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German Pages 212 [216] Year 1990
Manfred Leber Vom modernen Roman zur antiken Tragödie
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von
Stefan Sonderegger
93 (217)
W DE G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1990
Vom modernen Roman zur antiken Tragödie Interpretation von Max Frischs „Homo Faber" von
Manfred Leber
W DE
_G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1990
CIP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Leber, Manfred: Vom modernen Roman zur antiken Tragödie : Interpretation von Max Frischs „Homo faber" / von Manfred Leber. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F., 93 = 217) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1988 ISBN 3-11-012240-5 NE: GT
D 25 ISSN 0481-3596 © Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin 61
Für Monika
Vorwort Die Arbeit wurde von der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert. Außerdem gewährte die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften einen Druckkostenzuschuß. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Gerhard Kaiser. Den ersten Entwürfen gab er eine Chance. Mit Kritik und Ermunterung unterstützte er ihre weitere Ausarbeitung. Für wertvolle Hinweise möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Willi Erzgräber danken. Köln, im April 1990
Manfred Leber
Inhalt Vorwort Einleitung 1. Der Kommentar des Autors 2. Gang der Interpretation I. Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne 1. Grundlagenwerke der geschichtsphilosophischen Romantheorie: Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik" und Lukács' „Die Theorie des Romans" 2. Die Weiterentwicklung der Romantheorie im Hinblick auf den modernen Roman 3. James Joyces „Ulysses" 4. Die Transzendierung des Romans im „Homo faber". Expositorischer Ausblick
VII 1 1 6 9
9 13 16 18
II. Das Totalitätsversprechen der modernen Technik 1. Die Technikdiskussion der 50er Jahre 2. Die Rezeption der Technikdiskussion in der wissenschaftlichen Literatur zum „Homo faber" 3. Das sekundäre System 4. Die Super-Constellation 5. Prometheische Scham? 6. Der technische Humanismus 7. Der technische Humanismus als vollendete Metaphysik . . 8. Eros und Technik
29 31 43 48 51 53 57 64 65
III. Der Weg ins Offene 1. Die Logik des modernen technischen Systems a) Erste Einbrüche in die vermeintliche Ich-Welt-Totalität b) Entwurf einer Theorie der neuen Erfahrung von Technik c) Die moderne Technik als totale Kommunikation d) Die andere Bedeutung der Technik
73 75 75 81 82 87
χ
Inhalt
2. Die Logik des modernen technischen Menschen a) Die aufrechterhaltene Zielvorstellung von einem abschließbaren System b) Die Widerlegung der Technikerlogik: Von der abgehobenen Welt der Herren zur bestürzenden Erfahrung des Offenen c) Zufall oder Schicksal? 3. Die Konvergenz wissenschaftlicher und mythischer Referenzsysteme a) Durch wissenschaftliche Arbeit zu mythischer Wahrheit b) Der Dämon der griechischen Tragödie c) Der Wärmesatz und die Idee des Maxwell'schen Dämons d) Die Thermodynamik als Verstehenshorizont e) Moderne Technik und ursprüngliche Natur im Übergang f) Die alte Mayakultur und die moderne Lebenswelt des Homo faber 4. Die Verkehrung technischer Ordnungssucht in inzestuöse Konfusion a) Die Rückkehr aus dem Urwald b) Die Ausgrenzung der Frau als Inbegriff des Anderen c) Die besondere Stellung der Tochter zwischen Ausgrenzung und Vereinnahmung d) Inzest als tragische Konsequenz e) Die vermeintliche Naturkatastrophe als tragisches Versagen des Menschen 5. Aspekte der Wandlung in der .Zweiten Station' a) Das Erinnern von Vergessenem und die Konsequenz neuen Verhaltens b) Der analytische Schreibprozeß c) Das ekstatische Erleben erhellender Durchbrüche . . . . d) Die Verwandlung von Erinnyen in Eumeniden als neue Fortschrittsutopie IV. Vom modernen Ge-stell zur tragischen poiesis 1. Gestell und Ge-stell 2. Die Dämonie der Technik und der Götter 3. Die Hermes-Baby 4. Das Befreiende der tragischen poiesis
89 89
93 99 101 101 103 107 111 116 120 124 124 128 130 134 138 146 146 151 154 161 171 171 173 177 182
Inhalt
XI
Ausblick: Die Geschichte tragischer Dichtung in neuer Sicht . . . 185 Literatur
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Personenregister
197
Sachregister
199
Einleitung 1. Der Kommentar des Autors A n l ä ß l i c h einer R u n d f u n k l e s u n g seines „ H o m o f a b e r " spricht Frisch f o l g e n d e einleitende W o r t e :
Max
Homo Faber — der Macher-Mensch, Gegenteil dessen, der dichtet oder betet, der Mensch, der den Göttern das Feuer entrissen hat und sich als Schmied seiner eigenen Welt weiß, der Mensch als Herr über die Natur, der in der Natur nicht Symbole sieht, sondern Material, das er verwertet: Wälder als Bauholz, Wasserfälle als Elektrizität — mit einem Wort: ein Techniker, ein Typus unseres Zeitalters, berichtet hier die letzten Stationen seines Lebens, das, auch wenn er es lange nicht erkannt, nichts anderes als eine antike Tragödie ist. Inzest ist der Ausdruck seines Verhaltens in der Schöpfung überhaupt. Sein Ton des laxen „understatements", das oft genug mehr verrät als er selber weiß, erweist sich als Maske; der Mann, der unentwegt bestreitet, daß es Schicksale gibt, und dessen Bibel (denn ganz ohne Bibel kommt er auch nicht aus), die Wahrscheinlichkeitslehre ist, entdeckt erst angesichts der Katastrophe seine Techniker-Blindheit, sterbend preist er das Leben. 1 D e r A u t o r stellt seinen R o m a n h e l d e n als einen „Typus unseres Zeitalters" v o r . G l e i c h z e i t i g charakterisiert e r ihn als den H e l d e n einer uralten Gattung: der Tragödie im ursprünglichen Sinn der exemplaria Graeca. S c h o n die A u s s a g e „ d e r M e n s c h , d e r den G ö t t e r n das F e u e r entrissen hat u n d sich als S c h m i e d seiner eigenen W e l t w e i ß " , spielt a u f den W i l l e n zu p r o m e t h e i s c h e r S e l b s t b e h a u p t u n g an, d e r f ü r den H e r o s d e r g r i e c h i s c h e n T r a g ö d i e k e n n z e i c h n e n d ist. A u f diesem H i n t e r g r u n d erscheint die m o d e r n e H a l t u n g , die in der N a t u r n u r n o c h v e r w e r t b a r e s M a t e r i a l sieht, d e m W e s e n n a c h w e n i g e r e t w a s N e u e s zu sein als die V o l l e n d u n g v o n e t w a s , w a s i m K e r n bereits in d e r H y b r i s des antiken T r a g ö d i e n h e l d e n a n g e l e g t ist. E n t s p r e c h e n d m ü ß t e sich das L e b e n des P r o t o t y p s jener m o d e r n e n H a l t u n g i m spezifischen S i n n d e r alten 1
Zitiert nach Reinhold Viehoff, „Max Frisch für die Schule. Anmerkungen zur Rezeption und Verarbeitung des ,Homo faber' in der didaktischen Literatur", in: Der Deutschunterricht 36 (1984), H. 6, 70—83, dort 70. — Zur weiteren hier verfolgten Zitierweise Frischs: Die Seitenangaben zum „Homo faber" beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe: Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1977. Sonstige Frisch-Zitate beziehen sich auf: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, hg. Hans Mayer unter Mitw. v. Walter Schmitz, Frankfurt a. M. 1976—1986; die römische Ziffer bezeichnet den Band, die arabische Ziffer die Seite.
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Einleitung
Tragödienentwürfe als Schicksal bewahrheiten. Genau dies scheint auch die zentrale Aussage von Frischs Selbstkommentar bestätigen zu wollen: ein Techniker, ein Typus unseres Zeitalters, berichtet hier die letzten Stationen seines Lebens, das, auch wenn er es lange nicht erkannt, nichts anderes als eine antike Tragödie ist.
Allerdings läßt diese zentrale Aussage auch schon die Einschränkung anklingen, daß im vorgestellten Fall das Medium, in dem ein im antiken Sinn tragisches Schicksal zur Sprache kommt, sich gegenüber der Antike verändert hat: dort bekanntlich eine noch ganz im Kult des Dionysos verankerte Inszenierung, ein religiöser Ritus, hier nun schlicht und einfach ein Bericht. Während in der griechischen Tragödie auch formal alles auf das Walten einer übermenschlichen Ordnung verweist 2 , ist solch eine Verweisungsfunktion im Bericht als einer typischen Mitteilungsform unserer Zeit nicht vorgesehen. Deren prosaischer, auf schnelle Überschau- und praktische Verwertbarkeit hin ausgerichteter Sprachgebrauch versteht sich ganz im Gegenteil als Funktion eines rein menschlichen Ordnungssinns. Die Wahrheit der Tragödie aber bestätigt sich gerade im Zerbrechen all dessen, was das Streben des Menschen nach einer für ihn selbst überschau- und beherrschbaren Ordnung aufgebaut hat 3 . Im Spektrum der literarischen Gattungen ist somit zunächst einmal kein größerer Abstand denkbar als der zwischen zeitaktuellem Bericht und griechischer Tragödie. Eine innere Affinität besteht hingegen zwischen der Gattung des Berichts und dem Roman als jener Gattung, der nach Lukács' „Die Theorie des Romans" die moderne Auffassung zugrundeliegt, daß der Mensch „alleiniger Träger der Substantialität" sei 4 . Der Bericht ist sogar die herkömmliche Form des Romans s , an dessen Tradition der im Untertitel als „Bericht" apostrophierte „Homo faber" somit einerseits anschließt. Andererseits bringt er sie aber auch zum Kippen. Denn die romantypische Berichtform, deren Prosa dieser besondere Roman zu einer äußerst technifizierten Sprachverknappung vorantreibt, läßt nach und nach eine Struktur erkennen, wie sie für die griechische Tragödie typisch ist. 2
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4
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s. hierzu auch Frischs eigene Äußerungen zur griechischen Tragödie, die im Rahmen seiner Ausführungen „Über Marionetten" im „Tagebuch 1946 — 1949" (II, 4 7 8 f . ) fallen. s. hierzu etwa Wolfgang Schadewaldt, Hellas und Hesperien, Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Zürich 1960, 245 f. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, 9. Aufl., Darmstadt 1984, 25. Ihr Zerbrechen im modernen Roman wird an gegebener Stelle noch eigens zu berücksichtigen sein.
Der Kommentar des Autors
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Nach der zentralen Aussage zu seinem Roman kündigt der Autor dessen zentrales Motiv an: den Inzest. Es ist ein Motiv, das sofort an jene bestimmte Tragödie erinnern muß, die seit Aristoteles als das Paradigma ihrer Gattung gilt: den „König Ödipus". Für Aristoteles ist dieses Werk besonders wohlgelungen, weil hier in der Katastrophe die zwei entscheidenden Strukturmomente der Tragödie zusammenfallen: zum einen der mit Notwendigkeit oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit herbeigeführte Umschlag dessen, was bezweckt wurde, in sein Gegenteil — nach Aristoteles die Peripetie; zum anderen der folgenschwere Umschlag von Unkenntnis in Erkenntnis — nach Aristoteles die Anagnorisis. Diese Koinzidenz von Peripetie und Anagnorisis, so die weitere Argumentation des Aristoteles, sei besonders geeignet, den kathartischen Effekt von Jammer und Schauder zu evozieren 6 . Man hat in der Forschung zum „Homo faber" zu bedenken gegeben, daß aus dem Inzestmotiv dieses Romans kein substantieller Bezug zur griechischen Tragödie abzuleiten sei, da hier nicht wie im ,Ödipus' ein Sohn-Mutter-, sondern ein Vater-Tochter-Inzest vorliege. Doch diese Argumentation bleibt an der Oberfläche auch da, wo sie sich auf einen Briefwechsel mit dem Autor stützen zu können glaubt 7 . Das Besondere an der Odipus-Tragödie ist ja nicht der Sohn-Mutter-Inzest als solcher. Um das Ungeheuerliche der Tragödie der Tragödien zu ermessen, ist mehr zu bedenken: zunächst einmal das scheinbare Paradox, daß ausgerechnet der „aufgeklärte" Geist, der Theben einst vom Fluch der Sphinx befreit hat, in Wahrheit, so die Anschuldigung des Sehers schon zu Beginn der Tragödie, der gesuchte Mörder sei, ja schlimmer noch, daß er, ohne es zu sehen, mit seinen Liebsten aufs schändlichste verkehre (V. 366 ff.). Die nachfolgende Handlung ergibt ein weiteres scheinbares Paradox: Der Held, der in bedingungsloser Entschlossenheit eine Untersuchung betreibt, um seine angegriffene Machtstellung neu zu festigen, wird gerade damit sich selbst überführen. Gemäß dem aristotelischen Tragödiensatz, daß im Idealfall Anagnorisis und Peripetie in eins fallen, wird das Ereignis der Wahrheitsfindung für den Helden, der bis dahin in höchstem Ansehen stand, gleichzeitig zum Ereignis seines Sturzes. Gegen all sein Bezwecken und Erwarten ist dieser Fall eingetreten. Dabei erfolgt dieses Geschehen jedoch mit der Unerbittlichkeit einer göttlichen Notwendigkeit. Im Eigensinn seiner Hybris ist diese dem Helden nur allzu lange verborgen geblieben. Am Ende weiß er 6 7
Zur hier referierten Ödipus-Reflexion des Aristoteles s. ders., Poetik, Buch 11. Ich beziehe mich auf Walter Schmitz, Max Frisch. „Homo faber". Materialien, Kommentar, München 1977, 57.
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Einleitung
sich mit ihr aber einig. Im Akt der Erkenntnis und Selbstblendung ist Ödipus nach eigenem Verständnis eins mit Apollon, der ihn erleuchtet und vernichtet hat (V. 1329 ff.). 8 Ich meine, was Frisch in dem hier zitierten Kommentar zu seinem „Homo faber" ankündigt, steht den Ungeheuerlichkeiten der ÖdipusTragödie in nichts nach. Nicht nur, daß ausgerechnet dem modernen technischen Streben nach einer entmythisierten, berechen- und beherrschbaren Welt das „primitive" Vergehen eines Inzests unterläuft. Dieser Inzest wird sogar als die logische Konsequenz jenes Strebens indiziert. Man bedenke die Ungeheuerlichkeit des Satzes: „Inzest ist Ausdruck seines Verhältnisses in der Schöpfung überhaupt"! Des weiteren ist angedeutet, daß das Geschehen im „Homo faber" letztlich den Horizont einer in sich sinnvollen Lebensordnung aufblitzen läßt, die der tragischen Blindheit seines Helden nur allzu lang verschlossen war. So läuft in einem Prozeß tragischer Ironie das Schicksal des Homo faber auf eine emphatische Bestätigung jener Lebensordnung hinaus, gegen die er in der Verblendung seiner Hybris die längste Zeit gelebt hat: ,Erst angesichts der Katastrophe entdeckt [er] seine TechnikerBlindheit, sterbend preist er das Leben'. Daß die Wahrheit gerade im Scheitern offenbar wird, ist die Idee des zeitgenössischen „Homo faber" wie die der ursprünglichen Tragödie. Bei dieser grundsätzlichen Übereinstimmung gibt es allerdings noch eine Schwierigkeit zu klären: In der griechischen Tragödie sind es Götter, die die unhinterfragbare Sinnhaftigkeit des tragischen Geschehens verbürgen. Auf sie geht alles zurück, selbst die Verführung zur Hybris, dieser falschen Auffassung über das wahre Verhältnis von Gott und Mensch, das sich dann erst im Scheitern des handelnden Helden offenbart 9 . Doch die tragische Verkehrung einer menschlichen Handlung in das Gegenteil ihrer Absicht wird schon längst nicht mehr allein deshalb als sinnvoll gelten können, weil ihr insgesamt ein göttliches Walten zugrundeliegen soll. Die Frage nach dem Grund von Tragik 8
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Das tragische Geschehen vollzieht sich demnach mit einer Konsequenz, die vom Selbstbewußtsein des Handelnden erst, wenn es zu spät ist, eingeholt wird. Im Hinblick auf den „ K ö n i g Ödipus" s. hierzu insb. Hans Diller, „Göttliches und menschliches Wissen bei Sophokles", in: Gottheit und Mensch in der Tragödie des Sophokles. Vorträge v o n Hans Diller, Wolfgang Schadewaldt, Albin Lesky, Darmstadt 1963, 1 - 2 8 , dort 1 4 - 1 8 . Zur Genesis der tragischen Vorstellung v o m Gott, der erst in die Verblendung der Hybris, dann ins Leiden führt, s. Karl Deichgräber, „Der listensinnende Trug des Gottes", in: ders., Der listensinnende Trug des Gottes. Vier Themen des griechischen Denkens, Göttingen 1952, 108 — 141. — Zur Bedeutung des tragischen Prozesses als Klärungsprozeß des Verhältnisses von Gott und Mensch insb. im „ K ö n i g Ödipus" s. Walter Bröcker, Der G o t t des Sophokles, Frankfurt a. M. 1 9 7 1 , 28 ff.
Der Kommentar des Autors
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gibt sich, wie die gattungstheoretische Untersuchung „Tragödie. Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tragischer Prozesse" von Jürgen Söring zu Recht betont, — von einem bestimmten geschichtlichen Augenblick an gerechnet — mit der fromm oder resigniert hinzunehmenden, weil zuletzt im Geschick des Gottes begründeten Zwangsläufigkeit eines tragischen Geschehens nicht mehr widerspruchlos zufrieden, sondern beginnt darüber hinaus eine Rechtfertigung aus Gründen zu verlangen, denen die menschliche Vernunft ihre Anerkennung nicht zu versagen braucht.10
Damit aber wird die weitere Geschichte der Gattung zunehmend problematisch, weil der poetisch jeweils in Anspruch genommene Grund, der einem tragischen Untergang nicht nur Unausweichlichkeit, sondern auch noch Plausibilität, d. i. zuletzt Sinn, verleihen soll, an Rationalität' sukzessive verliert. 1 '
Zu dieser im Hinblick auf die historische Gesamtentwicklung der Gattung „Tragödie" sicherlich zutreffenden Beobachtung, die Söring an ausgewählten Beispielen von Sophokles bis Schiller belegt, steht nun aber ausgerechnet die tragische Handlung eines zeitgenössischen Romans, eben der des „Homo faber", erstaunlicherweise quer. Denn hier ist die tragödienspezifische Forderung nach logischer Begründbarkeit eines scheinbar paradoxen Geschehens durchaus eingelöst, sofern Frischs provokative Ankündigung „Inzest ist der Ausdruck seines Verhaltens in der Schöpfung überhaupt" zu Recht besteht. In der Tat wird die nachfolgende Interpretation den von Frisch angesprochenen Zusammenhang bestätigen. Des weiteren wird sich zeigen, daß eine kategoriale Unterscheidung zu treffen ist zwischen der Wirklichkeit der Technik und dem Bewußtsein des Technikers. Dabei wird sich auch feststellen lassen, daß sich beide im Prinzip so zueinander verhalten wie in der griechischen Tragödie die Wirklichkeit der Götter und die sie verkennende Verblendung des Helden. Die Implikationen solch einer Strukturanalogie lassen weitreichende Schlußfolgerungen zu. Beispielsweise ließe sich überlegen, ob der „Homo faber" damit nicht jene ursprüngliche Sinnhaftigkeit der Tragödie zu erhellen beginnt, die deren eigene Gattungsgeschichte, wie die einschlägige Untersuchung von Söring zeigt, zunehmend in Frage gestellt hat. Von ihrem Ende her glaubt Söring zu dem Schluß kommen zu müssen, daß das historisch zum Tragen gekommene Moment der Sinnverweigerung in nuce auch schon bei Sophokles angelegt sei. Die sophokleische Zitierung der Götter wäre demnach nur die 10
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Jürgen Söring, Tragödie. Notwendigkeit und Zufall im Spannungsfeld tragischer Prozesse, Stuttgart 1982, 11. Ebd. 11 f.
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Einleitung
künstliche Imputation von einem Sinnhorizont, den das faktische Handlungsgefüge der Tragödien des Sophokles im Grund verweigere. Wenn sich aber, wie hier in Aussicht gestellt, zeigen läßt, daß sich die Eigendynamik der universal gewordenen Wirklichkeit der modernen Technik in sich logisch verhält und dabei dem in und mit ihr lebenden Menschen gegenüber jene Verhaltensweise entwickelt, die in den alten Tragödien den Göttern zukommt, dann müßte auch deren Walten selbst für das moderne Bewußtsein wieder nachvollziehbar werden. In diesem Sinn würde der zeitgenössische Roman „Homo faber" — ausgehend von den aktuellsten historischen Voraussetzungen — in einem ganz substantiellen Sinn auf die Tragödiendichtung der frühgriechischen Antike zurückverweisen.
2. Gang der Interpretation Zunächst wird im Rekurs auf Grundlagenwerke der geschichtsphilosophischen Romantheorie auf die Bedeutung des Romans als repräsentativer Gattung der Moderne eingegangen werden. Daran anschließend wird im Kapitel über das Totalitätsversprechen der modernen Technik darauf abzuheben sein, wie im „Homo faber" eine Lebenswirklichkeit zur Sprache kommt, in der die epochalen Voraussetzungen der Romantradition bereits wieder im Schwinden sind. Denn die technische Welt der Moderne wird hier zunächst einmal nicht mehr als entfremdend vermittelt, sondern im Gegenteil als so weit fortgeschritten, daß in ihr selbst der Dualismus von Innen und Außen, der einen Roman herkömmlicherweise konstituiert, aufgehoben erscheint. Das Konfliktparadigma des Romans sowie der Epoche, die jene Gattung präsentiert, wird im „Homo faber", diesem besonderen Roman, also verabschiedet. An seine Stelle tritt ein neues: die Spannung zwischen der scheinbaren Geschlossenheit und dem wesenhaft Offenen eines Systems, wie es im Kommunikationsnetz der Technik in ihrer letztaktuellen Entwicklung gegeben ist. In diesem Sinn wird im dritten Kapitel Fabers Weg in die Katastrophe, der ihn gleichzeitig aber auch der Anerkennung der offenen Ordnung näherbringt, schlüssig dargestellt werden können. In eingehender Detailarbeit wird herausgestellt werden, wie die Technik binnen kürzester Zeit in höchst verdichteter Weise andere als die vertrauten Zeichen signalisiert, der Techniker aber seinerseits alles unternimmt, sie in ihrem Verweischarakter, der sich nun abzeichnet, zu verkennen. Doch gemäß der immanenten Logik der Technik als universal vernetztem System wird er mit jedem Versuch,
Gang der Interpretation
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die scheinbar vertraute, aber nur vermeintlich in sich geschlossene und als solche überschau- und beherrschbare Ordnung wieder herzustellen — dieses Verhalten gipfelt in der Konfusion des Inzests —, weiter ins Offene, Unvorhergesehene hinausgetragen. So läßt ihn die Technik in die Zusammenhänge einer übergreifenden Lebensordnung vorstoßen beziehungsweise zurückgelangen, von denen er sich mit der Technik gerade emanzipieren wollte. Insofern die Technik dem Techniker das Gegenteil von dem fügt, was dieser mit ihr zu erreichen suchte, verhält sie sich dämonisch. Ihrer Struktur nach entspricht diese Dämonie der des Gottes in der griechischen Tragödie, was dann im vierten Kapitel nochmals verdeutlicht werden wird. Letztlich wird dieses im spezifischen Sinn der frühgriechischen Antike Dämonische der modernen Technik ihren Techniker sogar zur Kunst als einer anderen Weise der téchne führen. Dies ist der Fall, wenn Faber über seine Hermes-Baby die Tragödie seines Lebens nicht nur gegen seine eigene Absicht offenlegt, sondern damit auch in eine Tragödie im alten Sinn eines poetischen Gebildes verwandelt. Abschließend wird zu überlegen sein, ob und inwiefern ausgehend von den gewonnenen Interpretationsergebnissen zu einer neuen Sicht der Geschichte tragischer Dichtung zu gelangen ist.
I. Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne Friedrich Schlegel, der führende Theoretiker der deutschen Frühromantik notiert: Drei herrschende Dichtarten. 1. Tragödie bei den Griechen 2. Satire bei den Römern 3. Roman bei den Modernen. 1
In Aperçus wie diesem hat erstmals die Romantik formuliert, was heute allgemein anerkannt ist: Der Roman ist eine, wenn nicht sogar die repräsentative Gattung der Moderne. Diese Aussage gilt noch für die heute vielbesprochene Krise des Romans, denn diese kann als sinnfälliger Ausdruck einer insgesamt krisenhaft gewordenen Moderne verstanden werden. Inwiefern der Roman von seinen Anfangen bis zu seiner Krise als das literarhistorische Signum dieser Epoche gesehen werden kann, soll im folgenden entwickelt werden.
1. Grundlagen werke der geschichtsphilosophischen Romantheorie: Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik" und Lukács' „Die Theorie des Romans" Von grundlegender Bedeutung für jede geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Roman ist das vielzitierte Wort von „der modernen bürgerlichen Epopöe" in Hegels .Ästhetik' 2 . Das gleiche gilt für Hegels Korrelierung der formalen Abweichung des Romans gegenüber dem Epos, nämlich der Ablösung der Versform durch Prosa, mit einer Entpoetisierung der Welt in der geschichtlichen Realität. Während „das eigentliche Epos", aus dem ursprünglich poetischen Weltzustand hervorgeht', so Hegel, ,setzt der Roman im modernen Sinn eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus' 3 . Noch Wolfgang Kaysers 1
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Friedrich Schlegel, Literary Notebooks 1797—1801, ed. Hans Eichner, London 1957, 22. G . W . F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke 15, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, 392. Ebd.
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Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne
„Das sprachliche Kunstwerk" spricht in enger Anlehnung an die Formulierungen der Hegeischen ,Ästhetik' von einer „.prosaisch eingerichtetfen] Welt'", die „als ,erfahrungsmäßig erkannte Wirklichkeit' unmythisch und wunderlos geworden" zur Voraussetzung des neuzeitlichen Romanschaffens geworden sei 4 . Und auch Kay sers Hervorhebung des persönlich erfahrenen Weltausschnitts' sowie einer neuen „Poetisierung der nüchternen Welt" vermittels der Phantasie schöpferischer Innerlichkeit 5 findet sich bei Hegel vorweggenommen. Denn — dies ist das Entscheidende für Hegel und seine Nachfolger — die Prosaisierung der Welt zu einem objektivierbaren Gegenüber hat gleichzeitig zur Entdeckung der modernen Subjektivität als einer innerlichen Gegenwelt geführt, in der die Poesie des ursprünglichen Weltzustands sozusagen seine neue Heimat gefunden hat. Wie Joachim Ritter im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung „Subjektivität" schreibt: Subjektivität — das Individuum in sich — erhält da als weltgeschichtliche Gestalt, in welcher Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen sich darstellt, ihre epochale Funktion, wo die aufkommende Gesellschaft den Hain zu Holz, den Tempel zu Stein, das Schöne zum Ding macht und so die Subjektivität hervortreibt, um innerlich im Gefühl und im Herzen das zu bewahren, was die Gesellschaft in ihrer Tendenz zur Verdinglichung fortgibt oder zu ideologischem Schein und Überbau destruiert. 6
Um die soweit angesprochenen Zusammenhänge im Hinblick auf den geschichtsphilosophischen Ort des Romans auf den Punkt zu bringen, kann festgehalten werden: Als spezifisches Gepräge der Moderne ergibt sich die dialektische Spannung zwischen einer prosaisch gewordenen Außen- und einer neu entstandenen poetischen Innenwelt. Dem Roman ist dabei die Dignität einer zeitgemäßen Epopöe zuzuerkennen, insofern er in seiner Grundstruktur eben diese Spannung inhaltlich wie formal austrägt. Dies ist der geschichtsphilosophische Kontext, der mitgedacht werden muß, wenn Hegel zu dem Schluß kommt, daß „eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen [...] der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse" 7 sei. Er weist dann auf drei Möglichkeiten hin, diesen Konflikt zu lösen, wobei die von ihm zuletzt und am ausführlichsten benannte als die beispielhafteste zu verstehen sein dürfte. Es handelt sich hierbei um den Entwurf, daß sich beide 4
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Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 10. Aufl., Bern 1964, 359. Ebd. Joachim Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, 9. Hegel, 393.
Grundlagenwerke der geschichtsphilosophischen Romantheorie
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Seiten durch gegenseitiges Einwirken aufeinander verändern und zwar in dem Sinn, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen. 8
Zum Abschluß seiner Ausführungen geht Hegel nochmals auf das spezifische Verhältnis von Epos und Roman ein: Was die Darstellung angeht, so fordert auch der eigentliche Roman wie das Epos die Totalität einer Welt- und Lebensanschauung, deren vielseitiger Stoff und Gehalt innerhalb der individuellen Begebenheit zum Vorschein kommt, welche den Mittelpunkt für das Ganze abgibt. In bezug auf das Nähere jedoch der Auffassung und Ausführung muß dem Dichter hier um so mehr ein großer Spielraum gestattet sein, je weniger er es zu vermeiden vermag, auch die Prosa des wirklichen Lebens mit in seine Schilderungen hineinzuziehen, ohne dadurch selber im Prosaischen und Alltäglichen stehenzubleiben. 9
Hegels Erörterung des Romans ist vergleichsweise knapp gehalten. Ihre grundlegende Bedeutung zur Bestimmung des geschichtsphilosophischen Orts dieser Gattung ist jedoch kaum zu überschätzen. So finden sich alle Aspekte der Hegeischen Romanbestimmung in Georg Lukács' vielbeachtetem Frühwerk „Die Theorie des Romans" aufgegriffen, im Detail entfaltet und weiterentwickelt sowie an Beispielen aus verschiedenen Epochen der Romangeschichte illustriert. Wie sehr sein Versuch einer historischen Gattungspoetik dem Hegeischen Ansatz verpflichtet ist, wird von Lukács selbst ausdrücklich betont. So bezeichnet er seine ,Theorie des Romans' im Vorwort von 1962 als „das erste geisteswissenschaftliche Werk, in dem die Ergebnisse der Hegeischen Philosophie auf ästhetische Probleme konkret angewendet wurden" 10 . In Ausdifferenzierung des Hegeischen Ansatzes wertet Lukács Vers und Prosa als die formalen Kennzeichen einer unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Verfaßtheit der Wirklichkeit, die die Dichtung zur Gestaltung vorfinde. Während „die selig daseiende Totalität des Lebens [...] in prästabilierter Harmonie dem epischen Verse zugeordnet" sei 11 , entspreche die Prosa der Bedeutung des Romans als der „Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des 8 9 ,0 11
Ebd. Ebd. Lukács, 9. Ebd., 48 f.
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Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne
Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat" 12 . Auch für Lukács ist die dem Romanschaffen zugrundeliegende Wirklichkeit in eine Dichotomie von poetischer Subjektivität und prosaischer Objektivität oder, um eine seiner eigenen Formulierungen zu gebrauchen, in „die Dualität von Innerlichkeit und Außenwelt" 13 zerfallen, aus der eine neue Form von Ganzheit zu entwickeln sei. In der faktischen Geschichte des Romans kann Lukács allerdings nur eine Folge scheiternder Versuche erkennen, diese hohe Forderung auch tatsächlich einzulösen. Denn von Cervantes bis Tolstoi ist für Lukács „die Komposition des Romans [...] ein paradoxes Verschmelzen heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik" 14 . Hegel formuliert die klassische Konzeption des Bildungsromans, wenn er davon spricht, daß „die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle an ihr anerkennen lernen" müßten, um dann ihr Genie zur Schaffung einer „der Schönheit und Kunst verwandten und befreundeten Wirklichkeit" einbringen zu können (s. o.). Es handelt sich hierbei um einen Entwurf, der sowohl von der Entwicklungsfähigkeit des Individuums als auch von der Veränderbarkeit der äußeren Verhältnisse ausgeht. Demgegenüber sieht sich Lukács zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Situation konfrontiert, in der sich die Objektivität der Verhältnisse zu einer „Allgewalt" versteinert hat, die „sich weder als Sinn für das zielsuchende Subjekt noch in sinnlicher Unmittelbarkeit als Stoff für das handelnde darbietet" 15 . So kommt es zum nachklassischen Roman, der von Lukács so genannten Desillusionsromantik, „wo die Inkongruenz von Innerlichkeit und konventioneller Welt zu einem völligen Verneinen der letzteren führen muß" 16 . Von hier aus erschließt sich die Geschichte des Romans als die Geschichte einer sich ausdifferenzierenden und verfeinernden Innenwelt einerseits und einer ihr immer fremder und feindlicher werdenden Außenwelt andererseits. Er selbst spricht von der Herausbildung einer ,rein innerlichen Wirklichkeit', die ein „eigenes, reiches und bewegtes Leben hat, das sich in spontaner Selbstsicherheit für die einzig wahre Realität, für die Essenz der Welt hält, und dessen gescheiterter Versuch, diese Gleichsetzung zu verwirklichen, den Gegenstand der Dichtung abgibt" 17 . Ebd., " Ebd., 14 Ebd., 15 Ebd., 16 Ebd., 17 Ebd., 12
47. 113. 73. 53. 129. 98.
Die Weiterentwicklung der Romantheorie
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2. Die Weiterentwicklung der Romantheorie im Hinblick auf den modernen Roman Mit der Entwicklung von erlebter Rede und innerem Monolog im 20. Jahrhundert, wie sie vor allem im „stream of consciousness" ihren Höhepunkt findet, verselbständigt sich die romantypische Innerlichkeitstendenz zu einer radikalst möglichen Subjektivität. Dabei wird die herkömmliche Form des Erzählens, in der eine fortschreitende Handlung mit bestimmten unverwechselbaren Charakteren dargestellt ist, „innerlich" aufgebrochen. Hierzu dürfte die nachweisliche Auseinandersetzung moderner Romanciers mit der Psychoanalyse, wie sie zu Beginn dieses Jahrhunderts entstanden ist und seither weiterentwickelt wurde, nicht unwesentlich beigetragen haben. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Einfluß dieser jungen Wissenschaft auf die Romanentwicklung durchaus auf der Linie der ihr eigenen Logik gelegen hat. Denn das sprachliche In-Szene-Setzen von Halbbewußtem und Unbewußtem, das jederzeit fragmentarisch an die Oberfläche des Bewußtseins steigen und damit eine labyrinthische Gleichzeitigkeit und Vielfältigkeit der Gedankenströme bewirken kann, ist auch im übergreifenden Zusammenhang der sich verabsolutierenden Innerlichkeitstendenz im Roman zu sehen. So kann Lukács bereits für den Desillusionsroman des 19. Jahrhunderts einen „Verlust der epischen Versinnbildlichung" konstatieren, ,die Auflösung der Form in ein nebelhaftes und ungestaltetes Nacheinander von Stimmungen und Reflexionen über Stimmungen, den Ersatz der sinnlich gestalteten Fabel durch psychologische Analyse' 18 . Daß bei aller Wandlung, der die Romangeschichte auf ihrem Weg zum modernen Roman unterworfen war, auch ein zentraler Aspekt der Kontinuität zu sehen ist, wird von vorliegenden Ansätzen zu einer Theorie speziell des modernen Romans allgemein anerkannt. So schreibt Karl Migner in seiner Einführung zur „Theorie des modernen Romans": Dabei soll nicht verkannt werden, daß in einem weiteren Sinn seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, das den persönlichen Erzähler bringt und der Gattung bis heute gültige Kennzeichen aufprägt, von einem modernen Roman gesprochen werden kann. Im weitesten Sinn schließlich ist es möglich, seit dem Erscheinen des „Don Quijote" v o n moderner Romankunst zu sprechen, weil hier in deutlicher Distanzierung v o m Ritterroman das unverwechselbare Individuum und dessen Welt- und Wirklichkeitserlebnis in den Mittelpunkt rücken. 1 9
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Ebd., 99. Karl Migner, Theorie des modernen Romans. Eine Einführung, Stuttgart 1970, 8.
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Ein entscheidender Wandel in dem im engeren Sinn modernen Roman ist allerdings darin zu sehen, daß die hier radikaler denn je nach innen gekehrte Perspektive gleichzeitig von der zunehmend fremd und feindlich gewordenen Außenwelt überflutet wird und damit ihre traditionelle Stellung als reine und sinnvermittelnde Innerlichkeit verloren hat. Wie vor allem Jürgen Schramke in seiner Monographie „Zur Theorie des modernen Romans" herausgearbeitet hat: Die Innerlichkeit büßt zunehmend ihre eigenständigen Ideale und Werte ein, die vormals ihre Autonomie und Würde in der Ohnmacht begründeten; ihr seelischer Reichtum vertrocknet. A u s der sinnbefrachteten Innerlichkeit, die ihre Werte an die Wirklichkeit heranzutragen oder ihre Ideale in sie zu projizieren suchte, wird so allmählich ein bloß rezeptives Bewußtsein, das alle Gegebenheiten, sei's der Außenwelt, sei's der eigenen Erinnerung, passiv registriert oder reproduziert. 2 0
Hatte sich der Desillusionsroman des 19. Jahrhunderts noch auf eine immer exklusivere, dabei aber auch zunehmend problematischere Innerlichkeit zurückzuziehen versucht, so ist für die großen Romane des 20. Jahrhunderts ein labyrinthisches Ineinander der beiden Bereiche typisch geworden. Diesen Übergang erklärt Schramke: Gerade die unbegrenzte Ausdehnung der einen Seite auf Kosten ihres Widerparts führt schließlich zu deren Aushöhlung. Denn der jeweils unterdrückte Bereich verschafft sich zwangsläufig ein Ersatzdasein im Innern eben jenes Bereichs, dem die Alleinherrschaft zu gehören scheint, so daß beide ihre Selbständigkeit und Konsistenz verlieren. Es entsteht eine paradoxe Identität oder vielmehr UnUnterscheidbarkeit von Ich und Welt: so im Roman des Bewußtseinsstroms, der in der Tat zur gleichen Zeit unüberschreitbare Innerlichkeit und naturalistische Weltlichkeit repräsentiert. 21
Daß die Auflösung der Konturen bis hin zu einer letztlichen Ununterscheidbarkeit von Ich und Welt, wie hier befunden wird, nicht als Überwindung des herkömmlichen Antagonismus von Innen und Außen zu verstehen ist, liegt auf der Hand. Vielmehr handelt es sich hier um eine noch weiter fortgeschrittene Desintegration zwischen beiden Bereichen. Denn zum einen zwingt die Erfahrung des Ausgeliefertseins an eine unüberschaubar gewordene und auf Sinn nicht mehr transparente Welt zur permanenten Introspektion. In umso größerer Verfremdung muß dann allerdings die völlig abgelehnte und verdrängte Außenwelt wiederkehren. Über den Einbruch dissoziierter Realitätspartikel prägt diese der inneren Sinnsuche die eigenen sinnentleerten Inhalte auf. So legt die überfremdete Innerlichkeit der modernen Romanfigur beziehungsweise ihres Autors — beide sind im modernen Roman in der Regel kaum noch zu unterscheiden — ihre Ohnmacht gegenüber der Übermacht der Dingwelt offen. Dies hat bereits Theodor 20 21
Jürgen Schramke, Zur Theorie des modernen Romans, München 1974, 55 f. Ebd., 55.
Die Weiterentwicklung der Romantheorie
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W. Adorno in seiner Note „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman" hervorgehoben: Das dichterische Subjekt, das von den Konventionen gegenständlicher Darstellung sich lossagt, bekennt zugleich die eigene Ohnmacht, die Übermacht der Dingwelt ein, die inmitten des Monologs wiederkehrt. So bereitet sich eine zweite Sprache, vielfach aus dem Abhub der ersten destilliert, eine zerfallene assoziative Dingsprache, wie sie den Monolog nicht bloß des Romanciers, sondern der ungezählten der ersten Sprache Entfremdeten durchwächst, welche die Masse ausmachen.22
Gleichzeitig wird aber in solch provokanter Akzentuierung des eklatanten Mißverhältnisses zwischen den vorgefundenen Verhältnissen und dem Anspruch des Subjekts dieser selbst wachgehalten, wie Adorno ebenfalls betont und auch ausdrücklich gutheißt. Denn eben danach möchte er die Autoren beurteilt sehen, inwieweit sie sich darauf verstünden, „als Meßinstrumente des Geforderten und Verwehrten [zu] fungieren" 23 . Die Unterminierung der Handlung durch den inneren Monolog ist der eine Pol, von dem her die Form des traditionellen Erzählens durchbrochen wird, die Erdrückung des erzählten Geschehens durch elaborierte Reflexion der andere. Und in dem Maß, wie Reflexion die herkömmliche Formimmanenz auflöst, ist auch eine kategoriale Unterscheidung zwischen reflektierender Roman- beziehungsweise romanimmanenter Erzählerfigur einerseits und dem real erzählenden Autor andererseits kaum noch praktikabel. Adorno spricht diesbezüglich von der „ästhetischen Transzendenz", insofern hier die dichterische Fiktion ihren herkömmlichen „Realismus" verabschiedet und damit offen auf das dichterische Subjekt, das gegen jeglichen Oberflächenrealismus anschreibt, als die einzig verbleibende Substantialität verweist: Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus vernichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäft hilft. [...] Das antirealistische Element des neuen Romans, seine metaphysische Dimension, wird selber gezeitigt von seinem realen Gegenstand, einer Gesellschaft, in der die Menschen voneinander und von sich selber gerissen sind. In der ästhetischen Transzendenz reflektiert sich die Entzauberung der Welt.24
So erscheint schließlich nur noch das real schreibende Subjekt als die „wirkliche" Realität, einzig von dessen Leiden, Suchen und Ringen her die moderne Romanwirklichkeit noch zu verstehen ist. 22
23 24
Theodor W. Adorno, „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman", in: ders., Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften 2, hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, 4 1 - 4 8 , dort 47. Ebd., 44. Ebd., 43.
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Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne
An James Joyces „Ulysses", dessen herausragende Stellung innerhalb der Geschichte des Romans inzwischen allgemein anerkannt ist, soll das, was hier soweit theoretisch entwickelt wurde, veranschaulicht werden. Insbesondere wird an diesem Beispiel dann auch noch auf ein hier bislang noch nicht angesprochenes Phänomen des modernen Romans einzugehen sein: sein auffälliges Interesse am Mythos.
3. James Joyces „Ulysses" Bei Leopold Bloom, der Hauptfigur des „Ulysses", handelt es sich um einen eher triebhaft-halbbewußt dahinlebenden Massenmenschen, der sich mit äußerst eingeschränktem Aktionsradius, doch nicht ohne liebenswürdigen Witz und vager Sehnsucht nach einer besseren Welt durch den Dubliner Alltag von 1904 schlägt. Demgegenüber fällt die Rolle der gebildeten Reflexion vor allem dem jungen Lehrer und Schriftsteller Stephen zu, der die nicht einzulösenden Ansprüche und das Leiden seiner Subjektivität in Figuren der literarischen Tradition, insbesondere Shakespeares Hamlet, zu bespiegeln sucht. In dieser Gestalt hat Joyce in Weiterführung seines früheren Romans „A Portrait of the Artist as a Young Man" seine eigene Entwicklung zum Künstler nachgezeichnet. Und umgekehrt kann in Joyce als dem Autor des „Ulysses" eine Verlängerung der von ihm geschaffenen Romanfigur Stephen gesehen werden, insofern er dessen Selbststilisierungen in noch weitere, komplex miteinander verwobene Bezugssysteme eingliedert. Seine alles umfassende Klammer findet dieses poetische Verfahren, aus dem Fundus gebildeten Wissens weitgespannte Symbolbezüge herzustellen, dann in den durchgängigen Korrespondenzen zu Homers „Odyssee" 25 . Insbesondere dieser Versuch zu erproben, ob und inwiefern an einer diffus und undurchschaubar gewordenen Welt auf dem Hintergrund mythischer Muster Ordnung und Sinn transparent werden könnte, wurde von zeitgenössischen Schriftstellerkollegen als wegweisend empfunden. Hierfür bezeichnend ist etwa die frühe Reaktion von T. S. Eliot auf den „Ulysses": Indem sich Joyce auf den Mythos stützt, d. h. indem er eine kontinuierliche Parallele zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit auswertet, wendet er eine Methode an, die andere nach ihm anwenden müssen. Diese Nachfolger werden ebensowenig wie der Wissenschaftler, der die Entdeckungen eines Einstein für seine eigenen unabhängigen Forschungen nutzt, Imitatoren sein. Es handelt sich dabei einfach um
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Vgl. Stuart Gilbert, Das Rätsel Ulysses. Eine Studie, Frankfurt a. M. 1977.
James Joyces „Ulysses"
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eine Methode, mit der man die Zeitgeschichte — jenes ungeheure Panorama der Nichtigkeit und Anarchie — bewältigt, ordnet, gestaltet und mit Sinn erfüllt. 2 6
Ähnlich sieht Hermann Broch „die .Ulysses'-Epopöe" 27 auf dem Weg zu „einer totalitätserfassenden Erkenntnis, die über jeder empirischen oder sozialen Bedingtheit steht" 28 . Was Joyce selbst betrifft, so glaubt er nach eigener Aussage, in Homers „Odyssee" ein Vorbild gefunden zu haben, dem er mehr als dem Entwurf irgendeiner anderen Dichtung bleibende Verbindlichkeit zuzuerkennen vermag 2 9 . Und seine erklärte Absicht ist es, den Mythos „sub specie temporis nostri" umzudichten 30 . Dagegen wird von der neueren „Ulysses"-Forschung zunehmend auf die Schwierigkeit hingewiesen, den Helden der „Odyssee" und den ausgesprochenen Anti-Helden Bloom auf einen gemeinsamen Archetypus zu beziehen, geschweige denn auf eine universale Ordnungsvorstellung, von der her sowohl das moderne Alltags- wie auch das antike Heroengeschehen seinen Sinn erhielte. „Parodie und archetypische Verwendung der Parallelen fügen sich bei Joyce [...] zur Einheit", betont Arno Esch im Anschluß an die einschlägigen Forschungsergebnisse 31 . Hinzu kommt, daß die Korrespondenzen zwischen den Figuren des „Ulysses" und denen der „Odyssee" einer gewissen Beliebigkeit unterliegen, wie Esch ebenfalls verdeutlicht: Zwar ist, grob gesprochen, Bloom die Analogie zu Odysseus, Stephen zu Telemach, Molly zu Penelope, Martha Cliffort zu Kalypso, Boylan zu Antinoos, aber im Einzelfalle wechseln diese Zuordnungen oder geraten ins Gleiten. So ist [...] Stephen bei seinem Spaziergang am Strand weniger eine Parallele zu Telemach als zu dem mit Proteus ringenden Menelaos. Nicht nur Boylan, sondern auch Buck Mulligan entspricht Antinoos. Blooms Verhalten in der „Lotophagen"-Episode differiert von Odysseus, der im Gegensatz zu seinen Gefährten nicht von der Lotosfrucht kostete, während Bloom sich dem Genuß der Lotosfrucht hingibt und Vergessen der häuslichen Schwierigkeiten in der heimlichen Korrespondenz mit Martha Cliffort sucht. Und nicht Odysseus-Bloom segelt in der IX. Episode zwischen Skylla und Charybdis hindurch, sondern Stephen, der seine Shakespeare- und Dichtungstheorie sowohl gegen die mystisch-spirituellen Argumente von George Russell wie die grob materia-
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T. S. Eliot, „Ulysses, Ordnung und Mythos", in: ders., Essays II, Werke 3, hg. Helmut Viebrock, Frankfurt a. M. 1969, 2 9 3 - 2 9 7 , dort 296 f. Hermann Broch, „James Joyce und die Gegenwart", in: ders., Essays I: Dichten und Erkennen, Gesammelte Werke 6, hg. Hannah Arendt, Zürich 1955, 183 — 210, dort 189. Ebd., 204. Richard Ellmann, James Joyce, New York 1959, 430. Zitiert nach Arno Esch, „James Joyce und Homer. Zur Frage der ,Odyssee'-Korrespondenzen im ,Ulysses' ", in: James Joyces „Ulysses". Neuere deutsche Aufsätze, hg. Therese Fischer-Seidel, Frankfurt a. M. 1977, 2 1 3 - 2 2 7 , dort 213. Ebd., 219.
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Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne listischen von Mulligan zu verteidigen weiß. Die Entsprechungen zwischen den Figuren des alten und des modernen Epos sind also partiell und gleitend. 3 2
Weit davon entfernt, seiner ursprünglichen Bedeutung nach dem Menschen eine umfassende Ordnung außerhalb seiner selbst zu bezeugen, ist der Mythos hier zum manieristisch verfügbaren Symbolarsenal einer sich verabsolutierenden Subjektivität geworden. Wie Willi Erzgräber in seinem Beitrag „James Joyces Ulysses — zur Konstruktion und Komposition eines modernen Romans" schreibt: Die antike Tradition, die homerische „Odyssee" hat sich aufgelöst und wird von Joyce zu ästhetischen, rein erzählerischen Zwecken verwendet. Er nähert sich dem antiken Mythos nicht im Stil eines Historikers, der, soweit er es vermag, darstellen möchte, wie es damals gewesen ist und wie es heute tatsächlich aussieht. Joyce ist der Erzähler, der mit List und Schläue („cunning") seinen eigenen erzählerischen Kosmos konstruiert und dabei Bestandstücke einer vergangenen Kultur benutzt, um ein mögliches Bezugssystem für die Darstellung der Moderne zu haben — wobei die Perspektive, unter der Homers „Odyssee" und ihre Figurenwelt gesehen wird, je nach der erzählerischen Situation und ihrer besonderen Thematik neu eingerichtet werden kann. „Ulysses" ist das Dokument eines extremen, subjektiven Ästhetizismus der Moderne. 3 3
Als Autor des „Ulysses" ist Joyce gewissermaßen auch der Vater der Mythen-Renaissance im modernen Roman. Zu zeigen, inwieweit der „Ulysses" als Paradigma für eine generelle Beurteilung der Mythosverarbeitung im modernen Roman etwa bei Thomas Mann, Broch, Döblin trägt, bedürfte es einer eigenen Untersuchung. Es soll an dieser Stelle jedoch schon angedeutet werden, daß die mythischen Anklänge in Frischs „Homo faber" auf das hier angesprochene Modell nicht mehr zu beziehen sind.
4. Die Transzendierung des Romans im „Homo faber". Expositorischer Ausblick Von seiten der wissenschaftlichen Literatur zum „Homo faber" liegen zwei Beiträge vor, die das Werk unter spezifisch romantheoretischer Fragestellung betrachten: zum einen die Monographie von Hans Geulen, „Max Frischs ,Homo faber'. Studien und Interpretationen"34, zum anderen das Buch von Edgar Neis, „Max Frisch. Homo Faber. Eine
32 33
34
Ebd., 219 f. Willi Erzgräber, „James Joyces Ulysses — zur Konstruktion und Komposition eines modernen Romans", in: Universitas 40 (1985), 289—301, dort 296. Hans Geulen, Max Frischs „Homo faber". Studien und Interpretationen, Berlin 1965.
Die Transzendierung des Romans im „Homo faber".
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Einführung in den modernen Roman" 35 . Beide kommen zu dem unhaltbaren Ergebnis, daß der „Homo faber" ein typisch moderner Roman sei. Dabei liegt bei Neis der Fehler vor allem in einem sonderbaren Begriff vom modernen Roman, bei Geulen dagegen in einer unzutreffenden Interpretation der immanenten Zusammenhänge im „Homo faber". Für Neis ist ein wesentliches Kriterium dafür, daß der „Homo faber" ein moderner Roman sei, der Umstand, daß hier ganz aus der subjektiven Perspektive des Romanhelden erzählt werde. Dabei gebe es, wie er im Hinblick auf das Werk selbst richtig hervorhebt, „keinen direkten Eingriff des Autors Max Frisch in die imaginative Einheit und Geschlossenheit' des Lebensberichtes Walter Fabers" 36 . Doch die Erzählhaltung, die sich ausschließlich auf die subjektive Perspektive des Romanhelden beschränkt, und zumal die damit verbundene imaginative Einheit und Geschlossenheit des Werks können keineswegs als Spezifikum des modernen Romans angesehen werden. Denn Geschichte machte dieses Formkonzept vor allem mit den großen Repräsentanten des englischen Romans aus dem frühen und mittleren 18. Jahrhundert (Defoe, Swift, Richardson, Sterne). Und umgekehrt gelten „Der Zauberberg" und „Berlin Alexanderplatz", die Neis als Kontrast zum „Homo faber" für die Greifbarkeit des realen Autors im traditionellen Roman zitiert 37 , normalerweise als moderne Romane. Im Gegensatz zu Neis sieht Geulen richtig, daß es gerade ein Charakteristikum des modernen Romans sei, von ,der üblichen Aufforderung an den Leser, die Konstellationen der Fiktion als wirkliche zu imaginieren', Abstand zu nehmen 38 . Diese Tendenz glaubt er dann aber auch am „Homo faber" ausmachen zu können. Denn hier werde „das Wahrheitsversprechen", so sein Schlüsselbegriff zur Bezeichnung des traditionellen Romans, „durch die Einschaltung von fiktiven ,Dämonen' und .Mächten'" durchbrochen 39 . Die erkennbaren Anspielungen des Werks auf die antike Mythologie seien „Spielmomente", die „dem Zweck der Verfremdung" dienten 40 . Schließlich könne die Bedeutung mythischer Figuren „für unsere Zeit nicht mehr verbindlich sein" 41 . 35
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Edgar Neis, Max Frisch. Homo Faber. Eine Einführung in den modernen Roman, Hollfeld/Obfr. 1984. Ebd., 6. Ebd., 6 f. Geulen, 14. Ebd., 16. Ebd., 97. Ebd.
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Der Roman als repräsentative Gattung der Moderne
D e m s o e b e n p a r a p h r a s i e r t e n u n d in d e r w e i t e r e n F o r s c h u n g s g e schichte w i e d e r h o l t b e k r ä f t i g t e n S t a n d p u n k t G e u l e n s 4 2 ist zu w i d e r sprechen. V o n e i n e m m u t w i l l i g e n E i n g r i f f des A u t o r s , d e r die i m m a n e n t e G e s c h l o s s e n h e i t des W e r k s m i t spielerischen V e r f r e m d u n g s e f f e k ten a u f b r i c h t , k a n n meines E r a c h t e n s keine R e d e sein. D e n n w o i m m e r i m „ H o m o f a b e r " E r i n n e r u n g e n an d e n a n t i k e n M y t h o s g e w e c k t w e r den, läßt sich das f r a g l i c h e E r e i g n i s stets auch ohn'e m y t h o l o g i s c h e K e n n t n i s v e r s t e h e n . I n s o f e r n es also jeweils in ausschließlicher Betracht u n g des i m m a n e n t e n H a n d l u n g s z u s a m m e n h a n g s schlüssig i n t e r p r e t i e r t w e r d e n k a n n , bleibt die f o r m a l e E i n h e i t des W e r k s g e w a h r t . D i e s m ö c h t e ich a n h a n d einer Textstelle, bei d e r in d e r F o r s c h u n g i m m e r n u r geflissentlich a u f das tragische E n d e A g a m e m n o n s h i n g e w i e s e n wird, exemplarisch verdeutlichen: Ich hatte die Badezimmertür nicht abgeschlossen, und Hanna (so dachte ich) könnte ohne weiteres eintreten, um mich von rückwärts mit einer Axt zu erschlagen; ich lag mit geschlossenen Augen, um meinen alten Körper nicht zu sehen. — (S. 136) D e r p l ö t z l i c h e G e d a n k e „ H a n n a k ö n n t e . . . " k o m m t F a b e r in d e r B a d e w a n n e d e r W o h n u n g seiner in A t h e n l e b e n d e n J u g e n d f r e u n d i n .
