Determination und Indetermination in Form eines tätigen und leidenden Kausalverhaltens von Substanzen. Die Philosophie der Neuzeit hat nun für das Problem der zweifachen Kausalität von Determination und Freiheit eine Lösung gesucht durch die Einführung einer neuen Kategorie, nämlich der Kategorie Subjekt. In dieser suchte man nun die eigentliche und maßgebliche Form wahren Selbstseins. Konkretes Selbstsein in Form der Subjektivität – dies zwar nunmehr nicht einfach, wie in der Form des Dinges, die Seinsdifferenz zwischen einem äußeren und einem inneren Verhältnis; auch nicht, wie in der Form der Substanz, ein Seinsverhältnis zwischen einer Art und einer anderen Art kausalen Verhaltens. Das Selbstsein eines Subjekts, dieses subjektive Selbstsein, ist nunmehr eine Verhaltensdifferenz, und zwar hinsichtlich dieses und jenes eigenen Verhaltens, eine Differenz des Verhaltens gegenüber diesem und jenem eigenen Kausalverhältnis, und insofern eine Differenz im Verhalten zu der eigenen Determination und Indetermination. Ein Subjekt ist in seiner ausgezeichneten Seinsweise des Selbstseins sich selbst in einer eigentümlichen Weise nah und fern zugleich. Es unterscheidet sich und es identifiziert sich mit diesem und jenem je eigenen Verhalten, mag es sich dabei um dieses oder jenes kausale Verhalten handeln. Ein Subjekt ist in seinem eigentümlichen Selbstsein Selbstunterscheidung und Selbstidentifikation hinsichtlich seines Tuns und Leidens, Selbstregulierung und Selbstkoordinierung seiner Verhaltensweisen insgesamt. Insofern spricht man hinsichtlich der eigentümlichen Kausalität des Subjekts im besonderen Blick auf das Wesen des Menschen von Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung. Ist aber tatsächlich mit dem Begriff einer Kausalität von Subjekten das Wesen der Freiheit und die Bestimmung des Menschen gefunden? Ist hier eindeutig zwischen Indetermination und Freiheit unterschieden? Wie kommt man überhaupt unmittelbar von einer fundamentalen Kategorie, von der des Subjektes zu einem konkreten wirklichen Wesen, wie dem des Menschen? Liegt es nicht nahe, das Lebendige als solches unter dieser Kategorie des Subjektes zu denken, so wie es zuvor 236 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Lebensgefühl und Gefühlsleben

unter den Kategorien des Dinges und der Substanz gedacht worden war? Und was die Form der Empfindung und des Gefühls betrifft: Warum sollte ein Lebendiges sich nicht in seiner Empfindung tätig und leidend, sich zu seinen Gefühlen und Empfindungen fühlend und empfindend verhalten, sich von diesen lebendigen Verhaltensweisen unterscheiden, sich mit diesen identifizieren können, wenn ihm kausales Verhalten nach innen und außen und in Form der Empfindung nicht fremd ist? Bedarf es weiterer Begriffe und Kategorien über die eines Subjektes und seiner Kausalität hinaus, wenn das eigentliche Wesen der Freiheit und die wahre Bestimmung des Menschen gefunden werden soll? Es könnte sein, dass allererst die Unterscheidung zwischen Erkennen und Handeln, zwischen Wille und Intellekt den Begriff möglicher Freiheit an die Hand gibt, den Begriff und die Kategorie eines menschlichen Subjektes, dessen Selbstunterscheidung und Selbstidentifikation dem eigenen theoretischen und praktischen Verhalten, nicht nur dem eigenen Tun und Leiden gilt.

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Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens

Nietzsche hat uns daran erinnert, dass eine Verfeinerung des Gefühlslebens nicht unbedingt mit einer Erhöhung des Wertes des menschlichen Daseins, nicht einmal mit einer Erhöhung des Wertes des Gefühlslebens verbunden sein muss. Wenn er in dem Europa seiner Zeit eine wachsende Sensibilisierung der sittlichen Empfindungen diagnostizierte, so um bei dieser Diagnose zugleich die warnende Prognose anzufügen: dass die wachsende Differenzierung der sittlichen Empfindungen Gefahr laufe, die Sittlichkeit selbst aufzulösen, oder aber in Grobheit und Undifferenziertheit, ja in Barbarei umzuschlagen. Auch wenn er es nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht hat, so war es ihm doch bewusst, dass Sensibilität und Unsensibilität im Bereich des Gefühlslebens formale Bestimmungen sind, die in verschiedenen Epochen und Kulturen höchst unterschiedliche Prägungen hervorgebracht haben. Mannigfachen Bemühungen der akademischen Philosophie zum Trotz – zu nennen sind hier Phänomenologie und Neukantianismus – ist das 20. Jahrhundert am Ende doch noch ein Jahrhundert des Psychologismus geworden, eine Epoche, der die Psychologie, die psychologische Betrachtung der Menschen viel, wenn nicht alles ist. Zweifellos hängt diese Psychologisierung mit der Anthropologisierung, der anthropologischen Tendenz unseres Jahrhunderts zusammen. Aber Psychologisierung und Anthropologisierung sind nicht schlechthin identische Tendenzen. Die Psychologisierung begann in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt Platz zu greifen, dass es die menschliche Seele sei, die dem Forscher noch unendliche Weite der Meere und unbekannte Kontinente zu entdecken verspräche. Die Ozeane, die man zu durchqueren erhoffte, versprachen nicht nur unendliche Weite, sondern auch unendliche Tiefe, unendliche Weite des Bewusstseins und unendliche Tiefe des Unbewussten. Was sich für Freud noch als wissenschaftliche Hoffnung darstellte, dass auch 238 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Wertung der Gefühle

die Tiefen der Seele dem Forscher die Geheimnisse ihrer abgründigen Gesetzmäßigkeit offenbaren würden, hat sich heute in einen schalen Geschmack verwandelt: nicht, dass wir etwa einsehen müssten – um an Heraklit zu erinnern –, dass die Abgründe der Seele zu tief seien, um sie je auszuschöpfen, 1 sondern umgekehrt: Je länger unsere psychoanalytischen Techniken in der Tiefe graben, um so alltäglicher zeigen sich die Mechanismen des menschlichen Seelenlebens im Allgemeinen und des Gefühlslebens im Besonderen. Eine unendlich große Schwemme von halbwissenschaftlicher Literatur, voller Empfehlungen für gelingende Kommunikation in allen erdenklichen Lebenslagen weist eher auf eine neue Wahrheit hin, die sich als das Gegenteil des Tiefsinns des Heraklitischen Spruchs herausstellt: Die Grenzen der menschlichen Seele sind nicht unendlich. Und wo sich Abgründe ihrer Tiefe anzudeuten scheinen, zeigen sich banale Mechanismen von Macht und Ohnmacht. Es ist mit der Seele nicht anders als mit unserem Globus bewandt, auf dem wir Menschen als Seelenbesitzer leben. Die Innenwelt, in der die Kompensation der äußeren Grenze gesucht wurde, erwies sich als ebenso begrenzt wie die des Äußeren. Eine philosophische Hermeneutik des Gefühlslebens tritt an in dem Bewusstsein, dass die Grenzen des menschlichen Seelenlebens sich allenthalben bemerkbar machen. Dies ist nun für eine philosophische Hermeneutik der Gefühle kein Grund zur Beunruhigung, kann sie doch daraus eher eine optimistische Einschätzung ihres erfolgreichen Tuns ziehen, nämlich: dass den Bemühungen der Deutung des Seelenlebens am Ende wegen der dort waltenden Grenzen im Prinzip ein durchgängiger Erfolg beschieden sein wird. Gerade aber die Erfahrung im Umgang mit den äußeren Grenzen und dem Äußerlich-Begrenzten gibt uns hier eine Vorsichtsregel für den Umgang mit der Innerlichkeit des Menschen an die Hand. Wofern sich diese Innerlichkeit der Breite und der Tiefe nach als begrenzt erweist, schließt eine solche äußerlich betrachtete Begrenzung der Innenwelt eine interne Unbegrenztheit ebenso wenig aus wie im Bereich der Außenwelt. Mit anderen Worten: Auch wenn der Bereich des Seelen- und Gefühlslebens sich als äußerlich begrenzt erweist, können wir nicht ausschließen, dass die Hermeneutik dieses Lebens, die

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Heraklit, frg. 45.

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Anthropologie

Kunst seiner Auslegung ungeachtet dessen an unüberwindliche Grenzen des Verstehens und Auslegens stößt. Nietzsche verdanken wir nicht nur ungezählte partikulare Einsichten in das menschliche Gefühlsleben, so etwa die Einsicht in die Mechanismen des Ressentiments, nicht nur im allgemeinen, sondern zugleich in unzähligen Einzelfallen. Nietzsche gibt uns aber auch eine Fülle von wichtigen methodischen Hinweisen zur Erforschung des menschlichen Seelen- und Gefühlslebens, unter denen ich einen herausgreifen und für mein Thema fortspinnen möchte. Ich meine den Hinweis auf zwei wissenschaftliche Disziplinen, die beide für die Erforschung des Seelen- und Gefühlslebens zuständig sein sollen, nämlich die Chemie einerseits und die Historie andererseits. Man würde Nietzsche missverstehen, wenn man hier die Forderung einer Verknüpfung einer Natur- und einer Geisteswissenschaft ausschließlich intendiert fände. Verfehlter aber noch wäre es, in dem Verweis auf die Chemie der Empfindungen lediglich die Metapher sehen zu wollen. Nietzsche sieht zu Recht, dass die beiden Disziplinen zwei Betrachtungsweisen an die Hand geben, die gerade im Blick auf das Seelen- und Gefühlsleben des Menschen weniger weit auseinander liegen als man heute angesichts des radikalen Dualismus von Naturund Geisteswissenschaften denken möchte. Man erinnere sich nur daran, dass schon Kant die Chemie und die Naturgeschichte zwar zu den Naturwissenschaften, nicht aber zu den von ihm so genannten reinen und eigentlichen Naturwissenschaften gezählt hat. In der Tat – und dies mag man hier als eine These nehmen – gehören »Chemie« und »Historie« in einer Hermeneutik des Gefühlslebens untrennbar zusammen. Beide Betrachtungsweisen ergänzen einander in ihrem Bemühen, das menschliche Gefühlsleben zu erforschen. Die Chemie der Empfindungen hat es mit chemischen Elementen, mit deren Verbindung und Trennung (Synthesis und Analysis) sowie mit den chemischen Bedingungen und Ursachen zu tun. In diesem Zusammenhang haben die Wertungen der Gefühle einen bestimmten chemischen Sinn. Gefühle sind so gesehen einfache oder komplexe chemische Elemente, ausgestattet mit einer jeweiligen einfachen oder komplexen Wertigkeit, die sie positiv oder negativ oder in Mischung oder Verbindung an bestimmte Gefühlsgegenstände zu binden vermag. Diese Wertigkeit ist so beschaffen, dass die Gegenstände des Gefühls unbeschadet von dessen Charakter wechseln können, d. h. die Wertbindung der chemischen Empfindungselemente ist nicht absolut. Jeder Gegenstand kann akzi240 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Wertung der Gefühle

dentiell (per accidens) Anlass von Lust oder Unlust sein, sagt Spinoza, 2 – und Freud hat diesen Grundsatz in elaborierter Form zu einem System der Ambivalenz menschlichen Gefühlslebens 3 ausgearbeitet. Die chemischen Gefühlselemente sind aber nicht nur durch ihre bestimmte Wertigkeit auf die eine oder andere Weise an Gegenstände der Empfindung gebunden. Sie weisen vielmehr in Gestalt dieser Wertigkeit ihrer selbst einen Eigenwert auf, an den sie selbst oder andere chemische Elemente sich binden können. Die Verbindungen und Lösungen von Verbindungen, die in dieser Chemie das Gefühls- und Empfindungsgeschehen bestimmen, verdanken sich sowohl den Eigenwerten der chemischen Elemente, als auch den Wertungen, welche die Beziehungen zwischen verschiedenen solcher Elemente bestimmen. Bindungen entstehen und lösen sich auf. Die herrschenden Wertungen sind verantwortlich für Anziehungen und Abstoßungen. Anders als in der Chemie der Materien werden wir in einer solchen Chemie der Empfindungen nie endgültig wissen, wie elementar ein chemisches Empfindungselement wirklich ist. Diese Chemie der Empfindungen und Gefühle ermöglicht allgemeine und spezielle Deutungen des menschlichen Gefühlshaushalts. Als eine Hermeneutik der Gefühle hat diese Chemie in der Geschichte der neuzeitlichen Empfindungen eine wichtige Rolle gespielt. Kernstück dieser Empfindungen war die Unterscheidung zwischen einfachen und gemischten Empfindungen. Geblieben ist die Erinnerung an Goethes »Wahlverwandtschaften« 4 mit ihrem Begriff der Affinität und Heinrich von Kleists verzweifelte Suche nach dem reinen Gefühl. 5 Was nun die Historie der Gefühle und Empfindungen betrifft, so stellen sich hier die Gefühlsgegebenheiten als solche ebenso wie ihre Wertungen erheblich anders dar. Für die historischen Betrachtungen zeigen sich Gefühle und Empfindungen, Affekte und Passionen teils an Geschichten, teils als Bestandteile von Geschichten. Der Historiker spürt den »Triebschicksalen« (Freud) dieser emotionalen Gegebenheit nach, die die Forscherleidenschaft um so mehr auf den Plan rufen muss, je verborgener die Ursprünge dieser Schicksale und je verschlungener die Wege und Irrwege derselben sind. Gefühle und Empfindungen, 2 3 4 5

Spinoza, Ethik, III, 15. Freud, Triebe und Triebschicksale. Goethe, Wahlverwandtschaften, Buch 1, Kap. 4. Kleist, Über das Marionettentheater.

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Anthropologie

Affekte und Leidenschaften lassen sich im allgemeinen in ihrem zeitlich-geschichtlichen Verlauf nur beschreiben mit Hilfe der Beschreibungen von Gegebenheiten, die sich mit jenen Triebschicksalen verbinden. Oft sind diese zu beschreibenden Begebenheiten banal, d. h. sehr allgemein, manchmal handelt es sich um »unerhörte Begebenheiten«, die einen würdigen Stoff für eine Novelle oder ein dramatisches Epos abgeben. Bekannt ist auch der umgekehrte Weg des Historikers der Seele, er nimmt eine Leidenschaft, einen Affekt zum Leitfaden, um eine komplexe Geschichte zu erzählen oder nachzukonstruieren. Der »Zorn des Achill«, den Homer in seiner »Ilias« darstellt, ist dafür ein klassisches Beispiel, das bis heute für eine zweifache Darstellung der Gefühle und Affekte Gültigkeit hat. Wir verstehen diesen Zorn durch die unerhörten Begebenheiten, die sich an ihn heften, und wir verstehen den Untergang Trojas als eine Geschichte, die mit der genannten Leidenschaft untrennbar verbunden ist. Die gewöhnlichen Gefühle und Leidenschaften des Menschen haben in der ihnen eigenen Geschichtlichkeit nur selten einen so dramatischen Charakter. Immerhin kann es auch in einem normalen Menschenleben dahin kommen, dass die Begebenheiten dieses Lebens das Gefühlsleben gänzlich prägen und charakteristische Physiognomien ausbilden, die ihrerseits mit anderen wichtigen Begebenheiten zusammengehen. Der Charakter eines Menschen ist so etwas wie ein sedimentiertes Gefühlsleben, und eine dominierende Befindlichkeit kann sich durchaus als Charakterzug eines Menschen auswachsen. Wie die Gefühle, so können wir auch das Charakteristische an einem Menschen nur mit Hilfe der Begebenheiten beschreiben, die wir mit diesem Charakteristischen in Verbindung bringen. Gelegentlich können wir die Gefühle und Empfindungen und einen Charakterzug in Verbindung bringen mit Ursachen und Wirkungen. Aber wichtiger als die hier möglichen kausalen Erklärungen und Interpretationen der Gefühle sind die emotionalen Reaktionen auf diese Erklärungen und Deutungen sowie die Deutung dieser Reaktionen. Dabei mag es durchaus der Fall sein, dass auch in den emotionalen Reaktionen Deutungen eingeschlossen sind. Um auf mein Thema zurückzukommen: Im Unterschied zur Chemie der Empfindungen und Gefühle, für welche die Wertung der Gefühle zu den chemischen Elementen selbst direkt und unmittelbar hinzugehört, ist für den Historiker die Wertung der Gefühle ein außerordentlich schwieriger Untersuchungsgegenstand. Dies hängt zum 242 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Wertung der Gefühle

einen damit zusammen, dass der Historiker die Gefühle und Empfindungen nur in Verbindung mit gewissen geschichtlichen Begebenheiten anerkennt, oder sie als verbindendes Band zwischen diesen Begebenheiten aufspürt. Freuds Psychoanalyse hat uns vor allem diese Belehrung verschafft, wie schwierig die Suche nach diesen Verbindungen ist. Wir dürfen sogar den Schluss ziehen, dass für sehr viele emotionale Gegebenheiten in einem Menschenleben die Suche nach einer solchen Verbindung aussichtslos ist und die entsprechenden Gefühle damit für den Historiker des menschlichen Gefühlslebens als endgültig verloren gelten müssen, wie im übrigen so viele lebensgeschichtliche Gegebenheiten des Menschen. In vielen Fällen verschiebt sich die ursprüngliche Bindung eines Gefühls auf andere Begebenheiten und verändert in dieser Verschiebung ihr Aussehen bis hin zur Unkenntlichkeit. In anderen Fällen verliert sich das Triebschicksal eines Gefühls in einer unendlichen und in ihrer Unendlichkeit unüberschaubaren Vorgeschichte, wie es in anderen Fällen sich in seiner Nachgeschichte und Wirkungsgeschichte als so dominierend erweist, dass wir über den Veränderungen, die es durchmacht, seine ursprüngliche Natur nicht mehr zu erkennen vermögen. Manche Gefühle und Affekte erlöschen, noch ehe man einen Namen für sie auch nur suchen konnte. Bei aller Bravour der heutigen tiefenpsychologischen Techniken wird man gut daran tun, sich auch hier und gerade hier der Grenzen und Risiken der Technik bewusst zu werden. Was die Unergründlichkeit des Gefühlslebens und die Grenzen seiner Deutung betrifft, so liegen diese nicht nur, vielleicht überhaupt nicht in erster Linie in der tiefen Abgründigkeit der menschlichen Seele, sondern in der Flüchtigkeit ihrer Erscheinung in dem Raffinement des von ihnen gespielten emotionalen Versteckspiels. Ist schon die Suche nach bestimmten Gefühlen für den Historiker der Seele schwierig, so muss dies um so mehr für die Suche nach den Wertungen gelten. Auch in der Chemie der Empfindungen mag es zur Bildung neuer Werte und neuer Wertungen kommen in Gestalt neuer chemischer Gefühlsbedingungen, die bislang nicht bekannt waren. Demgegenüber stößt der Historiker der menschlichen Seele auch auf Phänomene der Verkleidung von Werten, der Werttäuschung, die zu durchschauen ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt. Die Wertungen der Gefühle sind für die historische Betrachtung nicht nur Wertungen, die von dem betrachteten Gefühl ausgehen, sondern ebenso sehr Wertungen, die jenen geschichtlichen Begebenheiten und ihrer Verbindung 243 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

mit dem thematisierten Gefühl anhaften. Vor allem aber gilt für die historische Betrachtung: Alle Wertungen und Wertzusammenhänge, die im Verlauf einer Geschichte zur Sprache kommen, weisen zurück auf einen ursprünglichen Wertkontrast, dessen Ort gleichermaßen in der historischen Betrachtung ebenso wie in ihrem Gegenstand zu suchen ist. Ich meine den Kontrast zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit. Es gibt das eine und das andere; das Spüren von Sinn und von Sinnlosigkeit ebenso aber auch die Betrachtung gegebener emotionaler Daten unter dem Gesichtspunkt dieses Kontrasts. Die hermeneutische Suche nach Sinn wird gerade angesichts des menschlichen Gefühlslebens allzu oft enttäuscht. Um so überraschender und vielleicht auch erfreulicher wird es sein, wenn es zu einer unverhofften Entdeckung eines Sinns im menschlichen Gefühlsleben kommt: Wenn der Fühlende und Empfindende in dem, was er empfindet, eine gewisse Vernunft entdeckt, oder wenn der Historiker des Seelenlebens bemerkt, dass es in dem beobachteten Fall eines emotionalen Verhaltens nicht ganz unvernünftig zugegangen ist. Eine Hermeneutik der Gefühle wird sich in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch weder auf die chemische noch auf die historische Betrachtungsweise beschränken können. Sie wird daher auf die eine und die andere Betrachtungsweise zurückgreifen, um die eine durch die andere zu ergänzen und zu korrigieren. Dieser Gebrauch beider Betrachtungsweisen muss nicht unbedingt zu einer theoretischen und methodischen Vereinheitlichung führen. Man kann Whiteheads Prozessontologie, soweit diese eine Ontologie und eine Kritik des reinen Gefühls ist, als eine Hermeneutik der Gefühle betrachten, die ein heuristisches Begriffsinstrumentarium bereitstellt, in dem sich die chemische und die historische Betrachtungsweise miteinander verbinden. Aber wie immer es mit der Möglichkeit einer solchen Vereinheitlichung stehen mag, wie immer man die Frage beantwortet, ob in diesem so schwierigen Erkenntnisbereich nicht ein Methodenpluralismus weiterführt als eine einheitliche Theorie, lassen sich zumindest zwei grundlegende Ergänzungsstücke angeben, durch die die chemische und die historische Betrachtungsweise einander ergänzen: nämlich durch die beiden Perspektiven der Ontologie und der Perspektive des Sinnes bzw. der Vernunft und der Rationalität; besser der Perspektive des Kontrasts von Sinn und Sinnlosigkeit. Die Chemie der Empfindungen basiert auf einer sehr einfachen und handfesten Ontologie. Diese bedarf im wesentlichen nur der Un244 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Wertung der Gefühle

terscheidung zwischen dem Einfachen und dem Komplexen, der Annahme gewisser Wichtigkeiten, die für die Möglichkeit der Verbindung und Trennung chemischer Elemente verantwortlich sind. Es ist nicht allzu schwer, einen Grundriss einer solchen Ontologie zu entwerfen. Demgegenüber ist eine Bestimmung der historischen Betrachtung auf die ihr innewohnende Ontologie hin alles andere als einfach. Es ist hier schwer zu entscheiden, ob die Ontologie so subtil ist, dass man sie kaum zu fassen bekommt, oder ob diese Ungreifbarkeit sich dem Fehlen bzw. der Überflüssigkeit einer ontologischen Perspektive verdankt. Man sollte hier nicht voreilig argumentieren, dass Ontologie und Metaphysik ohnehin obsolet seien. Denn es gibt immerhin zu denken, dass gerade diejenigen unter den Philosophen, denen wir die wichtigsten Einsichten in das menschliche Seelen- und Gefühlsleben verdanken, alle diese in Verbindung mit ontologischen Fragen gebracht haben. Ich nenne als Beispiele: Platos Untersuchung von Freude und Schmerz in Verbindung mit dem ontologischen Beziehungsgefüge von Bestimmtheit und Unbestimmtheit im »Philebos«, Spinozas konstruktive Affektenlehre mit ihren zentralen ontologischen Begriffen der potentia agendi, d. i. der Wirkungsmächtigkeit, der essentia actualis, d. i. der aktualen Wesenheit, sowie den Begriffen adäquater und inadäquater Ursachen. Von Whiteheads Prozessontologie war bereits die Rede. Schließlich gehört hierher auch Heideggers Fundierung der menschlichen Befindlichkeiten auf die ontologische Differenz von Sein und Seiendem in »Sein und Zeit«. In der Tat ist die Frage nach dem ontologischen Status der Gefühle, Emotionen, Empfindungen etc. für diesen Bereich des Seelenlebens ebenso wichtig wie umgekehrt dieser Bereich seelischer Gegebenheiten für die ontologische Fragestellung. Denn so wie es für die Beschreibung und die Klärung des menschlichen Gefühlslebens nicht ganz nebensächlich ist, ob es sich um ein momentanes Körpergefühl oder um eine menschliche Grundbefindlichkeit, um ein Verhalten gegenüber der Umwelt oder um eine Handlung handelt, so wichtig ist es für die Frage der Ontologie, dass es offenkundig einen wichtigen menschlichen Erfahrungsbereich gibt, der zwar eine Ontologie erforderlich macht, sich andererseits aber offenkundig nicht auf eine bestimmte Ontologie festlegen lässt. Die zweite Seite, in der sich die chemische und die historische Betrachtung wechselweise ergänzen und korrigieren, ist in der Bestimmung des Sinns gegeben beziehungsweise in der Kontrastbestimmung 245 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

von Sinn und Sinnlosigkeit, von Vernunft und Unvernunft. Es ist nicht schwer zu sehen, dass Ontologie und Vernunft in der philosophischen Tradition zusammengehören. Aber es kommt dabei darauf an, dass Ontologie und Vernunft nicht einfach schlicht zusammengehen, sondern dass die Ontologie in Beziehung gebracht wird zum Kontrast von Sinn und Sinnlosigkeit. (Deswegen hängen Ontologie und Möglichkeit des Nihilismus miteinander zusammen.) Man wird wohl kaum bestreiten wollen, dass eine Chemie der Empfindungen ihre eigene Rationalität hat, die sie ihrem Gegenstandsbereich mitteilt. Diese Rationalität mag die einer Technik oder die einer wissenschaftlichen Methodik oder auch nur die einer lebensweltlichen Praxis sein. Aber so lange es bei der chemischen Betrachtung bleibt, sind die Ideen des Sinns und der Sinnlosigkeit gleichermaßen ferne. Das Gefühlsleben ist – ob sinnvoll oder nicht – ein mehr oder weniger gut geregeltes seelisches Geschehen. Es ist die historische Betrachtung, welche die Sinnfrage in die Untersuchung des menschlichen Gefühlslebens einbringt und damit zugleich den Anstoß gibt zu den weiterführenden Fragen nach der Möglichkeit sittlicher Empfindungen und nach dem Verhältnis von Emotionalität und Moralität. Die Frage nach dem Sinn, nach der Vernunft im menschlichen Gefühlsleben ist eine traditionsreiche Frage der Philosophie. So hartnäckig diese Frage sich wiederholt, so verschieden, ja entgegengesetzt fallen die Antworten aus. Um des einfachen Gegensatzes willen seien hier nur Spinoza und Kant genannt: Der eine, für den es im menschlichen Gefühlsleben so rational zugeht wie in der Verbindung der Eigenschaften mathematisch-geometrischer Objekte; der andere, dem die Versenkung in die eigentliche Innerlichkeit, die Selbstbannung in Affekt und Passion eine seelische Krankheit ist, sofern sie den Menschen im freien Gebrauch seiner Vernunft einschränkt und behindert. Es genügt gewiss nicht, sich hier wie stets an die Binsenweisheit zu halten, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen den genannten Extremen liege. Es ist aber hier zunächst auch nicht unmittelbar zwingend, eine schwache und eine starke Vernunft zu unterscheiden. Denn dies ist ja gerade die Frage, ob die Vernunft, die Rationalität des Gefühlslebens nicht vielleicht stärker ist als man gewöhnlich annimmt und ob die Logizität des Logischen vielleicht am Ende weniger logisch ist als man gerne postulieren möchte. Es bleibt, dass Sinn und Sinnlosigkeit, Vernunft und Unvernunft im Umgang mit dem menschlichen Gefühlsleben untrennbar zusammengehen. Um besonders wich246 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Die Wertung der Gefühle

tige Phänomene dieses Gefühlslebens zu nennen. Vieldeutigkeit (Verschwommenheit), Blindheit (Verblendung), Fremdheit (Verwirrung oder Verunsicherung), radikale Exzentrik der Verinnerlichung oder Entäußerung. In all diesen auffälligen Erscheinungsweisen des menschlichen Gefühlslebens treffen wir beides an, Sinn und Sinnlosigkeit. Und diesen beiden, die man auch als Wertungen des Gefühlslebens ansehen muss – elementare Wertungen begegnen uns wieder im fühlenden bzw. im emotionalen Umgang mit diesen Erscheinungen des Gefühlslebens, also mit Vieldeutigkeit und Blindheit, mit Fremdheit und extremer Exzentrik. Aber wenn hier von den Werten der historischen Betrachtung, von Sinn und Sinnlosigkeit die Rede ist, so darf man dabei nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei den zuvor genannten Phänomenen des emotionalen Lebens ebenfalls um Wertungen handelt, um gewertete Phänomene und um Phänomene des Wertens. Spätestens an diesem Punkt der Betrachtung muss man sich aber auch klarmachen, dass der Chemiker und der Historiker, von denen hier die Rede ist, keineswegs nur unbeteiligte und müßige Forscher hinsichtlich des menschlichen Gefühlslebens sind, sondern dem zuvor die fühlenden und affektiv betroffenen Menschen selbst. Sie sind es, die hier werten und mit oder ohne Erfolg dem Sinn ihres Gefühlstreibens nachspüren. Die Werte, von denen hier die Rede ist, sind keineswegs a priori Unwerte oder negativ bestimmte Werte, weder für das Gefühl als solches noch für das dem Sinn und der Vernunft nachspürende Empfinden. Gefühle vermögen sehr genau zu differenzieren, genauer als Verstand und Vernunft dies unterstellen. So ist Vieldeutigkeit dem Gefühl und Empfinden nicht nur irritierend und unbefriedigend, sondern auch reizend in Spiel und Freiheit, Anlass zu Ablenkung und Verheimlichung. So ist die Blindheit nicht nur beängstigend durch das von ihr ausgehende Dunkel, sondern schützend und angstbefreiend durch die Sicherung vor dem allzu grellen Licht schonungsloser, erschreckender Wahrheiten. Fremdheit ist den Gefühlen und Emotionen nicht nur ungewohnt und anstößig, nicht nur das Eigensein und den Eigensinn in Frage stellend, sondern auch aufregend, voller Versprechungen des Neuen und Unbekannten und voller Verheißung von Abenteuern. Und was schließlich die Exzentrik des Gefühlslebens betrifft, diese extreme Unausgewogenheit des menschlichen Innern und Äußeren, so wird diese nicht nur als Bedrohung empfunden, als eine Bedrohung, die ebenso gut aus dem Inneren wie vom Äußeren herkommen kann und den Boden schwankend macht. Die Exzentrik wird 247 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

auch gespürt als eine Möglichkeit des Außerordentlichen, sei es des Außerordentlichen eigener oder fremder Möglichkeiten. Als Möglichkeit des Hinauswachsens über sich selbst und der Selbstüberwindung. Insofern wird eine solche Exzentrik nicht nur als quälend, sondern unter Umständen auch als beflügelnd und befreiend empfunden. Gerade weil die beschriebenen Phänomene des Gefühlslebens sich in ihren Wertungen als so differenziert erweisen, wird auch der emotionale Umgang mit denselben nicht immer einfach ausfallen. Nicht erst der Verstand, schon das Gefühl kann Eindeutigkeit begehren, kann Klarheit und Hellsichtigkeit suchen, sich dem Fremden und Ungewohnten befreunden, für die exzentrische Unausgewogenheit Ausgleich anstreben und um Balance bemüht sein. Aber Gefühle können auch versuchen, Vieldeutigkeit zu bewahren und zu erzeugen, Blindheit zu gewinnen und diesen Schutz zu nutzen, sie können das Fremde als Fremdes bestehen lassen, um Anlass zum Ärgernis zu gewinnen oder Raum für Überraschung und für Möglichkeiten der Kreativität. Exzentrik kann gemildert und verstärkt werden, je nach dem, in welche Richtung das Sinnstreben des Gefühls geht. Was dem Chemiker die Doppelvalenz im Umgang mit den Wertigkeiten des Gefühlslebens ist, ist dem Historiker die Ambivalenz dieses Umgangs. Aber Doppelvalenz und Ambivalenz können sich unbeschadet im Raum gegebenen Sinns bewegen. Sie müssen nicht unbedingt die Gefahren der Sinnlosigkeit heraufbeschwören. Das Gefühlsleben des Menschen ist oft subtil genug, um die Einsichten des Chemikers und des Historikers in ihm selbst zu überholen. So wird man ihm gerechterweise auch zugestehen müssen, dass er oft, sehr oft hinter diesen Einsichten zurückbleibt. Der Weg der menschlichen Gefühle und Empfindungen zur sittlichen Verantwortung ist manchmal sehr weit; manchmal führt von dort zu dieser kein Weg. Manchmal aber findet sich dieser Weg unversehens und mit Gewissheit. Der Philosoph möge sich vor allem hüten, diese Wege des Menschen durch falsche und einseitige Theorien zu stören.

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Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein. Affekte in der Philosophie des Psychischen

Das Wort »Affekt« gehört in die Klasse von sprachlichen Ausdrücken, die wichtige psychische Gegebenheiten bezeichnen. Die deutsche Sprache ist sehr reich an solchen Ausdrücken. Ausdrücke wie »Emotionen«, »Gefühle«, »Befindlichkeiten« etc. bezeichnen – ebenso wie der Ausdruck »Affekt« – psychische Gegebenheiten, die sich als solche aus dem Strom des menschlichen emotionalen Lebens als spezifische Entitäten hervortun. Der Reichtum dieser sprachlichen Ausdrücke korrespondiert dem Reichtum und der Vielfalt des menschlichen Lebensgefühls. Aber zugleich kommt in ihm zum Ausdruck, dass die bezeichneten emotionalen Gegebenheiten sich in dem, was sie als ein solches Gefühl sind und bedeuten, nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Es gibt zahlreiche einander überschneidende Bedeutungen und entsprechend unterschiedliche Sachlagen. Die Mannigfaltigkeit dieser Ausdrücke ist selbst Ausdruck der entsprechenden Mannigfaltigkeit der psychischen Gegebenheiten. Dabei ist all diesen Bedeutungen in ihrer Vielfalt eine gemeinsame Eigenschaft eigentümlich, die formaler Natur ist. In ihnen allen wird eine bestimmte psychische Entität, ein Seiendes angesprochen, das einen gewissen Bewegungscharakter hat, dessen Besonderheit durch eben diesen Ausdruck bezeichnet wird. 1

Zur Wort- und Begriffsgeschichte von »Affekt« siehe den entsprechenden Artikel von Hengelbrock, J./Lanz, J. (1971) Affekt. In: Joachim Ritter (et al. Hg), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel, S. 89–100. Es gibt zum Ausdruck Affekt einen zweiten begrifflich nahe stehenden Terminus Affektion, den Spinoza verwendet. Man vergleiche dazu den Artikel »Affektion« von Herring, H. (1971) Affektion, a. a. O. , S. 100–101. Das Handbuch philosophischer Grundbegriffe von Hermann Krings ist im Unterschied zu Ritters Historischem Wörterbuch stärker systematisch orientiert, enthält den Terminus Affekt aber nur nebenher im Kontext des Grundbegriffs Gefühl; siehe dazu den Artikel »Gefühl« von W. Henckmann (1973) in: Hermann Krings et al. (Hg.) Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 1, München, 520–536.

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Anthropologie

Der »Affekt« scheint sich durch einen Zug zur Wissenschaftlichkeit von den anderen Ausdrücken zu unterscheiden, die, wie etwa die Ausdrücke Gefühl und Empfindung, ihren Ort eher in der Alltagssprache haben. Doch ist diese Unterscheidung selbst künstlich. Manche denken an die sprachliche Wendung, dass einer »im Affekt gehandelt« hat, um ein Beispiel für den alltäglichen Sprachgebrauch vor sich zu haben. Zwischen Alltagssprache und Fachsprache ist in einer lebendigen Sprache ein ständiges Kommen und Gehen. Man denke an den Terminus »Befindlichkeit«, der durch Heidegger eine spezifisch philosophische Bedeutung erhalten hat, die in die Fachsprache der Psychologie und der Psychopathologie eingewandert ist, und der eine platonisierende Prägung des natürlichen Gebrauchs von Redewendungen eigen ist, in der gesagt wird, dass jemand sich gut oder schlecht, sich in dieser oder jener Situation oder Lage befindet. Der Ausdruck »Affekt« zeichnet sich von anderen sprachlichen Ausdrücken des emotionalen Lebens vor allem durch den Reichtum der in ihm enthaltenen begrifflichen und theoretischen Komponenten aus. Wenn ich für die folgenden Überlegungen auf die berühmte Definition des »Affektes« in Spinozas Ethik zurückgreife, möchte ich dafür mehrere Gründe angeben. Zum einen hat Spinozas Theorie der Affekte seit dem 19. Jahrhundert eine gewisse Prominenz nicht nur in der Philosophie, sondern auch dort erlangt, wo sie sich mit wesentlichen Fragen beschäftigt, in denen die Nahtstelle zur Psychologie und zur Psychopathologie besteht. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die kritische Auseinandersetzung des Spinoza mit Descartes um Affekte und Passionen der Seele ein Orientierungspunkt für leidenschaftliche Debatten um die Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele, von Körper und Geist, um die Frage der Möglichkeit psychischer und psychosomatischer Kausalität und damit um das Problem von Determination und menschlicher Freiheit. 2 Zu Spinozas Verwendung des Ausdrucks »Affekt« vergleiche man: Spinoza, Baruch de (1677) Ethica ordine geometrico demonstrata. In: ders., Opera/Werke Bd. 2. LateinischDeutsch. Hrsg. v. K. Blumenstock. Übersetzt von B. Auerbach, Darmstadt 1967 und dazu meine Abhandlung Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre, in diesem Band S. 71 ff. Ich weise hier auch auf die höchst unterschiedliche Bestimmung des Begriffs »Affekt« bei Kant hin, der im Gegensatz zu Spinoza scharf zwischen »Affekt« und »Leidenschaft« unterscheidet, beides aber nachdrücklich von der Vernunftbestimmung abgrenzt (Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1789, § 73). Spinozas Betrachtung der menschlichen Vernunft

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Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

Spinozas Definition der Affekte bildet aber nicht nur einen wichtigen Orientierungspunkt für ein geschichtliches, ein geschichtsphilosophisches und geschichtswissenschaftliches Interesse. Ein weitergehendes Interesse verdient auch das Vorliegen einer ausdrücklichen Definition, in der ein methodisches Anliegen zum Ausdruck kommt, das auf wissenschaftliche Begründung hinzielt. Das Bedürfnis nach sprachlich genauer Umschreibung psychischer und psychosomatischer Sachverhalte geht heute über den Bereich der empirischen Wissenschaften der Psychologie und der Psychopathologie hinaus. Wissenschaft ist heute weithin international organisiert und die zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen bedürfen in ihrer weltweiten Kooperation einer gemeinsamen unmissverständlichen Sprache. Hinzu kommen die nicht weniger zahlreichen Organisationen, die weltweit im Interesse der Gesundheitskontrolle und der Gesundheitsförderung tätig sind. Spinoza hatte bei seiner Definition der Affekte diese Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft zu einem weiter und dichter gespannten Netz wissenschaftlicher Institutionen noch nicht vor Augen. Wohl aber war ihm bewusst, dass er mit seiner Wissenschaftlichkeit beanspruchenden Methode des mos geometricus in seiner philosophischen Anwendung erkenntnistheoretisches Neuland betrat – im Blick auf eine Tradition, die den Affekten ihren Ort in der Rhetorik zugewiesen hatte. Nun war nicht nur die neue Ortsbestimmung der Affekte in der Wissenschaft, sondern auch ein neuer Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Ethik erforderlich. 3 Die Definition der Affekte in Spinozas Ethik weist aber noch einen weiteren Charakterzug auf, der sie besonders geeignet macht, sie für eine gegenwärtige Betrachtung des Zusammenhangs mit der Psychologie und der Psychopathologie zu untersuchen. Die Eigenschaft dieser Definition ist bei näherem Zusehen von gewisser Besonderheit. Sie verbindet die von einer Definition zu verlangende Bestimmtheit mit einem inhaltlichen Reichtum, in dem die herausragende Bedeutung dieser Entität, genannt Affekt, für das Leben zum Ausdruck kommt. Ich möchte diesen inhaltlichen Reichtum, auch von anstehenden Problemlagen, zunächst durch eine numerische Aufzählung der Momente des Definendum deutlich machen: als Affekt findet ihre herausragende Würdigung bekanntlich durch Nietzsche; vgl. dazu meinen Aufsatz Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza, in diesem Band S. 291 ff. 3 Spinoza, Ethik III, Vorrede, S. 256 f.

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Anthropologie

1. Ein Affekt ist keine rein psychische, sondern eine psychosomatische Gegebenheit, eine psychosomatische Entität, welche die Frage nach dem Charakter der Verbindung von Leib und Seele aufwirft. Ein Affekt ist durch dieses definitorische Merkmal unterschieden von Gefühlen, denen wir ein rein psychisches Sein zuschreiben, indem wir Gefühle als seelische Befindlichkeiten umschreiben. 2. Ein Affekt ist kein bloßer psychophysischer Zustand, sondern eine dynamische Gegebenheit, deren Charakter der einer Zustandsveränderung ist. Diese Zustandsveränderung findet sich sowohl in der somatischen wie in der psychischen Komponente der Einheit des Seienden, welches als Affekt bezeichnet wird. Diese psychosomatische Zustandsveränderung hat den Charakter eines Übergangs zu erhöhter oder verminderter Aktivität, zu einer erhöhten oder verminderten Wirkungsmächtigkeit des jeweils vorliegenden Affekts. Diese Wirkungsmächtigkeit bezieht sich zum einen auf den Affekt selbst, ist also eine Wirkung gegen sich selbst und ist zum anderen eine Wirkung, die sich auf die äußere psychosomatische Umgebung des Affekts bezieht. Diese Wirkungsmächtigkeit stellt keine absolute, sondern lediglich eine begrenzte, durch äußere Faktoren gehemmte und beschränkte Macht dar. Das Schlüsselproblem dieser psychosomatischen Wirkungsmächtigkeit der Affekte in ihrem charakteristischen Auf und Ab, diesem Mehr und Weniger an Wirkungsmächtigkeit liegt in der fraglichen Korrespondenz von psychischer und somatischer Zustandsveränderung. Diese Korrespondenz hat ihren Grund in der Identität der beiden unterschiedlichen Komponenten in der Einheit eines Lebewesens; und das so oder so beschaffene Wissen um diese Korrespondenz verdankt sich dem Ordnungszusammenhang, in den diese Identität der psychosomatischen Einheit eingebunden ist. 3. In der spinozanischen Affektenlehre ist die ursprüngliche Identität des einheitlichen Lebewesens in seiner psychosomatischen Konstitution der Grund jener Korrespondenz zwischen der psychischen und der somatischen Zustandsveränderung, welche das Wesen des fraglichen Affekts ausmacht. Der immer wieder kritisierte Dualismus von Leib und Seele, von Körper und Geist setzt eben jene Identität der beiden Komponenten in der Einheit des existierenden Einzeldings voraus, dem dank der Verbindung dieser beiden Komponenten Leben zukommt. Gerade die philosophische Phänomenologie, die in erster Linie die Kritik am psychophysischen Dualismus getragen hat, übersieht, dass dieser Dualismus uns – zumindest für den uns zugänglichen Be252 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

reich menschlicher Erfahrung – ein durchaus ursprüngliches Phänomen ist. Wir erleben diesen Dualismus auf Schritt und Tritt nicht erst am Phänomen der Krankheit, sondern auch in der durchschnittlichen Gesundheit des alltäglichen Verhaltens. Nicht immer will der Körper, wie der Geist will, und nicht immer tut der Geist dem körperlichen Bestreben Genüge. Aber auch dann, wenn wir Zusammenspiel und einträchtiges Zusammenwirken im Wohlbefinden erleben, bleibt immer ein Rest des Gefühls einer Differenz zwischen den beiden grundlegenden Faktoren unseres Lebens. 4. Die klassische Theorie der Affekte setzt eine wichtige Unterscheidung voraus, nämlich die zwischen grundlegenden, also primären, und sekundären Affekten, die aus dem grundlegenden Affekt entspringen. 4 Diese hier auftretende Unterscheidung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Affekten entspricht einem sehr allgemeinen theoretischen Ansatz in der Philosophie und spielt eine besondere Rolle in deren metaphysischer Tradition. In der Neuzeit tritt er in besonderer Weise in so unterschiedlichen Philosophien wie denen von Spinoza und Heidegger in Erscheinung. 5 Wenn diese in ihren Affinitäten und ihren hervorstechenden Differenzen hier zur Sprache kommen, so wegen ihrer besonderen Aktualität in unserer Zeit. Auf den ersten Blick könnte der Gegensatz nicht größer sein. Auf der einen Seite, der des Spinoza, ist der Mensch in seinem Grundverhältnis zu Gott, auf der anderen Seite, bei Heidegger, in seinem ursprünglichen Sein in der Welt vorgestellt. Man möchte meinen, dass für die Idee des Menschen kaum ein gewichtigerer Ausgangspunkt gefunden werden kann als diese Differenz. Diese tritt noch schärfer hervor, wenn wir die komplementären Phänomene der Negativität in Betracht ziehen und uns bewusst machen: die Gottesverlassenheit und die Weltverlorenheit des modernen Die Grundaffekte der Begierde bzw. des Triebes sowie der Lust und Unlust erfahren ihre spezifische Prägung durch die jeweils mit ihnen verbundenen Gegenstände der Erkenntnis sowie durch die Lebenssituation, in denen sich der Mensch jeweils befindet. Die genauere Bestimmung der Grundaffekte bei Spinoza finden sich in seiner Ethik III, Prop. 9–11. Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Affekten ist aber zu unterscheiden von der nicht weniger wichtigen Differenz zwischen emotions und feelings, die der bekannte Neurowissenschaftler Antonio Damasio im Blick auf Spinozas Affektenlehre entwickelt Damasio, A. R. (2005), Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, S. 101 ff. 5 Vgl. dazu meinen Aufsatz Psychodynamik als Metaphysik und als wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität. In diesem Band S. 190 ff. 4

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Anthropologie

Menschen. Geht das eine und das andere nicht Hand in Hand? Oder bleiben diese Erscheinungen, die tief in die menschliche Existenz hineinreichen, ihrer ursprünglichen positiven Bestimmtheit nach verschieden? Die Frage ist hier zunächst die der Bestimmung des affektiven bzw. des emotionalen Lebens des Menschen. Und die angezeigte Differenz zwischen einem ursprünglichen Sein des Menschen in Gott und einem Sein des Menschen in der Welt ist zunächst nicht mehr als ein sehr allgemeiner Horizont für eine Frage, die auf eine wesentlich verschiedene Betrachtung des hier thematischen Gegenstands und dessen Voraussetzungen verweist. Wo Spinoza für den grundlegenden Affekt den Terminus Trieb bzw. Streben (conatus) verwendet, spricht Heidegger von Befindlichkeit. 6 Hier wie dort bezieht sich diese grundlegende Affektivität auf ein entsprechend ursprünglich gegebenes Ganzes. Aber dieses Ganze ist von vornherein unterschiedlich konzipiert. Spinozas Bestimmung des Triebes zufolge ist das Bestreben eines jeden einzelnen existierenden Lebewesens, sich in seinem Sein zu erhalten. Dieses Selbsterhaltungsstreben findet sich in allen Lebewesen, wenn auch in diesen auf höchst unterschiedliche Weise, nämlich der Art ihres psychosomatischen Seins und dessen Komplexität entsprechend. Das menschliche Streben, sich in seinem Sein zu erhalten, entspricht einer höchst komplexen psychosomatischen Konstitution, deren psychische Komponente sich durch eine in sich differenzierte kognitive Komponente auszeichnet. Diese reicht vom einfachsten perzeptiven Vermögen bis zu höchst komplexen mentalen Leistungen der allgemeinen begrifflichen und der intuitiven Erkenntnis. Diese kognitiven Fähigkeiten sind alle eingebettet in das zuvor genannte ursprüngliche Streben nach Selbsterhaltung und verleihen demselben seine spezifische Seinsweise. Leib und Seele bzw. Körper und Geist sind im Grunde in der Einheit des jeweiligen Lebewesens identisch, auch wenn sie sich für dieses in seiner endlichen Perspektive gegenüber den Dingen der Welt und gegenüber sich selbst als Zweiheit präsentieren. Der Dualismus von Körper und Geist ist so gesehen ein notwendiges Phänomen für die Lebewesen in ihrem jeweiligen Weltzugang. Einheit in der Zweiheit, Identität in der Verschiedenheit bestimmen in analoger Weise die Grundverhältnisse des Lebendigen in seinem gegenständlichen Weltverhalten. Sie betrifft die Beziehung zwischen Perzeption und Kognition, aber umso mehr 6

Heidegger, Martin (1927), Sein und Zeit, §§ 28–30

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Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

und ursprünglicher die Verbindung von Emotionalität und Kognitivität. Lebewesen unterscheiden sich untereinander nicht nur durch die unterschiedliche Differenziertheit ihrer Körper und die korrespondierende Differenziertheit der kausalen Zusammenhänge, welche die Bestandteile des Körpers untereinander und mit den Dingen der Umwelt verbinden. Vielmehr betreffen diese Unterschiede in der Komplexität lebendiger Konstitution entsprechend auch die mentale Komponente und mit dieser auch den Charakter der Affektivität des Lebendigen. Das eigentliche Thema in Spinozas Ethik ist der Mensch: Der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott und zu sich selbst. Die formale Bestimmung dieses Verhältnisses ist in der Kategorie des In-Seins gegeben. Wie alles Seiende überhaupt ist der Mensch in Gott, das heißt, in einem Allumgreifenden, welches den Charakter einer unendlichen Unendlichkeit hat. Was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist das Prinzip »Bewusstsein«. Auch wenn wir in der vorkritischen Philosophie die Betrachtung des Seienden unter dem Gesichtspunkt seiner Bedingungen als Gegenstand möglicher Erfahrung noch nicht ausgebildet finden, so entspricht die genannte Unterscheidung des Menschen von anderen Wesen der transzendentalen Methode. Sie stellt eine gewisse Vorform derselben dar. Der Grundaffekt, der das konkrete Leben des Menschen im Ganzen durchwirkt, ist der Wille. Der Begriff des menschlichen Willens ist dementsprechend keine willkürliche, augenblicklich wirksame Entscheidungsinstanz, sondern das Grundprinzip bewussten Lebens. Er ist Emotionalität und Kognitivität in untrennbarer Verbundenheit. Als Grundaffekt ist er in allen affektiven Regungen wirksam, die den Menschen in seinem Verhalten zu sich und zu den Dingen seiner Umgebung, insbesondere in seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen bestimmen. Das methodisch fragliche Grundverhältnis zwischen dem Grundaffekt, der das Leben im Ganzen durchwirkt, und den besonderen Affekten erfährt hier eine Explikation nach zwei Richtungen begrifflicher Orientierung. Zum einen ist das Verhältnis des menschlichen Willens zu seinen unzähligen Willensregungen und Willensäußerungen wie alles Geschehen überhaupt im Umgreifenden, im göttlichen Urwesen begründet. Diese ursprüngliche Grundlegung ist dem Willen in bestimmten Grenzen zugänglich, und zwar sofern der Wille nicht nur Körper und Geist, sondern in dieser Einheit immer auch Affekt und Erkenntnis ist. Die andere Seite der Begrenzung ist die eines durchgängigen gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen 255 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

den verschiedenen affektiv-kognitiven Verhaltensweisen, in denen sich das Lebewesen »Mensch« auf seinen ursprünglichen Lebenswillen gründet. So gesehen hat diese Ethik zwei methodische Seiten: Sie ist zum einen Metaphysik, metaphysische Erkenntnis, welche den grundlegenden Zusammenhang zwischen dem Sein des Menschen als Lebenswillen im göttlichen Urwesen zu bestimmen sucht; und sie ist zum anderen konstruktive wissenschaftliche Analytik, welche die Zusammenhänge der bestehenden Gesetzmäßigkeiten des menschlichen emotional-kognitiven Verhaltens untersucht. In dieser Metaphysik in Gestalt einer konstruktiven Analytik spielt das Prinzip der Kausalität eine herausragende Rolle. Kausalität ist selbst unter dem methodischen Doppelaspekt einer methodischen und einer wissenschaftsanalytischen Betrachtung zu sehen. So hat Kausalität ihren Ursprung nicht im Nichts. Sie ist vielmehr eine konstitutive Beziehung zwischen allen endlichen Dingen und ihrerseits in einem umgreifenden göttlichen Urwesen bestimmt. Kausalität ist durch dieses Sein in Gott determiniert. Kausalität und Determination sind demnach zu unterscheiden. Die endlichen Dinge sind in ihrem Verhalten untereinander zur wechselseitigen kausalen Wirksamkeit determiniert. In der heutigen Terminologie: Kausalität ist der spezifische Charakter der zwischen den Dingen herrschenden Kommunikation. Und diese Kommunikation zwischen den Dingen ist im Falle des Menschen wirksam unter der Bedingung der Verbindung von Körper und Geist, von Affektion und Kognition. Wenn der Metaphysik und wissenschaftlichen Analytik des Spinoza die hermeneutische Analytik des Daseins von Heidegger gegenübergestellt wird, so geschieht dies nicht nur, um zwei höchst aktuelle philosophische Theorien miteinander zu vergleichen, die für die Frage nach den Affekten im menschlichen Leben eine entscheidende Rolle spielen. Die weitergehende Frage für das Thema »Affekte in der Philosophie des Psychischen« ist vielmehr: Welche theoretischen und methodischen Komponenten gehen in eine philosophische Theorie der Affekte ein? Heideggers Sein und Zeit exponiert das Thema der Affekte zwar in einer Terminologie, die sich von der der Ethik des Spinoza unterscheidet, in der Sache aber zunächst eine wichtige Gemeinsamkeit enthält. Wo jene von Affekten spricht, spricht Heidegger von Befindlichkelten. Und wo Spinoza vom Grundaffekt des Willens spricht als dem bewussten Streben des Menschen, sich in seinem Sein zu erhalten, da ist bei Heidegger von der ursprünglichen, der existentiellen 256 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

Sorge des Menschen um sein Sein die Rede. Analog ist hier und dort die Annahme eines ursprünglichen affektiven Seins, das sich auf das Ganze des menschlichen Daseins bezieht. Aber gerade diese äußere Gemeinsamkeit lässt die Differenzen umso schärfer hervortreten. Zunächst scheinen die Termini eines bewussten Lebenswillens und einer ursprünglichen Sorge um das je eigene Sein den gleichen anthropologischen Sachverhalt zu umschreiben. Das Wesen des Menschen ist durch eine elementare affektive Bestimmung umschrieben, aus der sich die spezifisch emotionalen und kognitiven Momente entfalten. Aber bereits mit der affektiven Grundkomponente sind hier und dort wesentlich verschiedene Gesichtspunkte gegeben. In Spinozas Ethik ist der bewusste Lebenswille des Menschen an dessen psychosomatische Natur und damit an die komplexen Entfaltungsmöglichkeiten des psychischen Lebens gebunden, die auf der somatischen Verfassung des Menschen beruhen. In Heideggers Sein und Zeit geht es in der Bestimmung der Sorge um das je eigene Sein, um eine hermeneutische Differenzierung dieser Sorge nach zwei Seiten: zum einen um die Differenzierung der Grundbefindlichkeit, zum anderen um die des korrespondierenden Seinsverständnisses. So wie bei Spinoza Leib und Seele untrennbar zusammengehören, so hier Befindlichkeit und Verstehen. 7 Die Differenzierungen, die hinter diesen scheinbar weit reichenden Analogien liegen, sind in ihrem Ausmaß aber kaum zu überschätzen. Sie liegen zum einen hinter diesen analogen Bestimmungen und sie weisen zum anderen weit über diese hinaus. Spinozas Affektenlehre hat ihren systematischen Ort in einer metaphysisch-konstruktiven Anthropologie; Heideggers Theorie der ursprünglichen Befindlichkeit stellt sich in den Rahmen einer hermeneutisch-analytischen Erörterung der menschlichen Existenz. Wichtiger noch als diese Differenz in der philosophischen Theorie Die Analogien zwischen diesen jeweiligen Zusammengehörigkeiten bedürfen selbstverständlich einer weiteren Ausführung. Dasselbe gilt für die unterschiedlichen methodischen Ausgangspunkte der hier nebeneinander gestellten Anthropologien und deren psychologische Hauptpunkte. Wo Spinoza von Identität von Körper- und Geist des Menschen spricht, um diese Identität im Absoluten zu begründen, betont Heidegger die Gleichursprünglichkeit von Befindlichkeit und Verstehen und weist diese in einer phänomenologisch-existentiellen Analytik des menschlichen Daseins auf. Ungeachtet dieser Differenz hat ein Vergleich zwischen jener Identität und dieser Gleichursprünglichkeit eine wichtige heuristische Funktion. Vgl. zu dieser methodischen Differenz meine Abhandlung »Heideggers Verfehlung des Themas Metaphysik und Erfahrung.« In: Wiehl, R. (1996), Metaphysik und Erfahrung. Frankfurt/M., S. 155–202.

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Anthropologie

und in der mit dieser verbundenen Methode ist eine andere Unterscheidung: Beide Anthropologien, die Spinozas ebenso wie die Heideggers, verbinden die Frage nach dem Menschen mit einer Frage des Menschen selbst. Und in diesen Fragezusammenhang spielt eine Bestimmung des Menschen hinein, der zufolge der Mensch in seinem Sein immer nach sich selbst, in der Frage nach dem Sein immer auch nach seinem eigenen Sein fragt. Aber in dieser zunächst auffällig erscheinenden Verwandtschaft tritt wiederum die tief greifende Differenz umso schärfer hervor. Wie gesagt: In Spinozas Ethik ist die Frage nach dem Menschen untrennbar mit der Frage nach Gott verbunden, die Frage nach der endlichen Bestimmtheit der menschlichen Existenz nur als Frage möglich im Blick auf die Frage nach dem absoluten Einen, dem überunendlichen Wesen, welches wir Gott nennen. Aber eine andere Frage kommt hinzu, die nach dem Menschen in seinem irdischen Leben, die ihn in seiner Existenz als endlich Seiendes leitet: Es ist die Frage nach dem wahren höchsten Gut, an der sich sein Streben nach Glück ausrichtet. Der bewusste Lebenswille, diese ursprüngliche Bestimmung des menschlichen Wesens als emotionales Streben, ist auf die Idee des wahren höchsten Gutes ausgerichtet. Das emotionalkognitive Verhalten des Menschen gilt der Erlangung dieses Gutes in allen Lebenssituationen und Lebenslagen. Es macht sich immer und überall geltend: im Streben nach diesen und jenen Gütern, im Umgang mit den alltäglichen Dingen des Lebens und im Verhalten zu den näher und ferner stehenden Menschen. Die Frage der philosophischen Ethik Spinozas gilt den notwendigen Bedingungen dieses elementaren Lebenswillens und den Auswirkungen der Bemühung, sich in den Kräften der wahren Erkenntnis um die Verwirklichung dieser seiner Selbstbestimmung zu bemühen. Die Frage, die Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit verfolgt, kann – zumindest in einem ersten Gedankenschritt – der Frage des Spinoza durchaus verglichen werden: Es ist die Frage nach dem Sinn von Sein, die hier das gesamte philosophische Buch durchzieht. Es ist die Frage des Menschen, die diesen in seiner alltäglichen Existenz und in dem ihm eigenen Blick über die Existenz hinaus leitet. Die Frage nach dem wahren Glück und die Frage nach dem Sinn von Sein können durchaus als die gleichen Fragen angesehen werden, auch wenn sie einen sprachlich verschiedenen Ausdruck finden. Aber sie lassen sich auch unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten sehen: Dann nämlich, wenn dem Menschen das Streben nach Glück sinnlos vorkommt, weil 258 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

dieses ihm unerreichbar oder überhaupt gar nicht bestimmbar erscheint; und wenn sich dann die Frage nach dem Sinn von Sein als Frage nach dem Sinn seiner eigenen Existenz umso drängender stellt. Vergleicht man die philosophischen Fragen Spinozas und Heideggers, in deren Brennpunkt die Bestimmung des emotionalkognitiven Lebens des Menschen steht, so drängt sich aber noch eine andere Differenz in den Vordergrund, die sich nicht ohne weiteres mit der Differenz der Frage nach dem wahren Glück und nach dem Sinn von Sein zusammenbringen lässt. In den philosophischen Fragen hier wie dort sind die Akzente in der Gewichtung der Fragen der Philosophie und der Fragen des Menschen unterschiedlich gesetzt. In Spinozas Ethik wird die Frage der Philosophie im Blick auf die Frage des Menschen und um dieser Frage des Menschen willen gestellt. In Heideggers Sein und Zeit stellt sich die Frage nach dem Menschen um der Frage der Philosophie willen. Dort, bei Spinoza, ist die Frage nach dem Glück die Frage des Menschen, die der Philosoph für den Menschen und um des menschlichen Glückes willen stellt. Hier, bei Heidegger, stellt sich die Frage nach dem Sinn von Sein im Blick auf das alltägliche Sein des Menschen, im Blick auf seine in der Unwahrheit steckende und der zur Wahrheit vordringenden Existenz – um der Philosophie willen. Dort geht es um die Erneuerung des Menschen, hier um die Erneuerung der Philosophie, dort um die Suche nach dem wahren Lebensweg, hier um die Entdeckung einer verborgenen Wahrheit als solcher. Man kann gegen diese Zuspitzung der Unterschiede zwischen den beiden hoch bedeutenden philosophischen Positionen einwenden, dass der hier geltend gemachte Gegensatz so gegensätzlich nicht sei, wenn man bedenkt, dass am Ende der Philosoph um die Sache des Menschen bemüht und der Mensch um die Möglichkeit der eignen philosophischen Existenz besorgt sei. Aber wie immer man die Positionen Spinozas und Heideggers einander annähert, es bleibt bei beiden eine neuzeitliche Differenz zwischen dem, was als Dogmatismus und Kritizismus in die Geschichte der Philosophie der Moderne eingegangen ist. Von dem einen wie von dem anderen finden sich Spurenelemente sowohl in Spinozas Ethik als auch in Heideggers Sein und Zeit. Hier wie dort wird der Mensch in seinem Sein von einem Anderen her begriffen, von diesem Anderen her in seinem Verhältnis zur Welt, zu den Menschen und zu sich selbst gesehen. Man kann, entgegen einer verbreiteten Ansicht, dass hier noch ein metaphysisches Denken am Werke sei, darüber streiten, ob die Gegenansicht eher dem Standpunkt des Kritizismus 259 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

gerecht werde, die den Anspruch erhebt, den Menschen nicht mehr von einem Anderen her zu denken, sondern von ihm selbst aus und auf ihn selbst hin. Es könnte durchaus sein, dass diese scheinbar kritizistische Betrachtung weniger selbstkritisch wäre, als dies auf den ersten Blick scheinen mag. In Spinozas Ethik und in Heideggers Sein und Zeit spielt schließlich noch eine andere Differenz eine wichtige Rolle, die das hier gegenständliche Thema nicht unberührt lassen kann. Es ist dies die Differenz zwischen Wissenschaft und Alltagserfahrung. Dieser Unterschied ist hier und dort jeweils anders strukturiert, weil in beiden Fällen die Philosophie noch als Wissenschaft vorgestellt, zugleich aber die neuzeitliche nicht-philosophische Wissenschaft sich in der Philosophie geltend macht, und dies auf höchst unterschiedliche Weise, nämlich produktiv und destruktiv. Auch die philosophische Anthropologie, Erbin der modernen kritischen Transzendentalphilosophie, lebt aus der Differenz von Alltagserfahrung und Wissenschaft. Und selbst die empirischen Wissenschaften, die sich eindeutig von einer Philosophie abgrenzen, die am Anspruch der Wissenschaftlichkeit festhält, sind geprägt von einer entsprechenden Unterscheidung zwischen menschlicher Alltagserfahrung und einer ihnen eigenen spezifischen Wissenschaftlichkeit. Auch die Psychologie und Soziologie, auch die Neurobiologie, die für die hier thematisierte Frage nach den Affekten die wichtigsten wissenschaftlichen Instanzen sind, kommen ohne die Unterscheidung zwischen Alltagserfahrung und jeweiliger Wissenschaft nicht aus. Neurobiologie, Psychologie und Soziologie haben alle auf unterschiedliche Weise an den Affekten und den zugehörigen psychosomatischen Gegebenheiten ihre Gegenstände. Diese haben ihren bestimmten Ort innerhalb eines jeweiligen Gegenstandsbereichs, durch den sich die zugehörige Wissenschaft definiert. Was die genannten Wissenschaften von der traditionellen Philosophie und deren Wissenschaftsanspruch vor allem unterscheidet, ist die Besonderheit ihres gegenständlichen Bereichs und die Spezifität ihrer Methode. Wenn wir allgemein vom empirisch-experimentellen Charakter der neuzeitlichen Wissenschaft sprechen, so muss heute dringlicher denn je auf die Differenzen im methodischen Bereich der Empirien verwiesen werden. Ein neurologisches Experiment der Hirnforschung hat wesentlich anderen Charakter als die wissenschaftlich-statistische Interpretation einer sozialwissenschaftlichen Meinungsumfrage. In den Experimenten der empirischwissenschaftlichen Forschung gehören kausale Interpretationen der be260 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

obachteten Zusammenhänge und ein mehr oder weniger explizites Konzept von Kausalität wesentlich dazu. In diesem Punkt berühren sich diese Forschungen mit der Alltagserfahrung und der allgemeinen Erfahrung, welche die Philosophie ihren theoretischen Generalisierungen zugrunde legt. Auch die Alltagserfahrung speist ihr Alltagswissen aus Wahrnehmungen und Beobachtungen und aus deren kausalen Interpretationen. Die Unterschiede gegenüber den empirischen Wissenschaften entspringen aus unterschiedlichen Fokussierungen der relevanten gegenständlichen Aspekte und vor allem aus den Unterschieden im Umgang mit den kausalen Erfahrungen. Ein wichtiger Punkt im Vergleich zwischen alltäglichem, philosophischem und empirisch-wissenschaftlichem Umgang mit psychosomatischen und psychischen Gegenständen betrifft deren sprachlichbegriffliche Umschreibung. In keinem Fall muss dabei unbedingt die Forderung definitorischer Bestimmtheit erfüllt sein. In allen Fällen genügt eine Umschreibung des Gegenstands, die hinreichende Gewähr für die beliebig wiederholbaren Identifizierungen des entsprechenden Gegenstands ermöglicht. Eine schwache Form von Definition ist demnach ausreichend. Man wird hier allerdings die Differenz zwischen Methodologie und Methode nicht außer Acht lassen dürfen, an die Karl Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie erinnert hat. 8 Die Methodologie bestimmt die Organisation des jeweiligen Gesamtbereichs des entsprechenden wissenschaftlichen Gegenstands, die Methode den gegenständlichen Zugriff in einer jeweils bestimmten Forschungslage. In beiden Fällen aber muss die sprachlich-begriffliche Umschreibung des gegenständlichen Sachverhalts in seiner intentionalen Vergegenständlichung die Gewähr dafür bieten, dass es den entsprechenden Gegenstand gibt und dass dieser in seiner intentionalen Vergegenständlichung getroffen wird. Diese ontologische Relevanz der Vergegenständlichung enthält in sich eine Reihe von Erkenntnisbedingungen, die in ihrer ganzheitlichen Einheit als ontologisches Prinzip gelten können. Dieses Prinzip besteht aus einer Reihe von Einzelprinzipien, die gegeben sein müssen, wenn die gegenständliche Intention ihre Erfüllung soll finden können. Nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis, auch die alltägliche Erfahrung enthält ein solches ontologisches Prinzip. Auf ihm beruhen die alltäglichen Gewissheiten von den bestehenden und den nicht-bestehenden Sachverhalten. Mit ihm sind auch die 8

Jaspers (1959) Allgemeine Psychopathologie, Basel, §§ 1–5

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Anthropologie

mit einer solchen Erfahrung verbundenen Zweifel und Ungewissheiten gegeben. Das ontologische Prinzip ist hier anders als in der Wissenschaft in erster Linie in alltägliche Lebensgewohnheiten eingebunden. Diese regulieren die Erwartungen und Befürchtungen im Blick auf die gewohnten Lebenserscheinungen. Auch die Ausnahmefälle und die ungewöhnlichen Erscheinungen fallen noch unter den Geltungsbereich des ontologischen Prinzips der Alltagserfahrung. In den Wissenschaften enthält das ontologische Prinzip methodische und methodologische Regeln, die die Theorie und Praxis der entsprechenden Wissenschaft bestimmen. Dabei greifen Theorie und Praxis in der Regel ineinander. Die wissenschaftliche Theorie verlangt Anwendbarkeit in der Praxis, die wissenschaftliche Praxis eine ständige Rückbesinnung und Überprüfung ihres theoretischen Fundaments. Es ist die alltägliche Erfahrung im Umgang mit den Affekten, in denen nicht nur die kausalen Zusammenhänge, sondern auch deren kausale Interpretationen eine große Bedeutung haben. Diese Interpretationen sind wie die zuvor gegebenen Affekte ihrerseits affektgeladen. Sie werden durch Affekte befördert und sind ihrerseits auf vielfältige Weise Anlässe bzw. Auslöser von mehr oder weniger starken affektiven Regungen. Die kausalen Deutungen unseres alltäglichen Lebens gehen bekanntlich oft in die Irre. Und wenn wir das emotionale Leben – zu Recht oder zu Unrecht – in Verbindung mit einem irrationalen Verhalten bringen, so ist der Grund dafür nicht zuletzt in den affektgeladenen kausalen Interpretationen zu suchen. Wir suchen nach Ursachen angesichts der Unverhältnismäßigkeit, angesichts des Ungewohnten, uns anormal erscheinenden eigenen und fremden Verhaltens in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Lebensabschnitt. Aber nicht nur, dass wir nach den Ursachen suchen; wir tun dies mit Emotion und aus Emotion. Es sind die Gefühle und Affekte, die uns nach den Ursachen von Phänomenen des affektiven Verhaltens fragen lassen. Und wir sind in diesen alltäglichen, auf die Situation zugeschnittenen Ursachenforschungen konfrontiert mit unseren eigenen kausalen Fehlurteilen und mit den Missverständnissen der kausalen Interpretation unseres emotionalen Verhaltens durch andere Menschen. Und diese Erfahrung mit kausalen Fehldeutungen in unserem Alltagsleben veranlasst uns schon im Alltag nach Erklärungen für diese Fehldeutungen zu suchen. Schon hier ist ein weites Feld für das kritische Nachdenken und für die Suche nach den Erklärungen für kausale Interpretationen. 262 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein

Schon vor der systematischen und methodologischen Erforschung des Verstehens und Erklärens in Psychologie und Psychopathologie ist unser alltägliches Leben angesichts seiner affektiven Modalitäten geprägt durch gedankliches Experimentieren mit diesen und jenen kausalen Deutungen. Menschliche Freiheit ist nicht nur der Gegensatz zur kausalen Determination. Sie ist auch nicht nur eine bestimmte und ausgezeichnete Form von Kausalität. Freiheit entfaltet sich primär im Spielraum kausaler Interpretationen und im Bereich der kritischen Prüfung derselben auf ihre Stichhaltigkeit hin. Menschliche Freiheit gehört zusammen mit dem Affekt der Gewissenhaftigkeit. 9 Diese ist eine Grundeinstellung, in der es um die möglichst genaue Erforschung und Bestimmung der Ursachen und Wirkungen des eigenen Verhaltens im Verhältnis zum Verhalten der anderen Menschen geht, mit denen man zu tun hat. Wie die Gewissenhaftigkeit selbst, so sind ihre spezifische Formen, das Verantwortungsbewusstsein, Schuld und Reuegefühle in den Bereich der Affekte gehörig. Das menschliche Bewusstsein, dem heute mehr denn je die Forschung in Philosophie und Wissenschaft gilt, ist eine ausgezeichnete Gestalt menschlicher Affektivität. An ihm zeigt sich die außerordentliche Plastizität und die hohe Rezeptivität und Aktivität unseres emotionalen Lebens. Bewusstsein – als Bewusstsein von diesem und jenem – ist ein höchst differenziertes Gebilde, bestehend aus einem vorbewussten Wissen um Zeitverläufe, um eigenes und fremdes Verhalten, welches in diese Geschehnisse verwickelt ist; es enthält zutreffende und irrige kausale Interpretationen, gebunden an spezifisch affektgeleitete Wertungen. Die Suche nach den ersten und letzten Ursachen, die der Philosophie und der Religion eigentümlich ist, sollte an die hohe Tugend der bewussten Gewissenhaftigkeit gebunden sein. Zwischen den Affekten und den verschiedenen Erscheinungsformen menschlichen Selbstseins besteht ein so enger Zusammenhang, dass wir zumindest für den Grundaffekt des Lebenswillens bzw. der Sorge um den Sinn von Sein von Selbstidentität sprechen können. DieGewissenhaftigkeit darf nicht mit Reue (poenitentia) verwechselt werden, die, Spinozas Affektenlehre zufolge, keine Tugend ist, weil sie der Vernunfterkenntnis ermangelt (Vgl Spinoza, Ethik IV, Lehrsatz 54). Die Affektenlehre des Spinoza zeigt vielmehr im Ganzen den Zusammenhang von Freiheit und Vernunfterkenntnis als ein höchst komplexes Beziehungsgeflecht menschlichen Verhaltens in der Welt, in dem sich die Bedeutsamkeit einer auf Vernunft gegründeten menschlichen Gemeinschaft erkennen lässt.

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Anthropologie

ses ursprüngliche Selbstsein kann als Selbstgefühl bezeichnet werden. Es ist präsent in allen sekundären Affekten, präsent in den Befindlichkeiten und Stimmungen, in den emotional gefärbten Intentionen und den kausalen Interpretationen des Geschehens und des Verhaltens der Menschen. Extreme Ausprägungen des emotionalen Lebens lassen im Selbstsein das, was in der Regel zusammengehört, auseinander treten: Bei-sich-Sein und Außer-sich-Sein. Wir unterscheiden Vernunft und Unvernunft der Affekte, und zwar in erster Linie im Blick auf die kausalen Interpretationen. Wo im Selbstsein Bei-sich-Sein und Außersich-Sein scharf auseinander treten, pflegen wir die Vernunft eher im Zustand des Bei-sich-Seins als in dem des Außer-sich-Seins zu suchen. Wir können jedoch nicht ausschließen, dass wir auch im Zustand des Außer-uns-Seins eine untrüglich kausale Einsicht gewinnen. Wie gesagt, Affekte sind körperlich-seelische Erregungen. Sie enthalten in sich eine mehr oder weniger komplexe Wertstruktur, in der sich die elementaren Wertungen von Lust und Unlust, von Liebe und Hass bzw. von Zuneigung und Abneigung aufspüren lassen. Schon der Grundaffekt, der Lebenswille enthält in sich ein mehr oder weniger unbewusstes Streben nach dem richtigen Leben, eine Glücksverheißung vor Augen; und das Suchen nach dem Sinn von Sein, die Suche nach dem wahren, dem eigentlichen Sein. Durch Lebenserfahrung, durch Erziehung und Bildung werden aus den flüchtigen, temporären Gebilden der Affekte affektgeladene Gewohnheiten, Haltungen, Lebenseinstellungen, Praktiken des Lebens. Immer spielen in diesen die affektgeladenen Wertbildungen eine orientierende Rolle, fördernd und hemmend. Die Philosophie sucht von alters her in den Affekten und in deren Fortbildung zur Gewohnheit und zur Selbsterkenntnis die Quelle der Ethik. Hier finden sich die Grundlagen einer bewussten Lebensgestaltung in der menschlichen Gemeinschaft. Durch ihren affektbestimmten, emotionalen Charakter haben die ihnen innewohnenden Werte eine eigene Triebkraft. Zu Recht werden die Affekte in ihrer Eigendynamik auch als Kräfte, um nicht zu sagen, als Mächte angesehen, die das menschliche Leben beherrschen und deren Herrschaft dem Menschen die Grenzen seiner Freiheitsmöglichkeiten aufzeigen. Es sind Mächte, die fesseln und lösen, binden und befreien. In ihren Bindungen und Lösungen binden und lösen sie Elemente des menschlichen Lebensganzen, indem sie gelebte Erfahrungen festhalten und lösen und das Lebensgefühl zu bewusstem Leben gestalten.

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Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

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Schmerzen – ganz allgemein

Es gibt wohl niemanden, der ausziehen wollte, den Schmerz kennen zu lernen, so wie der Mann im Märchen, der auszog, das Fürchten zu lernen. Mit dem Schmerz hat jedermann schon einmal Bekanntschaft gemacht, ohne genau zu wissen, wann und wo dies zum ersten Mal der Fall war. Wie oft hat er sich als Kleinkind wehgetan, ohne sich zu erinnern, wie und aus welchem Anlass. Unzählige größere und kleinere Schmerzen werden nur nebenher bemerkt und schnell wieder vergessen. Aber auch die unbemerkten, die schnell vergessenen Schmerzen, sind nicht ganz vergessen. Ohne unser Zutun verwandeln sie sich in Erfahrungen. Schmerzerfahrungen gehören zu den wichtigsten Lebenserfahrungen. Der Schmerz, die Schmerzen, sie gehören zu den großen Lehrmeistern im menschlichen Leben. Von früh an lernen wir die verschiedensten Arten von Schmerzen kennen: stärkere und schwächere, Schmerzen, die auf diese und jene Weise weh tun, Schmerzen, die ihre spezifischen Qualitäten haben, bohrende, stechende, brennende Schmerzen. Und zugleich mit diesen Erfahrungen der unterschiedlichen Schmerzqualitäten verbinden sich Erfahrungen von den unterschiedlichsten Schmerzursachen. »Gebranntes Kind scheut das Feuer.« Dieses verursacht auf andere Weise Schmerz als ein spitzer Gegenstand, an dem ich mich gestoßen und mehr oder weniger stark verletzt habe. Über meine Schmerzerfahrungen mache ich meine Welterfahrungen, meine Erfahrungen von den Dingen und von den Menschen, von meiner näheren und ferneren Umgebung, die gewollt oder ungewollt schmerzlich auf mich einwirkt. Zu den wichtigsten Erfahrungen mit den Schmerzen gehört, dass viele von ihnen kommen und gehen, die einen länger, die anderen kürzer bleiben. Und dann die quälende Erfahrung, dass der Schmerz nicht weichen will, dass alle erprobten Mittel nicht helfen wollen, ihn zu vertreiben. Es ist der chronische, 265 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

der nicht vergehende Schmerz, der uns erfahren lässt, dass wir über den Schmerz nicht mehr viel lernen können. Wir sind zu Kennern der Schmerzen geworden. Der Schmerz ist nicht nur ein wichtiger Lehrmeister, der uns über seine Verbindung mit seinen Ursachen und Wirkungen vieles beibringt. Er ist dem zuvor ein Unruhestifter und Provokateur. Ein Unruhestifter, weil er uns aus einer gewissen Befindlichkeit herausreißt, aus einer Befindlichkeit, mit der wir selbstverständlich gelebt haben und in der wir uns zu verschiedenen Tätigkeiten veranlasst fühlen. Der Schmerz stört unsere gewohnte Befindlichkeit auf unterschiedlichste Weise, indem er dieser eine bestimmte Färbung oder Tönung verleiht, oder sich zu einem mehr oder weniger bestimmten Kontrast oder Gegensatz gegenüber der vorherrschenden Stimmung entfaltet. Hier wird er zum echten Störenfried, sei es, dass er die gute Stimmung verdirbt, sei es, dass er unsere Aktivitäten in Mitleidenschaft zieht, unser gewohntes Tun und Lassen mehr oder weniger beeinträchtigt. Aber als Störenfried wird der Schmerz weiterhin zum Provokateur. Er ruft etwas hervor, was mehr oder weniger unbemerkt schon da ist und in der Störung einer jeweiligen Befindlichkeit bewusst wird. Den mehr oder weniger bewussten Schmerz bezeichnen wir im allgemeinen als Schmerzempfindung. Deshalb ist eine solche Empfindung dem Grade und der Stärke des Bewusstseins entsprechend zu unterscheiden. Mit wachsender Bewusstheit ergibt sich zugleich eine bestimmte Bewertung des Schmerzes in der Empfindung. Diese Bewertung enthält verschiedene Komponenten. Bewertet wird die Qualität des Schmerzes, insbesondere aber auch das Maß seiner Erträglichkeit, schließlich und vor allem auch die Möglichkeit seiner Schwächung, vor allem die Möglichkeit, den Schmerz ganz zum Verschwinden zu bringen. Mit der Schmerzerfahrung des Menschen ist untrennbar auch die vielfältige Gewohnheit der Schmerzvermeidung verbunden. Zu dieser Gewohnheit gehören kausale Deutungen des Schmerzanlasses, insbesondere aber auch kausale Interpretationen der Verbindung zwischen Schmerzempfindung und Schmerzvermeidung. Die Menschen gewinnen mit zunehmender Schmerzerfahrung zunehmend differenzierte Techniken der Schmerzvermeidung. Eine alltägliche Ablenkung durch engagierte berufliche Tätigkeit kann schon hinreichen, einen körperlichen Schmerz vergessen zu machen. Von dieser Möglichkeit reicht eine komplexe Skala von Schmerzvermeidungsgewohnheiten bis zu dem Punkt, da der Mensch sich aus eigener Kraft nicht mehr imstande 266 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

sieht, mit seinem gewohnten Schmerzvermeidungsverhalten des akuten Schmerzes Herr zu werden. Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Mensch sich bewusst wird, dass er auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, wenn er den Schmerz besiegen will. Dies ist dann die Stunde des Arztes. Der Schmerz ist nicht nur Störenfried und Provokateur, nicht nur, dass er mit der Schmerzempfindung unterschiedliche Verhaltensweisen der Schmerzvermeidung ausbildet, nicht nur, dass er mit diesem eigenen Verhalten der Schmerzvermeidung seine Erfahrungen macht, Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg. Mit der Hervorrufung der Schmerzempfindung und mit der entsprechenden Ausbildung von Schmerzerfahrungen und Gewohnheiten der Schmerzvermeidung lernt der Mensch sich selbst besser kennen. Wie schon gesagt: Der Schmerz ist ein großer Lehrmeister des Menschen. Mit der Schmerzempfindung lernen wir nicht nur die unterschiedlichen Qualitäten und Quantitäten des Schmerzes kennen; der Schmerz zeigt uns auch die unterschiedlichen Empfindlichkeiten unseres Leibes. Der Zahn schmerzt anders als der Fuß, und dieser wiederum anders als die Stirn oder eine andere Region unseres Körpers. Der Schmerz macht uns durch seine spezifische Körperempfindung mit der spezifischen Empfindlichkeit unserer selbst vertraut. Schmerz, den wir nicht erfolgreich vermeiden können und der sich mehr als störend bemerkbar macht, lässt uns am Schmerz, an den Schmerzen leiden. Es ist schwer im allgemeinen zu sagen, wann und unter welchen Bedingungen die Schmerzempfindung zum Leiden an den Schmerzen wird. Die Schmerzschwellen sind wie die Bewusstseinsschwellen mehr oder weniger veränderlich und individuell verschieden. Sie können von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde schwanken. Aber zweifellos leidet der Mensch an seinen Schmerzen, wenn diese nicht aufhören wollen, wenn sie als Beeinträchtigung des Lebens empfunden werden und sich in ihrer Intensität und Hartnäckigkeit bis ins Unerträgliche steigern. In der Schmerzerfahrung gewahren wir uns nicht nur als körperliche, mit einem empfindlichen Leib ausgestattete Wesen. Wir lernen uns in unserer psychosomatischen Einheit und Differenziertheit kennen. Der Schmerz ruft in uns über die Bekanntschaft mit dieser vertrauten Gegebenheit unser persönliches Ich auf den Plan. Die erlebten Schmerzen fordern uns zu einer bewussten Einstellung denselben gegenüber heraus, gerade dann, wenn die gewohnten Techniken der Schmerzvermeidung versagen. Die Schmerzempfindung verlangt in ihrem Be267 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

wusstsein seelisch geistige Kräfte, mit den Schmerzen fertig zu werden. Der Kampf mit den Schmerzen macht müde und erschöpft, er beeinträchtigt die Stimmung. Die Erfahrung im Umgang mit dem Schmerzen lehrt uns, dass wir deren Ursachen nicht nur in äußeren Dingen, auch nicht nur im Verhalten anderer Menschen uns gegenüber, sondern auch in uns selbst zu suchen haben. Gewiss: wir können in sehr vielen Fällen, vielleicht in den meisten Fällen zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen unterscheiden, in den meisten Fällen auch zwischen den entsprechenden körperlichen und seelischen Ursachen. Aber zu den häufigsten Schmerzerfahrungen gehören diejenigen, in denen die eine und die andere Art von Schmerzen schwer entwirrbar ineinander fließen. Zu den Schmerzerfahrungen, in denen wir uns selbst in unserer Sensibilität erfahren, gehören nicht nur die Schmerzen, die uns andere Menschen zufügen, nicht nur die physischen, sondern auch die seelischen und geistigen Schmerzen, sei es durch Nichtbeachtung, durch gewollte oder ungewollte Kränkung oder schlimmer, durch angewandte physische oder psychische Gewalt. Zu solchen Erfahrungen gehören auch diejenigen, die uns zeigen, dass wir Anderen Schmerzen und Leid zufügen. Wir merken dies nicht immer und selbstverständlich von uns selbst her, sondern fast immer erst dann, wenn die Anderen darauf reagieren und uns dies zeigen, vielleicht durch Gegenreaktionen, in denen sie uns selbst unser Tun schmerzhaft bewusst machen. Den Schmerz gibt es keineswegs nur als reine Schmerzempfindung. Es gibt eine große Vielfalt anderer Empfindungen, die sich dem Schmerz hinzugesellen. Es gibt viele Fälle, in denen zu einem körperlichen Schmerz ein anderer körperlicher Schmerz hinzutritt, sei es, dass der eine vom anderen abzulenken instand setzt, sei es, dass der eine und der andere sich zu einer verstärkten Beeinträchtigung unseres Lebensgefühls verbindet. Eine Empfindung, die oft in Begleitung mit dem Schmerz auftritt, ist die Angst. Auch hier gibt es wie im Falle des gleichzeitigen Auftretens körperlicher Schmerzen dies, dass die Schmerzempfindung sich untrennbar mit dem Gefühl der Angst verbindet; aber auch dies, dass eine Empfindung sich von der anderen ablöst, sich verselbständigt, um sich dann auch in ihrer Selbstständigkeit auf das zurück zu beziehen, von dem sie sich getrennt hat. Die Angst macht den Menschen leiden, sie lässt ihn Gegenwärtiges und Zukünftiges in seiner Bedrohlichkeit beängstigend spüren, woher dies auch kommen mag. Und dann heftet sie sich an den Schmerz und ist spürbar als Angst 268 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

vor Schmerzen und Leiden, die Gegenwart werden können, die mehr oder weniger nahe bevorstehen. Unter den zahllosen Schmerzerlebnissen ist aber eines besonders hervorzuheben, welches im menschlichen Leben eine besondere Rolle spielt. Es ist dies die Empfindung, dass der Schmerz nachlässt, allmählich oder unversehens, dass mit ihm auch das Leiden verschwindet, welches von ihm ausging. Es gibt sehr viele Arten und Weisen des Nachlassens von Schmerzen, der körperlichen ebenso wie der seelischen. Und entsprechend vielfältig sind die Weisen der Befindlichkeit. Dabei machen wir die Erfahrung, dass nicht nur wir selbst Quelle des Aufhörens von Schmerzen und Leid sein können, sondern, dass wir dieses Verschwinden von Schmerz und Leid oft allein dem Anderen, dem Nächsten verdanken. Oft ist es nicht erst der Arzt, der auf die eine oder andere Weise hilft, mit dem Schmerz und dem Leid fertig zu werden. Manchmal ist es die Nähe des Anderen, die von ihm geäußerte Anteilname, seine Bemühung zur Linderung der Schmerzen beizutragen, Schmerz und Leid vergessen zu machen. Wir lernen, dass wir selbst dem Anderen in seiner Not beistehen, ihm eine Hilfe sein können gegen Schmerz und Leid.

2.

Freuden und Schmerzen – dichterisch

Die geschilderte Erfahrung, dass Schmerz und Leid aufhören, verbindet sich mit der Erfahrung der Empfindung der Entspannung und der Erleichterung. Nicht selten kann dieses Nachlassen und Verschwinden des Schmerzes sich in einem Gefühl der Freude und des Glücks Ausdruck verschaffen. Dieses Gefühl der Annehmlichkeit, der Lust und der Freude darf aber nicht verwechselt werden mit dem verwandten Gefühl echter Freude, welches sich nicht allein dem Aufhören des Schmerzes und des Leidens verdankt. Glück und Freude haben im Menschen eine eigenständige Quelle. Ihre Empfindung kann sich mit den entsprechenden Gefühlen nachlassender Schmerzen verbinden. Sie kann aber auch zu einer eigenständigen Instanz der Vertreibung von Schmerz und Leid werden. Viktor von Weizsäcker hat in seiner Medizinischen Anthropologie das Sein des Menschen als pathische Existenz bestimmt. Pathische Existenz – das ist nicht nur die Bestimmung des Menschen zu Schmerz und Leid, zu Behinderung und Krankheit, sondern Bestimmung des menschlichen Lebens zu dem einen und zu dem anderen: zu Lust und Leid, zu Freude und Schmerz. Pathos – das ist Leidenschaft, 269 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

II.