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Der Sicht der mythischen Anspielungen als parodistisches Spiel schließen sich folgende Arbeiten an: Ferdinand van Ingen, „Max Frischs ,Homo faber' zwischen Technik und Mythologie", in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 2 (1973), 63 — 81, dort 74f.; Rolf Kieser, Max Frisch. Das literarische Tagebuch, Frauenfeld 1975, 95 ff.; Schmitz (s. hier Einl., Anm. 7); Klaus Schuhmacher, „Weil es geschehen ist". Untersuchungen zu Max Frischs Poetik der Geschichte, Königsstein/ Ts. 1979, 68; Bettina Kranzbühler, „Mythenmontage im ,Homo faber' ", in: Max Frisch, hg. Walter Schmitz, Frankfurt a. M. 1987, 214—224. — Einen substantiellen Bezug zum antiken Mythos sieht hingegen Rhonda L. Blair, „ ,Homo faber', ,Homo ludens' und das Demeter-Kore-Motiv", in: Frischs „Homo faber", hg. Walter Schmitz, Frankfurt a. M. 1983, 142—170. Diese Arbeit weist vor allem die Beziehbarkeit der zeitgenössischen Romanhandlung auf den Mythos von Demeter und Kore (Persephone) nach und kommt zu dem Ergebnis, daß Hannas Verhältnis zu Sabeth und Faber in dem mythischen Verhältnis von Demeter zu ihrer Tochter Persephone einerseits und zu deren Entführer Hades andererseits archetypisch (im Sinn C. G. Jungs) vorgeprägt sei. Neu aufgegriffen werden diese Ergebnisse bei Frederick Alfred Lubich, „Homo fabers hermetische Initiation in die Eleusinisch-Orphischen Mysterien", in: Euphorion 80 (1986), 297 — 318. Ein Plädoyer, die mythischen Anspielungen ernst zu nehmen, ist auch die Studie von Werner R. Lehmann, „Mythologische Vexierspiele. Zu einer Kompositionstechnik bei Büchner, Döblin, Camus und Frisch", in: Studien zur deutschen Literatur. Festschrift für Adolf Beck zum 70. Geburtstag, hg. Ulrich Fülleborn und Johannes Krogoll, Heidelberg 1979, 1 7 4 - 2 2 4 , dort 215: ,[Es] darf nicht übersehen werden, daß die Vergangenheit nicht nur verspricht, sondern auch warnt. Die Vergangenheit warnt, aber leider eben wie Kassandra: keiner glaubt ihr'. In diesem Sinn sieht Lehmann bei Frisch (wie auch bei anderen Autoren) eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart „auf dem Hintergrund der geistigen Überlieferung und der Mythologie".
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In dieser Wohnung fand man sich ein, nachdem sich das Wiedersehen nach zwei Jahrzehnten zunächst „ganz natürlich" ergeben hatte (vgl. S. 126). Doch zum Zeitpunkt des soeben zitierten Gedankens hat die Wiedergefundene bereits begonnen, dem zu ihr „Heimgekehrten" unheimlich zu werden. Der ausgesprochen freundliche, ja geradezu rührend fürsorgliche Empfang (vgl. insbesondere S. 134) hat ihn in Anbetracht seines fragwürdigen Verhaltens bei der damaligen Trennung langsam stutzig werden lassen. Seine Verwunderung drückt sich in Bemerkungen aus wie „ab und zu wundert es mich, daß man sich so ohne weiteres duzt" (S. 132) und „ ,ich habe immer gemeint, du bist wütend auf mich', sage ich, ,wegen damals'" (S. 135). Außerdem hat er bereits einen Eindruck von ihrem energischen Besitzanspruch auf die Tochter bekommen, der gleichzeitig ihn selbst als Räuber brandmarkt: „Sie ließ mich, als wollte ich ihr die Tochter stehlen, nicht eine Minute lang im Krankenzimmer" (S. 131). Tatsächlich wird Faber nicht nur zum Betrüger und Dieb, sondern auch, wie sich noch herausstellen wird, zum Mörder des Kindes werden. Von dieser grausigen Möglichkeit muß er erstmals hier beim Sinnieren in der Badewanne eine Ahnung bekommen haben. Denn sein alter Körper, der hier bloßgelegt ist, erinnert ihn daran, daß dieser Sabeth zum Verhängnis wurde: zunächst, weil sie ihn in der undurchsichtigen Mondfinsternis- und Inzestnacht in Avignon nicht sehen konnte, alsdann weil er ihr nach dem Schlangenbiß im grellen Licht der griechischen Mittagssonne in die Augen stach. Faber wird es noch selbst erklären, warum seine Tochter nach dem Schlangenbiß vor ihm panisch zurückwich und dann rücklings eine erklommene Anhöhe so unglücklich hinunterstürzte, daß sie das Bewußtsein verlor: „Es ist mir nicht bewußt gewesen, daß ich nackt bin" (S. 157). Doch vorerst hat er davon aus Angst, als Schänder des Kindes erkannt zu werden, fatalerweise noch nichts gesagt. Wo er in der Wanne wieder seinen gezeichneten Körper sehen muß, kehrt ihm die Erinnerung an das Verdrängte wieder. Das damit verknüpfte Schuldbewußtsein äußert sich eben in der Angstvision, was Hanna ihm nun an schrecklicher Strafe antun könnte. Doch noch immer kann er sich nicht dazu durchringen, ein Geständnis des vollständigen Unfall- beziehungsweise Tathergangs abzulegen. Stattdessen macht er nur die Augen zu, „um meinen alten Körper nicht zu sehen". Damit aber versetzt er seinem Kind den Todesstoß. Denn das beharrliche Verschweigen ihrer panischen Reaktion auf seinen entblößten und grell beleuchteten Körper und ihres nachfolgenden Sturzes hat dazu geführt, daß Sabeth nach wie vor nur gegen das Schlangengift behandelt wird. Notwendig wäre aber auch eine Behandlung der auf Grund unzureichender Information nicht diagnostizierten „Fraktur der Schädelbasis"
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gewesen, die „durch chirurgischen Eingriff (wie man mir sagt) ohne weiteres hätte behoben werden können" (S. 160). An dem, was Faber in Hannas Badewanne fühlt und denkt, ist nichts Spielerisches und nichts Verfremdendes. Aus der immanenten Handlungsstruktur ergibt es sich logisch und ist erschütternd. Die plötzliche Angst, das zur Erholung gedachte Bad könnte ihm zum Blutbad und die Wanne zum Sarg werden, bezeichnet sogar eine ganz realistische Möglichkeit, auch wenn er selbst dies in der abwiegelnden Bemerkung „ich war erschöpft von diesem Tag [...] und daher die Spintisiererei (die Badewanne als Sarkophag; etruskisch!)" (S. 135 f.) in Abrede stellen möchte. Denn Anlaß genug hätte Hanna, die eigene, scheinbar so souverän emanzipierte Haltung zu verlieren, sich zu vergessen und plötzlich wie eine Rachegöttin einzutreten, um den Ent- und Verführer ihres Kindes zu erschlagen — spätestens, wenn sie vollständig weiß, was er noch nicht gesagt hat und mit dieser Unterlassung verursacht haben wird. Bezeichnenderweise kommt es dann auch schon gleich nach dem Bad zu einer ersten angedeuteten Bewahrheitung seiner dortigen „Spintisiererei". Beide verlieren plötzlich die Nerven, und jeder fällt aus der mühsam aufrecht erhaltenen Rolle, der zu sein, der die Dinge im Griff hat: „Hanna", sage ich, „du tust wie eine Henne!" Es war mir so herausgerutscht. „Entschuldige", sage ich, „aber es ist so!" [...]. Hanna war außer sich wegen meiner Bemerkung, weibischer als ich sie je gesehen habe. Ihr ewiges Argument: „Sie ist mein Kind, nicht dein Kind." (S. 137 f.)
Fabers Angstphantasie in der Badewanne und ihr dramatischer Handlungskontext lassen sich schlüssig aufeinander beziehen. Dies zu leisten, bedarf es einer Kenntnis der alten Geschichte von Agamemnon und Klytaimnestra, wie sie im ersten Teil der „Orestie" des Aischylos dargestellt ist, keineswegs. Allerdings kann die mythologische Kenntnis helfen, in einem zweiten Interpretationsschritt das zu tun, was in Geulens Ansatz von vornherein ausgeschlossen ist: nämlich die einerseits moderne Auseinandersetzung zwischen Faber und Hanna andererseits als versteckte Wiederkehr einer archaischen Konfliktkonstellation zu erkennen. In der antiken Tragödie wurde sie im Gegensatz zu heute offen verhandelt und zu kathartischer Anschauung gebracht. Die handlungsstrukturale Parallelität zwischen dem „Homo faber" und dem „Agamemnon" ist in der Tat frappant. Zum einen hat Faber den Tod seiner und Hannas Tochter verursacht. Zum anderen gibt Hanna ihm zu verstehen, daß sie sich von ihm auch als Ehefrau betrogen fühlt: „,Wir sind verheiratet, Walter, wir sind es! — rühr mich nicht a n . ' " (S. 159). Die doppelte Schuld verhält sich insgesamt analog zum Schuldkomplex im „Agamemnon", wo Klytaimnestra dem zu ihr heim-
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gekehrten Bezwinger liions sowohl der Ermordung der gemeinsamen Tochter (Opferung Iphigenies) als auch des Ehebruchs (Affare mit Kassandra) bezichtigt. Nach einem überfreundlichen Empfang des Heimgekehrten erschlägt sie ihn im Bad, zu dem sie ihn über festlich ausgebreitete Purpurteppiche schreiten ließ. Zuvor hatte sie ihm von ihren Mägden die Sandalen lösen lassen. Hanna wiederum erkundigt sich beim Zubereiten von Fabers Bad teilnahmsvoll nach seinen Füßen (vgl. S. 134). — Nach ihrer blutigen Tat, die den Schein einer nach dem langen Krieg gegen Troja sich wieder ordnenden Welt jäh durchbrach, beruft sich Klytaimnestra auf die Göttinnen „Dike, Ate, Erinys, denen ich ihn schlachtete" (V. 1433; Werner). Am Ende von Fabers .Erster Station' gerät auch Hanna jäh außer sich. In einem Ausbruch nicht unähnlich der mania, der heiligen Raserei Klytaimnestras, schlägt sie Faber — nicht mit Axthieben, doch immerhin mit Fäusten: Hanna, die plötzlich mich anschreit, Hanna mit ihren kleinen Fäusten vor mir, ich erkenne sie nicht mehr, ich wehre mich nicht, ich merke es nicht, wie ihre Fäuste mich auf die Stime schlagen. (S. 160)
Einer Axt bedarf es zur Vollendung von Fabers Schicksal nicht. Sein jahrzehntelanger Kampf, das natürliche Gebundensein auch des technischen Lebens an einen geschlechtlichen und sterblichen Körper sowie die daran geknüpfte Liebe zu einer Frau und die Zeugung eines Kindes zu überwinden 43 — etwa auch gegen die Ansprüche seiner amerikanischen Freundin Ivy —, hat ihm innerlich den Bauch zerfressen. Der Versuch, sich von allen vitalen Bindungen zu lösen, führte zu Magenkrebs 44 . In neuer Weise bestätigen sich mythische Muster neu. Mit dem Spielball einer haltlos gewordenen Innerlichkeit, wozu der ursprüngliche Mythos dem modernen Roman wurde, hat dies freilich nichts mehr 43
Vgl. auch Gunda Mertelsmann, „Geschlechterproblematik und Identität im Werk Max Frischs", in: Psychoanalytische Textinterpretation, hg. Johannes Cremerius, Hamburg 1974, 181 — 207, dort 183, wo darauf abgehoben wird, daß Faber — wie nach Freud überhaupt der technische Mensch — danach strebt, „das Gattungshafte" zu verdrängen. Allerdings verwendet Mertelsmann ihren Begriff vom Gattungshaften in unzulässiger Verengung synonym mit Sexualität. Der Tod kommt nicht zur Sprache. — Auch bei anderen Interpretationen, die psychoanalytisch interpretieren, scheint mir das Thema des Todes nicht richtig eingeschätzt. Gänzlich ignoriert wird es bei Wolfram Mauser, „Max Frischs ,Homo Faber' ", in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche 1 (1981), 79—95. Und am Ende von Conny Bauer, „Max Frischs ,Homo faber'. Versuch einer psychoanalytischen Auslegung", in: Text und Kontext 11 (1983), 324—340, dort 337, erscheint der Tod lediglich als das phantastische Objekt inzestuöser Sehnsüchte. Doch davon kann bei dem Faber, der am Ende in Anerkennung seiner Todverfallenheit „dem Licht" standhalten möchte (S. 199), keine Rede sein.
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Vgl. Gerhard Kaiser, „Max Frischs ,Homo faber' ", in: Max Frisch, hg. Schmitz, 2 0 0 - 2 1 3 , dort 205.
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zu tun. Ganz im Gegenteil erscheint der Bezug zu antiken Mythen hier wieder als Zeugnis einer übergreifenden Lebensordnung, die sich dem Streben immer nur nach eigener Entfaltung und Autonomie nicht beugt. Vielmehr decouvriert die universale Ordnung solches Streben als die Fehlhaltung einer tragischen Verblendung. Seine These von angeblichen Verfremdungseffekten im „Homo faber" sieht Geulen auch in der extrem aufgebrochenen Erzählstruktur des Romans bestätigt. Analog meiner Kritik an der These von den mythischen Anspielungen als Verfremdungseffekt möchte ich hiergegen behaupten, daß es in Fabers Bericht keinen chronologischen Bruch gibt, der nicht psychologisch überzeugend motiviert wäre. Menschlich verständlich etwa ist, daß Faber bei der Darstellung von Sabeths Unfall zunächst vor allem von seiner verzweifelten Anstrengung, sie zu retten, berichtet (S. 127 ff.), aber verschweigt, daß sie im Angesicht seines nackten Körpers zurückwich und unglücklich stürzte. Daß dieses einerseits menschlich verständliche Schweigen andererseits von den objektiven Folgen her gesehen zu einer tödlichen Unterlassung wird, habe ich bereits gezeigt. Von daher gesehen ist es dann psychologisch wieder ungemein schlüssig, unter welchen Umständen Faber schließlich doch noch zum Reden gebracht wird. Weil sich an der Unglücksstelle noch Sachen von Sabeth und ihm befinden, kann es dort unter der Aufsicht Hannas zu einer Ortsbegehung kommen, die ihn unter Geständnisdruck setzt. Faber „dachte, Hanna würde im Wagen warten" (S. 156), doch dann stellt sich heraus, daß sie ihn nicht nur zum „Tatort" begleitet, sondern auch Spuren sichert und die Ermittlung führt. Und er, der zu überführende Täter setzt sich gegen die Rekonstruktion des Tathergangs, wiederum menschlich verständlich, zunächst zur Wehr: „Walter", sagte sie, „dort ist eine Spur!" W i r waren aber, fand ich, nicht hierher gefahren, um allfállige Blutspuren, sondern um meine Brieftasche zu finden, meine Jacke, meinen Paß, meine eignen Schuhe — Alles lag unberührt. Hanna bat um eine Zigarette — Alles wie gestern! (S. 156)
Doch letztlich wird Faber angesichts der überwältigenden Gegenwärtigkeit des Geschehens zum Reden gebracht. Er sagt: „Was den Unfall betrifft, habe ich nichts zu verheimlichen" (ebd.), und erzählt nun, was er bislang eben doch verheimlicht hat. Zum analytischen Prozeß von retuschierender Uberblendung und entlarvender Rückblende, der die Struktur von Fabers Bericht bestimmt 45 , 45
Vgl. bereits Reinhard Meurer, Max Frisch. Homo faber. Interpretation, München 1977, 80, w o daraufhingewiesen ist, daß ,in allen Fällen die Zeitumkehrung in der Erzählfolge die Darstellung besonders unangenehmer und verhängnisvoller Ereignisse betrifft'. Meurer kommt zu dem Schluß: „Es scheint, als ob die Erinnerung immer wieder die schlimmsten Erlebnisse überspringen wolle, um dann doch zwanghaft zu ihnen zurückzukehren".
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passen auch die Vorausdeutungen. Mit ihnen versucht Faber schon vorab eine bestimmte Interpretation von dem, was er nachfolgend berichtet, durchzusetzen. Weil es in seiner Vorstellung von der technischen Idealwelt keine Katastrophen mehr geben darf, muß er, wo eine solche — und zwar ausgerechnet ihm und seinen Nächsten — doch geschehen ist, sie zur statistisch unerheblichen Zufallsvariante erklären. Insbesondere auch die Kontrastierung seines Zufallsbegriffs mit den Begriffen Schicksal und Schuld läßt in aller Schärfe hervortreten, was sein Bekenntnis zu den objektiven Gesetzen der Statistik belegen soll: Was ihm und den Seinen an vernichtendem Unglück geschehen ist, sei nicht mit Notwendigkeit geschehen! Doch wie mit schicksalhafter Notwendigkeit gerät ihm sein Rechenschaftsbericht unter der Hand zu einer Schrift der Selbstanklage. Der manipulative Impetus der Vorausdeutungen fordert heraus, das Nachfolgende gegen den Strich zu lesen. Und der Retuschierungsversuch der Überblendungen bedingt Rückblenden, die mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten sind. So entwickelt der Bericht gegen den Willen seines Schreibers eine schicksalhafte Eigendynamik, die durch alle Verschleierungsversuche hindurch zur Wahrheit führt. Wie ich zunächst deutlich zu machen versuchte, muß gegen Geulens romantheoretisch perspektivierte Analyse festgehalten werden, daß im „Homo faber" — nicht wie im modernen Roman, sondern eher wie in einem traditionellen Ich-Roman — die Beschränkung auf eine exklusive subjektive Perspektivik völlig stringent durchgehalten wird. Dies geschieht sogar so zugespitzt, daß selbst die sonderbare Ereignisverkettung, die erzählt wird, sofort glaubhaft ist — eben weil sie der Ich-Erzähler selbst als das Allerunwahrscheinlichste reflektiert. Einer ungnädigen Lesereaktion auf das scheinbar doch völlig Unmögliche, was hier berichtet wird, ist damit vorgebaut. Die in sich stimmige Geschlossenheit, wie sie für die herkömmliche literarische Fiktion kennzeichnend ist 46 , bleibt gewahrt. Gleichzeitig ist aber auch zu beobachten, daß gerade die psychologisch schlüssig durchgestaltete Ich-Perspektive schließlich wie mit schicksalhafter Notwendigkeit auf einen archimedischen Punkt außerhalb der Subjektivität des Berichtenden verweist. Dessen Streben nach einer entkörperlichten und technisch vollständig regulierbaren Ordnung — aber auch das seiner Antagonistin nach einseitiger erzieherischer Vereinnahmung des gemeinsamen Kindes (vgl. S. 201 ff.) — wird vom Bericht
46
Dabei kann auch darauf hingewiesen werden, daß die Ich-Perspektive allgemein als die Erzählhaltung gilt, die wie keine andere geeignet ist, die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu verbürgen. A u s diesem Grund ist sie schon zu einem frühen Zeitpunkt der Romanentwicklung zu großer Bedeutung gelangt. Vgl. Franz K . Stanzel, Typische Formen des Romans, 8. Aufl., Göttingen 1976, 29 f.
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gegen die Absicht des Berichtenden als ein, wenngleich ungewolltes, Vergehen entlarvt. In einem komplexen Wechselspiel von Verwerfung und deren Widerlegung, Verheimlichungsbemühung und daraus resultierender Wahrheitsfindung wird jede Idee von einer ausschließlich selbst lenkbaren Ordnung widerlegt, doch so, daß dabei gleichzeitig eine andere, größere, den notwendigen Sturz auffangende existentiale Ordnung erfahrbar wird. So kommt es im Zusammenbruch auch zu einem Durchbruch, wie schon Gerhard Kaiser in seiner frühen wegbereitenden Interpretation herausgestellt hat. Das Fazit seiner Arbeit lautet: In der Zerstörung ihres Lebens erleben Hanna und Faber ihnen bisher verschlossene Kräfte. In der Vernichtung treten neue Lebenswerte heraus, und im Zerbrechen aller Daseinsschablonen vollzieht sich ein Durchstoß zur radikalen Existenzerfahrung. 4 7
Auf dem Hintergrund des soweit Umrissenen muß auch das Verhältnis des „Homo faber" zum Ich-Roman herkömmlicher Prägung neu bedacht werden. Zunächst war festzustellen, daß der „Homo faber" mit diesem mehr gemeinsam hat als mit dem modernen Roman. Doch es entspricht der ungewöhnlichen Stoßrichtung dieses Werks, die Romantradition „nach hinten" zu transzendieren, daß es letztlich auch den traditionellen Ich-Roman hinterschreitet. Was sich dabei abzeichnet, ist die analytische Struktur der Tragödie. Im frühen Ich-Roman, für den etwa Daniel Defoes „Moll Flanders" als Paradigma angesehen werden kann, geht es bestimmt nicht um die Bezeugung einer außermenschlichen Ordnung, die sich gleichwohl nur durch einen elementaren Erfahrungs- und Bewußtseinsbezug des Menschen zu ihr bewahrheiten läßt. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der individuellen Heldin, die in einem bewegten Leben mit Elan und Pfiffigkeit aus dem Gaunermilieu in die besseren Kreise arriviert. Auch die Entdeckung eines Inzestverhältnisses kann diesem Aufstieg keinen Abbruch tun. Vielmehr ist es gerade der aus dieser Verbindung hervorgegangene Sohn, der entscheidend zum glücklichen Ende beiträgt. Wohlsituiert bekennt sich Moll dann als reuige Sünderin und erzählt aus dieser Position heraus mit ebensoviel Lust wie moralisierendem Anspruch ihren Weg dahin. Im „Homo faber" ist alles umgekehrt. Seine Position der Wohlsituiertheit ist gerade katastrophal zusammengebrochen, wenn der Ich-Erzähler zu erzählen beginnt. Die Entdeckung eines inzestuösen Verhältnisses mit Todesfolge und Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit haben ihn zum Schreiben gezwungen. Doch der Versuch, aus der einschneidenden Erfahrung eine neue Erkenntnis, eine gleichwie geartete 47
Kaiser, 212.
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Lehre zu ziehen, bleibt aus. Denn es soll ja alles nur zufällig geschehen sein. Trotz der für den leidenschaftlichen Tatenmenschen ungewöhnlichen Schreibsituation fehlt somit nicht nur jeder Ansatz, sein bisheriges Leben einer selbstkritischen Prüfung zu unterziehen, sondern alles ist gerade im Gegenteil ganz darauf ausgerichtet, die vermeintlich stabilisierte und scheinbar nur durch eine dumme Zufallsverkettung derangierte IchWelt-Totalität von zuvor wieder herzustellen. Der Versuch, die in einem ersten Schub erlebte Katastrophe seines Lebens zur unerheblichen Abweichung vom Wahrscheinlichen zu erklären, ist Ausdruck eines panisch verzweifelten Ringens, das Geschehene ungeschehen zu machen, das irreparabel Zerbrochene nochmals zu reparieren. Damit ist in der Zufallsthese des Erzählers aber auch ein Gipfel nicht mehr zu überbietender tragischer Blindheit zu sehen, dem am Ende kontrapunktisch die blitzhafte Schau einer ebenso vernichtenden wie erhellenden Wahrheit entspricht. Hier nun aber sind wir bei der Struktur der antiken Tragödie angekommen, in deren gleichwohl komplex verschlungener Handlung doch alles einheitlich auf diesen einen Punkt hin ausgerichtet ist. Es wird noch zu verdeutlichen sein, in welcher Hinsicht der „Homo faber" der Romantradition verhaftet bleibt und damit auch einen entscheidenden Abstand zur antiken Tragödie markiert. Doch vorerst drängen sich andere Fragen auf. Wie kommt ein zeitgenössischer Roman überhaupt dazu, sowohl in der Charakterzeichnung — der Held verharrt im Zustand entwicklungsloser Fixiertheit bis hin zum kathartischen Blitz der Erkenntnis im Moment der Vernichtung — als auch in der Handlungsführung — straffe Entwicklung hin zum kathartischen Ereignis — auf Grundformen der antiken Tragödie zurückzugelangen? Wo sind die historischen Voraussetzungen zu sehen? Die Antwort muß lauten: in der modernen Technik als dem, was die Welt von heute von Grund auf strukturiert. In welch provokanter Weise Max Frisch diese Welt in seinem „Homo faber" zeichnet, soll in den nachfolgenden Ausführungen herausgestellt werden. Einerseits vermag sie Totalitätserwartungen von solcher Suggestionskraft zu wecken, daß ein Heutiger fast nicht umhin kann, an ihnen selbst dort noch festzuhalten, wo die vermeintliche Einheit von Ich und Welt längst zerbrochen ist. Dies soll im nächsten Kapitel nachvollzogen werden. Andererseits muß sie gemäß einer ihr immanenten Logik mit unerbittlicher Strenge die an sie gestellten Erwartungen letztlich destruieren. Dieser Hergang wird im übernächsten Kapitel aufgewiesen werden. Abschließend kann gezeigt werden, daß die heutige Technik wie der göttliche Daimon der antiken Tragödie durch Trug zu Wahrheit, vom Schein zu einem ihm zugrundeliegenden Sein führt.
II. Das Totalitätsversprechen der modernen Technik Es wird verwundern, daß ausgerechnet von der heute mehr denn je zu beobachtenden Tendenz zum technischen Totalitarismus neuerdings auch ein Totalitätsversprechen ausgehen soll. Denn herkömmlicherweise ist es ja gerade diese Tendenz, von der sich im Roman (schon im traditionellen und dann vor allem im modernen) eine bitter beklagte Entfremdungserfahrung ableitet. Um diesbezüglich nochmals Adornos „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman" zu zitieren: Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschaften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbstentfremdung, fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen. Von jeher, sicherlich seit dem achtzehnten Jahrhundert, seit Fieldings „Tom Jones", hatte er seinen wahren Gegenstand am Konflikt zwischen den lebendigen Menschen und den versteinerten Verhältnissen. '
Aber die Zeiten ändern sich. In unserer heutigen Erfahrungswelt sind wir Zeugen von Entwicklungen, die nicht mehr so sehr nach mechanistischem Reduktionismus als nach einer universalen Kommunikationsvernetzung aussehen. Wie Norbert Wiener in seiner theoretischen Grundlegung der hier angesprochenen Entwicklungen diese schon im Jahre 1948 deutlich von den vorangegangenen Phasen des technischen Zeitalters abgrenzt: If the seventeenth and early eighteenth centuries are the age of clocks, and the later eighteenth and the nineteenth centuries constitute the age of steam-engines, the present time is the age of communication and control. 2
Auf das soeben zitierte Buch von Wiener „Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine" verweist Faber als eines der zentralen Referenzsysteme seiner Weltanschauung (S. 75). Mit diesem System, das Lebewesen und Maschine, technische Funktions- und natürliche Verhaltensweise einheitlich als dynamische Struktur kommunikativer Wechselbeziehungen erfaßt, wendet er sich gegen 1 2
Adorno, 43. Norbert Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, 12. Aufl., Boston 1948, 50.
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik das menschliche Ressentiment gegen die Maschine, das mich ärgert, weil es borniert ist, ihr abgedroschenes Argument: der Mensch sei keine Maschine. Ich erklärte, was die heutige Kybernetik als Information bezeichnet. (S. 74)
Faber spricht hier auf dem Hintergrund Wieners die damals noch zukünftige Entwicklung zum kreisrelationalen Zusammenschluß von Mensch und computergesteuerter Maschinenwelt an. Daß es bei dieser Entwicklung für die herkömmliche Technikkritik ungleich schwerer geworden ist, noch Greifpunkte zu finden, wird mittlerweile auch von sozialwissenschaftlicher Seite anerkannt. Sie muß feststellen, daß die Kritik am mechanistischen Reduktionismus des technischen Zeitalters früherer Prägung von dessen Transformation hin zur umfassend nach den Prinzipien der Kybernetik gestalteten, postmateriellen Gesellschaft längst aufgenommen und integriert worden ist. Die ausführliche Analyse „Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution" von Rolf Kreibich betont die katalysatorische Bedeutung holistischer Ansätze für die Ausbildung der .Allgemeinen Systemtheorie' 3 . Besondere Erwähnung finden dabei philosophische Denkanstöße wie die von Wilhelm Dilthey und Hans Driesch sowie die Ganzheits- und Gestaltpsychologie 4 . Es liegt auf der Hand, daß der neue futorologische Begriff „Computopia" 5 eine nur allzu schlüssige Konsequenz der hier angedeuteten Entwicklung ist. Für den Aufweis des scheinbar ausgesprochen harmonischen Verhältnisses des Ich-Erzählers im „Homo faber" zur modern technischen Fortschrittswelt, wie er es nach seiner „zufalligen" Katastrophe in seinem Bericht nochmals beschwört, wird jedoch zunächst einmal auf die Technikdiskussion im zeitgeschichtlichen Umfeld des Werkes einzugehen sein. Dies ist schon deshalb geboten, weil auch ein Gutteil der vorliegenden Forschungsarbeiten zum „Homo faber" auf sie Bezug nimmt. Ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen wird dann das Verhältnis des „Homo faber" zur Technikdiskussion seiner Zeit zu bestimmen sein. Dabei wird deutlich werden, wie dieser Roman — gemäß dem Wesen eines Kunstwerks, seiner Zeit voraus zu sein — Entwicklungen im Ansatz spürbar werden läßt, wie sie sich erst heute, drei Jahrzehnte später, nachhaltig abzuzeichnen beginnen. 3
4 5
Rolf Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frankfurt a. M. 1986, s. insbesondere den Abschnitt „Vernetztes Denken und Systemtheorie", 270 ff. Ebd., 272. Herrmann Glaser stellt im E X T R A in DIE ZEIT v o m 23. 10. 1987, 4 9 - 5 1 , dort 50, in Auseinandersetzung mit dem Futurologen Klaus Haefner die Frage: „Wird, was Marxismus und Sozialismus nicht bewirken konnten, nun in ,Computopia' (im Reich der human computerisierten Gesellschaft) realisiert werden?"
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1. Die Technikdiskussion der 50er Jahre Im Bemühen der 50er Jahre, mit dem allerorts forcierten technischen Fortschritt eine Auseinandersetzung zu finden, die seiner enormen Bedeutung in allen Bereichen des gegenwärtigen Lebens zu entsprechen vermag, verdient Arnold Gehlens „Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft" besondere Beachtung. Die Studie hebt darauf ab, „daß unsere philosophischen Begriffe im allgemeinen weit davon entfernt sind, den Gegebenheiten der Gegenwart gewachsen zu sein". Ihr erklärtes Ziel ist es deshalb, im Sinne einer philosophischen Anthropologie nach objektiven Gesichtspunkten [zu] suchen, um möglichst auch dieses erstaunlichste Gebiet menschlicher Geisteskraft in den Umkreis unseres Selbstverständnisses hineinzuziehen. 6
So versucht sie zunächst die Bedeutung der Technik als anthropologische Notwendigkeit zu bedenken, die in den wesenseigenen Organmängeln des Menschen ihre Ursache habe: Im Anschluß an M A X SCHELER hat die moderne Anthropologie klargelegt, daß der Mensch infolge seines Mangels an spezialisierten Organen und Instinkten in keine artbesondere, natürliche Umwelt eingepaßt und infolgedessen darauf angewiesen ist, beliebige vorgefundene Naturumstände intelligent zu verändern. Sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in seinen Instinkten verunsichert ist er das existentiell auf die Handlung angewiesene Wesen. 7
In einem zweiten Schritt untersucht Gehlen die qualitative Veränderung der Technik auf ihrem Weg zum gegenwärtigen Entwicklungsstand. Als grundlegend für die Technik im modernen Sinn benennt er dabei ihr Zusammenspiel mit der im strengen Sinn analytisch-experimentellen Wissenschaft einerseits sowie der kapitalistischen Produktionsweise andererseits. So sieht er seit Ende des 18. Jahrhunderts die zunehmende Herausbildung einer „Superstruktur", in der sich Naturwissenschaft, Technik und Industrialisierung wechselseitig stimulieren und vorantreiben. Heute sei dabei ein Stadium erreicht, in dem diese drei Grundkomponenten des technischen Zeitalters keinesfalls mehr isoliert, sondern nur noch in ihrem funktionellen Zusammenhang betrachtet werden können: Die Naturforschung selbst wird durch immer neue technische Hilfsmittel weitergetrieben, die Natur wird technisch aufgebrochen, der Gelehrte muß sich mit dem Techniker verständigen, denn sein Problem definiert die noch nicht vorhandene
6
7
Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, 7. Ebd., 8.
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik Apparatur mit, die man braucht, um es zu lösen. Die theoretische Physik ζ. B. geht nicht weniger in den Köpfen der Physiker als in den elektrischen Rechenmaschinen vor sich, und die Messungen am Zyklotron, in dem Energien von vielen Millionen Elektrovolt erreicht werden, gehen in die Rechenwerte und damit in die Theorien mit ein. Andererseits wieder haben die großen Industriewerke ihre eigenen Forschungsinstitute, die Naturwissenschaft ist nicht mehr ein Monopol der Universitäten, und die Zuschüsse der Industrie wiederum erhalten manches karg ausgestattete Institut der Technischen Hochschulen arbeitsfähig. Die Vorstellung, als ob die Technik „angewandte Naturwissenschaft" wäre, ist überholt und altmodisch, vielmehr setzen sich alle drei Instanzen — Industrie, Technik und Naturwissenschaft — gegenseitig voraus. 8
Hier zeichnet sich für Gehlen bereits die Tendenz der modernen Technik zum integrativen und selbstregulativen Universalsystem ab, das vor allem mit der Entwicklung zur Vollautomatisation zu beobachten sei. Für diesen höchsten vollautomatischen Stand der Technik sei kennzeichnend, daß dem Menschen nicht nur körperlicher, sondern auch intelligenter Arbeitsaufwand abgenommen werde. Im weiteren geht Gehlen auf den tiefgreifenden Umbruch in der gesamten Lebenswirklichkeit sowie dem Welt- und Selbstverständnis des gegenwärtigen Menschen ein. Er hebt hervor, daß neue technische Erfindungen zwar schon immer „außerordentliche geschichtliche und soziale Auswirkungen" haben konnten, daß aber erst heute, „wo wir von der ,Kybernetik', der Theorie der Regelungstechnik, Aufschlüsse über das Funktionieren unserer eigenen Gehirn- und Nerventätigkeit erwarten", Technik insgesamt „bis in den Mittelpunkt der menschlichen Weltauslegung und damit auch seiner Selbstauffassung" vorgerückt sei 9 . Zum Abschluß seines einführenden Kapitels „Der Mensch und die Technik" spricht Gehlen insbesondere die abzusehenden Folgen für die weitere Wissenschaftsentwicklung an: Der mit Sicherheit zu erwartende Erfolg ist der, daß jetzt reiche Erfahrungsgebiete, wie die Technik, die Physiologie, die Biologie, die Psychologie in eine unerwartete Vergesellschaftung treten, es werden „fruchtbare Indikationen" möglich, man kann Fragestellungen und Theorien von einem Gebiet auf das andere übertragen und sehen, was dabei herauskommt. Für eine eigene, selbständige Wissenschaft höherer Ordnung, die „Kybernetik", ist es wohl noch zu früh, aber sie bedeutet einen Wissenschaftsplan der Zusammenschau und gegenseitigen Befruchtung mehrerer Wissenschaften: zu den eben genannten würde übrigens noch die Soziologie hinzutreten, weil die „Rückmeldung" das Problem der „Kommunikation" aufwirft, nämlich der Nachrichtenübermittelung überhaupt bei Geräten (wie elektronischen Rechenmaschinen) und Lebewesen.' 0
Im ganzen gesehen gilt es nach Gehlen also zunächst zu bedenken, daß Technik dem Menschen die Schaffung einer eher manipulier- und 8 9 10
Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 22.
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beherrschbaren Umwelt ermöglicht, als die Natur es ist, in der er ohne Technik überhaupt nicht überleben könnte. Andererseits ist aber auch festzustellen, daß die Technik auf ihrer heute erreichten Entwicklungsstufe wesentlicher Bestandteil einer höchst effizient funktionierenden Superstruktur geworden ist, die ihrerseits den Menschen mit eigenen systemimmanenten Forderungen umgibt. Diese eigene systemgegebene Dynamik weist sie gewissermaßen als eine „nature artificielle" aus. Hierzu kann angemerkt werden, daß sich diese Ambivalenz der modernen Technik bereits in Hans Freyers „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" aufgezeigt findet. Dort wurde auch für die von der ursprünglichen Natur weitgehend abgelöste Welt der modernen Technik der Terminus „sekundäres System" geprägt. Die Kybernetik als das umfassende Paradigma der aktuellen technischen Entwicklungen, wenn nicht gar unseres gesamten Denkens und Handelns, findet sich bei Freyer jedoch noch kaum reflektiert. Dem entspricht, daß er mehr als Gehlen vor allem die Unterschiede zwischen der eigentlichen Natur und der technischen „nature artificielle" hervorhebt. Während zum sekundären System die Tätigkeit des Machens, die schnelle und zweckgerichtete Produktion gehöre, sei die Tätigkeit des ursprünglichen Bauern Beispiel eines eher partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, zu dem immer auch das Warten gehöre: Der Bauer stellt keine Sache her, und seine Arbeit ist kein Machen. Seine Verrichtungen vom Morgen bis zum Abend, vom Furchenziehen bis wieder zum Furchenziehen bilden keine Zweckreihe, an deren Anfang ein Rohstoff, in deren Mitte ein Halbfabrikat und an deren Ende ein fertiges Ding steht. Sie fügen sich, zuwartend und dann rechtzeitig, in den Tages- und Jahreslauf ein, und der Wachstumsprozeß der Pflanzen setzt einer jeden von ihnen ihre Stunde. Die Vorstellung, der raschere Umtrieb könnte das Tempo beschleunigen, hat hier keinen Sinn. Zwischen den Arbeiten liegt, beinahe als ihr bestes Teil, immer das Warten: Nicht das Warten auf den Anschluß im mechanisierten Verkehr mit der Uhr in der Hand, sondern das Erwarten dessen, was von Natur und aller Erfahrung nach kommen wird, das Abwarten, bis es kommt, mit aller Hoffnung, allem Hangen und Bangen, das zu einem rechten Warten gehört. 11
Am Schluß seiner Untersuchung gibt Freyer der Hoffnung Ausdruck, daß sich auch das sekundäre System der Geschichte der Menschheit einmal noch „als ein Jahresring, durch den hindurch sie weiter wachsen wird" 12 , anlegen werde. In der Gegenwart (1955) bezeichne das sekundäre System allerdings noch eine abstrakt fordernde Welt, die den Menschen in seinem Menschensein reduziere, da sie dessen integriertes Funktionieren zum Erhalt ihrer Eigendynamik benötige. Eine ange11 12
Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, 15. Ebd., 260.
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messene Aufarbeitung solch fortschreitender Entfremdung sieht Freyer im Roman geleistet, was ihn als Soziologen in prinzipielle Übereinstimmung mit der historischen Romantheorie bringt: Ich verzichte mit einigem Bedauern darauf, an dieser Stelle eine Sammlung von Beispielen aus der Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts anzubringen, in denen das Thema der Einsamkeit, der Auflösung der menschlichen Bande, der Absonderung der Menschen gegeneinander durch variiert wird. Keine Nuance des Phänomens selbst, keine seiner psychologischen Facetten, keine der ethischen Konsequenzen, die sich aus ihm ergeben, ist dem Spürsinn der Schriftsteller entgangen. Die reichste Ausbeute liefert der Roman, von Balzac an über Dostojewski, Flaubert und Marcel Proust bis zu Franz Kafka. Diese Dichtungsgattung scheint am geeignetsten zu sein, die Problematik des einsam gewordenen Menschen nicht nur auszudrükken, sondern sie in einem Hohlspiegel einzufangen und im Bewußtsein zu verarbeiten. 13
Es dürfte deutlich geworden sein, daß bereits in Freyers Begriff vom sekundären System anklingt, wie die Welt der modernen Technik für den Menschen der Gegenwart so etwas wie eine selbstgeschaffene Natur bedeutet. Welchen erstaunlichen Grad der Isomorphic diese bereits mit der eigentlichen Natur erreicht hat, findet sich allerdings erst bei Gehlen reflektiert. In diesem Zusammenhang hebt Gehlen noch weiter hervor, daß die moderne Technik dem Menschen auch ein identifikatorisches Resonanz- und Spiegelungsangebot bereitstelle, insofern „der technische Regelkreis dieselbe Form des Wirkungszusammenhanges habe, wie sie der menschliche Handlungskreis und zahlreiche innerkörperliche Reaktionen zeigen"14. Daß ,der Mensch mit fortschreitender Technik in die unbelebte Natur ein Organisationsprinzip hineinträgt, das im Inneren des Organismus an zahlreichen Stellen bereits wirksam ist' 15 , deute also auch auf eine „Triebkomponente", die der modernen technischen Entwicklung zugrundeliege. Schon zuvor hat Gehlen deutlich gemacht, daß er es angesichts der allenthalben zu beobachtenden „Faszination durch den Automatismus" 16 für „ein verbreitetes und der Herkunft nach wohl akademisches Vorurteil" halte, „daß technisches Verhalten ,nur rational' und ,bloß auf Zwecke abgestellt' sei"17. Hier müsse „so etwas wie eine ,Tiefenbindung' an rhythmische, periodische, selbstläufige Außenweltprozesse"18 veranschlagt werden. Von derartigen Prozessen sei zwar schon die Natur bestimmt, doch erst der modernen Technik gelinge es, ihnen Stabilität im Sinne von einer 13 14 15 16 17 18
Ebd., 136. Gehlen, 21. Ebd. Ebd., 15. Ebd., 17. Ebd.
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allgemeinen, den Menschen beheimatenden Sicherheit beizubringen. — Es sei hier schon angedeutet, daß ich das soweit Umrissene für einen möglichen Ansatz halte, die fraglose „Tiefenbindung" an die Technik zu erklären, wie sie Walter Faber im Gegensatz zu jedem herkömmlichen Romanhelden vermittelt. Das bis heute am meisten beachtete Buch aus den 50er Jahren zum gegenwärtigen Zeitalter dürfte wohl „Die Antiquiertheit des Menschen" von Günther Anders sein. Freyers und Gehlens Sicht der modernen Technik als einer Art zweiten Natur kann mitgedacht werden, wenn Anders „das Makrogerät" vorstellt: Einzelne Geräte gibt es nicht. Das Ganze ist das Wahre. Jedes einzelne Gerät ist seinerseits nur ein Geräte- Teil, nur eine Schraube, nur ein Stück im System der Geräte; ein Stück, das teils die Bedürfnisse anderer Geräte befriedigt, teils durch sein eigenes Dasein anderen Geräten wiederum Bedürfnisse nach neuen Geräten aufzwingt. Von diesem System der Geräte, diesem Makrogerät, zu behaupten, es sei ein „Mittel", es stehe uns also für freie Zwecksetzung zur Verfügung, wäre vollends sinnlos. Das Gerätesystem ist unsere „Welt". Und „Welt" ist etwas anderes als „Mittel". Etwas kategorial anderes."
Eine Ergänzung zu den bisher vorgestellten Beiträgen ist vor allem in dem Begriff der ,prometheischen Scham' zu sehen. Anders vertritt die Auffassung, daß der Mensch der Gegenwart gegenüber seiner hochtechnisierten Umwelt an einem elementaren Minderwertigkeitskomplex leide. In Anbetracht des beschämend hohen Perfektionsgrades der von ihm selbst geschaffenen, dann aber ihm gegenüber verselbständigten Apparate weit entwickle er eine „Ding-Frömmigkeit" 20 , mit der er in geradezu puritanischem Leibhaß' 21 seine organische Physis verachten lerne. Gemessen am reibungslosen Funktionieren des ,Makrogeräts' werde der menschliche Körper zum Fremdkörper, dessen offensichtliche „Fehlkonstruktion" 22 korrigiert werden müsse. Denn sich mit dieser seiner Inferiorität und Zurückgebliebenheit ein für alle Male abzufinden und die Sturheit seines Leibes zu akzeptieren, kommt für den Zeitgenossen natürlich nicht in Frage.23
Von hier aus sieht Anders einem fortschreitenden Prozeß der Selbstverdinglichung des Menschen Tür und Tor geöffnet, an dessen Ende die „Verwandlung oder Liquidierung des Menschen durch seine eigenen 19
20 21 22 23
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 7. Aufl., München 1985, 2. Ebd., 36. Ebd., 38. Ebd., 32. Ebd., 35 f.
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Produkte" 24 zu befürchten sei. Der moderne Prometheus verwerfe „sich selbst als unangemessen"25. Eine dezidierte Gegenposition zu Anders kann in Theodor Litts „Technisches Denken und menschliche Bildung" gesehen werden. Anders hatte seine „traurigen Seiten über die Verwüstung des Menschen" in Erinnerung an ein humanistisches Erbe geschrieben26. Im Gegenzug versucht Litt in seiner Kritik an dem, „was heute der vielstimmige Chorus der Kulturzensoren den Zeitgenossen Tag für Tag in die Ohren singt"27, die gesamte neuhumanistische Bildungstradition zu treffen: Von Winchelmann an ist es immer die gleiche Klage, zu der die Richter ihrer Zeit sich durch den Anblick dieses Menschentums gereizt fühlen. Das Menschentum der modernen Welt ist ein geteiltes, ein aufgespaltenes, ein zerrissenes Menschentum. Der einzelne Mensch, durch eine bestimmte, eng umgrenzte und einseitig ausgerichtete Tätigkeit ohne Rest in Anspruch genommen und dadurch seine übrigen Wesensseiten zu pflegen außer Stande, wird zu einem Fragment desjenigen, was ihm zu sein bestimmt ist, und büßt unter dem Druck des ihn beschlagnehmenden Auftrags jede persönliche Prägung ein. Es ist der Unmut über diese Deformierung des Menschen, an dem das Pathos der Humanitätsbewegung sich nähert. Der Zusammenhang von Verneinung und Forderung tritt klar zu Tage, wenn wir die Idee der Humanität in derjenigen Fassung aufsuchen, die sie bei ihrem philosophischen Interpreten, bei W. v. Humboldt, erhalten hat. Wenn er das, was den Inhalt dieser Idee ausmacht, zu den Begriffen der „Universalität", der „Individualität" und der „Totalität" auseinanderfaltet, so leuchtet es ein, daß in dem ersten Begriff der verstümmelten Vereinseitigung, im zweiten der einebnenden Nivellierung, im dritten der gestaltzerstörenden Auflösung des zeitgenössischen Menschentums die korrespondierende Forderung gegenübergestellt wird. 28
Die „klassische Bildungsbewegung, deren innerstes Wollen sich im Begriff der ,Humanität' zusammenfaßt" und „deren leitendes Ideal recht eigentlich in der Auflehnung wider den Geist der Epoche seine bestimmte Linienführung gewonnen hatte"29, hält Litt für berechtigt, insofern sie sich gegen die obrigkeitsstaatlichen Zustände der Zeit richteten. Dagegen lehnt es Litt ab, die in einer bestimmten historischen Situation entstandene innerliche Verweigerungshaltung weiterhin gegen die sich arbeitsteilig organisierende Industriegesellschaft zu richten. Denn es ist der denkende Geist, der den Menschen in den Stand setzt, den Prozeß der rationalen Arbeitszerlegung bis zu seinen letzten Konsequenzen vorzutreiben. Es ist derselbe denkende Geist, der den Menschen anhält, die durch ihn eröffneten Möglichkeiten der Rationalisierung ohne Verzug und ohne Abzug in die Wirklichkeit
24 25 26 27 28 25
Ebd., 7. Ebd., 49. Ebd., „Widmung". Theodor Litt, Technisches Denken und menschliche Bildung, Heidelberg 1957, 12. Ebd., 9. Ebd., 8.
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umzusetzen. Wider die Überredungskraft seiner Argumente sind alle im Namen der Menschlichkeit erfolgenden Verwahrungen müßige Lufterschütterung. 3 0
Auch Litt sieht das .atemberaubende Ungestüm' 31 , mit dem der durch Naturwissenschaft, Technik und Industrie entfesselte Fortschritt weiterdrängt. Für die damit verbundenen Gefahren macht er jedoch weniger „den Techniker" als die Bildungstradition verantwortlich, die sich einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung beharrlich verweigere. Sie wolle nämlich die eigentliche Menschlichkeit des Menschen immer nur in einer realitätsabgekehrten Innerlichkeit sehen. Damit aber begehe sie Verrat an den eigenen Idealen: Nicht sicherer kann man [...] der blassen Abstraktion zum Sieg über das blutvolle Leben verhelfen, als wenn man dem Menschen einredet, das eigentlich Menschliche in ihm könne nur in einem abgesonderten Bezirk des inneren Daseins und abseits von der Betriebsamkeit des tätigen Lebens gedeihen. Denn damit lädt man ihn dazu ein, sein individuelles Sein in seine „Innerlichkeit" zurückzunehmen und das „Äußere" — das ihn darum für sich zu beanspruchen keineswegs aufhört — zu einem „entmenschten" Mechanismus erstarren zu lassen. Eine „Humanität", die sich für unfähig erklärt, eine in ihrer Faktizität unverdrängbare Dimension des gelebten Lebens zu durchsäuern, die sich womöglich zu gut ist, sich mit diesem subalternen Geschäft abzugeben, ist die radikalste Verneinung dessen, worin unsere Klassiker gerade das Wesen der Humanität fanden: der Individualität — denn was ist das für eine Individualität, die sich nur in der Quarantäne eines künstlich ausgegrenzten Schutzparks zu behaupten vermag! — und der Totalität — denn was ist das für eine Totalität, die weite Bereiche des Lebens aus sich meint heraushalten zu sollen! 3 2
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Litt nach einer neuen Bildungsform sucht, die die Erziehung zum gebildeten Menschen und die Ausbildung zum technischen Fachmann nicht mehr als Gegensatz betrachtet, sondern den Fortschritt der Technik als notwendige Voraussetzung für den Fortschritt in eine humanere Welt anerkennt 33 . Es handelt sich hier um einen Entwurf, der sich wohl am angemessensten als technischen Humanismus' beschreiben ließe. Die Beiträge von Freyer, Gehlen und Anders stimmten in dem einen Punkt überein, daß sie alle auf den Systemaspekt der modernen Technik abhoben, der sich mit einer gewissen Eigendynamik immer weiter vernetzt. Dagegen will Litt richtiggestellt wissen, daß auch die moderne Technik Mittel menschlicher Zwecksetzung sei. Heideggers ,Frage nach der Technik', um damit zum letzten und schwierigsten Diskussionsbeitrag zu kommen, liegt es fern, dem zu widersprechen: 30 31 32 33
Ebd., 21. E b d . , 33. Ebd., 90. Vgl. hierzu insbesondere das abschließende Kapitel „Bildung und Ausbildung", ebd., 91 ff.
38
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik Die instrumentale Bestimmung der Technik ist [...] so unheimlich richtig, daß sie auch noch für die moderne Technik zutrifft, von der man sonst mit einem gewissen Recht behauptet, sie sei gegenüber der älteren handwerklichen Technik etwas durchaus Anderes und darum Neues. 34
Für den Menschen der modernen Technik sei es sogar geradezu kennzeichnend, daß er alles, was ist, in den Bannkreis seiner eigenen Zwecksetzungen stellen muß. Zunächst in diesem Sinn wird „stellen" zu einem Schlüsselwort seiner Kennzeichnung der modernen Technik: Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf seinen Wasserdruck, der die Turbinen darauf hinstellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschine umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt, für den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung bestellt sind. Im Bereich dieser ineinandergreifenden Folgen der Bestellung elektrischer Energie erscheint auch der Rheinstrom als etwas Bestelltes. Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks. 35
Das Seiende, das vom Menschen der modernen Technik insgesamt so gestellt wird, daß ihm keine andere Bedeutung mehr zuzukommen scheint, als vom Menschen bestellbar zu sein, nennt Heidegger den Bestand. In diesen Bestand sei übergegangen, was bislang noch widerständiger Gegenstand war. Die Transformation des Gegenständlichen zum bloßen Bestand bedeute zwangsläufig aber auch eine Verwandlung des Menschen vom herkömmlichen Subjekt, das sich am Widerstand der objektiven Welt bildete, zum bloßen Besteller. Dieser Aspekt findet sich vor allem in der ausführlichen Darstellung „Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik" von Günter Seubold hervorgehoben. Er spricht diesbezüglich von einer „Auflösung der Dinge zu bloßen Bezugspunkten technischen Verlangens": Nur was in eine solche Beziehung treten kann, ist jetzt noch relevant, gilt erst dann überhaupt als seiend. Nicht Subjekt hier und Gegenstand dort, sondern eine Beziehung mit den Polen Bedürfnis und Bedürfnisbefriediger. 36
Bedenkt man, daß die Moderne, die im Roman die ihr gemäße Gattung gefunden hat, die Spaltung von Ich und Welt beklagt und zu überwinden hofft, so müßte diese Klage nun eigentlich verstummen. Denn die Spaltung scheint überwunden, wo aus der Welt ein ganz auf die Bedürfnisse des Menschen abgestellter Funktionszusammenhang 34
35 36
Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 4. Aufl., Pfullingen 1978, 10. — Wenn nicht anders vermerkt, sind die nachfolgenden Heidegger-Zitate der hier angeführten Aufsatz-Sammlung entnommen. Ebd., 19. Günter Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg i. Br. 1986, 138.
Die Technikdiskussion der 50er Jahre
39
geworden zu sein scheint. Bei diesem Schluß würde nach Heidegger das Wesentlichste jedoch vergessen: daß nämlich alle Technik eine Weise des Entbergens sei und damit immer über sich und den Menschen, der sie gebraucht, hinausweise. Dieser könne mit ihrer Hilfe immer nur auf ein außer ihm liegendes, vorgängiges Sein, das sich ihm zeigt, antworten, nicht aber über dieses verfügen: Der Mensch kann zwar dieses oder jenes so oder so vorstellen, gestalten und betreiben. Allein, über die Unverborgenheit, worin sich jeweils das Wirkliche zeigt oder entzieht, verfügt der Mensch nicht. 37
Wie sich nun „das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht", gegenüber der poiesis, dem ursprünglich her-vor-bringenden Entbergen verändert hat, beschreibt Heidegger wie folgt: Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann. [...] Das Erdreich entbirgt sich jetzt als Kohlerevier, der Boden als Erzlagerstätte. Anders erscheint das Feld, das der Bauer vormals bestellte, wobei bestellen noch hieß: hegen und pflegen. Das bäuerliche Tun fordert den Ackerboden nicht heraus. Im Säen des Korns gibt es die Saat den Wachstumskräften anheim und hütet ihr Gedeihen. Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie. Die Luft wird auf die Abgabe von Stickstoff hin gestellt, der Boden auf Erze, das Erz ζ. B. auf Uran, dieses auf Atomenergie, die zur Zerstörung oder friedlichen Nutzung entbunden werden kann. 36
Her-vor-bringen im Sinn der ursprünglichen poiesis und das moderne Herausfordern bezeichnen also geschichtlich verschiedene Weisen, in denen sich das Sein über das technische Handeln des Menschen entbirgt. Als ein Her-vor-bringen ist dabei auch noch die Feldbestellung anzusehen, bevor die motorisierte Ernährungsindustrie entstand. Im Gegensatz zu dieser hat jene die Erde nicht herausgefordert. Sie förderte nur das, was die Natur von sich aus hervorbringt 39 und zwar so, daß es in Maßen auch dem Menschen zugute kam. Anders ist nun aber das Fördern der modernen Kohle- oder Erzförderung. Hier handelt es sich nicht mehr um Förderung im Sinn von Hegen und Pflegen, sondern hier wird Natur herausgefordert und zwar so, daß sie in einem Sein an sich, das dabei auch das Dasein des Menschen ermöglicht, überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Natur wird lediglich noch als an37 38 39
Heidegger, 21. Ebd., 18 f. Vgl. ebd., 15: „Auch die physis, das von-sich-her Aufgehen, ist ein Her-vor-bringen, ist poiesis. Die physis ist sogar poiesis im höchsten Sinne. Denn das physei Anwesende hat den Aufbruch des Her-vor-bringens, ζ. B. das Aufbrechen der Blüte ins Erblühen, in ihr selbst (en heauto)."
40
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
zapfbarer Rohstofflieferant gesehen. So wird alles, was ist, vom Ansinnen des heutigen Menschen so vor-gestellt, daß es für ihn zum abrufbaren Bestand wird. Im Sinn dieses herausfordernden Entbergens wird dann auch das aus der Erde geförderte Erz weiterbearbeitet: Von ihm wird beispielsweise das Uran und von diesem wiederum eine nach eigenem Gutdünken einsetzbare Atomenergie gefordert. Folgendes ist aus der Sicht Heideggers festzuhalten: Im Zeitalter der modernen Technik ist die Wirklichkeit als Bestand entborgen. Wer sie dabei in solch herausfordernder Weise gestellt hat, daß sie sich nur noch als zu bestellender Bestand zeigt, ist der Mensch der modernen Technik. Insofern aber jedes menschliche Handeln immer nur dem entsprechen kann, was sich ihm zuvor zugesprochen hat, muß auch das herausfordernde Stellen Antwort auf eine Herausforderung sein, die an den Menschen ergangen ist. Diesbezüglich spricht Heidegger vom Gestell. Diese Substantivierung von „stellen", die Heidegger in Analogie zur Substantivierung von „schicken" zu „Geschick" gebildet haben dürfte, soll besagen, daß auch die nie gekannte Anmaßung, mit der sich im Zeitalter der Technik der Mensch die Natur theoretisch vorstellt und ihr praktisch nach-stellt, Teil eines übermenschlichen Geschehens ist, in dem er selbst als ein Gestellter agiert: „Das Ge-stell ist das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen" 40 . Das Wesen der modernen Technik stellt sich somit als seinsgeschichtliches, d. h. im Gegensatz etwa zu dem einer Tragödie als ein ins Epochale gewendetes Geschick heraus: Als die Herausforderung ins Bestellen schickt das Ge-stell in eine Weise des Entbergens. Das Ge-stell ist eine Schickung des Geschicks wie jede Weise des Entbergens. Geschick in dem genannten Sinne ist auch das Her-vor-bringen, die poiesis. 4 '
Ein Geschick ist also jedes seinsgeschichtliche Entbergen: das herausfordernde des Ge-stells wie das her-vor-bringende der poiesis. Zum Wesen eines Geschicks gehört, nicht beherrschbar, wohl aber — zumal wenn es sich um ein Entbergungsgeschick handelt — als Zugeschicktes, das zu- und anspricht, wahrnehmbar zu sein. Das Besondere nun am Geschick des Ge-stells ist, daß diese Wahrnehmung — Heidegger spricht diesbezüglich von der höchsten Gefahr — äußerst erschwert ist:
40 41
Ebd., 27. Ebd., 28.