Anthropologie

Emotion, ursprüngliche Bestimmung menschlichen Daseins und Quelle menschlicher Lebensgeschicke und Lebensgestaltung. Leidenschaft schafft nicht nur Leiden, sondern auch Freude. Der Schmerz, wie übrigens auch die Freude, sucht sich immer und notwendig seinen Ausdruck. Sein Ausdruck, spontan und unwillkürlich, geht dem Bewusstsein voraus. Der Schmerzausdruck, die Sprache des Schmerzes ist vorbewusst, ehe sie zum Bewusstsein führt. Wie die Empfindungen des Schmerzes und der Freude körperlich und seelisch-geistigen Seins sich verbinden, so auch die Sprache des Schmerzes. Wie die menschliche Sprache überhaupt, so ist auch die Schmerzsprache psychosomatischer Natur. Und so vielfältig Schmerz- und Freudeempfindungen sind, so vielfältig sind auch die Ausdrucksformen dieser Empfindungen. Wir können nicht einen bestimmten Schmerz einem und nur einem Schmerzausdruck zuordnen, so wenig es eine eindeutige Zuordnung in der entgegengesetzten Richtung von Schmerzausdruck und Schmerz gibt. Entsprechend unbestimmt bleibt in zahlreichen Ausdrucksformen des Schmerzes, ob es sich um ein Verhalten der Schmerzvermeidung oder um ein Verhalten angesichts der Vergeblichkeit solcher Bemühungen handelt oder schließlich um eine noch andere Verhaltensweise. Schmerz und Freude sind menschliche Verhaltensweisen, die immer zugleich auch ein Verhalten zu diesem Verhalten sind. Sie sind insofern immer Verhaltensweisen eines menschlichen Subjekts. Pathische Existenz ist Existenz eines jeweiligen menschlichen Subjekts. Der Ausdruck des Schmerzes, die Schmerzsprache, ist immer die Sprache menschlicher Subjektivität und als solche immer zweierlei in einem: sprachliches Schmerzverhalten und Verhalten zum Schmerzausdruck. Schmerz und Leid des Menschen verfügen über einen mehr oder weniger großen Sprachreichtum. Die Sprache des Schmerzes ist oft sehr arm, manchmal aber reich und beredt. Sie ist hier und dort verschieden, unterschiedlich hinsichtlich der Unterschiede von Schmerz und Leid, von Lust und Unlust hier und dort, unter diesen und jenen Umständen, unterschiedlich angesichts der unterschiedlichen Anlässe und Ursachen. Die Sprache des Schmerzes ist unpersönlich, persönlich und ist überpersönlich: unpersönlich, sofern sie die Sprache des Schmerzes im allgemeinen ist, Schmerz, der sich irgendwie im Ausdruck Luft macht. Sie ist persönlich, sofern sich in ihr Charakter und Wesen des einzelnen Menschen ausdrücken, der in ihr auch ein Stück Lebensgeschichte mit ausspricht; persönlich auch durch die Art und 270 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

Weise, in der sie sich direkt oder indirekt an einen anderen Menschen oder an andere Menschen überhaupt wendet. Und sie ist überpersönlich, sofern sich in ihr etwas von der Sprache des Schmerzes und der Leiden der Menschen überhaupt auf die eine oder andere Weise unwillkürlich Ausdruck verschafft. Die Sprache der menschlichen Kultur unterscheidet sich vielfältig. Sie findet ihren Ausdruck in den zahlreichen Muttersprachen, die über die Sprache des alltäglichen Lebens hinaus die spezifischen Sprachen der kulturellen Unterschiede entfaltet: die Sprachen der Wissenschaften, der Religionen und der Philosophien; und nicht zuletzt die Sprachen der Dichtung. Die dichterische Sprache ist in mannigfacher Hinsicht eine eigentümliche Sprache. Sie ist eine Sprache des unalltäglichen, auch da, wo sie vom Alltäglichen, vom Gewöhnlichen und vom Gewohnten spricht. Sie ist eine Sprache von eigentümlicher Herkunft und von eigentümlicher Wirkung. Sie berührt den Menschen auf andere Weise als die Sprache der alltäglichen Kommunikation, die bestimmte Funktionen des praktischen Lebens erfüllt. Die dichterische Sprache vermag zu sagen, was sich in der prosaischen Sprache des Alltags nicht sagen lässt. In ihr gewinnt das Überpersönliche neben dem Persönlichen besonderen Raum. In der dichterischen Sprache gewinnt der persönliche und der überpersönliche Ausdruck von Schmerz und Leid eine unverwechselbare Tönung. Wie Goethes berühmter Vers sagt: Wo der Mensch in seiner Qual verstummt, vermag der Dichter eben dieser Qual seine Stimme zu leihen. An seine jugendliche Berufsfreundin, Auguste Gräfin zu Stolberg, hat er die berühmten Zeilen geschickt: Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. 1 Es ist die Erfahrung der Jugend, die Erfahrung eines jungen Menschen, die sich hier Ausdruck verschafft. Es ist der Ausdruck jugendlicher Leidenschaft, der Spruch, das Wort des Dichters der »Leiden des jungen Werther«. Sein Wort handelt nicht nur von menschlichen Freuden und Schmerzen ganz allgemein, nicht nur von einer grundsätzlichen ZuGoethes Gedichte werden zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1–12 , Hrsg, von Erich Trunz, dort Bd. 1, S. 142 u. 381

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Anthropologie

sammengehörigkeit des einen und des anderen im Leben des Menschen. Die Freuden und die Schmerzen, von denen hier dichterisch gesprochen wird, sind nicht nur die äußersten Extreme in einer Skala von Befindlichkeiten und Gefühlen, von Lebensgestaltungen und Lebensformen. Vielmehr spricht sich in ihnen etwas Außerordentliches, etwas Ungewöhnliches aus, nämlich die außerordentliche Verbindung zwischen Göttern und Menschen. Die Lieblinge, von denen das Dichterwort im Blick auf die Menschen spricht, sind die Dichter. In einem seiner späteren Sinnsprüche sagt Goethe, dass es vor allem den Dichtern zukomme, von Göttern zu reden, während es die Sache der Naturforscher sei, die Alleinheit der Natur vor Augen zu haben und die Sache des Moralisten, nur von dem einen Gott sprechen zu dürfen. Das Außerordentliche der dichterischen Existenz verdankt sich der außerordentlichen Gabe der Götter. In dieser Gabe ist unendliche Fülle: alles, was die Götter denen zu geben haben, und insbesondere die unendliche Fülle von Freuden und Schmerzen, die sich der Vorbehaltlosigkeit dieser Gabe verdankt. Was die Götter ihren Lieblingen schenken, schenken sie ganz. Allheit, Unendlichkeit, Ganzheit, – in diesen Vorbehaltlosigkeiten kommt die Außerordentlichkeit der dichterischen Existenz zum Ausdruck: die Außerordentlichkeit ihrer Freuden und Schmerzen, und die Außerordentlichkeit des Ausdrucks, ihnen ihre Sprache zu leihen. In der dichterischen Sprache von unendlichen Freuden und unendlichen Schmerzen kommt ein außerordentlicher menschlicher Zustand zum Ausdruck: der Zustand leidenschaftlicher Liebe. Es ist dieser Zustand, den auszudrücken die außerordentliche Gabe der Dichter ist. Hier ist nicht die Frage, ob dieser Zustand der eines Augenblicks oder der eines Lebensabschnitts, auch nicht die Frage, ob die dichterische Erfahrung, die sich hier ausspricht, die der Jugend oder die des Alters ist. Wie schon gesagt: Die dichterische Sprache ist persönlich und überpersönlich, sie lässt offen, zu wem sie spricht. Im hohen Alter hat Goethe noch einmal jene außerordentliche Lebenserfahrung der Liebensleidenschaft jugendlichen Ausdruck verliehen. Die wundersame Dichtung der »Marienbader Elegie« sagt noch einmal, was in der Jugend gesagt wurde, beredter als das Wort der Jugend, anders und in dichterischem Sinne noch außerordentlicher. Geblieben ist die Rede vom Geschenk der Götter und von deren Gabe für die, den sie ihre Liebe schenken. Geblieben ist auch der Ausdruck der Extreme, in die der Mensch zwischen unendlicher Freude und unendlichem Schmerz 272 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

hineingeworfen ist; geblieben ist die Vorbehaltlosigkeit der Leidenschaft der Liebe. Aber wo in dem zu Anfang zitierten Wort des Dichters nur die Extreme ausgesprochen wurden, die von Allheit, Unendlichkeit und Ganzheit, wird hier der Liebesleidenschaft ein differenzierterer Ausdruck verliehen: Die Außerordentlichkeit in ihrem alltäglichen Geschehen, das konkrete Schwanken der Befindlichkeiten im Auf und Ab der Gefühle. Es ist ein All der Befindlichkeiten, der Lebenseinstellung im Guten und im Schlechten, welches in der Sprache der Dichtung hier seinen Ausdruck findet. Aber vor allem: Im Mittelpunkt des dichterischen Erlebens steht hier der Wechsel zwischen Abwesenheit und Anwesenheit des geliebten Menschen, der »lieblichsten der lieblichen Gestalten«, deren Kommen und Gehen, ihr Dasein, ihre lebendige und geistige Gegenwart. Das All der Empfindungen, nicht nur der Empfindung von Freude und Schmerz findet hier in der Schilderung des Dichters ihre Beschreibung; die Belebung aller Lebenskräfte in der Gegenwart der Geliebten und das »innere Bangen«, die »unwillkommene Schwere«, wo die Geliebte fern bleibt, dann wieder der »liebe heitere Frieden« in Gegenwart des allerliebsten Wesens, mehr noch: Der Dichter spricht von Frömmigkeit, vom Streben »sich einem Höheren, Reinen, Unbekannten hinzugeben« – von einem hohen Seelenzustand, in dem das »Selbstsein zerschmilzt, kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert«. Und dann der Absturz: der absolute Verlust und mit ihm eine neue, eine schreckliche Selbstverlorenheit, der Verlust der göttlichen Liebe. Die Unalltäglichkeit, die Außerordentlichkeit der dichterischen Sprache von Schmerz und Freude, von Leid und Lust ist nie auf das Hohe Lied der Liebe beschränkt geblieben. Aber was die Dichtung dieses hohen Liedes im besonderen Maße zeigt ist dies, wie Schmerz und Leid keine reinen Zustände und Befindlichkeiten sind, sondern sich in unendlicher Vielfalt mitmenschlichem Erlebens in der Lebenserfahrung verbinden. Und es bleibt auch immer dabei, dass das dichterische Wort sich auf die eine oder andere bestimmte Tonart beschränkt, die wir in der dichterischen Form der Elegie finden. Die Klage über das Verlorene, die Erinnerung an die Köstlichkeit auch in der Entbehrung und im Verdruss. In der Sprache, die dem ewigen Auf und Ab von Lust und Schmerz gegeben wird, finden wir am Ende auch den Ausdruck der Sehnsucht nach Stille, nach Friede. Goethes »Wanderers Nachtlied« ist in dieser Tonart geschrieben, auch ein so geheimnisvolles Gedicht wie das Eichendorff seinem Freund A., dem Dichter Achim von Arnim 273 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

gewidmet hat, das Gedicht, in dem die Trauer und die Einsamkeit das Gefühl bestimmen, das die Zweisamkeit suchen lässt. Die dichterische Sprache weist immer über den rein körperlichen Schmerz hinaus. Sie spricht von dem Schmerz, wo dieser sich mit der Fülle anderer Befindlichkeiten verbindet. Immer ist das Leid, der Schmerz, dem das dichterische Wort Ausdruck verleiht, mehr als nur der rein körperliche Schmerz, das rein physische Leiden, und immer zeigt sich in diesem Ausdruck in dem Persönlichen ein Überpersönliches, welches über den einzelnen Menschen über einen bestimmten Personenkreis hinausweist. Die Sprache der Philosophen ist wie die Sprache der Dichter persönlich und überpersönlich. Sie ist wie diese eine unalltägliche Sprache, auch da, wo sie direkt vom Alltäglichen spricht, vom allgemeinen menschlichen Verhalten, von Schmerz und Leid, von Liebe und Hass, von Freundschaft und Feindschaft. Im dichterischen Ausdruck und in der Sprache der Philosophen schwingt im Persönlichen und im Überpersönlichen immer eine Frage mit, wie eine Frage eine andere Frage, am Ende eine ganze Reihe von Fragen nach sich zieht. Aber der Umgang mit diesen Fragen ist im dichterischen und im philosophischen Wort eine andere. Hier wie dort ist in diesem Umgang ein Stück menschlicher Freiheit am Werk. Hier wie dort spricht sich in diesem Umgang ein Stück Freiheit gegenüber den Lasten und der Schwere menschlichen Leids und auch gegenüber dem Überschwang menschlicher Freude aus. Die dichterische Freiheit beginnt in der gekonnten Unabhängigkeit gegenüber den gewohnten Regeln des sprachlichen Ausdrucks in der alltäglichen Rede, in den gewollten Abwandlungen der gewöhnlichen Zusammenhänge sprachlicher Elemente. Die philosophische Freiheit beginnt in den gekonnten Gedankenschritten über das Einzelne und Besondere hinaus, in der Gestaltung einer allgemeinen Erkenntnis, die dem Persönlichen und Überpersönlichen Ausdruck zu geben vermag. Das dichterische Wort bleibt dem konkreten Leben verhaftet, der philosophische Gedanke sucht in seinen Abstraktionen nicht den Boden der konkreten Erfahrung zu verlieren.

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Ein philosophischer Gedanke: Meine Schmerzen – Ich

In seinen Philosophischen Untersuchungen hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein der Erfahrung des Schmerzes eine berühmte Erörterung 274 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

gewidmet. Sie beginnt mit dem lapidaren Satz: »Nun, nur ich kann wissen, ob ich Schmerzen habe, der andere kann es nur vermuten;« 2 um dann dem scheinbar evidenten, unmittelbar einleuchtenden Satz hinzuzufügen: »Dieser Satz ist in einer Weise falsch, in einer anderen unsinnig.« Diese Erläuterung des erstzitierten Satzes zielt darauf, eine scheinbare Selbstverständlichkeit, nämlich eben jene Evidenz des zitierten Satzes in Frage zu stellen. Allgemein geht es dem Philosophen hier wie in anderen Gedankengängen der Philosophischen Untersuchungen um die Sprache der Philosophie, darum zu zeigen, wie diese Sprache uns durch ihren labyrinthischen Charakter zu sinnlosen Fragestellungen drängt, die sich bei genauerem Blick auf den jeweiligen Sprachgebrauch in nichts oder in andere Fragen auflösen. Diese philosophische Kritik an der philosophischen Sprache ist ein Stück philosophischer Freiheit und ein Stück Freiheitsgewinn. Denn es lässt sich auf dem Wege einer solchen Sprachkritik die Einsicht gewinnen, dass uns die bedrängenden Fragen nicht betreffen müssen, auch dann nicht, wenn eine Frage zu anderen Fragen unvermeidlich weiterführt. Die Einsicht dieser philosophischen Freiheit gegenüber dem Drang zum Wissen besagt: Ich kann mit dem Fragen aufhören, wann ich will. Und ich kann, wenn ich mich von einer Frage zur nächsten gedrängt sehe, die sich auftuende Reihe von weiteren Fragen abbrechen, wann ich will. Was die philosophische Frage nach meinem privilegierten Wissen hinsichtlich meiner Schmerzen betrifft, so erledigt sie sich zunächst durch die unabweisbare Einsicht, dass der anfänglich genannte Satz in einer bestimmten Hinsicht falsch ist. Es stimmt nicht, dass nur ich wissen kann, dass ich Schmerzen habe. Denn meine Schmerzen finden einen bestimmten Ausdruck, und ich weiß, dass ich dem anderen Menschen sagen kann, dass ich Schmerzen habe, so, dass er es so gut weiß wie ich. Die andere Frage, die bleibt, ist durch die philosophische Feststellung gegeben, dass der Satz »nur ich kann wissen, dass ich Schmerzen habe« in einer bestimmten Hinsicht unsinnig ist. Die Frage ist: Warum ist er unsinnig, wo er doch so selbstverständlich einleuchtet? Nun: »Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß) ich wisse, dass ich Schmerzen habe. Was soll denn dies heißen, außer etwa, dass ich Schmerzen habe.« Auch mit dieser Auskunft scheint sich die Frage nach einem privilegierten Wissen hinsichtlich meiner SchmerLudwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Schriften Bd. 1. Frankfurt a. M 1960, S. 390 ff.

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Anthropologie

zen zu erledigen. Aber es bleibt das Reden im Spaß, es bleibt die Möglichkeit sich zu verstellen, und zwar in der einen und in der anderen Hinsicht: Der Schauspieler kann den Schmerz spielen, und er spielt auf der Bühne den körperlichen Schmerz so gut wie das psychische Leiden. Und er kann während des Spieles zu sich selbst sagen: ich weiß, dass ich keine Schmerzen habe, und nur ich kann es wissen; der andere soll gerade ein gegenteiliges Wissen empfinden. Und der Mensch kann andererseits alles tun, seinen Schmerz, sein Leiden zu unterdrücken, nicht zum Ausdruck und zur Sprache zu bringen; alles zu tun, damit kein anderer sieht, wie sehr er leidet, wie stark seine Schmerzen sind. Und er kann sagen: Nur ich weiß, wie sehr ich leide, wie furchtbar meine Schmerzen sind, kein anderer kann sich eine Vorstellung davon machen. Ist also die Antwort des Philosophen auf die Feststellung zum privilegierten Wissen um meinen Schmerz falsch? Ist diese Antwort unsinnig, die sagt, die Feststellung meines privilegierten Wissens sei in gewisser Weise falsch, in anderer Hinsicht unsinnig? Offenkundig soll nur ein erster Schritt getan sein, in der sich eine Reihe von anderen Fragen nach der ersten auftut. Die sich weiter aufdrängende philosophische Frage ist die folgende: Inwiefern sind meine Empfindungen privat? Mit dieser Frage hat sich der philosophische Denker über eine konkrete Lebenserfahrung von Schmerz und Leid in die Domäne abstrakten Denkens begeben. Indem sich die Frage von der konkreten Überlegung nach dem Ausdruck persönlichen Schmerzes in die Sphäre allgemeiner Erfahrung von Empfindung erhebt, scheint das Fragen einer ursprünglichen und eigensten Frage, nämlich die nach einem privilegierten Zugang zu meinem Selbst, zu mir selbst näher gekommen zu sein. Und die Frage stellt sich nun grundsätzlicher, nicht mehr nur als Frage nach dem spezifischen sprachlichen Ausdruck des Schmerzes, sondern nach einer Sprache im allgemeinen, nach einer menschlichen Sprache, die von mir gesprochen, von mir ausgedrückt wird und von mir in eminenter Weise verstandene Sprache ist. Es ist dies die berühmte Wittgensteinsche Frage nach der Möglichkeit einer Privatsprache. Ist nicht der Ausdruck des Schmerzes, mein Ausdruck meines Schmerzes, meines Leidens offenkundig etwas Privates, etwas unverwechselbar Persönliches? Aber die philosophische Frage nach der Privatsprache führt unvermeidlich zu einer weiteren Frage. Wie denke ich eine Privatsprache? Ist es die Sprache, die nur ich spreche? Oder ist es die Sprache, die nur ich verstehen kann? Oder ist sie beides: Die Spra276 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

che, die allein ich spreche, und die Sprache, die auch ich allein nur verstehen kann? Ist dies die Sprache, die ich in einem Selbstgespräch mit mir spreche? Aber dann muss man wieder weiter fragen, wie ist dieses Selbstverständnis im Selbstgespräch und wie dieses Selbstgespräch im Selbstverständnis zu denken? Offenkundig gibt es viele Selbstgespräche, auch solche, die ein Anderer mithören und dabei auch verständlich oder unverständlich finden kann. Man muss nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun und Wittgensteins philosophische Aufgabe im Sinne einer Verneinung der Möglichkeit einer Privatsprache fixieren wollen. Worauf es zunächst und insbesondere ankommt, wird in dem folgenden Satz ausgesprochen: »Das Wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, dass jeder sein eigenes Exemplar besitzt, sondern, dass keiner weiß, ob der Andere auch dies hat oder etwas anderes.« Also ein Schritt in der Frage nach dem eigenen Innern, dem je eigenen Selbst durch den Hinweis auf ein Nicht-Wissen. Wir können sagen: Ich habe Schmerzen, aber auch: Es tut mit weh, oder noch einfacher: Es schmerzt mich, oder: Ich leide. Also ist das, wonach wir fragen, irgendetwas zwischen Haben und Sein? Und wenn wir noch weiter fragen wollen, dann müssen wir nach diesem Seienden fragen, das zwischen Haben und Sein gelegen ist. Wittgenstein sagt auch: »Niemand kann zwischen mich und meinen Schmerz treten wollen.« Dieser Satz zeigt uns etwas von dem gesuchten Sein zwischen Sein und Haben. Und er zeigt uns etwas von der einzigartigen Verbundenheit zwischen mir und meinem Schmerz. Er zeigt damit auch etwas, von dem, was ich bin, wie von dem, was ich sein kann, als auch von dem, was ich vielleicht bin, wenn ich in der Frage nach diesem Seienden zwischen Sein und Haben weiter komme.

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Die methodische Sprache der Medizinischen Anthropologie

Wenn es jemanden gibt, der zwischen mich und meinen Schmerz zu treten vermag, so gibt es entgegen dem zitierten Satz offenkundig zumindest zwei Instanzen, denen ein solcher hier beschrittener Schritt zuzutrauen ist. Zum einen bin ich es selbst, der zwischen meinen Schmerz und mich zu treten imstande zu sein scheint. Und zwar geschieht es, wenn ich Wittgenstein folgend, mein Schmerzverhalten ändere. Aber es gibt auch einen bevorzugten Anderen, der befähigt zu sein scheint, zwischen mich und meinen Schmerz treten zu können, 277 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

und dies ist der Arzt. Man kann hier an die Narkose denken, oder an andere Möglichkeiten, den körperlichen Schmerz zu mildern oder ganz zum Verschwinden zu bringen; auch an den Psychotherapeuten, der sich in die Lebensgeschichte seines Patienten vertieft, um dort Ort und Ursache von dessen seelischem Leiden auszukundschaften und durch das psychotherapeutische Gespräch eine Verhaltensänderung des Kranken und mit ihr eine Veränderung seines Leidens zu bewirken. Viktor von Weizsäckers Medizinische Anthropologie spricht von der »pathischen Existenz« des Menschen. Diese Bestimmung soll nicht sagen, dass der Mensch seinem Wesen nach ein Schmerzensmann, eine Schmerzensfrau ist. Vielmehr steht der Begriff der »pathischen Existenz« für eine allgemeine Bestimmung des menschlichen Daseins, der zufolge dieses durch ein Gefüge von Befindlichkeiten geprägt ist, in denen Schmerz und Freude, Leid und Lust zusammengehören, in denen Emotion und Kognition ineinander in psychosomatische Zuständlichkeiten und Verhaltensweisen in einer jeweiligen Lebensgeschichte zusammenfinden. Schmerzen und Freuden, Lust und Leid, sind nicht nur körperliche und seelische, nicht nur psychosomatische Zustände, die sich begrifflich bestimmen und definitorisch fixieren lassen. Sie sind auch nicht nur Kennzeichen psychophysischer Veränderungen, deren Qualitäten und Intensitäten ständigen Schwankungen in wechselnder Rhythmik ausgesetzt sind. Sie sind Affekte in dem Sinne, dass in solchen Zuständen und Zustandsveränderungen ein Streben, ein Trieb am Werke ist, Eros, im Sinne Platos, ein Kind des Mangels und des Überflusses: ein Streben nach Selbsterhaltung; nicht nur eine Begierde nach Befriedigung von Hunger, Durst und Sexualität, sondern auch ein Streben nach höherem Dasein in unterschiedlichem Wertsinn. Diese Triebe sind nicht nur die unbewussten und vorbewussten Kräfte, die im menschlichen Willen und in den Motivationen des Handelns ihre bewusste Erscheinungsform finden. In ihnen ist auch ein Streben nach Überlegenheit den anderen Menschen gegenüber, welches die unterschiedlichsten Wertgestaltungen annimmt. Sie sind Affekte im Sinne von Elementen der menschlichen Lebensgeschichte, und zwar im doppelten Wortsinn des sprachlich-begrifflichen Ausdrucks »Element«. Sie sind Komponenten, aus denen sich das Ganze eines menschlichen Lebens in seiner geschichtlichen Entwicklung aufbaut, und sie sind auch die Elemente, in denen sich eine solche Lebensgeschichte bewegt. Die menschliche Lebensgeschichte kann selbst als Element in die278 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

ser doppelten Wortbedeutung angesehen werden. Sie ist ein Bestandteil innerhalb eines sich fortentwickelnden Lebensganzen, an dem die Erinnerung und das Vergessen zusammenwirken. Und sie bildet ein Lebenselement, welches das Lebensganze mitträgt und mitgestaltet. Die von Viktor von Weizsäcker begründete Medizinische Anthropologie spricht eine eigene, ihrem Charakter zwischen wissenschaftlicher Theorie und humaner Praxis sich bewegende Sprache. Ähnlich wie die dichterische Sprache und die Sprache der Philosophen verbinden sich in ihr unpersönlicher, persönlicher und überpersönlicher Ausdruck. Anders als in jenen Sprachen aber hat hier das Unpersönliche ein besonderes Gewicht. In ihm kommt die Allgemeinheit der Geltung wissenschaftlicher Erkenntnis zum Ausdruck. Aber es ist ihre Sprache auch eine Sprache des persönlichen Ausdrucks, sofern sie der ärztlichen Praxis im Umgang des Arztes mit dem einzelnen Kranken in einer jeweils einmaligen Beziehung gerecht werden muss. Und auch der Zug zum Überpersönlichen ist in ihr, soweit die sprachliche Kommunikation sich in einer bestimmten Welt des Geistes und in einer bestimmten Kultursprache ausdrückt. Mit den philosophischen Anthropologien, auch mit zahlreichen Richtungen der Existenzphilosophie ihrer Zeit teilt sie die Grundzüge des Provisorischen und Unfertigen, die gewollte und ungewollte Differenz gegenüber geschlossenen Systemformen und Letztbegründungen. So kommt Viktor von Weizsäcker für seine Medizinische Anthropologie zu der ausdrücklichen Feststellung, dass eine solche Anthropologie »nicht in sich allgemeingültig sein kann.« »Sie kann methodisch in sich beruhen, aber ihre Geltung hat keinen Halt in sich«. 3 Offen bleibt hier, worauf ihr Halt beruhen könnte, wenn sie denn einen solchen festen Halt überhaupt irgendwo zu finden imstande wäre. Der Verweis auf den methodischen Charakter zeigt, dass hier die Kompensation für den Mangel einer endgültigen Grundlegung gesucht werden muss. In der Tat stechen in Weizsäckers anthropologischen Hauptwerken die methodischen Schlüsselworte hervor, die Kennzeichen einer Gedankenwelt, in denen Theorie und Praxis eine spezifische Verbindung eingehen. Es sind methodische Arbeitsbegriffe dieser medizinischen Anthropologie, die primär eine heuristische, dann aber auch eine strukturbildende Funktion haben. Um die wichtigsten dieser Begriffe zunächst aufzuzählen, ohne dabei eine endgültige Reihenfolge im Auge zu haben: »Die Einführung des Subjekts in die Me3

Viktor von Weizsäcker, Medizinische Anthropoplogie. Ges. Werke Bd. 7.

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Anthropologie

dizin« und »Gegenseitigkeit«, »Biologischer Akt« und »Gestaltkreis«, »Die Komplementarität des Ontischen und Pathischen« und die »Antilogik« und schließlich das »Pathische Pentagramm«, eine der geistvollsten Erfindungen in Weizsäckers Begriffswelt. 4 Diese verschiedenen Methodenbegriffe gehören zusammen. Sie bilden ein methodisches Netzwerk, in dem Gleichursprünglichkeit in der Geltung der Anwendung herrscht. Um mit der Methodik der Einführung des Subjekts in die Medizin zu beginnen, so ist diese keineswegs selbstverständlich. Nicht nur in der Theorie, im Bündel der verschiedenen Wissenschaften, die die Medizin in ihrer Praxis der ärztlichen Heilkunst verbindet, sondern auch in dieser Praxis wird der Mensch zunächst immer als Objekt in den Blick genommen. Und es bedarf dieser Betrachtungsweise und der gegenständlichen Einstellung, um der gültigen Gewissheit der Erkenntnis und der ruhigen Hand im Verlauf der technischen Eingriffe willen. Aber darüber hinaus bedarf die Medizinische Anthropologie auch des wachen und mitverstehenden Blicks auf den jeweils vor ihr stehenden Menschen. Sie muss ihn als Subjekt sehen und anerkennen; und vor allem: Sie muss ihn als Subjekt behandeln, weil sie auf seine Mitwirkung, seine Mithilfe bei der ärztlichen Bemühung um eine Hilfestellung ihm gegenüber angewiesen ist. Ferner gilt in der Medizinischen Anthropologie über die objektive Betrachtung des Gegenstandes wissenschaftlich-praktischer Sichtweise hinaus das methodische Prinzip der Gegenseitigkeit, in dem die Asymmetrie zwischen Hilfsbedürftigem und kompetenten Helfern durch eine humane Perspektive ergänzt und ausgeglichen wird. Die Einführung des Subjekts in die Medizin hat aber über den Anwendungsbereich der alltäglichen medizinischen Praxis hinaus eine in die Philosophie und die Grundlagen der Biowissenschaften hineinreichende Bedeutung. Der Methodenbegriff des biologischen Aktes enthält die ontologische Antizipation einer elementaren Subjektivität, die über das menschliche Bewusstsein und das Vorbewusste und Unbewusste hinaus in die Tiefe der Existenz des lebendigen Seins hinabZu Viktor von Weizsäckers Methodik in seiner Medizinischen Anthropologie, vgl. insbesondere die beiden Sammelbände: Zur Aktualität Viktor von Weizsäckers. Hrsg. von R. M.-E. Jacobi und D. Janz sowie Gegenseitigkeit. Grundfragen Medizinischer Ethik. Hrsg. von K. Gahl, P. Achilles, R. M.-E. Jacobi. Beide Bände sind erschienen in der Reihe Beiträge zur Medizinischen Anthropologie. Besorgt im Auftrag der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft von Friedrich Cramer, Dieter Janz und Reiner Wiehl. Bd. 1 (2003) und Bd. 5 (2008) Würzburg (Königshausen und Neumann). 4

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Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

reicht. Dass die biologischen Prozesse den Charakter von Kreisprozessen haben, also der methodischen Idee einer linearen Kausalität widersprechen, gehört über Weizsäckers methodische Ansätze hinaus zum Grundbestand der biologischen Systemtheorien. Das Prinzip der Komplementarität des Ontischen und Pathischen enthält eine höchst bedeutsame Spezifikation der methodischen Prinzipien der Subjektivität und der Gegenseitigkeit. Analog zum Komplementaritätsprinzip in der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik wird hier für den Geltungsbereich der Medizinischen Anthropologie das methodische Bewusstsein gefordert, dass einerseits die beiden Seiten der Betrachtung des Menschen untrennbar zusammengehören, nicht nur in der Betrachtung wissenschaftlicher Erkenntnis und möglichst sachlicher Einstellung, sondern auch in dem Blick für den Leidenden, den seinen Schmerzen ausgesetzten Menschen. Zugleich aber bedarf es der Einsicht, dass diese unverzichtbar zusammengehörigen Betrachtungsweisen niemals zugleich realisiert werden können, dass die Hingabe an die eine Perspektive einen Mangel in der Berücksichtigung der anderen unverzichtbaren Perspektive nach sich zieht. Antilogik ist so gesehen ein methodisches Schlüsselwort, durch welches in dieser Medizinischen Anthropologie die Unvermeidlichkeit der Grenzen theoretischen und praktischen Wissens vom Menschen angezeigt werden. Das sind Grenzen, die nicht nur im Allgemeinen und Grundsätzlichen festzuhalten sind, sondern die sich bis in die konkreten Momente einer Lebenssituation hinein aufdrängen: Grenzen menschlichen Wissens und Könnens, gerade hier und jetzt, die höchste Sensibilität und Aufmerksamkeit in der Grundbeziehung der Gegenseitigkeit verlangen. Es liegt in der Natur der Sache, dass in einer medizinischen Anthropologie den Schmerzen und dem Leiden des Menschen eine vorrangige Aufmerksamkeit zukommen; dass es in der Hilfe, die die medizinische Praxis dem leidenden Menschen zuteil werden lässt, aber auch immer darum geht, dem Kranken und Leidenden die Aussicht auf Lebensfreude, auf Bejahung des Lebens neu zu eröffnen, oder, soweit es geht, den Willen zum Leben zu stärken, ohne den auch die Hilfe des Arztes vergebliches Bemühen bleibt. Das methodische Prinzip des pathischen Pentagramms gehört, wie gesagt, zu den besonderen geistvollen Erfindungen der Weizsäckerschen Anthropologie. In seiner methodischen Anwendung ist die Zusammengehörigkeit, das Zusammenspiel mit den anderen methodischen Prinzipien zu berücksichtigen; das Zusammenspiel mit der 281 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

Methodik der Subjektivität in der Medizin und in den Biowissenschaften, mit der Gegenseitigkeit in Anwendung auf die Gegebenheit biologischer Akte; mit den methodischen Prinzipien des Gestaltkreises und der Komplementarität im Verhältnis von objektiver Gegenständlichkeit und pathischer Subjektivität. Und in allem schließlich die methodische Reflexion des Antilogischen, welches sich immer neu in die Bemühungen um die Logik der Erkenntnis eindrängt. In Weizsäckers anthropologischer Methodik sind die Spuren der Anthropologie und der Vernunftkritik Kants nicht zu verkennen. Das methodische Prinzip der Komplementarität korrespondiert Kants philosophischer Unterscheidung zwischen einer physischen Anthropologie und einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, von denen die erstere von dem handelt, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat, und die letztere von dem, was der Mensch aus sich selbst macht, aus sich selbst machen kann und soll. Und das pathische Pentagramm verweist auf die drei Grundfragen, die die philosophische Frage Kants nach dem Sein des Menschen leiten: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen? Nur dass in ihm das hier befragte Können, Sollen und Dürfen ergänzt ist durch die Fragen nach dem Können und Müssen, die in der philosophischen Frage vorausgesetzt werden. Aber Weizsäckers Medizinische Anthropologie knüpft nicht nur an die philosophische Anthropologie Kants an, sie stellt zugleich eine methodische Kritik derselben dar, die sich insbesondere gegen deren Abstraktionen richtet. So setzt sie gegen den Dualismus der Anthropologien in Kants Vernunftkritik das methodische Prinzip einer Komplementarität, demzufolge die beiden Anthropologien untrennbar zusammengehören, sich zugleich aber in jedem Schritt theoretischer und praktischer Erkenntnis auch wechselseitig behindern. Und so setzt sie gegen den Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft das immer wieder neu auftretende Zusammenspiel aller menschlichen Instanzen theoretischen und praktischen Verhaltens, in denen nicht nur die Logik der Vernunft, sondern auch dem zuvor die Phänomene des Antilogischen herrschen. Dem entspricht in der Korrespondenz dieser Kritik eine Kritik an den grundlegenden Prinzipien menschlichen Erkennens und Handelns. Die medizinische Anthropologie enthält im Schema des pathischen Pentagramms eine Korrektur des methodischen Prinzips einer linearen Kausalität und einer entsprechend linearen Handlungspraxis. Gegen eine lineare Kausalität als Grundsatz wissenschaftlicher Erkenntnis ist das methodische Prinzip einer gestaltkreisförmigen 282 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

Wirksamkeit gesetzt, in der die Mannigfaltigkeit biologischer Akte einander beeinflussen, ihre jeweilige Aktivität befördern und hemmen und in dieser wechselseitigen Beeinflussung auf ihre nähere und fernere Umgebung weiterwirken. Gegen die Annahme einer linear wirksamen Handlungskausalität aber ist das Schema des Pentagramms in der Weise gestellt, dass die begriffliche Konzeption einer Handlung als menschlicher Wille ergänzt wird durch die jeweils spezifischen Bestimmungen des Könnens, des Müssens, des Sollens und Dürfens. Auf diese Weise kommt es auch zur Überwindung des Dualismus zwischen kausalem Geschehen und kausalem menschlichen Handeln. Aus Sicht der Medizinischen Anthropologie Weizsäckers ist in diesen Zügen einer Kritik vor allem aber die Bestimmung der pathischen Existenz des Menschen immer im Blick zu behalten, der zufolge vor Erkennen und Handeln immer schon Schmerzen und Freuden leidenschaftliche Zuwendung und Abwendung menschlichen Verhaltens liegen. Der durch die heutige Neurologie und durch die weit reichenden Entdeckungen der Hirnforschung überstrapazierte Dualismus von Determination und Freiheit erweist sich aus der Perspektive der Weizsäckerschen Methodik als Konsequenz unzulässiger Abstraktionen und Reduktionen in der Erkenntnis des Menschen. Gerade die Phänomene des Schmerzes und des Leidens machen überdeutlich, wie in der konkreten Lebenssituation eines Menschen Unfreiheit und Freiheit zusammengehen; wie in übermäßiger Beeinträchtigung der Freiheit selbst Schmerz und Leid bestimmend sind. Unfreiheit ist im Erleiden von Schmerzen und Leiden, in der Beeinträchtigung der körperlichen Beweglichkeit, in der Dumpfheit des Bewusstseins; Unfreiheit ist in der Verfolgung und Unterdrückung durch andere Menschen, in der Hilflosigkeit gegenüber physischer und psychischer Gewalt. Unfreiheit ist nicht zuletzt in der Angst und im Bewusstsein eigener Schuld, also gerade dort, wo Möglichkeiten menschlicher Freiheit entstehen können. Das pathische Pentagramm stellt ein allgemeines Schema zur Beschreibung und zur Analyse menschlichen Verhaltens dar: des Verhaltens im allgemeinen und besonderen. Es enthält eine Methodik zur Beschreibung und Analyse konkreter Phänomene menschlichen Erlebens, menschlichen Tuns und Lassens. Es bezieht sich auf Erfahrungen menschlichen Verhaltens, die nicht selbstverständlich sind und also der Bemühung um Verstehen auch Erklärung bedürfen. Vor allem hat sie ihren Anwendungsbereich in Verbindung mit dem methodischen Prinzip der Gegenseitigkeit da, wo es sich nicht um Selbstverständnis, 283 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

um Selbstbewusstsein, sondern um das Verständnis des Anderen, um mitmenschliche Hilfsbereitschaft geht. In der Anwendung des pathischen Pentagramms zeigt sich aber auch insbesondere der anthropologische Grundzug des Antilogischen. Antilogik ist nicht mit Unlogik zu verwechseln, auch wenn ein solcher im Kontrast zu ihr nicht übersehen werden darf. Antilogisch ist nicht nur das wiederholt erwähnte Prinzip der Komplementarität des Ontischen und Pathischen, sofern die Betrachtung einer Seite die der anderen gerade da ausschließt, wo die Betrachtung der einen Seite gerade der Ergänzung durch Betrachtung der Gegenseite verlangt. Wo das Schema des pathischen Pentagramms zur Anwendung kommt, zeigt sich immer auch die eminente Bedeutung der Negation und des Negativen. Negation ist überall dort, wo Differenz herrscht und darum nach Unterscheidung verlangt. »Ich will, aber ich kann nicht,« sagt einer, der aufgrund seiner Schmerzen in seiner Bewegungsfreiheit behindert ist: »Du kannst, weil du sollst!«, sagt Kants kategorischer Imperativ in der Sprache des pathischen Pentagramms: als Forderung gegen die Trägheit des menschlichen Herzens und Verstandes; ein Satz der praktischen Vernunft zur Ermutigung in eigener Sache, um mitzuwirken bei der Gewinnung einer universalen Gesetzmäßigkeit der Humanität. Die Negation ist eine Grundoperation der allgemeinen Logik. Sie findet sich überall im menschlichen Verhalten, im Vorbewussten und im Bewussten, in Anschauung und Denken, in der Wahrnehmung und in der Erkenntnis, im Fühlen und Handeln. Die Negation hat ihren Ort ebenso in der Antilogik. Allerdings entfaltet sie in deren Wirkungsbereich eine andere Folgerichtigkeit. Die Negation ist hier nicht schon dort anzutreffen, wo wir mit Aporien oder mit Antinomien zu tun haben. Diese sind in der Regel ein Produkt der allgemeinen Logik im besonderen und im Einzelfall. Auch der Widerspruch als solcher ist noch nicht der eigentliche Bereich ihrer Wirksamkeit. Auch die Feststellung, ja die Erzeugung von Widersprüchen ist Sache der Logik. Die Antilogik entfaltet sich allererst in Gestalt eines bestimmten Umgangs mit der Negation, mit Aporien, Antinomien und Widersprüchen. Sie ist nicht schon im menschlichen Nichtwissen und noch weniger im Wissen um die Grenzen des Wissbaren und Erkennbaren. Sie nimmt den Anfang im Widerspruch mit sich selbst; dort wo einer will und auch wieder nicht will, dort wo jemand darf und zugleich nicht darf. Die Antilogik herrscht im Bereich des Nichtwissenwollens, des Nichtkönnens im Können. Sie ist eine Logik der Verdrängung. Ihr äußerstes 284 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

Kennzeichen ist die Ambivalenz, die Zweideutigkeit; nicht die gewollte, nicht die gekonnte Zweideutigkeit, die absichtlich und kunstvoll in der Dichtung und in der Philosophie ins Werk gesetzt wird, um sie aufzulösen und um etwas in der Auflösung sichtbar zu machen. Die Zweideutigkeit des Antilogischen ist mit einer gewissen Unvermeidlichkeit behaftet, mit einem Nichtwollen und Nichtkönnen. Sie ist eine Sache der Undurchsichtigkeit.

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Ein Philosophenwort zur Humanität

Die Zweideutigkeit, die den Bereich des Antilogischen beherrscht, findet sich insbesondere dort, wo Menschen an Schmerzen leiden, wo sie schmerzlich die Beschränkung, den Verlust einer bestimmten Freiheit empfinden. Die Ambivalenz des Antilogischen ist da, wo sich einer unfrei fühlt, gerade dort, wo er frei ist, und wo er sich als frei empfindet, wo er die Freiheit nicht besitzt. Die Antilogik, die in der Medizinischen Anthropologie ein maßgebliches Moment der Methodik ist, ist keine Schicksalsbestimmung menschlichen Daseins, vielmehr eine der unzähligen Herausforderungen an den Umgang des Menschen mit sich selbst und mit dem Anderen. Sie ist eine Herausforderung für die Möglichkeit der Wahrhaftigkeit, in der Kant die erste Tugendpflicht des Menschen gegen sich selbst gesehen hat. Aus den Affekten und Emotionen, welche die elementare Sicht menschlicher Befindlichkeit akzentuieren, entspringen die Tugenden und Untugenden des Menschen. Die Bindung der einen an die anderen zeigt die elementaren Differenzen zwischen gut und schlecht, zwischen gut und böse. In diesen Unterschieden finden sich die Möglichkeiten der Eindeutigkeit und der Vieldeutigkeit, wo die Einsicht in die Differenz gefordert ist. In der Tradition der europäischen Philosophie ist der Ursprung der Tugenden und der Untugenden aus den Affekten immer wiederkehrendes Thema. Tugenden und Untugenden bilden sich durch Gewöhnung, durch gute und schlechte Erziehung. In Spinozas großer Ethik ist dieser Bildungszusammenhang in seiner ganzen Differenziertheit Gegenstand philosophischer Erkenntnis. Eine der vielen miteinander verknüpften Gesetzmäßigkeiten, die der Vernunfterkenntnis zugänglich sind, lautet: »Hass wird durch gegenseitigen Hass gesteigert und kann dagegen durch Liebe getilgt werden.« Und der daran unmittelbar anschließende Lehrsatz in dieser geometrisch geordneten Ethik sagt: 285 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Anthropologie

»Der Hass, der gänzlich von Liebe besiegt wird, geht in Liebe über, und die Liebe ist deswegen größer, als wenn der Hass nicht vorangegangen wäre«. 5 Hermann Cohen, der große vergessene jüdische Denker auf der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert, hat in vielen wichtigen Punkten Spinozas Denken der Kritik unterzogen. Diese Kritik betrifft auch die zitierten Lehrsätze in dessen Ethik. Bei ihm finden sich statt jener Sätze die Aussagen: »Der Glaube an das Böse, an die Macht des Bösen ist die Wurzel des Bösen im Menschen.« Mit anderen Worten: Der Glaube an die Macht des Bösen ist die große Versuchung des Menschen. Bei genauerem Hinsehen stehen diese Sätze nicht im Widerspruch zu den zitierten Sätzen des Spinoza. Tugenden und Untugenden sind Brücken zwischen Anthropologie und Ethik. Sie stehen zwischen geschichtlicher Erfahrung und normativem Geltungsanspruch. Einer der Gründe für unsere Schwierigkeiten mit den traditionellen Tugendbestimmungen liegt in der Beziehung zwischen der von ihnen beanspruchten Geltungsdauer und dem ständigen Wandel der Wertvorstellungen in der Geschichte der Menschheit. Im Zentrum von Cohens ethischer Tugendlehre steht die Tugend der Humanität. Diese Tugendlehre ist in ihren Grundzügen eine Modifikation der aristotelischen Lehre von den Tugenden, der zufolge die Tugend die rechte Mitte zwischen extremem menschlichen Wertverhalten ist. So ist hier zum Beispiel die Tapferkeit die richtige Mitte zwischen den Extremen der Feigheit und der blinden Tollkühnheit. Das leitende Prinzip in dieser aristotelischen Tugendlehre ist die Klugheit: die menschliche Fähigkeit, die rechte Mitte im rechten Augenblick und im lebensgeschichtlichen Ganzen zu finden. In Cohens ethischer Tugendlehre ist der Tugend der Humanität eine vergleichbar zentrale Stellung eingeräumt. Humanität bedeutet: Erkenntnis der Einseitigkeit der Tugenden. So bedarf, wie Cohen ausführt, »der Wahrheitsstolz in der Übung der Tugend der Wahrhaftigkeit der kritischen Selbstbeschränkung durch Bescheidung des Wissensanspruchs im Selbstbewusstsein der Wahrhaftigkeit.« 6 Um ein Beispiel für das Prinzip der Humanität in der Übung der menschlichen Tugenden zu nennen: Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit ist in der Tugend der Freundlichkeit. Es ist dies eine schlichte, offenkundig nicht schwer zu übende Spinoza, Ethica. III, prop. 43 und 33. H. Cohen. Ethik des reinen Willens. Werke Bd. 7. Hildesheim/New York 1981, S. 617 ff. insbesondere S. 625 ff.

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Schmerzausdruck und Schmerzverhalten

Tugend im Umgang mit dem Mitmenschen. Freundlichkeit, so Cohen: »ist nicht bloß nicht Güte; dieser Anmaßung bedarf sie nicht, sie ist auch nicht Liebe, auch von dieser Zweideutigkeit bleibt sie frei, aber sie ist auch nicht einmal Freundschaft. Denn wie sehr diese in der Treue sich gründet, so entspringt sie doch in der Wahl und in der Gunst. Die Freundlichkeit kennt keine Art der bangen Wahl, auch nicht die zwischen Mensch und Mensch. Die Affekte der Ehre und der Liebe fließen in ihr zusammen. Die Freundlichkeit ist die Leuchte der Menschlichkeit.« Cohen hat seine Philosophie im Ganzen und seine philosophische Ethik im besonderen im Sinne eines Idealismus der Vernunft verstanden. Die Hervorhebung der Tugend der Freundlichkeit, ihre offenkundige Schlichtheit und Anspruchslosigkeit zeigt aber, wie viel Realitätssinn in diesem Idealismus steckt. Auf den ersten Blick ist nichts einfacher, nichts selbstverständlicher als in diesem Minimum menschlichen Anstands mit dem Anderen umzugehen. Und doch: wie schwer fällt den Menschen in der konkreten Lebenssituation dieses kleine Zeichen der Mitmenschlichkeit und der Solidarität. Wenn irgendwo und irgendwann, so ist dieses ethische Minimum da gefordert, wo der Mensch dem anderen Menschen in seinem Leiden begegnet, wo er auf die eine oder andere Weise mit dessen körperlichen und seelischen Schmerzen konfrontiert wird. Und doch wie schwer fällt unzähligen Menschen diese auf den ersten Blick so unscheinbare Tugend der Freundlichkeit zu üben. Freundlichkeit zu üben fällt schwer und kann zur Unmöglichkeit werden, wo ein Mensch im Umgang mit dem Leid anderer Menschen erschöpft und ausgebrannt ist, auch dort, wo er mit dem eigenen Schmerz, mit dem eigenen Leid nicht fertig wird. Cohens Erinnerung an die Grundtugend der Humanität und an die aus ihr folgende bescheidene Tugend der Freundlichkeit ist, wie er selbst sagt, ein Licht. Aber es zeigt uns ungewollt auch die Abgründe der Unmenschlichkeit, der Inhumanität einer Menschenwelt, in der diese unscheinbarste aller möglichen Tugenden schon für sich so schwer zu üben ist.

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III. Teil: Ethik

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

1. Nietzsches philosophisches Denken ist weithin berühmt, um nicht zu sagen berüchtigt für seine offenkundigen Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Da gibt es zahlreiche Texte, denen entgegen gesetzte Deutungen abgewonnen werden können, da gibt es ebenso viele Texte, die, nebeneinander gestellt und miteinander verglichen, einen unübersehbaren Widerspruch mit sich führen. Und auch dann, wenn es gelingt, die Vielfalt der Texte tiefer und einheitlicher zu fassen, will diese Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit nicht weichen. Eher möchte es dann scheinen, als ob die unendliche Fülle der Vieldeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten sich zu einem einzigen ganzheitlichen Widerspruch zusammenfüge. Der Aphorismus, die eigentliche Form der Darstellung von Nietzsches Denken, scheint geradezu dafür geschaffen, solche Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zum Ausdruck zu bringen. So liegt es nahe, in dieser Darstellungsform Absicht und Methode zu sehen, und auch die Versuchung liegt immer wieder nahe, in Nietzsches Lehre von der Wahrheit eine Lehre der hermeneutischen Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit zu sehen, eine Hermeneutik, die vom Charakter des Lebens selbst vorgeschrieben und diktiert ist. Aber an Nietzsches Denken fällt keineswegs nur die Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit auf. Wir beobachten daneben eine zumindest ebenso große Helle und Klarheit, die die rhetorischen Mittel der Übertreibung und Überlichtung nicht verschmäht, um den Gedanken in einer unmissverständlichen Deutlichkeit zu präsentieren. Dieser Kontrast zwischen Vieldeutigkeit und Gegensätzlichkeit einerseits und überheller Unmissverständlichkeit andererseits ist das auffälligste Charakteristikum von Nietzsches Denk- und Darstellungsstil, auffälliger noch als jede der beiden Seiten isoliert für sich genommen. Angesichts dieses Kontrastes wird man um so weniger umhin können, 291 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

Absicht und Methode zu unterstellen, insbesondere da, wo das klassische Instrument der philologisch-historischen Forschung, um Vieldeutigkeiten und Widersprüche aufzulösen, nicht greifen will: die entwicklungsgeschichtliche Hypothese, dass der fragliche Autor seine Absicht im Verlauf seiner Entwicklung geändert hat. Absicht und Methode in Nietzsches Stil und Darstellungsform zu finden, diese Deutungsbemühung orientiert sich an einem Schlüsselbegriff: dem der Rhetorik. Ist der Aphorismus schon für sich die ideale Gedankenform, um Gegensätzliches und Widersprüchliches mit Klarheit und Unmissverständlichkeit zu verbinden, so besagt der Rekurs auf die Rhetorik, dass Nietzsches Denken weniger auf Wahrheit als auf Überredung, weniger auf zweckfreie Erkenntnis als auf Meinungsäußerung im Dienste des Lebens zielt. Nietzsche selbst hat für seine Interpreten – bewusst und zum Teil voll Ironie und Bosheit – die Interpretationshilfen geliefert. Einer der wichtigsten von ihm selbst wohl unironisch gemeinten Hilfsbegriffe zum Verständnis seiner Darstellungsmethode ist der Begriff der Perspektive. Was aber meint Perspektive bzw. Perspektivität in Verbindung mit der Darstellungsform des Aphorismus in einer auf rhetorische Wirkung bedachten Rede? Der Begriff der Perspektive ist ja zunächst ein traditioneller Erkenntnisbegriff, der mit dem überlieferten Verständnis von Wahrheit in Übereinstimmung steht, indem er, wo verschiedene Wahrheiten gleichberechtigt nebeneinander stehen, diese Verschiedenheiten auf die verschiedenen Standpunkte zurückführt, wie die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze auf unterschiedliche Hinsichten der Betrachtung. Perspektivität in der traditionellen Bedeutung besagt, dass die Wahrheit sich in mannigfacher Weise zeigt, ohne dass damit die Idee der Einheit der Wahrheit gefährdet ist. Ja mehr noch: Der Begriff der Perspektivität macht überhaupt erst eine sinnvolle Verbindung zwischen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Wahrheit und dem wahren einheitlichen Sein dieser Wahrheit verständlich. Der Sinn des Begriffs der Perspektive erfüllt sich so im Begriff einer absoluten Zentralperspektive, die allein vom Standpunkt Gottes aus als möglich und zugänglich gedacht wird. (In diesem Sinne hat Leibniz den Begriff der Perspektive als Wahrheitsbegriff gedacht.) Denkt auch Nietzsche die Perspektivität als eine solche konstitutive Verbindung zwischen Vielheit der Wahrheiten und Einheit der Wahrheit? Oder wird Perspektivität hier etwas ganz anderes, wenn sie nicht nur auf die Darstellungsform des Aphorismus hin – auch Leibniz 292 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

pflegte den Aphorismus –, sondern im Zusammenhang mit der rhetorischen Rede gedacht wird, d. i. einer Rede, die ebenso verblüffen und schockieren wie vernünftige Einsicht wecken will; die gelegentlich lieber Verwirrung als Klarheit und Bestimmtheit stiftet; die lähmen will wie der Zitterrochen Sokrates und damit befreien; die nicht nur Gewissheit schafft, sondern auf eine Verunsicherung aus ist, die tiefer greift als die traditionellen Techniken der Kritik und des Zweifels. Muss man Nietzsches Perspektivität also von der Rhetorik her und jedenfalls als eine Perspektivität ohne Zentralperspektive denken? Ich bin damit eigentlich schon im Kernpunkt meines Themas: Nietzsches Verhältnis zum Platonismus. Wir wissen von diesem Verhältnis, dass es das eines entschiedenen Nein, eines Anti-Platonismus, eines absoluten Gegensatzes zum Platonismus ist. Was aber ist Platonismus für Nietzsche und welcher Art ist dieser Gegensatz? Offensichtlich ist Nietzsches scharf zugespitzter Anti-Platonismus etwas anderes als irgendeine (und sei es noch so exemplarische) Gegenposition innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte; sie ist nicht irgendeine Variante des antiken oder des neuzeitlichen Aristotelismus, um die prominenteste philosophische Gegenposition zum Platonismus zu nennen. Sie ist aber auch nicht nur irgendeine neuzeitliche Farm des Materialismus und Empirismus, der einem platonischen Idealismus und einem auf Anamnese gegründeten Apriorismus entgegengestellt wird. Nietzsches Anti-Platonismus deckt sich schließlich aber auch nicht mit dem Standpunkt des neuzeitlichen Szientismus, der durch und durch Nominalismus ist und von dem aus der platonische Begriffsrealismus eine sinnlose und überflüssige Hypothese darstellt. Nietzsches Anti-Platonismus enthält von alledem etwas und ist doch zugleich etwas anderes. Näher kommt man dem Verständnis, wenn man sich des berühmten Wortes eines der größten Platoniker unseres Jahrhunderts: des englischen Philosophen A. N. Whitehead erinnert, der einmal sagte, die ganze europäische Philosophie sei nichts anderes als eine Reihe von Fußnoten zu Plato. Dem hätte Nietzsche uneingeschränkt zustimmen können und dann im Gegensatz zu Whitehead wohl hinzugefügt: Leider sind alle diese Fußnoten grundverkehrt und angesichts der wirklichen Wahrheit absolut irreführend. Aber damit sind wir immer noch nicht bei dem Platonismus, dem Nietzsche seinen Anti-Platonismus entgegenstellt. Der Platonismus ist mehr als nur eine bestimmte Philosophie, mehr als nur ein Grundzug der europäischen Philosophie, der sich immer wieder Bahn bricht. 293 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Der Platonismus ist für Nietzsche eine europäische Lebens- und Kulturform, eine Gestalt der europäischen Wirklichkeit selbst, die er glaubte nicht nur kritisieren, sondern bekämpfen zu müssen. Wenn Nietzsche den Platonismus immer in unmittelbaren Zusammenhang mit Christentum und Kirche gebracht hat, wenn er die berühmte Formel geprägt hat, das »Christentum sei Platonismus für’s Volk«, 1 so hat er auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, inwiefern der Platonismus anders und mehr ist als nur eine Angelegenheit der akademischen Philosophie und der philosophischen Antithesen innerhalb eines allgemeinen anerkannten Raumes philosophischer Auseinandersetzungen; er hat damit aber auch einen Standpunkt bezogen, der über den modernen Szientismus in seiner dem Platonismus ungünstigen Grundhaltung hinausgreift. Am nächsten kommt man wohl der Bedeutung von Nietzsches Anti-Platonismus, wenn man sie als kulturphilosophische Bedeutung bezeichnet, stünde dem nicht Nietzsches verächtliche Kritik an der akademischen Kulturphilosophie entgegen. Immerhin wird man soviel sagen können: Nietzsche begreift den Platonismus als Ausdrucksform der europäischen Kultur und entwirft seinen Anti-Platonismus als eine Reihe von Bedingungen möglicher alternativer Ausdrucksformen. Von hier aus wird auch die neue, tief greifende Funktion der Rhetorik und ihre Verwendung des Aphorismus verständlich. Nietzsche transformiert die traditionelle Rhetorik und macht sie in Form eines Anti-Platonismus zu einem neuen philosophischen Instrument der Kulturkritik. Dabei ist soviel verständlich, dass eine Kritik der Kultur sich nicht allein auf das herkömmliche Instrumentarium philosophischer Argumentation für und gegen bestimmte Thesen oder Theoreme stützen kann. Was uns gerade unter diesem Gesichtspunkt an Nietzsches Anti-Platonismus zunächst und vor allem auffällt ist dies, dass allen Beobachtungen von Unbestimmtheit, Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zum Trotz, eine außerordentliche Unmissverständlichkeit und Eindeutigkeit Platz greift. So lässt z. B. die bekannte Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse nicht den geringsten Zweifel über die Entschiedenheit ihres Verfassers in Sachen »Anti-Platonismus«. Der »Platonismus in Europa« wird »ungeheueren und furchteinflößenden 1 Jenseits von Gut und Böse, »Vorrede«, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 5, München 1980, S. 12.

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

Fratzen« zugerechnet, die »über die Erde hinwandeln müssen.« Eine dieser Fratzen ist das »Dogmatisieren in der Philosophie«, und unter den Gestalten des Dogmatismus ist der Platonismus die prominenteste und maßgeblichste. Nietzsche spricht von diesem als dem »schlimmsten, langwierigsten und gefährlichsten aller Irrthümer.« Und er antwortet selbst auf die Frage worin denn dieser langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer bestehe, es sei »die Erfindung von reinem Geiste und vom Guten an sich,« eine Erfindung, in der die Wahrheit auf den Kopf gestellt und das Perspektivische, die Grundeinstellung des Lebens selber verleugnet wird. Und in anderem, aber direkt hierher gehörigen Zusammenhang heißt es hinsichtlich des Zusammenhangs von Christentum und Platonismus, »dass jener Christen-Glaube auch der Glaube Plato’s war (…), dass die Wahrheit göttlich ist.« 2 Hier wird deutlich, dass Nietzsches Grundgedanke vom Tode Gottes nicht von der Überlieferung der rationalen Theologie her allein verständlich werden kann und dass die neue Wahrheitstheorie der Perspektivität als Gegensatz zur traditionellen Lehre dieser Perspektivität, ja geradezu als Anti-Perspektivität begriffen werden muss. Aber Nietzsche wäre nicht der, den wir oben beschrieben haben, nicht der, der unmissverständlich auf Klarheit dringt, den wir vielmehr als einen verstehen müssen, der Wahrheit um ihrer selbst willen immer in Kontrast zu etwas anderem denkt, wenn er uns mit dieser scheinbar eindeutigen Stellungnahme zum Platonismus davongehen ließe. Was wir dem »Platonismus in Europa« gegenübergestellt finden, ist zunächst einmal Plato selbst, von dem hier als dem »schönsten Gewächs des Altertums« die Rede ist. Nietzsche fragt hier, wie er selbst des öfteren sagt, als Arzt: »Woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben (…) und hätte seinen Schierling verdient?« 3 Dies also ist zunächst der klare Gegensatz: Platonismus gegen Plato. Und während dem ersteren ein entschiedenes Nein entgegengesetzt wird, wird dem zweiten jene Bewunderung zuteil, die wir bei einer Künstlernatur wie der Nietzsches einem Geistesverwandten wie Plato, einem der größten Künstler des Altertums, gegenüber erwarten. Sowenig der Platonismus für Nietzsche irgendeine unter den vielen Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale? In: Sämtliche Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 401. 3 Jenseits von Gut und Böse, »Vorrede«, a. a. O., S. 12. 2

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geistigen Strömungen Europas ist, sondern die maßgebliche, so ist auch Plato für ihn nicht irgendeine unter den zahlreichen großen Gestalten der europäischen Geistesgeschichte, sondern eine der prägendsten. Er ist derjenige, der dem Platonismus seinen Namen gegeben hat. Plato und der Platonismus: Das ist deswegen für Nietzsche nicht einfach nur ein Zusammenhang, wie er sich für den Historiker der Philosophie darstellt, auch nicht nur ein Verhältnis, welches dem hermeneutisch geschulten und hermeneutisch denkenden Philosophen eine Interpretationsaufgabe stellt. Es ist dies nicht einfach das sachlich gegebene Verhältnis zwischen einer Quelle und dem von ihr ausgehenden Strom, zwischen einer anfänglich gegebenen philosophischen Theorie und ihrer komplexen, viel verästelten Wirkungsgeschichte. Diesem Verhältnis zwischen Plato und dem Platonismus wird man von Nietzsches Standpunkt aus aber auch nicht gerecht, wenn man die Geschichte dieser Denkströmung erzählt und die mannigfachen Variationen und Abwandlungen eines ursprünglichen Themas kritisch miteinander vergleicht, um die unterschiedlichen Bedingungen der je verschiedenen Deutungen ans Licht zu heben. Plato und der Platonismus ist dies alles und noch etwas anderes. Gegen ein solches philosophiehistorisches und hermeneutisches Verhältnis spricht schon allein das Wort von der Krankheit und die Hinwendung zum Arzt, ob nun im wörtlichen oder im übertragenen Sinne verstanden. Der Platonismus ist die Erkrankung an dem schönsten Gewächs des Altertums, und wenn Aphorismus und sophistisch-rhetorische Rede das Instrument der philosophischen Erkenntnis sind, so sind sie Instrumente ärztlicher Diagnose und Therapie zugleich. Das Verhältnis zwischen Plato und dem Platonismus hat für Nietzsche aber noch eine andere Seite. Die großen Philosophen unseres Jahrhunderts haben sich besonders bemüht, das Ungewöhnliche und einzigartige der Philosophie Nietzsches zu begreifen. Sie haben sich an Nietzsche gemessen, seine Sache zu der ihrigen, ihre Sache zu der seinigen gemacht. So hat Heidegger das Größte, was er überhaupt anzuerkennen vermochte, im Denken Nietzsches gefunden. Ein Denken, welches weder der Kunst, noch der Religion, noch der Wissenschaft verpflichtet ist. Jaspers hat in Nietzsche gefunden, was ihm die eigentliche Aufgabe der Philosophie schien: die Existenzerhellung. Was unser Thema »Plato und der Platonismus« betrifft, so kommt meines Erachtens Franz Rosenzweig der Sache Nietzsches am nächsten, wenn er über diesen schreibt, dass hier etwas Neues gedacht sei: »Die Dichter 296 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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hatten immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht. Und die Heiligen hatten immer schon das Leben gelebt und der eigenen Seele. Aber wieder die Philosophen nicht. Hier aber kam der von seinem Leben und seiner Seele wusste, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war.« 4 Und Rosenzweig fügt hinzu – geschrieben im Ersten Weltkrieg, – nicht erst heute: »Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was er philosophierte. Das Dionysische und der Übermensch, die blonde Bestie, die ewige Wiederkunft – wo sind sie geblieben? Aber er selber, der in den Wandlungen seiner Gedankengebilde sich selber wandelte, er selber, dessen Seele keine Höhe scheute, sondern dem tollkühnen Kletterer Geist nachkletterte bis auf den steilen Gipfel des Wahnsinns, wo es kein Weiter mehr gab, er selber ist es, an dem nun keiner mehr von denen, die philosophieren müssen, vorbei kann.« Nicht so sehr das Was, sondern das Wie ist es demnach im Denken Nietzsches, an dem – so Rosenzweig – keiner heute vorbeigehen kann, der glaubt, der Verpflichtung zum Philosophieren entsprechen zu müssen. Diese ungewöhnliche Art und Weise, diese einzigartige Weise des Denkens und Sprechens von Nietzsche besteht in dem Folgenden: Für Nietzsche gebe es keine »Scheidung zwischen Höhe und Niederung im eigenen Selbst«; ganz »ging er seinen Weg, Seele und Geist, Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte.« Wenn man Nietzsches Denk- und Redeweise als rhetorisch kennzeichnet, so wird man, aus Rosenzweigs Sicht, in solcher Art zu denken und zu sprechen nicht ein Verfahren sehen dürfen, welches bemüht ist, einen trügerischen Schein auf Kosten der Wahrheit hervorzubringen, nicht ein Instrumentarium, dem es genügt zu überreden statt zu überzeugen, dem die Verblüffung wichtiger ist als die vernünftige Einsicht, welches auf Verführung aus ist, anstatt sich in den Dienst der Wahrheit zu stellen. Wenn hier überhaupt von Rhetorik gesprochen wird, so ist an jene Rhetorik zu denken, die schon Plato im Phaidros als höhere Rhetorik beschworen und mit den großen Ärzten in Verbindung gebracht hat, eine Kunst, die auf Wahrheit aus ist, aber auf eine Wahrheit, die sich an den ganzen Menschen, nicht nur an das Höhere im Menschen wendet. Eine solche Kunst im Dienste der Wahrheit muss die Gefühle und Leidenschaften aufwühlen können, wie sie sich an den Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, in: Ders., Gesammelte Schriften II, Den Haag 1976, S. 9 f. Dort auch die folgenden Zitate.

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Verstand muss wenden können, um diesem zur vernünftigen Einsicht zu verhelfen. Also: Diese Kunst verlangt, eine Logik des Herzens mit der Logik des Verstandes zu verbinden; und zu einer solchen Kunst scheint vor allem der Aphorismus, der Spruch und Sinnspruch geeignet. Sofern eine solche Kunst überhaupt möglich ist, wird das Logische, das sie zu verwirklichen strebt, immer notwendig von einer anderen Seite aus als unlogisch erscheinen müssen. Die höhere Sachlichkeit, die in dieser Unsachlichkeit angestrebt wird, wird sich im Gewande der Unsachlichkeit präsentieren, und die Unsachlichkeit wird sich als Kälte und Bosheit des Herzens zeigen, als Gift, das eigentlich Heilmittel sein will. Was hat nun diese Betrachtungsweise zu tun mit dem Thema »Plato und der Platonismus« bei Nietzsche? Nun, zunächst soviel, dass wir, wo wir bei Nietzsche Plato begegnen, es immer mit einem persönlichen Verhältnis zu tun haben, in dem nicht nur ein Gedanke einem anderen, sondern zwei Seelen und Geister in ihrer jeweiligen Einheit einander begegnen. Das persönliche Verhältnis Nietzsches zu Plato steht somit gegen das unpersönliche Verhältnis zum Platonismus. Man ist hier geneigt, die alte Formel, wo immer sie ihren Ursprung haben mag, umzukehren: Nicht zu sagen: »Plato amicus, magis amica veritas«, sondern: »veritas amica, magis amicus Plato«. Es ist in diesem Sinne, wenn Nietzsche in seiner Sammlung von Aphorismen in Menschliches, Allzumenschliches (Teil II) nach dem Vorbild der Odyssee seine Fahrt ins Totenreich beschreibt: »Die Hadesfahrt. – Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eigenen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epiker und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.« 5 Plato gehört also unter die Schar jener Toten, die Nietzsche soviel lebendiger vorkommen als so manche Lebenden, die im Vergleich zu jenen wie Schatten wirken. Ihre »ewige 5

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Lebendigkeit« ist es, auf die es im Leben ankommt, nicht auf das ewige Leben. Diese ihre »ewige Lebendigkeit«, die sie – von dem modernen Odysseus unserer Epoche in seiner Existenz beschworen – aus dem Dunkel des historischen Schattenreichs heraustreten lässt, ist nicht graue Theorie, die als solche in ihrer Farblosigkeit der bunten Fülle des Lebens widerstreitet. Eher ist sie am Ende noch der Lebendigkeit der Gestalten vergleichbar, die der Künstler vor sein und unser Auge hinstellt, damit wir sie miteinander ins Gespräch kommen sehen und hören, was sie einander und damit auch uns zu sagen haben, über die Welt und über das menschliche Leben, als Ratende und Mahner, als Warnende und als Wegweiser. In diesem Sinne der ewigen Lebendigkeit zählt Plato zu den persönlichen Vertrauten Nietzsches. Dieser Plato ist sein Plato, wie dieser jedermanns und vielleicht auch niemandes Plato ist, so wie Nietzsches Zarathustra ein »Buch für alle und keinen«. Deswegen ist dieser Plato auch nicht zuerst und zunächst der Plato der Gebildeten und der Kenner der Geschichte der Philosophie und schon gar nicht zunächst ein Objekt historisch-vergleichender Forschung. In seiner Denkschrift über »Die Zukunft unserer Bildungsanstalten« hat Nietzsche den »genetischen« und »historischen« Umgang beklagt, den die Bildung mit ihren Gegenständen pflegt; und er hat sich mokiert über die vermeintliche Gelehrsamkeit der »kleinen Sanskritaner oder etymologischen Sprühteufelchen oder Conjekturen-Wüstlinge«, von denen keiner »zu seinem Behagen, gleich uns alten, seinen Plato, seinen Tacitus lesen kann«. 6 Seinen Plato nennt er mehr als nur einmal »göttlich«, und wenn er den nicht weniger göttlichen Mozart rühmen will, tut er es mit dem überlieferten Wort, welches Aristoteles hinsichtlich seines Lehrers Plato geäußert haben soll: »ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt«. 7 Plato ist Nietzsche so lebendig gegenwärtig, dass er sich gleichsam nebenher und wie im Vorübergehen auf ihn berufen kann, so, wenn er das Lob des Wahns, der Mania singen will, wie es Plato im Phaidros tut. 8 Er kann auf Platos »Terminologie« zurückgreifen, was für ihn bedeutet, den Argumentationstopos von dem Einen über dem Vielen bzw. dem Einen bei dem Vielen (hen epi pollo¯n) Sämtliche Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 705. Unzeitgemäße Betrachtungen, Erstes Stück: David Friedrich Strauss der Bekenner und Schriftsteller, in: Sämtliche Werke, Bd. I, a. a. O., S. 187. 8 Menschliches, Allzumenschliches I, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 155. 6 7

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in einem eigenen Gedankengange zu gebrauchen; so wenn er den Dionysos die Einheit in der Vielheit der Gestalten der hellenischen Bühnen nennt. 9 Aber, so wird man sich angesichts solcher Nähe und unmittelbarer Verbindung fragen: Ist Nietzsche als ein so enger Freund Platos ein guter, ein wahrer Platoniker? Müssen wir in ihm, gerade bei einer solchen Einstellung nicht eher den Anti-Platoniker sehen? Denn man erinnert sich wohl: Jener Satz, den Nietzsche auf den Kopf gestellt hat, der die Freundschaft mit der Wahrheit über die Freundschaft mit Plato zu stellen fordert, ist ein gut-platonischer Satz, sehen wir doch Plato seinen Sokrates immer wieder seinen Gesprächspartnern einschärfen, dass es nicht auf sie, aber schon gar nicht auf ihn ankommt, sondern nur auf das, was der Logos sagt: Die Vernunft der Sache selbst oder wie immer man hier dieses griechische Urwort »Logos« übersetzen will. Aber man sollte den Weg von Plato zum Anti-Platonismus nicht zu kurz anlegen. Es ist dies im Denken Nietzsches zumindest ein verschlungener, kein geradliniger Weg. Wie wir gesehen haben, steht Plato für Nietzsche unter den Ewig-Lebendigen nicht allein. Die sieben anderen, mit denen er die Gesellschaft teilt, stehen gewiss mit ihm zusammen stellvertretend für viele andere. Vor allem aber hat Nietzsche ja selbst, wie wir gesehen haben, ausdrücklich vermerkt, dass er keineswegs nur von seinem Plato, auch nicht nur von jedem einzelnen der anderen genannten Sieben lernen will, sondern insbesondere durch das, was sie alle einander wechselweise, und was die übrigen Sieben dem Plato zu sagen haben. Gewiss stehen die aufgeführten acht Namen nur stellvertretend für viele andere, denen Nietzsche in anderen Kontexten keine geringere Bedeutung einräumt. Wer will und wer die Fähigkeit dazu hat, ist hier aufgefordert, sich seine platonischen Dialoge selbst zu dichten und jedem erdenklichen Autor seine Gesprächsrolle zuzuweisen. Nietzsche wollte keine platonischen Dialoge dichten. Er war kein Freund der Dialektik. Vielleicht fehlte ihm für diese die Geduld des Denkens. Wer sich also unter den zahlreichen, allzu oft gegensätzlichen und nicht immer einfach zu deutenden Aussprüchen Nietzsches über Plato nicht zurechtfindet, der ist – mit Pirandello – aufgefordert, sich einen Autor für diese Äußerung zu suchen. Immer wird er sicher sein können, dass der gefundene Autor auch Nietzsche ist und vielleicht er 9

Die Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 1, 16 u. 72.

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selbst. Und der Äußerungen über Plato sind viele. So finden sich etwa Aussagen über Platos Politeia, über das Werk, das Nietzsche besonders fasziniert hat, weil er in ihm ein ambivalentes Verhältnis des Verfassers zum Tyrannischen herausspürte. 10 In dieser ambivalenten Einstellung mag Nietzsche, der den Willen zur Macht durch und durch ambivalent, nämlich in einem Wesenszusammenhang mit dem europäischen Nihilismus dachte, dem Plato sich wie nirgends sonst verwandt gefühlt haben. Hinsichtlich der Politeia hat Nietzsche Plato gerühmt, weil er die »wunderbar große Hieroglyphe einer tiefsinnigen und ewig zu deutenden Geheimlehre vom Zusammenhang zwischen Staat und Genius« zu erkennen gegeben habe. 11 In eben jener Politeia findet Nietzsche aber die Staatsidee eines alten typischen Sozialisten, der »den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts« befördert habe, »weil (…) er sein Erbe werden möchte.« 12 Gegensätzlich, oder wenn man so will, ambivalent ist auch Nietzsches Einstellung zu Platos Kunstkritik. Auf der einen Seite sind ihm Sokrates und Euripides, und in ihrem Gefolge Plato, diejenigen, welche die Psychologie und das Ressentiment entdecken und die durch diese Entdeckung die alte griechische Tragödie zerstören. Aber auf der anderen Seite weiß er sehr wohl die innere Konsequenz der platonischen Kritik an der Tragödie anzuerkennen. Mehr als einmal hat er Plato unter die Schar derjenigen gereiht, die das Mitleid abgelehnt und verworfen haben, 13 und hierin ein besonderes Verdienst gesehen, um zugleich Zweifel anzumelden, ob die berühmte Analyse des Aristoteles richtig sei, dass der Zuhörer der Tragödie – aufgrund der Katharsis – »kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre«; dass er also sehr wohl so sein könne, »dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt größer werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesamt ängstlicher und rührseliger werde.« 14 Aber nicht nur hinsichtlich der Politik und der Kunst, auch hinsichtlich der Psychologie – dieses dritten großen Themas, das Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 215. Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, »3. Der griechische Staat«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 777. 12 Menschliches, Allzumenschliches I, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 307. 13 A. a. O., S. 70. 14 A. a. O., S. 173. 10 11

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mit Plato verbindet – sind seine Äußerungen widersprüchlich bzw. ambivalent und damit zur perspektivischen Deutung einladend. Verglichen mit den alten Tragikern mögen Sokrates und Plato Psychologen gewesen sein, wie Nietzsche selbst von sich nicht müde wird als Psychologe zu reden. Plato wird gelegentlich in Sachen des freien Willens ein Vorläufer Kants genannt. Aber auch hier wird die Gegenrechnung aufgemacht. Plato gehört nicht nur überhaupt, sondern insbesondere als Psychologe dem Altertum an, mit seiner »mangelhaften Kenntnis des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen.« Wie das Altertum insgesamt, so glaubt auch Plato an den einfachen Gegensatz von »Gut und Böse, wie an Weiß und Schwarz, an die radikale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften.« 15

2. Angesichts dieser und zahlreicher anderer Äußerungen Nietzsches über Plato, die nicht weniger gegensätzlich sind als die vorher aufgeführten, scheint vom Standpunkt der methodischen Perspektivität her die Frage müßig, ob Nietzsche so oder so eher Platoniker als AntiPlatoniker sei. Und auch die andere Frage scheint kaum entscheidbar, ob solche Äußerungen wie die zitierten tatsächlich den Gedanken Platos gerecht werden. Es ist hier ja – angesichts der platonischen Dialoge – immer wieder die Frage, was Plato denn wirklich und eigentlich lehrte, vor allem aber auch die Frage, von welchem Standpunkt aus wir sein Denken und Philosophieren betrachten, um es nicht nur auf einen imaginären Gesprächspartner, sondern auch auf uns selbst zu beziehen: also das fiktive Gespräch als hermeneutische Veranstaltung. Zwei Gesprächspartner des Plato, die Nietzsche eigens nennt, seien für unser Thema aufgeführt. Der eine ist Epikur, ausdrücklich unter jenen Acht benannt, die Nietzsche auf seiner Fahrt in die Unterwelt befragt. Es ist dessen »Scherz«, Plato und die Platoniker »Dionysiokolakes« zu nennen, d. i.: »Tyrannenzubehör und Speichellecker und (…) Schauspieler«, ein Scherz, der aus Nietzsches Sicht wohl die erwähnte Ambivalenz Platos zum Tyrannischen im Herz treffen sollte. Epikur, so Nietzsche, habe die großartige Manier verdrossen, »das Sich-in-Szene 15

Menschliches, Allzumenschliches II, a. a. O., S. 680 f.

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

setzen, worauf sich Plato samt seinen Schülern verstand, – worauf sich Epicur nicht verstand.« 16 Wie steht es, so wird jeder fragen, in dieser Sache zwischen Epikur und Plato mit Nietzsche selbst? Sollte Nietzsche, als er jene Sätze über Epikur und Plato schrieb, keinen Augenblick an sich selbst gedacht haben, er, der sich wie keiner vor ihm, wie selbst Plato nicht, darauf verstand, sich in Szene zu setzen? Sicher ist, dass er, auch wenn er vielleicht jenen Scherz des Epikur einmal zufällig nicht im Kopfe hatte, wohl wusste, was er selbst zu dieser seiner eigenen Attitüde zu sagen hatte. Der zweite Mann, den ich aus der Schar jener Acht nennen möchte, ist Spinoza, der zusammen mit Goethe genannt wird. Nicht immer hat Nietzsche über Spinoza so gesprochen wie in dem berühmten Brief an seinen Freund Franz Overbeck vom 30. Juli 1881: »Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger, und was für einen! Ich kannte den Spinoza fast nicht: dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ›Instinkthandlung‹. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –.« Und dann fügt Nietzsche hinzu: »Wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!« 17 Mit dieser Wunderlichkeit scheinen wir nun aber endlich im Zentrum unseres eigentlichen Themas angelangt: Nietzsche und der Antiplatonismus. Denn nicht nur in jener Grundtendenz, die Nietzsche als seine grundlegende Gemeinsamkeit mit Spinoza beschreibt, sondern auch in den einzelnen gemeinsamen »Hauptpunkten« wird der Kern dessen umschrieben, was Nietzsche als die eigentliche Gegenposition, als die wah16 Jenseits von Gut und Böse. Erstes Hauptstück, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 21. (Ich erinnere mich hier an ein analoges Verhältnis in unserem Jahrhundert, die beiden Dioskuren Bertrand Russell und Alfred North Whitehead betreffend: Victor Lowe, der beide persönlich gekannt hat, hat den ersteren einmal ein Genie in Sachen der Publizität, den zweiten in Sachen der Privatheit genannt.) 17 Briefe, Januar 1880 – Dezember 1884, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1981, S. 111.

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III. Ethik

re Gegenwelt zur Welt des Platonismus und des Christentums ansieht: als die Welt eines Anti-Christentums, welche ein Anti-Platonismus ist, und zwar »für alle und keinen«, um noch einmal an den viel sagenden Untertitel des Zarathustra zu erinnern. Denn dies ist umgekehrt Platonismus, dies ist Christentum als Platonismus fürs Volk: Verleugnung des körperlichen und leiblichen Seins zugunsten des Geistes, Vernichtung der Leidenschaften und Begierden nach dem Motto: »Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus.« 18 Das ist Anerkennung der Freiheit des menschlichen Willens und damit Anerkennung der menschlichen Schuldhaftigkeit und Sündhaftigkeit, Anerkennung des ursprünglichen menschlichen Hanges zum Bösen. Das ist auch Betrachtung der Welt im Ganzen als eines von Zwecken, von höchsten göttlichen Zwecken regierten Universums. Und dies ist schließlich auch Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen zu uneigennützigem, den Neigungen und Eigeninteressen zuwiderlaufendem Tun in der Erkenntnis des wahrhaft Guten. Spinoza zum Gewährsmann gegen diesen Platonismus, gegen diese ursprüngliche Welt des Christentums zu machen, dies heißt keineswegs, einer ganz aus der Luft gegriffenen Lesart zu folgen. Im Gegenteil. Es ist dies vielmehr die gängige Lesart eines schlechthin antichristlichen Spinoza, den seine Feinde den Maledictus nannten; aber eine Lesart mit umgekehrtem Vorzeichen. Der Feind Spinoza, der Maledictus, ist für Nietzsche der Freund, der Benedictus in seiner Einsamkeit. In der Tat: Liest man den Abschnitt über die »Vier großen Irrthümer« in der Götzen-Dämmerung, so findet man sich wie selten sonst bei Spinoza-Interpetationen in die allergrößte Nähe zur Gedankenwelt des Maledictus-Benedictus versetzt: Da gibt es zunächst den großen Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge, in der das Frühere zum Späteren, das Spätere zum Früheren gemacht ist – auf Kosten eines wahren Begriffes von Trieb, Begierde und des wahrhaft Guten, und damit zum Schaden der wahren Moral. Spinoza selbst hat das maßgebliche Beispiel einer solchen Verwechslung in Verbindung mit seinen neuen Begriffen von Trieb, Begierde und Wille gegeben: »Dass wir nichts erstreben, wollen, begehren oder wünschen, weil wir es für gut halten, sondern wir halten etwas für gut, weil wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen.« 19 – die Götzen-Dämmerung, dort: Moral als Widernatur, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, a. a. O., S. 82. 19 Ethica, III, Prop. 9, Scholium. 18

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

umgekehrte Betrachtung ist der Irrtum der Verwechslung. Ferner gibt es den großen Irrtum der falschen Ursächlichkeit. Es ist dies eine Ursächlichkeit, der zufolge der Wille, das Ich, der Geist als Ursache gegenüber dem als wirkend gedacht sind, welches nicht Wille, nicht Ich, nicht Geist ist, also gegenüber der Materie, dem Körper, dem Leib. Auch hier können wir Spinoza als Zeugen Nietzsches zitieren: »Der Körper kann den Geist nicht zum Denken, noch der Geist den Körper zur Bewegung oder Ruhe noch zu etwas anderem (wenn es ein solches anderes gibt) bestimmen.« 20 Der dritte schwere Irrtum hängt mit den beiden zuvor genannten wie auch mit dem vierten, noch zu nennenden direkt zusammen. In gewissem Sinne handelt es sich bei diesen vier schweren Irrtümern um einen einheitlichen Grundirrtum hinsichtlich dessen, was wir Kausalität nennen. So enthält dieser dritte schwere Irrtum in sich eine Verwechslung des Früheren und Späteren, wie in ihn der Irrtum der falschen Ursache eingeht. Nietzsche hat diesen dritten schweren Irrtum den der imaginären Ursachen genannt. Moral und Religion bilden das wichtigste Anwendungsgebiet dieses Irrtums. Schließlich entspringt aus diesem Irrtum der folgenschwere vierte Irrtum, die Annahme eines freien Willens. Der Begriff der imaginären Ursache deckt sich nicht einfach mit dem Begriff einer falschen Ursache, die wir von der wahren Ursache unterscheiden. Die hier notwendige Unterscheidung liegt in einer anderen Dimension. Es geht dabei um die Differenz zwischen bestimmten Tatsachen einerseits und den kausalen Interpretationen andererseits, oder wenn man die Differenz noch weiter zuspitzen will, um den Unterschied zwischen tatsächlichen Kausalverhältnissen und kausalen Interpretationen dieser Verhältnisse. Wir befinden uns nicht nur so oder so; und wir befinden uns auch nicht nur so oder so aus diesem und jenem Grunde. Vielmehr glauben wir vor allem, dass wir uns aus diesem oder jenem Grunde so oder so befinden. Wir imaginieren Ursachen unserer »Befindlichkeit« (Heidegger). Es genügt uns nicht, uns so oder so zu befinden. Nietzsche: »Wir wollen einen Grund haben uns so oder so zu befinden, – uns schlecht zu befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloß die Thatsache, daß wir uns so oder so befinden, festzustellen.« 21 Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem »Ursachentrieb«. Dieser ist der Trieb, kausale Erklä20 21

Ethica, III, Prop. 2. Götzen-Dämmerung, a. a. O., S. 92.

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III. Ethik

rungen zu finden, zu erfinden – gewissermaßen um jeden Preis, nach der Maxime: »Irgendeine Erklärung ist besser als keine.« Hier geht es also anders als in den Wissenschaften nicht darum, objektive Kausalzusammenhänge zu erforschen, sondern dem zuvor darum, eine den spezifischen Umständen und Bedürfnissen entsprechende Kausaldeutung zu finden, die unserem Befinden Genüge tut. Wissenschaftliche Kausalerklärungen sind späte Derivate dieses ursprünglichen menschlichen Kausaltriebs. Nietzsche gibt hier – wie auch sonst des öfteren – eine von ihm selbst so genannte »psychologische Erklärung« für das menschliche Bedürfnis nach kausalen Erklärungen (die man selbst diesem Bedürfnis entsprungen betrachten kann): »Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, gibt außerdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine.« 22 Darin liegt, dass man die gewöhnlichsten Erklärungen bevorzugt, sofern diese unseren Ursachentrieb am schnellsten und einfachsten entgegenkommen. Suchen wir auch für diesen dritten schweren Irrtum der imaginären Ursache ein entsprechendes Zeugnis bei Spinoza, so stehen wir vor der ungewöhnlichen Tatsache, dass Spinozas Affektenlehre und Ethik in ihrem wesentlichen Kern eine philosophische Theorie der imaginären Ursächlichkeit ist. Vor allem im dritten Teil seiner Ethik geht es immer wieder um diese eine Frage: Was folgt für unsere jeweilige Befindlichkeit, wenn wir unsere eigene Befindlichkeit als solche und hinsichtlich der Befindlichkeit anderer Menschen kausal so oder so mit Hilfe der Imagination interpretieren? Was folgt zum Beispiel für unsere jeweilige Befindlichkeit, wenn wir uns zu Recht oder zu Unrecht einbilden, wir könnten ein uns wichtig scheinendes Gut gewinnen bzw. verlieren; oder was folgt für unsere Befindlichkeit, wenn wir uns einbilden, jemand, den wir nicht mögen, könne ein Gut gewinnen oder verlieren, von dem wir uns selbst einbilden, dass es ein Gut sei; oder: Was folgt für unsere Befindlichkeit, wenn wir uns einbilden, etwas sei einem anderen gleich, welches wir für ein Gut halten, etc.? Ethik ist für Spinoza zu einem Großteil Erkenntnis dieser umfassenden Gesetzmäßigkeit, der Abhängigkeit unserer Befindlichkeit von unseren eigenen kausalen Interpretationen durch Imagination. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit kennen, 22

Ebd., S. 93.