Die Technikdiskussion der 50er Jahre
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Der Mensch steht so entschieden im G e f o l g e der Herausforderung des Ge-stells, daß er dieses nicht als einen Anspruch vernimmt, daß er sich selber als den Angesprochenen übersieht und damit auch jede Weise überhört, inwiefern er aus seinem Wesen her im Bereich eines Zuspruchs ek-sistiert. 4 2
Erneut drängt sich der Vergleich mit der Tragödie auf, gleichwohl es dort nicht um Seinsgeschichte, sondern um persönliche Schicksale geht. Aber auch dort ist der Blick von dem, der im Gefolge eines Geschicks handelt, für diese Wahrheit zumeist getrübt. Ahnlich ist auch dem Menschen, der in seinem Handeln vom Ge-stell geleitet sein soll, die eigentliche Bedeutung seines Tuns in der Regel verborgen: Wo das Ge-stell waltet, prägen Steuerung und Sicherung des Bestandes alles Entbergen. Sie lassen sogar ihren eigenen Grundsatz, nämlich dieses Entbergen als ein solches nicht mehr zum Vorschein kommen. 4 3
Steuern und Sichern sind Handlungsweisen des modernen Menschen, der sich die Kreisläufe der Natur in den Stromkreislauf einer kybernetisch funktionierenden Technik umgesetzt hat. Dabei lassen jene Handlungsweisen nur noch schwer erkennen, was sie ihrem Wesen nach sind: spezifische Weisen des Entbergens, die lediglich dem Zuspruch einer ihnen je schon vorgängigen Wahrheit entsprechen. So kann der Mensch der modernen Technik, der von der Tätigkeit des Steuerns und Sicherns blind aufgesogen ist, zu der Meinung gelangen, er sei der Beherrscher der Natur. Faktisch wäre dies dann aber nichts anderes als das falsche Meinen der Hybris, zu dem das Geschick des Ge-stells verführt. Ganz im Sinn solch einer Verführung betont Heidegger an anderer Stelle, daß eine Technik auf uns zukomme, die „fesseln, behexen, blenden und verblenden" könne 4 4 . Zusehens zeichnet sich die Möglichkeit ab, das hintergründige Walten des Ge-stells der Struktur nach vom geschickhaften Geschehen einer griechischen Tragödie her zu verstehen. Es bietet sich an, diese Möglichkeit nun dezidiert weiterzuverfolgen: Im Zusammenschluß mit der nunmehr ,fesselnden' Welt der Technik mag sich der Mensch von heute und morgen schließlich in einem lang ersehnten Einklang mit der Welt fühlen. Aber faktisch wäre dieser Zusammenschluß die Vereinnahmung der Welt zum Spiegel bloßer Selbstbezüglichkeit, die vom ganz Anderen einer wachsam zu hütenden Schöpfung nichts mehr weiß. Solche Blindheit, die ,die Erde über den gewachsenen Kreis ihres Möglichen hinaus in solches zwingt, was nicht mehr das Mögliche und daher das Unmögliche ist' erinnert Heidegger in seinem Aufsatz „Überwindung der 42 43 44
E b d . , 31. Ebd. Heidegger, Gelassenheit, 7. Aufl., Pfullingen 1982, 25.
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
Metaphysik" an die andere, von der Technik in ihrer Bedeutung als vollendeter Metaphysik vergessene Möglichkeit: Eines ist es, die Erde nur zu nutzen, ein anderes, den Segen der Erde zu empfangen und im Gesetz dieser Empfängnis heimisch zu werden, um das Geheimnis des Seins zu hüten und über die Unverletzlichkeit des Möglichen zu wachen. 45
Die selbstbezügliche Blindheit der Hybris hat erstmals in der Tragödie des Ödipus, die seit Aristoteles als das Paradigma dieser Gattung gilt, im Inzest ein sinnfälliges Symbol gefunden. Außerdem ist es der „Ödipus", der wie keine andere Tragödie zeigt, daß die tragische Verblendung in einen Prozeß der Selbstaufhebung führen muß und damit letztlich den Blick in das freigibt, was ihm seine Verblendung zuvor verstellt hat. Zeichen eines solchen Wandels müßten in der seinsgeschichtlichen Entsprechung der modernen Technik als vollendeter und damit auch zu Ende gehender Metaphysik von der Technik selbst kommen. „Kein Wandel kommt ohne vorausweisendes Geleit", wie Heidegger zum Schluß seines Aufsatzes zur „Überwindung der Metaphysik" betont 46 . Ein Moderner wie Faber aber verschließt sich wie der alte Tragödienheld in seiner Verblendung so lange wie nur möglich vor den Zeichen des Wandels, die sich ihm zeigen. So wird er ,erst angesichts der Katastrophe seine Techniker-Blindheit entdecken'. Soweit habe ich den Heideggerschen Beitrag zum Zeitalter der Technik zu einem Punkt hin entwickelt, von wo aus er sich, wie soeben geschehen, in das überführen läßt, was Frisch über den Homo faber als „Typus unseres Zeitalters" gesagt hat (s. hier Einleitung). In diesem Verfahren sehe ich einen doppelten Gewinn. Zum einen wird Heideggers schwieriger Begriff vom Ge-stell als seinsgeschichtliches Geschick im spezifischen Sinn der griechischen Tragödie als Schicksalsmacht verstehbar. Denn von dieser wird der handelnde Mensch zunächst jeweils hinters Licht, nämlich in die Blindheit der Hybris, dann im tragischen Prozeß von deren Selbstwiderlegung aber in die sich bescheidende Annahme des ihm zukommenden Maßes geschickt 47 . Zum anderen lassen sich Frischs provokative Aussagen zum Weltverhältnis seines modernen Homo faber im Rahmen eines Denkens, das an die Gegenwart höchste Anforderungen stellt, theoretisch verankern. Insbesondere meine ich damit seine Andeutung, daß die moderne technische Einstellung zur Schöpfung, die in der Natur nur noch verwertbares 45 40 47
Heidegger, 94. Ebd., 95. Zu diesem im spezifischen Sinn der griechischen Antike tragischen Handlungszusammenhang äußert sich sehr prägnant Deichgräber, 119: „List des Gottes gegen den Menschen ist das tragische Welterlebnis der Sterblichen".
Die Rezeption der Technikdiskussion zum „ H o m o faber"
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Material sieht, inzestuös sei und in der Verblendung des griechischen Tragödienhelden seinen Ursprung habe. In der Weise, wie sich das individuelle Geschick einer griechischen Tragödienhandlung und das seinsgeschichtliche des Ge-stells gegenseitig erhellen können, sollten auch beide als mögliche Beschreibungsmodelle für das Schicksal von Frischs Homo faber im Auge behalten werden. Es scheint mir ein angemessener Weg zu sein, diese Figur in ihrer ganzen Komplexität auszuloten. Soll sie einerseits doch als „Typus unseres Zeitalters" Repräsentationsfigur der Gegenwart sein. Andererseits ist ihr Schicksal aber wie bei einem griechischen Tragödienhelden zuvorderst als ganz persönliches greifbar und als solches auch kathartisch mitzuerleben.
2. Die Rezeption der Technikdiskussion in der wissenschaftlichen Literatur zum „Homo faber" Bereits von der bisherigen Forschungsliteratur zum „Homo faber" wurde die Berücksichtigung der Analysen von Freyer, Gehlen, Anders, Litt und Heidegger nahegelegt. Hinzuweisen wäre hier zunächst wieder auf Kaiser, der auf dem Hintergrund Freyers folgenden Grundzusammenhang herausstellt: Zum einen vermag sich der technische Mensch mit seinem sekundären System in hohem Maß von der natürlich vorgegebenen Lebensordnung zu emanzipieren. Zum anderen aber ist abzusehen, daß sich ein rudimentäres Verwobensein in Natur, Geschichte und mitmenschlichen Beziehungen auch vom modernen Menschen nicht ohne bittere Konsequenz kappen läßt 48 . Dieser Interpretation ist zuzustimmen. Allerdings erscheint es mir noch notwendig, sie um den Hinweis auf zwei von der Tradition her gesehen äußerst frappante Aspekte zu erweitern. So ist es im „Homo faber" überraschenderweise auch die Technik selbst, die den Romanhelden Walter Faber letztlich wieder auf die Zusammenhänge der primären Lebensordnung zurückverweist. Hieraus wird zu folgern sein, daß nicht nur der Mensch in seinem Innersten, sondern auch die Technik in ihren äußeren Bedingungen kein von der Primärordnung der Natur unabhängiges System sein kann. Dies soll im nächsten Kapitel gezeigt werden. In diesem Kapitel wird dagegen zunächst einmal das Novum zu entwickeln sein, das als erstes auffallen muß: Das Bild, das der IchErzähler zumindest in der .Ersten Station' seines Berichts von seiner
48
Vgl. Kaiser, 209 f.
44
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
technischen Lebenswelt zu vermitteln sich bemüht, ist eines, in dem alles in Abrede gestellt wird, was noch in irgendeiner Form auf Entfremdung deuten könnte. Der Held dieses Romans scheint rundum glücklich zu sein, solange nur die Verbindung mit den Funktionen des sekundären Systems gewahrt ist, er aus dessen elektrodynamischem Netzwerk Strom beziehen, sich vor und nach seinem arbeitsintensiven Engagement für die UNESCO mit dem Rasierapparat entspannen, ferner über das Radio an den allgemeinen Sendungen teilhaben, sich darüber hinaus auf die zukünftige Kommunikation aller Fachmänner mit dem alles mit allem verbindenden Elektronengehirn freuen, mit seiner Super-Constellation die entferntesten Punkte der Erde schnell und bequem erreichen und neue Erfahrungen mit seiner bewährten Kamera, die ihn ebenso wie seine Hermes-Baby rund um die Welt begleitet, aufnehmen kann. Daß die einheitsvolle Totalität von technischer Welt und technischem Ich, wie sie hier suggeriert wird, die Ausgangssituation der Homo-faber-Tragödie ist, wartet bis heute auf eine angemessene Berücksichtigung. Jedoch hat es bereits die Interpretation von Kaiser nicht versäumt, auch auf ein unbestreitbar emanzipatives Moment in Fabers technischem Engagement aufmerksam zu machen. In den Vordergrund gestellt findet sich dieses dann in der Arbeit „Max Frischs Auffassung vom Einfluß der Technik auf den Menschen — nachgewiesen am Roman „ ,Homo faber'" von Ursula Roisch: „Faber plädiert [...] für eine im humanistischen Sinne regulierte und korrigierte Natur" 49 . Die Fabers humanistischem Engagement implizite Tragik sieht Roisch dabei in dem Umstand begründet, daß Frisch im Sinn Gehlens „die Welt der Technik und wissenschaftlichen Präzision als ,nature artificielle' " ontologisiere 50 . Wie Gehlen gehe Frisch unzulässigerweise davon aus, daß der Mensch „ ,in und von sinnvoll funktionierenden rhythmischen Automatismen' " lebe 51 . Auf diesem Hintergrund veranschlage er , „in der Technik liegende Triebkomponente[n]' " 5 2 . Dies jedoch sei methodisch fragwürdig, insofern hier im Sinne der Romantik .Intuition und rationales Denken qualitativ gleichwertig nebeneinanderstehen' würden 53 . Gegen solche Kritik ist nun allerdings einzuwenden, daß die von ihr Kritisierten (Gehlen und Frisch) mit dem verwechselt werden, was diese verstehend 49
50 51 52 53
Ursula Roisch, „Max Frischs Auffassung vom Einfluß der Technik auf den Menschen — nachgewiesen am Roman ,Homo faber' ", in: Über Max Frisch I, hg. Thomas Beckermann, Frankfurt a. M. 1971, 8 4 - 1 0 9 , dort 100. Ebd., 91. Ebd. (Zitat bei Gehlen, 16). Ebd. (Zitat bei Gehlen, 17). Ebd.
Die Rezeption der Technikdiskussion zum „Homo faber"
45
nachzuvollziehen versuchen. Denn bei den Entwicklungen der modernen Technik irrationale Triebkomponenten mit am Werk zu sehen, „inauguriert" diese keineswegs, wie Roisch meint 54 . Richtig dagegen ist, daß der, der über sie reflektiert, sich weigert, vor ihnen die Augen zu verschließen! Es ist der Arbeit von Roisch aber anzuerkennen, daß sie Gehlen im Hinblick auf den „Homo faber", wenn auch nur in polemischer Verzerrung, zur Kenntnis nimmt. Denn daß bei einer Technomanie, wie sie der Held dieses Romans präsentiert, bei allem proklamierten Anspruch auf rein rationales Denken und Handeln auch Irrationales mitschwingt, steht außer Frage. Die Suche nach Ansätzen wie dem von Gehlen liegt von daher gesehen also auf der Hand. Können die von ihm benannten Faktoren doch zumindest teilweise erklären, wie neuerdings Kreibich betont, „weshalb das technizistische Element so fest verankert ist und über weite ideologische Grundströmungen hinweg in allen modernen Gesellschaften wirkt" 55 . In Fabers weltanschaulichen Bekenntnissen lassen sich auch Äußerungen finden, die zum Teil wörtlich mit jener technizistischen Grundhaltung übereinstimmen, die Anders als prometheische Scham anprangert. Berücksichtigung findet dies ansatzweise in der Interpretation von Brigitte Bradley 56 und dann vor allem im Materialien- und Kommentarband von Walter Schmitz 57 . Allerdings hat dieser Interpret Schwierigkeiten, Anders wie im übrigen auch Freyer, Gehlen und viele andere summarisch daher zitierte Namen ernstzunehmen. Sie sind für ihn nur noch Exponenten einer veralteten Technikkritik, die spätestens mit der linken Gesellschaftskritik der 60er Jahre obsolet geworden sei. Doch hätten sich „elitäre und romantisch-regressive Restbestände noch weit über den ,Tod der Kulturkritik' hinaus" gehalten 58 , die dann in ihrer Verbohrtheit zum fixen Erwartungshorizont erstarrt den „Homo faber" für ihre Mythosbegeisterung zu vereinnahmen versucht hätten: Der „Homo faber" enthält Stoffelemente der Technikkritik, ebenso einige mythologische Anspielungen. Das genügte, um die im kulturellen System angelegte antagonistische Struktur „Mythos vs. Technik" als Deutungsschema zu mobilisieren. Wo das Kunstwerk Skepsis und Spiel meinte, sah eine mythisierende Literaturbetrachtung Glaube und Engagement. 59
54 55 56
57 58 59
Ebd. Kreibich, 317. s. Brigitte L. Bradley, „Max Frisch's ,Homo faber': Theme and Structural Devices", in: The Germanic Review 40 (1965), 2 7 9 - 2 9 0 , dort 280. s. unter den ,Einzelhinweisen', Schmitz, 65 ff. Ebd., 45. Ebd., 56 f.
46
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
Der dergestalt abgekanzelten Forschung präsentiert Schmitz seine eigenen „Einsichten": Der „Homo faber" schildere gar nicht die Technik; auch sei Faber kein Techniker, sondern rede wie auch die anderen Figuren des Romans nur gern über Technik 60 . Und dies tue er in einer Weise, daß er „nicht etwa die Ansichten der Technikoptimisten, sondern substantiell die der Technikgegner" vertrete; doch dann wieder so, daß diesen Ansichten „das zu der Perspektive konträre positive Urteil" unterschoben sei, welche „Diskrepanz" der rezeptionsästhetisch gebildete Leser dann als Desavouierung von ,Vorgedachtem' goutieren sollte 61 . — Diesem Interpreten scheint keine noch so willkürliche Verdrehung zuviel zu sein, um zu „belegen", daß alles, was je über Technik geschrieben beziehungsweise vorgedacht wurde, im „Homo faber" zum Gegenstand bloßer Verballhornung geworden sei. Im Gegensatz zu Schmitz bin ich der Meinung, daß in einer Figur wie Walter Faber ein Repräsentant der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen der Gegenwart zur Sprache kommt. Außerdem bin ich der Meinung, daß die Radikalität, mit der er in Denken und Handeln seine Uberzeugungen und seine Prinzipien vertritt, ihn nicht von vornherein diskreditiert. In diesem Punkt bin ich sogar geneigt, Roischs These beizupflichten, daß Faber von dem an sich humanistischen Gedanken gefesselt sei, „eine unberührte Landschaft zu prägen und das Dumpfe, unbewußt und wahllos Produzierende der Natur ins zivilisatorisch Helle lenken zu können" 62 . Wie es dann ausgerechnet auf dem Hintergrund eines solchen Ansinnens zur inzestuösen Verwirrung kommt, ist eine Frage, die beschäftigen muß. Die hier bezeichnete Schwierigkeit findet sich bereits in der frühen, von der weiteren Forschung allerdings nicht mehr beachteten Interpretation von Hermann Böschenstein, wo nicht befriedigend gelöst, so doch immerhin artikuliert. Seine Ausführungen zum „Homo faber" ergeben sich im Kontext seiner Monographie „Der neue Mensch. Die Biographie im deutschen Nachkriegsroman" von 1958. Auf dem Hintergrund Litts beklagt Böschenstein, daß der deutschsprachige Nachkriegsroman das eh schon sattsam bekannte Thema „Der verinnerlichte Mensch und die Technik" auch noch in höchst trivialer Ausformung perpetuiere 63 . Den Romanciers wirft er vor, eine konstruktive Auseinandersetzung mit der aktuellen Herausforderung der technischen Entwicklungen zu versäumen, indem sie aus der fixen Verschan-
60 61 62 63
Ebd., 46. Ebd., 47. Roisch, 97. Hermann Böschenstein, Der neue Mensch. Die Biographie im deutschen Nachkriegsroman, Heidelberg 1958, 1 1 1 ff.
Die Rezeption der Technikdiskussion zum „Homo faber"
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zung traditioneller Innerlichkeitspositionen heraus vorschnell Dinge attackierten, für deren Verständnis ihnen in der Regel jegliche Kompetenz abzusprechen sei. In dieser Situation trifft ihn der gerade erst erschienene Roman Max Frischs „anregend und beunruhigend" zugleich. Denn hier wird der Stab gewiß nicht schnell gebrochen, und man kann nicht behaupten, der Dichter kenne sich in technischen Dingen nicht aus — sein Herr Faber darf jedenfalls den Ingenieur aus Leidenschaft und Überzeugung eine lange Zeit spielen. Das Wort G. F. Jüngers von den Göttern, die den homo faber nicht lieben, erweist sich dann allerdings später wie auf ihn gemünzt: Der Tod holt ihn, nicht ohne ihn vorher noch des Inzests an seiner Tochter und unmittelbar an ihrem Tode schuldig werden zu lassen. Der Tod holt auch noch einen anderen, seinen Freund Joachim, der sich sozusagen zu weit auf den kaufmännischen Ast des technischen Zeitalters hinausgewagt hat. Kurzum, diesmal scheint ein geduldiger Richter der Technik das Verdammungsurteil zu lesen, nach reiflicher Überlegung. 64
Böschenstein findet es schwer, sich mit dem „vorzeitigen Ende" dieses Romanhelden abzufinden 65 . Nachdem er den tüchtigen und geschätzten, doch in seiner Gefühlsstruktur noch unterentwickelten UNESCO-Ingenieur von dessen Tochter auf den Weg in die Welt der Liebe, der Kunst und des Spiels gebracht sieht, scheint ihm „keine der literarischen Gestalten der deutschen Nachkriegsdichtung [...] so wie Faber dazu gemacht zu sein, den Ingenieur und den seelenhaften Menschen in einem Leben zu verbinden" 66 . Letztlich glaubt Böschenstein auch dem Autor des „Homo faber", der seinen Helden aus unerfindlichen Gründen tragisch enden lasse, die Überzeugung von Wissenschaftlern wie Litt von ,einer notwendigen Zusammenarbeit der Technik mit Philosophie, Kunst und Religion entgegenhalten' zu müssen 67 . Böschenstein pocht auf den angeblich immer noch ausstehenden literarischen Entwurf von „einem Menschen, der dem wissenschaftlichtechnischen Zeitalter wohlwill und seine Errungenschaften in den Dienst höchster Werte stellt" 68 . Er übersieht dabei, daß genau diese Forderung von einem Mann wie Faber sowohl im Hinblick auf seine berufliche Stellung als UNESCO-Ingenieur wie auch in seinem Selbstverständnis als engagierter Befürworter technisch humaner Lebensform eingelöst ist. Denn nicht trotz, sondern wegen dieser scheinbar so „blendenden" Ausgangsposition kann es zu einer im Sinne der Antike tragischen Handlung kommen. Erst der Mensch, der — wie etwa Ödipus, der mit seinem Verstand das Sphinx-Rätsel löste und dann an
64 65 66 67 68
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
123. 126. 125. 126. 127.
48
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
die Macht gekommen Theben für lange Zeit eine vielgepriesene Segensherrschaft bescherte — im Prinzip alle Probleme gelöst zu haben scheint, wird reif für die Tragödie. Es ist das Verdienst der Monographie von Doris Kiernan zu „Stiller", „Homo faber" und „Mein Name sei Gantenbein" 69 aufgezeigt zu haben, wie sich die immanenten Zusammenhänge in Frischs Romanen mit der Begrifflichkeit, die Heidegger in „Sein und Zeit" entwickelt hat, systematisch darstellen lassen. Der weiterführende Versuch, mit der gleichen Systematik die Bedeutung der Technik im „Homo faber" von Heideggers späterem Begriff des Ge-stells her zu erschließen, liegt allerdings jenseits der Themenstellung dieser Arbeit. So bleibt es in diesem Punkt lediglich bei einigen vagen Hinweisen 70 . Ungenutzt bleibt damit auch die in Heideggers Begriff vom Ge-stell angelegte Möglichkeit, das im griechischen Sinn Tragische von Fabers Technikerschicksal von einem zeitgenössischen Denken her zu erschließen, das seinerseits in die frühgriechische Antike zurückverweist 71 . Als eigenen Beitrag möchte ich in den nachfolgenden Abschnitten zunächst zeigen, wie im „Homo faber" die von Freyer, Gehlen und Anders beschriebenen Strukturen und Verhaltensweisen des technischen Zeitalters einerseits wiederzuerkennen sind, andererseits aber so, daß im Gegensatz zu deren Bewertung jeglicher Entfremdungsaspekt überwunden erscheint. Daran anschließend wird darauf abzuheben sein, daß sich Faber der Idee eines technischen Humanismus verpflichtet weiß, wie sie in der Technikdiskussion der Zeit etwa von Litt vertreten wird. Schließlich soll dargelegt werden, daß eine Figur wie Faber den unüberschreitbaren Gipfel, damit aber auch Wendepunkt einer großen Kulturtradition anzeigt, wie sie im Bereich des Denkens am frühesten und wohl auch am konsequentesten von Heidegger destruiert wird.
3. Das sekundäre System Der „Homo faber" vermittelt eine Welt, in der das, was Freyer als das sekundäre System beschreibt, sich bereits bis in die letzten Urwaldwinkel hineinzuverzweigen beginnt. Hierbei an vorderster Front mitzu69
70 71
Doris Kiernan, Existenziale Themen bei Max Frisch. Die Existenzialphilosophie Martin Heideggers in den Romanen „Stiller", „Homo faber" und „Mein Name sei Gantenbein", Berlin 1978. Vgl. ebd., 13. Was die deutlichen Anklänge des „Homo faber" an die Motivik des „ K ö n i g Ödipus" angeht, ist Kiernan in Übereinstimmung mit der jüngeren Forschungsgeschichte geneigt, eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu betonen (vgl. Kiernan 1 1 3 f. und 114, Fußn. 4).
Das sekundäre System
49
wirken, bezeichnet ja gerade das berufliche Aufgabenfeld Walter Fabers: „.Technische Hilfe für unterentwickelte Völker'" (S. 10) ist diesem modernen Helden aufs Panier geschrieben. Der Held des „Homo faber" ist stolz auf seine verantwortungsvolle Tätigkeit als leitender Ingenieur der UNESCO. Dem Vergleich mit einem Vertreter des spirituellen Lebens glaubt er standhalten zu können: Es ist nicht mein Ehrgeiz, ein Erfinder zu sein, aber soviel wie ein Baptist aus Ohio, der sich über die Ingenieure lustig macht, leiste ich auch, ich glaube: was unsereiner leistet, das ist nützlicher, ich leite Montagen, w o es in die Millionen geht, und hatte schon ganze K r a f t w e r k e unter mir, habe in Persien gewirkt und in Afrika (Liberia) und Panama, Venezuela, Peru, ich bin nicht hinterm Mond daheim — (S. 97)
Daß tüchtige Ingenieure einfaltige Sklaven des Systems seien, will sich Faber nicht einreden lassen. Mehr oder minder verhüllte Kritik in diese Richtung, wo immer sie anklingt, empfindet er als diskriminierenden Kulturdünkel: Ihre Ansichten! Ein Mensch, der den Louvre nicht kennt, weil er sich nichts draus macht, das gibt es einfach nicht; Sabeth meint, ich mache mich bloß lustig über sie. Dabei ist es der Baptist, der sich lustig macht über mich. „Mr. Faber is an engineer" - sagt er - (S. 76 f.)
Ganz in seinem Element fühlt sich Faber, wenn er über seine Arbeit reden und seine Fachkenntnisse, wo sie gebraucht werden, in Form sachlich partnerschaftlicher Beratung beisteuern kann. So wird ein zunächst unsympathischer Flugnachbar aus Deutschland trotz rosiger Haut und penetranter Suche nach einem Gesprächsstoff schon gleich sympathischer, wenn dieser sich als Repräsentant eines Unternehmens mit bestimmten Entwicklungsplänen herausstellt (vgl. S. 14 f.). Bei dem sich daran anknüpfenden Gespräch geht es um zweierlei: zum einen um die Sorge für die Zukunft einer Ware, nämlich der deutschen Zigarre, für die, um sich auf dem Weltmarkt behaupten zu können, ein gutes Tabakanbaugebiet gefunden werden muß; zum anderen um die Erkundung der Möglichkeiten einer hierfür notwendigen verkehrstechnischen Erschließung des Grenzlands von Mexiko und Guatemala. Vom Problem, „daß die deutsche Zigarre noch nicht zur Weltklasse gehört" (S. 14), fühlt sich Faber spontan angesprochen, und interessiert beugt er sich mit der Lupe über die von Herbert entfaltete Landkarte. Allerdings muß er dann feststellen, daß es für eine effiziente Erschließung noch an den grundlegendsten Voraussetzungen fehlt. Das weltweit verzweigte Netzwerk sekundärer Zusammenschlüsse scheint hier noch einen weißen Fleck gelassen zu haben: A u f seiner Karte ( 1 : 5 0 0 0 0 0 ) war sowieso nichts zu erkennen, Niemandsland, weiß, zwei blaue Linien zwischen grünen Staatsgrenzen, Flüsse, die einzigen Namen (rot, nur mit der Lupe zu lesen) bezeichneten Maya-Ruinen — (S. 15)
50
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
Auch in nachfolgenden Gesprächen wie in stillen Überlegungen nimmt „die Zukunft der deutschen Zigarre" einen Stellenwert ein, als hinge davon Gedeih und Verderben der Menschheit ab. Freyers These, daß sich im sekundären System menschliches Verhalten von den Erfordernissen rationell zu bewerkstelligender Produktion und Vermarktung her bestimme, wird von Faber und Herbert bestätigt, nicht aber unbedingt die von Freyer dabei beklagte Vereinsamung des modernen Menschen. Es entbehrt nicht rührender Momente nachzuvollziehen, mit welch einträchtigem Engagement die beiden die Karte studieren und dabei den Grundstein für ihre spätere Freundschaft legen. Ironischerweise scheint es gerade der vorrangige Anspruch einer Ware auf eine gedeihliche Zukunft zu sein, der die Nachbarn ihre ursprüngliche Umgangsform gegenseitiger Geringschätzung überwinden und sie auch persönlich einander näherkommen läßt. Von hier aus ist nicht der Eindruck zu gewinnen, daß das sekundäre System oder die Superstruktur, deren geschäftliche Komponente Herbert, deren technische Faber präsentiert, in jedem Fall entfremde. Freyer betont gleich zu Beginn seiner „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters", daß sich das sekundäre System vor allem durch ein sich immer weiter steigerndes Tempo seiner Arbeitsabläufe auszeichne. Im Gegensatz dazu sieht er kritische Reflexion und traditionelle Wertbewahrung vor allem noch, wie ebenfalls schon im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, von den großen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts geleistet. Entsprechend erfordert die Lektüre dieser Werke ja auch ganz unzeitgemäß einigen Aufwand an Zeit und Muße. Aus der Perspektive Fabers ergibt sich wieder eine ironische Verkehrung. Die Lektüre eines umfangreichen Romanklassikers bringt er mit prinzipieller Unerfahrenheit, mädchenhafter Welt- und Lebensferne in Verbindung: Sabeth war meistens in ihr dickes Buch vertieft, und wenn sie von Tolstoi redete, fragte ich mich wirklich, was so ein Mädchen eigentlich von Männern weiß. Ich kenne Tolstoi nicht. Natürlich foppte sie mich, wenn sie sagte: „Jetzt reden Sie wieder wie Tolstoi!" (S. 83)
Faber fühlt sich gefoppt, denn Romane sind wirklich das Allerletzte, womit er etwas anfangen könnte: In der Bar, die ich zufällig entdeckte, war kein Knochen. In der Bibliothek gab es bloß Romane, anderswo Tische für Kartenspiele, was auch nach Langeweile aussah — draußen war's windig, jedoch weniger langweilig, da man ja fuhr. (S. 71)
Findet sich Faber wie hier ganz gegen seine Gewohnheit auf einer beschaulichen Schiffsreise, kommt er zunächst nicht zur Ruhe. Denn
Die Super-Constellation
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eigentliches Wohlbefinden scheint ihm ja gerade der schnelle Rhythmus seiner vertrauten Arbeitswelt zu gewähren: Ich bin gewohnt zu arbeiten oder meinen Wagen zu steuern, es ist keine Erholung für mich, wenn nichts läuft, und alles Ungewohnte macht mich sowieso nervös. (S. 75 f.)
Hierzu wäre noch ergänzend anzumerken, daß sich Faber nicht nur beim Steuern seines Wagens gut entspannen kann, sondern normalerweise auch bei seinen Geschäftsreisen mit der Super-Constellation. Kaum hat er zu Beginn der ,Ersten Station' dieses Supergefahrt der modernen Technik bestiegen, richtet er sich auch schon „sofort zum Schlafen" (S. 7).
4. Die Super-Constellation Das Verhältnis Fabers gerade zur Super-Constellation erscheint besonders intim. Seine ausgesprochen zärtliche Neigung zu ihrer Stärke und Schnelligkeit spricht etwa aus seinem Glauben, daß er auch mit „verbundenen Augen" ihren Ton aus dem aller anderen Maschinen heraushören könne: Ich wartete hinter der geriegelten Tür, bis man das Donnern einer startenden Maschine gehört hatte — eine Super-Constellation, ich kenne ihren Ton! — (S. 13)
Die innerliche Bindung an die Super-Constellation steht im spiegelbildlichen Verhältnis zur inneren Abwehrhaltung gegenüber einer möglichen menschlichen Lebenspartnerin. Eine wahrhafte Erlösung bedeutet es für Faber, sich nach müßiger Auseinandersetzung mit einer Frau, die ihn heiraten möchte, von der Super-Constellation davontragen zu lassen: Ivy hatte drei Stunden lang, während wir auf die verspätete Maschine warteten, auf mich eingeschwatzt, obschon sie wußte, daß ich grundsätzlich nicht heirate. Ich war froh, allein zu sein. Endlich ging's los — (S. 7)
Völlig entspannen kann sich Faber dann, wenn das üblicherweise ruhige Dahingleiten der Maschine von der Welt ein malerisches Bild vermittelt: Ich rauchte, Blick zum Fenster hinaus: unter uns der blaue G o l f v o n Mexico, lauter kleine Wolken, und ihre violetten Schatten auf dem grünlichen Meer, Farbspiel wie üblich, ich habe es schon oft genug gefilmt — ich Schloß die Augen, um wieder etwas Schlaf nachzuholen, den Ivy mir gestohlen hatte; unser Flug war nun vollkommen ruhig, mein Nachbar ebenso. (S. 15)
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Sollte es ganz wider die Regel einmal zu einer Panne kommen, etwa einem Motorausfall, so ist das bei einer Super-Constellation noch kein Grund zur Panik: Mein Nachbar war eben dabei, seine Schwimmweste anzuschnallen, humorig, wie bei Alarm-Übungen dieser Art — [...] There is no danger at all" — Alles nur eine Maßnahme der Vorsicht, unsere Maschine ist sogar imstande mit zwei Motoren zu fliegen. (S. 16)
Zwar kann als vernachlässigbares Restrisiko — oder in Fabers Diktion: als statistisch unerheblicher Grenzfall des Möglichen — auch die beste Maschine einmal versagen. Aber selbst nach der Notlandung in der Wüste von Tamaulipas zeigt sich dieses Wunderding der Technik immer noch so gut, der an den Rand des Abgrunds geratenen Reisegesellschaft das tröstliche Obdach komfortabler Behaglichkeit zu gewähren: „Gehen wir schlafen!" sagte ich, „ — Hotel Super-Constellation, Holiday In Desert With All Accommodations!" (S. 24)
In Gehlens Schrift über das technische Zeitalter wird unter anderem darauf abgehoben, daß Technik zu solch beherrschender Stellung gelangt ist, daß sie dem Menschen nicht nur körperliche, sondern auch geistige Arbeit abnimmt. Dieses Phänomen findet sich im „Homo faber" soweit zugespitzt, daß Technik selbst als ein mächtiges Subjekt erscheinen kann, das die Subjektivität des Menschen intelligent umsorgt. So kann sie beispielsweise ein Individuum namentlich aufrufen und ihm persönlich ins Gewissen reden, wenn dieses sich einmal unvernünftigerweise ihrem alles überschauenden Fürsorgecharakter zu entziehen versucht: Passenger Faber, passenger Faber. Es war eine Frauenstimme [...] Ich schämte mich; es ist sonst nicht meine Art, der letzte zu sein. Ich blieb in meinem Versteck, bis ich festgestellt hatte, daß der Lautsprecher mich aufgab, mindestens zehn Minuten. Ich hatte einfach keine Lust weiterzufliegen. (S. 13)
Wenn Faber nun glaubt, sich erfolgreich verdrückt zu haben, so hat er die Rechnung ohne die super konstellierte Technik gemacht, die letztlich doch besser als er selbst zu wissen scheint, was für ihn das Richtige ist: Es war merkwürdig; plötzlich ging es ohne mich! Ich horchte jedes Mal, wenn der Lautsprecher ertönte — dann ging ich, um etwas zu tun, zur Western Union: um eine Depesche aufzugeben, betreffend mein Gepäck, das ohne mich nach Mexico flog, ferner eine Depesche nach Caracas, daß unsere Montage um vierundzwanzig Stunden verschoben werden sollte, ferner eine Depesche nach New York, ich steckte gerade meinen Kugelschreiber zurück, als unsere Stewardeß, die übliche Liste in der andern Hand, mich am Ellbogen faßte: „There you are!" Ich war sprachlos — (S. 13 f.)
Der Mensch denkt und die Technik lenkt. Faber dachte, daß es so schlimm ja nicht sein könne, aus dem ihn tragenden und leitenden Fluß der modernen technischen Verkehrswege mal kurz auszusteigen. Schon steht ja auch schon die Western Union bereit, seine Depeschen in
Prometheische Scham?
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Empfang zu nehmen und damit seinen momentanen Ausfall aufzufangen. So hatte er sich's gedacht, um dann vom durchorganisierten Kommunikationsnetz des Flughafens, das keinen der von ihm erfaßten Passagiere verloren gehen läßt, zur Raison gerufen zu werden. Er wird von der Stewardeß zurückgeholt, die über die Depeschenannahme, wo er seinen Namen abgegeben hat, herbeigerufen wurde. Schuldbewußt folgt er der jungen Dame, die ihn pflichtgemäß gesucht hat, zur SuperConstellation, wo sich ihm rührende Fürsorglichkeit in der Gestalt seiner neuen Reisebekanntschaft in Erinnerung ruft: Mein Düsseldorfer, den ich vergessen hatte, gab mir sofort den Fensterplatz wieder, geradezu besorgt: Was denn geschehen wäre? Ich sagte, meine Uhr sei Stehengeblieben, und zog meine Uhr auf. (S. 14)
Für den Augenblick scheint nun alles wieder zum Lauf der gewohnten Ordnung zurückgekehrt zu sein: „Start wie üblich — " (ebd.).
5. Prometheische Scham? Wie bereits angedeutet, lassen sich in Fabers Bericht bestimmte Äußerungen finden, die sich mit dem vergleichen lassen, was Anders als symptomatisch für die heutige menschliche Grundhaltung einer prometheischen Scham diagnostiziert. Wenn Faber etwa ausführlich darlegt, daß das Elektronengehirn mit seiner unbestechlichen Rechenkunst komplexe Zusammenhänge besser erfassen und die Folgen bestimmter Imputs sicherer prognostizieren könne als angestrengtes Rechnen und ahnungsvolles Fühlen eines Menschen zusammengenommen (vgl. S. 74 f.), bringt er damit fraglos eine relativ neue Form der Wertschätzung von Technik zum Ausdruck. Nach Anders hat diese neue Qualität menschlicher Hochachtung vor einem selbstgeschaffenen Objekt erstmals zu Beginn des Korea-Konflikts weltgeschichtliche Folgen gezeitigt: Es ist seit Jahren ein global offenes Geheimnis, daß zu Beginn des Korea-Konfliktes General McArthur Maßnahmen vorschlug, deren Durchführung unter Umständen einen dritten Weltkrieg hätte auslösen können. Und ebenso allgemein bekannt ist es, daß ihm die Entscheidung darüber, ob diese Folge zu wagen sei oder nicht, aus der Hand genommen wurde. Die ihm die Verantwortung aus der Hand nahmen, taten das aber nicht, um die Entscheidung selber zu treffen, oder um sie anderen, politisch, wirtschaftlich oder moralisch berufeneren Menschen aufzuladen; sondern (da das „letzte Wort" objektiv sein sollte, und als „objektiv" heute nur diejenigen Aussagen gelten, die von Objekten gemacht werden) um sie an ein Gerät weiterzuleiten — kurz: man „über-antwortete" die Verantwortung als letzter Instanz einem „Electric Brain". Wenn die Entscheidung McArthur abgenommen wurde, so nicht ihm qua McArthur, sondern ihm qua Menschen; und wenn das Gerät-Gehirn gegen das McArthurs
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik ausgespielt wurde, so nicht, weil man spezielle Gründe gehabt hätte, McArthurs Intelligenz zu mißtrauen, sondern weil auch McArthur eben nur ein menschliches Gehirn hatte. 72
Es ließe sich nun allerdings darüber diskutieren, ob dieses von Anders angeführte Beispiel unbedingt als repräsentativer Ausdruck einer beschämenden „Selbstdegradierung" der Menschheit 73 gesehen werden muß. Faber würde hier ganz und gar nicht beschämt, sondern mit stolzgeschwellter Technikerbrust einwenden, daß es schon immer der Wunsch des Menschen gewesen sei, die Folgen einer falligen Entscheidung verläßlich absehen zu können. Einzig mit einer hochentwickelten Technik aber sei es möglich, diesen alten Wunschtraum auch in Erfüllung gehen zu lassen. Stets mitzuveranschlagen ist bei einem Mann wie Faber das stolze Bewußtsein, daß es der Mensch selbst war, der sich Technik zur idealen Partnerin seiner Daseinsbewältigung geschaffen hat. Nicht an einen bestimmten Menschen ist dabei zu denken, auch nicht an die Menschheit insgesamt, sondern an eine Elite von Fachleuten aus Wissenschaft, Technik und Industrie, die im Sinne der von Gehlen analysierten Superstruktur kooperativ miteinander kommunizieren. Sich diesen Kreisen anzuschließen, schien Faber schon immer vorbildlicher und zukunftsweisender zu sein als die Orientierung an namhaften Ausnahmeerscheinungen. Entsprechend wählte er seinen akademischen Lehrer: Professor O. ist für mich immer eine Art Vorbild gewesen, obschon kein Nobelpreisträger, keiner von den Professoren der ΕΤΗ Zürich, die Weltruhm genießen, immerhin ein seriöser Fachmann — Ich werde nie vergessen, wie wir in weißen Zeichenmänteln, Studenten, um ihn herumstehen und lachen über seine Offenbarung. (S. 103)
Vorbei ist die Zeit der großen Genies. Wo Faber, selbst längst zum anerkannten Fachmann in verantwortlicher Stellung geworden, so etwas wie individualistisch ausgerichteten Genieanspruch zu wittern glaubt, reagiert er allergisch: Ich bin kein Genie, immerhin ein Mann in leitender Stellung, nur vertrage ich immer weniger diese jungen Leute, ihre Tonart, ihr Genie, dabei handelt es sich um lauter Zukunftsträume, womit sie sich so großartig vorkommen, und es interessiert sie einen Teufel, was unsereiner in dieser Welt schon tatsächlich geleistet hat; wenn man es ihnen einmal aufzählt, lächeln sie höflich. (S. 82)
Lächeln wir also nicht nur höflich, sondern bedenken, was sich Faber nicht nur erträumt, sondern „in dieser Welt schon tatsächlich geleistet hat", und wir haben ein Muster von dem, was für den Begabten von heute an gesellschaftlich relevanter Tätigkeit möglich ist. Es wäre dies 72 73
Anders, 59 f. Ebd., 61.
Prometheische Scham?
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also, die eigene Kreativität zunächst einmal in einen aufgeräumten Studentenkreis mit weißen Zeichenmänteln um einen Professor vom Typus O. einzubringen, um dann nach Jahren praktischer Bewährung bei einem Unternehmen von internationaler Bedeutung (Escher-Wyss) in einer Weltorganisation (UNESCO) eine leitende Stellung einzunehmen. Und all die kollegialen Fachleute an den genannten oder ähnlich angesehenen Wirkungsstätten, die das Gebäude der modernen Weltgesellschaft effektiv tragen beziehungsweise an ihm weiterbauen, müssen wohl auch immer mitgedacht werden, wenn der Held und Erzähler unseres Ich-Romans bei Äußerungen, die sein Selbstverständnis betreffen, gar nicht mehr so oft „ich", sondern vornehmlich „wir" und „unsereiner" sagt. Vom Protagonisten des „Homo faber" her gesehen müßte gegen Anders argumentiert werden: Auch das Verhältnis des modernen Homo faber zu seiner Technik ist nicht von Scham, sondern immer noch von Stolz bestimmt, einem Stolz freilich, der sich nicht mehr gegen die herrschende gesellschaftliche Verfaßtheit der von ihm vorgefundenen Welt behaupten muß. Er hat das Glück, sich im Einklang mit den bestimmenden Tendenzen seiner Zeit artikulieren zu können. Eine weitere Äußerung Fabers legt einen eingehenden Vergleich mit Anders nahe: Das Mädchen will mich unterstützen und bringt das Gespräch, da ich die Skulpturen im Louvre nicht kenne, auf meinen Roboter; ich habe aber keine Lust, davon zu sprechen, und sagte lediglich, daß Skulpturen und Derartiges nichts anderes sind (für mich) als Vorfahren des Roboters. Die Primitiven versuchten den Tod zu annulieren, indem sie den Menschenleib abbilden — wir, indem wir den Menschenleib ersetzen. Technik statt Mystik! (S. 77)
Anders vertritt in seinen Ausführungen über die prometheische Scham die Auffassung, daß es „solche Selbsterniedrigung vor Selbstgemachtem" 74 , wie sie vor allem in dem Wunsch gipfle, ,ins Lager der Geräte zu desertieren' 75 , „seit dem Ende der Idolatrie nicht wieder gegeben" habe 76 . Dem vergleichbar glaubt auch Faber, daß die heute angestrebte technische Ersetzung des Menschenleibs — es ließe sich hier etwa an die inzwischen fortgeschrittene Bemühung um Nachbildung und Ersetzung menschlicher Organe denken — mit der Idolatrie sogenannter primitiver Kulturen in Verbindung gebracht werden könne. Die einfachste Skulptur wertet er ebenso wie die komplizierteste Nachkonstruierung eines Organs als Ausdruck des bleibenden mensch74 75 76
Ebd., 30. Ebd., 30 ff. Ebd., 30.
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liehen Wunsches nach Unsterblichkeit. Im Gegensatz zu Anders will Faber dann aber auf einen und zwar entscheidenden Unterschied hinaus: Mit dem Fortschritt der Technik könne letztlich, so ist wohl seine oben zitierte Aussage zu verstehen, jene ,Todesannulierung' realisiert werden, um die sich die Idolatrie, die in menschenähnlichen Skulpturen Götter verehrte, vergeblich bemühte. Darin spricht sich nun aber der ganz und gar nicht verschämte Glaube aus, sich selbst unsterblich machen zu können 77 . Es erscheint mir wichtig herauszuarbeiten, daß hinter dem, was vordergründig wie „prometheische Scham" aussieht, im Grunde nur eine neue und vielleicht sogar eine an Radikalität nie dagewesene Form von prometheischem Anspruch gesehen werden muß. Auf den ersten Blick mag es vielleicht nicht ganz einsichtig sein, daß selbst der Bereitschaft, sich den präzis aufeinander abgestimmten Abläufen eines hochtechnisierten Verkehrs so angepaßt wie möglich einzugliedern, ein geradezu himmelstürmender Anspruch menschlicher Selbstmächtigkeit zugrundeliegen soll. Doch wenn sich Faber gemäß Fahrplan zu seinen Einsatzstationen im systematisch betriebenen, bereits weltweit verzweigten technischen Aufbauwerk fliegen läßt, so bewegt er sich hier normalerweise in der Sphäre eines scheinbar sicheren, alles integrierenden, rundum bewährten In-Ordnung-Seins. Dieses Leben scheint sich weitgehend ein wohlgetragenes, harmonisch stabilisiertes, irdischer Last enthobenes, immer gleich moderates Dahinschweben, gewissermaßen einen Zustand in sich ruhender Ewigkeit, ermöglicht zu haben. Besorgniserregend wird es dagegen, wenn die zugeordnete Bahn „aus purer Laune" (S. 33) verlassen wird, so geschehen in Fabers ungeplantem Abstecher in den Urwald von Guatemala. Er wollte gerade mal seinen alten Freund Wiedersehen, konnte ihn dann aber nur noch tot auffinden. Wie dieser seinem Leben ein Ende gemacht hat, erscheint allerdings wieder dazu geeignet, die einem jeden irdischen Leben unvermeidliche Todeserfahrung nicht als allzu einschneidend wahrzunehmen. Faber bemerkt, daß ,er es mit einem Draht gemacht hatte' und fragt sich, „woher sein Radio, das wir sofort abstellten, den elektrischen Strom bezieht" (S. 55). In den Requisiten Draht und laufendes Radio, die bei Joachims Selbstmord eine auffallige, wenn auch nicht leicht durchschaubare Rolle spielen, mag Faber einen Hinweis dafür sehen,
77
Vgl. auch Bradley, 280: „Frisch does not, like Anders stress the producer's sense of inferiority with respect to his products; instead, he demonstrates the error in assuming that man can surmount the limitations inherent in his condition as a biological creature."
Der technische Humanismus
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daß selbst noch im Sterben ein tröstlicher Anschluß an das elektrisch betriebene Kommunikationsnetz der modernen Technik möglich ist. Insgesamt ist die Weise, wie Joachim seinen Tod inszenierte, ganz darauf ausgerichtet, dem Tod das Wesen, das unwiderrufliche Ende des Lebens zu sein, streitig zu machen. Er hat sich im abgeschlossenen Raum seiner amerikanischen Baracke erhängt, doch so, daß er durchs verschlossene Fenster gesehen werden konnte (vgl. S. 54 f.). So scheint er über den Tod hinaus seine Herrenrolle innerhalb der Superstruktur weiterspielen zu können. Denn einerseits ist es für die „auf den Bäumen ringsum" lauernden Zopilote unmöglich einzudringen, und für die Indios andererseits ist „Nuestro Señor" (S. 55) immer noch präsent. Jedenfalls gehen sie auf der verwaisten Plantage nach wie vor, wie Faber hervorhebt, „täglich an ihre Arbeit" (ebd.). Joachim ist gestorben, aber seinen Betrieb hält er immer noch aufrecht und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt, da sein jüngerer Bruder, über das ungewöhnliche Ausbleiben von Post selbst noch in diesen entlegenen Winkel der Erde relativ schnell herbeigerufen, angekommen ist. Und dieser wiederum übernimmt wie automatisch die Stelle Joachims, der gerade auf ihn gewartet zu haben scheint. So muß dann auch so etwas wie ein prometheisches Aufbegehren im stillschweigenden Einvernehmen mit dem toten Bruder gefolgert werden, wenn Herbert seinerseits nicht mehr davon abzubringen ist, diese Pionierstation der modernen Technik gegen das unwirtliche Klima und all die anderen Zeichen einer übermächtigen Bedrohung, die der Urwald permanent „sendet", um jeden Preis zu behaupten: Ich weiß nicht, was Herbert sich in den K o p f setzte, er war nicht zu überreden, seinerseits entschlossen, das Klima auszuhalten. (S. 55)
Um eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung geht es den heutigen Prometheusen kaum noch. Ihr Aufbegehren hat nichts weniger als den natürlichen Beschränkungen den Kampf angesagt, denen bislang noch jedes menschliche Leben unterworfen war. Gegen diese Beschränkungen haben sie sich in ihrem Stolz verschworen. Sie halten beharrlich daran fest, und sei es zu keinem anderen Ende, als im Urwald — wie der am Ende der Welt festgeschmiedete Prometheus der Sage — von Geiern zerfressen zu werden.
6. Der technische Humanismus Nach den Beiträgen von Freyer, Gehlen und Anders war Litts Entwurf eines technischen Humanismus die vierte Koordinate, von der her Fabers Verhältnis zu seiner Technik erschlossen werden sollte. Hierzu
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sei daran erinnert, daß Litt bestimmenden Tendenzen der modernen Dichtungs- und Bildungstradition entgegenhält, daß ihre humanistischen Zielvorstellungen von Universalität, Individualität und Totalität auf keinen Fall gegen, sondern nur mit dem technischen Fortschritt verwirklicht werden könnten. Denn gerade das Technik-Ressentiment, wie es in der Humanitätsbewegung einer bestimmten historischen Situation aufgekommen sei, verstelle heute den Weg in eine humanere Welt. Inwieweit der Techniker Faber dem Littschen Entwurf eines technischen Humanismus praktisch entspricht, soll in diesem Abschnitt deutlich werden. Daß hier gewisse Übereinstimmungen zu erwarten sind, legt schon Fabers Tätigkeit für die UNESCO nahe. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal zu betonen, daß Faber seinen Beruf keinesfalls nur als lästige Pflicht ausübt, sondern sich dazu im vollen Sinn des Wortes berufen fühlt. Die UNESCO ist bekanntlich eine Teilorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, über alle ethnischen und nationalen Grenzen hinweg Vorurteile abzubauen und auf das Zustandekommen einer gesamtmenschheitlichen Solidargemeinschaft hinzuarbeiten. Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung fördert sie die internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO = United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization). Sie erarbeitet und koordiniert Programme und startet Pilotprojekte. Im naturwissenschaftlichen Bereich liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von Wissenschaft und Technologie als Grundlage einer erfolgreichen Industrialisierung in den Entwicklungsländern. Faber, dieser zeitgenössische Held, gehört offensichtlich zu den Experten, die zur organisatorischen und fachlichen Leitung technischer Pilotprojekte rund um den Erdball im Einsatz sind. Die Grundidee seiner Tätigkeit sowie der UNESCO überhaupt bringt er schlagwortartig auf den Punkt, wenn er im Fachgespräch mit Herbert seine technische Beratung in dem knappen Statement „alles nur eine Frage der Verbindungen" (S. 15) zusammenfaßt. Auch die Tätigkeit der UNESCO insgesamt muß ihrerseits wiederum als integraler Teilaspekt einer gesamtepochalen Entwicklung in Richtung universaler Vernetzung gesehen werden. Die ersten Ansätze zu dieser Entwicklung sind schon relativ früh in diesem Jahrhundert auszumachen, wie der „Homo faber" zu verstehen gibt. So kündigt Fabers akademischer Lehrer bereits um 1930 die sich letztlich durchsetzende Entwicklung hin zum weltweiten Informationsaustausch sowie zur internationalen Zusammenarbeit auf allen Gebieten des Wissens an.
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Dabei betont er insbesondere die Bedeutung zukünftiger Kommunikationsmedien, mit denen sich die Welt einmal ins Haus liefern ließe: Ich werde nie vergessen, wie wir in weißen Zeichenmänteln, Studenten, um ihn herumstehen, und lachen über seine Offenbarung: Eine Hochzeitsreise (so sagte er immer) genügt vollkommen, nachher finden Sie alles Wichtige in Publikationen, lernen Sie fremde Sprachen, meine Herren, aber Reisen, meine Herren, ist mittelalterlich, wir haben heute schon Mittel der Kommunikation, geschweige denn morgen und übermorgen, Mittel der Kommunikation, die uns die Welt ins Haus liefern, es ist ein Atavismus, von einem Ort zum andern zu fahren. (S. 103)
Zu einer Zeit, da mit ,dem ersten Atlantikflug von Lindbergh (1927)' (S. 83) die einst große und weite Welt schon etwas „kleiner" geworden ist, verkündet Professor O. seiner erheiterten Studentenschaft an der ΕΤΗ Zürich eine damals noch ferne Zukunft. Entsprechend würdigt Faber seine Prognose als Offenbarung. In der Tat läßt sich für den Laien vielleicht sogar erst heute, da weltweit in allen Bereichen des Lebens multifunktional vernetzbare Telekommunikationssysteme Einzug halten, ganz verstehen, was der seriöse Fachmann für Elektrodynamik von 1930 prophezeit. Im Kern antizipiert er die universal und in sich total vernetzte Informationsgesellschaft, die die Welt im Prinzip einmal so weit „zusammenschrumpfen" lassen kann, daß sich über Tastenwahl jeder nur erdenkliche Ort und jede nur gewünschte Person problemlos und schnell ans Wohnzimmer-Terminal rufen läßt. Und wenn man dann noch die zum abgerufenen Gegenüber zugehörige Sprache kennt, so scheint dem individuellen Verlangen nach absolutem Wissen und absoluter Kommunikation nichts mehr im Weg zu stehen. Im Vergleich zu den hier verheißenen Möglichkeiten muß selbst noch der UNESCO-Ingenieur von 1957 als ein Vorläufer erscheinen, der sich mit seiner Super-Constellation noch relativ umständlich durch die Welt bewegt. Andererseits ist er aber auch der, der dem von O. angekündigten Menschen von morgen schon am nächsten kommt. Es sollte aber auch nicht vergessen werden, inwieweit die Lieferbarkeit der Welt „schon heute", wie O. sagt, also um 1930, geschweige denn 1957, wenn Faber seinen Bericht schreibt, möglich geworden ist 78 . Dafür bezeichnend ist etwa, daß selbst ein normalerweise menschenleerer Ort wie die Wüste, in der Faber notgelandet ist, ihm dank seines rundum informierten up to date Seins durch die modernen Medien nicht ganz unvertraut erscheint. Und sehr bezeichnend ist auch, daß ihm nach der glimpflich verlaufenen Notlandung gleich als zweiter 78
Vgl. hierzu den historischen Aufriß der Kommunikationstechnologie, in: Viele Stimmen — eine Welt. Kommunikation und Gesellschaft — heute und morgen. Bericht der Internationalen Kommission zum Studium der Kommunikationsprobleme unter dem Vorsitz von Sean MacBride an die UNESCO, Konstanz 1981, 32 ff.