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

wissen wir auch, welcher kausalen Interpretationen wir bedürfen, um die Befindlichkeit Freude oder Glück zu gewinnen. Der freie Wille ist für Nietzsche und auch für Spinoza eine solche imaginäre Ursache, geboren aus dem Bedürfnis, Schuld zuzuweisen, auch sich selbst zuzuschreiben und Reue empfinden zu können. Eben eine solche imaginäre Ursache ist auch der Zweck bzw. die Zweckursache. Nietzsche: »Wir haben den Begriff ›Zweck‹ erfunden: in der Realität fehlt der Zweck.« 23 , und Spinoza: »Der Wille kann nicht eine freie, sondern nur eine notwendige Ursache genannt werden.« 24 und: Alle Vorurteile des Menschen hängen von dem einen ab, »daß nämlich die Menschen gemeiniglich voraussetzen, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selbst, wegen eines Zweckes, ja, daß sie als gewiß aufstellen, daß Gott alles zu einem gewissen bestimmten Zwecke lenke (denn sie sagen, Gott habe alles des Menschen wegen gemacht, den Menschen aber, damit er ihn verehre). (…) Hieraus sind die Vorurteile von Gut und Böse (malum), Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Häßlichkeit und dergleichen entstanden.« 25 Ziehen wir also ein erstes Fazit: Nietzsche sieht sich – zu Recht – in seinem Anti-Platonismus durch Spinoza bestätigt. Dieser Anti-Platonismus ist bestimmt als Gegensatz zum platonischen Kausalverständnis als Unverständnis des Sinnes und der Funktion menschlicher Kausalerklärung. Der Anti-Platonismus stellt insofern eine tiefgreifende Revision des Kausalverständnisses dar, und zwar in lebenspraktischer oder, wenn man so will, in moralischer Absicht. Aber, so verwunderlich für Nietzsche die Entdeckung dieser Zweisamkeit allein schon ist, es bleibt auch für uns und für unser Thema »Nietzsche und der Anti-Platonismus« noch Verwunderliches übrig. Denn es ist nicht schwer zu sehen und schon gar nicht für einen so sehr mit historischem Sinn begabten Denker wie Nietzsche, dass dieser Spinoza so antiplatonisch, so antichristlich nicht ist, wie er hier zunächst dargestellt erscheint, ja, dass dieser Spinoza vielleicht der größte unter den Platonikern der Moderne ist. Da finden wir das platonische Prinzip des Einen in einer Weise betont, die noch über Platos Betonung hinausgeht und Spinoza geradezu zu einem Parmenides der Neuzeit macht. 23 24 25

Ebd., S. 96. Ethica, I, Prop. 32. Ethica, I, Appendix.

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III. Ethik

Da gibt es den platonischen Grundbegriff der Selbstbewegung, der den Schlüssel abgibt für das Verständnis der Seele, ja der ganzen belebten Natur überhaupt, – und zwar unter dem Titel einer causa sui als ersten Grundbegriff an den Anfang des Systems gestellt, als der Grundbegriff, ohne den im Grunde nichts vernünftig erkannt werden kann. Und da lässt sich schließlich ohne gewaltsame Interpretation in Spinozas Ethik jene Gleichung »Vernunft = Tugend = Glück« finden, die für Nietzsche nichts anderes ist als Ausdruck des Ressentiments, welches er zuerst innerhalb der europäischen Geschichte bei Sokrates fand, den er wegen seiner Hässlichkeit nicht eigentlich als Griechen wollte gelten lassen. 26 Bei Spinoza heißt es: »Durchaus tugendhaft handeln ist nichts anderes in uns als nach der Leitung der Vernunft handeln, leben, sein Sein erhalten (ex ductu rationis altere, vivere, suum esse conservare)«. 27 und: »Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst (Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus).« 28 Gewiss finden sich bei Nietzsche die entsprechenden kritischen Aussprüche gegen die Idee der Einheit in ihrer Verabsolutierung und insbesondere gegen den Begriff der Ursache seiner selbst, der causa sui. Wie aber lässt sich erklären, dass jene Gleichung, »Vernunft = Tugend = Glück« in dem einen Falle zum Ressentiment und allen seinen Begleit- und Folgeerscheinungen führt, im anderen Falle, nämlich bei Spinoza, zu einer Wertkritik, die sich ganz mit Nietzsche in Einklang befindet, wenn sie Mitleid und Reue als widervernünftig zurückweist und wenn sie – im Gegensatz zur Auffassung des Altertums – die mannigfachen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen dem aufspürt, was die Menschen im Allgemeinen in den einfachen Gegensatz des Guten und des Bösen einteilen. Enthält die Revision der Kausalauffassung den Schlüssel für das Verständnis dieser gegensätzlichen Konsequenzen aus einer scheinbar identischen Gleichung? Hat uns Nietzsche hier eine sinnvolle Interpretationsaufgabe gestellt? Hat er diese selbst gestellte Frage vielleicht am Ende beantwortet? Fragen wir zum Schluss: Wie steht es mit jener von Nietzsche empfundenen gemeinsamen Grundtendenz, die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen? In 26 Götzen-Dämmerung, dort: Das Problem des Sokrates, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, a. a. O., S. 67 ff. 27 Ethica, IV, Prop. 24. 28 Ethica, V, Prop. 42.

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Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza

der Sprache des Spinoza heißt dies: »Ein Affekt kann nur durch einen Affekt, der entgegengesetzt (contrarium) und stärker als der einzuschränkende Affekt ist, eingeschränkt und aufgehoben werden.« 29 und: »Die wahre Erkenntnis des Guten und Bösen kann, insofern sie wahr ist, keinen Affekt einschränken, sondern nur, insofern sie als Affekt betrachtet wird.« 30 ; und: »Zu allen Taten (actiones), zu denen wir durch einen Affekt, der ein Leiden ist (passio), bestimmt werden, können wir auch ohne denselben durch Vernunft bestimmt werden.« 31 Die Erkenntnis als dieser mächtigste Affekt, nämlich als der Affekt der Vernunft selbst, sofern diese nicht Leiden, sondern Tun ist, ist amor intellectualis: Die Liebe der Vernunft. Es ist hier nicht ohne Pointe, was Nietzsche über diesen amor intellectualis zu sagen weiß, und zwar in eben demselben Text, der uns so beeindruckend die Zweisamkeit zwischen ihm und Spinoza zu bestätigen schien: »Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinnweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und deren Voraussetzungen.« Plato genießt hier, ungeachtet Nietzsches Abneigung gegen die Dialektik, einen Vorzug, ist er doch Grieche und nicht Christ. Sollte Spinoza also ungeachtet seines Anti-Platonismus doch eher Christ sein oder sollte etwas versteckt Christliches in ihm oder nur etwas verdächtig Metaphysisches in ihm verborgen liegen. Was hier für die Dialektik spricht, ist ihr Ursprung aus der »philosophischen Erotik«, dank dessen man ihre Spuren noch in der »ganzen höheren Cultur und Literatur des klassischen Frankreich« wieder finden kann. 32 Also noch einmal: eine neue Perspektive? Oder vielleicht eine Leseanweisung Nietzsches für den alten und neuen Europäer, sich ein Lesebuch zusammenzustellen, in welchem aus Spinozas großer Ethik der erste und der letzte Teil gestrichen und durch Platos Symposion ersetzt ist (von dem wiederum vielleicht die Rede der Diotima wegzulassen wäre?). Wie steht es nun mit der Zweisamkeit von Nietzsche und Spinoza in Sachen des Anti-Platonismus? Beide haben gründlich das alte teleo29 30 31 32

Ethica, IV, Prop. 7. Ethica, IV, Prop. 14. Ethica, IV, Prop. 59. Götzen-Dämmerung, dort: Streifzüge eines Unzeitgemässen, a. a. O., S. 126.

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III. Ethik

logische Kausalitätskonzept mitsamt den Prinzipien, auf die es sich gründete, über den Haufen geworfen. Beide haben diese Art von Kausalität nicht transformiert, um sie durch eine streng mechanistische Kausalität zu ersetzen. Beide stellen vielmehr diese Transformation in den Dienst einer Kritik an der Moral und einer neuen ethischen Besinnung. Sind sie so nicht beide in ihrem ursprünglichsten Sinne genommen Platoniker? Vielleicht sogar Sokratiker? Müssen sie es nicht sogar sein wollen? Heidegger hat Nietzsche den letzten Metaphysiker genannt, und wenn ich ihn richtig verstehe, war dies kritisch gemeint: Nietzsche als einer, der die Metaphysik zerstören will, und dem dies nicht oder zumindest nur zur Hälfte gelingt. Aber ist diese Perspektive dem Denken Nietzsches angemessen? Um zu dem zu Anfang zitierten Text, der Vorrede von Jenseits von Gut und Böse, zurückzukehren: Für Nietzsche ist im Blick auf sein eigenes Jahrhundert, das neunzehnte, der Platonismus in Europa zu Ende. Nun, da Europa »von diesem Alpdrucke aufathmet, darf es zum Mindesten eines gesünderen Schlafs geniessen«. Solcher Schlaf aber ist nicht Nietzsches Sache, der seine Aufgabe selbst als die des Wachseins bestimmt. Der »Kampf gegen Plato (…) hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen.« 33 Mag der europäische Mensch diese Spannung als Notstand empfinden und eben deswegen den Bogen abspannen – dies ist es, was Nietzsche den europäischen Nihilismus nennt. Auf diese Weise wird verfehlt, was er in eben diesem Zusammenhang den freien Geist des guten Europäers genannt hat.

33

Jenseits von Gut und Böse, Vorrede, Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 12 f.

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Grenzsituation und ethische Wertebildung

Das Thema meines Beitrags ist mit dem Namen Karl Jaspers verbunden. In seiner Allgemeinen Psychopathologie und in seiner Philosophie hat der Begriff der Grenzsituation eine Schlüsselrolle: Grenzsituationen sind »letzte Situationen, die obgleich im Alltag verborgen oder nicht beachtet, unumgänglich das Ganze des Lebens bestimmen (wie Tod, Schuld, Kampf als Unausweichlichkeiten) …. Was der Mensch eigentlich ist und werden kann, hat seinen letzten Ursprung in der Erfahrung, Aneignung und Überwindung der Grenzsituationen.« 1 Meine folgenden Betrachtungen gliedern sich in drei Teile: Im ersten Teil werde ich dem systematischen Zusammenhang zwischen Grenzsituationen und Wertebildungen im allgemeinen nachgehen und dabei weitgehend der Jaspersschen Bestimmung dieses Zusammenhangs folgen. In einem zweiten Abschnitt werde ich die philosophische Erörterung unterbrechen, um den paradigmatischen Einzelfall einer besonderen Grenzsituation vorzustellen. Diese Darstellung verfolgt die Absicht, eine Modifikation der Jaspers’schen Bestimmungen vorzubereiten. In einem dritten Abschnitt werde ich Konsequenzen aus dieser Modifikation ziehen, die das ethische Wertproblem in der Bestimmung des Menschen betreffen.

1.

»Der Mensch ist immer in Situationen …«

»Im Lebensganzen werden Tätigkeiten, Leistungen, Erlebnisse durch die Situation ausgelöst oder angeregt, als Aufgabe gestellt.« 2 – »Diese Situationen sind zuletzt aufgehoben in den Grenzsituationen, d. h. den unüberschreitbaren, Situationen des Daseins, an denen es erwacht zur 1 2

K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Berlin, Heidelberg, New York 9 1973, S. 271. Ebd.

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III. Ethik

Existenz und als Dasein scheitert.« 3 Mit anderen Worten: Der Mensch ist immer in Situationen und, indem er in Situationen ist, ist er immer zugleich auch in einer bestimmten Grenzsituation, die der Situation zugrunde liegt, in der er sich befindet. Grenzsituationen stellen für den Menschen eine außerordentliche, eine jeweils einmalige Herausforderung und Aufgabe dar. Für den jeweils betroffenen einzelnen Menschen in dieser Situation geht es um nichts Geringeres als um seine je eigene Existenz, um ihn selbst in seinem einzigartigen und unverwechselbaren Selbstsein, um dieses Selbstsein als Mensch. Insofern ist der Mensch in der Grenzsituation zu einer Bestimmung seines Mensch-Seins, zu einem Verhältnis gegenüber seiner Bestimmung als Mensch herausgefordert. In seiner konkreten Lebenswirklichkeit verhält sich der Mensch immer und ständig wertend. Seine Befindlichkeit in einer jeweiligen Situation ist eine wertende und bewusst oder unbewusst von ihm selbst bewertete. Er wertet immer und ständig, so, wie er immer und ständig in irgendeiner Lage, in einer Situation ist. Wir vollziehen Wertungen in all unserem Tun und Lassen. Unser bewusstes Handeln ist an Wertvorstellungen orientiert, die die ausdrücklichen und unausdrücklichen Zielsetzungen bestimmen. Wertungen fließen ein in unsere Wahrnehmungen und in unsere Gedanken, in unsere Erinnerungen und planenden Entwürfe. Sie bestimmen – unbewusst und bewusst – unsere Träume und unsere täglich erneuerte Konfrontation mit der Realität. In der Grenzsituation ist folglich das Werteverhalten des Menschen in besonderer Weise anders als in einer gewöhnlichen Situation herausgefordert. Denn die Herausforderung betrifft das Selbstsein eines Menschen in seiner ganzheitlichen Bestimmtheit als dieser eine unverwechselbare Mensch. Sie bezieht sich insofern auf die Grundwerte der menschlichen Existenz, auf die Grundwerte des Mensch-Seins, sowie diese sich in der entsprechenden Situation für den betroffenen Menschen darstellen. Der Ursprünglichkeit der Grenzsituation korrespondierend sind die fraglichen Grundwerte ursprüngliche Werte des Menschen in ihrem Bezogensein auf die Werte einer konkreten bestimmten Situation, also keine Werte, die in einem reinen und absoluten An- und Für-sich-Sein vor uns stehen. Das Wertverhalten eines Menschen in einer Grenzsituation ist demnach ein Wertverhalten gegenüber den Grundwerten der mensch3

Ebd. S. 275.

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Grenzsituation und ethische Wertebildung

lichen Existenz, die sich ihrerseits in Gestalt eines Wertgefüges darstellen. Nach Jaspers bildet die Grenzsituation für den Menschen eine einzigartige Herausforderung. Indem sie den ganzen Menschen in seinem Selbstsein als Menschen herausfordert, fordert sie alle seine Kräfte, nicht zuletzt alle seine seelischen und geistigen Kräfte heraus. Hier wird dem Menschen abverlangt, eine Antwort auf die Frage zu suchen: Wer bin ich? Was ist der Mensch? Wozu bin ich da? Diese scheinbar verschiedenen Fragen sind nur unterschiedliche Formulierungen, unterschiedliche Akzentsetzungen für die eine Frage, welche die Grenzsituation an den in ihr befindlichen Menschen richtet. Die Grundbestimmung des Menschen ist – Jaspers zufolge – die Freiheit. Die Grenzsituation bildet für den Menschen insofern die Herausforderung, sich wertend zum Grundwert der Freiheit zu verhalten. Allerdings stellt die Freiheit kein einfaches Wertgebilde dar. Sie ist ein komplexes Gefüge von Wertungen, nicht zuletzt auch aufgrund der Wertperspektive der bestimmten Situation, in der sich der betroffene Mensch befindet. Mit dem Sein eines Menschen in einer Grenzsituation artikuliert sich dementsprechend ein komplexes Wertgefüge: zum einen (a) das Wertgefüge des menschlichen Daseins in Form eines perspektivisch gefügten Wertgebildes menschlicher Freiheit; und (b) das Wertgefüge des wertenden Verhaltens des Menschen in dieser Situation gegenüber jenem Wertgefüge der Freiheit. Grenzsituationen sind demnach – per definitionem – von gewöhnlichen Situationen unterschieden. Eine gewöhnliche Situation wechselt, ungeachtet einer gewissen Dauer in der Zeit. Der Mensch befindet sich nicht immer in der gleichen Situation für die gesamte Dauer seines Lebens. Eine solche gewöhnliche Situation fordert niemals den Menschen im Ganzen, mag sie auch dann und wann, wie man sagt, den »ganzen Menschen« fordern. Aber in einer solchen gewöhnlichen Situation geht es nicht um Sein oder Nicht-Sein des Mensch-Seins als eines solchen. Auch Ausnahme- und Extremsituationen unterscheiden sich von Grenzsituationen. Sie mögen zwar für den Betroffenen relativ ungewohnte, ja extreme Herausforderungen darstellen: Herausforderung seiner größtmöglichen Aufmerksamkeit, seines äußersten Könnens, seiner maximalen physischen und psychischen Leistungskraft; auch gegebenenfalls den gekonnten Umgang mit dem Bedrohlichen und Gefährlichen. Insofern unterscheidet sich unter Umständen auch eine lebensgefährliche Situation von einer Grenzsituation, dann nämlich, 313 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

wenn alle Kräfte notwendig sind, sie zu meistern, nicht aber der ganze Mensch in seinem ganzheitlichen Selbstsein als Mensch. Wie aber unterscheidet sich nun eine Grenzsituation von all den verschiedenartigen Situationen, die keine Grenzsituationen sind? Sind die genannten philosophischen Unterscheidungen hinreichend, um den betroffenen Menschen erkennen zu lassen, dass er sich in einer Grenzsituation befindet? Sind die bislang entwickelten Unterscheidungen philosophisch für den Zweck einer solchen Unterscheidung tauglich? Lässt sich eine Grenzsituation überhaupt von einer anderen Situation durch Unterscheidungskriterien kenntlich machen? Muss eine Grenzsituation, wenn sie das menschliche Leben ständig und in allen einzelnen Situationen begleitet, nicht notwendig als solche unerkennbar bleiben, ein unerkennbares »Ding an sich« hinter den Erscheinungen? Und wenn dies gilt, dass eine Grenzsituation unerkennbar ist, wozu dann die Annahme einer solchen? Jaspers Antwort auf diese Fragen ist von einer gewissen Unterbestimmtheit und Uneindeutigkeit. Dies ist in einer Hinsicht wohl begründet, in anderer Hinsicht unbefriedigend. Betrachten wir zunächst die Gründe, die für diese Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit sprechen. Jaspers hat als Kennzeichen für Grenzsituationen aufgeführt: Leiden und Kampf, Zufall und Schuld, Krankheit und Tod. Die Liste ist offen und unvollständig, und jede dieser Kennzeichnungen von extrem unbestimmter Allgemeinheit. Dabei ist klar: die fraglichen Kennzeichen (signa) sind keine objektiven und allgemeingültigen Kriterien, um Grenzsituationen von anderen Situationen zu unterscheiden. Ein momentaner Leidenszustand, ein alltägliches Unglück, ein Konflikt des Tages, ein Schuldgefühl gegenüber einem Menschen hier und jetzt. All dies macht noch keine Grenzsituation, sofern es in den aufgeführten Situationen nicht zwangsläufig um die Frage nach dem Mensch-Sein geht, nicht unvermeidlich die menschliche Freiheit auf dem Spiel steht. In einem gewissen Sinne gibt es für Grenzsituationen keine objektiven und allgemeingültigen Kriterien der Unterscheidung von anderen Situationen. Wohl aber gibt es Zeichen (signa) der menschlichen Existenz, die auf die Zugänglichkeit von Grenzsituationen für die menschliche Kommunikation verweisen. Ein zweiter guter Grund für das Fehlen bestimmter Unterscheidungskriterien für Grenzsituationen ist mit deren Begriff gegeben: Der Mensch könnte sein alltägliches Leben nicht leben, er könnte die Herausforderung des Alltags, des Berufs, der persönlichen Konflikte nicht bestehen, wenn er ständig mit der Frage nach seinem Selbstsein und 314 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Grenzsituation und ethische Wertebildung

seinem Mensch-Sein konfrontiert wäre. Auch wenn menschliche Freiheit in der Grenzsituation ihren Ursprung hat; und auch wenn ein Mensch dank dieses Ursprungs auf die Herausforderungen einer extrem schwierigen Lebenssituation über die Anspannung aller seiner Kräfte hinaus in freiem Verantwortungsbewusstsein zu antworten vermag: Der Mensch als solcher wäre grundsätzlich überfordert, er wäre dem alltäglichen Leben und dessen Anforderungen nicht gewachsen, wenn er sich ständig und ausschließlich um sein wahres und eigentliches Selbstsein als Mensch sorgen und diese Sorge zu seiner Lebensaufgabe machen würde. Deswegen hat Jaspers die direkte und unmittelbare Konfrontation des Menschen mit seiner Grenzsituation zu einem Ausnahmefall erhoben. Nicht jede Situation enthüllt dem Menschen, dass er sich immer und ständig in einer Grenzsituation befindet. So gesehen gilt: Eine unübersehbare und direkte Konfrontation mit der Grenzsituation stellt für den Menschen eine Ausnahmesituation dar. Aber ungekehrt ist eine unalltägliche Ausnahmesituation nicht von vornherein und notwendig eine Grenzsituation. Das Sein in einer Grenzsituation ist dem Menschen durch vielerlei gewöhnlich verborgen: durch die Anforderungen des alltäglichen Lebens, aber auch durch die mannigfachen allgemeinen Bilder und Wertvorstellungen von der Welt und vom Menschen; nicht zuletzt und vor allem durch das Bild, das er sich von seinem eigenen Selbstsein macht. Jaspers Philosophie der Grenzsituationen ist eine implizite Teleologie. Die Grenzsituation enthält die Bedingung der Möglichkeit für die wahre Selbstentdeckung, die wahre Selbstfindung des Menschen. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit, indem sie den Menschen dazu herausfordert, von seiner Freiheit den angemessenen Gebrauch zu machen. Die Konfrontation des einzelnen Menschen mit seiner Grenzsituation eröffnet für diesen die mannigfachen Möglichkeiten, sich zu dem Wertgefüge des menschlichen Daseins zu verhalten.

2.

»Was im Abnormen geschieht und erlebt wird, ist nicht selten ein Offenbar-werden von etwas, das den Menschen als Menschen angeht«

Der Philosoph und Psychopathologe Karl Jaspers hat diese sinnstiftende Funktion der Grenzsituation nachdrücklich auch für die Fälle der »Psychopathien, Neurosen und Psychosen« eingefordert: »Hier zeigen 315 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

sich nicht nur Abweichungen von einer Gesundheitsnorm, sondern darin auch die Ursprünge der menschlichen Möglichkeiten überhaupt. Was im Abnormen geschieht und erlebt wird, ist nicht selten ein Offenbarwerden von etwas, das den Menschen als Menschen angeht.« 4 Jaspers war der Auffassung, dass dieses Menschliche, dieses Humanum, diese Wertgefüge, welches das Wesen des Menschen ausdrückt, sich der Vergegenständlichung des empirischen Erkennens und Verstehens entzieht. Aber unmissverständlich hat er dem ungeachtet vom Psychopathologen ein Bewusstsein um diese sinnstiftende Bedeutung der Grenzsituation gefordert. 5 Dieses Bewusstsein ist auch für den praktizierenden Psychiater und Psychotherapeuten unerlässlich, als Bewusstsein, welches das eigene Tun begleitet und seiner wissenschaftlich-therapeutischen Zielsetzung menschliche Färbung verleiht. Die angekündigte Schilderung eines paradigmatischen Einzelfalls eines Menschen in der Konfrontation mit seiner Grenzsituation setzt die Jaspers’sche humane Grundauffassung voraus, nicht zuletzt in ihrem kritischen Wertakzent. Die hier erörterte Grenzsituation ist als solche nicht nur für den unmittelbar betroffenen Menschen durchlebt und durchlitten. Vielmehr erweist sich, dass sie über das geschilderte Verhältnis des einzelnen Menschen zu seinem Selbstsein hinaus andere näher- und ferner stehenden Menschen mitbetrifft und diese ihrerseits zu einem der Situation entsprechenden Verhalten herausfordert, auch wenn diese nicht von der eigenen Grenzsituation, sondern von der eines anderen Menschen mitbetroffen sind: sei es aufgrund von Freundschaft und Verwandtschaft, sei aufgrund der beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, die aus der gegebenen Situation entspringen. Die fragliche Grenzsituation eines vereinzelten Menschen ist an einen Komplex von Situationen gebunden, in dem mehrere Menschen zugleich unvermeidlich Mitwirkende sind. Durch diese Mitwirkung erfährt die fragliche Grenzsituation, in der sich der einzelne betroffene Mensch befindet, eine wesentliche Beeinflussung und Mitgestaltung. Der hier geschilderte Fall einer Grenzsituation stellt sich dar als eine Abfolge von Geschichten, als eine Kette von Ereignissen, deren Kern auf eine Vorgeschichte zurückverweist und auf die Zukunft hin offen und unabgeschlossen ist. 4 5

K. Jaspers, Psychopathologie, S. 275. Ebd.

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Grenzsituation und ethische Wertebildung

Es handelt sich um die lebensgeschichtliche Grenzsituation einer Frau Anfang sechzig, nennen wir sie Frau K. Sie ist ausgebildete Bibliothekarin, war mit einem angesehenen Universitätsprofessor verheiratet und lebt in der hier geschilderten Konfrontation mit ihrer Grenzsituation, seit einigen Jahren verwitwet, in einem hübschen eigenen Haus auf dem Land in dünn besiedelter Wohngegend. Ihre erwachsenen Kinder, ihre Freunde und Bekannten kennen und schätzen sie als einen offenen, allem Menschlichen in großer Sensibilität zugewandten freundschaftlich gesonnen Menschen, ungewöhnlich, aber ohne irgendwelche Auffälligkeiten mit einer Ausnahme, von der zu berichten sein wird. Sie unternimmt Reisen, um ihre Kinder und Freunde zu besuchen und vor allem, um Materialien für eine geplante Buchpublikation zu sammeln, die sich mit rechtspolitischen Fragen beschäftigt. In jüngster Zeit häufen sich die Reisen zu Anwälten und verschiedenen öffentlichen Institutionen des Rechts. Vor einigen Jahren ist das Landhaus der Frau K. abgebrannt. Die Ermittlungen der Behörden sind im Sande verlaufen. Frau K. ist überzeugt, dass Brandstiftung vorliegt. Den Wiederaufbau des Hauses betreibt sie mit großer Energie und wird auf diese Weise zum Geldgeber für eine Reihe von kleinen Handwerksbetrieben der ländlichen Umgebung. An einem schönen Sommertag des Jahres 2000 halten drei Autos vor der Tür des inzwischen wieder ganz instand gesetzten Hauses, darunter ein Krankenwagen. Frau K. wird bedeutet, dass sie nach ihrer bisherigen Weigerung nunmehr zwangsweise einem Amtsarzt der Psychiatrie zur medizinischen Begutachtung vorgeführt werde. Ihr Hinweis, dass sie sich bereits freiwillig mit einem Arzt ihrer Wahl in Verbindung gesetzt habe, hilft ihr nichts. Nachdem sie sich weigert, der Aufforderung Folge zu leisten, wird das Haus aufgebrochen. Nach einer einstündigen Anamnese durch den zuständigen Amtsarzt wird Frau K. in ihre Wohnung zurückgebracht. Zu einer offenkundigen, allseits erkennbaren Grenzsituation wird die Geschichte allererst durch ihre Fortsetzung. Kaum hat die Betroffene sich etwas von dem Schrecken der empfundenen Gewalt erholt, erscheinen am nächstfolgenden Tag wieder drei Wagen vor ihrem Haus, diesmal neben einem Krankenwagen ein Polizeiauto. Wieder wird das gerade abschließbar gemachte Haus aufgebrochen. Frau K. ist noch mit der Morgentoilette beschäftigt, als einer der Polizisten die Treppe heraufstürmt und bis zum Badezimmer vordringt. Der Amtsgerichtsdirektor, der die Aktion leitet, kann nur äußerste Indiskretion verhindern. Frau K. kann sich anziehen, leistet aber gegen 317 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

ihren Abtransport erbitterten Widerstand. Die Situation ist in Gefahr zu entgleisen. Einige Minuten später befindet sich Frau K., bislang und bis heute unbescholten, an Handfesseln gebunden auf dem Transport in das nächstgelegene Psychiatrische Kreiskrankenhaus. Dort wird sie unmittelbar in die geschlossene Abteilung eingewiesen Die Kinder und ein Freund der Familie finden am nächsten Tag den vertrauten Menschen in einem kaum wieder zu erkennenden Zustand wieder. Frau K. wirkt erloschen, innerlich zerstört und kann nur noch den einen Satz sprechen: »Bitte holt mich sofort hier raus.« Nach tagelangen Bemühungen und endlosen Telefonaten mit den zuständigen Instanzen, Amtsgericht, Landgericht und verantwortlichem Chefarzt der psychiatrischen Klinik gelingt es, Frau K. freizubekommen. Sie nimmt nach Mitteilung ihrer Entlassung ein Taxi, das sie in ihr Zuhause zurückbringt. Der Chefarzt hat ihr zuvor mitgeteilt, dass kein Grund bestehe, sie weiter in der Klinik zu behalten. Ich glaube, es bedarf kaum einer Explikation, um in der geschilderten Geschichte das Vorliegen einer Grenzsituation für den betroffenen Menschen zu erkennen, wenn man bedenkt, dass nicht nur dieser selbst, sondern auch die meisten mit ihm vertrauten Menschen ihn für seelisch gesund gehalten haben. Ich komme nun zur Erläuterung dieser Geschichte, und dann, in einem dritten Abschnitt, zur allgemeinen Erörterung meines Themas »Grenzsituation und Wertebildung« zurück. Die blitzartige und gewaltsame Überführung von Frau K. in die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses verdankt sich dem zuvor eingeholten amtsärztlichen Gutachten. Dieses hatte Frau K. eine schwere psychische Erkrankung und akute Selbstmordgefahr bescheinigt, und so die verantwortlichen Instanzen zu ihrer schnellen Reaktion veranlasst. Die diagnostizierte Suizidgefahr erweist sich nach Meinung aller Beteiligten als Fehldiagnose, resultierend aus einer Fehlinterpretation der von Frau K. in ihrer Erregung gemachten Äußerung. Das amtsärztliche Zeugnis und die Diagnose des Chefarztes der Psychiatrie unterscheiden sich in manchen medizinischen Details und ihren Konsequenzen, kommen aber in dem entscheidenden Punkt zu einer einheitlichen Auffassung. Frau K.’s seelischer Zustand verlange die sofortige Beschließung von Betreuungsmaßnahmen, mit Einwilligungsvorbehalten in allen maßgeblichen Belangen. Das zuständige Gericht beschließt daraufhin sofort die Betreuung im Bereich der Rechtsgeschäfte, des Umgangs mit den Behörden, Regelung der finanziellen Angelegenheiten sowie des Aufenthaltsortes und der Post. 318 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Grenzsituation und ethische Wertebildung

Dieser Beschluss hat eine gerichtliche Vorgeschichte: Das zuständige Amtsgericht hatte bereits über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg die Prüfung des nunmehr gefassten Beschlusses erwogen, den schon einmal entsprechend gefassten Beschluss wegen eines offenkundigen rechtswidrigen Verfahrensfehlers aber wieder aufheben müssen. Anlass für die Erwägungen und den endgültigen Beschluss der Betreuung von Frau K. war deren Verhalten zu drei dem Amtsgericht vorliegenden Zahlungsklagen. Frau K. hatte die Zahlung aus geltend gemachten Gründen verweigert, rechtlichen Einspruch erhoben, sich aber – auch nach wiederholten Anmahnungen des Gerichts – geweigert, sich in den anstehenden Streitpunkten durch einen Anwalt vertreten zu lassen. Nach Auffassung des Gerichts gab es gute Gründe zugunsten der Rechtsposition von Frau K. Bei einer Rechnung war nicht zu klären, ob die Zahlung bereits erfolgt war, eine andere Rechnung lag unverhältnismäßig hoch über dem Kostenvoranschlag, eine dritte dramatisch überhöhte war von dem Gericht vorschnell durch Pfändung entschieden worden. Angesichts dieser Lage war das Gericht der Auffassung, Schaden von Frau K. abwenden zu müssen, wie es das Betreuungsrecht vorsieht. Frau K. hatte ihrerseits aufgrund ihrer Rechtsstudien den Ehrgeiz, von dem ihr zustehenden Recht Gebrauch zu machen, welches die Vertretung der eigenen Sache durch sie selbst auf der Ebene der amtsgerichtlichen Zuständigkeiten erlaubt. Als sie von der Einleitung von Betreuungsmaßnahmen gegen sich erfuhr, vermochte sie darin nur eine Manipulation und vor allem eine Verletzung ihrer Menschenwürde zu sehen, die ihren Aufenthalt in der ländlichen Gegend aufgrund der umlaufenden Gerüchte außerordentlich erschwerte. Nunmehr bemühte sie sich ihrerseits um einen Rechtsbeistand. Aber die Vorgespräche mit den von ihr konsultierten Rechtsanwälten scheiterten. Angesichts der nunmehr entstandenen Lage wusste sich das zuständige Amtsgericht nur noch durch die Einleitung der geschilderten Schritte zu helfen. Ich komme damit zu meinem allgemeinen Thema »Grenzsituation und ethische Wertebildung« zurück.

3.

Sie wird Tag für Tag leiden …

Zunächst ein Rückblick auf die berichtete Geschichte: Frau K. wird weiterhin mit ihrer Grenzsituation konfrontiert bleiben. Sie wird Tag für 319 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

Tag leiden durch das unerträgliche Gefühl, dass die ihr rechtswirksam auferlegte Betreuung ihre Autonomie und ihre menschliche Würde beschädigt und ihr die Begegnung mit anderen Menschen zu einer schweren Belastung macht. Die Betreuungsmaßnahmen, die zum Schutze der Betreuten gedacht sind, – zum Schutz vor einer Schädigung durch sie selbst, werden in ihrem Fall auf ihr Leben beeinträchtigend weiterwirken. So lange ihr psychischer Zustand, wie gesund oder krank auch immer, stabil bleibt, wird sie weiterhin nach wiedererlangter Aktivität bemüht sein, zu ihrem Recht zu kommen und die Aufhebung der Betreuungsmaßnahmen zu erwirken. Insbesondere wird sie gegen die besonders belastenden »Einwilligungsvorbehalte« der Betreuung angehen. Die medizinische Diagnose wird in dieser Fortsetzung der Aktivitäten vielleicht eine Bestätigung der Richtigkeit der ursprünglichen Krankheitsvermutung sehen, vielleicht auch ein Anzeichen, dass die Betroffene weiterhin einen schweren Kampf gegen die Erkrankung mit den aus der Krankheit entsprungenen Mitteln führt. Die betreffenden Rechtsinstanzen werden sich vielleicht in der Richtigkeit ihrer Beschlussfassung ermutigt finden, weil nunmehr alle rechtlichen Schritte der Betroffenen rechtsunwirksam sind, die Betroffene, die sog. Querulantin, die Gerichte also nicht länger belästigen kann mit ihren Eingaben. Frau K’s Ringen in der Auseinandersetzung mit ihrer Grenzsituation entspricht der Jaspers’schen Bestimmung. Es geht hier um Sein oder Nicht-Sein des Selbstseins als Mensch. Die Wertebildung ist hier humane Wertebildung. In einem bestimmten Sinne ist diese transmoralisch und transethisch, sofern es hier primär um eine Auseinandersetzung des betroffenen Menschen in seinem Selbstverhältnis mit seinem Selbstverhältnis geht. Es ist hier nicht meine Aufgabe, und sie kann es auch nicht sein, die juristischen und medizinischen Entscheidungen in dem berichteten Einzelfall kritisch zu prüfen, obwohl ich nicht verhehlen kann, dass hier die Dinge nicht in Ordnung waren und nicht in Ordnung sind. Mein hauptsächlicher Gesichtspunkt ist der folgende: In einer sichtbar werdenden Grenzsituation eines betroffenen Menschen entsteht eine ethische Herausforderung an das menschliche Umfeld, der zu entsprechen alle Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen bemüht sein müssen. Der berichtete Einzelfall soll nur ein einzelner Hinweis auf diesen Sachverhalt sein. Der allgemeine Fall des Problems der Anwendung des Betreuungsrechts ist als ein allgemeiner Hinweis in dieser Richtung zu verstehen. 320 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Grenzsituation und ethische Wertebildung

Wenn das Betreuungsrecht in der Nachfolge des alten Vormundschaftsrechts in der Tat die beanspruchte erhebliche rechtliche und lebenswirksame Verbesserung für die Betreuten soll bringen können, dann nur unter der Voraussetzung, dass der Kreis der von der Betreuung mitbetroffenen und verantwortlich handelnden Menschen ihrer rechtlichen und ethischen Verantwortung gerecht wird. Die Vorschriften des Betreuungsrechts, insbesondere zu den Einwilligungsvorbehalten, sind so gefasst, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist, nämlich rechtliche und humane Gewissenhaftigkeit. Das leidige Thema amtsärztlicher Zeugnisse möchte ich zur Erörterung den zuständigen Fachkollegen überlassen. Nur darf man im Hinblick auf den geschilderten Fall die Frage nicht unterdrücken, ob eine einstündige Anamnese eines zu Betreuenden, zumal in einem verständlichen Erregungszustand, ausreichend ist, eine so schwerwiegende, ja lebenswichtige Entscheidung über das »Ja!« oder »Nein!« einer Betreuung zu fällen. Wie gesagt: Die ethische Herausforderung der Anwendung des Betreuungsrechts betrifft alle verantwortlichen Akteure. Man muss auch fragen, ob das für die Betreuung verantwortliche Personal, die Betreuer und Betreuerinnen zureichend ausgebildet und auf die höchst sensible Aufgabe vorbereitet sind, dass die Betreuten sich in vielen Fällen einer Kooperation verständlicherweise nicht geneigt zeigen. Wenn schon ein Amtsarzt gelegentlich gekränkt ist, wenn seine anamnetischen Fragen nicht wundervoll gefunden werden, so kaum weniger die Betreuer, die auf schroffe menschliche Ablehnung stoßen, wenn sie dem Betreuten Mitteilung von einem geöffneten Brief machen, in der die grundsätzlich gesicherte Wahrung des Postgeheimnisses rechtmäßig verletzt wird. Von der ethischen Herausforderung einer offenbar gewordenen Grenzsituation sind die Freunde und Angehörigen der betroffenen Person nicht ausgenommen. Ich spreche hier nicht vom Rechtsmissbrauch des Betreuungsrechts. Dies ist Sache der Rechtsinstanzen. Ich spreche hier von den psychischen und menschlichen Problemen, welche die Annahme der bezeichneten ethischen Herausforderung durch die nächsten Angehörigen erschweren. Wir betreten hier einen Bereich, in dem Fachliteratur über Begründungsprobleme der Ethik zunächst nicht weiterhilft. Gefragt ist hier ein offener Sinn für die ungeschriebenen Gesetze der Mitmenschlichkeit, die Bemühung, den Anderen nicht zu verletzten und dabei zugleich den für richtig gehaltenen eigenen Standpunkt festzuhalten. Hierher gehört eine offene und vorbehaltlose Zuwendung, die nicht zwangsläufig die von 321 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

Jaspers propagierte Form der existentiellen Kommunikation haben muss. Auch für einen Arzt, auch für einen Richter und mehr noch für die Angehörigen und die Freunde muss ein freundliches Wort, ein Wort der Ermutigung, nicht gleichbedeutend sein mit Selbstentsagung und aufopferungsvoller Schwerstarbeit. Zum Abschluss möchte ich einen Grundbegriff ins Spiel bringen, dem im Gesamtbereich der Rechtsanwendung eine Schlüsselrolle zukommt. Es ist dies der Begriff der Verhältnismäßigkeit. Verhältnismäßigkeit bildet einen Grundwert der Rechtsanwendung. Verhältnismäßigkeit stellt ebenso aber auch einen Grundwert in der Anwendung therapeutischer Maßnahmen dar. Diese Verhältnismäßigkeit gilt in besonderem Maße für den allgemeinen Fall der Anwendung des Betreuungsrechts. All zu groß ist hier die Gefahr, dass die ergriffenen Betreuungsmaßnahmen sich nicht nur zur Schadensverhütung des Betreuten, sondern zu seiner Schädigung auswirken. Dies gilt für die Anwendung des Betreuungsrechts im allgemeinen ebenso wie für die einzelnen Einwilligungsvorbehalte im besonderen. Dementsprechend enthält das Betreuungsrecht auch einen »Grundsatz der Erforderlichkeit.« Das Betreuungsrecht und die Problematik seiner Anwendung hat in meinen Überlegungen die Rolle eines allgemeinen Beispielsbereichs gespielt, für den der geschilderte Einzelfall nur eine Einführung darstellte. Verhältnismäßigkeit ist ein Grundwert, der für den Bereich der Ethik und des Rechts gleichermaßen verbindlich ist. Dieser Verbindlichkeit kommt im Blick auf Grenzsituationen eine besondere Bedeutung zu: Denn ein Mensch, dem seine Grenzsituation unmissverständlich vor Augen steht, tut sich schwer, in seinem Verhalten Maß und Mitte zu halten. Verhältnismäßigkeit in seiner Situation zu wahren, ist für ihn eine außerordentliche, schwer zu bestehende Prüfung. Umso wichtiger ist die Mitwirkung, die Mithilfe aller hier Mitverantwortlichen an der Wahrung und Beförderung jenes Wertes der Verhältnismäßigkeit und der mit diesem Grundwert verbundenen ethischen Wertebildungen. Verhältnismäßigkeit ist ein Ausdruck der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann sich Ausdruck verschaffen in gerechtem Verständnis. Gerechtigkeit muss sich aber auch manchmal Ausdruck verschaffen in gerechter Empörung.

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Menschenwürde in Grenzsituationen

Die Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland haben sehr bewusst die Menschenwürde und den Schutz derselben an den Anfang gestellt. Der Artikel l, der den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes eröffnet, ist nicht nur der Reihe, sondern auch dem Rang nach das erste aller Grundrechte. In dieser ausgezeichneten Stellung spielt die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Staates eine besondere Rolle. Es war den Nationalsozialisten nicht genug, Millionen unschuldiger Menschen in ihrem Rassenwahn zu ermorden; sie gingen darüber hinaus, indem sie die Ermordung mit dem Raub der Menschenwürde zu verbinden trachteten. Rassismus ist vielleicht die schlimmste Verletzung der Menschenwürde. Der israelische Philosoph Avishai Margalit geht in seinem Buch Politik der Würde von der Menschenrechtsverletzung der Demütigung aus, um nach einer Gesellschaft zu fragen, die keine Demütigung ermöglicht. 1 Demütigung ist der Angriff auf die menschliche Selbstachtung. Die Achtung, die das Grundgesetz gegenüber der Würde des Menschen einfordert, ist Achtung gegenüber der Selbstachtung des Menschen. Das Thema der Gegenseitigkeit, das unsere Tagung bestimmt, enthält nicht nur die einfache Beziehung der Gegenseitigkeit, welche die Achtung der Menschenwürde gebietet, sie verlangt darüber hinaus, die Selbstachtung des menschlichen Gegenübers in der eigenen Selbstachtung zu achten. Die Menschenwürde, ihre Achtung und ihr Schutz sind in einem komplexen Gefüge von Rechten und Pflichten verankert. Das Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde hat seinen Ort in vier Dimensionen der Gesetzlichkeit: im Politischen, im Rechtlichen, im Moralischen und im Metaphysischen. Ich greife hier bewusst auf die berühmte Jasperssche Unterscheidung der vier Weisen der Schuld A. Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt/M. (S. Fischer) 2 1997.

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zurück. 2 Wenn es denn eine elementare und ursprüngliche Schuld gibt, so ist es die der Missachtung bzw. der Verletzung der Menschenwürde. Politisch ist der Schutz der Menschenwürde als Schutz gegenüber der möglichen Willkür der Staatsgewalt und darüber hinaus als Verpflichtung des Staates, dieses Grundrecht zu fördern. Eine solche Förderung bezieht sich etwa auf das Recht der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (GG Art. 2). Rechtlich ist der Schutz der Menschenwürde in Form der Strafgesetze, welche all jene Rechtsverletzungen unter Strafe stellen, die sich aus dem Grundrechtskatalog ergeben. Moralisch schließlich ist der Schutz und die Achtung der Menschenwürde dort, wo die ungeschriebenen Gesetze menschlichen Anstands und der Fairness herrschen. Zwischen diesen drei Rechtssphären des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde besteht nicht nur ein theoretischer, sondern auch ein praktischer Zusammenhang. In dem Maße, in dem eine Rechtssphäre leidet, läuft die andere Gefahr, beschädigt zu werden. Ein Staat, der das Grundrecht der Menschenwürde nicht zureichend schützt, wird in seiner Strafgesetzgebung Schaden erleiden und über kurz oder lang den menschlichen Anstand in der Gesellschaft beschädigen. Umgekehrt wird in einer Gemeinschaft von Menschen, welche die Gesetze der Fairness und des Anstandes außer acht lassen, am Ende auch die politische Verfassung in ihrer rechtlichen Bestimmung und in ihrer Orientierung an der Menschenwürde beeinträchtigt werden. Ein besonderes Wort gilt hier dem gewählten Terminus des Metaphysischen. Ich habe diesen Terminus bewusst gewählt, nicht um mich auf die Autorität von Jaspers zu stützen, sondern im besonderen Blick auf das Referat von Klaus Gahl und die gegenwärtige Debatte um die Menschenwürde. Der Gebrauch des Terminus »metaphysisch« entspricht dem Gebrauch des Terminus »anthropologisch« in Klaus Gahls Referat. 3 Man sagt – nicht zu Unrecht – , die Achtung und der Schutz der Menschenwürde hätten ein anthropologisches Fundament. Diese Aussage ist allerdings in mehrfacher Hinsicht vieldeutig. Zum einen kann, wie es in Klaus Gahls Ausführungen andeutungsweise anklingt, die Anthropologie nicht die Achtung und den Schutz der Menschenwürde begründen. Der Philosoph Hermann Cohen hat nachdrücklich K. Jaspers, Die Schuldfrage. Heidelberg (Lambert Schneider) 1946, S. 31 ff. K. Gahl, Achtung der Menschenwürde als Maxime ärztlichen Handelns am Lebensende. In: K. Gahl, P. Achilles und R.-M. E. Jacobi (Hg.), Gegenseitigkeit. Grundfragen Medizinischer Ethik. Würzburg (Königshausen & Neumann), S. 351–371.

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Menschenwürde in Grenzsituationen

betont: Nicht ist die Ethik auf die Anthropologie, sondern die Anthropologie auf die Ethik zu gründen. 4 Zum anderen aber ist der Begriff der Anthropologie selbst vieldeutig. Es gibt zahlreiche Typen von Anthropologie: naturalistische und biologistische Anthropologien, die das Wesen des Menschen aus dem relativen Unterschied zum Tier gewinnen, ferner kulturanthropologische Theorien, in denen die kulturellen und geschichtlichen Differenzen im Bild des Menschen besonders betont werden. Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch hat in einer von der UNESCO edierten Anthologie 5 vielfältige Texte aus mannigfachen Kulturen und Epochen gesammelt. Dem Titel zufolge lässt sich das Grundrecht der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde nicht aus einer natürlichen und auch nicht aus einer kulturspezifischen anthropologischen Bestimmung herleiten. Vielmehr ist es umgekehrt: In allen menschlichen Kulturen gibt es Spuren von Zeugnissen, in denen die Grundrechte des Menschen – das Grundrecht, ein Mensch zu sein, und die damit verbundenen Rechte – nicht nur enthalten, sondern auch auf das Grundrecht der Achtung und des Schutzes der menschlichen Würde bezogen sind. Wenn ich von der metaphysischen Dimension des Grundrechts der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde gesprochen habe, so in dem Sinne, dass der Mensch das ens metaphysicum ist: ein Wesen, das die Natur in spezifischer Weise transzendiert. Damit ist kein Plädoyer für eine bestimmte Religion verbunden, wohl aber der Verweis auf eine menschliche Grundbestimmung, die ich dem Referat von Klaus Gahl ergänzend zur Seite stelle: Es ist die Grundbestimmung der Vernunft – genauer: der Vernunft im theoretischen und praktischen Gebrauch. Die Vernunft ist der philosophischen Tradition zufolge die Erkenntnisinstanz der Metaphysik. Wenn ich sie hier einführe, so geschieht dies nicht nur im Blick auf Kant, auf dessen Metaphysik sich alle in der gegenwärtigen Diskussion als den locus classicus beziehen. Die berühmte Stelle in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten attestiert allen Dingen einen Wert, sei es ein Gebrauchs-, sei es ein Tauschwert, in dessen Wesen es liegt, Äquivalente zu ermöglichen. Nur der Mensch allein besitzt etwas Einzigartiges, das sich jeder Form H. Cohen, Ethik des reinen Willens (1904). In: Hermann Cohen. Werke, Bd. 7 (hrsg. von Helmut Holzhey). Hildesheim (Olms) 1981, S. 9. 5 J. Hersch, Das Recht, ein Mensch zu sein. Leseproben aus aller Welt zum Thema Freiheit und Menschenrechte. Basel: Schwabe 1990. 4

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von Äquivalenten entzieht, nämlich die Würde. 6 Allerdings spricht Kant hier nicht vom Menschen in unbestimmter Weise. Es gibt mannigfache Bezüge, in denen der Mensch steht, die der Wertung und somit auch dem Äquivalenzprinzip unterliegen, insbesondere alle Bezüge, die das Angenehme und das Unangenehme betreffen, die – wie Kant sagt – ihren »Affectionspreis« 7 haben. Wenn der Mensch die Sphäre der Werte und der Wertäquivalente transzendiert, so deswegen, weil er im Unterschied zu den Gebrauchsdingen nicht in Relationen von Mitteln und Zwecken aufgeht, sondern in seiner moralischen Bestimmung ein Selbstzweck ist. Die Idee des Selbstzwecks aber ist eine Idee der Vernunft. Wenn der Mensch eine Würde hat, so liegt diese in seiner Vernunftbestimmung. Die Achtung vor der Würde des Menschen ist aber nicht Erkenntnis des Menschen aus reiner Vernunft. Kant hat aus Gründen seiner internen Systematik diese Achtung ein von der Vernunft gewirktes Gefühl genannt. Es ist damit der Punkt erreicht, an dem sich ein Wort über die Relevanz der Medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers nahelegt. Deren Grundbegriff ist der der »pathischen Existenz« des Menschen. 8 Damit wollte Weizsäcker keineswegs den Menschen nur als den schlechthin leidenden und mit seinem Unglück hadernden Menschen kennzeichnen, sondern eine komplementäre Gegenüberlegung zur Vernunftbestimmung des Menschen anstellen. Wenn ich hier die beiden Denker Jaspers und Weizsäcker in einem Atemzug nenne, so nicht, um sie gegeneinander auszuspielen. Vielmehr geht es darum zu sehen, dass sie sich der gleichen Bestimmung des Menschen aus »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Kant’s gesammelte Schriften. Akademie Ausgabe (AA). Bd. IV, S. 385–463. Berlin (de Gruyter) 1903, S. 434. 7 Ebd., S. 435. 8 V. v. Weizsäcker, Pathosophie. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1956. Vgl. dazu meine beiden Aufsätze: R. Wiehl, Ontologie und pathische Existenz. Zur philosophischmedizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers. Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie 38 (1990) 263–288 und: R. Wiehl, Grenzsituation und pathische Existenz. In: K. F. Wessel, W. Förster, und R.-M. E. Jacobi, (Hrsg.): Herkunft, Krise und Wandlung der modernen Medizin. Kulturgeschichtliche, wissenschaftsphilosophische und anthropologische Aspekte. Bielefeld (Kleine) 1994, S. 206–220. 6

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Menschenwürde in Grenzsituationen

entgegengesetzten Richtungen nähern. Für Jaspers ist der Mensch »vernünftige Existenz«, die sich in ihrem konkreten Leben in Konfliktund Grenzsituationen wiederfindet, aus denen ein Weg heraus zu suchen Aufgabe der Vernunft ist. 9 Weizsäcker geht von der affektiven Bestimmung des Menschen aus, um in dieser »pathischen Existenz« die Vernunft präfiguriert zu finden. Wenn die vernünftige Selbsterkenntnis den Menschen über sein Sollen und Können, sein Müssen und Dürfen, über sein Wollen und deren Grenzen belehrt, so ist umgekehrt in den menschlichen Affekten ein entsprechendes Gespür am Werk. Sofern ich hier die Vernunftbestimmung und die Affektivität des Menschen zusammenführe, so geschieht dies bewusst im Blick auf die von Klaus Gahl eingeführten anthropologischen Grundbestimmungen der Zeitlichkeit und der Leiblichkeit, der Subjektivität und der Intersubjektivität. Alle diese Bestimmungen gewinnen ihr spezifisches Humanum unter dem Aspekt der Komplementarität von vernünftiger und pathischer Existenz. Was die Vernunft betrifft, so ist diese – wie auch die anderen menschlichen Erkenntnisinstanzen, etwa Verstand, Phantasie und Wahrnehmung – eine komplexe, in sich differenzierte Funktion. Sie ist instrumentelle Vernunft in der Suche und Findung angemessener Mittel zu vorgegebenen Zwecken sowie Setzung von Zwecken zu angeeigneten Mitteln, deren Gebrauch für sie selbst ein Zweck ist. Ferner ist sie kommunikative Vernunft, welche die Verständigung unter den Menschen ungeachtet unterschiedlicher Interessen und psychischer Dispositionen ermöglicht. Schließlich ist die Vernunft vor allem Bestimmung der Ideen, Suche nach dem Ganzen, nach dem Unbedingten und Überwindung der Grenzen, die dieser Suche immer wieder gesetzt sind. Diese, die spekulative Vernunft, ist das Streben nach Transzendenz, nach Überschreitung der existentiellen Grenzen. Aufgrund dieser spekulativen bzw. metaphysischen Vernunft ist der Mensch ständig im Begriff, die Grenzen seines Seins in der Welt zu überschreiten. Aufgrund dieser seiner Vernunft hat er die Idee der Ganzheit und Unbedingtheit des je eigenen Seins und des Seins seiner Neben- und Mitmenschen. In dieser Vernunft entspringt die Idee des Menschen als Selbstzweck, als desjenigen Wesens, das Würde besitzt und dessen Selbstachtung Achtung geschuldet wird. Es ist diese Menschenvernunft, die in die verschiedenen von Klaus 9

K. Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen (1935). Bremen (Strom) 2 1947.

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Gahl aufgeführten anthropologischen Bestimmungen hineinwirkt und diese durch ihre verschiedenen Funktionen durchbuchstabiert. Die Zeitlichkeit ist ebenso wie die Leiblichkeit von der instrumentellen Vernunft in den Dienst genommen. Dank seiner Vernunft nimmt der Mensch sich seine Zeit für seine theoretischen und praktischen Unternehmungen. Er berechnet die Zeit im voraus und im nachhinein. Dank dieser instrumentellen Vernunft hat er den eigenen Körper im Griff, um ihm die geforderten Leistungen abzuverlangen. Dank der instrumentellen Vernunft ist das menschliche Selbstsein in seinem Selbstsein nicht nur ein spontan wirkendes System der selbstreferentiellen Rückkopplung, sondern ein Zusammenhang, innerhalb dessen alle Relationen und Funktionen in den Dienst der Effizienz gestellt sind. Zeit, Leiblichkeit und Selbstsein sind aber auch ganz in den Dienst der Funktion der kommunikativen Vernunft eingebunden. Sie sind Medien der Kommunikation, aber auch Themen der Verständigungen. Dank der kommunikativen Vernunft ist das eine menschliche Selbstsein offen für die Möglichkeiten des Andersseins des anderen Selbstseins, dem es sich gegenüber findet. Und schließlich die spekulative, die metaphysische Vernunft: Aufgrund ihrer Funktion vermag der Mensch immer wieder über die Grenze hinauszublicken, die seiner Lebenszeit gesetzt ist. Deswegen findet er sich niemals nur ununterbrochen und ständig in harmonischer Einheit mit seinem Leib. Dank seiner spekulativen Vernunft versteht er sich als ein ganzheitliches psychosomatisches Wesen, um die seiner Ganzheit und Unbedingtheit gesetzten Grenzen zu transzendieren. Vernunft und Leiblichkeit des Menschen bilden keineswegs selbstverständlich ein harmonisches Ganzes. Wenn es gut geht, arbeiten die beiden Seiten einander zu, auch noch im Verlaufe dieser und jener Krankheit. Aber in lebensbedrohenden Situationen suchen beide Instanzen oft genug ihre eigenen Wege – Wege, die sich dem Wirken der kommunikativen Vernunft verweigern. Weizsäckers Bestimmung der pathischen Existenz des Menschen nimmt ihren Ausgang von den Bestimmungen der Leiblichkeit und der Zeitlichkeit, von der elementaren Gegebenheit von Wahrnehmung und Bewegung und deren Komplementaritätsverhältnis. In diesem komplementären Gefüge ist die menschliche Vernunft präfiguriert. Dies ist eine andere Formulierung für die Forderung der methodischen Einführung des Subjekts in die Medizin und in die Medizinische Anthropologie. Der Leib verhält sich im Gefüge seiner Organe und sonstigen Systemteile wie ein Subjekt. 328 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Menschenwürde in Grenzsituationen

Die Funktionen des organismischen Geschehens greifen wechselweise ineinander, aber nicht wie die Teile einer leblosen Materie, sondern analog zu den verschiedenen Funktionen eines mit Vernunft begabten menschlichen Bewusstseins. Die Menschenvernunft ist ebensowenig als solche wie als Vernunft des Leibes eine störungsfreie Maschinerie. Soweit sie in ihren verschiedenen Funktionen der Instrumentalisierung des Geschehens, der Kommunikation, der Ganzheits- und Grenzbildung und der Transzendierung zur Koordination dieser Funktionen gezwungen ist, kommen die vielfältigsten Störungen ins Spiel. Die Vernunft ist keineswegs nur der Ursprung des Guten, auch wenn wir in ihr den Ursprungsort der Menschenwürde und der Achtung vor dieser Würde gefunden haben. Die Vernunft ist auch der Ursprung des Bösen, des radikal Bösen im kantischen Sinne 10 und des unbedingt Bösen im Sinne des späten Jaspers11 nach 1945. Das Körpergeschehen des Menschen ist bestimmt als Geschehen im Licht der Subjektivität. Die Sprache des menschlichen Leibes ist die vorweggenommene Sprache des menschlichen Bewusstseins. Es kommt dabei nicht darauf an, auf welcher Organebene diese Sprache ihren Ausgang nimmt. Jedenfalls ist diese Sprache nicht nur Ausdruck einer durchgängigen Notwendigkeit. Sie ist auch die Sprache von gestörten und miteinander unverträglichen Funktionen, auch die Sprache gestörter, nicht mehr vollziehbarer Leistungen, die auf die Unterstützung durch andere, besser funktionierende Organfunktionen rechnen. Unter diesem Gesichtspunkt hat Weizsäcker das »pathische Pentagramm« eingeführt, dessen Begriffssprache nach dem Vorbild der Sprache des menschlichen Bewusstseins gebildet ist: Du kannst, du musst, du sollst, du darfst, du willst und ich kann nicht, ich muss nicht, ich soll nicht, ich darf nicht, ich will nicht. 12 Der menschliche Leib spricht in diesen Zuständen der Gesundheit und der Krankheit eine hochdifferenzierte, vielschichtige Sprache. Die menschliche Körpersprache ist nur teilweise von Bewusstsein begleitet. Sie wird dementsprechend auch nur teilweise vom Bewusstsein des anderen Menschen wahrgenommen. Die körperliche Aus10 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Gesammelte Schriften (AA). Bd. VI, S. 1–202. Berlin (de Gruyter) 1907. 11 K. Jaspers, Das Unbedingte des Guten und das Böse (1946). In: Saner, H. (Hrsg.), Karl Jaspers. Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie. München: Piper 1996, S. 86–98. 12 V. v. Weizsäcker, Pathosophie, a. a. O., S. 60 ff.

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drucksweise spielt aber auf der Ebene des Vorbewussten – auch und insbesondere in der menschlichen Kommunikation – eine sehr wichtige Rolle. Folgt man Weizsäckers methodischer Maxime der Einführung des Subjekts in die Medizin und in die Wissenschaften vom Lebendigen, so reicht diese Körpersprache bis in das rein organismische Geschehen hinein. Diese Sprache wird nur von dem in der Medizin Kundigen, in gewissem Umfang nur von den Spezialisten verstanden. Sie stellt keine wohlgesetzte Rede dar, sondern bildet ein Stimmengewirr, welches entziffert und gedeutet werden muss. In diesem Stimmengewirr bringen sich Störungen von Funktionen und von Funktionszusammenhängen, nachbessernde und versagende Körperleistungen zum Ausdruck. In seinem zu Recht berühmten Aufsatz über den Schmerz hat Weizsäcker darauf aufmerksam gemacht, dass Schmerzen sich nicht nur hinsichtlich der Stärke und der Dauer, sondern dem zuvor qualitativ unterscheiden, je nach Sitz im Körper und nach körperlicher Ursache. 13 Dementsprechend sind die Schmerzen hinsichtlich ihrer Unangenehmheit auch qualitativ gefärbt. Das Analoge lässt sich von der Angst sagen. Diese Befindlichkeit ist nicht so sehr hinsichtlich ihrer Differenz zur Furcht existentiell abzugrenzen, sondern zuvor von der Körperangst hinsichtlich Ort und Ursache qualitativ zu unterscheiden. 14 Angst ist nicht primär eine Sache der Moral, sondern der körperlichen Befindlichkeit. Sie kann der Insuffizienz des Herzens, aber auch der Atmungsorgane entstammen. Die Todesangst und die geistige Auseinandersetzung mit dieser können sich nicht ohne weiteres frei machen von jenen elementaren Körperängsten. Ähnlich tiefgreifend und dem Körpergeschehen des Subjekts entspringend sind Gefühle der Scham angesichts gewisser medizinischer Diagnosen und Therapien. Ängste und Schmerzen verbinden sich mit Gefühlen der Entwürdigung, welche den elementaren Lebenswillen beeinträchtigen und zum Erliegen bringen können. Es hat nichts mit Irrationalismus zu tun, wenn man einen Lebenswillen annimmt, der diesseits der Bewusstseinsschwelle bleibt und jenseits deren allererst die Frage des »informV. v. Weizsäcker, Die Schmerzen (1926). In: P. Achilles, D. Janz, M. Schrenk, und C. F. v. Weizsäcker, (Hrsg.): Viktor von Weizsäcker. Gesammelte Schriften (GS). Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1987, Bd. 5, S. 27–47. 14 Vgl. diese Abgrenzung bei M. Heidegger, Sein und Zeit (1927). Tübingen (Niemeyer) 16 1986, S. 140 ff., 184 ff. 13

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Menschenwürde in Grenzsituationen

ed consent« beginnt, die in der zeitgenössischen Ethik der Medizin eine so dominierende Rolle spielt. 15 Ich möchte hier nicht auf Weizsäckers Schlüsselbegriff des Gestaltkreises eingehen, dem der Begriff eines Funktionskreises entspricht. 16 Funktionen stehen im Zusammenhang, bedingen einander. Dementsprechend haben Funktionsstörungen Folgen für andere Funktionen und für funktionale Zusammenhänge. Hier geht es um die untrennbare Zusammengehörigkeit zwischen Ängsten, Schmerzen, Unwerterfahrungen und Erschöpfungen des Lebenswillens. Diese Zusammenhänge berühren die ärztliche Kunst und die medizinische Ethik gleichermaßen. Im Bereich der Medizin sind Kunst und Ethik nicht zu trennen. Ein wesentliches Moment ist in dieser untrennbaren Zusammengehörigkeit die Gewissenhaftigkeit in der praktischen Ausübung der medizinischen Kunst. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet hinsichtlich der Grundrechte (Art. 1–19 GG) zwischen Abwehrrechten, Leistungsrechten und Gleichheitsrechten. 17 Diesem Unterschied entspricht in der Sphäre der Moral und der Metaphysik der Achtung der Menschenwürde die Unterscheidung zwischen einer bloß negativen und einer positiven Art und Weise, die Würde des Anderen zu achten. Es macht einen Unterschied, ob ich darauf achte, den Anderen nicht zu kränken oder aber ihm mit Freundlichkeit zu begegnen. Hermann Cohen, der bedeutendste Denker in der Tradition des Neukantianismus, von dem schon die Rede war, hat in seiner Ethik des reinen Willens gesagt: Achtung sei zu wenig. 18 Es gehe darum, dem anderen Menschen, dem Nebenmenschen und Mitmenschen, Ehre zu erweisen, d. h. ihm zu zeigen, dass in ihm das Besondere, Einzigartige des menschlichen Gegenübers gesehen und anerkannt werde. Die Kranken, insbesondere die Sterbenskranken, die dem Arzt begegnen, sind in ihrer Selbstachtung zutiefst beeinträchtigt: durch ihre Ängste, ihre 15 M. Linzbach, Informed Consent. Die Aufklärungspflicht des Arztes im amerikanischen und im deutschen Recht. Frankfurt/M. (Lang) 1980. 16 V. v. Weizsäcker, Funktionswandel und Gestaltkreis (1950). GS 3, S. 619–631. Vgl. hierzu meine Ausführungen in meinem Aufsatz: Form und Gestalt im ,Gestaltkreis’. Zur philosophischen Begriffssprache in Viktor von Weizsäckers Medizinischer Anthropologie. In: R. M. E. Jacobi und D. Janz (Hrsg.), Zur Aktualität Viktor von Weizsäckers. Beiträge zur Medizinischen Anthropologie. (2 Bde.) Würzburg (Königshausen & Neumann) 2003, Bd. l, S. 167–194. 17 H. D. Jarass und B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar. München (C.H. Beck) 5 2000, S. 18. 18 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, a. a. O., S. 491.

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III. Ethik

Schmerzen, durch die Vielfalt dessen, was sie einmal konnten und nun nicht mehr können, durch die Beschämung angesichts ihrer Hilflosigkeit, die von ihrem ganzen Sein Besitz ergreift. Diese Beschädigung der Selbstachtung hat nichts zu tun mit einer Beeinträchtigung der Menschenwürde. Diese wird nur in dem Maße verletzt, in dem ich selbst meinerseits die Würde des Anderen verletze. Der Arzt tritt dem Kranken als Nothelfer gegenüber. Seine Hilfe erstreckt sich auch und im besonderen Maße auf den gesamten Bereich der Beeinträchtigung und der Selbstachtung des Kranken. Damit ist nicht gemeint, dass der Arzt Psychotherapeut sein muss, aber dass sein Handeln in der gewissenhaften Anwendung seiner Kunst gerade auch den Bereich im Blick haben muss, in welchem die Leiblichkeit des Menschen direkt die Sphäre der praktischen Vernunft berührt. Ein abschließendes Wort zum Problem der Ehrlichkeit, der Wahrhaftigkeit des Arztes gegenüber dem Kranken. Wahrhaftigkeit ist zweifellos mit dem Grundrecht der Achtung der Menschenwürde verbunden. Der »informed consent« setzt gewissenhafte, wahrhaftige Aufklärung voraus. Ich bin – hier in diesen Räumen des Internationalen Wissenschaftsforums Heidelberg (IWH) – Zeuge einer großen Auseinandersetzung zwischen einem bedeutenden Philosophen und einem bedeutenden Mediziner und Arzt gewesen: zwischen Hans Jonas und dem Internisten Rudolf Gross. Es ging um die Pflicht der Wahrhaftigkeit. Der Philosoph – von Kants Philosophie beeinflusst – ließ nur die uneingeschränkte Wahrhaftigkeit gegenüber dem Kranken gelten. Der Arzt und Mediziner entgegnete mit Leidenschaft, er lasse sich für seine Patienten das »Prinzip Hoffnung« nicht rauben. Ich war damals und bin noch heute auf der Seite von Rudolf Gross. Die Dinge haben sich inzwischen zu Ungunsten des »Prinzips Hoffnung« verschlechtert. Denn es steht nicht mehr nur die gewissenhafte Wahrhaftigkeit gegen die Ermutigung. Vielmehr ist die erstere unter den Zwang der Krankenkassen und des allgemeinen Versicherungswesens geraten, welche eine vollständige Aufklärung des Patienten über alle erdenklichen Risiken der Behandlung verlangt, um spätere Regressforderungen auszuschließen. Es geht mir hier nicht um den Sachverhalt der unnötigen Vermehrung von Ängsten allein. Ich weiß wohl, dass viele eine solche Aufklärung schätzen. Die meisten Schwerkranken ahnen im Grunde in ihrem Lebensgefühl, wie es um sie steht. Es geht hier vor allem auch um die Suspendierung des persönlichen wechselseitigen Vertrauens in einem Großbetrieb; und es geht auch um die Beschädi332 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Menschenwürde in Grenzsituationen

gung der gewissenhaften Sorgfalt in der Mitteilung der Wahrscheinlichkeiten und der Wahrheit. Diese Sorgfalt muss Bestandteil der ärztlichen Kunst bleiben. Zweifellos gehört die Aufklärung des Kranken, wenn sie mit einer solchen Sorgfalt und nicht durch Überreichung von Merkblättern zur Unterschrift geschieht, zu den zusätzlichen Berufsbelastungen des Arztes. Aber in einem wohl bestellten Krankenhaus lässt sich diese Belastung verkraften. Das Pflegepersonal kann seinerseits dazu beitragen, dass die Kranken nicht schon vorzeitig verzweifeln. Es gibt erschreckende Vorfälle der Gleichgültigkeit in Krankenhäusern, aber auch Erfahrungen hoher moralischer Verantwortlichkeit. Der Mensch ist Mensch im uneingeschränkten Sinne, was die Achtung seiner Menschenwürde gebietet auch dann, wenn er selbst in seiner Selbstachtung bedroht ist. Er vermag die positiven Seiten des Lebens zu erleben, er vermag sogar glücklich zu sein, auch dann noch, wenn die Irreversibilität des Krankheitsverlaufs begonnen hat. In dieser Lebenszeit ist der Erweis der Menschenwürde im positiven Sinne besonders geboten. Das Gebot der Achtung der Menschenwürde umgreift diese Zeit und die Stunde des Todes.

1.

Nachtrag Menschenwürde und Sterblichkeit

Die Menschenwürde ist mehr als nur ein Rechtsbegriff oder eine rechtspolitische Bestimmung. Sie stellt unter den Grundrechten noch einmal ein herausragendes Grundrecht dar. Diese grundlegende Stellung unter den Grundrechten enthält zum einen eine Grundfunktion im Blick auf alle Rechtsbestimmungen, zum anderen eine Verpflichtung für den Gesetzgeber eines demokratischen Rechtsstaates, in allen seinen Gesetzgebungen diesem Grundwert Rechnung zu tragen, der zugleich eine Grundnorm darstellt. Die Menschenwürde ist mehr als nur ein Rechtsbegriff oder eine rechtspolitische Bestimmung aber noch in einem anderen Sinne. Ich klammere dabei bewusst die Frage aus, wieweit es bei diesem MehrSein um eine religiöse Bestimmung geht. Auf alle Fälle kommen in diesem Mehr-Sein die Bestimmung des Menschen als Menschen und in dieser Bestimmung gelegene moralische Veranlagung zum Ausdruck. In ihrer anthropologischen und moralischen Bedeutung ist die Menschenwürde in der Welt der menschlichen Erfahrung anzusiedeln. 333 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

Menschenwürde ist nicht nur ein Ideal rechtlich-sittlicher Verpflichtung, sondern auch ein Zug der Erfahrbarkeit und der Erfahrung. Die Menschenwürde ist in ihrer anthropologisch-moralischen Bestimmung eine zutiefst gefährdete Bestimmung des Menschen. Gefährdet ist ihre ständige Verwirklichung ebenso wie ihre ständige Erkennbarkeit. Diese ständige Gefährdung ist eine Folge der Korrelation zwischen ihr und dem ebenso grundlegenden Grundrecht des Menschen auf Leben und auf Unversehrtheit dieses Lebens. In keinem der Grundrechte ist der Mensch wie in diesem so sehr er selbst. In keinem wie in diesen ist die Möglichkeit seines Selbstseins so sehr realisierbar. Die Gefährdung des Menschen in seiner Menschenwürde ist insofern gleichbedeutend mit der Gefährdung des Selbstseins in seiner Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Gefährdung der Menschenwürde entspringt daraus, dass diese Würde kein Sein ist. Sie lässt sich am besten durch Viktor von Weizsäckers pathisches Pentagramm umschreiben: In ihr liegt ein Sollen, Können, Müssen, Wollen und Dürfen und schließt zugleich die Negationen dieser fünf pathischen Bestimmungen ein. In der Erfahrung zeigt sich die Gefährdung der Menschenwürde in den unterschiedlichen Vorstellungen ihres Wertgehaltes, in der Schwäche des Menschen, ihr gerecht zu werden, und in der menschlichen Aggressivität und Gewalttätigkeit, der es nicht genügt, die physische Existenz des Mitmenschen zu bedrohen und zu beeinträchtigen. Die wichtigste Bedrohung der Menschenwürde entspringt aus Angst und Gewalttätigkeit. Die Gefährdung der Menschenwürde im Sterben. Diese Gefährdung ist von besonderer Art. Sie unterscheidet sich von der Gefährdung der Menschenwürde im Ungeborenen grundsätzlich. Die physische und die moralische Bedrohung der Existenz des einzelnen Individuums ist eine ganz andere. Das Verhältnis des Menschen in seinem unverwechselbaren Selbstsein hinsichtlich seiner Geburt lässt sich nicht mit seinem entsprechenden Verhältnis zu seinem Sterben vergleichen. Diese Unvergleichbarkeit gehört zum Kern der anthropologischen Bestimmung des Menschen. Der Vorgang des Sterbens stellt für den Menschen die äußerste Herausforderung dar. In diesem Vorgang sind Lebenskampf und hilfloses Ausgeliefertsein zum äußersten Extrem gesteigert. In den meisten Fällen ist der Vorgang des Sterbens ein Geschehen außerordentlichen Leidens, oft unerhörter Qual bestehend aus Ängsten, Schmerzen 334 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Menschenwürde in Grenzsituationen

und Beeinträchtigungen aller Lebensfunktionen, die sich im innersten Lebensgefühl niederschlagen. Die Würde des Menschen als Bestimmung seines unverwechselbaren Selbstseins ist durchtränkt von diesem Leiden. Sie ist kein abgehobener Wert. Im Leiden des Sterbens bleibt sie erfahrbar, auch wenn sie sich oft genug der Erkenntnis entzieht. Die Würde des Menschen ist ein dialogisches Prinzip. Dieses enthält die Beziehung des Menschen zu sich und zum Mitmenschen. Als ein dialogisches Prinzip ist die Würde des Menschen in unzähligen Phänomenen erfahrbar. Manchmal ist sie nur in kaum merkbaren Spuren sichtbar, verzerrt durch Angst und Schmerz. Das dialogische Prinzip fordert, die Würde des Menschen auch da noch zu ahnen und zu achten, wo sie sich der Sichtbarkeit entzieht. Das dialogische Prinzip der Menschenwürde ist in der Erfahrung so unterschiedlich wie die Erfahrung der Menschenwürde selbst. Der Arzt steht in der Regel dem Sterbenden anders gegenüber als die nächststehenden Angehörigen. Seine Hilfsmöglichkeiten sind andere. Die nächsten Angehörigen denken angesichts des Leidens des Sterbenden nicht so sehr an seine Würde und die eigene Würde. Sie sind ganz in dem Gefühl für den Sterbenden, in den Erinnerungen gemeinsamen Lebens, in der Verzweiflung der eigenen Hilflosigkeit befangen. Für den Arzt und verantwortliches Pflegepersonal hat die Würde des Sterbenden eine ganz andere Bedeutung als für die liebenden Angehörigen. In der Würde des Menschen und im Sterben liegen Geheimnisse des Menschen eng beisammen. In ihnen offenbart sich die absolute Grenze unseres Wissens und Könnens.

2.

Nachtrag

Meine Betrachtungen zu den Überlegungen von Klaus Gahl möchte ich mit der Betonung einer Grundübereinstimmung beginnen: Sie betrifft die gegenwärtige Tendenz in den medizinethischen Diskussionen zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und zur Instrumentalisierung der Ethik, die der unverwechselbaren Individualität des Menschen ebenso wenig gerecht werden wie der jeweiligen Situation, in der sich der Kranke bzw. der Moribunde befinden. Soweit in dieser Diskussion die Bestimmung der Menschenwürde leitend ist, ist eine Erweiterung bzw. 335 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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eine Vertiefung des Verständnisses derselben über die rechtlich-instrumentelle Bedeutung hinaus unverzichtbar. Dies wird im übrigen auch von dem maßgeblichen Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde gefordert, für den der erste Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mehr ist als nur der erste in der Reihe der Artikel der Grundrechte des Menschen. 19 Ich komme von hier zu einer Kritik an Klaus Gahls berechtigter Vertiefung der Überlegungen zur Menschenwürde in der medizinischen Ethik. Ich beginne mit einer Kritik an dem von Klaus Gahl in Anspruch genommenen Weizsäckerschen Prinzip der Gegenseitigkeit. Im Umgang mit Weizsäckerschen Überlegungen und Begriffen kann man mit deren Anwendung nicht vorsichtig genug sein. Eine Dogmatisierung dieser Begriffe ist in ihren Konsequenzen mehr als problematisch. Dies gilt meines Erachtens im besonderen Maße für den Begriff und die Bestimmung der Gegenseitigkeit. Für eine Bestimmung also, die sich nicht auf direkte persönliche Beziehungen der Freundschaft resp. der Feindschaft reduzieren lässt. Anders als im Rechtsverhältnis kommen aber hier die individuellen Besonderheiten der Personen ins Spiel, die sich in einer solchen gegenseitigen Partnerschaft befinden. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist kein personales Verhältnis: weder im Sinne einer Beziehung von Freunden oder Feinden noch überhaupt im Sinne einer Eins-zu-eins-Beziehung: Ein Arzt hat viele, meistens zu viele Patienten, und heute hat ein Patient in der Regel nicht nur einen Arzt, und dies beides je komplexer und gefährlicher die vorliegende Erkrankung ist. Gegenseitigkeit wird missverstanden, wenn sie in der Weise der »Goldenen Regel« gedeutet wird. Diese aber ist, wie wir von Kant lernen können, kein ethisches Prinzip, sondern einem reduktionistischen Utilitarismus verhaftet. 20 Achtung vor der Menschenwürde ist zwar wechselseitig geschuldet, aber zu dieser Achtung gehört als wesentliches und unverzichtbares Moment die Selbstachtung, die ich mir selbst schulde, sofern ich nicht nur im Anderen, sondern vorrangig in mir selbst die Menschheit, das Mensch-Sein, zu achten verpflichtet bin. Die von Viktor von Weizsäcker propagierte Gegenseitigkeit im Vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, hier bes. S. 379 ff. 20 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), a. a. O., (AA). Bd. IV, S. 429 f. 19

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Verhältnis von Arzt und Patient erfüllt sich am ehesten in der traditionellen Form des klassischen Hausarztes, der zugleich ein Freund der ganzen Familie und mit den Familienverhältnissen des Patienten gut vertraut ist. Aus heutiger Sicht ist dieses gleichsam als ideale Institution zu betrachtende Arzt-Patient-Verhältnis nur noch in Ausnahmefällen Realität. Stattdessen hat der heutige Patient, nicht zuletzt im Krankenhaus, mit unterschiedlichen Bezugspersonen zu tun, die alle für die Bewältigung seiner Krankheit mehr oder weniger wichtig sind. Dabei wird er selbst in der Auswahl der ihm wichtigsten Bezugspersonen aktiv sein und sich dabei von Sympathie, Vertrauen und von dem Grad der erfahrenen Zuwendung leiten lassen. Dies gilt insbesondere, je schwerer und lebensgefährlicher die Erkrankung ist.

Anthropologische Grundbestimmungen und die Würde des Menschen Hier behaupte ich im Gegensatz zu Klaus Gahls These: Die Würde des Menschen kann nicht aus bestimmten anthropologischen Grundbestimmungen oder -konstanten wie zum Beispiel aus der menschlichen Zeitlichkeit, Körperlichkeit oder Subjektivität abgeleitet werden. Eine solche Ableitung ist unmöglich: einmal, weil die Würde des Menschen einen sehr viel wichtigeren Grundwert darstellt im Vergleich zu formalen Werten wie Ableitung oder Begründung; zum anderen, weil sie unter den verschiedenen Bestimmungen des Menschen einen herausragenden Rang einnimmt. Möglich ist insofern nur dies: aufzuweisen, wie dieses oder jenes Menschenbild; etwa das christliche, oder auch dieser oder jener Zusammenhang von anthropologischen Grundbestimmungen immer auch die Grundbestimmung der menschlichen Würde einschließt. Wichtig ist dabei nun wieder, dass die Achtung der Würde des Menschen über die bloße Gegenseitigkeit hinaus die Forderung der Selbstachtung einschließt, sofern ich in mir die Achtung vor dem Menschen in mir von mir zu fordern habe. Es gilt nicht nur, dass ich die Würde des Anderen so achten muss, wie ich dessen Achtung meiner Würde einfordern darf, sondern die Selbstachtung gebietet, die Würde des Anderen zu achten, wie immer es mit seiner Achtung meiner Menschenwürde bestellt sein mag. Wenn schon die Würde des Menschen nicht aus anderen anthropologischen Bestimmungen abgeleitet oder begründet werden kann, so 337 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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muss doch dies – von der Philosophie oder von einer anderen Erkenntnisinstanz – gezeigt werden können: die Achtung der Menschenwürde, der eigenen und der der Anderen, auch unter den spezifischen anthropologischen Grundbestimmungen aufzuweisen, die die Forderung der Achtung des Anderen erschweren oder geradezu unmöglich zu machen scheinen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die von Klaus Gahl aufgeführten anthropologischen Grundzüge des menschlichen Wesens zu betrachten: also nicht als Gründe einer Begründung menschlicher Würde, sondern als die Bereiche menschlicher Existenz, in denen sich die Pflicht zur Achtung der Würde des Menschen sich muss bewähren können. Zeitlichkeit, Körperlichkeit und Subjektivität des Menschen sind dementsprechend in ihrer untrennbaren Zusammengehörigkeit zu sehen als Bereiche, in denen es auf diese Bewährung ankommt. Die Zeitlichkeit des Menschen: Wesentlich für die Zeitlichkeit des Menschen ist nicht nur seine zeitliche Existenz, sein Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sein Dasein in Erinnerung und Vergegenwärtigung, in Erwartung und Vorausschau. Diese Zeit seiner Existenz ist für ihn immer eine Welt, eine Welt, in der er existiert, also nicht nur die Zeit seiner physisch-leiblichen Existenz, nicht nur die Zeit des Älter- und Erwachsenwerdens und Alterns. Schon die leibliche Zeit des Menschen ist keine rein biologische Zeit. Denn zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz gehört, dass der Mensch nicht nur in der Zeit existiert, sondern dass er sich zu seiner Zeit in der Welt auf die eine oder andere Weise verhält. Die Zeit vergeht ihm langsam oder schnell, zu langsam, zu einförmig, zu schnell, oder er lebt in einer momentanen Selbst- und Zeitvergessenheit, einem scheinbar ewigen Augenblick. Wesentlich für das menschliche Zeitverhältnis ist aber vor allem, dass der Mensch nicht nur in einer Welt lebt. Er existiert in verschiedenen Welten, die ich hinsichtlich ihrer Zeit seine »Zeitwelten« nenne. 21 Diese verschiedenen Zeitwelten mögen in die allumfassende Zeit eingebettet sein, welche alle Menschen und am Ende alles Geschehen im Kosmos verbindet. In seinem lebendigen Weltverhalten bewegt sich der Mensch aber wie selbstverständlich in diesen verschiedenen Zeitwelten. Wo sich ihm in seinem Verhalten die eigene Körperlichkeit

Vgl. R. Wiehl, Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 7–28.

21

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in Lust und Schmerz besonders bemerkbar macht, drängt sich die Zeitwelt seines Leibes gegenüber anderen Zeitwelten in den Vordergrund. Wir bemerken unser Dasein in verschiedenen Zeitwelten zum Beispiel, wenn in die Wahrnehmung eines Musikstückes der Lärm der Straße hineinreicht oder das Läuten naher Kirchenglocken eine andere Zeitwelt aufhorchen lässt. Wenn wir wahrnehmen, imaginieren, denken, so sind dies nicht Vorgänge des Erlebens, die einfach wie Perlen auf einer Schnur nacheinander angeordnet sind. Wenn wir im Krankenhaus mit der Visite des Chefarztes oder mit der Pflege durch einen Pfleger in unserer aktuellen Aufmerksamkeit beschäftigt sind, ist unser Wissen um unser eigentliches Zuhause nicht verschwunden. Vielmehr leben wir bewusst in der einen und in der anderen Zeitwelt zugleich, wie stark auch immer die eine Welt sich gegenüber der anderen in den Vordergrund drängt. Es ist nicht so, dass aufgrund einer solchen massiven Vordergründigkeit eine Gegenwart alle anderen Gegenwarten in die momentane Vergangenheit zurückdrängt. Vielmehr ist unser vergegenwärtigtes Verhalten bestimmt durch sein Zugleich-Sein in verschiedenen Zeitwelten. Dies Zugleich-Sein wird auf mannigfache Weise erfahren und wirkt als ein solches in unser Erleben unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinein. Die Körperlichkeit des Menschen: Die Körperlichkeit des Menschen ist die eines lebendigen animalischen Leibes. Zu dessen formaler Charakteristik gehören eine außerordentlich differenzierte Komplexität, eine entsprechend differenzierte Koordinierungs- und Zentralisierungsleistung und ein entsprechend komplexes Verhältnis zu sich. Das menschliche Verhältnis zu sich ist dieser Komplexität und Differenziertheit entsprechend von hoher Labilität und steht deswegen immer unter der Bedingung eines Bedürfnisses nach Stabilisierung eben dieser Labilität. Die Grundthese Viktor von Weizsäckers, welche die Einführung des Subjekts in die medizinische Anthropologie fordert, bedeutet so gesehen auch, dass der menschliche Leib und das psychosomatische Verhalten des Menschen im Ganzen einer belebten animalischen Natur verstanden werden muss. Das Selbstverhältnis des Menschen im Verhältnis zu seinem Leib findet unendlich vielfältigen Ausdruck, indem die »Vernunft des Leibes« 22 sich wenn nötig in diesem Selbstverhältnis Ausdruck verschafft, um ein entsprechendes Verhältnis des Menschen 22 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. KSA 4, S. 39 ff.: Von den Verächtern des Leibes.

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zu ihm, dem Leib, zu provozieren. 23 In Lust und Schmerz, in Frische und Erschöpfung finden sich solche unendlich vielfältigen Ausdrucksformen der psychosomatischen Korrespondenzen. Zu den wichtigsten Ausdrucksformen dieser Korrespondenz gehören in den Fällen der Krankheit und der echten Lebensgefährdung Scham und Angst. Die körperliche Nacktheit, die mangelnde bzw. verloren gegangene Befähigung zur körperlichen Selbstkontrolle und zur freien Verfügungsmacht über die eigene selbsttätige Bewegung wie auch die Körperausscheidungen sind Anlässe zur Scham. Die Angst ist zumindest ebenso elementar in körperlichen Vorgängen verwurzelt. Es gibt aufgrund des Selbstverhältnisses des Menschen zu seinem Leib eine Angst vor der Angst und eine Scham vor dieser reflexiven Angst. Das menschliche Selbstsein ist nicht nur bestimmt als ein Verhältnis zu sich, sondern in diesem Selbstverhältnis als ein Verhalten zu seinem Verhalten. 24 Ein solches Verhalten zum eigenen Verhalten zeigt sich im Verhalten zur Angst, zur Freude, zum Schmerz, im Verhalten zur Scham und zur Schuld. Die Subjektivität des Menschen: Die ausgezeichnete Subjektivität des Menschen, die sich von der animalischen Subjektivität durch eine spezifische Labilität auszeichnet, ist zugleich ein Verhalten zu diesem Selbstverhältnis. In diesem Verhalten zu einem Verhalten kommt die Komplexität und Differenziertheit des letzteren zum Ausdruck. Dieses reflexive und reflektierende Verhalten, dessen Reflexion die Reflexion eines Verhaltens ist, ist kein Kausalverhältnis so wenig wie das Selbstverhältnis, auf das es sich bezieht. Vielmehr handelt es sich um einen Geschehenszusammenhang, innerhalb dessen sich kausale Beziehungen und bestimmte Beziehungen zu einem Kausalverhältnis allererst ausbilden. Subjektivität ist aber über diese Selbstverhältnisse hinaus durch ein weiteres Grundverhältnis und durch ein Verhalten zu diesem Verhältnis bestimmt. Diese Verhältnisse lassen sich nicht auf das erstgenannte Selbstverhältnis und auf dessen reflexives Verhalten reduzieren. Insofern ist Subjektivität durchzogen von wesentlichen Unterscheidungen, die ihr Verhalten bestimmen. Diese Unterscheidungen haben nicht den Status von Relationen, sondern von Geschehnissen, Vgl. hierzu H. Schipperges, Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes. Stuttgart (Klett-Cotta) 1981, bes. S. 339 ff. 24 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849). Übersetzt von Emanuel Hirsch. Düsseldorf (Eugen Diederichs) 1954, S. 8 f. 23

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die auf mannigfache Weise ineinander greifen. Das Arsenal psychologischer Bestimmungen menschlichen Verhaltens wie Emotionalität und Sensibilität, Perzeptivität und Imagination, Denken und Intuition: Sie alle sind funktionale Umschreibungen des komplexen Geschehenszusammenhanges, den Subjektivität darstellt. Wenn wir zwischen Unbewustem und Vorbewusstem, zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein unterscheiden, so betreffen diese Unterschiede lediglich bestimmte, besonders charakteristische Erscheinungsweisen der Subjektivität in ihrem Verhalten zu sich und zu anderen und in ihrem Verhalten zu diesen Verhaltensweisen. Unter den Verhaltensweisen der Subjektivität spielt im Falle der menschlichen Subjektivität ein Verhalten eine besondere Rolle. Ich bezeichne dieses Verhalten mit dem aus der klassischen neuzeitlichen Philosophie übernommenen Terminus der Transzendenz als Transzendenzverhalten. Menschliche Subjektivität ist bildlich gesprochen Brücke und Treppe. Die verschiedenen Verhaltensweisen und Verhaltensweisen zu Verhaltensweisen sind nicht in sich geschlossene Regelkreise, keine reinen »Gestaltkreise« (Weizsäcker). 25 Zeitlichkeit und Körperlichkeit sind wie die Subjektivität selbst nicht nur Seinsweisen des Menschen, sondern menschliche Verhaltensweisen zu diesen Seinsund Verhaltensweisen. Aber zugleich ist die menschliche Subjektivität in ihrem Verhalten immer auch Transzendierung dieser Verhältnisse. Sie transzendiert ihre je eigene Zeitwelt, wie sie die je eigene Körperlichkeit und die je eigene unverwechselbare Subjektivität transzendiert. Und sie transzendiert auch das Sein des Anderen, sie transzendiert dessen Zeitlichkeit, dessen Körperlichkeit und Subjektivität. Für die hier thematische Frage nach der Menschenwürde und nach dem Grund der Verpflichtung, diese zu achten, spielt dieses Transzendenzverhalten eine wichtige Rolle. Es entspricht einem tiefen Bedürfnis des Menschen, welches durch dessen gewöhnliche Bedürfnisbefriedigung nicht hinreichend befriedigt werden kann: nicht durch die Befriedigung der Bedürfnisse seiner Zeit, seiner Körperlichkeit, nicht durch die Befriedigung seiner Subjektivität in ihrem Verhalten zu sich und zu anderem und in ihrem Verhalten zu diesen Verhaltensweisen. Dieses ungewöhnliche Transzendenzverhalten ist aber wie die verschiedenen ineinander greifenden Verhaltensweisen des Menschen auf die eine 25 Vgl. hierzu meine in Anm. 16 genannte Arbeit zu V. v. Weizsäckers GestaltkreisKonzept.