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Gedanke kommt, den Ort nun seinerseits mit der Kamera aufzunehmen, um ihn auch selbst über das Kommunikationsmedium Film weitervermitteln zu können: „Natürlich dachte ich auch sofort an den DisneyFilm, der ja grandios war, und nahm sofort meine Kamera" (S. 23). Fabers Spontanreaktion auf die Notlandung seiner Super-Constellation bietet die Möglichkeit tiefgründiger Analyse. Zunächst einmal kann sie aber auch ganz einfach als die Reaktion eines Mannes verstanden werden, dem die Zielsetzungen seiner Organisation in Fleisch und Blut übergegangen sind. Zu diesen Zielsetzungen gehört, „im Dienste der uneingeschränkten Verfolgung der objektiven Wahrheit" 79 den allgemeinen Austausch von Wort und Bild zu vermehren, wie sich dem MacBride-Bericht an die UNESCO „Viele Stimmen — eine Welt. Kommunikation und Gesellschaft — heute und morgen" entnehmen läßt. Der Hinweis auf diesen Bericht scheint vor allem deshalb geboten, weil er sich an manchen Stellen wie eine Bestätigung von Professor O.s Offenbarung liest: Die Entfernung hat aufgehört, ein Hindernis darzustellen, und die Schaffung [...] eines universellen Kommunikationssystems, das jeden Punkt auf unserem Planeten mit jedem anderen verbinden kann, liegt im Bereich des Möglichen. Die Anlagen, anfänglich noch kompliziert und kostspielig, sind zunehmend billiger und außerordentlich flexibel geworden. Elektronische Kommunikation [...] wird zunehmend für die Nutzung in der kollektiven Kommunikation einsetzbar. Umgekehrt könnte man sich statt globaler Systeme ein ganzes Netz von Kommunikationssystemen vorstellen, die autonome oder halbautonome dezentralisierte Einheiten umfassen. Der Inhalt der Botschaften könnte in einem hohen Ausmaß — lokalen und selbst individuellen Bedürfnissen entsprechend — abgewandelt werden. Neue Techniken ermöglichen eine Vervielfachung von Informationszentren und die Förderung des Informationsaustauschs zwischen Individuen, Datenverarbeitung über große Entfernungen („telematics") und die Schaffung von Verbindungen und Schaltstellen zwischen zwei oder mehr Satelliten werden aller Voraussicht nach beinahe unbegrenzte Möglichkeiten einer systematischen Integration eröffnen. 8 0
Wenn die Welt des 20. Jahrhunderts durch immer weitergehende Technologien des Verkehrs und der Kommunikation immer enger zusammenrückt, ist abzusehen, daß auch der herkömmlicherweise noch beklagte Gegensatz zwischen entfremdendem Arbeits- und erfüllendem Privatleben seine Konturen verliert. Der durch den gegenwärtigen Entwicklungsstand ermöglichte Trend zur Teleheimarbeit kann hierfür als Beispiel angesehen werden. Arbeiten, die traditionell zur beruflichen Außenwelt gehörten, werden im Sinne von O.s Ankündigung häuslich. Als hierzu reziproke Entwicklung kann gefolgert werden, daß umgekehrt auch die herkömmlichen Modi häuslichen Umgangs nach außen 79 80
Ebd., 13. Ebd., 34.
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in die Ausbildungs- und Berufswelt getragen werden. Speziell für diesen Zukunftstrend liefert schon das Leben eines Walter Faber, ja sein ganzer Werdegang, immer „gelungenere" Beispiele, wie nachfolgend kursorisch dargelegt werden soll. Als Lieblingsschüler seines Gymnasiallehrers gelangt Faber in dessen Haushalt, um ihm jeweils am Wochenende bei den Korrekturen einer Neuauflage seines Geometrielehrbuchs zu helfen. Von der liebesbedürftigen Frau des Lehrers wird er dann noch zu anderen „Diensten" erkoren (vgl. S. 99). — Bei der Ausbildung an der renommierten ΕΤΗ Zürich fallt die familiäre Atmosphäre auf. Die Offenbarung des Professors wird einem kleinen Studentenkreis in der Form des sprichwörtlichen Piauschs aus dem Nähkästchen vermittelt und trägt zur allgemeinen Heiterkeit bei. Von der erschütternden Gewalt früherer Offenbarungen ist hier nichts mehr zu spüren. Dafür scheint dieser kollegiale Professor mit Sinn für Humor, der seine Studenten auch immerzu mit „meine Herren" tituliert, seriöses Fachwissen mit netter Menschlichkeit zu verbinden. Und wenn ihn Faber bei einer späteren Wiederbewegung mit „lieber Herr Professor" anredet, so ist das auf dem hier beschriebenen Hintergrund keineswegs so verwunderlich: Auch seine Herzlichkeit, wie gesagt, ist viel zu groß; er ist mein Professor gewesen damals in Zürich, ich habe ihn geschätzt, aber ich habe wirklich keine Zeit für einen Apéro. Lieber Herr Professor! Das habe ich sonst nie gesagt. Lieber Herr Professor! sage ich. (S. 103)
Was die Familiarität von Fabers schließlichem Berufs- und Öffentlichkeitsleben betrifft, kann darauf hingewiesen werden, daß er seinen Chef „Williams", also beim Vornamen nennt. Auch glaubt er sich sicher sein zu können, daß dieser ,mich mag' (S. 98). Ein weiterer Aspekt der sich hier vermittelnden Synthese von forderndem Berufs- und vertraulichem Privatleben kann in dem Umstand gesehen werden, daß man sich samstagabends in Williams' Villa außerhalb New Yorks zur Party einfindet (vgl. S. 161). Und der Neuankömmling wird wohl nicht umhin können, das locker solidarische, zuversichtlich weltbrüderliche Fluidum, von dem solche Parties durchstimmt sind, als bestechend und vorbildlich zu empfinden. Dies läßt sich aus Fabers späterer Generalabrechnung mit dieser ermunternden Welt der großen Brüder, in der er sich für lange Zeit beheimatet glaubte, rückerschließen: Kerle wie Dick, die ich mir zum Vorbild genommen habe! — wie sie herumstehen, ihre linke Hand in der Hosentasche, ihre Schulter an die Wand gelehnt, ihr Glas in der andern Hand, ungezwungen, die Schutzherren der Menschheit, ihr Schulterklopfen, ihr Optimismus. (S. 176)
Sieht man die von Faber benannten Vorbilder, also die Vorbildlichkeit O.s und Dicks zusammen, so läßt sich umrißhaft die Antizipation der
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zukünftigen Weltgesellschaft erkennen, an deren Zustandekommen die international tätigen Experten über noch bestehende politische Frontenstellungen hinweg hinter den Kulissen längst arbeiten81. Es ist die Utopie von der Menschheit als einer dank moderner Technik weltweit zusammengeschlossenen Makrofamilie, die der ΕΤΗ-Professor für Elektrodynamik von 1930 auch schon ins Detail gehend entworfen hat. Dies zu illustrieren wäre nun zunächst noch der zweite Teil seiner Vision zu zitieren: Sie lachen, meine Herren, aber es ist so, Reisen ist ein Atavismus, es wird kommen der Tag, da es überhaupt keinen Verkehr mehr gibt, und nur noch die Hochzeitspaare werden mit einer Droschke durch die Welt fahren, sonst kein Mensch — Sie lachen, meine Herren, aber Sie werden es noch erleben! (S. 103 f.)
O. malt seiner amüsierten Studentenschaft aus, daß der Verkehr in dem Sinn, daß sich Körper zueinander bewegen, worunter nicht zuletzt auch der Geschlechtsverkehr zu verstehen sein dürfte, einst nur noch ein atavistisches Restphänomen aus vergangenen Zeiten sein werde. In seinen einzelnen Ausführungen ist dabei wieder die hier bereits beispielreich aufgezeigte Synthetisierung herkömmlich „gespaltener" Bereiche zu beobachten. Denn zum einen handelt es sich um eine wissenschaftliche Prognose, die besagt, daß Verkehr im herkömmlichen Sinn dank der zu erwartenden Weiterentwicklung der modernen Kommunikationstechnologie in Zukunft abgebaut werden könne. Und zum anderen schließt sich ein Gedanke nachsichtiger Menschlichkeit an, der nahelegt, daß der alte Verkehr anläßlich einer Hochzeit — gewissermaßen zur Befriedigung eventuell auftretender nostalgischer Bedürfnisse — für erhaltenswert zu erachten sei. Nicht daß die Fortschrittlichsten der Technokraten keinen Sinn mehr für Romantik hätten. Richtig ist vielmehr, daß die von Professor O. vorgenommene Synonymisierung von Hochzeit und Droschkenreise dem Eingehen einer Eheverbindung ausschließlich die Bedeutung einer romantischen Vergnügungsfahrt zuerkennt. Der Schluß liegt ja auch allzu nahe, daß spätestens in der vollendeten High-Tech-Welt, in der jeder jederzeit mit jedem und allem sofort abruf- und ansprechbar in Verbindung treten kann, die Ehe ihre alte Bedeutung als kleinste, aber auch tragendste Sozialinstanz verloren haben wird. Auf diesem Hintergrund kann Faber, diesem Mann der Zukunft, nicht verübelt werden, daß er, wie er gleich auf der ersten Seite seines Berichts zu verstehen gibt, aus Prinzip an so etwas Antiquiertes wie Heiraten schon gleich gar keinen Gedanken mehr verschwenden möchte.
81
Vgl. ebd., 12.
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Und wie hält es die hochtechnisierte Weltgesellschaft von morgen mit der Ermöglichung einer Nachwelt, die in den Gesellschaften von gestern mehr oder minder in der Eigenverantwortung einer Ehe lag? Faber macht deutlich, daß sich das Problem schon heute in völlig neuer Weise stelle und deshalb auch nach neuen Wegen der Problemlösung zu suchen sei. In diesem Zusammenhang wäre auf sein ausführliches Plädoyer für Schwangerschaftsunterbrechung hinzuweisen, dessen Argumentationsgang besondere Beachtung verdient. Denn vor allem hier gibt Faber in aller Deutlichkeit zu verstehen, daß sich sein modernes Engagement traditioneller humanistischer Wertvorstellungen verpflichtet weiß (zum Folgenden vgl. S. 105 ff.). Unter Berücksichtigung all seiner Argumente handelt es sich beim soeben angesprochenen Plädoyer um so etwas wie einen Aufruf zu einer makrofamilial koordinierten Familienplanung. Faber führt aus, daß eine heute so schwierig gewordene Frage wie die, ob ein Kind auf die Welt kommen dürfe oder nicht, unter Mitberücksichtigung des Welternährungsproblems getroffen werden müsse, das seinerseits Folge der dank des medizinisch technischen Fortschritts auch in den Entwicklungsländern gesunkenen Sterblichkeitsrate sei. Insofern nun aber auch die UNESCO aufgrund der begrenzten Ressourcen der Erde keine unbegrenzte Produktionssteigerung ermöglichen könne, müsse, um nicht Seuchen durch Kriege zu ersetzen, eine global abgestimmte Geburtenkontrolle in die Wege geleitet werden. Notwendig sei dies aber auch schon, weil wir dank fortschreitender Automation ,gar nicht mehr so viele Leute brauchen' (S. 105). Zu verurteilen sei jedenfalls die staatliche Geburtenförderung, wie sie in faschistischen Ländern, aber auch in Frankreich betrieben werde. Um weiterhin dem humanistischen Leitsatz „Würde des Menschen, vernünftig zu handeln und selbst zu entscheiden" (S. 106) gerecht zu werden, legt Faber großangelegte Aufklärungskampagnen nahe. Denn, wie er konstatieren muß, sind Unwissenheit, Unsachlichkeit noch immer sehr verbreitet. Es sind immer die Moralisten, die das meiste Unheil anrichten. Schwangerschaftsunterbrechung: eine Konsequenz der Kultur, nur der Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will. Der Mensch plant. Viel Unglück aus Romantik, die Unmenge katastrophaler Ehen, die aus bloßer Angst v o r Schwangerschaftsunterbrechung geschlossen werden heute noch. Unterschied zwischen Verhütung und Eingriff? In jedem Fall ist es ein menschlicher Wille, kein Kind zu haben. Wieviele K i n d e r sind wirklich gewollt? (S. 106)
Mit anderen Worten: Die Familienplanung der weltweit miteinander kommunizierenden Makrofamilie ewiger Singles im Sinne Fabers würde dem subjektiven Bedürfnis, wenige bis keine Kinder mehr haben zu wollen, ebenso total entsprechen wie dem objektiven Fakt, wenige bis keine Kinder mehr verantworten zu können. Bei der Aussicht auf
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik
solche Harmonisierung von innerer Neigung und dem von außen her bedingten Gebot der Stunde — und zwar weltweit — müßte nun eigentlich jedes Weltbürgerherz höher schlagen können. Denn hatte man von einer totalen Harmonisierung des herkömmlichen Konfliktparadigmas der Moderne nicht schon lange geträumt? Die an Kunst und Bildung orientierte Kritik neuhumanistischer Traditionen am angeblich reduktionistischen Pragmatismus der Technokraten verurteilt Faber als romantischen Moralismus. Und er scheint guten Grund dazu zu haben. Denn die Welt der modernen Technik, wie sie sein Denken und Handeln repräsentiert, scheint die praktische Erfüllung all dessen in Aussicht zu stellen, was sich humanistisches Totalitätsstreben je erträumt hat. In diesem Sinn hat sich die ihr zugrundeliegende Methode der Kybernetik seit ihren Anfangen von dezidiert humanistischen Wertvorstellungen leiten lassen. So schreibt Wiener in seinem von Faber zitierten Buch, das erstmals die interdisziplinäre Erarbeitung der kybernetischen Methode sowie ihre zukunftsweisende Bedeutung einer breiteren Öffentlichkeit vorstellt: We had dreamed for years of an institution of independent scientists, working together in one of these backwoods of science, not as subordinates of some great executive officer, but joined by the desire, indeed by the spiritual necessity, to understand the region as a whole, and to lend one another the strength of that understanding. 8 2
7. Der technische Humanismus als vollendete Metaphysik In der letzten Phase der modernen technischen Entwicklungen verliert die im herkömmlichen Sinn „humanistisch" argumentierende Technikkritik an Uberzeugungskraft. Denn die Pioniere jener letzten Phase wissen sich ihrerseits humanistischen Zielvorstellungen verpflichtet. Wie gezeigt läßt sich das Engagement solcher Pioniere sogar als konsequente Umsetzung dessen begreifen, was das humanistische Streben nach menschlicher Selbstentfaltung immer schon vor Augen hatte: die einheitsvolle Totalität von Ich und Welt. Wer sich dennoch genötigt sieht, das großangelegte Projekt des technischen Humanismus in Frage zu stellen, muß tief ansetzen und konsequenterweise die gesamte humanistische Denktradition mithinterfragen. Er müßte dabei selbst hinter die programmatischen Autonomieentwürfe der Renaissance, an die der Neuhumanismus des 18. und 19. Jahrhunderts wieder anzuknüpfen suchte, zurückfragen. Die ganze Tradition wäre von daher aufzurollen, wo eine totale Spiegelbeziehung 82
Wiener, 9.
Eros und Technik
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von Subjekt und Objekt erstmals entworfen wurde, indem man in ersten Ansätzen in jenen Kategorien dachte, die später Subjekt und Objekt genannt wurden. Nach Heidegger fällt der Beginn dieser Denktradition mit dem Beginn der abendländischen Metaphysik zusammen. In der Tat ist es auch Heidegger, der ganz im Sinn der hier bezeichneten Fragen eine direkte Entwicklungslinie vom ersten Metaphysiker zum technischen Menschen der Gegenwart sieht. Wie Seubold in seiner einschlägigen Darstellung schreibt: Die Metaphysik [und damit auch der herkömmliche Humanismus83] beginnt nach Heidegger mit Piaton [...]. In dessen Philosophie vollzieht sich der Schritt vom Denken des Seins als Seins (in der „Vorsokratik") zum Denken des Seins des Seienden, der Seiendheit. Nicht die Art und Weise, wie Sein west, das Zusammenspiel zwischen Verbergung und Entbergung (alétheia) wird jetzt bedacht, sondern das Sich-Zeigen des Seins im Seienden, seine Festlegung in eine bestimmte Gestalt. 84
Hat die moderne Technik ihre Wesensherkunft im Ursprung der abendländischen Metaphysik, ist andererseits auch festzustellen, daß die Geschichte der abendländischen Metaphysik in der modernen Technik ihre unüberschreitbare Vollendung gefunden hat und damit gleichzeitig an ihr Ende gelangt ist. Denn die in der modernen Technik als Spiegelverhältnis von Bestand und Besteller entborgene Wirklichkeit löst ja das auf, wovon die Metaphysik „lebt": Seiendheit. Diese ist in der modernen Technik nichts Selbständiges und für sich Seiendes mehr, sondern verflüchtigt sich in die bloße Subjekt-Objekt-Äe/afto«. Somit ist keine weitere metaphysisch-geschichtliche Stufe mehr denkbar, ist sogar schon die Technik in dieser Hinsicht keine Metaphysik mehr.85
Auch im „Homo faber" kann eine hintergründige Verbindung zwischen der modernen Technik am einen und Piaton am anderen Ende der abendländischen Metaphysikgeschichte nachgewiesen werden. So wird im Verlauf des nächsten Abschnitts die Frage aufgeworfen werden können, ob nicht ein Entwurf, der wohl wie kein anderer Piatons die Geschichte nach Piaton in mannigfaltiger Transformation belebt hat, beim modernen Homo faber seine Vollendung findet: der platonische Eros.
8. Eros und Technik Sein Selbstverständnis als Mann bezieht der moderne Homo faber ausschließlich aus der Arbeit. Die Teilhabe einer Frau an seinem Leben hält er hingegen für entbehrlich: 83
84 85
Zur Korrelierbarkeit von Humanismus und Metaphysik s. etwa Heidegger, Wegmarken, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, 234; ausführlicher Hinweis bei Seubold, 184. Seubold, 181. Ebd., 182 f.
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik Ihre Vermutung, ich sei traurig, weil allein, verstimmte mich. Ich bin gewohnt, allein zu reisen. Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit. (S. 90)
Müßig zu sagen, daß es die technische Arbeit ist, in der er sich ganz als Mann fühlen und bewähren kann: Ich stehe auf dem Standpunkt, daß der Beruf des Technikers, der mit den Tatsachen fertig wird, immerhin ein männlicher Beruf ist, wenn nicht der einzigmännliche überhaupt. (S. 77)
Das Totalitätsversprechen der modernen Technik, wie es im „Homo faber" vermittelt wird, ist so umfassend, daß ihm auch eine ausgesprochen erotische Qualität zuerkannt werden muß. Daß die Technik dem Homo faber eigentlich auch Geliebte ist, wurde bereits angedeutet (vgl. hier S. 51). Dabei scheint sie eine höchst anspruchsvolle Geliebte zu sein. Es ist der Eindruck zu gewinnen, daß sie darauf pocht, ständig bedient, gepflegt und in Bewegung gehalten zu werden. Und wenn der Mann aus purer Laune einmal nicht will und glaubt, sich in die Stille eines verriegelten Cabinets verziehen zu können, dann ruft sie ihn: „,Passenger Faber, passenger Faber.' Es war eine Frauenstimme" (S. 13). Und wenn der Mann dann immer noch nicht will, erhascht ihn eine ihrer gewissenhaften Töchter am Ärmel und holt sich ihn wieder mit sanfter Gewalt: Ich steckte gerade meinen Kugelschreiber zurück, als unsere Stewardeß, die übliche Liste in der andern Hand, mich am Ellbogen faßte: „There you are!" (S. 14)
Sobald der Techniker sich schließlich aber wieder an den ihm zugedachten Fahrplan hält, überhaupt wenn er pünktlich sein Soll erfüllt, dann vermag die Technik ihrem treuen Ritter das Wohlgefühl eines in sich stimmigen In-Ordnung-Seins verleihen, ja sogar das Hochgefühl, „Beherrscher der Natur" (S. 107) zu sein. Schwer tut sich Faber dagegen mit der Weiblichkeit, die ihm nicht in der Gestalt des energisch freundlichen Personals, eingebunden in die technischen Abläufe, begegnet, sondern als leibhaftige Frau. Denn alles Geschlechtliche ist ihm ein Graus. Zwar kann er auch seine lose Liaison Ivy, Frau eines Washingtoner Regierungsbeamten und Mannequin, lieb und attraktiv finden, aber eigentlich nur im annähernd entsexualisierten Zustand: „Sie sah entzückend aus, dabei die Vernunft in Person, sie hatte die Figur eines Buben" (S. 65); war ein „lieber Kerl!" (S. 68), ja „ein herzensguter Kerl, wenn sie nicht geschlechtlich wurde ..." (S. 65). Daß Faber gefühllos wäre, wie in Interpretationen oft beklagt wird, stimmt nicht. Aber seine tiefst empfundene Liebe gehört — analog Don Juans Liebe zur Geometrie, um hier seinen nächsten Verwandten unter den Frisch-Figuren zu nennen — einem von der literarischen Tradition her gesehen zwar ungewöhnlichen, in seinem eigenen Ver-
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ständnis aber ideelleren Objekt: eben der Technik. Was den Helden des „Homo faber" dabei jedoch auch mit dem Don Juan der literarischen Tradition verbindet, ist der Umstand, daß er im Lauf seiner Karriere nichts und niemanden erbitterter bekämpft hat als einen Eros, der nur ins Ehebett führt: Schon der Anblick eines Doppelzimmers, wenn nicht in einem Hotel, das man bald wieder verlassen kann, sondern Doppelzimmer als Dauer-Einrichtung, das ist für mich so, daß ich an Fremdenlegion denke — (S. 91)
Im Gegensatz zur traditionellen Vorstellung von einem Don Juan hat die Fluchtperspektive des heutigen Don Juans jedoch eine qualitative Veränderung erfahren. Seine Passion verströmt sich nicht mehr nur auf eine Vielzahl von Frauen, denen er sich bei Gelegenheit wohl auch noch, aber nie allzu lodernd widmet, sondern hinter deren Rücken auf die vielseitige Welt der Technik: Frühstück mit Frauen, ja, ausnahmsweise in den Ferien, Frühstück auf einem Balkon, aber länger als drei Wochen habe ich es nie ertragen, offen gestanden, es geht in den Ferien, wenn man sowieso nicht weiß, was anfangen mit dem ganzen Tag, aber nach drei Wochen (spätestens) sehne ich mich nach Turbinen. (S. 91)
Der absolute Inbegriff von Fabers Sehnsucht aber ist der elektrische Strom, also die Technik auf ihrer entmaterialisiertesten Entwicklungsstufe. Aus dem Stromnetz der technischen Idealwelt gefallen zu sein, das ist für Faber das eigentliche Erschütternde seiner Notlandung in der Wüste: Ich holte meinen Apparat und versuchte alles mögliche, beziehungsweise unmögliche, denn ohne elektrischen Strom ist mit diesem Apparat ja nichts zu machen, das weiß ich — das war es ja, was mich nervös machte: daß es in der Wüste keinen Strom gibt, kein Telefon, keinen Stecker, nichts. (S. 27) Ich sehnte mich nach elektrischem Strom — (S. 31)
Spiegelbildlich zur Trostlosigkeit eines stromlosen Daseins verhält sich die Verzückung, die Faber erfahrt, wenn er sich an die vielfältig miteinander vernetzten Kreisläufe seiner Technik anschließen kann: Zu den glücklichsten Minuten, die ich kenne, gehört die Minute, wenn ich eine Gesellschaft verlassen habe, wenn ich in meinem Wagen sitze, die Türe zuschlage und das Schlüsselchen stecke, Radio andrehe, meine Zigarette anzünde mit dem Glüher, dann schalte, Fuß auf Gas. (S. 92)
Sollen wir Fabers Neigungen seltsam finden? Ich meine, ihm gegenüber gerechter wäre es, seine Passion einer großen Tradition zuzuordnen. Ich denke an die geschichtsbestimmende Tendenz zur Entkörperlichung des Eros, wie sie sich bis zu Piatons „Symposion" zurückverfolgen läßt. Erstmals hier hat Eros aufgehört, das urschöpferische Lebensprinzip zu sein, dessen ewig sich weiterzeugender Strom unab-
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dingbar an Körper gebunden ist. Erstmals hier ist er zum Inbegriff der Sehnsucht nach einer ideellen Ganzheit geworden. In Hesiods Theogonie ist der das gesamte Universum zeugende, durchflutende und in Schwung haltende Eros noch „der Gliederlösende", der als elementar beseligender, aber auch als brachial gewalttätiger Allherrscher „Aller Götter und aller Menschen/Sinn und verständige Absicht/ Bezwingt [...] in ihrer Brust" (V. 120 ff.; Marg). Piatons Neubearbeitung des Eros dagegen entwirft erstmalig das Programm einer Stufenfolge fortschreitender Sublimierung. Als Gipfelerfahrung ist dann in einem Moment plötzlicher Verzückung das „Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehen, das nicht voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrames" (211 e; Schleiermacher). Was also in der Stufenfolge des Aufgangs zum Schönen in seiner Reinform überwunden werden soll, ist das Körperliche, denn dies ist das Sterbliche. Stets mit zu berücksichtigen ist dabei, daß das Streben des platonischen Eros zur Idee des Schönen gleichzeitig ein Streben zur Idee des Guten ist. Seine praktische Umsetzung findet es vor allem in der vernünftigen und gerechten Tätigkeit für ein intaktes Haus- und Staatswesen. Hieraus folgert Albin Lesky in seiner Studie „Vom Eros der Hellenen", daß ohne den von Piaton bezeichneten Eros „heute wie ehedem (aller Herabsetzung von Arbeit und Leistung zum Trotz), keiner ein guter Baumeister, Lehrer, Staatsmann und sehr viel anderes noch sein kann" 86 . In bester platonischer Tradition befinden muß sich dann fraglos auch ein UNESCO-Ingenieur, der seine männliche Bestätigung darin findet, für die Zukunft einer wohlorganisierten Weltgesellschaft zu arbeiten. Tendenziell versucht er alles Geschlechtliche zu überwinden, um dafür aber um so leidenschaftlicher an den weitgehend entkörperlichten Kreisfunktionen einer technisch ästhetisierten Welt teilzuhaben. Auf dem Hintergrund Hesiods andererseits ist zu folgern: In der forcierten Bemühung um eine universal vernetzte und elektrodynamisch betriebene Zukunftswelt baut man an einem — im Vergleich zu dem der Theogonie — höherwertigen Eros-System. Was der Homo faber mit all seiner produktiven Leidenschaft zu etablieren sucht, ist eine erotische Ordnung, in der das Dunkle, das Geschlechtliche, das Körperliche und der Tod überwunden ist. Am Ende seines Schicksalswegs wird Faber die Installationen seiner reinen Lichtwelt jedoch noch selbst durchschauen als das Blendwerk einer „Neon-Tapete vor der Nacht und vor dem Tod - " (S. 176 ff.). Zweierlei ist soweit festzuhalten: In einer bis dahin unbekannten Konsequenz und Geschlossenheit versucht der heutige Homo faber einerseits 86
Albin Lesky, Vom Eros der Hellenen, Gottingen 1976, 99 f.
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in die Tat umzusetzen, was erstmals Piatons Entwurf von einem geschlechtslosen, alles überdauernden, da auf eine zeitlose Idee vom Schönen und Guten fixierten Trieb theoretisch in Aussicht gestellt hat. Andererseits aber zeigt der „Homo faber", daß dieser platonische Entwurf gerade auf der Stufe seiner höchsten Realisation plötzlich wieder zum vorplatonischen Eros-System hin offen wird. Um dies zu verdeutlichen, gilt es zunächst das urschöpferische Lebensprinzip des Eros, wie es sich in Hesiods Theogonie darstellt, noch näher vorzustellen. Den Versuch, den seit Anbeginn alles durchherrschenden Eros im Sinn individueller Potenzwünsche umzufunktionieren, kennt auch schon die Theogonie. Doch wird dieses Ansinnen dort als Hybris decouvriert, die in Verkennung der eigenen Möglichkeiten zum tragischen Scheitern verurteilt ist. Die Unbesonnenheit des vermeintlich Mächtigen enthüllt sie als Sühne fordernde Schuldverstrickung, die sein Handeln in Leiden umschlagen läßt. Im Sinn dieses Paradigmas bestätigt sich die Macht des uranfänglichen Eros gegen die jener Potenzen — so die nachfolgend zu erläuternde These —, die als Urbilder noch des modernen Homo faber gelten können. Bekannt ist Hesiods Geschichte, daß Uranos, der Himmel, einst allnächtlich im Verlangen nach Liebe sich auf Gaia, die Erde, senkte, die dabei gezeugten Kinder aber in deren Innerem unter Verschluß hielt. Denn Nachkommen zu haben, ist, so läßt sich dieses Verhalten erklären, der Anfang vom Ende der eigenen Herrschaft. Gaia aber in ihrem Schmerz sann auf eine List, auf die sie auch die in ihr verborgenen Kinder einschwor. So schuf sie Kronos, ihrem jüngsten und kühnsten Sohn, eine Sichel. Mit dieser wurde Uranos bei seiner nächsten Ankunft bei Gaia aus dem Hinterhalt entmannt. Fortan blieben Himmel und Erde voneinander getrennt. Indem er zuvor seine Nachkommenschaft nicht an sein Licht kommen ließ, frevelte Uranos am neu entstehenden Leben. Sein Verhalten wird vom Erzähler ausdrücklich als „Freude am schlimmen Tun" (V. 158 f.; Marg) verurteilt. Der hinter seinem Rücken geschmiedete Befreiungsschlag, der den nachfolgenden Herrscher Kronos und seine Geschwister doch noch hochkommen ließ, ergibt sich dabei als logische Konsequenz. Er ist gleichzeitig ein Sieg des alles Leben und Wachstum hervortreibenden Eros. Entsprechend ist aus dem Schaum der ins Meer geworfenen Männlichkeit des Uranos das weibliche Ebenbild des Eros entstanden: Aphrodite, die Schaumgeborene. Von Eros selbst geleitet entstieg sie bei Kypros dem Meer, und wo immer sie hintrat, schoß ringsum das Gras aus der Erde. Außerdem ist ihr bestimmt, „unter Menschen und todüberhobenen Göttern" anzustiften:
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Das Totalitätsversprechen der modernen Technik Mädchengeflüster und Lachen und Hintergehen Und süßes Erfreuen und Lust und Kosen. (V. 204 f.; Marg)
Mit seinem dahinschäumenden „Gemächte" war die Macht des Uranos gebrochen. Und was sich mit der Geburt der Schaumgeborenen durchsetzte, ist die weiterzeugende Kraft des Eros, gegen den kein subjektives Wollen — das von Göttern ebensowenig wie das von Menschen — etwas vermag. Das schöpferische Urprinzip des Eros, wie bei Hesiod dargestellt, bedingt die Kraft der Liebe und des Lebens. Wo sein Gesetz aber mißachtet wird wie im „Sündenfall" des Uranos, bedeutet er aber auch brachiale Gewalt und Verderben. Die Wiesen, die Aphrodite bei ihrer Ankunft aus dem Boden schießen läßt, bergen in sich auch schon den Keim der Vergängnis. Und das Hintergehen, zu dem die Göttin die Liebenden anstiftet, ist im Kern auch schon Verhängnis. So ist es wohl zu verstehen, daß gleichzeitig mit der Zeugung der Aphrodite auch die Erinnyen gezeugt wurden (V. 180 — 185). Aus dem Schaum des abgeschnittenen und ins Meer geworfenen Zeugungsglieds wurde die Liebesgöttin geboren, aus den Blutstropfen aber, die dabei zur Erde fielen, die Fluchgeister. Damit ist aus griechischer Sicht der erste Erbfluch entstanden. Analog dem von ihm gestürzten Vater Uranos wird auch Kronos später alles tun, seine eigene Nachkommenschaft wieder verschwinden zu lassen. Und entsprechend wird er seinerseits gestürzt werden, nämlich von Zeus, seinem Sohn, der von Rhea, der Zeus-Mutter, gegen ihn, Kronos, den Gatten und Vater heimlich geboren und ausgespielt wurde (V. 468 ff.) Im Hinblick auf Handlungsgefüge und Symbolik sind wir nun auch längst im Zentrum von Fabers Schicksal angelangt. Hierzu wäre zunächst der Ausgangskonflikt von Faber und Hanna zu betrachten: Auf ihre „Offenbarung", daß sie ein Kind erwartet, zeigt er sich „zu Tode erschrocken" (S. 47). Der Interpretation von Brigitte Weidmann ist zuzustimmen, wenn sie erklärt: Daß er das Kind, das Hanna erwartet, nicht will, ist schon bezeichnend: Er müßte dadurch eben auch annehmen, daß er selbst um eine Generation älter geworden, dem Tod näher getreten ist. Er müßte annehmen, daß das Leben, wie Hanna sagt, mit den Kindern geht. 8 7
Also aus einer ähnlichen Motivation heraus wie Uranos und Kronos möchte Faber keine Nachkommenschaft. Vergleichbar mit Gaia und 87
Brigitte Weidmann, „Wirklichkeit und Erinnerung in Max Frischs ,Homo faber' ", in: Schweizer Monatshefte 44 (1964/65), 445—456, dort 450; s. auch Erna M. Dahms, Zeit und Zeiterlebnis in den Werken Max Frischs. Bedeutung und technische Darstellung, Berlin 1976, dort 105 f.
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Rhea verhält sich Hanna, die das Kind hinter dem Rücken des Vaters zur Welt bringt. Analog der Hesiodschen Geschichten über die alten Götter, in deren Auseinandersetzungen der weitere Lauf der Welt gegründet sein soll, kommt es zu einer Mutter-Kind-Verbindung, die gegen den Mann und Vater gerichtet ist. Entsprechend wird das Kind dann auch dem Vater wie der Vater dem Kind zum Verhängnis. Nicht daß Faber von einem Sohn entmannt (Fall des Uranos) oder in den Tartaros gestützt (Fall des Kronos) würde. Aber indem er sich bei der geschickhaften Begegnung mit der von ihm nicht angenommenen Tochter verliebt, verliert er sein Männlichkeitsideal einer autonomen, sich selbst genügenden Männerexistenz. „Ob sie mich denn heiraten würde" (S. 95), fragt nun der, der kurz zuvor noch behauptet hat: „Ich bin gewohnt, allein zu reisen. Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit." (S. 90) Seinen Heiratsantrag macht Faber genau der Frau, der er ihn gerade nicht hätte machen dürfen. An ihr (Sabeth), die in ihm den Vater und nicht den Mann sucht, frevelt er damit ebenso wie an ihrer Mutter (Hanna), die in ihm den elterlichen Lebenspartner gebraucht hätte. So zieht das Unheil herauf. Faber bekommt dies beim gemeinsamen Museumsbesuch auf der „Hochzeitsreise" in Rom deutlich genug vor Augen geführt: Wenn Sabeth (oder sonst jemand) bei der Geburt der Venus steht, gibt es Schatten, das Gesicht der schlafenden Erinnye wirkt, infolge einseitigen Lichteinfalls, sofort viel wacher, lebendiger, geradezu wild. (S. 1 1 1 )
Was sich Vater und Tochter hier erschließt, ist ein erregendes Wechselspiel zwischen der Geburt der Liebes- und der Erweckung der Fluchgöttin. Es ist genau das schicksalhafte Licht- und Schattenverhältnis, das infolge des ,Sündenfalls', der bei Hesiod erzählt wird, in die Welt gekommen ist. Der schwer gestrafte Uranos zeugte bei seinem Abgang ja noch ein letztes Mal: eben Aphrodite, andernorts Venus genannt, und die Erinnyen. Unerwarteterweise hat sich der platonische Eros-Entwurf, den wie kein anderer der moderne Homo faber in die Tat umgesetzt zu haben scheint, dem Eros-Paradigma, das sich in den alten Mythen vermittelt, neu geöffnet. Das Medium aber, in dem und durch das sich dieses tragische Zurückkreisen ereignet, ist eine Piaton wie Hesiod noch unbekannte Technik. Deren hinter- und abgründigen Logik soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
III. Der Weg ins Offene Im vorangegangenen Kapitel ging es darum, in Überwindung des traditionellen Technikressentiments der neuzeitlichen Kunst, wie es vornehmlich im Roman sowie der daran orientierten herkömmlichen Geisteswissenschaft zum Ausdruck kommt, auf die gegenwärtig erreichte Höhe des technischen Bewußtseins zu gelangen. Dessen hohe Uberzeugungs- und Faszinationskraft, die sich durchaus auf zentrale Wertvorstellungen der Kulturtradition beziehen läßt, sollte herausgearbeitet werden. In diesem Sinn wurde der immanenten Forderung der Ich-Perspektive von Frischs Technikroman zu entsprechen versucht. Es ist die Forderung, sich in der ästhetischen Identifikation auf das hier offensiv zur Sprache gebrachte kybernetische Bewußtsein zunächst so vorbehaltlos wie möglich einzulassen. Sie bedeutet, als Romanleser die gegenwärtig geschichtsbestimmende Technikerposition einmal von innen heraus nachzuvollziehen und ihr dabei den größtmöglichen Kredit einzuräumen. Auf diesem Weg konnte gezeigt werden, daß von der umfassend nach den Prinzipien der Kybernetik strukturierten Technik von heute ein so bestechendes Totalitätsversprechen ausgeht, wie es in einem herkömmlichen Roman allenfalls als utopischer Horizont aufscheint. Trotz des zugegebenermaßen hohen Plausibilitätsgrades der Einstellungen des zeitgenössischen technischen Menschen, wie sie in einer Figur wie Faber in pointierter Zuspitzung dargestellt sind, ist diesem Faber die Ungeheuerlichkeit eines mörderischen Inzests unterlaufen. Das Abgründige ist bereits geschehen, wenn er sein scheinbar durch und durch vernünftiges Denken und Handeln nochmals zu behaupten versucht. Der Rechtfertigungsbericht beginnt dort, wo die bislang dank heutiger Technik vermeintlich geschlossene und wohlstabilisierte IchWelt-Totalität aus scheinbar unerfindlichen Gründen erste Einbrüche erfahrt. Ab sofort ist ein an Dramatik immer weiter zunehmendes Wechselspiel zu beobachten zwischen Störungen, die plötzlich einbrechen, und dem Versuch, über sie hinwegzugehen und die übliche Ordnung wieder hergestellt zu sehen. In der von Faber berichteten Handlung gipfelt diese abgründige Dialektik im Inzest, zu dem er sich mit seiner Tochter Sabeth hinreißen
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Der Weg ins Offene
läßt. Denn der exklusiven Beziehung des Inzests entspricht einerseits der unbedingte Wille des Technikers, sich gegen die Natur und den Tod zu behaupten. Andererseits kommt es dazu auch durch die Fügung der erst im Systemganzen absehbaren Logik der Technik, die das Wollen, Rechnen und Handeln des technischen Ichs zu dessen Überraschung unterläuft. Ein letzter Versuch Fabers, den unvorhergesehenen Einbruch des Anderen zu korrigieren und noch einmal sein Selbstverständnis als Techniker durchzusetzen, ist schließlich das Verfassen des ersten Teils seines Berichts. Insofern dieser dann aber mehr zur Sprache bringt, als sein Verfasser wahrzunehmen gefaßt war, läuft die ursprünglich vorgesehene Rechtfertigung darauf hinaus, den Irrtum des Technikers zu beweisen. Spät noch, allzu spät, öffnet dieser letzte entscheidende Einbruch den Weg zu einer offenen Weise des Sehens und Verstehens. Inwieweit sich die umrissene Handlungsstruktur in Analogie und Differenz auf Muster der antiken Tragödie beziehen läßt, kann im Zug der Ausführungen dieses Kapitels bereits in grundlegenden Ansätzen verdeutlicht werden. Die abgründige Dialektik von Üblichem und Plötzlichem hat die Forschung als Handlungsstruktur des „Homo faber" bereits entdeckt. Ich verweise auf den kleinen, pointierten Beitrag „Das Übliche und das Plötzliche. Über Technik und Zufall im ,Homo faber' " von Peter Pütz. Für die gewaltige Faszination der modernen Technik gerade in ihrer ,Üblichkeit' ist allerdings auch diese Arbeit noch nicht sensibilisiert, wenn es da etwa heißt: Es scheint, als blickte hier jemand (bereits 1957) mit den Augen des jungen Peter Handke auf eine Welt des Schonimmer und Immerzu, in der alle Sinneseindrücke, Empfindungen und Gedanken als dauerhaft gestanzte Schablonen jegliches Erleben zur qualvollen Wiederholung werden lassen.1
Der Schein trügt. Handke ist zur Erschließung der Denk- und Gefühlsstruktur einer Figur wie Faber nicht die richtige Kategorie. Denn dieser Held aus der Mitte des Lebens unserer Zeit will zunächst einmal nur die präzis aufeinander abgestimmten Abläufe einer hochtechnisierten Welt und immer nur dies. Alles Ungewohnte macht ihn dagegen nervös. Völlig richtig sieht Pütz dann aber, daß das Außerordentliche, das die gewohnte Ordnung des Üblichen über eine ungewöhnliche Zufallsverkettung durchbricht, ,sich selbst als ordnungsstiftendes Prinzip formiert' 2 : 1
2
Peter Pütz, „Das Übliche und das Plötzliche. Über Technik und Zufall im ,Homo faber'", in: Frischs „Homo faber", hg. Schmitz, 133—141, dort 133. Ebd., 135.
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Die vorgebliche Berechenbarkeit der technischen Welt wird ständig von plötzlichen Einbrüchen durchlöchert, doch auch das Netz der Zufallsfäden ist so dicht geknüpft, als wären die Parzen am Werk und ließen den Sterblichen seinem Schicksal nicht entkommen. 3
Warum aber scheint gerade die durchorganisierteste technische Ordnung dafür prädestiniert zu sein, in eine alte mythische Ordnung hinüberzuführen? Warum „schlägt", wie Pütz am Ende seiner Arbeit resümiert, ,der Fortschritt selbst in Mythos um und decouvriert damit sein Versagen' 4 ? Als nächstes gilt es also, die Frage nach der Logik zu stellen, die der Technik immanent ist. Indem es gerade diese Logik ist, die der Techniker nicht begreift, fügt sie ihm ein unerwartetes Schicksal.
1. Die Logik des modernen technischen Systems a) Erste Einbrüche in die vermeintliche Ich-Welt-Totalität Faber läßt seinen Bericht an dem Punkt beginnen, da die Beziehung zwischen seiner Technik und ihm eine grundlegende Veränderung erfahrt. Andeutungsweise zunächst, doch dann in sich zusehends verdichtender Weise wird ihr Versprechen, die allgemeine Hoffnung der Moderne auf eine in sich geschlossene Ich-Welt-Totalität einzulösen, fragwürdig. In diesem Sinn aufschlußreich ist schon die Struktur des ersten Satzes: „Wir starteten in La Guardia, New York, mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen" (S. 7). Der unvermittelte Einsatz „Wir starteten in La Guardia, New York" vermittelt eine Welt, in der Flugreisen ein selbstverständlicher Aspekt des täglichen Lebens geworden sind, der keiner weiteren Erklärung bedarf. Hier zu Beginn des Berichts wissen wir vom Berichtenden noch nichts, außer eben, daß ein Start von einem gewissen Flughafen in New York zu seinem vertrauten Alltag gehören muß: Es ist ein Alltag, der durch die Fahrpläne weltverbindender Verkehrslinien strukturiert wird, nun aber plötzlich den Einbruch von etwas Außerplanmäßigem erfahrt. Dies besagt der zweite Teil des Satzes: „mit dreistündiger Verspätung infolge Schneestürmen". In den erst am Schluß und dabei auch nur äußerst knapp erwähnten Schneestürmen kündigt sich eine undurchschaubare, diffuse Qualität an, die sich auf einmal in die gewohnten Abläufe eingeschlichen hat. Zwar versucht Faber schnell über diesen hemmenden Einbruch, der hier zunächst nur für einen Augenblick aufblitzt, hinwegzugehen. 3 4
Ebd., 136. Ebd., 139.
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Schließlich ist „unsere Maschine [...], wie üblich auf dieser Strecke, eine Super-Constellation" (S. 7). Und kaum hat er dieses besondere Verkehrsmittel bestiegen, glaubt er sich auch ,sofort zum Schlafen richten' (ebd.) zu können. Doch die ihm sonst so vertraute Welt scheint an diesem Abend einfach nicht zu ihrer gewohnten Ordnung zurückkehren zu wollen. Der Einbruch eines Anderen, Unvertrauten, nicht näher Bestimmbaren weitet sich aus und läßt den Übermüdeten nicht zur Ruhe kommen: Wir warteten noch weitere vierzig Minuten draußen auf der Piste, Schnee vor den Scheinwerfern, Pulverschnee, Wirbel über der Piste, und was mich nervös machte, so daß ich nicht sogleich schlief, war nicht die Zeitung, die unsere Stewardeß verteilte, First Pictures Of World's Greatest Air Crash In Nevada, eine Neuigkeit, die ich schon am Mittag gelesen hatte, sondern einzig und allein diese Vibration in der stehenden Maschine mit laufenden Motoren — dazu der junge Deutsche neben mir, der mir sogleich auffiel, ich weiß nicht wieso, er fiel auf, wenn er den Mantel auszog, wenn er sich setzte und sich die Bügelfalten zog, wenn er überhaupt nichts tat, sondern auf den Start wartete wie wir alle und einfach im Sessel saß, ein Blonder mit rosiger Haut, der sich sofort vorstellte, noch bevor man die Gürtel geschnallt hatte. Seinen Namen hatte ich überhört, die Motoren dröhnten, einer nach dem andern auf Vollgasprobe — (S. 7)
Hatte sich Faber nach dem Besteigen der Super-Constellation erhofft, endlich wieder in die exakt aufeinander abgestimmten Kreisläufe des modernen technischen Weltsystems eingeschaltet zu sein, so sieht er sich jedoch zunächst sogar in besonders auffalliger Weise mit dem Einbruch des Diffusen konfrontiert. Denn erst im Licht der Scheinwerfer, mit denen die Super-Constellation ausgestattet ist, gewinnen die bedrohlichen Wirbel der Schneestürme plastische Anschaulichkeit. Und ihrer diffusen Undurchdringlichkeit entspricht bei Faber selbst eine allgemeine nervöse Gereiztheit, die auf eine eindeutig präzisierbare Ursache zurückzuführen ihm trotz gegenteiliger Bemühung offensichtlich unmöglich ist. Der Versuch auszuschließen, daß ihm nicht zuletzt auch First Pictures Of World's Greatest Air Crash In Nevada zugesetzt haben dürften, wirkt unglaubwürdig. Die dank der Möglichkeiten der modernen Technik prompt weltweit übermittelte Nachricht mag ihn am Nachmittag, da sie ihn zuerst erreichte, noch relativ unberührt gelassen haben. Vermittelte ihm da die schnelle und objektive Dokumentation des Unglücks doch noch die distanzierende Gewißheit, daß das Schreckliche an einem anderen Ort und zu einem bereits vergangenen Zeitpunkt geschehen ist. Auch die jetzt rasch nachgelieferten Bilder von der Unglücksstätte scheinen diese distanzierende Gewißheit nur nochmal bekräftigen zu wollen. Aber in Verbindung mit der Vibration der noch immer am Boden wie festgeklebten Maschine, die Fabers mitvibrierenden Körper
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unmittelbar in den augenblicklichen Kampf zwischen Technik und Natur einbezieht, müssen die Bilder im wörtlichen Sinn „unter die Haut" gegangen sein. Ihre gewöhnliche Funktion, dem „Rest der Welt" die distanzierende Teilnahme des aus sicherer Entfernung neugierig zuschauenden, aber ansonsten nicht weiter beteiligten Voyeurs zu ermöglichen, hat sich hier ins Gegenteil verkehrt. Dem Techniker, der sich ständig auf der Höhe der Zeit bewegt, der immer up to date ist, nun aber auf einmal in seiner von Unwettern umtobten und wie aufgeregt zitternden Maschine zum Warten verurteilt ist, verwandeln sich die Unglücksbilder zum warnenden Omen. Es ist nicht ein als einzeln isolier- und somit als ephemer übergehbarer Störfaktor, auf den Fabers nicht abbrechende Irritation zurückzuführen wäre. Vielmehr verdichtet sich hier ein ominös zusammenwirkendes Beziehungsnetz von Ereignissen, zu denen irgendwie auch die Begegnung mit dem Sitznachbarn aus Deutschland gehört. Seine Nähe beschäftigt Faber auf eine noch nicht näher erklärbare Weise. Allenfalls läßt sich bereits sagen, daß die rosige Haut, die er auch später wiederholt erwähnt, den Eindruck hilflos ausgesetzter Kreatürlichkeit vermittelt. Dies aber dürfte im Augenblick das letzte sein, worauf Faber aufmerksam gemacht werden möchte. Die plötzlich einsetzende Flut enervierender Signale gipfelt schließlich im ohrenbetäubenden Lärm der Motoren, die damit die letzten Vorbereitungen für den nun forcierten Kampf mit der tobenden Natur draußen anzeigen. Im Grunde schon in der Situation, die Faber hier im ersten Absatz seines Berichts beschreibt, verflüchtigt sich das scheinbar allumfassend sicher tragende und immerwährende In-Ordnung-Sein der modernen Technik in dramatischer Weise. Ihr universaler Beziehungszusammenhang, den systematisch weiterzuperfektionieren der U N E S C O - I n g e nieur um die Welt reist, zeigt sich ihm auf einmal als anstrengend und bedrohlich. Sinnfälligen Ausdruck findet diese veränderte Situation in dem lapidaren Satz „Ich war todmüde" (S. 7). Sein existentielles Sichverbraucht-Haben und Zum-Ende-gekommen-Sein spricht sich hier schon voll aus. E r selbst versteht seine Aussage allerdings lediglich als Ausdruck eines augenblicklichen Ermüdungszustands, den billig zu begründen sich sein bewährter Sündenbock Ivy anbietet. Denn diese hatte die Flugverspätung dazu genutzt, ihn wieder mal zur Heirat zu drängen, was freilich nur zu einer weiteren Verfestigung seiner eh und je gehegten Uberzeugung führte, daß er ohne engere zwischenmenschliche Bindung am besten lebe: „Ich war froh, allein zu sein" (S. 7). Daß es aber gerade Ivys Aufdringlichkeit ist, die Faber zu einer erneuten Bestätigung seiner vermeintlich in sich selbst ruhenden Technikerexistenz verführt, verweist auch auf ihre Unentbehrlichkeit in
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seinem Lebensplan. Nicht nur helfen die Quelereien mit ihr, von Einsamkeit und Leere während der einsatzfreien Zeit abzulenken, sondern sie lassen es auch jedesmal wieder als seine eigene freie Entscheidung erscheinen, wenn er erneut die Anstrengung seiner weltumkreisenden Geschäftsreisen auf sich nimmt. So ist Ivy gerade auch als nahezu unerträgliche Belastung eine wesentliche Stütze in Fabers Technikerleben. Die moderne Berufserfordernis, immer wieder neu aufbrechen zu müssen, wird zur willkommenen Möglichkeit, einer ernsthaften zwischenmenschlichen Auseinandersetzung elegant aus dem Weg zu gehen. Trotz einiger Widrigkeiten scheint sich Faber auf seine Technik also weiterhin verlassen zu können. Selbst den aufheulenden Motoren kann noch ein ausgesprochen erholsamer Aspekt zuerkannt werden. Sie lassen Faber nämlich den Namen überhören, mit dem sich der deutsche Sitznachbar bekannt zu machen sucht. Eine nicht gewünschte nähere Bekanntschaft bleibt ihm somit fürs erste erspart. Befriedigt und erleichtert kann er nach der höchst unangenehmen Wartezeit doch noch feststellen: „Endlich ging's los — " (S. 7). Sollte er sich nun darauf gefreut haben, daß zu guter Letzt die gewohnte Ordnung der Dinge wieder ins Recht gesetzt sei, muß er sich aber gleich wieder getäuscht finden. Der Einbruch des Diffusen, Undurchschaubaren wird nun gerade hier beim ersehnten Abflug in einer Weise auffällig, wie es eindringlicher nicht geschehen könnte: Ich habe einen Start bei solchem Schneetreiben noch nie erlebt, kaum hatte sich unser Fahrgestell v o n der weißen Piste gehoben, war von den gelben Bodenlichtern nichts mehr zu sehen, kein Schimmer, später nicht einmal ein Schimmer von Manhattan, so schneite es. Ich sah nur das grüne Blinklicht an unsrer Tragfläche, die heftig schwankte, zeitweise wippte; für Sekunden verschwand sogar dieses grüne Blinklicht im Nebel, man kam sich wie ein Blinder vor. (S. 7)
Immer wieder versucht sich Faber der überschaubaren technischen Weltordnung, so wie sie ihm vertraut ist, zu vergewissern. Doch tatsächlich laufen seine Bemühungen und Erwartungen ins Leere, je mehr er sich auf sie verlassen will. So kann er, will er den geglückten Start an den immer kleiner werdenden Bodenlichtern ermessen, nur in die undurchdringliche Turbulenz von Wind, Schnee und Nebel sehen, hinter der die Orientierungsmarken der technischen Ordnung verschwinden. Er, der normalerweise glaubt, in seinem technischen Leben alles überblicken und beherrschen zu können, muß sich mit seiner Technik plötzlich wie ein Blinder vorkommen. In die Irre geführt sieht sich Faber auch, wenn er glaubt, zumindest im Flugzeuginnern die vertraute Ordnung wiedererkennen zu können. Zwar scheint die inzwischen aufleuchtende Schrift „Rauchen gestattet"
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(S. 8) zu signalisieren, daß nun alles wieder seinen regulären Verlauf nimmt. Gleichzeitig hat aber auch sein Sitznachbar, wie sich gleich herausstellen wird, nur auf das Signal „Rauchen gestattet" gewartet. Dieser ergreift nämlich flugs die Gelegenheit, Zigaretten anzubieten, um so seine anfangliche Bemühung nach Bekanntschaft weiterzuführen, wogegen sich alles in Faber sträubt. So lehnt er die zuvorkommende Offerte brüsk ab und bedient sich aus seiner eigenen Schachtel. Auffällig ist, daß er gleichzeitig auch wieder die Turbulenzen registrieren muß, mit denen das Flugzeug außen zu kämpfen hat: „Wir hatten ziemliche Böen" (S. 8). Fast sieht es so aus, als ob sie sein taktloses Verhalten heraufbeschworen hat. Als er sich nämlich später mit der Gegenwart seines Nachbarn einigermaßen abfindet, lassen auch die Böen wieder nach. Die vordergründig nüchterne Wiedergabe: „Später schlief ich ein. Die Böen ließen nach" (S. 8), scheint einen Zusammenhang zwischen dem Erlahmen der inneren Abwehrhaltung und der Beruhigung der äußeren Situation anzudeuten. Die allgemeine Beruhigung des äußeren wie innerlichen Aufruhrs scheint ihm zu bestätigen, daß er sich auf dem richtigen Weg befindet, wenn er sich kurz vor dem Einschlafen nunmehr gelassener mit dem auffälligen Nachbarn beschäftigt: „Ich weiß nicht, warum er mir auf die Nerven ging, irgendwie kannte ich sein Gesicht, ein sehr deutsches Gesicht. Ich überlegte mit geschlossenen Augen, aber vergeblich" (S. 8). Der unangenehme Nachbar berührt also, wie sich hier allmählich enthüllt, einen dunklen Punkt in Fabers Vergangenheit, irgend etwas, das er gründlich vergessen hat und das irgendwie mit Deutschland zu tun hat. Und wieder zeigt sich die Technik dabei in einer anderen Bedeutung als der, die Faber an ihr zu sehen gewohnt ist. Denn bislang schien sie sich in dem Sinne bewährt zu haben, daß sie ihn immer gleich im Fluß reibungslos zusammengeschalteter Kreisläufe vor allem Unliebsamen und Problematischen bewahrte. Nun aber führt sie geradewegs in die Konfrontation mit einer Vergangenheit, an die sich Faber nur ungern und nur unter immer wieder aufflackerndem Widerstand erinnern läßt: „Ich versuchte, sein rosiges Gesicht zu vergessen, was mir gelang, und schlief etwa sechs Stunden, überarbeitet wie ich war — kaum war ich erwacht, ging er mir wieder auf die Nerven" (S. 8). Auf einmal läßt die Technik den Techniker auf all das stoßen, was sie gemäß Technikererwartung gerade von ihm fernhalten sollte: zunächst auf ein übermächtiges Walten der Natur, das dem menschlichen Aufbegehren gegen sie deutlich Grenzen zeigt; alsdann auf die Erfordernis, Mitmenschen wahrzunehmen, die den eigenen Lebensweg kreuzen; und schließlich auf die Notwendigkeit, Verantwortung für eine persönliche Geschichte zu übernehmen, deren Vergangenheit und Zu-
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kunft im Augenblick noch weitgehend im Dunkeln liegen. Unerwartet und plötzlich zeichnet sich hier also eine Differenz zwischen Schein und Wesen der Technik ab und zwar umso nachhaltiger, je mehr sich der Techniker auf den bloßen Schein zu verlassen sucht. Besonders deutlich wird dies als nächstes am Rasierapparat, mit dem sich Faber vor dem unangenehmen Deutschen zurückzuziehen versucht. Denn der ersehnte Anschluß an den elektrischen Strom im abgeschlossenen Raum der Toilette scheint auch seinen Gedankenfluß neu anzuregen. So stellt sich ihm plötzlich eine assoziative Verbindung zwischen dem Deutschen, dem er zu entkommen sucht, und seinem früheren deutschen Freund Joachim her. Ganz toll treiben es aber die Akten, hinter denen sich Faber zuvor vor dem Anderen verschanzte. Während er auf der Toilette noch Pläne schmiedet, wie er den unerwünschten Gesprächspartner loswerden könnte, sind sie der Anlaß, daß der Kontakt mit diesem nicht abbricht: Ich war entschlossen, mich anderswohin zu setzen; es gab noch freie Sitze. Als ich in die Kabine zurückkehrte, rasiert, so daß ich mich freier fühlte, sicherer — ich vertrage es nicht, unrasiert zu sein — hatte er sich gestattet, meine Akten vom Boden aufzuheben, damit niemand drauf tritt, und überreichte sie mir, seinerseits die Höflichkeit in Person. Ich bedankte mich, indem ich die Akten in meine Mappe versorgte, etwas zu herzlich, scheint es, denn er benutzte meinen Dank sofort, um weitere Fragen zu stellen. Ob ich für die Unesco arbeite? (S. 10)
Erneut bestätigt sich, was sich seit dem verzögerten Abflug zunehmend abzeichnet: Auf einmal läßt die Technik immer gerade das Gegenteil von dem eintreten, was der Techniker von ihr erwartet. So sind es nun ironischerweise gerade die UNESCO-Akten, die die von Faber so vehement abgelehnte Kontaktaufnahme unvermeidlich machen. Im Grunde verhalten sie sich damit aber nur entsprechend ihrer Funktion, Information zu vermitteln und somit zu verwirklichen, was die moderne Technik in ihrem fortgeschrittensten Stadium auszeichnet: Als ein Kreislauf, der sich nach kybernetischem Prinzip selbst reguliert, ist sie darauf angelegt, so umfassend und dicht wie möglich Kommunikationsverbindungen herzustellen. Auf diesem Hintergrund läßt sich vermuten, daß die Technik mit einer unerbittlichen Konsequenz eine ihr immanente Logik zu Ende führt, mit der Schritt zu halten, den Techniker allerdings zunehmend überfordert. So ergibt sich die Möglichkeit, daß der Einbruch des Diffusen, wie ihn der Techniker auf einmal erlebt, mit einer Systematik zu tun hat, die der Techniker nur nicht durchschaut. Im folgenden geht es also darum, das Funktionieren der Technik nicht mehr von der Erwartung des Technikers her, sondern aus sich selbst heraus zu begreifen.
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b) Entwurf einer Theorie der neuen Erfahrung von Technik Um das Funktionieren ihrer sich selbst regulierenden Dynamik optimal zu gewährleisten, zeigen die kybernetischen Kreisläufe notwendig eine Tendenz ins Universelle. Sie sind darauf angelegt, in ihr Gleichgewicht kreisrelationaler Bezüge, die über das Prinzip des feed back miteinander kommunizieren, zu integrieren, was immer es gefährden könnte. So entwickelt sich ein Strukturzusammenhang, dessen stete Erweiterung sich mit einer immer detaillierteren Organisiertheit verbindet. Hierfür kann nicht zuletzt auch die Weltorganisation der UNESCO als Beispiel gesehen werden. Der Funktionstüchtigkeit des modernen technischen Weltsystems verleiht sie Stabilität, je mehr es ihr gelingt, ihm bislang noch unerschlossene Gebiete zu integrieren. Systeme behalten ihren Zustand der Intaktheit und Stabilität also nur solange bei, wie sie imstande sind, ständig neue Informationen zu verarbeiten und sich dadurch den gegebenen Bedingungen optimal anzupassen 5 . Müßte doch sonst die kleinste Unstimmigkeit von außen dazu ausreichen, das System durcheinander zu bringen, es zu blockieren und schließlich scheitern zu lassen. Mit dieser Funktionsbedingung des Systems ist aber auch seine zwar unbeabsichtigte, doch in sich logische Tendenz ins Unabsehbare und somit Offene bezeichnet. Das Bemühen des technischen Humanismus, die Technik zu einem großen, gleichwohl in sich abschließbaren und damit menschengerecht überschau- und kontrollierbaren Weltsystem auszubauen, ist damit in Frage gestellt. Die Logik der modernen Technik, wie ich sie hier nachzuvollziehen versuche, läuft für den, der sie initiierte, auf ein im letzten unaufhebbares Paradox hinaus: Zum einen läßt die moderne Technik tatsächlich in Erfüllung gehen, worauf sie der Homo faber programmiert hat. Denn durch den unbeschränkten Austausch von Kommunikation fügt sich die durch sie gestaltete Welt zu einem derart durchorganisierten Ganzen zusammen, daß alles berechen- und beherrschbar erscheint. Zum anderen aber ist mit der sich immer umfassender und immer besser selbst regulierenden Technik eine Dynamik in Gang gesetzt, die sich ihrer Tendenz nach immer mehr verselbständigen muß. Dies nun aber bedeutet, daß sie als Ganzes vom Menschen nicht mehr überschaut werden kann, da er sich selbst in ihrer alle Lebensbereiche umfassenden Eigendynamik eingespannt findet. Dieser selbstläufigen Tendenz der Technik, über den Kopf des Technikers hinweg ins Offene zu führen, entspricht es dann auch, daß die Technik den Techniker, der sich mit ihr gegen die primäre Ordnung der Urnatur abzudichten versuchte, letztlich ge-
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Vgl. auch Kreibich, 276 f.
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rade auf diese wieder zurückkreisen läßt. Schließlich ist es nur konsequent, daß eine Technik, die das ganze Dasein eines Menschen strukturiert, diesen zuletzt auch seiner natürlichen Bestimmung als endliches Wesen zuführt. Am Ende ihrer Entwicklung stellt sich die Technik somit nicht nur als naturanaloges System heraus, sondern auch als ein System, das in seiner unvermeidbaren Offenheit auf die Natur als das, was auch ihr substantiell zugrundeliegt, zurückverweist. Es wird einsichtig, daß auch die modernste Technik nur bedingt menschlicher Gegenentwurf zur Natur sein kann. Denn im Grund ihres Seins bleibt auch sie unabdingbar Teil der Natur: Zwar wurde sie aus der Natur heraus geschaffen, um sich von natürlichen Bindungen und Zwängen zu emanzipieren; dennoch muß in und mit ihr die Naturordnung, aus der heraus auch sie, die technische Ordnung, entwickelt wurde, weiterwirken — verborgen zunächst, immer offener mit der Zeit. c) Die moderne Technik als totale Kommunikation Auf dem Hintergrund des soeben Entwickelten wird der Umstand sinnfällig, daß ausgerechnet die Akten, die dem herkömmlichen Verständnis nach ausschließlich zur Ordnung menschlicher Zwecksetzung gehören, zu einer Kontaktaufnahme zwingen, die Faber die Kontrolle über sich und seine Welt verlieren läßt. Das automatisch auf alle Bereiche übergreifende Regelsystem der Technik konfrontiert ihn mit Zusammenhängen, die er in ihrer weitreichenden Bedeutung nicht mehr verarbeiten kann. Dies zeigt sich zunächst in seinem äußeren Verhalten, das mit einem plötzlichen Überschuß an Spontaneität das Sicherheit vermittelnde Terrain höflicher Distanz durchbricht: Ich bedankte mich, indem ich die Akten in meine Mappe versorgte, etwas zu herzlich, scheint es, denn er benutzte meinen Dank sofort, um weitere Fragen zu stellen. Ob ich für die Unesco arbeite? (S. 10)
Die anfangliche Erleichterung darüber, daß sich der unsympathische Deutsche immerhin um seine Akten, einen zentralen Signifikanten seiner technischen Welt, gekümmert hat, muß hier unversehens in das Gefühl umschlagen, in die Falle gegangen zu sein. Die nun definitiv vereitelte Hoffnung, den Deutschen nochmals loszuwerden, schlägt ihm im wörtlichen Sinn auf den Magen: „Ich spürte den Magen — " (S. 10) Der Körper zeigt Zeichen von Panik, der sich eine Verwirrung von Gedanken anschließt. Zwar scheint Faber den Deutschen mit dem Thema „Unesco" noch am ehesten auf Distanz halten zu können. Handelt es sich doch hier
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um einen Diskurs, den er mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit beherrscht und damit scheinbar auch beliebig instrumentalisieren kann: Ich setzte mich an meinen Platz und berichtete, um nicht unausstehlich zu sein, von meiner Tätigkeit, technische Hilfe für unterentwickelte Völker, ich kann darüber sprechen, während ich ganz andres denke. (S. 10)
Doch schon der nächste Satz legt die absolute Verwirrung offen, die sich hinter seiner vorgeschützten Selbstsicherheit verbirgt: „Ich weiß nicht, was ich dachte" (ebd.). In Fabers technischer Welt, von der er sich normalerweise sicher getragen fühlt, drängt auf einmal alles zur Kontaktaufnahme mit dem jungen Deutschen. Doch einer angemessenen Verarbeitung des Informationsgehalts, den dieser für ihn präsentiert, zeigt er sich nicht gewachsen. Vielmehr gerät er in einen Zustand höchster Konfusion, wie sich in allen seinen Reaktionen zeigt. Und als ob ihm das bestens organisierte technische Regelsystem nun die dringend benötigte Verschnaufpause ermöglichen wollte, setzt die Super-Constellation zu einer Zwischenlandung an. Damit wird Faber die Möglichkeit gegeben, den Deutschen für eine Weile aus den Augen zu verlieren und so in Ruhe die Botschaft bei sich ankommen zu lassen, die ihm die Technik im ständigen Verweis auf jenen zukommen läßt: Im Augenblick, als wir die Maschine verließen und vor dem Zoll uns trennten, wußte ich, was ich vorher gedacht hatte: Sein Gesicht (rosig und dicklich, wie Joachim nie gewesen ist) erinnerte mich doch an Joachim. — (S. 10)
Was sich schon zuvor angedeutet hatte, daß nämlich die Begegnung mit dem jungen Deutschen — Faber hat inzwischen auch erfahren, daß er aus Düsseldorf kommt — etwas in der eigenen Vergangenheit berührt, bestätigt sich nun. Mehr kann zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht gesagt werden, da Faber die hier aufblitzende Erinnerung sofort wieder verdrängt, bis sie erneut unvermeidlich wird: Ich vergaß es wieder. Das war in Houston, Texas. Nach dem Zoll, nach der üblichen Schererei mit meiner Kamera, die mich schon um die halbe Welt begleitet hat, ging ich in die Bar, um einen Drink zu haben, bemerkte aber, daß mein Düsseldorfer bereits in der Bar saß, sogar einen Hocker freihielt — vermutlich für mich! — und ging gradaus in die Toilette hinunter, wo ich mir, da ich nichts anderes zu tun hatte, die Hände wusch. (S. 10 f.)
Das verdrängende Vergessen kann Faber während der üblichen Zollscherereien um seine Kamera besonders gut gelingen, insofern ihm hier eine Problemstellung entgegentritt, die einerseits sein volles Engagement verlangt, die andererseits aber, wie er aus Erfahrung weiß, bei entsprechender Ausdauer im Verhandeln durchaus zu bewältigen ist. Doch wie er sich nach diesem schon gewohnten und, wie zu erwarten, erfolgreich überstandenen Ärger in der Flughafenbar den verdienten
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Drink gönnen will, taucht dort in leibhaftiger Gestalt die Erinnerung wieder auf. Er muß feststellen, daß gleich einer Nemesis, die unerbittlich seiner wartet, „mein Düsseldorfer bereits in der Bar saß, sogar einen Hocker freihielt — vermutlich für mich! — ". Und wie schon einmal sieht Faber nur noch in der Toilette ein letztmögliches Refugium, sich vor unliebsamen Erinnerungen in Sicherheit zu bringen. Wieder einmal sind die Umstände bezeichnend, wie es dazu kommt. Denn ausgerechnet die Kamera, sonst Fabers unentbehrliches Requisit bei seinem dauernden Versuch, die Welt im Bild verfügbar zu halten — als solches hat sie ihn schon um die ganze Welt begleitet — sorgt dafür, daß er einer überaus erschütternden Konfrontation mit seinem endlichen Dasein als geborener und sterblicher Mensch mit einer einmaligen, unwiederholbaren, aber auch unwiderruflichen Lebensgeschichte zugeführt wird. Sie hält ihn an der Zollschranke gerade so lange auf, bis in der Flughafenbar die Szene arrangiert ist, die ihn sofort wieder kehrtwenden läßt. Auf der Flucht vor dem Verdrängten, das ihn in der Gestalt des Düsseldorfers verfolgt, eilt Faber die Toilette hinunter, um dort — eindeutiger und unerbittlicher denn je — einen unheimlichen Spiegel vorgehalten zu bekommen: Mein Gesicht im Spiegel, während ich Minuten lang die Hände wasche, dann trockne: weiß wie Wachs, mein Gesicht, beziehungsweise grau und gelblich mit violetten Adern darin, scheußlich wie eine Leiche. Ich vermutete, es kommt vom Neon-Licht, und trocknete meine Hände, die ebenso gelblich-violett sind, dann der übliche Lautsprecher, der alle Räume bedient, somit auch das Untergeschoß: Your attention please, your attention please! Ich wußte nicht, was los ist. Meine Hände schwitzten, obschon es in dieser Toilette geradezu kalt ist, draußen ist es heiß. (S. 11)
Auch in der Toilette läßt die Technik aufblitzen — diesmal aber mit solcher Gewalt, daß Faber im Angesicht der ihn betreffenden Botschaft ohnmächtig zusammenbricht — wovor sie ihrer Konzeption nach ablenken sollte. Die glitzernde Hygiene der sanitären Anlage, der er sich auch pflichtgemäß bedient, steht bereit, den in der Toilette zwangsläufig in Erinnerung gebrachten Aspekt der menschlichen Kreatürlichkeit mit Eleganz und Raffinesse zu überspielen. Wo aber die Gebrechlichkeit des Körpers, wie bei dem alternden und überanstrengten Faber nicht mehr zu beschönigen ist, ahndet die Technik dies mit einer Strenge, die das Blut in den Adern gefrieren läßt. Im unbarmherzigen Schein des Neonlichts bildet der Spiegel sein Gesicht als Totenkopf ab, der von der ästhetisierten Umgebung des Waschraums drastisch absticht. Und als ob die Technik das von ihr eh schon grell ausgestrahlte, fahle Gesicht noch einmal besonders hervorheben wollte, läßt der übliche Lautsprecher, der auch hier unten in der Toilette installiert ist, sein your attention please, jour attention please! durch den Raum hallen.. Fabers
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Körper reagiert mit deutlichen Anzeichen von Schock. Trotz der dank Klimaanlage wohltemperierten Toilette wird es ihm abwechselnd kalt und heiß, gerät er ins Schwitzen und verliert schließlich das Bewußtsein. Auf die Konfrontation mit seiner Sterblichkeit erfolgt eine Reminiszenz an sein Geborensein, kaum ist Faber aus seiner Ohnmacht wieder erwacht: Ich weiß nur soviel: — Als ich wieder zu mir kam, kniete die dicke Negerin neben mir, Putzerin, die ich vorher nicht bemerkt hatte, jetzt in nächster Nähe, ich sah ihr Riesenmaul mit den schwarzen Lippen, das Rosa ihres Zahnfleisches, ich hörte den hallenden Lautsprecher, während ich noch auf allen vieren war — (S. 1 1 )
Erschreckt muß der Karrieretechniker feststellen, daß er in der Situation seiner plötzlichen Schwäche in die Lage eines Säuglings zurückgeworfen wurde, der auf ammenhafte Fürsorge angewiesen ist. Knieend über ihn gebeugt nimmt er „die dicke Negerin" wahr. Das Leben einer hegenden Mutter zu verdanken und als solche ausgerechnet eine sozial deklassierte Frau wiederzuflnden, muß Faber doppelt peinlich berühren. Normalerweise hat diese Frau, die nun „in nächster Nähe" bei ihm ist, in einem unbemerkten Schattendasein die Toiletten auf Hochglanz zu halten. So hat sie Faber zunächst auch gar „nicht bemerkt". Doch auf einmal tritt die sonst notorisch Übersehene aus dem ihr zugewiesenen Platz am Rande heraus. Sie füllt dem am Boden liegenden Herrn jetzt sogar den ganzen Gesichtskreis aus. In seiner Lage ist er verurteilt, aus der Froschperspektive ausschnitthaft und überdimensioniert ihre Beleibtheit wahrzunehmen. Es entspricht der immanenten Logik des technisch-menschlichen Kommunikationssystems, daß dieses jedem seiner Partizipanten letztlich auch das in Erinnerung rufen muß, was jeder von ihnen am wenigsten zur Kenntnis nehmen möchte. So hat das Zusammenspiel eines ganzen Netzwerks von Faktoren hier unten in der Toilette zu einer Situation geführt, in der Faber in sinnbildlicher Anschaulichkeit an zwei Peinlichkeiten erinnert wird. Erstens: Eine Frau, der in der technisch humanisierten Homo-faber-Welt normalerweise nichts außer Mißachtung zuteil wird, muß als eine vergessene Helferin, von der das Leben des Homo faber abhängt, zur Kenntnis genommen werden. Zweitens: In ihrer Gestalt wird Faber auch an die natürliche Fessel von Körperfunktionen erinnert, der noch der fortschrittlichste Mensch unabdingbar verhaftet bleibt. Schaudernd blickt der gerade erst Aufgewachte in „ihr Riesenmaul mit den schwarzen Lippen" und sieht „das Rosa ihres Zahnfleisches". Im Innersten hat er Angst, daß sein hinfallig gewordener Körper in die verdrängten Naturkreisläufe gerät und aufgefressen wird.
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Dabei will ihm die als subhuman Verachtete nur helfen. Was sie trotz aller Diskriminierung gleichwohl gewähren kann, ist eine spontane mitmenschliche Hilfestellung. Doch wie hätte Faber das wissen sollen? Bei seiner Ausbildung zum offiziellen Entwicklungsbeauftragten dürfte diese Art von Hilfe nicht gelehrt worden sein. Was dem Weg zu einer in sich abschließbaren Ich-Welt-Totalität dienlich zu sein verspricht, kann der Wißbegierde des modernen Fortschrittsmenschen sicher sein. Was immer jedoch ein Eingeständnis eigener menschlicher Hilfsbedürftigkeit implizieren würde, will er nicht mehr lernen. Auf die ihm un vertraute Form der Hilfestellung, die ihm die Negerin bietet, kann Faber nicht eingehen. Stattdessen gibt er sich alle Mühe, so schnell wie möglich wieder die Rolle des starken Mannes anzunehmen. Die Negerin andererseits muß herzlich lachen, da sie sieht, wie dieser Herr der Schöpfung seinen Anfall von Schwäche vor ihr, der ein Leben in völliger Machtlosigkeit doch nur allzu vertraut ist, krampfhaft zu verbergen versucht: Ich begriff nicht, wieso die Negerin plötzlich lachte — es schüttelte ihre Brust wie einen Pudding, so mußte sie lachen, ihr Riesenmaul, ihr Kruselhaar, ihre weißen und schwarzen Augen, Großaufnahme aus Afrika. (S. 12)
In ihrem prustenden Lachen schwappt dem Homo faber in neuen Wellen jene Körperlichkeit entgegen, die zumindest in der feinen, technisch kultivierten Welt der hochentwickelten Industrieländer nichts mehr zu suchen hat. Wo Faber aber in seinen lächerlich gewordenen Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsversuchen so weit geht, ihre spontane Hilfsbereitschaft mit seinem Geld aufwiegen zu wollen, weist sie ihn an der Schranke, die ihr die Welt, die er präsentiert, gesetzt hat, in seine Schranken: Sie weigert sich, Geld anzunehmen, es wäre ein Vergnügen (pleasure) für sie, daß ich lebe, daß der Lord ihr Gebet erhört habe, ich hatte ihr die Note einfach hingelegt, aber sie folgte mir noch auf die Treppe, w o sie als Negerin nicht weitergehen durfte, und zwang mir die Note in die Hand. (S. 12)
Unmißverständlich verweist die schwarze Putzerin zum Abschied auf ihre Würde als Mensch, die auch der gutgestellte weiße Fluggast nicht übersehen darf. Auch zeigt sich, daß der so kindlich scheinende Glaube der Negerin an einen Lord nicht zu unterschätzen ist. Zum einen verleiht ihr die Gewißheit, daß alles Leben im letzten einer höheren, gerechten und gütigen Macht untersteht, eine Würde und Persönlichkeit, die unter Lebensumständen wie den ihrigen sonst kaum möglich erscheinen. Zum anderen offenbart aber auch das Wesen der Technik, wie es sich hier gegen alle eitle Technikererwartung zusehends abzeichnet, daß gerade
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auch der technische Mensch vom Anspruch einer Macht herausgefordert wird, die ihm übergeordnet ist. Und diese Herausforderung bestätigt sich, je mehr sich Faber ihr entziehen zu können glaubt. Im falschen Glauben, seine soeben noch offenbare Ohnmacht überwunden zu haben, begibt sich Faber schließlich hoch hinauf auf das Observation-Dach, um sich vom Abflug der ihm unheimlich gewordenen Maschine zu überzeugen: Ich ging aufs Oberservation-Dach, um unsere Maschine zu sehen. Sie stand, wie es schien, zum Start bereit; die Shell-Tanker waren weg, aber die Propeller liefen nicht. Ich atmete auf, als ich das Rudel unsrer Passagiere über das leere Feld gehen sah, um einzusteigen, mein Düsseldorfer ziemlich voran. Ich wartete auf das Anspringen der Propeller, der Lautsprecher hallte und schepperte auch hier: Please to the information-
desk! (S. 12 f.)
Auf dem Observation-Dach hatte er sich erhofft, alles wieder zu seiner Zufriedenheit überblicken zu können. Stattdessen muß er sich umgekehrt von der Technik observiert fühlen. Auch hier meldet sie sich zu Wort und redet ihm ins Gewissen, von ihr eine Botschaft entgegenzunehmen, deren Annahme er auf immer neuen Fluchtwegen auszuweichen sucht. So versucht er erneut, im Untergeschoß der Toiletten Unterschlupf zu finden. Er versteckt sich „hinter der geriegelten Tür eines Cabinets [...], als es nochmals kam: Passenger Faber, passenger Faber " (S. 13). Und ähnlich wie der Ruf Gottes den nackten Adam ereilt ihn der letzte, unerbittlich drohende Ruf der Technik: Ich schwitzte wieder und mußte mich setzen, damit mir nicht schwindlig wurde, man konnte meine Füße sehen. This is our last call. Zweimal: This is our last call. Ich weiß nicht, wieso ich mich eigentlich versteckte. Ich schämte mich. (S. 13)
d) Die andere Bedeutung der Technik An dieser Stelle erscheint mir ein Hinweis auf die Rede von Carl Friedrich von Weizsäcker „Technik als Menschheitsproblem" angebracht. In dieser Rede, gehalten anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Literatur im Industriezeitalter" in Marbach am 9. Mai 1987, definiert von Weizsäcker die Technik als „Bereitstellung von Mitteln für Zwecke" 6 und damit im Zusammenhang die Macht als „Akkumulation von Mitteln für freigehaltene Zwecke" 7 . Zum Menschen gehört demzufolge also auch das technische Machtstreben, das überhaupt erst jegliche Form zweckgerichteten Handelns und Machens ermöglicht — 6
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Carl Friedrich von Weizsäcker, Technik als Menschheitsproblem. Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung .Literatur im Industriezeitalter' in Marbach am Neckar/9. Mai 1987, Marbach a. N. 1987, 5. Ebd., 6.
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nicht zuletzt auch die Kunstproduktion im modernen Kulturbetrieb. Einen wirklichen Gegensatz zum technischen Machtstreben zu finden, eine ernsthafte Warnung vor der Verformung seiner Notwendigkeit in Mißbrauch auszumachen, sieht sich von Weizsäcker gezwungen, in der Menschheitsgeschichte weit zurückzugehen, nämlich bis zu den Ausdrucksformen des ursprünglichen Mythos: Die mythische Erzählung vermittelt Wahrnehmung der Mächte, die unser Leben bestimmen. Anschauung solcher Mächte vermittelt auch eine Götterstatue, Teilhabe an ihnen eine religiöse Liturgie, wohl auch ein ritueller Tanz: lauter von Menschen geschaffene Gestalten. Mir liegt nicht daran, den Mythos in aller Schärfe gegen das abzugrenzen, was wir in der heutigen Kultur Kunst nennen, aber den Unterschied sehen ist wichtig. Den Künstler stellen wir uns etwas naiv als den vor, der machen kann, was er will; daher das Wort „Kunst". Der Schriftsteller setzt sich an den Schreibtisch und schreibt eine Erzählung, die er sich ausgedacht hat. Der Bildhauer, der Architekt übernimmt einen Auftrag. Im heutigen Jargon gibt es Liedermacher, Filmemacher: eine absichtliche Ausdrucksweise, um die technische Absichtlichkeit der Kunst zu pointieren. Der Mythos hingegen läßt sehen, was er nicht gemacht hat: Mächte in der Gestalt von Göttern oder auch von exemplarischen, traditionsgründenden Menschen. Der Plural „Mächte" bezeichnet das, was gerade nicht in unserer Macht steht. 8
Im „Homo faber" aber wird, wie sich zum gegenwärtigen Stand der Interpretation bereits sagen läßt, eine Welt vermittelt, in der sich auch von Weizsäckers weit ausholender Gegenentwurf zur Technik nicht mehr in aller Schärfe aufrechterhalten läßt. Wo die Technik den technischen Menschen laut aufruft, sich zu seiner „Nacktheit" zu bekennen, da beginnt sie, die Technik selbst, die Rolle zu übernehmen, die von Weizsäcker der ursprünglichen Dichtung, den Mythen, zuspricht. Im Stadium progressiver Kommunikationsvernetzung beschränkt sich Technik nicht mehr darauf, nur noch Mittel für freigehaltene Zwecke zu sein. Sie ist zur herrschenden Symbolstruktur geworden, zum offenen Zeichensystem, das den Menschen in seinem ganzen Dasein anspricht. Im letzten wird ihm dabei zu verstehen gegeben, daß auch er, mit Heidegger zu reden, ,νοη einer Macht gestellt, beansprucht und herausgefordert ist, die im Wesen der Technik offenbar wird und die er selbst nicht beherrscht' 9 . Faber allerdings, selbst dieser hervorragende Vertreter des technischen Zeitalters, ist noch weit davon entfernt, der neuen Weise, in der er von Technik angesprochen wird, zu entsprechen. Seiner Logik entspricht es zunächst noch, nach wie vor „sein" System geschlossen zu halten. Darauf wird im folgenden näher einzugehen sein. 8 9
Ebd., 7. Martin Heidegger, .Spiegel' —Gespräch vom 23. 9. 1966, in: D E R S P I E G E L vom 31. 5. 1976, 1 9 3 - 2 1 9 , dort 209.
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2. Die Logik des modernen technischen Menschen a) Die aufrechterhaltene Zielvorstellung von einem abschließbaren System Es konnte soweit entwickelt werden, daß in dem nach den Prinzipien der Kybernetik funktionierenden System der Technik, wie im „Homo faber" dargestellt, tatsächlich eine Totalität entstehen konnte, in der die Welt bis ins kleinste Detail zu einer alles mit allem verbindenden Ordnung zusammengeschlossen ist. Allerdings war dabei auch festzustellen, daß es der Logik des alles regulierenden Systems entspricht, seine Organisiertheit stets weiter auszudehnen, bis es das Fassungsvermögen des Einzelnen notwendig übersteigt. Dies muß der Homo faber, der auf die Transparenz und Beherrschbarkeit „seiner" Technik vertraut, irgendwann einmal zu spüren bekommen. Und zwar muß ihn diese Entwicklung umso diffuser und verwirrender treffen, je weniger er darauf gefaßt ist. Der Zeitpunkt, da sich die Veränderung im Verhalten seiner Technik für Faber deutlich abzuzeichnen beginnt, ist mit seinem Abflug von New York gekommen, der von vornherein anders als normal verläuft. Zwar hört das moderne technische Weltsystem auch bei diesem Flug nie auf, für den Techniker immer wieder überschauund beherrschbar zu erscheinen, doch immer nur, um dies schon im nächsten Augenblick als fatales Trugbild erkennen zu lassen. Dabei bestätigt sich zunehmend, daß sich die Technik nicht in dem Sinn zu einer universalen Ordnung vernetzt hat, daß sie vom Menschen insgesamt überschau- und regulierbar wäre. Vielmehr geht ihre Tendenz zu einer übergreifend alles ausgleichenden Selbstregulierung, die sich auch gegenüber der natürlichen Ordnung zunehmend als offen erweist, dahin, ihrerseits den Menschen zu beanspruchen, ja ihn sogar — so deutlich im Lautsprecherruf — zur Selbsterkenntnis und zur Rechenschaftsablage für sein individuelles Tun zu zwingen. Der Techniker andererseits tut alles, sich vor der neuen Weise, in der er von seiner Technik angesprochen wird, zu verschließen. Dies ist die Logik einer ebenso verständlichen wie hoffnungslosen Bemühung, an der Illusion eines in sich abschließbaren Systems festzuhalten: verständlich, weil das scheinbar sichere Getragensein des modernen technischen Menschen zu einer Überschätzung seiner Möglichkeiten führt, was ihn gleichzeitig blind für die Konfrontation mit seinen natürlichen Grenzen werden läßt; hoffnungslos, weil jeder Versuch sich abzuschließen, umso sicherer ins Offene führen muß. Gleichzeitig bestätigen sich bei diesem Dilemma auf neue Weise wesentliche Aspekte der antiken Tragödie: Zum einen läßt sich das Blindwerden für die Grenzen des
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Menschenmöglichen auf die tragische Grundverfehlung der Hybris beziehen. Zum anderen kommt die Verkehrung einer Absicht in ihr Gegenteil, also die Peripetie, mit Aristoteles zu reden, dem Prinzip gleich, das auch das Handeln eines antiken Tragödienhelden kennzeichnet. In neuerer Zeit findet sich dieses urtragische Phänomen etwa von Peter Szondi hervorgehoben. Dabei bezieht sich dieser moderne Dramentheoretiker wie schon Aristoteles auf den „König Odipus" als Paradigma: „Nicht im Untergang des Helden vollzieht sich die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen." 10 Die Parallelität geht aber noch weiter. Wie bereits hier in der Einleitung angesprochen, zeigt die Tragödie alles, selbst noch das menschliche Handeln, in außermenschlichen Zusammenhängen gegründet. Angedeutet wurde dabei die eigenartige Idee vom Gott, der den Menschen zur Hybris verführt, dann sie straft. Angesichts dieser Verschränkung von menschlichem Vergehen und göttlichem Verhängnis — am deutlichsten ist sie bei Aischylos zu fassen — schreibt Albin Lesky in „Die tragische Dichtung der Hellenen": Eine neue Dimension wird an der aischyleischen Auffassung der Schuld sichtbar, wenn wir sehen, wie ihre Ätiologie in das Göttliche verlegt wird. Wenn Gott ein Haus vernichten will, so heißt es in dem Niobefragment 156 N. 116, 15 Mette, dann läßt er den Menschen eine aitia erstehen. Das Wort enthält beides: von Gott aus die Ursache, die den Fall eines Geschlechtes auslöst, vom Menschen aus die Schuld, durch die er sein Schicksal auf sich zieht. Aufs engste verwandt ist die Vorstellung von dem listensinnenden Trug Gottes, dem der Mensch nicht entrinnen kann und der ihn in die Verblendung und dann in das Leiden führt (Pers. 93). In der großen, sinndeutenden Beschwörungsszene verkündet Dareios (742): wenn ein Mensch selbst seinem Verderben entgegenstrebt, dann hilft der Gott auch mit. Die Akzente der Aktivität sind hier verschoben, aber immer ist es dasselbe dichte, untrennbare Gewebe von menschlichem Wollen und gottverhängtem Schicksal. 11
Vergleichbar läßt sich beim „Homo faber" von einer letztlich unauflöslichen Wechselbeziehung zwischen Schuld und Schicksal sprechen. Allerdings ist es hier nicht mehr der Gott, sondern die Technik, die dem Menschen im spezifischen Sinn der griechischen Tragödie zum Schicksal geworden ist: Wie der Gott einer alten Tragödienhandlung verführt die moderne Technik den Menschen, dessen Leben sie umfassend strukturiert, zur Hybris, indem sie ihm für lange Zeit ein sicheres Getragensein durch sie suggeriert. Doch zunehmend verflüchtigt sich dann dieser Schein. Ab einem bestimmten Moment beginnt die ver-
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Peter Szondi, „Versuch über das Tragische", in: ders., Schriften I, Frankfurt a. M. 1978, 1 4 9 - 2 6 0 , dort 213. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1956, 97 f.
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meintlich vertraute Technik mit vernichtenden Wahrheiten zu konfrontieren, für die Faber persönlich Verantwortung zu übernehmen hat. Und je mehr der vorzeitig gealterte Ingenieur — entsprechend der Unfähigkeit tragischer Helden, beizeiten nachzugeben 12 — sich diesem neuen Anspruch von selten „seiner" Technik verschließt, indem er an seiner alten Idee von der modernen Technik als geschlossenem System festzuhalten versucht, desto sicherer zwingt ihn diese Technik ins Offene, Unvorhergesehene. Nach dem „last call" möchte Faber glauben, den Ruf einer Technik, die den Gang des Gewohnten durchbrochen hat, erfolgreich ausgesessen zu haben. Die ihm vertraute technische Ordnung als vermeintlich geschlossenes System, in dem er sicher schalten und walten kann, will er nun wieder hergestellt sehen. So bedient er sich ganz selbstverständlich wieder des allseitig miteinander vernetzten Nachrichtensystems, über das er gerade noch ausgerufen wurde. Dann aber geschieht, womit an sich zu rechnen gewesen wäre, was er in der Befangenheit seiner Wunschvorstellung aber nicht vorhersehen konnte: Von der über die Depeschenrezeption flugs herbeigerufenen Stewardeß wird Faber auf seine Maschine zurückgebracht. Diese wollte er nach all den unabwendbaren Störmomenten, die er seit seinem Abflug von New York erleben mußte, nicht mehr besteigen. Jetzt aber zeigt sie ihm sein Ausgeliefertsein nur noch deutlicher: Ich ging wie einer, der vom Gefängnis ins Gericht geführt wird — Blick auf den Boden beziehungsweise auf die Treppe, die sofort, kaum war ich in der Kabine, ausgeklinkt und weggefahren wurde. „I'm sorry!" sagte ich, „I'm sorry." Die Passagiere, alle schon angeschnallt, drehten ihre Köpfe, ohne ein Wort zu sagen. (S. 14)
Unter den strafenden Blicken der übrigen Passagiere muß Faber einen Spießrutenlauf durchs Flugzeug antreten. Jene geben ihm zu verstehen, daß er aus ihren Reihen ausgestoßen ist. Dabei unterstreicht der Umstand, daß „alle schon angeschnallt" sind, auch plastisch den Eindruck, daß die übrigen Flugpassagiere nunmehr ein in sich abgedichtetes System verkörpern, an dem er selbst nicht mehr teilhat. Von ihnen, die sicher eingebunden zu sein scheinen, muß er sich wie ein Fremdkörper ausgeschlossen fühlen. Eine Situation ist eingetreten, in der nun ausgerechnet der Düsseldorfer als Retter in höchster Not erscheinen muß. Faber kann feststellen, daß wenigstens dieser ihm gegenüber nach wie vor aufgeschlossen ist. 12
s. hierzu etwa die Ausführungen zu Aias, Ödipus und Kreon bei Eckard Lefèvre, „Die Unfähigkeit, sich zu erkennen: Unzeitgemäße Bemerkungen zu Sophokles' Oidipus Tyrannos", in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 13 (1987), 3 7 - 5 8 , dort 54ff.
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Er geht dann auch auf diese ihm einzig verbliebene Anschlußmöglichkeit ein, jedoch nicht, um sich wirklich zu öffnen und mitzuteilen, sondern um gleich wieder ein System um sich herum zu schließen, in dem er erneut den Überlegenen spielen kann. In vereinnahmendem Besitzanspruch spricht er von .meinem Düsseldorfer' (S. 14) und blockt gleichzeitig dessen besorgte Nachfrage, was denn geschehen sei, mit einer fadenscheinigen Ausrede ab: „Ich sagte, meine Uhr sei stehengeblieben, und zog meine Uhr auf." (S. 14) Mit seiner ausweichenden Antwort versucht Faber alles, was für ihn in der Zwischenzeit an Überwältigendem aufgebrochen ist, erneut zu verdrängen. Und gleich einem magischen Beschwörungsritual zieht er seine Uhr auf, um einen neuen Anfang zu setzen. Ab sofort soll als erledigt gelten, was ihm während der Zwischenlandung widerfahren ist. Entsprechend lautet die Bemerkung, die sich unmittelbar anschließt: „Start wie üblich — " (ebd.) Die Welt scheint für Faber wieder in Ordnung. Im folgenden berichtet er, daß er auch seinen Magen nicht mehr spüre, den Deutschen gar nicht mehr so unsympathisch und das, von dem dieser erzählt, nämlich das Tabakplantagenprojekt, sogar ausgesprochen interessant finde. Bei diesem Gespräch fühlt sich Faber wieder in seinem Element. Der Glaube an die Machbarkeit einer Welt überschau- und regulierbarer Verbindungen kann sich hier wieder verfestigen und damit auch der Beginn seiner späteren Freundschaft mit dem Düsseldorfer in die Wege geleitet werden. Dies habe ich bereits im Abschnitt über „Das sekundäre System" im vorangegangenen Kapitel dargelegt. Von hier aus im Rückblick betrachtet muß auch Fabers gerade erst gebrochener Widerstand, nochmals auf dieses Flugzeug zurückzukommen, zur Bedeutung einer kuriosen Augenblickslaune zusammenschrumpfen, aus der ihn dann die Technik geradezu fürsorglich zurückgerufen hat. Auch dies habe ich bereits im vorangegangenen Kapitel deutlich gemacht, so im Abschnitt „Die Super-Constellation". Doch im Gesamtzusammenhang des in diesem Kapitel Erarbeiteten betrachtet, schlägt durch, daß es sich bei dieser Perspektive nur um eine Rationalisierung handeln kann. Was dabei verdrängt wird, ist, daß der eindringliche Lautsprecherruf spontan gar nicht als Ruf zurück zur gewohnten Berufspflicht empfunden wurde, sondern als Aufruf zum Bekennen seiner von Grund auf ausgesetzten Situation als nackter, geborener, schuldig gewordener und dem Tod verfallener Mensch 13 . 13
Vgl. auch Kiernan, 154 ff. Allerdings wird in diesem Beitrag in Anlehnung an Heideggers einschlägige Ausführungen in „Sein und Zeit" Schuld ausschließlich ontologisch verstanden. Der diesem Verständnis zugrundeliegende Gedanke lautet:
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Auf diesem Hintergrund wird nun auch die sich hier abzeichnende erste Annäherung an den Deutschen als recht subtile Verdrängungsstrategie erkennbar. Über das Irritierende seiner ersten Begegnung mit ihm sieht Faber nun hinweg und ergreift dafür die sich neuerdings bietende Gelegenheit, in ihm einen interessanten Gesprächspartner aus der ihm vertrauten Berufswelt zu finden. Damit versucht er ihn, der zunächst als unerwartetes Störmoment in sein System eingedrungen ist, nicht mehr auszugrenzen, sondern einzubinden, um auf diese Weise die anfängliche Irritation unter Kontrolle und sein System wieder dicht zu bekommen. Daß Faber seine Reisebegegnung zunächst zu fliehen und alsbald sich mit ihr zu befreunden sucht, unterscheidet sich also nur der Form, nicht dem Wesen nach. Die beiden scheinbar gegensätzlichen Verhaltensweisen sind lediglich verschiedener, der jeweiligen Situation angepaßter Ausdruck ein und derselben Grundstrategie, die Faber nach wie vor verfolgt. Es ist die Bemühung, sich eine Welt in sich geschlossener, überschau- und beherrschbarer Zusammenhänge unterzuordnen, eine Bemühung, die bestätigt zu bekommen er in dem Deutschen fürs erste einen „idealen" Partner findet. b) Die Widerlegung der Technikerlogik: Von der abgehobenen Welt der Herren zur bestürzenden Erfahrung des Offenen Die beiden geben sich nun immer mehr als Herren, deren Kombination aus Unternehmergeist und Sachverstand es ansteht, noch die schwierigsten Weltprobleme in Angriff zu nehmen. Daß in den Rang eines solchen auch so etwas wie die bedenkliche, doch noch nicht ganz hoffnungslose Lage der deutschen Zigarre zu rücken vermag, dürfte vor allem mit dem Symbolwert zusammenhängen, den diese Ware in der Welt der wissenschaftlich-technisch-industriellen Superstruktur angenommen hat. Gilt hier doch das Aufsteigen dicker Rauchschwaden allgemein als zuverlässiges Zeichen dafür, daß gewichtige Angelegenheiten zur Debatte stehen. Weltbewegende Entwicklungen können in die Wege geleitet werden, wenn die Männer mit den Zigarren ihre in Das Dasein ist als solches schuldig, insofern es in der Geworfenheit seines Seins zum Tod der Grund seiner eigenen Nichtigkeit ist; vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1979, 285 ff. Es sollte aber nicht unberücksichtigt bleiben, daß Faber auch im engeren Sinn, nämlich am Leben des Mitmenschen, ohne es freilich bewußt zu wollen, schuldig geworden ist. Das sich somit ergebende Spannungsverhältnis zwischen ontischer und ontologischer Schuld bzw. zwischen selbstverantwortlichem Handeln und der Schicksalsfügung v o n einem allem Individuellen übergeordneten Lebensgesetz kann im ursprünglichen Sinn der älteren griechischen Tragödie als tragisch verstanden werden.
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der Regel nicht für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmten Gespräche führen. Das konnotative Bedeutungsfeld der Zigarre, wie es soeben angedeutet wurde, bestätigt eine zentrale Vorstellung des modernen technischen Weltsystems. Damit ist die Vorstellung gemeint, daß die abstrakt geführte Organisation am grünen Tisch alles sei, um in der Welt die Hebel der Macht und Einflußnahme in der Hand zu halten. Und die Verve, mit der sich der Schweizer UNESCO-Ingenieur mit dem Vertreter eines international operierenden deutschen Unternehmens über die fragliche Zukunft von dessen Zigarrenproduktion unterhalten kann, zeigt, wie sehr der mit Zigarre konnotierbare Vorstellungskomplex eine vom Tabakgenuß im engeren Sinn völlig losgelöste Attraktion bieten kann. Für sie lohnt es sich offenbar, Chancen und Risiken eingehend zu erwägen, und, sofern sich dabei irgendeine Aussicht auf Erfolg herausstellen sollte, eine unternehmerische Pionierleistung zu erbringen. Auf diesem Hintergrund liegt es nahe, den Diskurs „Zukunft der deutschen Zigarre" als Ausdruck des chauvinistischen Wunsches zu sehen, mit der Welt als beliebig verfügbare Verschiebemasse umzugehen. Doch das Bild von der Welt, die den anmaßenden Wünschen des Homo faber entspricht, läßt sich nicht lange aufrechterhalten. Beim Kartenstudium kommen Faber doch einige Bedenken, ob der Enthusiasmus des jungen Unternehmers nicht jeglicher erfolgsversprechender Grundlage entbehrt. Er, der wirklich Sachverständige, der ständig überall in der Welt Entwicklungsprojekte leitet, kann die verkehrstechnischen und klimatischen Schwierigkeiten mitten im tropischen Niemandsland an der mexikanisch-guatemaltekischen Grenze wohl ermessen. Daß er seine Vorbehalte jedoch nicht ausdrücklich zu verstehen gibt, sondern zum Schluß immer nur unverbindlich Glück wünscht, deutet auf ein Harmoniestreben, das von seinen Folgen her betrachtet geradezu als gewissenlos bezeichnet werden muß: Fabers Zurückhaltung hat das spätere „Versumpfen" des jungen Düsseldorfers vielleicht nicht weniger zu verantworten als dessen blind draufgängerisches Unternehmertum. Ohne je gezwungen worden zu sein umzudenken, wird dieser später mit seiner Unerfahrenheit allein im Urwald zurückbleiben — ohne Perspektive, das Projekt erfolgreich zu Ende zu führen, aber auch ohne Möglichkeit, seine Idee aufzugeben. Fabers konfliktscheues Verhalten, das vordergründig wie höfliche Rücksichtnahme auf den Anderen aussieht, der nicht enttäuscht werden soll, entspringt im Grunde einer panischen Angst, selbst enttäuscht zu werden. Denn erneut muß er das vermeintlich in sich geschlossene System wechselseitiger Bespiegelungen, das sich gerade wieder einmal
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so schön eingespielt hat, gefährdet sehen. Um also der gerade erst entstandenen Beziehung, in der er und sein Nachbar sich eine Position männlich überlegener Intelligenz und Stärke vorgaukeln, weiterhin eine Chance zu geben, läßt Faber, bevor ein Widerspruch unvermeidlich würde, das Gespräch abbrechen. Und wie wenn er sein Bild von der wieder hergestellten Harmonie beschwörend festhalten wollte, berichtet er im folgenden: Ich rauchte, Blick zum Fenster hinaus: unter uns der blaue G o l f v o n Mexico, lauter kleine Wolken, und ihre violetten Schatten auf dem grünlichen Meer, Farbspiel wie üblich, ich habe es schon oft genug gefilmt — (S. 15)
Wie zerbrechlich jedoch das Bild der Harmonie ist, das sich Faber mit seiner Kamera schon oft genug im Wortsinn „gemacht" und dann in einer stattlichen Anzahl von Spulen aufbewahrt hat, zeigt sich gleich anschließend. Er muß feststellen, daß der Düsseldorfer neben ihm, mit dem er sich zuvor noch so blendend unterhalten konnte, einen Roman liest. Dieser bewegt sich damit in einem Medium, das wie kaum ein anderes von ungelösten Problemen der modernen Welt erzählt. Vor den im letzten offenen, nicht festlegbaren Zusammenhängen, die Faber hier wieder bedeutet werden, verschließt er jedoch beharrlich die Augen. Indem er seine Umgebung immer nur auf ihr vertrautes Funktionieren abzutasten versucht, wird nachvollziehbar, warum im Fall einer kleinen Unsicherheit im System gleich die ganze großangelegte Konstruktion seines Technikerlebens bedroht ist. So erweist sich im folgenden der Faber irritierende Anblick des romanlesenden Nachbarn als die offene Stelle, die nun unmittelbar zu einem allgemeinen Zusammenbruch überleitet. Dazu ist ein ominöser Traum das Vorspiel: Ich mache mir nichts aus Romanen — sowenig wie aus Träumen, ich träumte von Ivy, glaube ich, jedenfalls fühlte ich mich bedrängt, es war in einer Spielbar in Las Vegas (wo ich in Wirklichkeit nie gewesen bin), Klimbim, dazu Lautsprecher, die immer meinen Namen riefen, ein Chaos von blauen und roten und gelben Automaten, w o man Geld gewinnen kann, Lotterie, ich wartete mit lauter Splitternackten, um mich scheiden zu lassen (dabei bin ich in Wirklichkeit gar nicht verheiratet), irgendwie kam auch Professor O. vor, mein geschätzter Lehrer an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, aber vollkommen sentimental, er weinte immerfort, obschon er Mathematiker ist, beziehungsweise Professor für Elektrodynamik, es war peinlich, aber das Blödsinnigste v o n allem: — Ich bin mit dem Düsseldorfer verheiratet!... Ich wollte protestieren, aber konnte meinen Mund nicht aufmachen, ohne die Hand davor zu halten, da mir soeben, wie ich spürte, sämtliche Zähne ausgefallen sind, alle wie Kieselsteine im Mund — (S. 15 f.)
In seinem Traum fühlt sich Faber bedrängt. Und sofort versucht er für dieses unangenehme Gefühl wieder einmal seinen bewährten Sündenbock Ivy verantwortlich zu machen. Doch schnell stellt sich heraus, daß mitnichten sie es ist, die ihn hier in die peinlichste Verlegenheit
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bringt, sondern die Technik. Ausgerechnet die Technik, die er immer für die bessere Liebes- und Lebenspartnerin genommen hat, zeigt sich ihm hier als Ort gestrandeter, völlig halt- und orientierungsloser Glücksritter. Unter diesen Gescheiterten sieht er auch sich selbst. Der chaotische Hintergrund der bunten und klingelnden Automaten, mit denen man Geld gewinnen kann, stellt dabei die bedauernswerte Oberflächlichkeit bloß, mit der sie sich auf das Blendwerk der modernen Technik verlassen haben. Und nichts könnte dies besser präsentieren als der Glamour einer Automatenstadt wie Las Vegas, den man kennt, auch wenn man nie dort gewesen ist. Statt sich offen den Bedingungen des Daseins zu stellen, das zwar mit einer gewissen Notwendigkeit verläuft, gerade darin aber seine Ordnung findet, erwarten sie von der selbst gemachten Welt der Technik, ein besseres Los zugeteilt zu bekommen. Doch entgegen der ins Blaue gerichteten Glückserwartung in der sich selbst überlassenen Automatenwelt hallen nun die Lautsprecher wieder nach, die Faber schon seit einiger Zeit zu einer persönlichen Verantwortungsübernahme drängen. Immerzu rufen sie seinen Namen. Wie er sich aber schon in Houston unter allen Umständen von der Super-Constellation trennen wollte, die auf einmal nicht mehr seinen Erwartungen entsprach, wartet er auch hier im Traum auf seine Scheidung. Bedrängendem einfach so abzuhelfen, daß man sich von ihm kurz und schmerzlos scheiden läßt, verspricht vor allem das „Heirats- und Scheidungsparadies" von Las Vegas. Damit entspricht diese Stadt in besonderer Weise dem für den Homo faber typischen Autonomieanspruch, der jedoch auf irrtümlichen Prämissen beruht. Denn er leitet sich von der Grundannahme ab, einer in sich geschlossenen Welttotalität habhaft zu sein, innerhalb deren Grenzen es möglich ist, sich jeweils dem eigenen Vorteil entsprechend zu binden und zu lösen. Wo sich dann aber das System, mit dem man sich identifizierte, als offen erweist, muß auch das zerfließen, was man eben in der Identifikation mit den imaginären Systemgrenzen für seine Persönlichkeit hielt. Dies wird Faber im Traum vor allem anhand seines anschließend auftretenden, langjährigen Vorbilds Professor O. vor Augen geführt. Schon sein zum Initial O. verkürzter Name bietet sich an, als Signatur für das Programm eines in sich geschlossenen Weltsystems gelesen zu werden. Doch jetzt, da sich die System Vernetzung, in die der Mensch selbst eingespannt ist, zusehends als offen, unberechen- und unabsehbar erweist, muß sich die völlige Hilflosigkeit auch dieses Menschen offenbaren. Des vermeintlich sicheren Halts beraubt, zerfließt er nunmehr in Tränen.
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Der Schein eines in sich abschließbaren Weltsystems erweist sich als Illusion, und so wird auch die vermeintlich starke Persönlichkeit des modernen Homo faber, die sich auf nichts anderes als auf diese Illusion gründet, gerade im Versuch, an ihr unter allen Umständen festzuhalten, unweigerlich wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Nachdem dieser Sachverhalt im Traum zunächst an den splitternackten Leidensgenossen, die bloßgestellt auf ihre Scheidung warten, alsdann an dem einst bestechenden, nunmehr aber immerfort weinenden Vorbild Professor O. bedeutet wurde, rückt Faber selbst ins Zentrum seines Traums. Er, der sich immer wieder vormacht, frei und ungebunden zu sein, weil er nicht verheiratet sei, muß erkennen, daß er keineswegs für sich allein zu bestehen vermag. Dabei muß ihm, dem schon die natürliche Partnerbeziehung zwischen Mann und Frau als blamable Schwäche gilt, die Zweisamkeit, auf die er sich im Traum hingewiesen sieht, als doppelt blamabel erscheinen. Es wird ihm verdeutlicht, daß er, der sich in seinen Plänen, technisch die Welt zu erobern, von keiner Frau aufhalten lassen will, sich einem Mann angeschlossen hat und zwar ausgerechnet dem Düsseldorfer, der jegliche Herausforderung an ihn vermissen läßt. So wird noch einmal die Hohlheit des Unterfangens beleuchtet, mit diesem zusammen hoch über den Wolken die Zigarre als Zeichen eines ausgreifenden Anspruchs auf die Welt zu beschwören. Hinter der Pose des Mächtigen verbirgt sich lediglich, wie der Traum abschließend zu verstehen gibt, die Ohnmacht eines alternden Mannes, dem nach und nach die Zähne ausfallen. Im folgenden wird ganz besonders deutlich, wie sehr das eigene Selbstverständnis als Person mit dem Funktionieren der Technik identifiziert ist. Sein Traumerlebnis, daß ihm die Zähne ausfallen, vermag Faber sofort darüber ins Bild zu setzen, daß an der Super-Constellation, die ihn trägt, ein Motor ausgefallen ist: Ich war, kaum erwacht, sofort im Bild: Unter uns das offene Meer — es war der Motor links, der die Panne hatte; ein Propeller als starres Kreuz im wolkenlosen Himmel - (S. 16)
Schließlich wird noch ein zweiter Motor ausfallen und das Flugzeug zu einer gerade noch geglückten Notlandung in der Wüste zwingen. Umfassend stürzt damit die Scheinordnung der vermeintlichen Sicherheiten ein, mit denen Fabers imaginäres Selbstbild identifiziert ist. Hatte er von der Welt der modernen Technik bislang das dauerhaft Tragende eines vermeintlich in sich geschlossenen Systems erwartet, mahnt ihn nun das starre Kreuz des Propellers, der sich auf einmal nicht mehr dreht, sein Dasein und nicht das System der Zusammenhänge, in die es eingespannt ist, als endlich Begrenztes zu begreifen. Und wie um
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die Botschaft dieses technisch vermittelten Symbols zu unterstreichen, erscheint es ihm auf dem Hintergrund der ins Unendliche verweisenden Offenheit eines wolkenlosen Himmels. Unmittelbar nach der Notlandung sieht sich Faber mit einer Landschaft konfrontiert, in der sich Leben nur unter den schwersten Bedingungen halten kann: Ringsum nichts als Agaven, Sand, die rötlichen Gebirge in der Ferne, ferner als man vorher geschätzt hat, vor allem Sand und nochmals Sand, gelblich, das Flimmern der heißen Luft darüber, Luft wie flüssiges Glas. — Zeit: 11.05 Uhr. Ich zog meine Uhr auf - (S. 21)
Umringt von den Agaven sieht sich Faber also von den natürlichen Grundbedingungen seines Daseins umgrenzt. Der seit alters gegebenen Ubermacht der Natur, gegen die im letzten auch der modernste und aufgeklärteste Mensch nichts auszurichten vermag, wird ihm vor allem auch dadurch bedeutet, daß er den extremen Lebensbedingungen der hier vorgefundenen Wüstenlandschaft nirgendwo zu entfliehen vermag. Er ist an einem Punkt angelangt, da ihn die wider Erwarten offene Systemvernetzung der Technik in die natürlichen Urzusammenhänge von Leben und Tod zurückversetzt hat. Und wie um die Möglichkeit eines Übergangs von Technik in Natur sichtbar zu machen, erscheint die Super-Constellation, wie Faber später erwähnt, als ,ausgestorbener Vogel' (S. 25). In die urweltliche Szenerie der Wüste von Tamaulipas fügt sie sich also nahtlos ein. Trotz allem versucht Faber, die Blindheit seiner Welt- und Lebensferne beharrlich durchzuhalten. Wie schon bei seiner peinlich späten Rückkehr auf die wartende Super-Constellation in Houston versucht er, das Gefühl des völligen Ausgesetztseins, das ihn hier erneut und nachhaltiger noch überkommen muß, mit der gleichen Geste in den Griff zu bekommen: Er zieht seine Uhr auf, um einen neuen Anfang zu setzen. Und wie dort geht er auch gerne wieder auf das Angebot ein, engeren Kontakt mit dem Düsseldorfer zu knüpfen (vgl. S. 23). Und wieder scheint die Absicht, sich zu einem System zusammenzuschließen, in dem man den Überlegenen spielen kann, zunächst zu gelingen. Die beiden setzen sich zusammen, um — in deutlicher Distanz zum „Volk" — königlichem Spiel zu frönen: Zum Glück, wie sich bald herausstellte, spielte er auch Schach, und da ich stets mit meinem Steck-Schach reise, waren wir gerettet; er organisierte sofort zwei leere CocaCola-Kistchen, wir setzten uns abseits, um das allgemeine Gerede nicht hören zu müssen, in den Schatten unter dem Schwanzsteuer — (S. 23)
Es gehört jedoch zur Logik einer Technik, die zuletzt auch die Verbindung zur Natur als den Anfang und das Ende des Lebens herstellt, wenn sie den auf Sicherheit bedachten Faber in seinem neuen Freund umso sicherer auf seine lange aus dem Gesichtsfeld verbannte Vergan-
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genheit stoßen läßt. So stellt sich dieser als Herbert Hencke heraus, der zu seinem Bruder, Fabers früherem Freund Joachim unterwegs ist. Und weiter erfährt Faber, daß dieser frühere Freund Hanna Landsberg, seine eigene einstige Verlobte geheiratet hat und durch diese Verbindung Vater geworden ist. c) Zufall oder Schicksal? Über Technik wird Faber mit den spezifischen Versäumnissen seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, nämlich der Verweigerung der natürlichen Lebensgemeinschaft von Mann und Frau sowie damit verbunden der Verweigerung von Vaterschaft, was er beides seinem Freund Joachim überließ. Damit wird der Gedanke an eine Schicksalsfügung nahegelegt, die ihn nach langer Zeit unerwartet, doch letztlich unvermeidlich für das unwiderrufliche Versäumnis seiner Jugend zur Verantwortung zieht. Doch der Glaube an Schicksal und Fügung verbietet sich dem aufgeklärten Geist des Homo faber. In seiner modernsten Form glaubt dieser an die Wahrscheinlichkeitslehre: Das Wahrscheinliche (daß bei 6000000000 Würfen mit einem regelmäßigen Sechserwürfel annähernd 1 000 000 000 Einser vorkommen) und das Unwahrscheinliche (daß bei 6 Würfen mit demselben Würfel einmal 6 Einser vorkommen) unterscheiden sich nicht dem Wesen nach, sondern nur der Häufigkeit nach, wobei das Häufigere von vornherein als glaubwürdiger erscheint. Es ist aber, wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon Inbegriffen und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, das Unwahrscheinliche, so besteht für unsereinen keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation. (S. 22)
Daß ihm etwas völlig Unerwartetes geschehen ist, nimmt Faber nicht zum Anlaß, sein Bild von der Welt als geschlossenes System prinzipiell berechen- und beherrschbarer Zusammenhänge, in denen selbst noch das Ungewöhnlichste exakt einkalkulierbar erscheint, einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung glaubt er das Überraschende, so folgenschwer, überwältigend und einschneidend es für sein gewohntes Leben gewesen sein mag, „entwundern" zu können. Indem er es als Grenzfall des Möglichen betrachtet, schließt er aus, daß das ihm Widerfahrene mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit oder gar Notwendigkeit geschehen ist. Zur Illustration dieser Auffassung zitiert er das Würfelbeispiel: Wohl ist es nicht völlig auszuschließen, „daß bei 6 Würfen mit demselben Würfel einmal 6 Einser vorkommen", doch ändert dies nichts an der Wahrscheinlichkeit, „daß bei 6000000000 Würfen mit einem regelmäßigen Sechserwürfel annähernd 1 000000000 Einser vorkommen". So wird nahege-
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legt, daß im großen und ganzen gesehen die Möglichkeit der geringsten Wahrscheinlichkeit praktisch vernachlässigbar sei. Realisiere sie sich wie in seinem Fall dann aber doch einmal, so sei dies eben Beispiel einer absoluten Kontingenz, nicht aber, wie man ohne das Instrumentarium moderner Wissenschaftlichkeit vielleicht meinen könnte, auf den verborgenen Sinn einer schicksalhaften Notwendigkeit hin abklopfbar. Es könnte nun aber sein, daß Fabers Anwendung der Wahrscheinlichkeitslehre einen entscheidenden Aspekt unberücksichtigt läßt: Zwar ist es zunächst höchst unwahrscheinlich, wenngleich nicht ganz auszuschließen, bei 6 Würfen 6 Einser zu würfeln. Andererseits ist es aber nicht nur höchst wahrscheinlich, daß bei 6000000000 Würfen annähernd 1 000 000 000 Einser vorkommen, sondern auch daß sich dabei irgendwann das zunächst Unwahrscheinliche von sechs hintereinander gewürfelten Einsern ereignet. Um nun diese zusätzliche Überlegung auf die Situation zu übertragen, im Hinblick auf die Faber das Würfelbeispiel zitiert: Wenn eine Person von der Möglichkeit des modernen technischen Weltsystems Gebrauch macht, sich relativ problemlos und schnell ans andere Ende der Welt versetzen zu lassen und damit einer problematisch gewordenen zwischenmenschlichen Bindung zu entkommen, so wird diese Rechnung aller Wahrscheinlichkeit nach zunächst einmal aufgehen. In dem Maß aber, wie sich der Verkehrs- und kommunikationstechnische Zusammenschluß der Welt immer weiter verdichtet, wird es dann allerdings wahrscheinlich, daß dieselbe Person irgendwann einmal von der Technik wieder dem zugeführt wird, was sie zunächst über dieselbe Technik zu fliehen versuchte. Damit aber würde der Zufall seine kontingente Qualität verlieren. Er würde sich als das herausstellen, was für die von ihm betroffene Person an der Zeit ist. Zufall wäre nicht mehr im herkömmlichen Sinn Zufall, sondern, wie es Frisch am Ende des Tagebuchs 1946 — 1949 formuliert, „das Fälligste, was uns zufällt" (II, 750). Auf dem Hintergrund der soeben angestellten Überlegung wird es sinnfällig, daß Faber zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt seiner Karriere in der Super-Constellation, die ihm normalerweise als Garant seines technischen Sicherheits- und Machtstrebens gilt, mit seiner verdrängten Vergangenheit, also seiner persönlichen, aber abgespaltenen Lebensgeschichte konfrontiert wird. Dazu kommt es in der Begegnung mit Herbert, mit derem ersten Zustandekommen er seinen Bericht beginnt. Damit es aber nicht bei einer oberflächlichen, also wieder leicht vergessenen Konfrontation bleibt, bedarf es allerdings noch der Notlandung, einem an sich unwahrscheinlichen Ereignis. Doch auch der Grad des zunächst Unwahrscheinlichen, bei einem Flug in eine Havarie zu geraten, verringert sich bei zunehmender Häufigkeit von Flugreisen.