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und andere Weise eingemischt, manchmal überhaupt nicht direkt nachweisbar, manchmal überwältigend dominant. Die menschliche Kultur kennt zahllose Ausdrucksformen dieses Transzendenzverhaltens. Wir finden es im Bedürfnis nach Unsterblichkeit, nach einer höheren Existenz, im Bedürfnis nach Nähe zu einem Anderen, nach einem höheren Wesen. Die Würde des Menschen ist keine bestimmte menschliche Eigenschaft, keine biologische und auch keine anthropologische Eigenschaft im engeren und eigentlichen Sinne. Sie hängt mit dem genannten Transzendenzverhalten zusammen und gehört zu den Grundwerten, auf die sich dieses Verhalten direkt bezieht. In der Sprache der europäischen Philosophie umschreiben wir die hier auffallenden Grundwerte mit Ewigkeit, Geistigkeit und Göttlichkeit. In der Ewigkeit ist die Zeitlichkeit, in der Geistigkeit die Körperlichkeit, in der Göttlichkeit die Beschränktheit jeglichen Tuns und Treibens des Menschen transzendiert. Die Würde des Menschen entspringt aus seiner Teilhabe an diesen Werten, genauer: Sie gehört in dieses der Transzendenz entspringende Wertsystem: Das Ewige, das Geistige, das Göttliche – sie gehören mit der Würde des Menschen zusammen, wie immer jene Werte gedacht und vorgestellt werden. Das Transzendenzverhalten der menschlichen Subjektivität kann nicht als Abstraktion verstanden werden. Die Ewigkeit ist nicht Abstraktion von der Zeitlichkeit und die Welt des Ewigen nicht die Abstraktion von der Vielfalt der Zeitwelten. Die Geistigkeit ist nicht die Abstraktion von der Körperwelt, so wenig wie die Göttlichkeit Abstraktion von der endlichen Konstitution des Menschen ist. Das Transzendenzverhalten ist aber auch nicht Idealisierung der uns vertrauten Welt und auch nicht ein Schritt über die Brücke in eine andere Welt oder der Tritt über die oberste Schwelle der Treppe hinaus. Das Transzendenzverhalten ist vielmehr nur eine Verwandlung unserer gewöhnlichen Sichtweise. Spinoza hat von der Betrachtung der Dinge sub specie aeternitatis gesprochen. Dank dieser Betrachtung vermögen wir den Menschen in seiner Zeitlichkeit, in seiner Körperlichkeit, in seiner Subjektivität auch anders zu sehen. Wir sehen ihn anders, unabhängig von der jeweiligen konkreten Zeitlichkeit, der konkreten Körperlichkeit und Subjektivität und auch unabhängig von den entsprechenden Verhaltensweisen. Wir abstrahieren nicht von alledem, sondern wir sehen dies alles im Zeichen der menschlichen Würde: im Zeichen der Ewigkeit, der Geistigkeit und der Göttlichkeit. Die Würde des Menschen ist unverlierbar. Sie ist auch in gewisser Weise unzerstörbar. 342 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Aber diese Unverlierbarkeit, diese Unzerstörbarkeit – sie besagt nicht, dass Würde unangreifbar, nicht zutiefst verletzbar wäre. Entwürdigung, Missachtung der Menschenwürde sind von Anfang an in der Welt an der Tagesordnung. Dies macht die Erinnerung an die Pflicht der Achtung der Menschenwürde nicht aussichtslos. Im Gegenteil. Sie bleibt umso dringlicher auch dann, wenn es in vielen Fällen schwierig ist zu sagen, wo die Missachtung anfängt. Die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde verlangt, zu unterscheiden zwischen dem Verbot der Missachtung und der Verletzung dieser Würde und einem komplementären Gebot. Weil die Missachtung der Menschenwürde an der Tagesordnung ist und die Sanktionen solcher Rechtsverletzungen so schwer in der politischen Realität verwirklicht werden, vergessen wir leicht, dass die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde diesseits und jenseits des Verbots ihrer Missachtung ein Gebot darstellt. Hermann Cohen hat, um diese Differenz zu unterstreichen, davon gesprochen, dass es zu wenig sei, die Würde des Menschen zu achten, dass es vielmehr darüber hinaus darauf ankomme, dem Menschen die ihm zukommende Ehre zu erweisen. 26 Die elementarste Verletzung der Achtung der Menschenwürde ist die Ausübung von Gewalt – von Gewalt, die sich gegen den Mitmenschen in allen seinen menschlichen Wesenszügen richtet, gegen seine Zeitlichkeit, seine Körperlichkeit, seine Subjektivität und insbesondere gegen sein Verhalten zur Transzendenz. Wir handeln gegen unsere von uns zu fordernde Selbstachtung, wenn wir die Pflicht der Achtung der Menschenwürde verletzen. Die Erfüllung des Gebots der Achtung der Menschenwürde erweist sich als schwierig in Situationen, die wir – an Jaspers’ philosophischen Schlüsselbegriff anknüpfend – Grenzsituationen nennen. 27 Ein Mensch im Bewusstsein seiner Scham, seiner Schuld, im Gefühl der Angst, der Angst vor dem Sterben und der Todesangst – ein solcher Mensch befindet sich in einer Grenzsituation. Die Achtung der Menschenwürde als ein Gebot erweist sich in Grenzsituationen als besonders schwierig zu erfüllen. Hier gilt besonders, dass das Verhalten zur Transzendenz kein Verhalten der Abstraktion ist. Wir achten die Menschenwürde des Anderen, der sich in einer Grenzsituation befindet, nicht dadurch, dass wir von seiner KörperlichVgl. Anm. 18. K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen (1919). München (Piper) 1985, hier S. 229–285. 26 27

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keit, seiner Zeitlichkeit, seiner Subjektivität abstrahieren, sondern indem wir auf diese eingehen in der veränderten Sicht einer Verhaltensweise, zu der uns das Verhalten der Transzendenz befähigt. Es gibt viele Wege, der Erfüllung der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde so gerecht zu werden wie irgend möglich. Es sind dies Annäherungen an eine Aufgabe, die nie vollkommen gelingen können, wie ernst wir das Gebot auch immer nehmen. Es verlangt Sensibilität und Lebensklugheit, es verlangt ein Erlernen des behutsamen Umgangs mit dem Menschen, dessen Selbsthilfe in dramatischer Weise beschränkt, wenn nicht verloren ist. Die Hilfe zur Selbsthilfe, die hier verlangt ist – jenseits des Geltungsbereichs des Rechts – , verlangt dem Hilfswilligen das Äußerste an Bereitschaft ab, das Beste seines Wesens in diese Hilfe zur Selbsthilfe einzubringen.

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Moralische Verantwortung – privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluss Karl an Jaspers Essay über Die Schuldfrage

Reflexion und Moralität: Dies sind die beiden Grundprinzipien, auf die die Philosophie der Moderne ihre Theorien der menschlichen Subjektivität gegründet hat. Die Reflexion wurde dabei weitgehend als Prinzip der Innerlichkeit und Äußerlichkeit verstanden, als Prinzip, durch welches der Mensch hinsichtlich seiner selbst eine Innenwelt von einer Außenwelt unterscheidet, um sich zugleich als Einheit dieser beiden Welten zu begreifen. Demgegenüber galt die Moralität als Prinzip der Privatheit und der Öffentlichkeit. Die Moralität war es, mittels derer der Mensch zwischen privater und öffentlicher Existenz trennte und sich zugleich beiden Bereichen zugehörig erachtete. Die Reflexion war geeignet, den Menschen vor allem auf seine Naturbestimmung hinzuweisen, seine Einbindung in das Naturgeschehen und die Teilhabe seines natürlichen Wesens an der allgemeinen Gesetzlichkeit der Natur. Das Prinzip der Moralität stellte ihm dagegen seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft und seine Bestimmung als soziales Wesen vor Augen. Reflexion und Moralität aber waren ihrerseits nicht als gänzlich getrennte Prinzipien zu denken: Sie hatten vielmehr ihre ausgezeichnete einheitliche Verbindung in der Einheit der menschlichen Vernunft. Diese legt sich selbst aus in der Unterscheidung ihrer selbst als theoretische und praktische Vernunft. In dieser Selbstauslegung findet die menschliche Vernunft ihre spezifisch menschliche Freiheit. Das hier summarisch vorgestellte Bild der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität ist es gewesen, welches die europäische Philosophie der Existenz in unserem Jahrhundert aufgenommen und zum Gegenstand ihrer Kritik gemacht hat. So waren sich vor allem Jaspers und Heidegger in ihren philosophischen Anfängen darin einig, dass jene Philosophie der Subjektivität ihre Fragen nicht gründlich genug gestellt und sich deswegen den Blick verstellt hatte für das, was hinter jenen nur scheinbar ursprünglichen Prinzipien verborgen lag. Es ent345 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

III. Ethik

stand eine neue Begriffswelt, die ihren Anfang nahm mit Jaspers Psychologie der Weltanschauungen (1919) und Heideggers kritischer Rezension derselben. Die wichtigsten neuen Begriffe, die sich in dieser philosophischen Gemeinsamkeit herausbildeten, verdrängten die alten. Anstelle der genannten Begriffe der Reflexion und der Moralität traten Begriffe wie die der Existenz und des Entwurfs. Noch heute vermisst die philosophische Forschung in Jaspers’ und Heideggers Denken die philosophische Ethik. Es kann aber auch kein Zweifel bestehen, dass die Denkwege der beiden Genannten früh auseinander gegangen sind, – in gewisser Weise von Anfang an grundverschieden angelegt waren. Zwar gehören die Fragen nach dem Sein und nach dem Mensch-Sein zusammen. Aber in der Erörterung dieser Zusammengehörigkeit zeigt sich, ob es dabei lediglich um eine Differenz in der Gewichtung, um eine Frage der Priorität von Sein oder Mensch-Sein, oder um etwas ganz anderes geht: darum nämlich, ob die zu Beginn genannten Prinzipien der Vernunft, der Reflexion und der Moralität im Blick behalten oder aber vom Denken versuchsweise ganz abgestoßen werden, wie dies im Falle Heideggers geschieht. Die folgenden Überlegungen gehen aus von dem berühmten und heute klassisch zu nennenden Essay über Die Schuldfrage, 1 den Jaspers 1945 geschrieben und im Winter 1945/46 in einer Heidelberger Vorlesung öffentlich vorgetragen hat. Der Text hatte einen einmaligen Anlass und eine einzigartige zeitgeschichtliche Bedeutung. Der Anlass ist bekannt: der verbrecherische NS-Staat war vollständig zusammengebrochen, die Ausmaße der militärischen Niederlage Deutschlands geschichtlich einmalig, die materialen und moralischen Zerstörungen unabsehbar. Deutschland hatte seine staatliche Existenz eingebüßt. Was nun die zeitgeschichtliche Bedeutung des Jaspers’schen Essays betrifft, so entsprang dieser aus der Einsicht ihres Verfassers, dass das Land nicht nur physisch vernichtet war, sondern dass es auch zwischen seinen Bewohnern diesseits und jenseits der gesprochenen natürlichen Sprache keine echte Gemeinsamkeit mehr gab, dass eine gemeinsame Lebensform mit einem allseits verbindlichen Ethos nicht mehr existierte. Die einzelnen Lebensschicksale der Menschen und ihre lebensgeschichtlichen Deutungen hatten diesen gemeinsamen Grund und Boden verloren. Nicht eine neue Gemeinsamkeit zu stiften, war Jaspers’ Anliegen. Dies wäre ihm absurd erschienen; wohl aber Voraus1

K. Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946.

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Moralische Verantwortung – privat und öffentlich

setzungen für eine solche Möglichkeit im Rahmen einer sich langsam herausbildenden rechtsstaatlich verfassten Demokratie zu schaffen, dies war die erklärte Absicht dieser Schrift. Sie sollte einen allgemeinen Orientierungs- und Diskussionsrahmen schaffen, in dem sich die Menschen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Weisen der Selbstverständigung begegnen und miteinander sprechen konnten. Die bestimmenden Fragen dieses Orientierungsrahmens lauteten daher: Wie ist meine, wie ist unsere Schuld beschaffen, deren wir von anderen angeklagt werden und deren wir uns selbst bewusst werden müssen? Und wie gehen wir mit dieser Schuld und mit unserem jeweiligen Schuldbewusstsein um, wenn wir die richtige Umgangsweise mit demselben als notwendige Voraussetzung eines moralisch-politischen Neuanfangs erkennen? Aber wie gesagt: In der Okkasionalität und zeitgeschichtlichen Bedingtheit jenes Aufsatzes steckt ein übergeschichtliches Moment, nicht im Sinne eines Jenseits der Geschichte, sondern im Sinne einer Unabhängigkeit von den genannten geschichtlichen Anlässen. So gehört es zur Übergeschichtlichkeit des Schuldbewusstseins, dass es nicht an die geschichtliche Gegebenheit der Schuld fixiert bleibt, sondern sich als Schuldbewusstsein wiederholen kann: dass diese Wiederholbarkeit zum wahren Schuldbewusstsein hinzugehört. Übergeschichtlich ist aber auch die zeitgeschichtliche Bedeutung der Schuldfrage, indem sie die Lehre aus einer schrecklichen Erfahrung zieht – eine Lehre, die oft genug verkannt oder verdrängt worden ist. Diese Lehre besagt, dass keine einheitlich gemeinsame Lebensform in ihrem Ethos zureichend gesichert ist gegen die Gefährdung ihrer Zerstörung von innen und außen. Keine solche Lebensform ist im Sinne der alten Metaphysik causa sui, sie ist weder Ursache ihrer selbst noch selbstgenügsam. Sie ist nicht Substanz, die sich in ihrem Sein und in ihrem natürlichen Gewachsensein aus sich selbst heraus zu erhalten vermöchte. Die Phänomene der Schuld und des Schuldbewusstseins haben Jaspers schon als Psychopathologen und in seiner Psychologie der Weltanschauungen nachhaltig beschäftigt. Die Schuld war hier, wie späterhin, eine Grenzsituation. Eine solche Situation war für Jaspers darin von einer gewöhnlichen Extrem- und Ausnahmesituation unterschieden, dass es in ihr nicht nur um die physische Existenz, nicht nur um die Daseinserhaltung des Menschen ging, sondern dass sich in ihr der Mensch in seiner Menschlichkeit und in seinem Mensch-Sein auf dem Spiel stehend findet. (Auch wenn Jaspers damals noch nicht deut347 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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lich genug zwischen dem Menschlich-Sein und dem Mensch-Sein unterschied). Noch im Jahre 1950 sagt Jaspers – bereits in Basel, aber einer Einladung aus Heidelberg folgend: »Erst im Bewusstsein der Schuld werde ich frei, sonst bleibe ich Knecht der Natur, und ich werde frei nur im Entschluss, der wie eine Wiedergeburt ist, eine Umwandlung meiner Denkungsart selber. So sahen es Plato, so die biblische Religion, so Kant.« 2 Wir begegnen hier einem der Lieblings- und Grundworte der Jaspers’schen und der Heideggerschen Philosophie der Existenz. Dieses Wort, der Terminus »Entschluss«, hat dieser Philosophie vielfach den Vorwurf des Dezisionismus eingebracht, nicht ganz zu Recht, wie ich meine. Karl Löwith hat uns in seinem Lebensbericht den bekannten Witz eines unbekannten Marburger Studenten aufbewahrt, der in jenen Jahren bei den Hörern der Heideggerschen Vorlesung die Runde machte: »Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu.« 3 Auf Jaspers’ Äußerung, vor allem nach 1945, passt diese witzige Bemerkung nicht. Denn in dem hier zu erörternden Essay Die Schuldfrage wird unmissverständlich deutlich, worum es einem solchen Entschluss zu tun sein muss. Jaspers wusste gerade als Psychologe besser als andere, dass Wille und Entschluss nicht alles, und unter gewissen Lebensbedingungen nur wenig vermögen. Nicht einmal über seine unmittelbaren Emotionen und Gefühle ist der Mensch Herr. Wie schon Descartes unterstrichen hat, kann der Mensch sich nicht frei entschließen, froh oder traurig zu sein, zu lieben oder zu hassen. Der menschliche Wille ist durch zahllose äußere Gegebenheiten in seiner freien Entfaltung behindert. Aber andererseits hat sich Jaspers streng an die kantische Einsicht gehalten, dass der gute Wille kann, wenn er soll. Die Freiheit, die der Mensch im Entschluss gewinnt, hat diesen guten Willen im Auge. Das, was Jaspers diesem guten Willen angesonnen hat, ist die Wahrhaftigkeit. Der Mensch kann wahrhaftig sein, wenn der gute Wille zur Aufrichtigkeit da ist. Insofern ist das Schuldbewusstsein, wenn es wahrhaftig gegen sich ist, »ein Zurückfinden aus dem Mir-So-Gegebensein zum Selbstdenken als Grund des Mir-So-Gegebensein der Verantwortung.« Der Entschluss zur Wahrhaftigkeit schafft so die Bedingungen für eine wiederzugewinnende Freiheit, die Voraussetzung für einen K. Jaspers, Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. Drei Vorlesungen, München 1950, S. 43. 3 K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart 1986, S. 29. 2

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neuen Sinn der Verantwortung. Jaspers’ Rede von der »Wiedergeburt« hat insofern einen eminent ethisch-politischen Sinn. Wie schon für Kant, so ist auch für ihn Wahrhaftigkeit nicht nur eine existentiale, sondern auch eine ethisch-rechtliche und politische Tugend. Es ging in dem Essay über Die Schuldfrage ebensowenig wie in Hannah Arendts Aufsatz über Organisierte Schuld, 4 auf den Jaspers’ Essay eine Antwort suchte, lediglich um die Feststellung von Schuld und um die Anerkennung derselben durch ein Schuldbewusstsein. Die eigentliche Absicht lag vielmehr darin, einen neuen Begriff der Verantwortung sowie eine angemessene Bestimmung seiner gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen zu gewinnen. In diesem Anliegen traf sich Jaspers übrigens mit anderen Denkern, wie etwa mit Julius Ebbinghaus, der eine Erneuerung und Vertiefung der kantischen Idee der Rechtsphilosophie und der politischen Philosophie anstrebte. Jaspers hat in seinem Essay bekanntlich vier Weisen der Schuld unterschieden: die rechtliche und die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Durch diese Unterscheidungen wollte er der »Übertreibung« der Arendtschen Diagnose einer einheitlichen und totalitär organisierten Schuld begegnen, die auf die Unmöglichkeit einer direkten personalen Schuldzuschreibung hinauslief. Jaspers zählt zweifellos neben Sokrates und Kant zu den großen Unterscheidungskünstlern unter den Philosophen, zu den Enthusiasten in Sachen begrifflicher Unterscheidungen. Aber gerade hier – anlässlich der Schuldfrage – lässt der Psychologe Jaspers sein Wissen um diese Problematik des Unterscheidens deutlich hervortreten. Gewöhnlich dienen Unterscheidungen der Klärung und Verdeutlichung. Sie sollen Sachlagen klären, Schwierigkeiten in der Lösung von Problemen verdeutlichen, versteckte Prämissen und implizite Wertvoraussetzungen sichtbar machen. Aber diese Ziele werden nicht immer erreicht, insbesondere nicht in der Philosophie. Oft genug verlieren sich die Grenzen zwischen dem Wohlunterschiedenen im Fortgang des Unterscheidungsprozesses, und die Kriterien der Differenzierungen lösen sich auf, während sie zur Anwendung kommen, etwa indem sie sich als unzulänglich oder gar als unbrauchbar erweisen. Selbst scheinbar methodisch wohlgesicherte Unterscheidungsverfahren sind gegen solche Folgen nicht gefeit. So kann es geschehen, dass eine Unterschei4 H. Arendt, Organisierte Schuld, in: Sechs Essays, Heidelberg 1948. (Schriften der Wandlung Bd. 3, hg. v. D. Sternberger).

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dung, die sich am Anfang recht unscheinbar ausnahm, in ihrer Auflösung eine neue Qualität gewinnt: Die neue Nicht-Unterscheidung hat einen ästhetischen Reiz oder gewinnt sogar den Reiz des Dämonischen. Die in der Phänomenologie Husserls entdeckte Methode der Formalisierung, die von Heidegger zur Methode der formalen Anzeige weiterentwickelt wurde, ist gegen diese Gefahr des Verschwindenmachens von Unterscheidungen nicht immun gewesen. Jaspers hat diese Gefahr gesehen und dementsprechend in seiner Korrespondenz mit Hannah Arendt die Dringlichkeit einer Differenzierung der Weisen des Bösen angemahnt und in diesem Zusammenhang vor einer Dämonisierung desselben gewarnt. Jaspers verdankt ihr übrigens auch jene Wendung von der »Banalität des Bösen«, die dann später durch seine Schülerin berühmt gemacht worden ist. Im ersten Heft der Zeitschrift Die Wandlung hat Jaspers einen Aufsatz unter dem Titel Das Unbedingte des Guten und das Böse 5 veröffentlicht, in dem es ihm um eine Differenzierung des Bösen im Anschluss an Kants späte Religionsschrift ging. Hier trat neben die bloße Schlechtigkeit aus Schwäche und neben die Verkehrung des Guten ein ursprünglicher Wille zum Bösen, – für Jaspers Ausdruck der Erfahrungen mit den Verbrechen des NS-Staates. Was nun aber die Problematik der Unterscheidungen hinsichtlich der Unterscheidung der vier Schuldbegriffe betrifft, so erkannte Jaspers vor allem die Gefahr der Sophistik des Gewissens. Das Gewissen, das Schuldbewusstsein, ist ein Meister auf der Klaviatur der Unterscheidungen. Es versteht sich auf die Kunst, sich von einem Gebiet auf ein anderes zu flüchten oder, wenn nötig, durch die Maschen eines Unterscheidungsgewebes hindurchzuschlüpfen. Der Mensch will Recht haben und Recht bekommen, auch wenn dieser Wille seinem Gerechtigkeitsbewusstsein nicht immer das beste Zeugnis ausstellt. Ungeachtet seines Wissens um diese Problematik hat Jaspers die Schwierigkeiten, die seine Unterscheidungen mit sich brachten, unterschätzt. Zunächst zeigt sich, dass zwischen den vier Weisen der Schuld in dem fraglichen Anwendungsfall »Deutschland und die Deutschen zwischen 1933 und 1945« ein Zusammenhang besteht, der die Unterscheidungen schwer macht: So erweisen sich die Hauptverantwortlichen der politischen Schuld zugleich als kriminell Schuldige, und K. Jaspers, Das Unbedingte des Guten und das Böse. Die Wandlung 1(1945–46), S. 672–683.

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zwar als Schuldige schlimmster Verbrechen, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschheit (die Jaspers in seinem Nachwort von 1962 deutlich unterscheidet). 6 Andererseits zeigte die Berufung der direkt und unmittelbar krimineller Handlungen Beschuldigten auf Hoheitsakte des Staates und Befehlsnotstände, dass sie sich auch politisch schuldig gemacht hatten. Darüber hinaus ist rechtliche und politische Schuld immer auch moralische Schuld, selbst dann, wenn die Umkehr nicht immer und unter allen Umständen gilt. Im Gegenteil: Es gehört gerade zum Wesen der moralischen Schuld, dass es sie auch dort geben kann und gibt, wo keine greifbare rechtliche oder politische Verfehlung vorliegt. Die moralische Schuld und die moralische Verantwortung beziehen sich auch auf eine Unzahl ungeschriebener Gesetze, die, auch wenn sie nicht in einem Gesetzestext niedergelegt sind, den Menschen wohl bekannt sein dürften. Der Fall des NS-Verbrecherstaates aber stellte ein schreckliches Lehrstück dafür dar, wie moralische Schuld in Verbindung mit schwereren und geringeren rechtlichen und politischen Vergehen auftritt: in Form einer rechtlich nicht fassbaren Begünstigung dieser Vergehen durch Opportunismus und Feigheit, durch rechtlich nicht fassbare Unterlassung von Widerstand und gebotener Hilfeleistung gegenüber gefährdeten und verfolgten Menschen. Moralische Schuld tritt als eine solche Begünstigung und Unterlassung, aber auch als unwürdige, aus unverhältnismäßiger Feigheit geborene Verweigerung elementarer Mitmenschlichkeit in Wort und Geste auf. Auch diese Schuld, die die Sphäre des Privaten erreicht, bleibt an den öffentlichen Raum gebunden. Die ungeschriebenen Gesetze, von denen die Rede war, haben ihre Geltung im Bereich des Privaten ebenso wie im öffentlichen Bereich. In diesem Sinne vor allem ist die Moralität Prinzip des Privaten und des Öffentlichen. Wie die genannten Weisen der Schuld, so sind auch die moralische und metaphysische Schuld aufs engste miteinander verflochten. Mit seiner Idee einer metaphysischen Schuld hat Jaspers den Menschen seiner Zeit, den Überlebenden der NS-Schreckensherrschaft, eine hohe gemeinsame Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeit zugemutet. Das metaphysische Schuldbewusstsein ist dadurch bestimmt, dass es sich verantwortlich fühlt für diejenigen, die unschuldig ihr Leben lasK. Jaspers, Nachwort über meine Schuldfrage. In: Lebensfragen der deutschen Politik, München 1963, S. 110–114.

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sen mussten. Es ist die Gewissenhaftigkeit, nach dem eigenen Lebensrecht kritisch zu fragen angesichts dessen, dass anderen Menschen das Lebensrecht verweigert wurde. Das metaphysische Schuldbewusstsein unterscheidet sich von dem unverbindlichen Jammer über die allgemeine Ungerechtigkeit der Welt. Es ist ein Bewusstsein der eigenen Verantwortung angesichts des unschuldigen Sterbens unzähliger Menschen. Dieses Bewusstsein bewegt sich in weiteren und engeren Kreisen wie jedes Schuldbewusstsein überhaupt. Seinen Mittelpunkt findet es dort, wo es sich selbst kritisch fragen muss, warum es sein Leben nicht gewagt hat, dort wo es ein Menschenleben hätte retten können. Diese metaphysische Schuld ist nicht von der Art, dass sie von dritter Seite eingeklagt werden könnte, vorausgesetzt, es ging im Fall einer möglichen Rettung in der Tat um das Leben des Retters und des zu Rettenden. Wie hat sich Jaspers in dieser allseitigen Verflechtung von Schuld zurechtgefunden? Welche Orientierung, welchen Kompass gibt die Schrift? Wohin weist sie, wofern sie eine vernünftige Verantwortlichkeit ermöglichen, eine solche begründen und fördern will? Jaspers ist vor allem in einer seiner Antworten auf diese Frage ganz unmissverständlich: Alle Schuld, jede Verantwortung, ob unteilbar oder teilbar, ob gewichtig oder weniger gewichtig, ist persönliche Schuld, persönliche Verantwortung. Sie ist die Schuld des je einzelnen Menschen als des Verantwortlichen für sein Tun und Unterlassen, für sein Verhalten in einer bestimmten Situation und in anderen Situationen. Es ist seine Schuld und Verantwortung für sein Benehmen gegenüber seinen Mitmenschen. Es ist seine Schuld und Verantwortung, auch für seine Schwächen und für seine Schlechtigkeiten und Bosheiten, selbst wenn dies alles durch ein unmenschliches politisches System gefördert oder sogar öffentlich belobigt wird. Dieser personale Charakter jeglicher Schuld und Verantwortung war es, der Jaspers den Gedanken einer Kollektivschuld der Deutschen, wie jeder Kollektivschuld überhaupt, entschieden und unmissverständlich hat zurückweisen lassen. Wie konnte es angesichts dieser unmissverständlichen Eindeutigkeit überhaupt zu dem Missverständnis kommen, welches in ihm einen Verfechter einer solcher kollektiven Schuld sah? Lag es an den missverständlichen Äußerungen, die er in dem gleichen Zusammenhang zur Kulturtradition Deutschlands gemacht hatte, in denen er auf den wenig ausgebildeten Sinn der Deutschen in ihrer traditionellen Lebensform für die politischen Komponenten der Kultur hingewiesen hatte? Ich sehe den wichtigsten Grund für dieses nicht ganz ungewollte 352 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Missverständnis in etwas anderem. Jaspers hat der großen Mehrheit der Deutschen den Vorwurf einer unabweisbaren moralischen Schuld nicht erspart. Er hatte gezeigt, dass moralische Schuld nicht nur ein Vergehen gegen ungeschriebene Gesetze ist; dass sich diese Schuld vielmehr unvermeidlich mit rechtlicher und politischer Schuld verbindet unter dem Gesichtspunkt, dass die Bürger eines Staates für dessen politisch-rechtliche Handlungen mithaften. Gerade aus der Zurückweisung der Kollektivschuld, aus der entsprechenden Bejahung einer politischen Haftung, folgte der Gedanke einer sehr weitgehenden moralischen Mitschuld der Deutschen an dem, was in ihrem Lande und außerhalb desselben durch die deutsche Regierung und deren politische Führung geschehen war. Hierin lag die Unbequemlichkeit der Jaspers’schen Botschaft. Aber es kam ein Zweites hinzu: Aus den Jaspers’schen Unterscheidungen und deren Zusammenhang folgte: moralische Schuld hatte aufgehört, reine Privatsache zu sein. Sie war, angesichts ihrer Verflechtung mit der rechtlichen und politischen Schuld, in der Öffentlichkeit ihres Charakters nicht länger zu verkennen. Zweifellos ist für den Philosophen Jaspers die moralische Schuld die ursprünglichste Weise der Schuld geblieben. Sie war für ihn existenziale Schuld vor aller rechtlichen und politischen Schuld und eine Grenzsituation menschlichen Daseins, die hier als moralische Schuld erkannt war. Moralische Schuld aber war für ihn sowohl privat, als auch öffentlich. Ich sagte, dass es Jaspers nicht um begriffliche Bestimmung von Schuld und nicht um die Feststellung begangener Schuld ging; auch nicht um den Verweis auf die Dringlichkeit eines Schuldbewusstsein. Vielmehr ging es um angemessene Formen der Auseinandersetzung mit einem solchen Schuldbewusstsein. Jaspers hat für diese Formen eigentümlicherweise eine private Auseinandersetzung gefordert, zumindest in der hier erörterten Schrift. Wie lässt sich das zusammenbringen mit der Einsicht in den öffentlichen Charakter der Schuld? Die Forderung einer solchen privaten Auseinandersetzung galt selbstverständlich nur für die moralische wie für die metaphysische Schuld. Denn eine rechtliche und politische Schuld sind Sache öffentlicher Instanzen. Um die Jaspers’sche Forderung zu verstehen, muss man sich der wichtigsten Aussage über die Schuld erinnern: Eine moralische Schuld kann nicht getilgt werden. Das unterscheidet sie grundlegend von jeglicher rechtlichen und politischen Schuld. Eine rechtliche Schuld ist getilgt, wenn die Strafe, die in einem rechtlich legitimierten Verfahren verhängt wurde, abgegolten 353 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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ist. Eine politische Schuld will zunächst einmal von einer völkerrechtlich legitimierten Instanz als solche festgestellt und entsprechend verurteilt sein. Jaspers hat damals 1945/46 von der Einmischung des Siegerrechts in die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gesprochen. Angenommen, es gibt Instanzen als weltweit völkerrechtlich anerkannte Instanzen, wie wir sie heute in Gestalt der Vereinten Nationen haben, so gilt eine durch diese festgestellte politische Schuld als abgegolten, wenn die verhängten Sanktionen erfüllt oder durch das Verhalten des als schuldig erkannten Staates für aufgehoben festgestellt wurden. Demgegenüber ist die moralische Schuld – Jaspers zufolge – prinzipiell untilgbar. Das zeichnet sie zusammen mit der metaphysischen Schuld unverkennbar gegenüber den anderen Schuldformen aus. Durch diese Untilgbarkeit hat die moralische mit der metaphysischen Schuld ihr besonderes Gewicht. Dass dieses Gewicht nicht eine endlose und nie sich erleichternde Belastung sein müsste, ist damit nicht gesagt. Bedeutsamkeit ist nicht zwangsläufig Belastung für immer. Man mag in dieser Untilgbarkeit der moralischen und metaphysischen Schuld so etwas wie einen theologischen Rest bzw. ein Stück Religiosität und Frömmigkeit in Jaspers’ existenzialem Denken sehen: Ein Stück Gerechtigkeit, welches der irdischen Gerichtsbarkeit entzogen gedacht wird. Aber die Untilgbarkeit der moralischen Schuld besteht gerade auch angesichts aller legitimierten Instanzen irdischer Gerichtsbarkeit. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass moralische Schuld in sehr vielen Fällen keinen eindeutig identifizierbaren Tatbestand darstellt. Diese Art der Schuld greift häufig hinaus über einen bestimmten Personenkreis, einen bestimmten Sachverhalt, auf die sich die fragliche Schuld festlegen ließe. Ein moralisches Schuldbewusstsein ist nicht schon deswegen pathologisch, weil es seine Schuld nicht genau benennen, diese nicht einmal genau umschreiben kann. Schon allein deswegen lassen sich keine sinnvollen Entsprechungen zwischen einer bestimmten moralischen Schuld und einer entsprechenden Bestrafung denken, auch nicht zwischen moralischer Schuld und moralischem Schuldbewusstsein. Wenn es hier eine Entsprechung gibt, so ist diese allenfalls in der Identität des Schuldigen und seines Bewusstseins gegeben. Aber diese Identität ist nicht zureichend, um eine Korrespondenz zwischen dem einen und dem anderen zu gewährleisten. Oft genug fehlt überhaupt ein Schuldbewusstsein. Oft genug muss man feststellen, dass das Schuldbewusstsein der Schuld keineswegs ent354 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Moralische Verantwortung – privat und öffentlich

spricht, eher die Schuld dem Schuldbewusstsein. Man kann zwar sagen, dass moralische Schuld, dort wo sie öffentlich geworden ist, ihre Strafe findet, in Gestalt öffentlicher Missbilligung und Verachtung. Aber es gibt keine öffentlich legitimierte Instanz zur Bestrafung moralischer Schuld. Kants Bild des Gewissens als eines Gerichtshofs 7 ist nur soweit zutreffend, als das Gewissen im Grunde imstande ist, die eigene Schuld festzustellen. Aber der Mensch ist nicht, auch nicht in Sachen der eigenen moralischen Schuld, sein eigener Richter. Die Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld, die Jaspers’ wesentliches Anliegen in jener Schrift war, konnte insofern nicht in der Tilgung der Schuld, nicht in der Befreiung von der Last des Schuldbewusstseins ihre Aufgabe und Zielbestimmung sehen. Gab es keine öffentliche Instanz der Bestrafung, so auch keine legitimierte öffentliche Instanz, um die Tilgung einer Schuld zu konstatieren. Jaspers wusste wohl, warum er die anstehende und für unvermeidlich gehaltene Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld nicht der Öffentlichkeit anvertraut sehen wollte, obwohl gerade er, wie kein anderer, den öffentlichen Status dieser Schuld erkannt hatte. Aber er sah, dass diese Öffentlichkeit gerade deswegen, weil es keine legitimierte Instanz der Strafzumessung und der Schuldtilgung gibt, sich mit um so größerem Eifer dieser Schuld annehmen und diese nach Belieben zuteilen und zuschreiben würde. Wo Wege gesucht waren, die Jaspers als solche der Selbstbesinnung und Reinigung umschrieb, musste es an deren Stelle Kämpfe der Rechthaberei, der moralischen Überheblichkeit und der unkontrollierten und unausgewiesenen Verurteilung anderer geben. Andererseits kam er auch nicht daran vorbei, dem öffentlichen Charakter der moralischen Schuld Rechnung zu tragen. Angesichts dieses Dilemmas fand er die Lösung an einem ausgezeichneten Ort, in dem Privatheit und Öffentlichkeit sich verbinden. Er verwies die Selbstbesinnung und Reinigung des moralischen Schuldbewusstseins an die Kommunikation, welche er die existenziale nannte. Diese Kommunikation ist sowohl privat als auch öffentlich. Sie ist privat in einem eminenten Sinne, sofern sich in ihr zwei Personen begegnen, und zwar so, dass alle Bedingungen der Privatheit erfüllt sind. Solche Bedingungen sind unter anderem: vorbehaltlose Offenheit gegeneinander, bewusst uneingeschränktes Vertrauen sowie Verschwiegenheit nach außen gegen die Öffentlichkeit. 7

I. Kant, Metaphysik der Sitten (Tugendlehre), § 13, A 99.

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Aber die existenziale Kommunikation ist zugleich auch eine öffentliche Angelegenheit. Denn sie vollzieht sich nicht im Innenraum eines Bewusstseins, eines Gewissens. Vielmehr kann diese private Begegnung überall im öffentlichen Raum stattfinden: nicht nur in einem privaten Wohnraum, sondern auch in jedem öffentlichen Gebäude, an jedem öffentlichen Ort, an dem die genannten Bedingungen erfüllt sind. Schließlich können auch die Personen, die in eine solche Kommunikation eintreten, zueinander durchaus im Verhältnis öffentlicher Rollen und Amtsträger stehen, ohne dass dadurch die Privatheit der Unterredung unmöglich gemacht wird. Die Idee einer existenzialen Kommunikation ist eine sehr moderne Idee. Sie findet sich hier anstelle jener naturrechtlichen Vertragskonzeption, der zufolge sich verschiedene natürliche Individuen durch Kommunikation auf ein wechselseitiges gesellschaftliches Verhältnis und auf die Einhaltung von Verhaltensregeln zur Sicherung dieses Verhältnisses verständigen. Anders als der Gesellschaftsvertrag des Naturrechts stiftet die existenziale Kommunikation kein Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft, sondern zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Verwandtschaft zur Idee des Gesellschaftsvertrags liegt in der Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Wahrhaftigkeit für den einzelnen Menschen und die menschliche Gemeinschaft. Es spannt sich ein weiter Bogen von dieser Idee der Wahrhaftigkeit zur Idee der Menschenwürde. Andererseits fallen diese beiden Ideen auch nahezu zusammen. Die existenziale Kommunikation ist demnach der Ort der Wahrhaftigkeit zwischen zwei Personen. Insofern haben wir so etwas wie eine Urzelle der Moralität vor uns. Jaspers hat das Geschehen einer solchen existenzialen Kommunikation als »liebenden Kampf« umschrieben – aber für diese schwebende Chiffre auch genauere Charakteristika angegeben, die zuvor genannt wurden. Als liebender Kampf unterscheidet sich eine solche Kommunikation eindeutig von der Hobbes’schen Beschreibung des Naturzustands, in welchem es weniger Liebe als Angst gibt. Existenziale Kommunikation umschreibt einen angstfreien Raum, in dem die kommunizierenden Partner alles aus dem öffentlichen Leben zurücklassen, was sie in der Beziehung zueinander ängstigen könnte: also auch ihre Schuld und ihr Schuldbewusstsein, soweit dieses Angst erzeugt. Die existenziale Kommunikation ist weder ein Zustand noch eine Institution. Zweifellos haftet ihr etwas Idealisierendes an: ein Stück Utopie. Die Grundzüge dieser Kommunikation, Offenheit, Vertrauen, Verschwiegenheit, Sympathie etc. 356 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Moralische Verantwortung – privat und öffentlich

bringen die Kommunikationspartner nicht von Natur mit sich. Sie haben auch nicht die Macht, sich im voraus auf diese Charaktere zu verständigen. Vielmehr sind diese Charaktere von der Art einer Natur, die den Kommunikationspartnern durch ihre Kommunikation zuwächst. Aufgrund dieser entstehenden Natur kann es geschehen, dass die Schuld überhaupt erst in ihrer unverwechselbaren Physiognomie in Erscheinung tritt und dass das Schuldbewusstsein durch das Vertrauen des Anderen seine neuen und anspruchsvolleren Verantwortlichkeiten erkennt. Aber die existenziale Kommunikation ist auch nicht so etwas wie eine wohl funktionierende Maschinerie der Schuldverarbeitung. Sie ist bei Jaspers zu einer ethisch-politischen Kategorie geworden, zu einer Bestimmung des Menschen in seiner gesellschaftlichen und politischen Bestimmtheit. Sie ist eine Gegebenheit, die unter allen sozialpolitischen Bedingungen im Prinzip möglich ist. Dabei gilt die Regel: Je schwieriger die äußeren Bedingungen ihrer Realisierung sind, umso größer ist ihre Bedeutung für die Erhaltung der Humanität.