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Und Faber ist immerhin schon „über 100000 Meilen geflogen ohne die mindeste Panne" (S. 61). Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches sind also keine absoluten Größen, sondern sind abhängig vom Zeitpunkt der Betrachtung. Damit aber wird die Fabersche Differenzierung zwischen dem Zufall als einem Begriff der Wahrscheinlichkeitslehre und dem Schicksal als einem Begriff zur Bezeichnung von Mächten, die menschliches Dasein umschließen und strukturieren, hinfällig. Die Frage „Zufall oder Schicksal?" erweist sich als schlichtweg falsch gestellt. Denn nicht nur ergibt sich, wie sich rein rechnerisch erweist, der Wahrscheinlichkeitsgrad des Zufälligen als eine Funktion der Zeit. Auch schon in der griechischen Tragödie wurde die Zeit als die höchste Macht dargestellt, die das menschliche Schicksal bewirkt 14 . Verborgenes bringt sie an den Tag, und einstige Vergehen führt sie der schließlich unvermeidlichen Sühne zu, auch wenn sich der Mensch noch so sehr dagegen zu verwahren sucht. All dies klingt an, wenn im „König Ödipus" der Chor im Angesicht des zu Fall gebrachten Helden sagt: „entdeckt hat gegen deinen Willen dich/Die alles sehende Zeit" (V. 1211; Schadewaldt).
3. Die Konvergenz wissenschaftlicher und mythischer Referenzsysteme a) Durch wissenschaftliche Arbeit zu mythischer Wahrheit Fabers Versuch, wissenschaftliches Denken gegen mythisches zu verteidigen, richtet sich gegen Hanna, die promovierte Kunsthistorikerin und angesehene Mitarbeiterin an einem archäologischen Institut in Athen. Ist er doch bei der Wiederbegegnung mit ihr damit konfrontiert worden, daß auch auf dem Boden moderner Wissenschaftlichkeit zu einer neuen Form von Schicksalsgläubigkeit zu gelangen ist: Betreffend Statistik: Hanna wollte nichts davon wissen, weil sie an Schicksal glaubt, ich merkte es sofort, obschon Hanna es nie ausdrücklich sagte. Alle Frauen haben einen Hang zum Aberglauben, aber Hanna ist hochgebildet; darum verwunderte es mich. (S. 142)
Die umfassende Ordnung von Kräften, deren Zusammenspiel vom Menschen im letzten nicht in den Griff zu bekommen ist, sondern die umgekehrt ihn in seinem endlichen Dasein erst ermöglichen und begrenzen, wird in den ältesten Erzählungen, den Mythen, in der Gestalt 14
Hierzu ausführlich Jacqueline de Romilly, Time in Greek Tragedy, Ithaca 1968, insb. 53 ff.
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von Göttern und Dämonen dargestellt. Ihr Verhältnis zum handelnden Menschen ist es, das auch in den frühesten plastischen Schöpfungen menschlicher Kultur zur Anschauung gebracht wird. Eben diese Schöpfungen zu restaurieren, um sie damit aus der Vergessenheit zu holen, ist die Arbeit Hannas: „Was ich arbeite?" sagt sie. „Du siehst es ja, Scherbenarbeit. Das soll eine Vase gewesen sein. Kreta. Ich kleistere die Vergangenheit zusammen —" (S. 139)
In Hannas wissenschaftlicher Scherbenarbeit geht es darum, eine bleibend gültige Lebensordnung, wie sie in den frühesten Kunsterzeugnissen anschaulich ist, neu zugänglich zu machen: Sie redete v o n Mythen, wie unsereiner v o m Wärmesatz, nämlich wie von einem physikalischen Gesetz, das durch jede Erfahrung nur bestätigt wird [...] Oedipus und die Sphinx, auf einer kaputten Vase dargestellt in kindlicher Weise, Athene, die Erinnyen beziehungsweise Eumeniden und wie sie alle heißen, das sind Tatsachen für sie; es hindert sie nichts, mitten im ernsthaftesten Gespräch gerade damit zu kommen. (S. 142)
Gegen das Gesetz der alten Götter setzt der Homo faber die Gesetze der modernen Naturwissenschaften. Worin der prinzipielle Unterschied zwischen beiden Gesetzesvorstellungen zu sehen ist, liegt auf der Hand: Im Glauben an das alte Gesetz wußte der Mensch um jene Grenzen, die seinem Streben nach Selbstbestimmung gesetzt sind. Im Wissen um die Gesetze, wie sie die moderne Naturwissenschaft formuliert, glaubt er dagegen, sich selbst seine Welt setzen zu können. Zu einem epochalen Programm erhoben findet sich dieser neue Glaube schon bei Francis Bacon. Wie Kreibich in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung „Von Galilei zur High-Tech-Revolution" schreibt: Mit der Ausweitung von Wissen und Erkenntnis auf der Grundlage der neuen empirisch-experimentellen Wissenschaft war nach Bacon erstmals die Möglichkeit gegeben, nicht nur „die Ursachen und die geheime Bewegung der Dinge zu erforschen", sondern auch „die Grenzen des Reichs der Menschen zu erweitern, um alles Mögliche zustandezubringen". 1 5
Das Wissenschaftsparadigma, wie es erstmals Bacon programmatisch formulierte und nachhaltiger denn je vom modernen Homo faber vertreten wird, könnte aber seinerseits bereits wieder überholt, das von einer Frau wie Hanna repräsentierte mithin das fortgeschrittenere sein. Als Hinweis in diese Richtung könnte zu verstehen sein, daß Hanna wissenschaftlich weitergekommen ist als Faber. Zu seinem Erstaunen muß dieser nämlich bei der Wiederbegegnung mit ihr feststellen, daß seine „Schwärmerin und Kunstfee" (S. 47) mittlerweile „Dr. Hanna Piper" (S. 139) geworden ist und „geradezu wie eine Professorin, eine 15
Kreibich, 135.
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Nobelpreisträgerin!" (S. 140) angesehen wird. Er hingegen, ihr „Homo faber" (S. 47) hat seine Dissertation über den sogenannten MaxwelFschen Dämon abgebrochen. Hätte er seine wissenschaftliche Arbeit zu Ende geführt, hätte auch er ähnlich wie sie zu jenem neuen Wirklichkeitsverständnis gelangen können, das gleichzeitig die Neuerschließung eines ganz alten ist. Denn in der Tat ist der Dämon, an dem Faber wissenschaftlich scheiterte, der Kristallisationspunkt, an dem sich die Konvergenz wissenschaftlicher und mythischer Referenzsysteme im „Homo faber" besonders deutlich zeigen läßt. Kaiser weist in seiner frühen Interpretation auf die hintergründige Ironie hin, daß ,der Mann, der keine anderen dämonische Kräfte kennt als den sogenannten Maxwellschen Dämon [...], ein im Goethischen Sinne dämonisches Schicksal erleidet' 16 . Das noch Frappantere aber ist, daß sich auch Maxwells Dämon-Idee im Verlauf der weiteren Wissenschaftsgeschichte in einem ganz ursprünglichen Sinn als Dämon herausgestellt hat. Wer oder was aber ist der ursprüngliche Dämon? Goethe hat darauf hingewiesen, daß seine Dämon-Vorstellung nicht originär von ihm selbst ist, sondern eine Begriffsbildung „nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten" 17 . Die von Goethe zitierten ,Alten' sind im Sprachgebrauch der Zeit die Griechen des klassischen Altertums. Sie sind somit — gelegentlich auch noch im heutigen Sprachgebrauch — Chiffre jener Kultur, die auf ihrer höchsten Stufe die Tragödie hervorgebracht hat. Und bezeichnenderweise läßt sich zeigen, daß der Dämon sogar die zentrale Figur der Tragödie ist. Er ist es, der das Streben des tragischen Helden nach Selbstbestimmung in das Gegenteil seiner Absicht verkehrt und damit das Handeln des Menschen mehr als fremd- denn als eigenbestimmt enthüllt. Dies gilt es zunächst eingehend darzulegen, bevor dann gezeigt werden kann, inwiefern auch der Maxwell'sche Dämon in einem ganz ursprünglichen Sinn, nämlich dem der griechischen Tragödie, als Dämon verstanden werden kann. b) Der Dämon der griechischen Tragödie In den bisherigen Ausführungen zur griechischen Tragödie dürfte deutlich geworden sein, daß deren Handlung in einer Dialektik von geschickhafter Widerfahrnis und eigensinniger Verblendung, d. h. in einer letztlich unauflösbaren Verwobenheit von Schicksal und Schuld ihre 16 17
Kaiser, 206. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, hg. Erich Trunz, 7. Aufl., München 1981, 175 f.
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besondere Linienführung findet. Der allgemeine Name jener göttlichen Schicksalsmacht aber, die in der Tragödie das Handeln des Menschen über die Hybris seiner vermeintlichen Selbstmächtigkeit ins Leiden führt, indem sie zu jener erst verführt, dann sie straft, lautet „Daimon". Hierauf hat insbesondere Wolfgang Schadewaldt in seinen zahlreichen Beiträgen zur griechischen Tragödie in den 50er Jahren (zeitlich also das unmittelbare Vor- und Umfeld des „Homo faber") aufmerksam gemacht. Eine bündige Definition der fraglichen Tragödienfigur findet sich bei Schadewaldts Ausführungen zum „Wesen der Tragik in Sophokles' und Hölderlins ,Antigone'" ,8 : Dieser ,Daimon' ist, um es kurz zu sagen, für den Griechen das Göttliche, insofern es sich unergründlich, unbestimmbar, unfaßlich, unerwartet und meist zum Schlimmen an dem Menschen auswirkt. 19
Im folgenden hebt Schadewaldt noch eigens hervor, daß schon die Verführung zur tragischen Verfehlung der Hybris von der Allgewalt des Göttlich-Dämonischen ausgeht20: Was er [der griechische Tragödienheld] begangen haben muß, um sich im tragischen Sinne zu verstricken, ist eine .gewisse Verfehlung', wie es heißt, Verfehlung freilich, 18 19
20
Schadewaldt, 2 6 5 - 2 7 7 . Schadewaldt, 267. — Zur Etymologie von „Daimon" ist zu sagen, daß dieses Wort in der Regel von der Wurzel dai- „teilen" abgeleitet wird (vgl. Herbert Nowak, Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffes „Daimon", Bonn 1960, 1, Fußn. 1). Demnach heißt Daimon wörtlich der Aus- oder Zuteiler und steht in seiner Bedeutung als Gott für ein Weltbild, in dem sich der Mensch alles von Göttern (Daimonen) zugeteilt sah. Wie die einschlägige Studie von Nowak zeigt, gilt dies für das frühe Griechentum von Homer bis zu den Tragikern. Daß der göttliche Daimon, wie auch Schadewaldt an der hier zitierten Stelle hervorhebt, dem Menschen vor allem auch zum Verderben und Untergang gereicht, ist auf das ,an sich doppelseitige göttliche Walten' zurückzuführen (Nowak, 30), wie es die griechische Götterwelt von Anfang an kennzeichnet (vgl. bereits Nowak, 9). Die Wurzeln dieser Gottesvorstellung der griechischen Tragödie lassen sich bis zu Homer zurückverfolgen; s. hierzu etwa Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des Griechischen Geistes, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1983, 172: „Die Verfehlungen, in die er [der Mensch] hineingerissen wird, sind ebenso ihr [der Gottheit] Werk, wie das seine. Ja, mehr noch das ihrige" und vor allem Deichgräber, 117: „Der Dichter weiß vor allem eines: Er erkennt, daß zumal [...] Hybris und Selbstsicherheit des Menschen der Wille und der Weg des Gottes ist, um ihn, der dem Tode verfallen ist, zu verderben. Die Form des göttlichen Wirkens steht in einem inneren Verhältnis zum menschlichen Frevel". Zum Thema s. auch Josef Stallmach, Ate. Zur Frage des Selbst- und Weltverständnisses des frühgriechischen Menschen, Meisenheim am Glan 1968. Hier wird ganz zentral auf das Problem (letztlich eines der Theodizee) abgehoben, „daß der, der den Anstoß zum Fehlhandeln gibt [nämlich der Gott], zugleich die Verschuldung ahndet (Stallmach, 1).
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bei der es nicht um Bagatellen gehen darf, sondern die, objektiv gesehen,,beträchtlich' sein muß. Diese Verfehlung hat zumeist den Charakter der Beirrung und Verblendung, in der nun wieder eine dämonische Gewalt, die Göttin Ate, Beirrung, wirkt. Alle Menschen von Kraft, Menschen von Leidenschaft .inklinieren' für sie, sind für sie prädisponiert, und zumal der Daimon des Zorns, der blind macht, ruft sie herauf, oder auch der gefährliche Überschwang der großen feurigen Seele, die Hybris. 21
Der bekanntestete Beitrag von Schadewaldt zur griechischen Tragödie dürfte wohl seine Neuinterpretation ihres kathartischen Effekts „Furcht und Mitleid?" sein. Auch dort ist an zentraler Stelle der Daimon genannt: Es scheint, dem phóbos als der Ur-Furcht ist als größte .Realität' das Bedrohende, übergewaltig Nahende, ,das Ungeheure' des Schicksals (Daimon) zugeordnet. 22
Vom Begriff des Daimon her aufgerollt erschließen sich die in diesem Satz angesprochenen Bezüge wie folgt: Daimon = das Bedrohende, übergewaltig Nahende, ,das Ungeheure' des Schicksals = die größte .Realität' = erfahrbar in der kathartischen Erregung der Ur-Furcht (phóbos). Auf diesem Hintergrund ist es nur konsequent, daß Schadewaldt im Daimon auch den entscheidenden Unterschied der griechischen Tragödie zu anderen Tragödienkonzeptionen sieht: etwa der des deutschen Idealismus. In seinem Aufsatz „Zur Tragik Schillers"23 spricht er davon, daß sich die „eigentliche Substanz des Tragischen" dem deutschen Klassiker „nicht wie einst den Griechen und in anderer Weise auch wieder Shakespeare in dem Geschehen des Daimon dargestellt" hat24. Des weiteren führt er aus: In seiner [Schillers] unnaiv sentimentalen Dichtart kann für ihn die befreiende Erleichterung der Katharsis auch nicht bezogen sein auf jenen durch alle Vernichtungen hindurch sich doch bestätigenden unerschütterlichen Horizont des Göttlichen. Schiller „glaubt" nicht an das Göttliche, er fordert, proklamiert das Ideale. Die Einheit des Göttlich-Dämonischen, das furchtbar und im Furchtbaren eben göttlich ist, ist für Schiller durch den großen Dualismus aufgespalten, der die Welt in zwei Bereiche, den Bereich des Idealen und den des Realen, trennt. 25
Schließlich sei noch Schadewaldts Darstellung „Das Drama der Antike in heutiger Sicht"26 erwähnt. Ihr Resümee lautet: Was die Tragödie im ganzen vor Augen führt, ist die Wirklichkeit des Wirklichen in ihrer Härte und wohl auch grausamen Dämonie, aber umgrenzt vom Horizont des bleibenden Göttlichen, so wie Sophokles wieder es unbeschreiblich einfach am Ende
21 22 23 24 25 26
Schadewaldt, 268. Ebd., 387. Ebd., 8 3 2 - 8 4 2 . Ebd., 837. Ebd. Ebd., 9 9 - 1 0 6 .
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seines Trachinierinnen-Dramas ausgesagt hat: „Und in alledem ist nichts, was nicht Zeus ist". 27
Blickt man in der altphilologischen Tragödienforschung weiter zurück, läßt sich feststellen, daß auch schon im Standardwerk zur griechischen Tragödie von Albin Lesky der Dämon zu einem Kristallisationspunkt der Tragödiendeutung wird. Ahnlich wie Schadewaldt im Hinblick auf Sophokles äußert sich Lesky im Hinblick auf Aischylos zur Dämonie der göttlichen Wirklichkeit, wie sie sich in der älteren attischen Tragödie vermittelt: Die Existenz des Menschen ist von der Seite des Göttlichen her in ständiger Bedrohung durch jene Versuchung zur Hybris, die als Verblendung, als Ate, über den Menschen kommt. Wir spüren das Ringen des Dichters mit letzten Fragen nach dem Wesen von Schuld und Schicksal, wenn er die Götter nicht wahllos Unheil senden, sondern dieses stets aus der vorangehenden Schuld erwachsen läßt. Diese aber kommt als Schicksal über den Menschen, freilich nicht so, daß er der Verantwortung überhoben wäre, er selbst bleibt der Täter, auch wenn der Gott bei seinem verblendeten Tun mit anhebt. 28
Im folgenden erläutert Lesky die aischyleische Apostrophierung des tragischen Dämons als sylléptor (Mithelfer): Man muß das Wort von dem Dämon als sylléptor (Ag. 1507) ganz scharf fassen, um zu verstehen, wie Aischylos göttlichen und menschlichen Anteil an der Not menschlicher Schuld anerkennt. Aber das Denken des Dichters greift tiefer und begnügt sich nicht mit dem Bilde von Göttern, die den Menschen durch Schuld und Verblendung in das Verderben stürzen. Das Leid, das so erwächst, hat tiefen Sinn, es ist der Weg, der den Menschen zur Einsicht führt und ihn die ewige Gültigkeit göttlicher Satzung erkennen läßt. 29
Im Vergleich zu Schadewaldt geht Lesky bei seinen Interpretationen der griechischen Tragödie weniger auf die Figur des Daimons ein. Dennoch will es scheinen, daß seine detaillierten Ausführungen zum Dämon als sylléptor für die ältere attische Tragödie als paradigmatisch gelten können. Jedenfalls ruft sie Lesky später als Vergleichsfolie zu dem schon deutlich „moderneren" Euripides nochmals in Erinnerung: War menschliches Schicksal für diesen [Aischylos] nur der Schauplatz für die paradigmatische Bewährung einer höheren Ordnung, so erwächst bei Euripides dieses Schicksal in Dramen wie Medeia und Hippolytos aus dem Menschen selbst, aus der Macht seiner Leidenschaften, denen nicht mehr in aischyleischem Sinne ein Gott als sylléptor auf den Weg zu lernendem Erkennen hilft. 30
Auf dem Hintergrund der Ausführungen Leskys und Schadewaldts zum Daimon ergibt sich für die ältere griechische Tragödie folgende 27 28 29 30
Ebd., 105. Lesky, Die griechische Tragödie, 5. Aufl., Stuttgart 1984, 89. Ebd., 89 f. Ebd., 175.
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Handlungsstruktur: Der Dämon in seiner tragödienspezifischen Bedeutung als bedrohlicher Gott verführt den Helden zur Hybris. Die Dynamik dieser Hybris besteht vom Helden her gesehen in einer Verkehrung seiner Absichten. Denn in seinem verblendeten Handeln vertraut er darauf, seine eigene Mächtigkeit bestätigen zu können. Was er damit am Ende aber tatsächlich bewirkt haben wird, ist die letztgültige Erkenntnis seiner Nichtigkeit im Verhältnis zum ewigen Walten der göttlich natürlichen Ordnung. c) Der Wärmesatz und die Idee des Maxwell'schen Dämons Gegen Hannas archäologische Arbeit und ihrer dabei gewonnenen Uberzeugung von den alten Mythen als einem Gesetz setzt Faber den Wärmesatz (s. o.). Auf welches Naturgesetz er sich damit bezieht, gilt es als nächstes zu klären. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, auch Entropiesatz genannt, besagt, daß sich in einem geschlossenen System die Konzentration verwertbarer Energie irreversibel verströmt und dabei in unverwertbare Wärme umsetzt. Diesen irreversiblen Prozeß nennt man Entropieeffekt. Entropie bezeichnet demnach zunächst ganz wertneutral den Anstieg von Wärme bei gleichzeitigem Verlust verwertbarer Energie. In Form einer gleichmäßigen Verteilung der Moleküle im System bleibt die Energie an sich — dies ist die Aussage des Ersten Hauptsatzes der Thermodynamik — zwar erhalten, nicht aber für den Menschen, der sie für die seiner Vorstellung nach geschlossene Ordnung der eigenen Zwecksetzungen verwerten möchte. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch das herkömmliche Verständnis der Entropie als das Maß der Unordnung. Und insofern man für lange Zeit das ganze Universum als geschlossenes System betrachtete, sagte man den „Wärmetod" der Welt voraus. Ihm Energielieferant zu sein, ist die Weise, in der sich die Natur dem Menschen der modernen Technik zeigt. Wie bereits ausführlich dargelegt, ist dies ein zentraler Aspekt der Heideggerschen Technik-Analyse. Ihr zufolge wird in der Moderne alles, was natürlich gegeben ist, ganz daraufhin abgestellt, als energieliefernder Rohstoff in die selbstgemachten Kreisläufe verschaltet zu werden. Man versteht, daß der Mensch, der sich herausgefordert sieht, die Natur auf diese Weise zu erschließen, sich nur schwer mit so etwas wie Entropie abfinden wird. Gewährt dieses Phänomen, gebietet man ihm keinen Einhalt, auf Dauer doch nur einen Energiehaushalt an sich, immer weniger aber für ihn, den Homo faber, dem Namen nach Macher seiner eigenen Welt. Was wir
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von ihm also erwarten, ist, daß er alles versuchen wird, die Entropie abzuschaffen. Ein wissenschaftsgeschichtlich bedeutungsvoller Versuch, das Phänomen der Entropie nicht widerspruchslos hinzunehmen, ist die Idee des sogenannten ,Maxwell'schen Dämons'. Bezeichnenderweise über ihn hat Faber während seiner Assistentenzeit bei Professor O. an der ΕΤΗ Zürich von 1932 — 35 zu promovieren versucht (vgl. S. 33). Der Entwurf, um den es hier geht, sei im folgenden kurz vorgestellt 31 . Im Jahre 1871 unterbreitete der britische Physiker James Clerk Maxwell, bekannt als Begründer der modernen Elektrodynamik und der elektrodynamischen Lichttheorie, in seinem Buch „Theorie of Heat" folgende Idee: Man verbinde in einem abgeschlossenen Zwei-KammerSystem, gefüllt mit Gas, die beiden Kammern durch eine kleine Öffnung. An diese setze man einen „Dämon", der so konstruiert sein müßte, daß er von den in den beiden Kammern homogen verteilten Gasmolekülen nur die schnelleren von Kammer A in Kammer Β und nur die langsameren von Kammer Β in Kammer A gelangen läßt. Dies würde in Β die Temperatur steigen und in A sinken lassen, so daß sich das auf diese Weise immer wieder neu herstellende Temperaturgefälle als unerschöpfliche Energiequelle anzapfen ließe. Dieser Gedanke beschäftigte die Welt der Wissenschaft nahezu ein ganzes Jahrhundert, bis im Jahre 1951 der französische Physiker Leon Brillouin die Diskussion beendete. Er hatte errechnet, daß selbst wenn sich so eine Intelligenz wie der Maxwell'sche Dämon konstruieren ließe, diesem von außen mehr Energie zugeführt werden müßte, als er innen durch seine Erkennungs- und Sortierarbeit wiedergewinnen könnte 32 . Der Maxwell'sche Dämon würde also die Zunahme der Entropie, der er entgegenwirken sollte, im Endeffekt nur beschleunigen. Genau damit würde er sich andererseits aber auch genau im Sinne des Daimons einer antiken Tragödie verhalten. Denn diese führt das tragische Zu31
32
Die nachfolgende Darstellung stützt sich auf die einschlägige Sekundärliteratur zu Thomas Pynchons „The Crying of Lot 49", ein bedeutendes Werk der postmodernen Romanliteratur, wo sich der „Maxwell'sche Dämon" erneut als literarisches Motiv verarbeitet findet; insbesondere: Anne Mangel, „Maxwell's Demon, Entropy, Information: ,The Crying of Lot 49' ", in: Mindful Pleasures. Essays on Thomas Pynchon, ed. George Levine and David Leverenz, Boston 1976, 87 — 100, und John O' Stark, Pynchon's Fictions: Thomas Pynchon and the Literature of Information, Athens/ Ohio 1980, dort das Kapitel „Science and Technology", 45 — 73. — Auch bei Pynchon ist es die spezifisch menschliche Welt (nicht die Welt als solche, von der der Mensch nur ein Teil ist), die sich als entropiegefährdet vermittelt: „The separate closed systems which engulf the characters in the novel suggest a vision of society which is both isolated and headed for disorder and chaos" (Mangel, 93). Vgl. Mangel, 91 f.
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Standekommen des Gegenteils einer Absicht eben auf das geschickhafte Walten des göttlichen Dämons zurück. Er ist es, wie oben anhand der einschlägigen Beiträge von selten der Altphilologie dargelegt, der den Helden zur Hybris, also zur Verkennung der ihm gesetzten Grenzen verführt, ihn dann andererseits aber in seinem unvermeidlichen Scheitern die Gültigkeit der großen, übermenschlichen Ordnung erfahren läßt. Diese ist unverbrüchlich. Was zerbricht, ist der Mensch, der sie im Sinn seiner eigenen Ordnungsvorstellungen zu vereinnahmen sucht. Von daher gesehen ist Fabers apodiktisches Urteil, daß der Maxwell'sche Dämon bekanntlich kein Dämon sei (vgl. S. 197) keineswegs haltbar. Es gründet in der Unkenntnis des tragischen Dämons ebenso wie in der ausgebliebenen Einsicht, daß der Maxwell'sche Dämon die in ihn gesetzten Erwartungen letztlich destruieren muß. Sollte sich der Maxwell'sche Dämon völlig analog dem göttlichen Dämon der Tragödie verhalten, so müßte das Scheitern des menschlichen Versuchs, eine geschlossene Ordnung zu errichten, gleichzeitig die Bestätigung einer offenen Ordnung bedeuten, die der Mensch wohl nicht vereinnahmen und beherrschen, dafür aber als die Bedingung der Möglichkeit auch seines Daseins wahrnehmen kann. Dies ist der Fall. Vor allem mit Ludwig von Bertalan ffy hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß die Natur kein geschlossenes, sondern ein offenes System sei, das sich im Fließgleichgewicht eines ungehemmten Energieaustauschs ständig weiterentwickle 33 . Dessen alles durchwaltende Ordnung offener dynamischer Wechselbeziehungen würde an sich also auf unabsehbare Zeit weiterfunktionieren. Was letztlich aber immer zum Stillstand kommen wird, ist der Versuch, jene große offene Ordnung in die Setzungen der menschlichen Ordnungsvorstellungen zu integrieren und somit zu schließen. Auf dem Hintergrund des soweit Umrissenen wäre nun eigentlich auch die herkömmliche Sicht der Entropie als das Maß der Unordnung zu relativieren. Denn wenn das Scheitern des menschlichen Strebens nach einer geschlossenen Ordnung, das die Entropie unterläuft, gleichzeitig als Bestätigung der naturgegebenen offenen Ordnung aufzufassen ist, müßte die Entropie auch als Funktion dieser größeren Ordnung zu verstehen sein. Maß der Unordnung oder Funktion der Ordnung ist letztlich eine Frage der Perspektive. Aus der Sicht des Homo faber, der sich Ordnung nur als geschlossen, überschau- und beherrschbar vorstellen kann, ist Entropie das Maß der Unordnung. Geht man hingegen von der Annahme einer Naturordnung aus, die offen und damit für den Menschen im letzten unbeherrschbar bleiben muß, ergibt sich die 33
s. etwa Kreibich 276.
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Entropie als eine Funktion dieser größeren Ordnung. Ähnlich perspektivisch verhält es sich mit den Ordnungs- und Sinnvorstellungen, die speziell die sophokleische Tragödie vermittelt. Wer nicht verstehen kann, daß die, die nach menschlichem Ermessen die Besten sind, katastrophal scheitern müssen, wird auf eine höhere, alles übergreifende Ordnungs- und Sinninstanz verwiesen: „Und in alledem ist nichts, was nicht Zeus ist". Dieser Schlußsatz der .Trachinierinnen' ist jene Sophokles-Stelle, die Schadewaldt in seinem Beitrag „Das Drama der Antike in heutiger Sicht" zur Erklärung der im griechischen Sinn ,Dämonie des Wirklichen' zitiert (s. o.). Daß Faber die komplexe Bedeutung des Dämons in der griechischen Tragödie nicht kennt, ist ihm nicht vorzuwerfen. Diesen zu erforschen, ist schließlich kein Gegenstand seines Fachbereichs gewesen. Den Maxwell'sehen Dämon gründlich zu überdenken, war ihm allerdings aufgetragen. Doch bevor er sich zu der Einsicht durchringen konnte, daß dieser nicht wie geplant funktioniert, brach er seine Arbeit „Über die Bedeutung des sogenannten Maxwell'schen Dämons" (S. 33) ab. Professor O. bringt dies bei der letzten Begegnung, also wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Brillouins Ergebnissen, mit Bedauern zum Ausdruck: „Er findet es schade, daß ich damals meine Dissertation (über den sog. Maxwell'schen Dämon) nicht gemacht habe —" (S. 194). Die Dissertation zu Ende zu führen, hätte für Faber bedeutet, sich auf dem Boden der eigenen Wissenschaft klarzumachen, daß beim Ringen um die Realisierung geschlossener Systeme die gegenläufige Entropieentwicklung prinzipiell unvermeidlich ist, ja, daß sogar jeder Versuch, dem unbequemen Entropieeffekt entgegenzuwirken, ihn im Grunde nur potenzieren kann. Diese Einsicht hätte Faber vor der Manie bewahren können, Einbrüche in sein vertrautes System einer vermeintlich in sich abschließbaren, technischen Idealwelt, wie er sie seit dem Abflug in New York in immer bedrängenderer Weise erleben muß, um jeden Preis wieder beheben zu müssen. Denn daß dieser Versuch nur das Gegenteil seiner Absicht bewirken kann, läßt sich gerade auch über die Lehre des Maxwell'schen Dämons, der Entropie vergrößert, je mehr er auf ihre Vermeidung ausgerichtet ist, als logisch darstellen. Von daher gesehen ist Professor O.s Bedauern über die seinerzeit abgebrochene Dissertation auch in einem ganz hintergründigen Sinn zu verstehen — und auch zu teilen. Die Logik der Thermodynamik, wie sie insbesondere auch die gescheiterte Idee des Maxwell'schen Dämons nochmals bestätigt, soll im folgenden als Schlüssel zum Verständnis von Fabers Schicksal weiter erprobt werden. Auf diesen Fall angewandt ist im Prinzip zu folgern, daß sich auch der mit hohem Energieaufwand betriebene künstliche
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Schein einer in sich geschlossenen Ich-Welt-Totalität auf Dauer nicht aufrechterhalten läßt. Entsprechend der hier dargelegten Neuinterpretation der Entropie als Funktion der großen, übergreifenden, offenen Ordnung wird auch ein besonderes Augenmerk darauf zu richten sein, daß die zunehmende Entropie, in die Fabers Ordnungsstreben offensichtlich gerät, gleichzeitig als Hinausführung in die zuvor ausgegrenzte, offene Ordnung der Natur gesehen werden kann. d) Die Thermodynamik als Verstehenshorizont Der Interpretationsgang dieses Kapitels ist an dem Punkt angelangt, da die vermeintlich in sich geschlossene Totalität zwischen dem SuperTechniker und seiner technischen Super-Welt im Wortsinn in sich zusammengefallen ist: Eine Super-Constellation, Symbol der zum System verknüpften Summe vermeintlicher Sicherheiten, wie sie die moderne Technik vorzuspiegeln vermag, der erst ein, alsbald ein zweiter Motor ausfällt, und ein mit ihr identifizierter Techniker, dem im Traum dazu die Zähne ausfallen, signalisiert den unaufhaltsamen Prozeß eines umfassenden Zusammenbruchs. Dabei reagiert das rationalisierende Techniker-Ich, kaum erwacht, auf die sich hier radikal zuspitzende Demontage des einstigen Scheins mit einem für es ebenso bezeichnenden wie hoffnungslosen Selbstvergewisserungsversuch: Natürlich sind mir keine Zähne ausgefallen, nicht einmal mein Stiftzahn, der Vierer oben rechts; ich war erleichtert, geradezu vergnügt [...] ich kontrollierte mit meiner Zunge, ob mir wirklich keine Zähne wackelten, alles andere regte mich nicht auf. (S. 16)
Gerade erst aus seinem ahnungsvollen Alptraum aufgeschreckt, versucht sich Fabers erste bewußte Reaktion folgende Argumentation zurechtzulegen: Solange nicht einmal sein Stiftzahn, dieses I-Tüpfelchen der Versicherungs- und Verschönerungskunst, das Technik seinem Körper gut haltbar eingebaut hat, in Mitleidenschaft gezogen ist, kann es doch auch mit der Super-Constellation, die ihn, wenn auch mit Motorschaden, außen trägt, noch nicht allzu schlimm bestellt sein. Auf den ersten Blick mag dieser Schluß nur lächerlich erscheinen. Bei etwas Überlegung ist er aber als der konsequente Ausdruck der aufgezeigten Grundhaltung zu begreifen, an der vermeintlich einheitsvollen Totalität von Ich und Welt, wie sie die moderne Technik ihrem treuesten Techniker über lange Zeit hinweg überzeugend versprochen zu haben schien, um jeden Preis festzuhalten. Doch unvermeidlich bricht nun die Differenz zwischen dem auf bloßem Schein gegründeten Ich Fabers und dem objektiven Gang der Dinge in äußerst eklatanter Weise auf. Die sonst immer reibungslos funktionierende, zuletzt aber wie flügellahm
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gewordene Super-Constellation setzt die von ihr zuvor in ein Gefühl ewiger Sicherheit gewiegte Homo-faber-Gesellschaft plötzlich unsanft auf Wüstensand und läßt sie dort nur noch spärlich bedeckt sitzen: „kleiderlos, bloß in Schuhen (wegen der Hitze des Sandes) und in Jockey-Unterhosen" (S. 23). Im grotesken Bild der in der Wüste in Szene gesetzten „Gesellschaft in Büstenhaltern und Unterhosen" (S. 29) hat sich der einstige Schein einer in sich geschlossenen Totalität von technischem Mensch und technischer Welt peinlich verflüchtigt. In bizarrer Weise ist ein klaffendes Mißverhältnis aufgebrochen. Hatte die moderne Reisegesellschaft kurz zuvor noch recht arglos in der Sicherheit versprechenden Montur grüner Schwimmwesten den üblichen Lunch „Juice, ein schneeweißes Sandwich mit grünem Salat" (S. 19) zu sich genommen, so ist in der nachfolgenden Notlandung das vermeintlich ewig tragende System der modernen Technik kollabiert. Und als wäre sie ein ,ausgestorbener Vogel' (S. 25), hat sich die nunmehr verbrauchte Maschine der plötzlich allgegenwärtigen Urweltszenerie eingefügt. Es entsteht der Eindruck einer verheerend um sich greifenden Entropie, die die künstlich errichtete Ordnung des Homo faber mit Macht zum Stillstand bringt und wieder im Ursystem der Natur auflöst. Noch unterstrichen wird dieser Eindruck im Naturspiel von Sand und Wind, das jegliche Spur der einstigen Homo-faber-Welt tilgen zu wollen scheint: Was man hörte: Wind, dann und wann Pfiffe von Sandmäusen, die man allerdings nicht sah, das Rascheln einer Eidechse, v o r allem ein steter Wind, der den Sand nicht aufwirbelte, wie gesagt, aber rieseln ließ, so daß unsere Trittspuren immer wieder gelöscht waren; immer wieder sah es so aus, als wäre niemand hier gewesen, keine Gesellschaft von zweiundvierzig Passagieren und fünf Leuten der Besatzung. (S. 27)
Was Faber hier in der Wüste von Tamaulipas erleben muß, versucht er allerdings für null und nichtig zu erklären. Auf dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung und seines gewohnten Technikerverhaltens gibt er sich alle Mühe darzulegen, daß so ein numinoser Begriff wie „Erlebnis", einmal realistisch gesehen, nur ein Phantom bezeichnen kann: Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, w o v o n sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas — klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz v o r dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu sollte ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe [...] Gebirge sind Gebirge, auch
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wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgend etwas anderes aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und w i r stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, ungefähr sechzig Meilen von der nächsten Straße entfernt, was peinlich ist, aber wieso ein Erlebnis? (S. 24 f.)
Faber sieht, und er sieht nicht. Er sieht die nächtliche Wüste und an ihrem westlichen Horizont die gezackten Felsrücken der Sierra Madre Oriental. Er sieht, wie deren Silhouette im klaren Mondlicht der kalten Nacht absticht und den schlotternden Betrachter, dessen Spuren von Sand und Wind gleich wieder gelöscht werden, die Präsenz gewaltiger Dämonen assoziieren lassen. Gleichzeitig sieht er jedoch davon ab, daß die bizarre Szenerie auch ihn ganz persönlich betroffen gemacht hat. Er blendet aus, daß die unheimliche Stimmung, die alle empfinden, den Fluchgeistern gerade seiner verdrängten Vergangenheit zu solcher Virulenz verholfen hat, daß sie ihm fortan keine ruhige Minute mehr lassen. Denn nur so ist zu verstehen, daß Faber noch vor der Rückkehr aus der frostigen Wüstennacht in sein Wärme und Schutz versprechendes „Hotel Super-Constellation" (S. 24) plötzlich nicht mehr an sich halten kann. Der Punkt ist gekommen, da er die Frage loswerden muß, die er sich zuvor im anfanglich so distanzierten Umgang mit dem jungen Deutschen unter allen Umständen zu verkneifen suchte: „Kommen Sie!" sagte ich. Herbert stand und erlebte noch immer. „Übrigens", sagte ich, „sind Sie irgendwie verwandt mit einem Joachim Hencke, der einmal in Zürich studiert hat?" Es kam mir ganz plötzlich, als wir so standen, die Hände in den Hosentaschen, den Rockkragen heraufgestülpt; w i r wollten gerade in die Kabine steigen. „Joachim?" sagte er, „das ist mein Bruder." „Nein!" sagte ich — (S. 25)
Im philosophischen Wörterbuch' wird Erlebnis definiert als „ursprünglicher Bewußtseinsvorgang, in dem etwas in seinem Sinn- und Wertgehalt, in seiner existentiellen Bedeutung den Menschen angeht und betrifft" 34 . Das Erlebnis läßt also eine elementare Verbindung zwischen einem außerhalb wahrgenommenen Etwas und dem ureigenen persönlichen Leben spontan einsichtig werden. Es ist, wie es in der soeben zitierten philosophischen Definition weiter heißt, „durch Unmittelbarkeit u. emotionale Bewegtheit ausgezeichnet, schließt jedoch eine tiefere gedankliche Durchdringung und Verarbeitung nicht aus". Von der nächtlichen Wüstenszenerie unmittelbar bewegt war fraglos auch Faber. Wenn ihm gerade hier die Frage nach Joachim, der ihn schon seit geraumer Zeit innerlich beschäftigt, herausrutscht und er damit erstmals einem noch diffusen Drang zur Suche nach den gekappten zwischenmenschlichen Bindungen seiner verdrängten Vergan34
Kleines Philosophisches Wörterbuch, hg. Max Müller und Alois Halder, Freiburg i. Br. 1 9 7 1 , 78.
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genheit stattgibt, so ist dies gleichzeitig ein Beweis dafür, daß auch ihn das draußen Gesehene im Innersten betroffen gemacht hat. Einer tieferen gedanklichen Durchdringung und Verarbeitung des Erlebnisses, um das in ihm Vorverstandene zu vollem und eigentlichem Verstehen zu entfalten, versucht sich Faber zum gegebenen Zeitpunkt jedoch noch zu entziehen. Die ausführliche Darlegung seiner Technikersicht zielt ganz darauf ab, das Gesehene auf allgemeine Gesetze und Voraussetzungen zurückzuführen, die mit ihm, dem Betrachter an sich nichts zu tun haben. Er verfallt damit gewissermaßen auf eine Erkenntnis- und Sortierarbeit im Sinn des Maxwell'schen Dämons. Nach einer verheerend um sich greifenden Entropieerfahrung geht es darum, die Vorstellung von der Welt als in sich geschlossenes und damit exakt differenzier- und überschaubares System zu reorganisieren. Doch analog dem notwendigen Scheitern des Maxwell'schen Dämons führt dieser Versuch letztlich nur zur Potenzierung des Entropieeffekts. Zuletzt erfährt sich Faber nur noch von einem Sog äußerer Ereignisse und inneren Aufruhrs, den er selbst nicht mehr überschauen und dem er nichts mehr entgegenzusetzen vermag, aus den Grenzen seiner gewohnten Bahn gezogen. Dies wird besonders deutlich, wenn nach dem Wüstenaufenthalt jeder wieder seiner vorgesehenen Wege gehen könnte: Es ödete mich einfach an, schon wieder in ein Flugzeug zu steigen, schon wieder Gürtel zu schnallen, Herbert sagte: „Mensch, du mußt gehen!" Ich gelte in beruflichen Dingen als äußerst gewissenhaft, geradezu pedantisch, jedenfalls ist es noch nicht vorgekommen, daß ich eine Dienstreise aus purer Laune verzögerte, geschweige denn änderte — eine Stunde später flog ich mit Herbert. „Du", sagte er, „das ist flott von dir!" Ich weiß nicht, was es wirklich war. (S. 33)
Im folgenden verliert Faber immer mehr seine gewohnte Informiertheit und Energie — Herbert, mit dem er sich nunmehr fest zusammengeschlossen hat, ebenso. Bereits die Schilderung vom Beginn des Dschungelabenteuers, das die beiden in erwartungsfroher Spannung zusammen in Angriff genommen haben, zeigt sie im Zustand immer größerer Entropie: Schon in Campeche empfing uns die Hitze mit schleimiger Sonne und klebriger Luft, Gestank von Schlamm, der an der Sonne verwest, und wenn man sich den Schweiß aus dem Gesicht wischt, so ist es, als stinke man selbst nach Fisch. Ich sagte nichts. Schließlich wischt man sich den Schweiß nicht mehr ab, sondern sitzt mit geschlossenen Augen und atmet mit geschlossenem Mund, Kopf an eine Mauer gelehnt, die Beine von sich gestreckt. Herbert war ganz sicher, daß der Zug jeden Dienstag fahrt, laut Reiseführer von Düsseldorf, er hatte es sogar schwarz auf weiß — aber es war, wie sich nach fünfstündigem Warten plötzlich herausstellte, nicht Dienstag, sondern Montag. Ich sagte kein Wort. (S. 33 f.)
Die Sonne ist schleimig, die Luft klebrig und die Erde in Schlamm versumpft. Im wörtlichen Sinn erscheint alles verwässert. Die Konturen
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gegenseitiger Abgrenzung und Unterscheidbarkeit sind aufgeweicht. Uber allem liegt eine Glocke feuchter, brütender Hitze und die penetrante Geruchsverbreitung organischer Zerfallsprozesse. In die allgemeine Auflösungstendenz sind Faber und Herbert einbezogen, die in Schweißausbrüchen wie zerfließen. Dabei kommt es Faber vor, als ob er selbst den Geruch eines toten Fisches angenommen habe. Wenn er es schließlich müde wird, sich überhaupt noch den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, und nur noch alle Viere von sich strecken kann, so scheint er dem betrüblichen Endzustand geschlossener Systeme, nämlich dem „Wärmetod", schon ziemlich nahegekommen zu sein. Der Tendenz zur Diffusion und Differenzlosigkeit, die sich hier durchgesetzt hat, entspricht auch die Rückentwicklung der geistigen Konzentration der beiden technikverlassenen Urwaldfahrer, ihre steigende Konfusion und Indifferenz. So stellt sich nach Stunden lethargischen Wartens heraus, daß sich Herbert im Wochentag geirrt hat. So hatte sich Faber den Auftakt zur gemeinsamen Reise nicht vorgestellt. Doch er sagt kein Wort, wie er wiederholt betont. Denn mit Herbert, mit dem er sich in seiner Spontanentscheidung „auf dem neuen Flugplatz in Mexico-City" (S. 33) zu einem neuen Bündnis zusammengeschlossen hat, will er sich nicht gleich wieder überwerfen. Auch wenn sich diese seine im Augenblick letzte Stütze mitnichten als so tragfahig erwiesen hat, wie er sich das erhoffte, klammert er in seiner Verzweiflung doch an ihr. Wohl versucht er sich vorzumachen, sich von seinem Gefährten wieder trennen zu können, ja sogar zu müssen. Aber sangund klanglos verliert sich auch diese Illusion, dem äußerlich wie innerlich um sich greifenden Durcheinander nochmals entkommen zu können: Ich war entschlossen, Herbert zu verlassen und am andern Mittag zurückzufliegen, Kameradschaft hin oder her — [...] Ich war entschlossen, wie gesagt, nach MexicoCity zurückzufliegen. Ich war verzweifelt. Warum ich es nicht tat, weiß ich nicht. (S. 34 f.)
Am andern Tag auf der Zugfahrt nach Palenque scheint die gewünschte Ordnung der Dinge noch ein letztes Mal wieder hergestellt zu sein: „Eine Dieselmaschine und vier Wagen mit air-condition" (S. 35) lassen die Hitze vergessen und das geplante Ziel der Reise wieder schärfer ins Blickfeld rücken. Faber beschäftigt sich in Gedanken mit Joachim beziehungsweise mit dessen geschiedener Frau Hanna, die ja seine eigene Braut war. Er kann dabei aber zu keinem beruhigenden Ergebnis kommen. Herbert muß die Frage nach dem Scheidungsgrund unbeantwortet lassen. Als nächstes kommt es zu einem mysteriösen Halten des Zuges. Die scheinbar wieder funktionierende geschlossene Ordnung kommt erneut ins Stocken. Faber möchte nachsehen, was los
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ist und bekommt als erstes die Schwüle der ausgesperrten Tropennacht zu spüren: „Draußen die Hitze, die man vergessen hatte, eine feuchte Finsternis und Stille" (S. 36). Dann stößt er auf das Ausgegrenzte, Dunkle, Undurchsichtige, wie es sich hier wieder lähmend bemerkbar macht, in der Gestalt eines nicht näher definierbaren Viehs, das sich von der vorwärts drängenden Technik nicht aus der Ruhe bringen läßt: Es tutete und tutete. Ringsum nichts als Dickicht. Nach einigen Minuten ging der Büffel (oder was es war) langsam aus dem Scheinwerfer, dann hörte ich Rauschen im Dickicht, das Knicken von Ästen, dann ein Klatschen, sein Platschen im Wasser, das man nicht sah — (S. 36)
Schließlich in Palenque angekommen finden sich Faber und Herbert „am Ende der Zivilisation" (S. 37), dabei aber immer noch mit dem alles vereinnahmenden Anspruchsdenken zivilisierter Herren gewappnet. Denn hier sollte doch eigentlich ein Jeep warten, „um den Herrn aus Düsseldorf sofort zur Plantage hinüberzufahren" (S. 37). Im folgenden zeichnet sich ab, daß die herrschaftliche Erwartungshaltung, dieses letzte Band, das die beiden neuen Freunde noch zusammen- und aufrechterhält, hier nicht mehr weiter trägt. Der Wirt des kleinen und bescheidenen Hotels Lacroix, des einzigen, das es am Ort gibt, zeigt sich vom Auftreten seiner „besseren" Gäste so verstimmt, daß er nicht daran denkt, ihnen seinen Jeep, ebenfalls den einzigen, den es im Ort gibt, zu verleihen. Der völlige Kollaps des schon sehr geschrumpften, nämlich nur noch aus zwei Mann bestehenden Herrensystems ist damit abzusehen. Faber muß dann auch gleich von einem längeren Hängemattenaufenthalt berichten, in dem er und Herbert Zeit und Ziel vergessen und überhaupt jegliche Orientierung und Entschlußfahigkeit verlieren. Alles was der Homo faber noch zu „machen" vermag, ist in der Luft zu baumeln, um trinkend und schwitzend und schwitzend und trinkend am allgemeinen, dabei sich nur noch in diffuse Wärme umsetzenden Energieaustausch teilzunehmen. Das Bild der alles homogenisierenden Entropie, die jedes menschliche Ordnungsstreben in sein Gegenteil verkehren muß, könnte abgerundeter nicht geschildert sein: Wir hingen in Hängematten, allzeit ein Bier in greifbarer Nähe, schwitzend, als wäre Schwitzen unser Lebenszweck, unfähig zu irgendeinem Entschluß, eigentlich ganz zufrieden, denn das Bier ist ausgezeichnet, Yucateca, besser als das Bier im Hochland, wir hingen in unseren Hängematten und tranken, um weiter schwitzen zu können, und ich wußte nicht, was wir eigentlich wollten. (S. 37)
e) Moderne Technik und ursprüngliche Natur im Übergang Entropie wird im allgemeinen als Maß der Unordnung definiert. Diese Definition ist jedoch symptomatisch für ein einseitig technisches Wirklichkeitsverständnis. Denn sie geht davon aus, daß nur ein in sich
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geschlossenes, durchorganisiertes System, das zu machen eben vom Techniker erwartet wird, ordentlich sein kann. Umgekehrt gilt eine Natur, die noch nicht unter dem Aspekt von rationell verwertbaren Gesetzen gesehen wird, als chaotisch. Dies impliziert, daß Natur im Urzustand erst noch — eben durch Wissenschaft und Technik — zu ordnen ist und eventuell noch zu findende Naturvölker entsprechend zu entwickeln sind. Es braucht nicht mehr weiter erklärt zu werden, daß das hier grob angesprochene Welt- und Menschenbild den Entwicklungen der Moderne zugrundeliegt, wie sie von einem Mann wie dem UNESCO-Ingenieur Walter Faber in letzter Konsequenz vertreten werden. Es gilt nun vielmehr darauf einzugehen, daß gerade der unbestreitbare Fortschritt, den die moderne Technik mit sich brachte, allzu leicht etwas ganz Elementares vergessen läßt: Gerade der entwikkeltsten Technik, das heißt der kybernetischen, liegt die Natur nicht nur als Energiequelle, sondern auch als Modell ihrer prinzipiellen Funktionsweisen zugrunde. Sie muß demzufolge letztlich wieder auf die Natur als das Größere als sie verweisen. In der Vergegenwärtigung dieser Zusammenhänge zeigt sich die Ur-Natur daher nicht mehr als Chaos, sondern gerade als die große, allem zugrundeliegende und alles übergreifende universale Ordnung. In seinem entropischen Hängemattendasein werden Faber die soeben angedeuteten Zusammenhänge stets nach Einbruch der Nacht plastisch verdeutlicht: Es wetterleuchtete jede Nacht, unsere einzige Abendunterhaltung, Palenque besitzt einen Dieselmotor, der elektrischen Strom erzeugt, aber um 21.00 Uhr abgestellt wird, so daß man plötzlich in der Finsternis des Dschungels hing und nur noch das Wetterleuchten sah, bläulich wie Quarzlampenlicht, dazu die roten Leuchtkäfer, später Mond, schleimig, Sterne sah man nicht, dazu war es zu dunstig... (S. 39)
Der in dem Urwaldnest immerhin vorhandene Generator läßt Faber seine Sehnsucht nach Strom ab 21.00 Uhr nicht mehr mit dem Rasierapparat befriedigen (vgl. S. 41). Dafür verweist er ihn zur Abendunterhaltung auf das Lichtspiel von bläulichem Wetterleuchten, roten Leuchtkäfern und etwas Mondschein in ansonsten dunstiger Nacht. Er erinnert damit daran, daß die Stromkreisläufe der Technik, wie sie für frei wählbare menschliche Zielsetzungen in beschränktem Maß verfügbar sind, weit größeren elektrodynamischen Zusammenhängen, nämlich den grenzenlosen, aber nicht grenzenlos nutzbaren der Natur, entnommen sind. Dies läßt sich im Übergangsland zwischen moderner Technik und ursprünglicher Natur allenthalben beobachten, wie auch die von Faber nachfolgend geschilderte Szene verdeutlicht: Ein Pferd graste im Mondschein, im gleichen Gehege ein Reh, aber lautlos, ferner eine schwarze Sau, ein Truthahn, der das Wetterleuchten nicht vertrug und kreischte,
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ferner Gänse, die plötzlich, vom Truthahn aufgeregt, ebenfalls schnatterten, plötzlich ein Alarm, dann wieder Stille, Wetterleuchten über dem platten Land, nur das grasende Pferd hörte man die ganze Nacht. (S. 39)
Besonders hier wird das Prinzip kreisrelationaler Spannungsverhältnisse, wie sie Natur und Technik durchwalten, in sinnlichem Schauen und Hören symbolisch faßbar: Die Entladung der gewaltigen Wetterleuchten in schwüler Nacht überträgt sich auf den Truthahn, der plötzlich kreischt, was dann wieder die Gänse aufregt, die schnattern, bis sich die allgemeine Alarmsituation wieder entspannt hat und nur noch das Pferd zu hören ist. Dieses grast die Nacht hindurch ruhig weiter und läßt dabei das pulsierende Geräusch sich allmählich neu aufladender Spannung anklingen. Dabei wird das bereits Angedeutete nochmals unterstrichen: Die technische Elektrizität stellt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem weit größeren Stromkreislauf der Natur dar. Ebenso deutlich wird jedoch, daß die elementaren SpannungsVerhältnisse der Natur, die sich im freien Spiel der Kräfte Ausdruck verschaffen, mit einem menschengerechten Leben nicht vereinbar sind. In diesem Sinn hebt sich die reizvoll temperierte Spannung, die Fabers Rasierleidenschaft aus dem wohldosierten Strom der Steckdose bezieht, von der natürlichen Hochspannung, wie sie sich in den Schreien der Tiere entlädt, in urbaner Annehmlichkeit ab. Es bietet sich an nachzutragen, daß Faber in Campeche, der ersten Station und letzten städtischen Siedlung seiner Urwaldreise, zunächst zu seiner Beruhigung festgestellt hat, daß hier immerhin noch ein regulär ausgebautes Stromnetz zu finden war (vgl. S. 34). Und ganz der Bedeutung des technisch moderierten Stroms, sich von dem der Urkreisläufe in urbaner Annehmlichkeit abzuheben, entspricht es, wenn Faber gewohnt ist, Stromleitungen als ermunterndes Zeichen eines verheißungsvollen Aufbruchs ins technische Zeitalter zu sehen. Doch die Stromleitungen, wie er sie in Campeche erlebt, sind nach beiden Seiten offen. Denn sie weisen nicht nur nach vorne ins beginnende Zeitalter der Technik, sondern auch zurück zu den vergessenen Urkreisläufen, denen sie abgerungen wurden und auf die sie im letzten bezogen bleiben. In diesem Sinn muß Faber zu seinem Schrecken erfahren: Aber auf allen Drähten hockten schon Zopilote, die reihenweise warten, bis ein Hund verhungert, ein Esel verreckt, ein Pferd geschlachtet wird, dann flattern sie herab... Wir kamen gerade hinzu, wie sie hin und her zerrten an einem solchen Geschlamp von Eingeweide, eine ganze Meute von schwarzvioletten Vögeln mit blutigen Därmen in ihren Schnäbeln, nicht zu vertreiben, auch wenn ein Wagen kommt; sie zerren das Aas anderswohin, ohne aufzufliegen, nur hüpfend, nur huschend, alles mitten auf dem Markt. (S. 34)
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Im Anblick der Drähte will sich Faber einer letzten tragenden Verbindung mit seiner technisch humanen Welt vergewissern, und bekommt in drastischer Bildlichkeit vorgeführt, wie sie nahtlos in die Urkreisläufe von Fressen und Gefressenwerden, Werden und Vergehen überleiten. Die ungeschminkte Präsenz dieser großen, alles im Gleichgewicht haltenden Urordnung, die jedem Leben der Grund seiner Möglichkeit, aber auch seines unausweichlichen Endes ist, läßt sich auch im folgenden nicht mehr übersehen. Sie macht sich im Gegenteil umso penetranter bemerkbar, je verzweifelter versucht wird, sie zu überwinden. Besonders deutlich wird dies auf der späteren Jeepfahrt zur Plantage, wo sich Herbert zu einem letzten hoffnungslosen Aufbäumen gegen die Zopilote, die den verdrängten, aber unvermeidlichen Bezug zur natürlichen Urordnung repräsentieren, hinreißen läßt: Plötzlich g a b er V o l l g a s — los u n d hinein in die s c h w a r z e M e u t e , mitten hinein und h i n d u r c h , s o daß es v o n s c h w a r z e n F e d e r n nur s o wirbelte! N a c h h e r hatte man es an den R ä d e r n . D e r süßliche G e s t a n k begleitete uns n o c h s t u n d e n l a n g , bis m a n sich ü b e r w a n d ; das Z e u g klebte in den Pneu-Rillen, u n d es half nichts als peinliche H a n d a r b e i t , Rille u m Rille. - (S. 49 f.)