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Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik

1. Karl Jaspers zählt heute unbestritten zu den großen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Als einem solchen wird ihm schon heute eine wichtige Stellung innerhalb der gesamten Geschichte der europäischen Philosophie, ja in der Geschichte der Weltphilosophie eingeräumt. Diese allgemein anerkannte Wertung steht nun aber in einem merkwürdigen und auffälligen Kontrast zu einem schwer zu übersehenden Faktum. Karl Jaspers wird nur von vergleichsweise wenigen gründlich und intensiv studiert. Sein Denken wird unter der allgemeinen Rubrik »Existenzphilosophie« verortet, ohne dass die hier zu erkennenden Eigentümlichkeiten dieser Gestalt der Philosophie der Existenz allgemein zugänglich wären. Verglichen mit der Rolle, die Heidegger, Wittgenstein oder auch Quine in den zeitgenössischen philosophischen Debatten hermeneutischer und analytischer Spielart einnehmen, ist die Rolle des jaspersschen Denkens als bescheiden und marginal einzustufen. Die Karl-Jaspers-Stiftung mit Sitz in Basel hat die Aufgabe, zum Abbau jenes Missverhältnisses zwischen Bekanntheit und Unbekanntheit des Philosophen beizutragen, das eingehende und gründliche Verständnis seines Werkes mit zu fördern und dessen Teilhabe an der zeitgenössischen philosophischen Debatte zu ermutigen. Als Präsident dieser Stiftung habe ich die Ehre, durch diesen Eröffnungsvortrag auf der ersten internationalen Jaspers-Konferenz in Italien in dem genannten Sinne einen Beitrag zu leisten. Lassen Sie mich mit der Kennzeichnung einiger wichtiger Charakteristika des jaspersschen Denkens beginnen: Erstens gehört Jaspers zu den ganz wenigen philosophischen Denkern der jüngeren und jüngsten Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, die keine reinen Philosophen, sondern zugleich schöpferische Wissenschaftler waren. Seine Allgemeine Psychopathologie zählt zu den Klassikern der psychiatri358 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik

schen und psychopathologischen Grundlagenforschung. Die dort begründete Wissenschaft ist auf eine Methodik des Verstehens gegründet, welche die Fülle der psychopathologischen Phänomene systematisch zu ordnen und zugleich die Grenze zwischen der Wissenschaft der Psychologie einerseits und der Philosophie andererseits unmissverständlich zu ziehen erlaubt. Dementsprechend sind wir schon hier mit einem der wichtigsten Denkmotive von Jaspers konfrontiert: dem der Selbstunterscheidung der Philosophie von der Wissenschaft. Das Paradigma der Wissenschaft in dieser Selbstunterscheidung bleibt für Jaspers weitgehend die verstehende Psychologie. Eine zweite auffällige Eigentümlichkeit hängt mit der genannten direkt zusammen: Jaspers’ Denk- und Sprachstil in seinen auch äußerlich sehr großen, umfangreichen Büchern ist von außerordentlicher Nüchternheit und Sachlichkeit. Diese Stileigentümlichkeit verweist auf die entsprechenden Werte und Normen der Wissenschaft. Ungeachtet der dadurch erzielten Klarheit und Unmissverständlichkeit bleibt die Lektüre seiner Texte schwierig. Dies hängt mit einer jaspersschen Leidenschaft zusammen, wenn es überhaupt erlaubt ist, hinsichtlich seines Denkens von Leidenschaft zu reden. Es ist die Leidenschaft des Unterscheidens, eines der auffälligsten Kennzeichen des jaspersschen Denkstiles. Hierin kommt keineswegs nur die Erkenntnisbemühung um Klarheit und Bestimmtheit zum Ausdruck. Vielmehr zeigt sich hier eine bewusste und methodisch gewordene Denkhaltung, der es darum zu tun ist, die schrecklichen Vereinfachungen zurückzuweisen, die in Ideologien und erbaulichen Weltanschauungen ihren Niederschlag finden. Man kann im Blick auf diese Denkhaltung Jaspers’ von einem Ethos der Differenzierung sprechen. In der Verwirklichung dieser Denkhaltung ist die Tätigkeit der bewussten denkerischen Reflexion am Werke. Reflexion ist nicht nur ein Unterscheiden des einen vom anderen, sondern ein Sichunterscheiden: ein Unterscheiden von etwas, von einem Grund, einem Ursprung aus. In der Reflexion unterscheidet der Mensch sich von anderen. Insofern ist im Sichunterscheiden das Selbstsein des menschlichen Daseins als Selbstbewusstsein gegenwärtig. Die Existenz dieses Daseins schließt in dem Selbstbewusstsein eine an es ergehende Forderung zu einem bewussten Leben ein. Es ist die Philosophie, welche die Verbindung zwischen jenem Ethos der Differenzierung und dieser Forderung bewussten Lebens stiftet. Jaspers hat immer eine echte Wahlverwandtschaft mit Kants Vernunftphilosophie in Anspruch genommen. Insofern ist die 359 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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im allgemeinen gegen die Philosophie der Existenz vorgebrachte Kritik des vermeintlichen Irrationalismus im Falle der jaspersschen Existenzphilosophie oberflächlich. Diese versteht sich selbst ausdrücklich als Philosophie der Vernunft, indem sie Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft aufgreift und die Bewegung zwischen der einen und der anderen Instanz als Bewegung des menschlichen Daseins in seiner Existenz ausweist. Diese Bewegung ist die der Grenzüberschreitung der Endlichkeit des Daseins zur Transzendenz und der Rückbesinnung auf Grenze und Maß. Das Ethos der Differenzierung und des bewussten Lebens ist für Jaspers immer zugleich ein Ethos der Begrenzung und der Maßstiftung. Manchmal gewinnt die geschilderte Spannung zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Grenze und Transzendenz geradezu die Gestalt eines Paradoxes. Nicht nur Kant, auch Kierkegaard gehört zu den Schutzpatronen des jaspersschen Denkens. Das Paradox erscheint bei Jaspers in der Beziehung zwischen Frage und Antwort. Der Denker der Philosophie der Existenz und der Philosophie der Vernunft gehört zu denen, die nicht müde wurden, einen nichttrivialen Primat der Frage vor der Antwort zu betonen. Trivial ist der rein zeitliche, in der Reihe des Vorher und Nachher gegebene Primat der Frage. Nichttrivial wird dieser Primat angesichts der Unterscheidung zwischen rhetorischen und philosophischen Fragen. Die rhetorische Frage bestimmt sich dadurch, dass sie den Schein des Nichtwissens erzeugt, um den Anspruch eines Allwissens bzw. eines Herrschaftswissens zu verbergen. Die philosophische Frage dagegen macht keinen Hehl aus einer echten Unwissenheit, in der die Frage entspringt. In der scharfen Absage an Rhetorik und Sophistik liegt einer der wichtigsten Gegenzüge der jaspersschen Vernunftphilosophie gegenüber der philosophischen Hermeneutik. Der philosophische Primat der Frage vor der Antwort bedarf vor allem der unmissverständlichen Unterscheidung gegenüber den Fragen der Wissenschaft und der Religion. Denn auch deren Fragen setzen den antirhetorischen Primat der Frage vor einer möglichen Antwort voraus. Das Paradox, welches sich angesichts der durchgängigen Bewegung der menschlichen Existenz zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Begrenzung und Transzendenz aufdrängt, ist das der unwillkürlichen Verwandlung eben jener Bewegung in Unbewegtheit und Stillstand. Ein Missverhältnis zwischen Frage und Antwort angesichts des erwarteten philosophischen Primats der Ersteren tut sich auf. Der 360 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Primat der Frage verschwindet im Verschwinden der Frage: Die Ordnung in der Folge der Unterscheidungen, die aus der jaspersschen Methodik der Reflexion entspringt, erweckt den Anschein einer endgültigen Ordnung, vor der jede Frage verstummt. Sie gleicht einer fest gefügten und wohl verfugten Mauer, welche die Grenze zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit dort fixiert, wo die Philosophie Bewegung der Grenze und der Transzendenz, auch Bewegung derselben gegeneinander erwarten lässt. Die Ordnung der Unterscheidungen scheint jeder Frage endgültig entzogen. Dies aber widerspricht wesentlich dem Sinn der philosophischen Frage und dem für diese geforderten Primat vor der Antwort. Hier scheint ein Ethos der Offenheit verletzt. Nun gilt es zu sehen, dass Jaspers selbst dies gesehen hat und das geschilderte Paradox aufzulösen bemüht war. Dies geschah in Form einer philosophischen Logik, die in dem großen Werk Von der Wahrheit in Gestalt der Lehre vom »Umgreifenden« entwickelt wurde: Das Umgreifende ist das Umgreifende der Grundunterscheidung von Subjekt und Objekt. 1 In einem näher zu bestimmenden Sinne ist diese Unterscheidung die Unterscheidung aller Unterscheidungen. Sie bildet den Ursprung der philosophischen Reflexion. Was die Auflösung des geschilderten Paradoxes von Bewegung und Stillstand betrifft, heißt dies: Es gilt vor allem hinsichtlich der Unterscheidungen zu unterscheiden. Das eine sind Unterscheidungen im Bereich der Gegenständlichkeit, das andere Unterscheidungen im Bereich der Wirklichkeit, und wieder etwas anderes sind Unterscheidungen im metaphysischen Raum der Transzendenz. Sind diese Unterscheidungen schon untereinander verschieden, so drängen sich Unterscheidungen ganz anderer Art auf, nämlich Unterscheidungen zwischen eben jenen Bereichen des Gegenständlichen, des Wirklichen und der Transzendenz. Die philosophische Frage ist in dem von ihr beanspruchten Primat nicht an einen Typus von Unterscheidungen gebunden im Unterschied zu Wissenschaft und Religion. Ihre Bewegung vollzieht sich zwischen allen Bereichen des Unterscheidens. Damit komme ich zu der dritten vorläufigen Charakteristik der jaspersschen Philosophie der Existenz und mit derselben zum Kern meines Themas. Jaspers’ Philosophie der Existenz enthält keine eigenständige philosophische Ethik, weder im Sinne eines abgetrennten TeiVgl. K. Jaspers, Von der Wahrheit. Philosophische Logik. Erster Band. München 1947, S. 235 ff.

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les eines philosophischen Systems noch im Sinne einer verselbstständigten philosophischen Disziplin. Die geschilderte Bewegtheit der philosophischen Frage, die der Bewegtheit der menschlichen Existenz entspricht, verlangt nach einer durch die philosophische Logik begründeten Systematik; aber sie verbietet die Endgültigkeit des Systems. Die Forderung einer solchen Systematik durchzieht das jasperssche Denken von seinen Anfängen an: von der Psychologie der Weltanschauungen bis hin zu dem zweiten philosophischen Hauptwerk Von der Wahrheit. Um eine eigentümliche Charakteristik handelt es sich bei diesem Fehlen einer eigenständigen Ethik im Blick auf die große philosophische Tradition der praktischen Philosophie von Aristoteles bis Kant. Aristoteles hat gegen die sokratisch-platonische Dialektik die Differenz zwischen theoretischem und praktischem Wissen herausgearbeitet und von hier aus eine eigenständige philosophische Ethik begründet. Kant hat unter spezifischen Bedingungen der Moderne diesen Gegensatz zu dem des Seins und des Sollens zugespitzt. Diese beiden Klassiker der Antike und der Moderne bestimmen wie wenige andere die zeitgenössische philosophische Diskussion um Grundfragen der Ethik. So eigentümlich es ist: Jaspers, der sich ausdrücklich der Tradition der kantischen Philosophie verpflichtet weiß, geht nicht diesen hier vorgezeichneten Weg eines grundlegenden philosophischen Dualismus von Theorie und Praxis. Gewiss ist er hierin nicht der einzige. Auch Heideggers Philosophie der Existenz, von ihm selbst um der Abgrenzung von vergleichbaren Positionen willen als Fundamentalontologie und Hermeneutik des Daseins bezeichnet, hat sich immer wieder die Frage nach dem Verbleib der Ethik gefallen lassen müssen. Das Fehlen einer Grundeinteilung der Philosophie in Theorie und Praxis sowie das Fehlen einer eigenständigen philosophischen Ethik hat eine ebenso lange und ebenso wirkungsmächtige Tradition wie die andere, die betont und methodisch zwischen Theorie und Praxis unterscheidet. Ich nenne, gerade im Blick auf Jaspers, die paradigmatischen Positionen: das sokratisch-platonische Philosophieren, die Ethik des Spinoza und schließlich und vor allem Nietzsche. Eine idealtypische Unterscheidung dieser Positionen könnte so aussehen: In den sokratisch-platonischen Dialogen hat jeder nichtethische Satz ethische Bedeutung. In Spinozas Ethik hat jeder dort formulierte Lehrsatz eine vorethische Bedeutung, indem er eine Gesetzesaussage über Gott, Welt und Mensch formuliert. In Nietzsches Schriften gibt es nur Sätze über Moral, und zwar so, dass diese ihres moralischen Anspruchs beraubt werden. 362 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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2. Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz – das bedeutet, dass hier die zuvor genannten paradigmatischen Beziehungen des Ethischen und des Nichtethischen bekannt und reflektiert sind. In einem gewissen Sinne sind alle Sätze seiner Philosophie ethisch geprägt. Die Ethik ist gewissermaßen überall in dieser Philosophie. Jaspers selbst hat dies bewusst artikuliert, indem er die Sprechweise der Philosophie als appellativ bezeichnet hat. 2 Die Philosophie macht nicht nur wie die Wissenschaft Aussagen über die gegenständliche Welt, sondern sie hat mit der menschlichen Wirklichkeit zu tun. Alle ihre Aussagen wenden sich auch an den Menschen in dieser seiner Wirklichkeit. Kant hatte zwei Anthropologien unterschieden, eine, die bestimmt, was der Mensch von Natur ist, und eine andere, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die den Menschen erforscht in dem, was er aus sich gemacht hat. 3 Jaspers’ appellatives philosophisches Denken hat nicht den Menschen zum Gegenstand der Erkenntnis, nicht den Menschen als Naturwesen und auch nicht als Kulturwesen. Ihm ist der Mensch die philosophische Grundfrage im Lichte der philosophischen Logik des Umgreifenden. Sie fragt nach ihm als Gegenstand und als Wirklichkeit und als Transzendenz. Die appellative Rede ist eine Rede geleitet vom Primat der philosophischen Frage und von der Vernunftidee der Freiheit, in der die menschliche Gegenständlichkeit, ihre Wirklichkeit und die Transzendenz in Bewegung gegeneinander bestimmt sind. Jaspers’ Denken ist von seinen wissenschaftlichen und philosophischen Anfängen an ethisch geprägt. Es bewegt sich in einer ethischen Atmosphäre. Diese Eigentümlichkeit hat immer wieder die Kritik an einem haltlosen Moralismus auf den Plan gerufen, manchmal berechtigt, aber im Grunde ohne diesem Denken gerecht zu werden. Jene ethische Dimension lässt sich schon in seinem großen wissenschaftlichen Standardwerk, der Allgemeinen Psychopathologie, entdecken, und zwar dort, wo es um die inhaltliche Abgrenzung im Gegenständlichen und um die methodische Abgrenzung von dem geht, was der Wissenschaft transzendent ist. Inhaltlich ist der Bereich der Psychopathologie von Jede existenzerhellende Äußerung ist als Appell und nicht als Seinsaussage zu verstehen. Vgl. K. Jaspers, Philosophie. 3 Bde. München 1932, dort Bd. II, S. 433. 3 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 7, (Akademie Ausgabe), Berlin 1907, S. 117–333. Hier: S. 119. 2

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dem der menschlichen Lebenswirklichkeit im Konkreten abgegrenzt, und hier entspringt auch die methodische Abgrenzung der Philosophie von der Wissenschaft der verstehenden Psychologie, in der es lediglich um das gegenständliche Verstehen menschlichen Verhaltens und nicht um die Erhellung der menschlichen Existenz geht. 4 Eine ethische Maxime aber liegt bereits der Methode des Verstehens in der Allgemeinen Psychopathologie zugrunde. Wenn wir die Fremdheit, um nicht zu sagen Befremdlichkeit psychopathischer Phänomene verstehen, so nicht zuletzt deswegen, weil wir in diesen immer eine Weise des allgemeinen, nichtkranken menschlichen Verhaltens wiedererkennen können und sollen. Das Ethos der Achtung und der Menschenwürde gilt bis in die Beobachtung und Beschreibung seelisch-geistiger Erkrankungen hinein. Auch in der Psychologie der Weltanschauungen – diesem Werk der jaspersschen Jugend zwischen Wissenschaft und Philosophie – sind die moralischen und ethischen Hintergründe nicht zu verkennen. Auch hier betreffen sie ebenso die gegenständlichen Gehalte wie die methodischen Voraussetzungen. Diese moralisch-ethischen Akzentuierungen beginnen in der genannten Schrift – im Übrigen eine der interessantesten Schriften von Jaspers überhaupt – mit den anthropologischen Grundprämissen. Der Mensch gilt hier als ein Wesen, dessen elementare seelische Kräfte sich in Aktivitäten des Wertens ausdrücken. Wertschätzend verhält sich der Mensch in der Welt zu den Dingen in der Welt, zu den Gegenständen und zu den anderen Menschen in ihrem Verhalten, insbesondere zu deren Wertverhalten. Damit ist eine moralische Prädisposition vorgegeben, die sich in allen erdenklichen Welteinstellungen Wirklichkeit verschaffen kann. Einen ethischen Akzent weist aber auch die Form der Darstellung der verschiedenen Welteinstellungen und Weltbilder des Menschen auf; überall dort, wo Jaspers in diesem Buch die Form der Systematik der Form des Systems kritisch entgegenstellt, 5 kommt ein Ethos zum Vorschein: nämlich das Ethos der Offenheit und der Selbstkorrigierbarkeit – ein Ethos, durch welches die Grenze zwischen der Wissenschaft der verstehenden Psychologie und der Philosophie der Existenzerhellung mitten hindurchgeht. Dieses Ethos und eben eine solche es durchziehende Grenze begegnen nun aber und nicht zuletzt Vgl. den Abschnitt »Existenzerhellung und verstehende Psychologie« in: K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913 (4. Aufl.), S. 648 f. 5 Vgl. etwa Jaspers Allgemeine Psychopathologie, S. 36 ff. 4

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in dem bekanntesten aller jaspersschen Begriffe, der inzwischen in die deutsche Alltagssprache Eingang gefunden hat: Ich meine den Begriff der Grenzsituation. 6 Wie viele jasperssche Begriffe gehört auch dieser in den gegenständlichen Bereich der verstehenden Psychologie und in die Wirklichkeitssphäre der philosophischen Existenzerhellung. Eine Grenzsituation ist dem Begriffe nach von einer Extrem- und Ausnahmesituation unterschieden, auch wenn keine endgültigen bestimmten Kriterien für eine gegenständliche Unterscheidung von anderen Weisen situativer Bedingtheit des menschlichen Verhaltens zur Verfügung stehen. In methodischer Hinsicht ist eine Grenzsituation immer eine Grenze der Möglichkeit gegenständlicher Unterscheidungen. Sie stellt eine Situation dar, in der es niemals nur um irgendwelche menschlichen Sach- oder Güterwerte geht. Es geht nicht einmal nur um die elementare physische Existenz des Menschen. Eine Grenzsituation bestimmt sich vielmehr dadurch, dass ein Mensch in einer solchen Situation die Fraglichkeit seiner menschlichen Existenz und damit die Fraglichkeit des Menschseins überhaupt zu spüren bekommt. In einer Grenzsituation steht der Mensch sich selbst in seinem individuellen Selbstsein und in seiner ins Universale weisenden Humanität auf dem Spiel. Weil es keine definitiven Kriterien für die gegenständliche Unterscheidung zwischen Grenzsituationen und anderen Situationen gibt, müssen auch die Exempla für Grenzsituationen, die Jaspers gibt, entsprechend gedeutet werden. Immer weisen die aufgeführten exemplarischen Situationen wie die der Krankheit, der Sterblichkeitserfahrung und des Schuldbewusstseins über das gegenständliche Verstehen hinaus. Dies gilt vor allem für die Grenzsituation der Schuld, der Schuldverstrickung. So bedeutsam für den Psychiater und verstehenden Psychopathologen die Phänomene eines unverhältnismäßigen und insofern krankhaft wirkenden Schuldbewusstseins sein mögen: Die Grenzsituation der Schuld macht in herausragender Weise deutlich, dass Grenzsituationen in den Bereich jenseits der Wissenschaften, in den der philosophischen Existenzerhellung fallen. Jaspers’ berühmter Essay Die Schuldfrage – bestimmend für die Debatte um die Schuldfrage der Deutschen angesichts der NS-Verbrechen – ist ein durch und durch

Zu diesem Begriff vgl. auch meinen Aufsatz »Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen zwischen Metaphysik und Erfahrung«. In: R. Wiehl, Subjektivität und System. Frankfurt am Main 2000, S. 271–292, hier: S. 289 ff.

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ethisch-politischer, ein philosophischer Traktat im Dienste der Existenzerhellung und der existenziellen Kommunikation. 7 Eine Grenzsituation ist demnach nicht bzw. niemals nur eine Situation innerhalb eines Geschehens, welches Gegenstand einer Historie werden kann. Sie bildet vielmehr den Ursprung einer ausgezeichneten Frage: nämlich der Frage nach dem Menschsein, in der der einzelne Mensch mit dem eigenen Sein konfrontiert ist. Insofern ist die Grenzsituation der Ursprungsort der philosophischen Frage, soweit diese unter der Voraussetzung des Primats der Frage vor der Antwort nach dem Sein des Menschen fragt; wohlgemerkt: nicht nach dem Sein als solchem, sondern nach dem menschlichen Sein. In der Grenzsituation entspringt zugleich mit der philosophischen Fragestellung der appellative Duktus der Philosophie. Es ist die Grenzsituation, die den betroffenen Menschen nicht nur zur Frage herausfordert. Auch die Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist in dieser Herausforderung enthalten. Die hier sich abzeichnende Idee der Philosophie hat Jaspers nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche gewonnen. Diese zieht sich durch sein ganzes philosophisches Werk, von der Psychologie der Weltanschauungen, deren philosophischer Boden der von Nietzsche proklamierte Nihilismus ist, bis hin zu den von Hans Saner aus dem Nachlass edierten Notizen zu Martin Heidegger, die belegen, in welchem Ausmaß die kritische Auseinandersetzung mit dem einen Denker immer zugleich auch kritische Auseinandersetzung mit dem anderen war. Dies gilt nicht zuletzt für sein »wissenschaftliches« 8 Buch über Nietzsche (1936), welches nach Jaspers’ eigenen Worten bewusst gegen die missbräuchliche Inanspruchnahme des Vordenkers des 20. Jahrhunderts durch die Ideologen des Nationalsozialismus geschrieben war. Jaspers’ Nietzsche-Buch will Interpretation sein. In dieser gehen Identifikation und bewusste »Aneignung« Hand in Hand mit kritischer Distanzierung und mit einer betonten Bemühung, den eigenen philosophischen Gedankenraum freizulegen. So werden die mitgebrachten eigenen philosophischen Voraussetzungen ausdrücklich benannt. Zu diesen gehört die ständige Berufung auf die UnVgl. dazu meinen Aufsatz »Moralische Verantwortung – privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluss an Karl Jaspers’ Essay über Die Schuldfrage«. In diesem Band S. 345 ff. 8 So laut Jaspers das Lob Rickerts. Vgl. Jaspers Philosophische Autobiographie. München 2 1984, S. 40. 7

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terscheidung des späten Schelling zwischen negativer und positiver Philosophie, 9 die als Messlatte der kritischen Beurteilung nietzscheanischer Argumente dient und hinter der sich Jaspers’ eigene philosophische Logik verbirgt. Diese wird explizit bemüht in Gestalt der Grundeinteilung der Darstellung der Anthropologie des Philosophen Nietzsche, nämlich in Gegenständlichkeit, Wirklichkeit und Transzendenz. Mit dieser Einteilung kommt auch das Zusammenspiel von Wissenschaft, Philosophie und Religion direkt und indirekt in die Darstellung hinein, vor allem das Grundgefüge der beiden erstgenannten Aktivitäten: Wissenschaft und Philosophie. Ungeachtet seiner betonten Selbsteinschätzung als Psychologe ist Nietzsche für Jaspers in erster Linie philosophischer Denker. Die Frage gilt dem Sein des Menschen, wo nach der Moral gefragt wird, und dem Sein der Wahrheit, wo nach dem Menschen gefragt wird. Unser Thema »Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz als Ethik« durchzieht wie ein roter Faden seine Interpretation des nietzscheanischen Denkens. So ist diese Interpretation auch als solche vom Duktus eines appellativen Philosophierens getragen. Nietzsches »philosophische Anthropologie« – dies besagt, dass der Mensch zuerst einmal Gegenstand eines wissenschaftlichen Wissens ist. Aber die bestimmende Wissenschaft ist nicht die naturwissenschaftliche Biologie, sondern die verstehende Psychologie mit dem ihr innewohnenden humanen Ethos. Allein durch die Privilegierung dieser verstehenden Wissenschaft hinsichtlich der Anthropologie vollzieht sich die unmissverständliche Absage der jaspersschen Deutung an jeden erdenklichen Rassismus und Naturalismus. Aber zugleich ist diese Wissenschaft vom philosophischen Denken getragen, dem sich die kritische Einschränkung einer soziologischen Perspektive verdankt. Das Zusammenspiel von verstehender Psychologie und Philosophie zeigt sich besonders eindrucksvoll in Jaspers’ Deutung der berühmt-berüchtigten Definition des Menschen als des »nicht festgestellten Tieres«. Diese Definition bildet hier keine Prämisse für eine empirische Anthropologie, die wie etwa bei dem Soziologen Arnold Gehlen scheinbar zwingende Schlussfolgerungen auf das menschliche Verhalten erlaubt, angefangen mit dem Wahrnehmungsverhalten 10 und endend mit dem Vgl. besonders K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin 3 1950, S. 119 ff. 10 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Teil II: 9

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Bedürfnis nach institutioneller Verhaltensstabilisierung. 11 Jene Definition ist überhaupt nicht von erkenntnistheoretischem Status, der kausal-genetische Erklärungen erlaubt. Es geht bei jener »Definition« überhaupt nicht um ein Prinzip der Erklärung, weder um ein Prinzip naturwissenschaftlicher noch um ein Prinzip soziologischer Erklärungen. Vielmehr handelt es sich um ein Prinzip des Verstehens, welches sich zunächst und vorläufig Psychologie und Philosophie ihrer Erkenntnis des Menschen teilen. Was durch das Prinzip jener Bestimmung dem Verstehen zugänglich werden soll, ist die extreme psychische Wandlungsfähigkeit des Menschen: seine Sensibilität in der psychischen Reaktion auf wahrgenommene Veränderung psychischer Sachlagen, eine Differenziertheit in der Selbstmodifikation seines psychischen Zustands. Im Wechselspiel zwischen den unterschiedlichsten Affekten und Emotionen, in der Technik der Substitution eines Affekts durch einen ganz anderen, in der unwillkürlichen Stärkung und Schwächung der Trieb- und Willensregungen und vor allem im undurchsichtigen Maskenspiel, in dem ein missliebiger Affekt sich hinter einem »hoffähigen« versteckt, so zum Beispiel der Neid hinter der Fürsorge, der Hass hinter der Liebe – in all diesen Phänomenen der psychischen Wandelbarkeit wird ein Grundzug der Moralkritik erkennbar. Die psychischen Phänomene im Verhalten dieses nicht festgestellten Tieres Mensch reichen von den Mechanismen der Anpassung und der Sublimierung bis hin zu den bewussten Strategien der Selbsttäuschung und der abgründigen Unwahrhaftigkeit gegenüber dem eigenen Selbst und gegenüber dem Bewusstsein der anderen Menschen.

3. Aber auch die ergänzende Bestimmung des Menschen als Tier – als nicht festgestelltes Tier – ist nicht biologisch, nicht zoologisch, sondern psychologisch und philosophisch zu verstehen. Die Vergleichung von Mensch und Tier, die Bestimmung des Ersteren als »wahnsinnige trau-

Wahrnehmung, Bewegung, Sprache. In: Ders., Gesamtausgabe Bd. 3.1, hg. von KarlSiegbert Rehberg, Frankfurt am Main 1993, S. 149–385. 11 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Teil I: Institutionen. Bonn 1956, S. 7–137.

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rige Bestie,« 12 als »das grausamste Thier« 13 – dies besagt: Der Mensch ist bestimmt als Nichttier. Diese verneinende Bestimmung verlangt nach Ergänzung durch eine positive. Aus Jaspers’ Sicht bewegt sich Nietzsches Erkundungsreise durch das Meer der psychischen Unendlichkeit keineswegs »jenseits von gut und böse« in einem wertfreien Raum gegenständlicher Objektivität. Enttäuschte Liebe, in der sich Achtung vor der Würde des Menschen mit Verachtung der menschlichen Realität mischen, begleiten vielmehr jenes Forschungsunternehmen. Die negative Bestimmung des Menschen als Nichttier gibt den Hinweis auf die positive Bestimmung desselben als Selbstsein und als Selbstbewusstsein. Auch diese Bestimmungen sind keine rein philosophischen Bestimmungen, sondern menschliche Attribute, im Blick auf die sich die geschilderte Bewegung zwischen Psychologie und Philosophie wiederholt. Philosophisch wird diese Bestimmung, sofern sie den Menschen als dasjenige Wesen bestimmt, das sich selbst hervorbringt. Mit dieser Bestimmung ist der eigentliche Boden der Moral betreten. Zwischen der Selbstschöpfung des Menschen und der Schöpfung der Moral besteht ein direkter Zusammenhang, den Nietzsche in seiner Destruktion der Moral methodisch anwendet. Jaspers’ Nietzsche-Interpretation zeigt sich in diesem Punkt als Bemühung, Nietzsche mit seinen eigenen logisch-psychologischen Waffen zu schlagen. Die radikale Destruktion der Moral ist in Sachen Moral nicht das letzte Wort. Eine Destruktion kann niemals das letzte Wort sein. Die reine Destruktion mittels des Denkens beruht auf Voraussetzungen; und immer wird an der vermeintlichen Leerstelle eine neue menschliche Möglichkeit sichtbar. Die »Genealogie der Moral« ist nicht nur eine wissenschaftliche Erklärung der Entstehung moralischer Werte aus vormoralischen Gegebenheiten. Eine solche Genealogie bringt unwillkürlich neue Bewertungen der genetisch erklärten ursprünglichen Werte hervor. Diese Wirkung der Genealogie der Moral über die wissenschaftliche Erklärung hinaus ist aber die Wirkung eines rhetorischen Effekts, nicht die Folge einer philosophischen Begründung. Die rhetorischen Wirkungen der Abwertung genealogisch erklärter Wertbildungen sind nicht zwin12 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes, Nr. 22. In: Ders., Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/ Berlin/New York 2 1988, S. 245–412. Hier: S. 332. 13 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Dritter Theil. Der Genesende, Nr. 2. In: Ders., KSA Bd. 4. , S. 273.

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gend. Für die Verknüpfung des menschlichen Daseins mit der Moral bedeutet dies unter der Bedingung, dass der Mensch ein schöpferisches Wesen im Blick auf ihn selbst ist: Der Mensch ist es, der in seinem Grundwert als Mensch unberührt bleibt oder bleiben kann, auch wenn er die Moral psychologisch-philosophisch versuchsweise der Destruktion aussetzt. Die Destruktion ist nicht rein wissenschaftlichen Charakters. Sie ist philosophisch orientiert und dient der Eröffnung neuer Freiheitsmöglichkeiten des Menschen. Nietzsches Bestimmung des »Übermenschen« ist in Jaspers’ Interpretation das Symbol, die Chiffre für die Möglichkeit menschlicher Freiheit, die eine vorgegebene Moral zugunsten vertiefter und höherer Menschenwerte zu überwinden vermag. Der Wert des Menschen – dies liest Jaspers in Nietzsches radikale Wertkritik hinein – ist so hoch zu veranschlagen, dass dieser immer fähig bleibt zur Verbesserung der Moral. Aus Jaspers’ Sicht ist die Möglichkeit menschlicher Freiheit darauf gegründet, dass die Inanspruchnahme eines Unbedingten in der unbedingten Kritik der Moral immer unübersehbar bleibt: dass gerade im Bereich der Sittlichkeit der Mensch mit sich selbst immer noch höher hinaus will. Die Transformation der Destruktion der Moral in die Freilegung ursprünglicher menschlicher Möglichkeiten vollzieht sich in Jaspers’ Denken im Blick auf den Grundwert der Wahrheit. Hier lässt sich wie nirgends sonst zeigen, dass die Kritik an diesem Grundwert, so insbesondere an seinem instrumentellen Gebrauch und Missbrauch, nur die Geltungsansprüche an die Wahrheit steigert und einen vertieften Wahrheitsbegriff zu finden ermöglicht. In Nietzsche findet Jaspers die neuen Tugenden der Redlichkeit und der Gerechtigkeit auf die Bestimmung der Wahrheit gegründet. Um endgültig den Schritt vom Interpreten Jaspers zum Philosophen Jaspers zu tun: Seine Philosophie der Existenz ist Ethik, indem sie ihren Ursprung in der Wahrheit sucht. Die Wahrheit ist es, die den Ursprung der menschlichen Existenz ausmacht; und die Wahrheit ist es auch, in der die freie Verantwortlichkeit ethisch-rechtlichen und politischen Handelns entspringt. Die Grundbegriffe der jaspersschen Philosophie, die der Existenzerhellung und der existenziellen Kommunikation, sind aus dem Ursprung der Wahrheit gedacht. Auch für die Wahrheit gelten die Prinzipien der philosophischen Logik. Eines ist die Wahrheit gegenständlichen Wissens, ein anderes die Wahrheit der menschlichen Wirklichkeit als Möglichkeit der Freiheit, und wieder etwas anderes die Wahrheit der Transzendenz, in der die Grenzen gegenständlichen Wissens und der Wirklichkeit des 370 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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Handelns überschritten werden. In dieser Transzendenz ist der Glaube der Vernunft wirksam, der sich nicht in gegenständlichen Bezeichnungen, auch nicht in Zeichen (Signa) existenzieller Bedeutsamkeit, sondern in einer Sprache der Chiffren zum Ausdruck bringt, die dem Menschen ein Jenseits seiner Begrenztheit ahnungsweise andeuten. Die philosophische Wahrheit umgreift diese verschiedenen Wahrheiten. Sie ist die Bewegung der Unterscheidung und der Abgrenzung dieser unterschiedenen Wahrheiten und ihres jeweils spezifischen sprachlichen Ausdrucks. Die philosophische Wahrheit umgreift als solche auch die Wahrheit der menschlichen Existenz. Aber zugleich zeigt sie ihren Ursprung in dieser Existenz. Die menschliche Existenz hat ihren Ursprung in der Wahrheit; und aus dieser Wahrheit entspringt die Wahrheit der Philosophie. Damit komme ich zum Schluss meiner Betrachtungen über Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz als Ethik. Indem die Wahrheit den Ursprung der menschlichen Existenz bildet, bildet sie den Ursprung menschlicher Freiheit, menschlicher Gewissenhaftigkeit und damit einer ethisch-politischen Verantwortlichkeit des Handelns. Insofern stellt die Wahrheit den gemeinsamen Ursprung der Philosophie der Existenz und der Ethik dar. In seiner philosophischen Lehre von der Wahrheit als Ursprung gibt Jaspers seine eigene positive Antwort auf die negative Seite von Nietzsches Destruktion der moralischen Werte. Die Wahrheit stellt letztlich jenen unbedingten Wert dar, der das Maß und das Kriterium jeder möglichen Moralkritik bildet. Und diese Wahrheit als Ursprung der menschlichen Existenz ist die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Selbstfindung und ethisch begründeter Gemeinschaftsbildung. Aber noch in einem zweiten Gedankenzug vollzieht sich Jaspers’ Überwindung des nietzscheanischen Destruktivismus. Es ist dies der Gedanke der Kommunikation. Vereinzelte menschliche Existenz und existenzielle Kommunikation gehören untrennbar zusammen. Der Ursprung der Wahrheit gestaltet sich in dieser Zusammengehörigkeit zur Wahrhaftigkeit. Die menschliche Existenz muss in ihrer absoluten Einsamkeit stumm und sprachlos bleiben. In ihrer Vereinsamung geht sie auch der Fähigkeit des Fragens verlustig. Sie verliert die Ursprünglichkeit des Fragens nach dem eigenen Sein und nach dem Menschsein. Jaspers’ berühmter Terminus der Existenzerhellung bindet die menschliche Existenz und die Wahrheit zusammen. Existenzerhellung ist Existieren unter Bedingungen der Wahrheit und der Verwirklichung von Wahrheit. Diese Existenz aber ist an die Bedingung einer Kommunika371 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

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tion gebunden, die Jaspers als existenzielle ausgezeichnet hat. Wie gesagt: Existenzerhellung und existenzielle Kommunikation gehören zusammen. So wie die erstere ihre Wahrheit erst durch die letztere gewinnt, so diese durch jene. Existenzerhellung und existenzielle Kommunikation bilden in transzendentalphilosophischer Redeweise Bedingungen ihrer wechselseitigen Möglichkeit, zugleich aber auch Voraussetzungen der Wirklichkeit, der Wahrhaftigkeit aus dem Ursprung der Wahrheit. Im Zusammenspiel der Wahrheiten des Umgreifenden entspringt das zuvor besprochene Ethos der Offenheit und der Differenziertheit in der Systematik ursprünglicher Unterscheidungen. Die Gültigkeit dieser Wahrheiten erstreckt sich auf das gegenständliche Wissen, die Wirklichkeit menschlichen Handelns aus Freiheit und auf die Deutungsmöglichkeiten der Chiffren der Transzendenz. Jaspers’ Philosophie der Existenz kommt ohne das Pathos der Einsamkeit aus, das in so vielen an Nietzsche anknüpfenden Texten dieser Form der Philosophie der Existenz begegnet. Anstelle jenes Pathos haben wir in seiner Philosophie nicht selten zu tun mit einem Pathos des Scheiterns, entspringend aus der Endlichkeit des Menschen und der mit diesem gegebenen Unmöglichkeit, sich der Wahrheit des Umgreifenden ganz und vollständig zu bemächtigen. Die Philosophie der existenziellen Kommunikation kann als eine Erneuerung der Philosophien der Antike und der neuzeitlichen Aufklärung von der Freundschaft gelesen werden. In dieser Bewegtheit menschlichen Verbundenseins werden die kostbarsten Werte des Menschseins versammelt: Liebe und Zuwendung, vorbehaltlose wechselseitige Anerkennung der Gleichberechtigung, schonungslose Aufrichtigkeit. Diese Werte bilden die Bedingungen einer möglichen Verwirklichung einer solchen Kommunikation. Aber sie sind nicht nur solche Bedingungen. Sie bilden zugleich die Voraussetzungen ihres eigenen erhöhten Daseins durch die Grundbestimmung dieser Kommunikation: die vorbehaltlose Wahrhaftigkeit. Diese nimmt den genannten Werten jeden möglichen trügerischen Anschein bloßen vitalen Eigeninteresses und gesellschaftlicher Konventionalität. Mit der antiken und der neuzeitlichen Ethik der Aufklärung teilt Jaspers’ Philosophie der Freundschaft die ethisch-politische Bedeutung. Sie ist eine Philosophie des modernen, des zeitgenössischen Bewusstseins dadurch, dass sie zwischen der existenziellen Kommunikation und der Existenzerhellung die geschilderte ursprüngliche wechselseitige Bedingtheit einfordert. Die existenzielle Kommunikation verlangt 372 https://doi.org/10.5771/9783495860779 .

Karl Jaspers Philosophie der Existenz als Ethik

nicht nur vorbehaltlose Offenheit im menschlichen Miteinander und Gegeneinander, sondern auch im Verhältnis des einzelnen Menschen zu sich selbst. Die eine Wahrhaftigkeit fordert die andere. Jaspers hat die existenzielle Kommunikation am besten in der Zweisamkeit verwirklicht gesehen, ohne diese Form der Gemeinschaft absolut zu setzen. Überhaupt ist die existenzielle Kommunikation keine bloße Idee, kein abstraktes Ideal. Sie ist transzendentale Idealität ebenso wie mögliche empirische Realität. Sie ist kein leeres freischwebendes Reden, so wenig wie ein entsprechendes quasibedeutsames Schweigen. Sie verwirklicht sich in sachhaltigen und in persönlichen Auseinandersetzungen. Sie ist alles andere als eine weltanschauliche Gemeinschaft. Sie steht im schroffsten Gegensatz zu Gemeinschaftsbildungen, die durch Ideologien zusammengehalten werden. In dieser Absage und Gegensätzlichkeit liegt eine ihrer vorrangigen moralisch-kritischen Funktionen. Nietzsches Andeutungen einer neuen Moral, einer »Fernstenethik«, die sich einer vermeintlich traditionellen Nächstenethik entgegensetzt und anstelle von Nähe Distanz fordert, 14 hat bereits eine komplexe Wirkungsgeschichte. Heideggers Beiträge zur Philosophie 15 mit ihrer Wendung zur Seinsgeschichte ins Zukünftige gehört hierher, aber auch das in Deutschland so viel beachtete Buch von Hans Jonas über das Prinzip Verantwortung, 16 in dem die gegenwärtige Generation auf ihre Verantwortung für kommende Generationen verpflichtet wird. Jede philosophische Ethik verbindet im Grunde durch ihren Universalitätsanspruch Nächsten- und Fernstenethik miteinander. Das Problem der Differenz von Nähe und Ferne liegt nicht im Geltungsanspruch des Sollens in seiner Universalität, sondern in seiner Verwirklichung und in dem Bewusstsein der Verantwortung für diese Verwirklichung. Der schon erwähnte jasperssche Essay über die Schuldfrage ist im Blick auf seine Unterscheidung zwischen moralischer und metaphysischer Schuld auch unter diesem Gesichtspunkt des Problems der Differenz von Nächstenethik und Fernstenethik zu lesen. Jaspers’ Philosophie der Existenzerhellung und der existenziellen Kommunikation wäre missverstanden, würde man in ihr lediglich eine Absage an die Idee 14 Vgl. etwa Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. [Erster Teil.] Von der Nächstenliebe. KSA 4, S. 77–79. 15 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). In: Ders., Gesamtausgabe Bd. 65, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2 1994. 16 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979.

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III. Ethik

einer Fernstenethik sehen. Die ethisch-politische Dimension dieser Philosophie ist nicht so sehr an den Differenzen von Natur und Gesellschaft sowie von Nähe und Ferne orientiert als vielmehr an der gesellschaftspolitischen Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit. In der unauflösbaren Spannung zwischen der Einsamkeit des menschlichen Selbst und der Zweisamkeit seiner Kommunikation mit einem anderen menschlichen Selbst erfüllen sich die Grundwerte der menschlichen Existenz in äußerster Subtilität. Aber in dieser einzigartigen Verbindung von Subjektivität und Intersubjektivität in Gestalt der existenziellen Kommunikation, in der Auseinandersetzung von Einsamkeit und Zweisamkeit, befinden wir uns nicht am Ende der Welt, nicht an den Grenzen der Menschheit. Die hier sich ausbildende Privatsphäre hat ihren Ort inmitten der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit des öffentlichen Lebens. Die existenzielle Kommunikation stellt ein Urelement der sittlichen Verfassung des Menschen dar. Als ein solches bildet sie auch eine unverzichtbare Voraussetzung sittlich-rechtlich verfasster Gemeinwesen, die sich auf die allgemeinen Grundrechte des Menschen und deren Achtung verpflichten.

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Nachweis der Erstdrucke

Vernunft als Kanon, Organon und Kathartikon des allgemeinen Verstandes. In: D. Henrich und H. Wagner (Hrsg.), Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. Frankfurt am Main (Klostermann) 1966, S. 327–365. Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre. Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. Hamburg. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) Jahrgang 1. Heft 4. 1982/83. Spinoza und das psychophysische Problem. In: K. Hammacher, I. Reimers und M. Walter (Hrsg.) Zur Aktualität der Ethik Spinozas. Medizin/Psychiatrie – Ökonomie – Recht – Religion. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2000, S. 173–194. Spinozas metaphysische Affektenlehre – eine Ethik ohne Subjekt? In: J. Stolzenberg (Hrsg.), Subjekt und Metaphysik. Konrad Cramer zu Ehren. Aus Anlass seines 65. Geburtstags. Göttingen 2001, S. 29–40. Das Leiden des Menschen an der inneren Unfreiheit. In: Festschrift aus Anlass der Verleihung des Dr. Margrit Egnér-Preises 1990. Zum Thema homo patiens. Dr. Margrit Egnér-Stiftung Zürich. 15. 11. 1990. Privatdruck. S. 17–32. Von der menschlichen Trägheit. Zur Frage der inneren Unfreiheit des Menschen. In: Die Macht der Freiheit. Jeanne Hersch zum 80. Geburtstag. Hrsg. Von Annemarie Pieper. Zürich (Benziger) 1990. S. 107–121. Psychodynamik als Metaphysik und als wissenschaftliche Psychologie. Überlegungen zum Verhältnis von Emotionalität und Subjektivität. In: M. Czelinski (u. a. Hrsg.) Transformation der Metaphysik in die Moderne. Festschrift für Manfred Walther. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2003, S. 52–63. Determination und menschliche Freiheit in Spinozas Ethik. In: U. an der Heiden und H. Schneider (Hrsg.), Hat der Mensch einen freien

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Nachweis der Erstdrucke

Willen? Die Antworten der großen Philosophen. Stuttgart (reclam) 2007, S. 142–156. Lebensgefühl und Gefühlsleben. Vorbetrachtungen zu einer philosophischen Theorie der Gefühle. In: H. Radermacher, P. Reisinger und J. Stolzenberg (Hrsg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer. Stuttgart (Klett-Cotta) 1989, Bd. 2. S. 77–95. Die Wertung der Gefühle. Zur Hermeneutik des Gefühlslebens. In: M. Großheim (Hrsg.), Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie. Berlin (Akademie Verlag) 1995. S. 87–97. Selbstgefühl als ursprüngliches Selbstsein. Affekte in der Philosophie des Psychischen. In: D. Quadflieg (Hrsg.), Selbst und Selbstverlust. Psychopathologische, neurowissenschaftliche und kulturphilosophische Perspektiven. Berlin (Parodos) 2008, S. 169–186. Schmerzausdruck und Schmerzverhalten. In: Marcus Schiltenwolf und Wolfgang Herzog (Hg.), Die Schmerzen. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2011, S. 35–54. (Bd. 7 der Beiträge zur Medizinischen Anthropologie, Reihenherausgeber: Dieter Janz, Ernst U. von Weizsäcker, Reiner Wiehl) Nietzsches Antiplatonismus und Spinoza. Zuerst als: L’Antiplatonisme de Nietzsche. Hommage a Pierre Aubenque. In: Hermèneutique et ontologie. Publiès sous la Direction de R. Brague et J.-F. Courtine. Presses Universitaires de France 1990. S. 275–29. Grenzsituation und ethische Wertebildung. In: H. A. Kick (Hrsg.), Ethisches Handeln in den Grenzbereichen von Medizin und Psychologie. Münster (LIT) 2002, S. 24–34. Menschenwürde in Grenzsituationen. In: K. Gahl, P. Achilles und R.M. E. Jacobi (Hrsg.), Gegenseitigkeit. Grundfragen Medizinischer Ethik. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2008, S. 373–390. Moralische Verantwortung – privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluss an Karl Jaspers’ Essay über Die Schuldfrage. Maria-Sibylla Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht. Baden-Baden (Nomos) 1999, S. 96–106. Karl Jaspers’ Philosophie der Existenz als Ethik. Vortrag, gehalten zur Eröffnung des internationalen Symposiums »Karl Jaspers. Filosofia, esistenza e comunicazione« (Neapel, 6. bis 7. Dezember 1999). Vgl. Reiner Wiehl, La filosofia dell’esistenza come etica in Karl Jaspers. In: D. Di. Cesare/G. Cantillo (Ed.), Filosofia, esistenza, comunicazione in Karl Jaspers. Neapel 2002, S. 25–40.

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