Die ursprüngliche Natur läßt sich als die große Lebensordnung sehen, die in ungehemmten Austauschprozessen alles im Gleichgewicht hält, individueller Lebensansprüche jedoch nicht achtet. Um als Mensch leben zu können, bedarf es also der Bemühung um die Errichtung der Gegenordnung einer eigenen menschlichen Welt. Doch auch als Gegenordnung wird diese auf die umfassende Ordnung der Natur bezogen bleiben. Wie aber läßt sich unter den existentialen Bedingungen, wie sie soweit offenkundig geworden sind, sinnvoll leben? Wo sich diese Frage schließlich stellen muß, erfolgt in Fabers Bericht der Hinweis auf eine uns fremde Kultur: die der Maya, die sich ein junger Musiker aus Boston, Amerikaner französischer Herkunft, Marcel mit Namen, an ihren Ruinen im Dschungel von Palenque mit akribischer Sorgfalt erarbeitet. Es ist der gleiche Ort, wo Faber und Herbert nur noch hängen, trinken und schwitzen. Schon daß jener Beachtliches zu eruieren vermag, wo diese längst dem Entropieeffekt verfallen sind, bestätigt dabei noch einmal, daß Entropie im „ H o m o faber" nicht mehr wie in der klassischen Vorstellung ein Phänomen bezeichnet, das der Welt als solcher inhärent wäre. Denn die Welt, gleich in welcher historischen Verfaßtheit, also auch der der modernen Technik, bezeichnet immer ein System offener Verweisungszusammenhänge. Nur der Mensch, der in ihr lebt, kann den Fehler begehen, sich radikal zu verschließen. O b die von ihm vorgefundene Lebenswelt entropisch erfahren werden muß, hängt also wesentlich von seiner eigenen Einstellung ab: Je weniger sich ein
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Individuum oder auch eine ganze Epoche wie die des modernen Homo faber noch darauf versteht, sich gegenüber der stets unvermeidlichen Eigendynamik der sie umgebenden Welt offen zu halten, desto sicherer werden sie dem Entropieeffekt verfallen. Dagegen präsentiert eine Kultur wie die der Maya ein utopisches Gegenmodell, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll. f) Die alte Mayakultur und die moderne Lebenswelt des Homo faber Von Marcel bekommt Faber über die Maya viel zu hören, wobei er vor allem eines anerkennen muß: In der von ihm selbst so hoch geschätzten Mathematik haben auch sie es sehr weit gebracht. So errechneten sie das Sonnenjahr „auf 365,2420 Tage, statt auf 365,2422 Tage" (S. 44). Sie hatten sich damit ein Kalendersystem entwickelt, das genauer als alle anderen der damaligen Zeit war. Dennoch glaubt Faber die Mayakultur insgesamt als „primitiv" beurteilen zu müssen (ebd.). Denn eine Mathematik, die sich nur um die Berechnung der großen astralen Kreisbewegungen im Universum kümmert, aber um keinerlei technische Nutzanwendung zur Schaffung einer eigenen, prinzipiell beherrschbaren Welt, kann er aus der Warte seiner Technikerperspektive keine Bedeutung beimessen. Aus dem Umstand der nicht in Technik umgemünzten Mathematik folgert er dann auch, daß diese Kultur untergehen mußte: „Trotzdem brachten sie es mit ihrer Mathematik, die man anerkennen muß, zu keiner Technik und waren daher dem Untergang geweiht — " (S. 44). Fabers Argumentation läßt unberücksichtigt, daß sich die Kultur der Maya vor der Ankunft der Konquistatoren selbst gegen extremste Lebensbedingungen behaupten konnte. Hier im Urwald, da er, der Super-Techniker, gleich überhaupt nichts mehr zuwege bringt, haben sie Bauwerke hinterlassen, die auch nur hochzuklettern ihm schon die größten Schwierigkeiten bereitet: Nach einiger Pyramidenkletterei aus purer Langeweile (die Stufen sind viel zu steil, gerade das verkehrte Verhältnis von Breite und Höhe, so daß man außer Atem kommt) legte ich mich, schwindlig vor Hitze, irgendwo in den Schatten eines sogenannten Palastes, meine Arme und Beine von mir gestreckt, atmend. (S. 42)
Dabei haben die Maya ihre Bauten, die noch immer wie Boden und Halt bietende Schiffe oder Inseln aus dem „Ozean" des Dschungeldikkichts herausragen, ohne Kenntnis des Rads errichtet, wie Faber fassungslos berichtet: Wenn man den Kopf zur Seite dreht, um nicht immer diesen Milchglashimmel zu sehen, meint man jedesmal, man sei am Meer, unsere Pyramide eine Insel oder ein Schiff, ringsum das Meer; dabei ist es nichts als Dickicht, uferlos, grün-grau, platt
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wie ein Ozean — Dickicht! [...] Man staunt, wie sie diese Quader herbeigeschafft haben, wenn sie das Rad nicht kannten, also auch den Flaschenzug nicht. (S. 43)
Die Maya kannten noch nicht einmal das Rad, andererseits leisteten sie in der Astronomie Präzisionsarbeit. Die Blickrichtung ihrer Wissenschaft war also ausschließlich auf die universalen Kreisbewegungen der großen offenen Ordnung gerichtet, die sich im Gegensatz zu denen des Rads vom Menschen nicht für eigene Zweckbestimmungen nutzen lassen, sondern denen der Mensch im Werden und Vergehen seines je begrenzten Daseins selbst unterworfen ist. — Auf Grund ihrer astronomischen Berechnungen löschten die Maya dann alle 52 Jahre ihre Herdfeuer, zerschmetterten alles vorhandene Geschirr, verließen die Städte (unzerstört), in denen sie bis dahin wohnten, und nahmen nur das Tempelfeuer mit. Für dieses errichteten sie an einem anderen Ort einen neuen Tempel, bauten sich eine neue Stadt darum und töpferten sich wieder neues Geschirr (vgl. S. 44). Obwohl oder vielleicht auch gerade weil die Maya in ihren Gebräuchen ihres je temporären Daseins eingedenk blieben, konnten sie ohne Technik im Urwald Leistungen erbringen, die bis ans Äußerste des Menschenmöglichen gehen. Gegen die Allpräsenz der alles einebnenden, zuwuchernden Natur vermochten sie unter Aufbietung schier übermenschlicher Kraftanstrengung gewaltige und kunstvoll verzierte Prachtbauten zu hinterlassen, was aller Nachtwelt Staunen abnötigen muß. Dagegen glaubt Faber zu folgendem Urteil kommen zu müssen: Abgesehen von den Verzierungen, die mir sowieso nicht gefallen, weil ich f ü r Sachlichkeit bin, finde ich ja diese Ruinen sehr primitiv — [...] Ich fand es ein kindisches Staunen, betreffend die Herbeischaffung dieser Quader: — sie haben einfach Rampen erstellt, dann ihre Quader geschleift mit einem idiotischen Verschleiß an Menschenkraft, das ist ja gerade das Primitive daran. (S. 43 f.)
Was Faber für das Primitive hält, ist das eigentlich Außerordentliche dieser Kultur: Unter äußerst ungünstigen Umständen vermochten die Maya eindrucksvolle Zeichen ihres Dagewesenseins zu hinterlassen. Und gruppiert um ihre hohen, pyramidalen Palast- und Tempelbauten, die sie als Zeugnisse körperlicher Höchstleistung dem Urwald einprägten, schufen sie sich ihre eigene menschliche Lebenswelt. Sie taten dies aber immer nur in den Grenzen, die sie sich von der großen allumfassenden Ordnung gesetzt sahen. Gegen diese versuchten sie sich nicht zu verschließen, sondern öffneten sich ihr in dem großen, alles erneuernden Ritus, der im Turnus von 52 Jahren für jede Generation je einmal erlebbar gewesen sein dürfte. So sah sich jedes Mayaleben in rituell getragener Weise aufs neue vor die Aufgabe gestellt, sich seine bedingte Stellung innerhalb der universalen Ordnung in ihren prinzipiellen Möglichkeiten und Grenzen selbst zu erarbeiten und zu erfahren.
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Mit ihrer sich zyklisch wiederholenden Radikalerneuerung erwies sich die Mayakultur als lebensfähig. Im gleichen Urwald, in dem die Agenten des missionarisch verfochtenen Programms, die Natur zu beherrschen, völlig erlahmt nur noch Zersetzung und Tod sehen können, vermochte sie zu blühen. Dem Entropieeffekt verfiel die Weise, wie die Maya ihr Leben organisierten, also nicht. Denn ihre eigenen Entwürfe waren so gestaltet, daß sie dem Gesetz der großen Naturordnung nicht nur so weit wie möglich zu trotzen, sondern auch so weit wie notwendig zu entsprechen versuchten. Auch die Denkmäler, die die Maya hinterließen, vermitteln den Eindruck einer ausgeglichenen Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur, gottgegebener und menschengemachter Ordnung. Insbesondere wäre hier auf die in Stein gehauenen Hieroglyphen hinzuweisen, wie sie an den Mayaruinen zu finden sind und von Marcel unter großen Strapazen abgepaust werden. Faber berichtet davon, zunächst allerdings nicht sehr beeindruckt, wie es scheint: In dem Gestein, das einen Tempel vorstellen soll, glühte eine Höllenhitze. Seine einzige Sorge: kein Schweißtropfen auf sein Papier! Er grüßte kaum; wir störten ihn. Seine Arbeit: Er spannte Pauspapier über die steinernen Reliefs, um dann stundenlang mit einer schwarzen Kreide darüber hinzustreichen, eine irrsinnige Arbeit, bloß um Kopien herzustellen; er behauptete steif und fest, man könne diese Hieroglyphen und Götterfratzen nicht fotografieren, sonst wären sie sofort tot. (S. 42)
Indem es Marcel ablehnt, die kunstvoll in Stein gehauene Bilderschrift der Maya zu fotografieren, möchte er es vermeiden, diese Zeugnisse auf die Bedeutung eines platten, abheftbaren, leicht verfügbaren Dokuments zu reduzieren. Dem hier ebenso offenbaren wie geheimnisvollen Gegen- und Ineinander von Natur und Kultur möchte er nachspüren, um es in seiner sinnlich greifbaren Plastizität neu zu erleben und auf diesem Weg lebendig zu bewahren. Faber seinerseits, der dem drückenden Klima nichts mehr entgegenzusetzen vermag, dabei sich sogar zu ausgesprochen leichtsinnigem Verhalten hinreißen läßt, überkommt bei der Konfrontation mit dieser leidenschaftlichen Erarbeitung von Verschüttetem und Vergessenem ein sprachloses Staunen: Ich zog meine Schuhe aus, Schlangen hin oder her, ich brauche Luft, ich hatte Herzklopfen v o r Hitze, ich staunte über unseren Pauspapier-Künstler, der an der prallen Sonne arbeiten konnte und dafür seine Ferien hergibt, seine Ersparnisse, um Hieroglyphen, die niemand entziffern kann, nach Hause zu bringen — (S. 43)
Wie aber die Apostrophierung „Pauspapier-Künstler" indiziert, weicht das Staunen sofort wieder einer andern Reaktion, nämlich der, sich gewollt amüsiert zu geben. „Menschen sind komisch!" (ebd.) lautet dann auch Fabers rationalisierendes Fazit. Ähnlich wie er einst Hanna, seine Jugendfreundin, die später in Athen eine angesehene Archäologin
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wurde, als „Schwärmerin und Kunstfee" bespöttelte (S. 47), versucht er sich hier über Marcels archäologische Feldarbeit lustig zu machen. Um sich von untechnischer Arbeit nicht in seiner „starken" Technikerposition in Frage stellen zu lassen, sucht er jene als hoffnungslose Phantasterei abzutun. Es stellt sich jedoch heraus, daß der „komische" Marcel dem „pragmatischen" Faber immerhin das dringend benötigte Geländefahrzeug besorgen kann — und zwar in einer Situation, da der Fabersche „Realismus" nur noch auf „Wunder" hoffen kann: Endlich unser Landrover! Das Wunder geschah, als unser Ruinen-Freund hörte, daß wir hinüber nach Guatemala müßten. Er war begeistert. Er zog sofort sein Kalenderchen, um die restlichen Tage seiner Ferien zu zählen. In Guatemala, sagte er, wimmle es von Maya-Stätten, teilweise kaum ausgegraben, und wenn wir ihn mitnähmen, wollte er alles versuchen, um den Landrover zu bekommen, den wir nicht bekommen, dank seiner Freundschaft mit dem Lacroix-Wirt — und er bekam ihn. (S. 44 f.)
Im Gegensatz zu Herbert und Faber ist Marcel nicht als der Herr aus einer „besseren" Welt mit Entwicklungsplänen in der Tasche ins Land gekommen, sondern als Gast. An der untergegangenen Mayakultur möchte er neu erlernen, was im Zug der Entwicklung der eigenen Kultur hin zum Zeitalter der Technik allmählich verloren gegangen ist: ein partnerschaftliches Verhältnis zur Schöpfung, wie Hanna später den entscheidenden Verlust des modernen technischen Lebens bezeichnen wird (vgl. S. 169). Insofern Marcel um einen offenen, kommunikativen Austausch mit dem und den Anderen bemüht ist, hat er gewonnen, was die drei „Zivilisierten" nun einzig noch weiterzubringen vermag: die Freundschaft mit dem Lacroix-Wirt. Auf der Plantage, die sie mit dem Landrover schließlich erreichen, kann der gesuchte Bruder und Freund allerdings nur noch tot aufgefunden werden. Die Geschäftigkeit, mit der Faber die traurige Entdekkung sofort verdrängt, entspricht der scheinbar so ausgeklügelten Weise, mit der Joachim sein Tod inszeniert hat. Seine vordergründige Anwesenheit hinter dem verschlossenen Fenster seiner abgeschlossenen Baracke erweckt zunächst den Eindruck, daß es ihm gelungen sei, sein geschlossenes Technikersystem über den Tod hinaus aufrechtzuerhalten. Dies wurde bereits im Abschnitt über „Prometheische Scham?" im vorangegangenen Kapitel dargelegt. Doch nach allem, was inzwischen entwickelt werden konnte, muß es sich umgekehrt verhalten: Gerade der unhaltbare Versuch, sein System gegen die Urgewalten unbedingt geschlossen halten zu müssen, hat letztlich nichts mehr anderes als den Tod zugelassen. Und entgegen allen Versuchen, sich zunächst darüber hinwegzutäuschen, bezeichnet Joachims Selbstmord ein schreckliches
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Lebensende, wie ein von Faber später nachgelieferter Bericht von der Auffindung der Leiche deutlich macht (vgl. S. 84 f.). Herbert andererseits erweist sich zuletzt als dermaßen desillusioniert, daß er keinerlei Perspektive mehr zu entwickeln vermag. So trifft Faber bei seiner nochmaligen Fahrt auf die Plantage zwei Monate später „Herbert wie ein Indio" wieder (S. 168). — Der nach gescheiterter Ehe verhärtete Joachim, der sich noch in sinnlosem Selbstopfer für die fixe Idee eines geschlossenen und beherrschbaren Systems als Übermensch durchzusetzen versuchte, die Indios, die nach der Zerstörung der amerikanischen Hochkulturen zu Untermenschen gemacht wurden, und Herbert, der sich zunächst wie jener aufführte und dann wie diese wurde, präsentieren alle Aspekte ein und desselben Entropieeffekts. Einheitlich verkörpern sie eine unbeabsichtigte Tendenz zur gegenseitigen Angleichung, Diffusion und Erlahmung. Was dabei zu Fall gebracht wird, sind die künstlichen Unterscheidungen des modernen Homo faber und nur diese. Bestätigt ist hingegen die universale Ordnung, die in ihrer ständigen Tendenz, alles auszugleichen, nie zum Stillstand kommt.
4. Die Verkehrung technischer Ordnungssucht in inzestuöse Konfusion a) Die Rückkehr aus dem Urwald Aus Leidenschaft und Überzeugung hat Faber in seiner stets engagierten und gewissenhaften Tätigkeit für die UNESCO am weltweiten Ausbau der modernen Technik zu einem universalen Regelkreis mitgewirkt. Schien doch die Arbeit an seiner Verwirklichung, wie hier zunächst gezeigt, gleichzeitig die Verwirklichung einer in sich geschlossenen IchWelt-Totalität in greifbare Nähe rücken zu lassen. Weitgehend überwunden, abgekoppelt und ausgeschlossen erschien das „primitive" Ursystem einer Natur, das Leben je nur im Horizont des Todes ermöglicht. Doch dann muß Faber ab einem bestimmten Punkt seiner Karriere erleben, daß die auf technischem Weg vermeintlich nahezu erreichte Utopie modernen Denkens und Handelns in sich zusammenfallt. Dies geschieht mit einer Konsequenz, die sich mit der Wahrscheinlichkeitslehre und dem Wärmesatz nicht minder sinnfällig erklären läßt als mit dem Glauben an das unerbittliche Walten mißachteter Mächte. Ein sich wechselseitig ergänzendes Zusammenspiel von äußerer und innerer Konfusion unterminiert die vermeintlich stabilisierte Funktionseinheit von kybernetisch durchorganisierter Welt und sich in ihr verwirkli-
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chendem Ingenieur-Menschen. Es konfrontiert dabei mit dem, was in der Scheintotalität ausgeschlossen wurde. Zu einer einheitlichen Verweisstruktur in diesem Sinn fügen sich unter anderem die Super-Constellation, die ihren Super-Techniker plötzlich und unerwartet in eine „wüste" Urlandschaft stürzen läßt, Reisebegegnungen, die ihn auf einmal beharrlich an gekappte, zwischenmenschliche Beziehungen erinnern, Stromleitungen, die ihm neuerdings Todesvögel präsentieren, Spiegelfiguren, die mit hybriden Urbarmachungsprojekten an den urmächtigen Kreisläufen des Urwalds zerbrechen, sowie nicht zuletzt sein eigener Körper, der ihm in einem ahnungsvollen Alptraum und in wiederkehrenden Magenschmerzen sein Lebensende signalisiert. Immer eindeutiger verweist alles, was Faber ab einem bestimmten Zeitpunkt erlebt, auf das, wogegen er in seinem fixen, aber immer aussichtsloseren Homo-faber-Willen radikaler denn je Front zu machen versucht: auf eine Natur, die und nicht er das primär Ordnungsstiftende ist, das alles aus sich selbst heraus schafft und in sich zurückkreisen läßt 35 . Eine motivliche Verdichtung der dramatischen Spannung zwischen dem Techniker und der offenen Ordnung der Natur findet sich in der verhältnismäßig kurzen Passage, die Faber der Schilderung seiner Heimfahrt aus dem Urwald widmet. Sie stellt damit eine pointierte Engführung der Voraussetzungen dar für das nachfolgende „Abschiedsgefecht" mit Ivy, der sich daraus ergebenden Begegnung mit der von ihm nicht angenommenen Tochter und dem schließlichen Inzest mit ihr. Dies ist im folgenden zu entwickeln. Die fragliche Passage über die Heimfahrt aus dem Urwald ist in Fabers Bericht entgegen der Chronologie des in ihm Berichteten zwischen dem definitiven Bruch mit Ivy und der ersten Begegnung mit Sabeth piaziert. Schon ihre formal hervorgehobene Stellung als Rückblende legt nahe, sie als Schlüsselstelle für die beiden Ereignisse, zwischen denen sie eingeschoben ist, zu betrachten. Faber berichtet, wie es ihm und Marcel auf der Rückfahrt von der Plantage, wo sie Joachim beerdigten und Herbert auf dessen Wunsch hin zurückließen, ergangen ist. Bei mondlos finsterer Nacht und sintflutartigen Regenfallen, die die Urwalderde in ein Schlammeer verwandeln, werden die beiden zum Halten gezwungen. Ausführlich und eindringlich läßt Faber anschaulich werden, wie sie in der Dunkelheit 35
Das sich hier vermittelnde Naturverständnis ist identisch mit dem der ursprünglichen physis als „das erstanfanglich v o n ihm selbst her Aufgehende u. Allumfangende, das Sein, dessen eigentümliche Weise der Bewegung das Kreisen (Ausgang und Rückgang in sich) ist" (Kleines Philosophisches Wörterbuch, 211).
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festsitzen und sich ausschwitzen „wie in der Sauna, nämlich ohne Kleider; es war unerträglich, das nasse Zeug auf dem Leib" (S. 69). Wie gebannt starren sie dabei auf das, was ihnen das angelassene Autolicht vorführt: Die Erde dampfte vor unseren Scheinwerfern, ein lauer und schwerer Regen. Ohne Wind. Was man im Scheinwerferkegel sah: Gewächs reglos, Geschlinge von Luftwurzeln, die in unserem Scheinwerferlicht glänzten wie Eingeweide. Ich war froh, nicht allein zu sein, obschon eigentlich keinerlei Gefahr, sachlich betrachtet; das Wasser lief ab. (S. 69)
Noch einmal und besonders pointiert wird hier das Bild einer Totalentropie vermittelt, in die der Techniker unversehens geraten ist. Wieder einmal ist ein von ihm gebrauchtes Fortbewegungsmittel zum Stillstand gekommen und ringsum eine allgemeine Auflösung vertrauter Differenzen zu beobachten. Zu nennen wäre hier das herausgestülpte Geschlinge der Wurzeln, die statt in den Boden in die Luft wachsen, ebenso wie die zu Schlamm verwässerte Erde, die unter der Glocke tropischer Schwüle dampft. Einbezogen in diesen Prozeß gegenseitiger Durchdringung und Vermischung von Erde, Wasser, Luft und Wärme sind auch die entkleideten Körper von Faber und Marcel. Es ist, als ob sie in ihrem Schwitzen selbst danach strebten, in den allgemeinen Auflösungsprozeß einzugehen. Doch eben das will Faber nicht wahrhaben, wenn er betont, daß eigentlich von „keinerlei Gefahr, sachlich betrachtet", die Rede sein könne, denn „das Wasser lief ab". Faber macht sich vor, nicht eigentlich bedroht sein zu können, da doch das Fahrzeug, in dem er mit dem inzwischen vertrauteren Marcel „froh, nicht allein zu sein", zusammensitzt, gleich einer Arche die alles auflösende Flut draußen ablaufen läßt. Also noch die Technik, die auf das Nußschalenformat eines steckengebliebenen, aber immerhin noch einigermaßen wasserdichten Landrovers zusammengeschrumpft ist, vermag dazu verführen, in ihr ein Bild zu sehen, das Faber in seiner Technik zu sehen gewohnt ist: ein gegen die Urgewalten der Natur abgedichtetes System, in dem er sicher schalten und walten kann. Doch die hinausgerichteten Scheinwerfer vermitteln ein anderes Bild, nämlich das eines uterinen Eingeschlossenseins. Lassen sie doch nichts anderes sehen als feucht glänzendes „Gewächs", das den nackten und nassen Insassen wie „Eingeweide" erscheint. Ganz in dieses Bild paßt, daß sich die beiden in der Morgenröte des nächsten Tages in einem Zustand wiederfinden, als seien sie gerade erst in die Welt geworfen: „Wir waren naß von Schweiß und Regen und Öl, schmierig wie Neugeborene" (S. 69). Das Geschlinge, das die Scheinwerfer in der finsteren Nacht als „Eingeweide" beleuchten, ist gleichzeitig Schoß. Und noch deutlicher
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ist es die verschlammte Erde, die Faber im Licht der aufgehenden Sonne erblickt: Erde ist Schlamm nach einem einzigen Gewitter (wie wir's auf unserer Rückfahrt erlebt haben), Verwesung voller Keime, glitschig wie Vaseline, Tümpel im Morgenrot wie Tümpel von schmutzigem Blut, Monatsblut, Tümpel voller Molche, nichts als schwarze K ö p f e mit zuckenden Schwänzchen wie ein Gewimmel von Spermatozoen, genau so — grauenhaft. (Ich möchte kremiert werden!) (S. 68)
In den Schoß der Erde möchte Faber nicht eingehen. Mit ihr sich zu vermischen, sträubt sich sein Selbstbewußtsein, das eine differenzierte Ordnung überschauen und damit auch beherrschen möchte. Sein im Auflösungsprozeß des Sterbens befindlicher Körper aber ist von jenem Anderen bereits gezeichnet. Trotzdem läßt Faber nicht locker, den Selbstbehauptungswillen seines Ichs dagegen zu setzen. In diesem Sinn muß die Verfügung verstanden werden, die er als seiner Weisheit (vorläufig) letzten Schluß anmerkt: „Ich möchte kremiert werden!" Daß Faber seinem Ende entgegengeht, ist seit Houston deutlich geworden, als ihn der Tod aus dem neonbeleuchteten Toilettenspiegel im Flughafenuntergeschoß anblickte. In diesem Zusammenhang kann auch gesehen werden, daß er gegenüber weiblicher Verführung in besonderem Maß anfällig wird, obgleich er sich forcierter denn je dagegen wehrt. Auf sie trifft er bei seiner Rückkehr von seiner verunglückten Reise in der Gestalt Ivys, die es schon immer darauf angelegt hat, sein geschlossenes Technikersystem zu knacken. Er wollte sich von ihr endgültig und schnell trennen und kann dann doch nicht umhin, sich noch dreimal mit ihrem Körper zu „vermischen". Auf dem Hintergrund der Schilderung dieser letzten und für ihn überaus peinlichen Nacht mit Ivy muß sich Faber dann die peinliche Szene seiner Rückkehr aus dem Urwald von der Seele schreiben. Die Szene läßt Faber in der Behauptung gipfeln „la mort est femme! [...] la terre est femme!" (S. 69). Dieses Fazit muß als Ausdruck vollendeter männlicher Verdrängung verstanden werden. Das ist schon dadurch kenntlich, daß Faber über die „Feststellung" lachen muß „wie über eine Zote — " (ebd.). Insofern sie ursprünglich von Marcel kommt, wird dieser für Faber zu einer Art Daimon, der über Trug zur Wahrheit führt. Was und wie sein Spruch verdrängt, läßt sich auf dem Hintergrund der soweit dargelegten Zusammenhänge leicht erklären. Ist doch deutlich geworden, daß es vor allem Fabers eigener Körper ist, der sich seinem Ende und damit auch seiner Auflösung in Erde zuneigt. Ebenso ist deutlich geworden, wie dieser gleiche Körper geschlechtlicher Anfechtung um so sicherer erliegt, je mehr ihn Faber davor zu bewahren sucht. Die Zote, die Tod und Erde mit Frau identifiziert, projiziert also die eigene, aber uneingestandene Tendenz nach entropischer Totalvermischung einseitig auf das andere Geschlecht.
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b) Die Ausgrenzung der Frau als Inbegriff des Anderen Vergleichbar der Idee des Maxwell'schen Dämons steht der für Faber reizvolle, im Grund aber schlechte Witz Marcels für den verzweifelten Versuch, die entropische Auflösungstendenz hin zum alles homogenisierenden „Wärmetod" wieder zu entmischen. Bei diesem Versuch, sein System doch noch in differenzierter Uberschaubarkeit geschlossen zu halten, wird die Frau zur isolierbaren Quelle aller Entropie gemacht. Sie wird damit fortan für das Eine gehalten, in Ausgrenzung von dem das Funktionieren des eigenen Systems aufrechterhalten werden kann. Auf diesem Hintergrund erklärt sich, warum Faber unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Südamerika alles daran setzen muß, sich von Ivy zu trennen und sein vertrautes Anschlußsystem gegen sie abzudichten. Hierfür besonders bezeichnend ist der Streit mit ihr um seinen defekten Rasierapparat. Es ist ein Streit, in dem sein verzweifeltes Ringen um Restauration eines im Sinn des Technikers funktionierenden Techniksystems bei gleichzeitiger Lösung von jeglicher geschlechtlicher Partnerbindung seinen Gipfel findet: Ich hatte das Bedürfnis, mich zu rasieren, nicht weil ich's nötig hatte, sondern einfach so. Um nicht auf Ivy zu warten. Aber mein Apparat war kaputt; ich ging von Steckdose zu Steckdose — er summte nicht. (S. 63)
Wir wissen, daß im unmittelbar vorausgegangenen Kampf um Durchsetzung des je eigenen Willens zur Macht Faber unterlegen ist. Auffallig war dabei nicht zuletzt die Tiermetaphorik, über die er die für ihn beschämende Niederlage eingestand. So mußte er sich trotz entschlossener Gegenwehr doch noch von dem „Hummer", den Ivy zu seinem Empfang im Eisschrank bereithielt, in die Knie zwingen lassen (vgl. S. 59, 62). Und Ivy kostet mit für ihn demütigendem Necken ihren Triumph aus wie eine „Katze", die mit der bereits geschnappten „Maus" noch spielt (vgl. S. 62). Außerdem ist in diesem Zusammenhang auch Ivys Lust zu beißen zu erwähnen, der keinerlei Vorschub zu leisten Faber — freilich vergeblich — äußerst bemüht war (vgl. S. 58). Von daher gesehen muß sein plötzlich verspürter Drang zur Rasur als Reaktion auf ihre Verführungsgewalt über ihn verstanden werden, die er wie eine Bedrohung von lauernden Raubtieren empfindet. Seine trotzige Wendung weg von der Frau hin zum Rasierapparat erklärt sich also als Konsequenz des verzweifelten Versuchs, dem Urkreislauf von Fressen und Gefressenwerden nochmals zu entkommen, um sich wieder mit dem Kreislauf zu umschließen, der ihm sicheres Schalten und Walten verspricht. Diesen Stromkreislauf will er mit seinem Rasierapparat anzapfen, nachdem er sich in jenen anderen mit der unmittelbar vor-
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angegangenen Vermischung der Körper unwillkürlich neu hineingezogen fühlte. Doch die Hoffnung, nach seiner Schwäche in der intimen Nähe zu Ivy wieder die Verfügungsgewalt über den wohldosierten Strom aus der Steckdose zu erlangen und damit gleichzeitig die Frau auszugrenzen, erfüllt sich nicht. Wie ein Tier die Marken seines Reviers schreitet Faber die Steckdosen seiner Wohnung ab, um die Intaktheit der Verteidigungslinien seines Anspruchs auf eine eigene Welt zu prüfen und zu sichern — aber vergeblich. Das gewünschte feed back, das Summen seines Apparätchens, das er dem herausfordernden Summen seines geschlechtlichen Widerparts — zuvor hatte es geheißen „Ivy summte. Wie zum Hohn." (S. 62) — entgegensetzen wollte, ist einfach nicht zu erhalten. Im Nichtfunktionieren des Rasierapparats verweist die unterbrochene Stromzufuhr der Homo-faber-Welt wieder einmal auf den großen, alles Leben ursprünglich ermöglichenden sowie jeweils begrenzenden Strom der Natur zurück. Wenn Faber daraufhin darangeht, seinen Rasierapparat um jeden Preis zu reparieren, während die Frau ungeduldig auf ihn wartet, so ist er damit wieder um die Reorganisation seines vermeintlich abschließbaren Techniksystems bemüht. Im Sinn der Idee des Maxwell'schen Dämons glaubt er immer noch, bei entsprechender Informations- und Sortierarbeit alles wieder in seinem Sinn lösen zu können. So hebt er bei der Erläuterung seines Verhaltens vor allem auf die Bedeutung des Zerlegens und Wissens ab: „Jeder Apparat kann einmal versagen; es macht mich nur nervös, solange ich nicht weiß, warum" (S. 63). Also geht er daran, der über „Technology" spottenden Ivy zum Trotz „das Apparätchen vollkommen zu zerlegen; ich wollte wissen, was los ist" (S. 63). Am Ende seiner Zerlegearbeit findet Faber einen Nylonfaden, der sich in dem kleinen Apparat verheddert hat. Nun scheint es nichts mehr zu geben, was er noch wissen müßte. So fühlt er sich sicher genug, mit Ivy, wie ursprünglich geplant, ins Kino zu gehen, als der Anruf von der CGT kam, derselbe vermutlich, den ich vor einer Stunde zwar gehört, aber nicht hatte abnehmen können, ein immerhin entscheidender Anruf: Mein Schiffplatz nach Europa könne nur gebucht werden, wenn ich sofort, spätestens bis zweiundzwanzig Uhr, mit meinem Paß vorbeikomme. (S. 63)
Das übergreifende Kommunikationsnetz der modernen Technik überrascht Faber mit einer völlig unerwarteten Meldung, kaum daß er es wieder bis ins letzte überschaubar gemacht zu haben glaubte. Und hatte er sich damit erhofft, die intime Nähe Ivys, in der er die eigene Nähe zu Tod und Erde fürchtet, wieder auf sichere Distanz gebracht zu haben, so ergibt sich auch hier eine tragisch ironische Verkehrung.
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Denn es stellt sich heraus, daß er mit seinem technischen Reparatureifer lediglich die Voraussetzungen geschaffen hat, sich zu einer anderen Frau rufen zu lassen, mit der er durch natürliche Bande in einem Bezug steht, der enger nicht sein könnte: Hätte ich das Apparätchen nicht zerlegt, so hätte mich jener Anruf nicht mehr erreicht, das heißt, meine Schiffreise wäre nicht zustande gekommen, jedenfalls nicht mit dem Schiff, das Sabeth benutzte, und wir wären einander nie auf der Welt begegnet, meine Tochter und ich. (S. 63 f.)
c) Die besondere Stellung der Tochter zwischen Ausgrenzung und Vereinnahmung Es ist deutlich geworden, daß sich Faber in der Flucht vor der Frau dem Urkreislauf von Geburt, Eros und Tod als dem ganz Anderen zu entziehen versucht. Dabei muß diese Fluchthaltung umso drastischere Formen annehmen, je mehr alles in ihm und außer ihm auf den nahen Tod zutreibt. In keiner anderen Frau aber könnte ihm der Urzusammenhang von Geburt, Eros und Tod sinnfälliger vergegenwärtigt werden als gerade in Sabeth, mit der ihn die immer weiter ins Offene führende Systemvernetzung der Technik zusammentreffen läßt. Denn sie ist nicht nur das andere Geschlecht, mit dem sich Faber auf keinen Fall mehr vermischen will, sondern auch sein Kind. Nachkommenschaft zu haben, hat er aber schon immer abgelehnt, weil sie wie die geschlechtliche Beziehung an die natürliche Endlichkeit des eigenen Daseins erinnert. Bezeichnenderweise zerbrach die einzig engere zwischengeschlechtliche Partnerschaft, die Faber in seiner Jugend mit Hanna verband, als das Kind auf dem Weg war. Faber müßte also Sabeth, in der sich für ihn die Aspekte des Urkreislaufs in höchst verdichteter Weise verkörpern, mehr noch als jede andere Frau meiden. Von daher ist verständlich, daß er, als er sie zum ersten Mal küßt, vor ihr zurückschaudert. Für einen Augenblick glaubt er sich allein mit dem Tod in leibhaftiger Gestalt. Dem Gefürchteten so nahe gekommen zu sein, macht ihn sprachlos: Als wir wieder allein standen, die letzten auf dem nassen Deck, und als Sabeth mich fragte, ob ich's wirklich im Ernst meine, küßte ich sie auf die Stirn, dann auf ihre kalten und zitternden Augenlider, sie schlotterte am ganzen Leib, dann auf ihren Mund, wobei ich erschrak. Sie war mir fremder als je ein Mädchen. Ihr halboffener Mund, es war unmöglich; ich küßte die Tränennässe aus ihren Augenhöhlen, zu sagen gab es nichts, es war unmöglich. (S. 95)
In seiner Sprachlosigkeit bekommt Faber die Übermacht der Natur zu spüren, in deren Netz totaler Beziehungszusammenhänge er sich in der intimen Nähe zu Sabeth mehr denn je verfangen hat. Dennoch hat er selbst alles getan, diese intime Nähe Zustandekommen zu lassen.
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Denn Sabeth hat ihm das offene Beziehungssystem der Naturtotalität zunächst in solcher Weise präsentiert, wie es dem utopischen Totalitätsversprechen der modernen technischen Systemvernetzung entspricht. Wie „seine" Technik scheint ihm auch Sabeth auf den ersten Blick eine Welt zu verkörpern, die vollständig beherrschbar ist, insofern sie der Homo faber selbst „gemacht" hat. Unter diesem Aspekt begegnet sie ihm als die „ideale" Partnerin, um seine Illusion, das Andere als das Eigene vereinnahmen zu können, aufrechtzuerhalten. Es steht zu vermuten, daß hier der Schlüssel zur Erklärung der gleichsam magischen Attraktion zu finden ist, mit der sich Faber zu Sabeth seit dem ersten Blick auf sie hingezogen fühlt. Dieser Schluß wird an der besonderen Weise, wie Vater und Tochter während der Atlantiküberquerung aufeinander ansprechen, zu überprüfen sein. Auf dem Schiff, auf das sich Faber zunächst über Telefon und schließlich von Sirenen (vgl. S. 68) rufen ließ, wird ihm bald seine Tochter, von deren Existenz er noch gar nichts weiß, vor-gestellt: — Vor mir: ein junges Mädchen in schwarzer Cowboy-Hose, kaum kleiner als ich, Engländerin oder Skandinavierin, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihren blonden oder rötlichen Roßschwanz, der bei jeder Bewegung ihres Kopfes baumelte. Natürlich blickte man sich um, ob man jemand kennt; es hätte ja sein können. Ich hoffte wirklich auf Männertisch. Das Mädchen bemerkte ich bloß, weil ihr Roßschwanz vor meinem Gesicht baumelte, mindestens eine halbe Stunde lang. Ihr Gesicht, wie gesagt, sah ich nicht. Ich versuchte, das Gesicht zu erraten. (S. 70)
Gleich nach der Ausfahrt und schon von der Rückenansicht her findet Faber seine Tochter sicher heraus. Spontan angesprochen versucht er, das ihm noch unbekannte Mädchen in Gedanken zu erfassen. Ihre gleichwohl immer nur von hinten erblickte Erscheinung nimmt er ganz in sich auf und malt sie sich in unwillkürlichem Phantasiespiel vollständig aus. Zuerst ist es Sabeths Roßschwanz, der Fabers ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Eindruck seines unentwegten Baumeins wird die innere Beschäftigung mit ihr fortan als Leitmotiv durchziehen. Diese für Faber eindrucksvoll fortschwingende Bewegung dürfte die Unbändigkeit des natürlichen Lebensstroms symbolisieren, über den er sich in seiner eigenen, immerzu auf Naturbeherrschung und Sicherheit bedachten Lebensgestaltung stets zu erheben versuchte. In diese Interpretation fügt sich auch Sabeths „Unbefangenheit" ein, die Faber ,immer ein Rätsel blieb' (S. 82). Unfaßlich ist ihm ihre .unbeschriebene Zukunft' (S. 88). Er staunt über „ihre Hauptsorge in diesen Tagen", die sich damit bescheidet, „ein billiges Hotel in Paris zu finden" (S. 82). Sabeths gespannte Freude auf das noch Offene, das das Leben ihr bringen wird, ist etwas, dem Faber in seinem eigenen Leben nie
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stattgegeben hat. Allerdings beginnt er dies erst jetzt in der unverhofften Begegnung mit seiner Tochter auch als Verlust zu empfinden. So verwandelt sich sein Staunen über das ihm bislang Unbekannte bald in Eifersucht: Ich achtete drauf, was sich Sabeth eigentlich von der Zukunft versprach, und stellte fest: sie weiß es selbst nicht, aber sie freut sich einfach. Hatte ich von der Zukunft etwas zu erwarten, was ich nicht schon kenne? Für Sabeth war alles ganz anders. Sie freute sich auf Tivoli, auf Mama, auf das Frühstück, auf die Zukunft, wenn sie einmal Kinder haben wird, auf ihren Geburtstag, auf eine Schallplatte, auf Bestimmtes und v o r allem Unbestimmtes: auf alles, was noch nicht ist. Das machte mich eifersüchtig, mag sein. (S. 109)
Allerdings leidet Sabeth auch an einer einschneidenden Defizienzerfahrung. Schon ihr existentialistisches Auftreten, ihre schwarze Kleidung, ihr Rauchen, was Faber alles beim ersten Blick auf sie aufmerksam registriert, (vgl. S. 70), deutet darauf hin. Sie ist ein vaterlos aufgewachsenes Kind und sucht folglich den Vater. So vermag sie auch überaus einfühlsam auf ihn einzugehen, ohne freilich wissen zu können, daß er es ist. Lernwillig hört sie seinen Ausführungen über Elektrizität, Entropie, den Maxwell'schen Dämon und Kybernetik zu, während er glücklich ist, einmal ein weibliches Wesen gefunden zu haben, dem er davon erzählen kann (vgl. S. 74 f.). Besonders deutlich wird Sabeths Einfühlungsvermögen für ihren Vater bei folgendem Ereignis: Als er im angetrunkenen Zustand beim Radiohören in der Bar unwillkürlich von der Auffindung seines toten Freundes erzählen muß, dabei auch erstmals die Traumatik dieses Erlebnisses zum Ausdruck bringt und schließlich aus der Rolle zu fallen beginnt, federt sie ihn behutsam ab. Seinen umgefallenen Barhocker stellt sie wieder auf und möchte ihn fürsorglich zu seiner Kabine begleiten (vgl. S. 84 f.). In ihrer Fähigkeit, Faber immer besser zu begreifen, entwickelt sich Sabeth zum nahezu perfekten Spiegel der väterlichen Technikerleidenschaft. Mit der Bitte, sich von ihm den Maschinenraum des Schiffes zeigen zu lassen, kommt sie seinem alten Bedürfnis entgegen, die Welt als abgeschlossenes, überschau- und beherrschbares System zu verstehen und vorzuführen. Befriedigt kann Faber feststellen: A m meisten imponierten ihr die vielen Röhren, gleichgültig wozu sie dienten, und der große Treppenschacht, Blick durch fünf oder sechs Stockwerke hinauf in den vergitterten Himmel. (S. 86)
Zum einen verweist Sabeth ihren Vater auf die Welt in ihrer unerschöpflichen Offenheit, die mit einer Fülle immer wieder neuer und aufregender Erfahrungen aufwartet. Zum anderen vermag sie aber auch seiner alten Sehnsucht nach einer in sich geschlossenen Ich-Welt-Tota-
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lität zu entsprechen. Auch wenn sich Faber über ihre ganz andere Einstellung zum Leben nicht genug wundern kann, bleibt sie doch immer auf ihn bezogen. Ganz wie es seinem Bedürfnis entspricht, hört sie ihm zu und nimmt auf ihn Rücksicht. So scheint letztlich sie es zu sein, die seine an die moderne Technik geknüpften Erwartungen vollkommen einzulösen vermag. Wie nichts und niemand anders ist gerade sie, die sofort herausgefundene, aber nicht bewußt angenommene Tochter, dazu prädestiniert, ihm das Andere als erotisch belebenden Reiz zu vermitteln und sich gleichzeitig doch auch als das vermeintlich steuerbare Eigene anzubieten. So läßt sich er, der alternde Techniker, der schon seit einiger Zeit „seine" Technik nicht mehr fest im Griff hat, dazu hinreißen, nach dem blutjungen „Ding" zu greifen, als sei sie das Steuerrad seines Studebakers: Ich wollte das Mädchen nicht anfassen. Plötzlich kam ich mir senil vor — Ich faßte ihre beiden Hüften, als ihr Fuß vergeblich nach der untersten Sprosse einer Eisenleiter suchte, und hob sie kurzerhand auf den Boden. Ihre Hüften waren merkwürdig leicht, zugleich stark, anzufassen wie das Steuerrad meines Studebakers, graziös, im Durchmesser genau so — (S. 87)
Schon hier beim ersten unwillkürlichen Körperkontakt zwischen Faber und Sabeth ist auch der Tod mit von der Partie. Plötzlich kommt sich Faber senil vor. Zumindest für einen Augenblick ist ihm völlig klar, daß er hier mit dem ersten handfesten Griff, das Mädchen als Geliebte zu vereinnahmen, ein natürliches Tabu bricht. Dennoch kann er nicht umhin, es doch zu tun. Denn mehr denn je bedarf er, der ans Ende seiner Tage gelangt ist, des schönen Trugbilds einer einheitsvollen Totalität von Ich und Welt. Und tragischerweise kann ihm das nichts und niemand besser vorspiegeln als gerade die sprühende Jugend, die vorbehaltlose Lebensoffenheit und das besondere Einfühlungsvermögen seiner ihn suchenden Tochter. Daß die Blüte ihrer Jugend und sensible Lebensoffenheit von einem Moribunden ausgenützt und zugrundegerichtet, daß ihr hier im Schiffsbauch im Grunde wie von einem eingeschlichenen Raubfisch aufgelauert wird, muß Sabeth intuitiv erfaßt haben. Das letzte, was Faber vom gemeinsamen Maschinenraumabenteuer zu berichten hat, ist der Abbruch der Verständigung im tosenden Lärm der Maschinen und nackte Angst. Sabeth scheint zu befürchten, daß trotz aller Nieten und Verstrebungen, auf die sie Faber immer wieder hinzuweisen versucht, Haifische eindringen könnten: Hinweis auf den beträchtlichen Wasserdruck, den diese Konstruktion auszuhalten hat, war schon wieder zuviel — ihre kindliche Fantasie schon draußen bei den Fischen, während ich auf die Konstruktion zeigte. Hier! rief ich und nahm ihre Hand, legte sie auf die Siebzigmillimeter-Niete, damit sie verstand, was ich erklärte. Haifische?
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Ich verstand kein anderes Wort. Wieso Haifische? Ich schrie zurück: Weiß ich nicht! und zeigte auf die Konstruktion, ihre Augen starrten. (S. 87)
Sabeth spürt, daß sie in ein gefährliches Fahrwasser geraten ist. Doch selbst fehlt ihr jegliche Möglichkeit, sich davon zu befreien. Denn die überstarke Sogwirkung, die von Faber auf sie ausgeht, ist die des vermißten Vaters, was sie aber nicht wissen kann. Dagegen hätte Faber die Möglichkeit gehabt, sich schon früh darüber im klaren zu werden, wem er in Sabeth begegnet ist. Immer wieder erinnert sie ihn an Hanna (vgl. S. 78 ff.), die er gerade zu der Zeit verließ, als sie ein Kind von ihm erwartete. Noch wäre Gelegenheit gewesen, der schon seinerzeit verweigerten Vaterrolle spät noch gerecht zu werden. Die konfuse Suche des vaterlosen Mädchens, das im Mann den Vater und im Vater den Mann sucht, wäre zu korrigieren gewesen. Faber hätte das Verhältnis seiner Tochter mit dem jungen Schweizer begünstigen können, der sie vor der Begegnung mit ihm begleitete und von dem sie auf dem Sterbebett wieder reden wird (vgl. S. 153). Er war „Künstler, aber tüchtig" (S. 82), wie der eifersüchtige Vater zugeben muß. Auch konnte er sich kaufmännisch unterhalten, doch skrupellos zu sein, lag ihm fern (vgl. ebd.). All dies sieht Faber noch. Dennoch gibt er keine Ruhe, bis er, der Todgeweihte, das junge Mädchen ganz auf seine Seite gezogen hat und in schnödem Triumph feststellen kann: „Sie verabschiedete ihren Freund, der eine saure Miene machte, und setzte sich neben mich" (S. 94). Es wäre hohe, aber eben doch noch Zeit gewesen, Sabeth als sein Kind anzunehmen, ihrem Verhältnis zu dem jungen Landsmann nicht im Weg zu stehen und sich selbst zu ihrer Mutter als seiner eigentlichen Frau zu bekennen. Doch von dieser Näheres zu hören, sträubt er sich mit der gleichen Vehemenz, mit der er jenen als Rivalen ausbootete: Betreffend ihre Mama: W i r rupften unsere Artischocken, tauchten Blatt um Blatt in die Mayonnaise und zogen's durch unsere Zähne, Blatt um Blatt, während ich einiges von der gescheiten Dame erfuhr, die ihre Mama ist. Ich war nicht sehr neugierig, offen gestanden, da ich intellektuelle Damen nicht mag. Ich erfuhr: sie hat eigentlich nicht Archäologie studiert, sondern Philologie; sie arbeitet aber in einem Archäologischen Institut, sie muß ja Geld verdienen, weil von Herrn Piper getrennt — ich wartete, mein Glas in der Hand, um anzustoßen; Herr Piper interessierte mich schon gar nicht, ein Mann, der aus Überzeugung in Ostdeutschland lebt. Ich hob mein Glas und unterbrach: Prosit! und w i r tranken... (S. 112)
d) Inzest als tragische Konsequenz Was Faber also anstrebt, ist eine exklusive Beziehung zu Sabeth, wie er sie einst mit der Technik zu haben glaubte. Von daher gesehen läßt sich auch das Weltverhältnis des modernen technischen Menschen ge-
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mäß Frischs eigenem Kommentar (s. hier Einleitung) als latent inzestuös bestätigen. Aus besagten Gründen kann sich im Zusammensein mit Sabeth verführerischer denn je noch einmal die beseligende Hoffnung auf eine einheitsvolle, immerzu in sich kreisende und sich selbst genügende Totalität von Ich und Welt entzünden. Allerdings kann diese Hoffnung nur solange Bestand haben, wie das immer inniger werdende Verhältnis zwischen beiden nicht körperlich wird. Wird doch die Gefahr, dem größeren Kreislauf der Natur am Ende doch noch zu unterliegen, schon bei der ersten Berührung, geschweige denn beim ersten Kuß offenbar, wo Faber den Tod als ungewollten Partner mitspielen sieht. So ist es nur konsequent, daß er in seiner Exklusivbeziehung mit dem Mädchen nicht nur die Personen, die sie stören könnten, herauszuhalten versucht, sondern auch die Körperlichkeit. Hatte Faber schon in seiner technischen Welt eine erotische Totalbeziehung jenseits der Körperlichkeit zu leben versucht, so glaubt er dieses Ideal auch im Verhältnis zu Sabeth, dieser ihm zugewandten Kind-Frau, aufrechterhalten zu können. Dennoch kommt es zum Inzest, dem Inbegriff absolut regelloser Vermischung der Körper. Daß dies gerade ihm, dem Techniker, der stets auf die Organisation überschaubarer Verhältnisse ausgewesen ist, passieren mußte, kann Faber nicht verstehen. Dies bringt ihn zu der verzweifelten Frage „Was ist denn meine Schuld?" (S. 123), die er dem Bericht von der Inzestnacht und der zusammenfassenden Rückschau der Ereignisse, die dazu führten, voranstellt. Fabers verzweifelte Frage besteht zu Recht. In der Tat kann ihm ein absichtlicher Verstoß wider ein Tabu von Gesellschaft und Natur nicht vorgeworfen werden. Die körperliche Vereinigung mit dem Mädchen ist genau das, was er vermeiden wollte. Schuld im Sinne einer böswilligen Regelverletzung ist im „Homo faber" ebensowenig wie in der antiken Tragödie zu sehen. Vielmehr besteht Schuld hier wie dort in einer falschen Vorstellung von dem, was für einen Menschen machbar ist. Im Falle Fabers kann gezeigt werden, daß es die Welt der modernen Technik ist, die wie der Daimon einer Tragödie zur Hybris verführt hat, dieser Grundverfehlung des tragischen Helden im Sinne der Antike. Es kann aber auch gezeigt werden, daß dieselbe Technik ab einem bestimmten Punkt — auch dies analog dem göttlichen Dämon der griechischen Tragödie — die von ihr geweckten Erwartungen selbst wieder destruiert. So hätte Faber rechtzeitig noch Gelegenheit gehabt einzusehen, daß er zeit seiner Technikerkarriere einem Trugbild nachgerannt ist. Doch allzu lange versäumte er, grundsätzlich umzudenken. Daß er gegen alle sich zusehends verdichtenden Omina seinen Begriff
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von der technisch-menschlichen Ordnung als einem geschlossenen System aufrechtzuerhalten versucht, ist demzufolge der ihm persönlich zurechenbare Schuldanteil. Anhand von Fabers zusammenfassender Rückschau der Ereignisse, die zur absoluten Konfusion der Inzestnacht geführt haben, soll nun Schritt für Schritt die abgründige Dialektik seines verblendeten Verhaltens nachvollzogen werden. Sie besteht darin, daß er einerseits alles tut, in dem immer enger werdenden Verhältnis zu seiner Tochter sein System von einer nach seiner Vorstellung körperlosen Welt geschlossen zu halten, und tragischerweise gerade damit dem Zustandekommen einer absoluten Konfusion Vorschub leistet. Die völlige Verwirrung der Sinne und regellose Vermischung der Körper, wie sie in Avignon unter dem überwältigenden Eindruck einer überraschenden Mondfinsternis zustandegekommen ist, läßt sich also als Konsequenz und Widerlegung der lebensfeindlichen Selbstüberschätzung begreifen, eine lebbare körperlose Ordnung konstruieren zu können. Es ist eine durchgängige Zickzackstruktur von effektiv immer engerer Annäherung bei gleichzeitig immer gewollteren Distanzierungsversuchen, was die zusammenfassende Rückschau offenlegt. Faber beteuert, daß er dem Mädchen von vornherein klar gemacht habe, ein überzeugter Junggeselle zu sein (vgl. S. 123). Doch schon daß er darüber „offener mit ihr gesprochen" hat, „als es sonst meine Art ist" (ebd.), stellt eine unbeabsichtigte Intimität her. Dies führt schließlich zu einem Heiratsantrag, der das gerade erst bekräftigte Bekenntnis zu seinem Junggesellentum mit einem Schlag zurücknimmt. So will Faber seinen Heiratsantrag jedoch nicht verstanden wissen. Vielmehr erklärt er ihn für „Unsinn" (ebd.), worüber er und auch Sabeth sich schon immer im klaren gewesen seien und deshalb auch ganz vernünftig am Ende der Schiffsreise voneinander Abschied genommen hätten. In Anbetracht dieses vermeintlich so vernünftigen Verhaltens muß er dann allerdings zu der Frage kommen, die er nicht beantworten kann und zum Ausdruck seiner Fassungslosigkeit mit einem Ausrufezeichen versieht: „Warum habe ich sie in Paris gesucht!" Daß er sich zu dieser ursprünglich keineswegs beabsichtigten Suche zu seiner eigenen Überraschung hinreißen ließ, hätte Faber zu denken geben müssen. D o c h auch über das Störende dieses ganz und gar nicht in sein Schema passenden Fakts versucht er sich mit Nonchalance hinwegzusetzen. Ist er mit dem Mädchen doch lediglich in die Opéra gegangen. Danach haben sie gerade noch ein Eis gegessen, bevor er sie zu ihrem billigen Hotel bei Saint Germain brachte. Auch darin, daß er sich zuletzt mit ihr zur gemeinsamen Weiterreise verabredete, will Faber nichts Außergewöhnliches sehen. Schließlich wollte sie ja per
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Auto-Stop weiter, und er hatte gerade zufallig den Citroën von Williams, um auf Erholungsfahrt zu gehen. Sein ihm überaus lieb gewordenes Kind, zu dem er in körperlicher Hinsicht gleichwohl glaubhaft Distanz zu wahren versucht, ist Faber nun schon recht bedrohlich nahe gekommen. Nach wie vor hält er sich aber für den sich selbst bestimmenden Idealmenschen der Moderne, der den Gang der Dinge sicher im Griff hat. Wohl überlegt trifft er dann auch am ersten Abend ihrer Reise zu zweit das, wie er meint, passendste Übernachtungsarrangement: zwei Zimmer auf zwei verschiedenen Etagen des gleichen Hotels. Denn die Wahl zweier verschiedener Hotels ebenso wie die Wahl der gleichen Etage im gleichen Hotel hätte auf eine Absicht schließen lassen, die er nicht hatte (vgl. S. 124). Das vermeintlich unverfängliche Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, wie es sich Faber ausgeklügelt hat, wird jedoch von einem unvorhergesehenen größeren Gleichgewicht überholt und zunichte gemacht. Denn „es war die Nacht (13. V.) mit der Mondfinsternis, die uns überraschte; ich hatte keine Zeitung gelesen, und wir waren nicht darauf gefaßt" (S. 124). Mit dem Schrecken des Unvorbereiteten erblickt Faber, wie sich der Mond zu verdunkeln beginnt. Er erklärt: Die bloße Tatsache, daß drei Himmelskörper, Sonne und Erde und Mond, gelegentlich in einer Geraden liegen, was notwendigerweise eine Verdunkelung des Mondes verursacht, brachte mich aus der Ruhe. (S. 124)
Eine Mondfinsternis ist Ergebnis der großen natürlichen Bewegungen, die die Erde im regelmäßigen Turnus ganz exakt zwischen Sonne und Mond gelangen lassen. Überwältigt von dem Augenblick, da dies nun wieder eingetreten ist, begibt sich Faber Arm in Arm mit Sabeth auf die Aussichtsterrasse. Unwillkürlich eng zusammengerückt verfolgen sie gebannt das erregende Naturschauspiel. Was ihnen hier am nächtlichen Firmament vorgeführt wird, ist das Plastischwerden einer geballten und glühenden Körperlichkeit im Spannungsfeld übermächtiger Kräfte. Der Vollmond hört auf, lediglich als platte, heileuchtende Scheibe zu erscheinen. „Als Kugel, als Ball, als Körper" tritt er jetzt hervor, „eine ungeheure Masse im leeren All, orange" (S. 124). Im Angesicht des überwältigenden Kräftespiels, von dem sich der Himmelskörper für eine Stunde bewegt und durchglüht zeigt, kommt Faber zu einer für ihn ganz und gar ungewöhnlichen Reflexion. Er gibt es auf, die Himmelserscheinung lediglich wissenschaftlich zu erklären, und setzt sich schließlich auch mit dem unmittelbaren Sinneseindruck auseinander: Dabei war es, als bloßer Anblick, eher beklemmend, eine immerhin ungeheure Masse, die da im Raum schwebt, beziehungsweise saust, was die sachlich gerechtfertigte Vorstellung nahelegte, daß wir, die Erde, ebenso im Finstern schweben, beziehungsweise sausen. (S. 124)
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Im höchsten Maß erregt gelangt Faber zu dem Schluß, daß auch die Erde und ihre Bewohner, mithin auch er selbst, von Kräften dahingerissen werden, die mitnichten in den Griff zu bekommen sind. Erstmals hier bekennt er sich offen dazu, auch als moderner Mensch möglicherweise doch nicht der Herr der Dinge sein zu können. Erstmals hier zieht er das Walten eines Anderen, Größeren als er, in Betracht. Und erstmals hier, wenn auch noch „ganz allgemein" gibt er zu, daß nur unter Anerkennung des Todes die Erfahrung von Leben möglich ist 36 : Ich redete vom Tod und Leben, glaube ich, ganz allgemein, und wir waren beide aufgeregt, da wir noch nie eine dermaßen klare Mondfinsternis gesehen hatten, auch ich nicht. (S. 124 f.)
Dem Umstand, daß sich Faber erstmals offen zeigt, das ganz Andere wahrzunehmen, entspricht, daß sich erstmals auch Sabeth von ihm als das Andere, nämlich als Frau, verstanden fühlt: Das Mädchen fand damals (daran erinnere ich mich) zum ersten Mal, daß ich uns beide ernst nehme, und küßte mich wie nie vorher. (S. 124)
Der auf einmal nicht auf sich und seine vermeintliche männliche Überlegenheit bedachte Faber spricht in seinem Kind die Frau an. So bekommt er zu seiner Verwirrung auf einmal auch deutlich signalisiert, daß das Mädchen, das ich bisher für ein Kind hielt, in mich verliebt war. Jedenfalls war es das Mädchen, das in jener Nacht, nachdem wir bis zum Schlottern draußen gestanden hatten, in mein Zimmer kam — (S. 125)
Vergeblich waren all seine ach so ausgeklügelten Maßnahmen der Vorsicht. Ein mächtigeres Walten, dem alles Körperliche unterworfen ist und das aller abstrakten Planungs- und Konstruktionsbemühung des Homo faber Hohn spricht, fordert seinen Tribut. Im Strudel einer absoluten Verwirrung der Sinne werden Sabeths und Fabers Körper zusammengezwungen. Und es ist ein echt tragisches Paradox, daß es zum Kurzschluß des Inzests gerade dann kommen muß, wenn Faber sich erstmals, aber zu spät, dem Anderen als Anderen zu öffnen beginnt. e) Die vermeintliche Naturkatastrophe als tragisches Versagen des Menschen Erstmals in der Schicksalsnacht in Avignon zeigt sich Fabers konstantes Bemühen, das Andere immer nur als Spiegel seiner selbst zu betrachten oder auszugrenzen, elementar aufgebrochen. Auch auf der nachfolgenden Reise durch Italien begegnen wir einem Faber, der sich in ersten 36
Vgl. Frischs ähnlich lautende Äußerungen zum Tod, etwa im Tagebuch 1946 — 1949 (II, 499 f.) und in der Rede über den Tod von 1984 (VII, 8 2 - 9 2 , dort 92).
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Ansätzen in das Leben seiner neuen Geliebten, zu der ihm das eigene Kind werden mußte, einzufühlen beginnt. Wie nie zuvor kommt es zu einer wirklichen Teilhabe am Anderen als Anderen. Und so darf Faber mit Sabeth ein Glück erleben, wie er es bislang noch nicht gekannt hat: Unsere Reise durch Italien — ich kann nur sagen, daß ich glücklich gewesen bin, weil auch das Mädchen, glaube ich, glücklich gewesen ist trotz Altersunterschied. (S. 107)
Dennoch ist das gemeinsame Glück zu keinem Zeitpunkt ganz ungetrübt. Der klaffende Generationsabstand enthüllt sich als schmerzlicher, als es die erste Ankündigung „trotz Altersunterschied" zunächst vermuten läßt (vgl. S. 109 f.). Hinzu kommt, daß sich schließlich auch der Name Hannas zwischen die beiden schiebt — bezeichnenderweise auf einem Grabhügel. An diesem Ort, an dem das ungleiche Liebespaar nach einem Ausflug auf der Via Appia außerhalb Roms Rast macht, läßt sich Faber von Sabeth kunsthistorisch belehren. Dabei erkundigt er sich dann doch nach dem Vornamen ihrer Mutter und soweit wie möglich nach deren früherem Leben. Am Ende der hinreichenden Auskünfte muß er sich seinerseits die Frage gefallen lassen, wie jene denn damals war. Über sein wahres Verhältnis zu ihrer Mutter läßt Faber Sabeth jedoch im unklaren. Stattdessen gibt er ihr das Gefühl, daß nicht etwa ihre Mutter, sondern ihre eigenen früheren Liebhaber, der Professor in Yale und ihr Freund auf dem Schiff, der sie heiraten will, zwischen ihnen stünden (vgl. S. 120). Kaum daß sich Faber einmal bedingungslos geöffnet hat, ist er nun ganz zum Betrüger Hannas, Sabeths sowie auch seiner selbst geworden. Hanna, seine eigentliche Frau, betrügt er, indem er das gemeinsame Kind zu seiner Braut machen möchte. Kurz zuvor hatte er noch einmal bekräftigt: „Ich dachte an Heirat wie noch nie — " (S. 108). Die mißbrauchte jugendliche Offenheit Sabeths betrügt er darüber hinaus noch mit der enttäuschten Miene eines Liebhabers, der schmollt, weil er nicht der erste ist. Ausgerechnet er, der sich an seinem Kind vergangen hat, läßt sich von diesem wiederholt fragen: „Du findest mich schlimm?" (S. 121). Und sich selbst betrügt er mit abstrakter Rechenakrobatik. Mit Adam Riese versucht er sich weiszumachen, daß Sabeth sein Kind gar nicht sein könne (vgl. S. 121 f.). Aber in seinem ganzen Körpersystem ist unauslöschbar eine andere Information gespeichert. Von der Verblendung des Geistes läßt sich die unmittelbare Gewißheit des Körpers nichts vormachen. Am Ende des Tages, da der Name Hannas Erwähnung gefunden hat, verweigert der
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Körper die „von oben" kommende Fehlanzeige, sich wie normal auf eine entspannende Nachtruhe vorzubereiten: Ich stand, ohne mich auszuziehen. Wie ein Apparat, der die Information bekommt: Wasch dich! — aber nicht funktioniert. (S. 122)
Anschließend erscheint Sabeth vor der Zimmertür — jetzt aber nicht mehr als begehrende Frau, sondern als weinendes Kind, das Schutz und Hilfe sucht. Es hält sich an ihm, dem angekleideten Vater, fest und schläft ein, als er es zudeckt. Alarmzeichen verdichten sich. Das schlafende Mädchen klammert an seiner Krawatte, die damit zieht wie ein um den Hals gelegter Strick. Dazu ertönt der stündliche Glockenschlag einer nahen Kirche sowie gleichfalls die ganze Nacht hindurch das Aufheulen, Dröhnen und Quietschen eines immer neu auf Touren gebrachten Alfa Romeos. Bezeichnenderweise erinnert der zweite Namensteil des Autos, das hier wie zur Warnung lärmend um das Hotel kreist, an eine intensive, aber tödliche Liebe. Und eine Schlange ist sein Emblem. Zusehends impertinenter werden die Omina. Und immer verzweifelter sträubt sich Faber dagegen wahrzunehmen, was ihm die Stunde geschlagen hat. Er ist „nicht imstande, vorwärts zu denken" (S. 123). Zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem, was längst offenbare Wahrheit ist, kann er sich hier noch nicht durchringen. Beharrlicher denn je hält er an seinem tragisch verblendeten Verhalten fest, sich den warnenden Zeichen zu verschließen. Nach der anschließend nachgetragenen Inzestnacht, die unter der bereits beantworteten Leitfrage „Was ist denn meine Schuld?" geschildert wird, erfolgt der Passus, der mit „Dann das Wiedersehen mit Hanna" überschrieben ist (S. 125 ff.). Bis zuletzt hat Faber sein möglichstes getan, vor der immer bedrohlicher zum Vorschein kommenden Wahrheit die Augen zu schließen, daß die Frau, mit der er in Italien auf „Hochzeitsreise" (S. 113) ging, seine eigene Tochter und die Frau, zu der er eigentlich gehört, ihre Mutter Hanna ist. Jetzt muß er sie Wiedersehen, die er einst verließ, als das Kind sich ankündigte. In einem Krankenhauslabor wacht er auf und erblickt „Hanna mit weißen Haaren!" (S. 126). Der unmittelbare Sinneseindruck des Erwachenden verdeutlicht: Das Leben, das er mit Hanna versäumt hat, ist unwiderruflich dahin. Längst ist diese nicht mehr das Mädchen, das seine Freundin war, auch wenn er es in ihr zunächst noch zu erblicken versucht: „Ihre Gestalt: sportlich, geradezu mädchenhaft, wären nicht ihre grauen oder weißen Haare" (S. 126).
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Was Hanna, die gleich Faber vorzeitig gealtert ist, nun präsentiert, ist die ihm zukommende Schicksalsinstanz. Auch wenn sie nachfolgend zunächst einmal versöhnlicher erscheint, als er es zu hoffen wagt, so bestätigt sie der erste Eindruck doch eher als Schicksalsgöttin, die ihm die Augen öffnet und ihn richten wird: „Sie sagte kein Wort, sondern blickte mich nur an" (S. 126). Fortan wird ihn Hannas prüfender und drohender Blick verfolgen. Später beim Zusammensein in ihrer Wohnung wird es heißen: Ihr Blick — Man hätte meinen können, ich sei ein Gespenst, so blickte Hanna mich an, während ich von Rom rapportierte; ein Ungetüm mit dem Rüssel und mit Krallen, ein Monstrum, was Tee trinkt. Ich werde diesen Blick nie vergessen. Ihrerseits kein Wort - (S. 141)
Und er selbst wird sich dabei des Frevels, den er an Frau und Kind begangen hat 37 , allmählich bewußt werden, so etwa in folgender Reflexion: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn Sabeth aus dem Hospital kommt. Sabeth und Hanna und ich in einem Raum, beispielsweise in dieser Küche: — Hanna, die merkt, wie ich mich zusammennehmen muß, um nicht ihr Kind zu küssen oder wenigstens den Arm auf ihre Schulter zu legen, und Sabeth, die entdeckt, daß ich eigentlich (wie ein Schwindler, der seinen Ehering ausgezogen hat) zu Mama gehöre, obschon ich sie, Sabeth, um die Schulter halte. (S. 144 f.)
Aus den ersten Worten, die Faber und Hanna wechseln, ist zu entnehmen, daß Sabeth von einer Schlange gebissen wurde, daß er die Verletzte ins Krankenhaus brachte und daß für ihr Leben noch alle Hoffnung besteht. Dann beginnt für ihn das erste Verhör. Hanna führt es sachlich, aber bestimmt: „Wie ist das gekommen?" fragt sie. „Ihr seid heute in Korinth gewesen?" [...] „Wo hast du denn deine Jacke?" [...] „Seit wann seid ihr in Griechenland?" [...] „Was hast du gehabt mit dem Kind?" (S. 127)
Wie bereits im expositorischen Ausblick im ersten Kapitel dargelegt, verschweigt Faber fatalerweise zunächst, was zwischen ihm und dem 37
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß der Frevel an Frau und Kind in der griechischen Mythologie ein häufig wiederkehrendes Motiv ist; des weiteren, daß das mythologische Assoziationsfeld der jeweils ausdrücklich erwähnten Städtenamen auf der Strecke zwischen Korinth und Athen, die Faber mit der lebensgefahrlich verletzten Sabeth einmal hin (vgl. S. 129) und mit der Rechenschaft fordernden Hanna wieder her (vgl. S. 155) fährt, darauf anspielt: Megara trägt den Namen der ersten Frau des Herakles, der im Wahn sie und die gemeinsamen Kinder erschlug. Eleusis ist der Ort der berühmten Mysterien, denen als Mythos der Raub der Persephone durch Hades und die verzweifelte Suche der Demeter nach ihrer entführten Tochter zugrundeliegt. Daphni schließlich erinnert an die Nymphe Daphne, die vor der Nachstellung Apollons bei ihrer Mutter Gaia (der Erde) Zuflucht suchte und von ihr in einen Lorbeer verwandelt wurde, der seither Apollons heiliger Baum ist.
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Kind in dunkler Nacht geschehen ist, sowie daß es nun am Unglückstag im Angesicht seines alten, nackten Körpers die Flucht ergriff und eine Böschung hinunterstürzte. Der erste Unfallbericht ist dagegen so verfaßt, daß das erfragte Unglück ausschließlich im Schlangenbiß und Rettung ausschließlich im Serum zu sehen ist. Dies für Sabeth baldmöglichst zu bekommen, hat Faber, wie anzuerkennen ist, seine letzten Kräfte aufgebracht. So möchte er wieder einmal glauben machen, daß die ursprüngliche, noch unbearbeitete Natur, hier präsentiert durch die Giftschlange, als Quelle allen Übels anzusehen sei. Und ebenfalls wie gewohnt erscheint als Inbegriff aller Hoffnung der technische Fortschritt, dem in der Tat auch die Gewinnung von Schlangenserum zu danken ist. Bei genauer Betrachtung ist aber auch wieder zu beobachten, daß die bekannte Differenzierung des H o m o faber zwischen nur menschenfeindlicher Natur und nur menschenfreundlicher Technik hinfallig wird. Dies zeigt sich insbesondere an den Fahrzeugen, die Faber und Sabeth nach Athen bringen. Fabers erster Hilferuf, der sich an einen vorbeifahrenden Ford richtet, bleibt ungehört. Aufgenommen wird er mit seiner lebensgefährlich verletzten Tochter hingegen von einem archaischen Eselkarren, der Kies fahrt. Dabei ist es nicht zu ändern, daß dieser sein eigenes Tempo hat, das auch in der höchsten Not nicht zu steigern ist. Aber das hat auch der mit langen Eisenröhren beladene Lastwagen, bei dem Faber mit seinem Kind anschließend Zuflucht findet. Von der Fahrt auf dem Eselkarren berichtet er: E s schüttelte den Kies, so daß ich die Bewußtlose in den Armen tragen mußte weiterhin, und es schüttelte auch mich. Ich bat den Arbeiter geschwinder zu fahren. Der Esel gab nicht mehr Tempo als ein Fußgänger. (S. 128)
Ganz ähnlich heißt es von der Fahrt auf dem Lastwagen: Ich saß nun neben dem Fahrer, die Verunglückte auf meinen Armen. Das Scheppern der langen Röhren, dazu das mörderische Tempo; kaum dreißig Stundenkilometer auf gerader Strecke! (S. 129)
Was Faber hier wie dort vermittelt wird: Jeder trägt eine schwere Last und geht damit seinen vorgezeichneten Weg, auf dem er mit einer gewissen, allenfalls bescheiden zu modifizierenden Eigengesetzlichkeit dahin wackelt und scheppert. Schließlich sieht sich Faber, der seine Jacke mit Brieftasche am Strand zurückgelassen hat, gezwungen, dem Lastwagenfahrer seine OmegaUhr abzutreten, damit er nach Athen zu einem Krankenhaus weiterfährt. Auch hierin kann eine Handlung von abgründiger Symbolik gesehen werden. Faber muß seine Markenuhr abgeben, im Augenblick sein einzig noch verfügbares technisches Requisit. Denn seine Zeit ist ab-
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gelaufen. Er ist bei dem ihm bestimmten Endpunkt angelangt: bei Omega, dem letzten Buchstaben im griechischen Alphabet. Wahrheiten sind Wahrheiten, sie lassen sich nicht ändern. Es bleibt jedoch die Wahl, sie bewußt wahrzunehmen, sich konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen oder sich vor ihnen zu verschließen. Wie Faber allseits signalisiert wird, steht er nun vor der bitteren Wahrheit, daß die Welt — die technische wie die natürliche — in einem alten Rhythmus weiterfunktioniert, sein eigenes Leben aber zu Ende ist 38 . Indem er aber in seiner tragischen Verblendung nie auf den Gedanken kommt, mit dem technischen und natürlichen Lauf der Welt den lebbaren Ausgleich zu suchen, sondern diese Welt — abgesehen von sporadischen Einbrüchen in der Nachfolge des Erlebnisses von Avignon — immer nur dem eigenen Willen zu unterwerfen trachtet, gewinnt er nichts. Alles, was er dabei bewirkt, ist, daß er über alle Notwendigkeit hinaus auch noch seine Tochter mit in den Abgrund reißt. In diesem Sinn läßt sich die Katastrophe bei Korinth, die von höchstem Glück in tiefste Verzweiflung stürzte, erschließen. Das, was nach Fabers Bericht zunächst als Naturkatastrophe erscheint, wird sich damit als Ergebnis eines tragischen Versagens des Menschen herausstellen. Zunächst war alles noch wunderschön. Faber, dessen fixes Abschlußverhalten erstmals in Avignon einen elementaren Einbruch erfuhr, zieht es am letzten Abend zusammen mit Sabeth ins Offene wie noch nie. Als sich herausstellt, daß in Korinth kein Zimmer frei ist, macht er den Vorschlag, „einfach weiterzuwandern in die Nacht hinaus und unter einem Feigenbaum zu schlafen" (S. 150). Als Sabeth sofort begeistert ist, geht er, der es selbst noch kaum glauben kann, mit ihr wirklich los, hinaus ins Freie ohne Ahnung, wohin er uns führen wird, ein Saumpfad zwischen Felsen hinauf, steinig, staubig, daher im Mondlicht weiß wie Gips. Sabeth findet: Wie Schnee! Wir einigen uns: Wie Joghurt! Dazu die schwarzen Felsen über uns: Wie Kohle! finde ich, aber Sabeth findet wieder irgend etwas anderes, und so unterhalten wir uns auf dem Weg, der immer höher führt. (S. 150)
Hier draußen in der Stille der Nacht auf dem steilen Pfad, von dem sich die beiden beherzt ins Ungewisse führen lassen, lernt Faber, was er selbst für unmöglich gehalten hätte. Er, der sonst immer nur quantifizierende Naturbetrachtung gewohnt ist, übt sich mit Sabeth in einem Poesiespiel. Technisches wird dabei keineswegs ausgegrenzt. Vielmehr 38
Vgl. auch folgenden Wortwechsel zwischen Faber und Hanna: „Irgendeine Zukunft, fand ich, gibt es immer, die Welt ist noch niemals einfach stehengeblieben, das Leben geht weiter! ,Ja', sagt sie. ,Aber vielleicht ohne uns.' " (S. 159).
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wählt Faber die bildlichen Vergleiche zur Veranschaulichung der nunmehr intensiv erlebten Natureindrücke sogar vornehmlich aus dem Bereich der ihm vertrauten technischen Gebrauchswelt. Zu Sabeths Natur- und Kunstvergleichen bilden sie jedoch keinen unversöhnlichen Kontrast, sondern ein harmonisches Spannungsverhältnis. Der Streit oder das Spiel, das hierbei entsteht, ist seinerseits nicht ohne literarisches Vorbild, wie die Interpretation von Böschenstein zu bedenken gibt: Es findet eine Art Sänger- und Dichterwettstreit statt, ein Tauziehen, bei dem wir Zuschauer den Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite neigen, ohne einer den Sieg zu wünschen. In geziemendem Abstand darf man sich an jenes andere Liebespaar erinnern, das auf dem gleichen klassischen Boden mit Worten getändelt hat: als Faust der Helena den Reim beibringen wollte."
Auch das Gipfelerlebnis der aufgehenden Sonne, dem die beiden hoch oben auf dem Berg von Akrokorinth nach der durchwanderten und durchschlotterten Nacht in spannungsvoller Erwartung entgegenschauen, ist bei Böschenstein treffend beschrieben: Bei Sonnenaufgang gewinnt Faber einen letzten Punkt: „Wie der erste Anstich in einem Hochofen!", aber dann sieht er mit Sabeth das attische Meer, die rote Farbe der Äcker, die Oliven, wie sie der begeisterte, von der Schöpfung überwältigte Mensch immer gesehen und stammelnd begrüßt hat. 40
Zu ergänzen wäre hier noch, daß Sabeth in diesem Moment des Glücks Faber auch als ihren Vater erfaßt. Indem sie „mich umarmt, als habe ich ihr alles geschenkt, das Meer und die Sonne und alles" (S. 152), wendet sie sich in ihrem spontanen Gefühl in der Tat dem Mann zu, der ihr das Leben und damit auch die Möglichkeit geschenkt hat, alles, was hier in zauberhaftem Licht erstrahlt, zu erleben. Und auch ihm ist es, als sei ihm jetzt erst in seinem Kind, das selig beglückt singt, das mögliche Erlebnis der natürlichen Schönheit des Lebens in dieser Welt geoffenbart und geschenkt: „Und ich werde nie vergessen, wie Sabeth singt!" (ebd.), sind die letzten Worte seines Berichts von Akrokorinth. Aber nur kurz, allzu kurz, kann dieses Glückserlebnis dauern. Denn es kommt zu spät. Am Morgen nach der durchwachten Nacht auf Akrokorinth sind die beiden an einen schönen und einsamen Strand gefahren und dort eingeschlafen. Nachdem die Sonne den Zenit erreicht hat, wacht Faber auf, weil plötzlich in Schweiß, dazu die Mittagsstille, ich bin erschrocken, vielleicht weil ich irgendetwas geträumt oder gemeint habe, Schritte zu hören. Wir sind aber vollkommen allein. (S. 157)
39
40
Böschenstein, 125.
Ebd.
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Zu Mittag, der Geister- und Götterstunde antiker Naturreligionen 41 , schreckt Faber plötzlich auf. Zwar ist Mittagsstille, aber irgendetwas Alarmierendes glaubt er gehört zu haben. Bei näherer Überlegung, was es gewesen sein könnte, kommt er immer wieder auf Kies: Vielleicht habe ich den Kieskarren gehört, Schaufeln von Kies; ich sehe aber nichts, Sabeth schläft, und es ist kein Grund zum Erschrecken, ein gewöhnlicher Mittag, kaum eine Brandung, nur ein schwaches Zischeln von Wellen, die im Kies verlaufen, manchmal ein schwaches Rollen von Kies, geradezu Klingeln, sonst Stille, ab und zu eine Biene, (ebd.)
Die Natur, die im Hintergrund leise, aber unermüdlich arbeitet, ruft sich für Faber eindrucksvoller und bedrohlicher denn je in Erinnerung. Ihre Arbeit ist nicht zu ermessen, sondern setzt selbst allem und jedem das Maß. Noch den härtesten Stein bekommt sie mit der Zeit klein, spült und mahlt ihn zu Kies. Auf dem Hintergrund des Wellenspiels mit dem Kies und seiner dezent anklingenden Symbolik muß auch der Kieskarren, dessen noch unsichtbares Nahen der Aufgeschreckte zu vernehmen glaubt, eine ganz besondere Bedeutung gewinnen. Als spürte er den Leichenwagen seiner warten, hält sich Faber zur Flucht bereit: „Ich überlegte, ob Schwimmen vernünftig ist, wenn man Herzklopfen hat. Eine Weile stand ich unschlüssig" (S. 157). In seinem geschäftigen Reiseleben hat sich Faber nie darauf vorbereitet, daß eine Fahrt seine letzte sein wird. Jetzt, wo in der Stille der Mittagshitze die Wellen auf Kies wie zum Aufbruch zur letzten Reise leise klingeln, gerät er in Panik und läßt das Kind, mit dem er am frühen Morgen noch höchstes Glück erleben durfte, allein: „Sabeth merkte, daß niemand mehr neben ihr lag und reckte sich, ohne zu erwachen" (ebd.) Fast sieht es sogar so aus, als ob er sie dem Tod an seiner Statt anbieten wollte. Jedenfalls vollführt er unwillkürlich eine Handlung, die als symbolische Beerdigung aufgefaßt werden kann: „Ich streute Sand auf ihren Nacken, aber sie schlief. Schließlich ging ich schwimmen — " (ebd.). Als Sabeth dann von der Schlange in die Brust gebissen allein aufwacht und auf ihr Schreien Faber mit seinem alten, nackten Körper aus dem Meer auf sich zueilen sieht, muß es ihr spontan vorkommen, als steige zu ihr aus der Unterwelt der Todesgott auf. In dieser Grenzsituation dürfte sie ihn auch als den Mann erkannt haben, der ihr nicht nur das Leben geschenkt, sondern sich auch wider alle Regel in ihr Leben eingeschlichen und ihre offen gewesene Jugend mißbraucht und vernichtet hat. So weicht sie vor ihm zurück und stürzt die Böschung, 41
Vgl. Karl Schlechta, „Der antike Mittag", in: ders., Nietzsches Großer Mittag, Frankfurt a. M. 1954, 3 4 - 4 6 .
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„eine Mannshöhe" (S. 158), hinunter. Für Sabeth ist der Tod männlich — im Gegensatz zu dem schlechten Witz „la mort est femme", über den Faber einst lachen konnte (S. 69). Es entspricht Fabers spezifischer Verblendung, seinem Denken im geschlossenen System, daß er den Tod nur draußen bei der Frau oder in der freien Natur bei der Schlange sehen und sich selbst dagegen nur als Retter vorstellen kann. So erscheint es ihm als „Unsinn, daß sie vor mir, wo ich ihr nur helfen will, langsam zurückweicht" (S. 157 f.). „Das war das Unglück" (S. 158), wie er zu spät verlauten läßt — zu spät, um Sabeth nicht nur auf Schlangenbiß, sondern auch auf die unsichtbare Kopfverletzung behandeln zu lassen. Zusammenfassend läßt sich sagen: Daß Sabeth die rettenden Möglichkeiten des medizinisch technischen Fortschritts nicht im vollen Umfang zugute kommen konnten, ist nicht, wie es zunächst erscheinen mag, auf eine besondere Tücke der Natur zurückzuführen, sondern auf die tragische Verblendung des Menschen Walter Faber. In seiner Hybris hat er die mögliche Rettung für seine Tochter ebensowenig wahrgenommen wie das Fakt, daß für ihn selbst der Tod unumgänglich geworden ist. Sein unmöglicher Versuch, sich bis zum Schluß als unfehlbar und unsterblich zu behaupten, hat tragischerweise auch das noch möglich Gewesene verspielt.
5. Aspekte der Wandlung in der ,Zweiten Station' a) Das Erinnern von Vergessenem und die Konsequenz neuen Verhaltens Nach der Katastrophe in Griechenland mag Faber zunächst gehofft haben — dies Ausdruck seiner noch anhaltenden Verblendung —, wie gewohnt zu seinem Alltag zurückkehren zu können. Die erste Rückschau der ,Zweiten Station' zeigt ihn wieder in New York, wo er allerdings erfahren muß, daß ihm der Zugang zu seiner alten Wohnung verwehrt ist: Ich wohnte im Hotel Times Square. Mein Namensschild war noch an der Wohnung; aber Freddy, der doorman, wußte nichts von einem Schlüssel. Ivy hätte ihn abliefern sollen, ich klingelte an meiner eigenen Tür. Ich war ratlos. Alles offen: Office und Kino und Subway, bloß meine Wohnung nicht. (S. 162)
An sich ist in New York noch alles beim alten, aber nicht mehr für ihn. Hier in der modernen Weltmetropole, wo er sich bislang zuhause glaubte, sieht er sich plötzlich vor die Tür gesetzt. Manhattan, wo er
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in den elf Jahren seiner UNESCO-Tátigkeit gewohnt hat, besichtigt er nun als Fremder: Später auf ein Sightseeingboat, bloß um Zeit loszuwerden; die Wolkenkratzer wie Grabsteine (das habe ich schon immer gefunden), ich hörte mir den Lautsprecher an: Rockefeller Center, Empire State, United Nations und so weiter, als hätte ich nicht elf Jahre in diesem Manhattan gelebt, (ebd.)
Erstmals hier zu Beginn der ,Zweiten Station' gibt Faber zu verstehen, daß er sich von seiner gewohnten Umgebung entfremdet sieht. In Klammern merkt er hierzu noch an, daß ihm das Unheimliche an seiner kosmopolitischen Wahlheimat eigentlich immer schon aufgefallen ist: „Die Wolkenkratzer als Grabsteine (das habe ich schon immer gefunden)". Dabei gelten die modernen Turmbauten „Rockefeller Center, Empire State, United Nations", auf die im Besichtigungsboot hingewiesen wird, allgemein als Garanten für die wohlorganisierte Prosperität des modernen technischen Lebens. Sind sie doch der Sitz von Zentralen weltweiter wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit. Doch indem diese repräsentativen Gebäude der totalen Superstruktur aus einiger Distanz betrachtet als Grabsteine erscheinen, sind sie gleichzeitig Symbol dafür, daß zur Totalität des Lebens auch in der fortgeschrittensten Phase des technischen Zeitalters die Sterblichkeit gehört, mithin das Ganze der Welt niemals mit dem Selbstbehauptungswillen des Ichs in eins geschlossen werden kann. An diese andere Bedeutung der berühmten Skyline von Manhattan erinnert sich Faber allerdings erst jetzt, wo er seine Wohnung, „zwei Zimmer mit Dachgarten, einzigartige Lage" (S. 59) verloren hat und damit zu einem Fremden auf Besichtigungstour geworden ist. Als Fremder muß Faber sich auch vorkommen, wenn er „die übliche Saturday-party draußen bei Williams" (S. 161) besucht. Dabei stellt sich heraus, daß die exklusive Makrofamilie, an die er immer Anschluß suchte, ihm mitnichten den Boden und Halt einer wirklichen Heimat gewährt hat. Die Mitteilung von Trauer und Leid wäre, wie er spürt, im Hause Williams' fehl am Platz: Die übliche Umhersteherei — Roman Holidays, oh, how marvellous! Ich habe niemand gesagt, daß meine Tochter gestorben ist, denn niemand weiß, daß es diese Tochter je gegeben hat, und ich trage auch keine Trauer im Knopfloch, denn ich will nicht, daß sie mich fragen, denn es geht sie ja alle nichts an. (S. 162)
Auch die kumpelhafte Ermunterung „Come on, Walter, another drink!" (ebd.), vermag nicht mehr darüber hinwegzutäuschen, daß das regelmäßige familiäre Zusammensein aller Mitglieder der Organisation im Grunde einen entwürdigenden Rollenzwang ausübt. Denn wer die Glanzrolle des erfolgreichen Optimisten nicht mehr zu spielen vermag,
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muß den Part der komischen Figur übernehmen, auf daß man sich schön amüsieren kann: Williams meint, ich müsse eine Rolle spielen, besser eine komische als keine. Man kann nicht einfach in der Ecke stehen und Mandeln essen, (ebd.)
Schließlich kommt es zum gebildeten Highbrow-Talk, der den ohnehin schon Unbehausten nun noch als ungebildeten Tölpel ausgrenzt: Fra Angelico, oh, I just love it! Alle verstehen mehr als ich — How did you enjoy the Masaccio-fresco? Ich weiß nicht, was reden — Semantics! You've never heard of semantics? Ich komme mir wie ein Idiot vor — (ebd.)
Die Frage nach dem Masaccio-Fresko könnte sich auf die „Vertreibung aus dem Paradies" beziehen. Von der „Semantik" dieses Motivs, dürfte Faber, der sich jetzt nicht mehr als „Macher", sondern als „Idiot" fühlt, zwischenzeitlich aber mehr verstanden haben als das sich enthusiastisch gebende Bildungsgerede. Denn die erschütternde Härte des Mythos, die aus dem Fresko spricht, hat gerade er, der darüber nicht reden kann, wieder ursprünglich, nämlich in seinem ureigenen Leben, neu durchlitten. Erneut kommt Faber jetzt dazu, eine Wahrheit ins Auge zu fassen, die er im Grunde zwar schon immer gewußt hat, über die er sich in der Zeit seiner beruflichen Erfolge aber zumeist hinwegzutäuschen vermochte. Analog seiner vorausgegangenen Wolkenkratzer/GrabsteinVision vergegenwärtigt er sich, daß er mit der Kommunikationsweise der exklusiven Makrofamilie, wie sie auf den Parties seines Chefs gepflegt wird, genau besehen noch nie zurechtgekommen ist: Ich habe diese Saturday-party eigentlich von jeher gehaßt. E s ist mir nicht gegeben, witzig zu sein. Aber deswegen brauche ich keine Hand auf meiner Schulter — (S. 163)
Faber geht erstmals bewußt auf Distanz zu denen, die er sich zum Vorbild genommen hatte. Der sich dabei abzeichnende Beginn einer eigenen Entwicklung darf allerdings nicht mit der Entwicklung im klassischen Roman verwechselt werden. Denn dort geht es in der Regel um einen jungen Helden, der mit einer ihm ursprünglichen Individualität, Spontaneität und Kreativität zum gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt und sich damit sinnvoll integrieren lernt. Der „Homo faber" dagegen hat eine scheinbar geglückte Synthese, wie sie noch die kühnsten Utopien herkömmlicher Romane übertrifft, bereits zum Hintergrund. Und wenn sich sein in die Jahre gekommener Held individuell zu entwickeln beginnt, so kommt es dabei zu keinem Lernprozeß, bei dem fortschreitend neues Wissen erworben würde. Vielmehr handelt es sich umgekehrt um einen spät eingeschlagenen Weg der Erschließung, auf dem bereits Gewußtes, das jedoch für lange Zeit überspielt, überblendet und vergessen war, allmählich offengelegt wird.
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Schließlich zieht Faber die überfällige Konsequenz. Ohne weiteres Aufheben und auch ohne daß dies noch von irgend jemand eigens bemerkt würde, verläßt er die übliche Saturday-Party auf Nimmerwiedersehen: Wenn man nicht mehr da ist, wird niemand es bemerken. Ich war schon nicht mehr da. Ich ging über den nächtlichen Times Square (zum letzten Mal, hoffe ich), um in einer öffentlichen Kabine nochmals meine Nummer einzustellen — ich verstehe heute noch nicht, wieso jemand abgenommen hat. (S. 163)
In dem knappen telefonischen Informationsaustausch, der sich nun anschließt, wird Faber vermittelt, daß wie mit der größten Selbstverständlichkeit jemand anders an seinen gewohnten Platz gerückt ist. Damit bekommt er — wieder einmal über ein technisches Kommunikationsmedium — bestätigt, daß seine gesellschaftlich definierte Identität, wie sie derzeit noch im Telefonbuch steht, in der Tat zerbrochen ist. Denn offensichtlich hat ein anderer seine vermeintlich ganz persönliche Nummer übernommen: Vielleicht eine falsche Nummer; ich nehme das riesige Manhattan-Buch, um meine Nummer nachzusehen, und versuche es nochmals. „Who's calling?" „Walter", sage ich. „Walter Faber." Es antwortet dieselbe Stimme wie vorher, so daß ich eine Weile verstumme; ich begreife nicht, (ebd.)
Am Ende bleibt Faber nichts anderes übrig als zu begreifen, daß die Rolle, die er im öffentlichen Leben spielte, nicht so unverwechselbar ist, daß für sie nicht längst ein anderer hätte gefunden werden können. Er fragt die Stimme, die am andern Ende der Leitung statt seiner antwortet: „Are you Walter Faber?" (S. 164). Was bleibt dem schwergebeutelten Mann, der nach seinem unauffälligen gesellschaftlichen Abgang zuletzt auch noch bereit ist, seinen Namen einem anderen zuzusprechen? Zunächst einmal nichts als das Wissen, nicht an den Schalthebeln der Welt zu sitzen. Es handelt sich dabei um eine Wahrheit, die auch ihm, dem vermeintlichen „Beherrscher der Natur" (S. 107) schon immer irgendwo klar war, die aber erst im Zerbrechen seiner Karriere umfassend und erschütternd offenbar wird. Die natürliche Folge ist, daß er nun ganz bewußt und entschlossen nach einer menschlichen Gemeinschaft jenseits aller geschäftlichen Strukturierung sucht. So faßt er auf seiner zweiten und letzten Dienstreise nach Caracas den Entschluß, Herbert wiederzusehen, denn „man hat nicht soviel Freunde" (S. 166). Zwar ist schon beim ersten Abstecher auf die Plantage der HenckeBrüder die Rede gewesen vom „Entschluß, eine Dienstreise einfach zu ändern und einen privaten Umweg über Guatemala zu machen, bloß um einen alten Jugendfreund wiederzusehen" (S. 33). Doch in Wirklichkeit ist es damals gar kein Entschluß gewesen, jedenfalls nicht im
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vollen Sinn des Wortes. Eine Faber selbst unbegreifliche Sogwirkung war zu beobachten, von der er sich aus seiner gewohnten Bahn ziehen ließ. Und als ihm die zunächst von Herbert, alsbald vor allem von Marcel geführte Urwaldfahrt immer unheimlicher wurde, versuchte er sie auf ihrer letzten Etappe systematisch zu hintertreiben, allerdings ohne Erfolg (vgl. S. 52). Jetzt liegen die Dinge anders. Faber überquert den Grenzfluß zwischen Mexiko und Guatemala nicht aufgrund von Umständen, denen er am Ende nichts mehr entgegenzusetzen weiß, sondern umgekehrt aufgrund einer persönlichen Entschlossenheit, mit der er sich mutig gegen die äußeren Widrigkeiten von Einsamkeit und Hochwasser durchsetzt: Dann allein mit Landrover — Ich rede mit Herbert. Ich rede mit Marcel. Ich bade im Rio Usumacinta, der sich verändert hat; er hat mehr Wasser, keine Bläschen auf dem Wasser, weil es rascher fließt, und es ist zweifelhaft, ob man jetzt noch mit einem Landrover durchkommt, ohne zu ersaufen — Es ist gegangen. (S. 166)
Als Faber bei Herbert anlangt, kommt es allerdings zu keiner befriedigenden Verständigung mehr. „Herbert war verändert" (ebd.), wie Faber feststellen muß. Wer sich aber wirklich geändert hat, ist er selbst. Faber befindet sich auf dem Weg einer späten Entfaltung des innersten Kerns seines Menschseins, während Herbert immer noch in den verinnerlichten, sublim bevormundenden Kategorien eines ganz vom Geschäft geprägten Familienlebens beziehungsweise der makrofamilialen Geschäftswelt denkt. Diese hat ihn allerdings schon längst abgeschrieben (vgl. S. 185), was sein starrsinniges Festhalten am Gewohnten, das sich gegen jede von außen kommende Veränderung mißtrauisch zeigt, umso absurder erscheinen läßt: „Mensch, was willst denn du hier?" Herbert meint, ich reise im Auftrag seiner Familie, beziehungsweise Firma, um ihn nach Düsseldorf zurückzuholen, und glaubt nicht, daß ich gekommen bin, bloß um ihn wiederzusehen, aber es ist so; man hat nicht soviel Freunde. (S. 166)
Faber will Herbert helfen, hat ihm Benzin mitgebracht, flickt ihm die Brille, berichtet ihm Aktuelles aus Deutschland und versucht ihm schließlich unter den schwierigsten Umständen den vernachlässigten Nash flott zu machen. Herbert erweist sich aber als unansprechbar. Versponnen in einer krampfhaft abgedichteten Welt bleibt er dem Entropieeffekt verfallen und verwahrlost. Dagegen läßt Faber sich davon diesmal „nicht anstecken" (S. 169). Gegen die entropische Lethargie hat er eine gewisse Immunität erlangt. Denn er ist auf dem Weg, die Natur als die große übergreifende Ordnung anzuerkennen. So besucht er auf seiner zweiten Urwaldfahrt auch die Ruinen der im Umgang mit der Naturordnung vorbildlichen, aber vergessenen Mayakultur mit voller Absicht (vgl. S. 165 f.), wäh-
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rend Herbert und er das erste Mal eher zufallig zu diesen abgelegenen Denkmälern „gerieten" (S. 42). Überhaupt macht es ihn „geradezu froh" (S. 165), noch einmal den Weg in den Urwald Mittelamerikas gefunden zu haben, dessen unaufhörliches Werden und Vergehen ihm dereinst unerträglich war. Zwar erscheint der große Rhythmus der Urnatur keineswegs beherrschbarer. Aber es hat sich herausgestellt, daß er in seiner Immergleichheit auch nicht hinters Licht führt im Gegensatz zu einer Technik, die gerade im Zustand ihrer höchsten Entwicklung umso sicherer auf die überwunden geglaubte Natur zurückverweist. Zu berücksichtigen ist aber auch, daß von den imaginären Reizen der modernen Technik eine zu große, gleichsam magische Anziehungskraft ausgeht, als daß ihnen aufgrund besserer Einsicht kurz und bündig entsagt werden könnte. Den alten Draht zu Herbert findet Faber, wenn er zum Abschluß ihres Zusammenseins wieder ganz den erhabenen Techniker mimt, der vermeintlich alles zuverlässig prüfen und steuern kann. Wo er nach erfolgreicher Reparatur im aufgebockten Nash noch einmal wie im kindlichen Allmachtsspiel schaltet und waltet, lebt Herbert auf, um den Verkehr zu regeln. Noch einmal inszenieren die großen Kinder der Technik das alte Spiel vom geschlossenen Kreislauf — in einer Umgebung, wo dieses Sehnsuchtsbild des modernen Menschen längst zerbrochen ist — und offenbaren damit deutlicher denn je seine Irrealität: Herbert als Verkehrspolizist, während ich in dem aufgebockten Wagen, um nochmals alles zu prüfen, am Steuer sitze und schalte, [...] ich schalte und gebe Vollgas, Leerlauf der Räder in der Luft, Herbert winkt: Stop! ich stoppe, ich hupe, Herbert winkt: Durchfahrt! Die Indios (es werden immer mehr) gaffen uns zu, ohne zu lachen, während wir blödeln, alle ganz stumm, geradezu andächtig, während wir (wozu eigentlich!) Stoßverkehr in Düsseldorf spielen — (S. 169)
b) Der analytische Schreibprozeß Fabers letzter großer Versuch, das im Zeitalter der modernen Technik vermeintlich realisierbare Ideal einer in sich geschlossenen Spiegelbeziehung von Ich und Welt zu behaupten, ist die Niederschrift des ersten Teils seines Berichts. Dazu kommt es in einer Situation völliger Vereinsamung in Caracas, seiner nächsten Reisestation. Dorthin ist er wieder gemäß Fahrplan weitergeflogen, nachdem er bei seinem Abstecher nach Guatemala mit Herbert nur noch in der „Blödelei" (S. 169) auf eine Wellenlänge gekommen war. Doch die Montage der Turbinen, die in der Hauptstadt Venezuelas auf ihn wartet, kann er bald nicht mehr leiten. Akute Magenbeschwerden nötigen ihn, zwei Wochen im Hotel zu liegen. Er versucht den Kontakt mit Hanna wieder aufzunehmen, entwirft mehrere Briefe an sie, weiß aber nicht, wo sie sich derzeit
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aufhält. Völlig auf sich selbst zurückgeworfen beginnt er seinen Bericht, „ohne denselben zu adressieren" (S. 170). Fabers Schreibsituation läßt sich mit der kritischen Ausgangssituation der analytischen Prozeßführung von König Ödipus vergleichen. Dieser antike „Macher" hatte dereinst mit seinem scharfsinnigen und schlagfertigen Verstand das Rätsel der Sphinx gelöst und damit Theben von deren Fluch befreit. Zum Dank hatte er die Hand der verwitweten Königin und damit auch die Herrschaft über die Stadt erlangt. Seine Regierung war eine Segenszeit, bis plötzlich die Pest ausbrach. Von der notleidenden Stadtgemeinschaft wird Ödipus zu erneutem durchgreifendem Handeln gedrängt: Auf, starker Held, errette unsre Stadt Und wahre deinen Ruhm! Noch feiert dich Das Land als Retter aus der alten Not, Doch wird dein Zepter bald vergessen sein, Wenn es vom Gipfel in den Abgrund führt. (V. 46 ff.; Buschor)
Ödipus wird zu verstehen gegeben, daß es um seine beherrschende Stellung bald geschehen sein wird, weiß er nicht schnelle Abhilfe. Mit dieser Krise einer bis dahin bilderbuchmäßig verlaufenen Karriere beginnt die Tragödie des Sophokles, die als das Paradigma ihrer Gattung gilt· Der in diesem Kapitel Schritt für Schritt interpretierte Handlungsverlauf des „Homo faber" ist da angelangt, wo auch die Stellung seines Helden so elementar in Frage gestellt ist, daß er sich zu einer groß angelegten Untersuchung gezwungen sieht. Am Tiefpunkt seiner Karriere ganz auf sich selbst zurückgeworfen, muß der noch bis vor kurzem höchst bewährte und angesehene UNESCO-Ingenieur eine nicht vorhergesehene Krisensituation erforschen, klären und nach Möglichkeit beheben. Allerdings bekommt Faber den Zwang zur Auseinandersetzung mit seiner unerwartet zustandegekommenen Not nicht von einer schwer in Mitleidenschaft gezogenen Öffentlichkeit zu spüren. Vielmehr verspürt er die Notwendigkeit, Rechenschaft abzulegen gegenüber Hanna, seiner im Stich gelassenen Jugendfreundin und schwer getroffenen Mutter seines Kindes. Die kritische Situation, die es für den Helden unserer Zeit zu meistern gilt, ist also ausschließlich privater Natur. Denn Hanna, mit der ins Reine zu kommen es ihn nunmehr innerlich drängt, kommt keine offizielle Richtfunktion zu. So kann es auch nicht wie im „König Ödipus" zur dramatischen Inszenierung einer Staatshandlung kommen. Stattdessen kommt es zur schreibenden Aufarbeitung des Geschehenen in der stillen Kammer eines einsamen Krankenbetts.
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Die Sphäre des Innerlichen und Privaten als der exklusive Raum, in dem die Konflikte letztlich ausgetragen werden, weist den „Homo faber" als Roman aus. Dem entspricht auch seine äußere Form als Bericht, in dem die analytische Prozeßführung ausschließlich in der erzählten Reflexion ausgetragen ist. Damit wird im Gegensatz zur antiken Tragödie das Zur-Sprache-Kommen eines sonst eher Sprachverdrossenen 42 zur eigentlichen Handlung. Doch die Zeitgestaltung, die sich dabei ergibt, sprengt die typische Form eines Berichts 43 , indem sie wieder ganz der analytischen Struktur der großen alten Tragödien entspricht. Speziell dieses Kipphänomen vom Romantypischen ins Tragödientypische, wie es für Fabers Schreibprozeß typisch ist, soll im folgenden plastisch werden. Für die in Caracas fallige Montage der Turbinen fallt Faber aus. Dafür montiert er seinen Bericht, der ihm schließlich zur analytischen Aufarbeitung seines gesamten Lebens wird. Denn was diesen besonderen Bericht schon äußerlich von einem gewöhnlichen Bericht abhebt, ist die berichtuntypische Montage aus Überblendung, Vorausdeutungen und Rückblenden. Völlig verwundern aber muß diese Sprengung der in hohem Maß standardisierten Berichtform durch Montagetechnik bei einem Zeitgenossen, der von Haus aus nicht etwa Künstler, sondern Ingenieur im Dienst der UNESCO ist. Denn bei diesem Beruf gehören das schematische und zügige Tippen, Absenden und Empfangen von Berichten zum Alltag. Nicht umsonst sind ein Aktenkoffer und die Hermes-Baby Fabers ständige Begleiter auf all seinen Dienstreisen. Zunächst einmal ist klarzustellen: Auch Fabers letzter Bericht, der schließlich zu seinem Vermächtnis wird und als solches die immanente Wirklichkeit dieses Romans konstituiert, beginnt im Stil eines gewöhnlichen Berichts. Allerdings zeigt sich bald, daß das übliche protokollarische Nacheinander nicht durchgehalten werden kann. Denn das zu Berichtende betrifft den Berichtenden existentiell. So zerfallt der „Olympian Viewpoint" des vermeintlich alles überschauenden Berichterstatters in ein Ineinander von eigenen Deutungsansätzen (Zufall vs. Schicksal), damit verbundenen Vorausdeutungen auf ein katastrophales Ende (die erste Erwähnung Sabeths ist auch schon die Ankündigung ihres Todes) und unwillkürliche Jugenderinnerungen (Rückblenden auf die Ausein42
43
Daß er als praktisch denkender und handelnder Mensch nicht gern mehr als unbedingt notwendig redet, macht Faber wiederholt deutlich; vgl. insb. S. 23 und S. 91. Der besonderen Zeitgestaltung im „Homo faber" sind in der Forschung bereits umfangreiche Darstellungen gewidmet: am ausführlichsten bei Geulen, 20 — 37 und 47 — 62. Die formale und gehaltliche Beziehbarkeit der Zeitstruktur im „Homo faber" auf die analytische Struktur der griechischen Tragödie, worauf im folgenden abgehoben werden soll, ist bislang allerdings noch nicht gesehen.
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andersetzung des jungen Faber mit seiner schwanger gewordenen Freundin). Hinzu kommen die Versuche, besonders Peinliches aus der unmittelbaren Vergangenheit auszulassen (letztes Urwalderlebnis, die Inzestnacht und Sabeths Flucht und Sturz im Angesicht des nackten Vaters), und der nachfolgende Zwang, das Übersprungene an besonders signifikanter Stelle nachtragen zu müssen. Aus der Zusammenschau dieser scheinbar chaotischen Auflösung des Erzählflusses ergibt sich gleichwohl eine einheitliche Bewegung. Was sich abzeichnet, ist die schrittweise Unterminierung einer Existenz, in der jeglichem Problem dank technischer Planung abgeholfen schien. Dabei wird der Techniker von der universalen Systemvernetzung seiner Technik mit Versäumnissen seiner Vergangenheit konfrontiert, die er dann zum Unglück aller nachzuholen versucht. In seiner Verblendung will er nicht sehen, daß seine Tochter nicht für die Lebensgemeinschaft mit deren Mutter einspringen kann. Gleichzeitig wird dabei deutlich, wie der Weg in die bevorstehende Katastrophe untergründig durch Vergangenes bestimmt wird. Damit aber vollzieht sich unter neuen Voraussetzungen die spezifische Zeitstruktur der großen alten Tragödien, wie sie insbesondere im „König Odipus" zu höchster Komplexität verwoben ist 44 . Denn auch dort erfolgt die dramatische Zuspitzung hin zum tragischen Ende des Helden über die Erschließung einer eklatanten, gleichwohl ungewollten Verletzung der göttlichen Allordnung. Außerdem ist es dem Helden bestimmt, alles selbst voranzutreiben und aufzudecken, was wiederum eine deutliche Parallele zum „Homo faber" ergibt. So kann der Machermensch dieses Romans erst im Schreiben seines Berichts dazu kommen, daß ihm die Augen aufgehen. Dies wird deutlich, wenn Faber unmittelbar nach seiner Schreiberfahrung in Caracas von einem Aufenthalt in Kuba berichtet, wo ihm „vier Tage nichts als Schauen" (S. 172) vergönnt sind. c) Das ekstatische Erleben erhellender Durchbrüche Für seine ursprünglich nicht vorgesehene Landung in Kuba gibt Faber eine einfache Erklärung. Er gibt an, daß er „keinesfalls über New York fliegen wollte" (S. 172). Nach der Niederschrift seines Berichts in Caracas ist er also mehr denn je entschlossen, seine gewohnten Bahnen zu verlassen. Dem entspricht auch, daß Kuba der erste Ort in der ,Zweiten Station' ist, an dem er zuvor noch nicht war. 44
Vgl. de Romilly, 108 ff.
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Die Niederschrift des ersten Berichtteils in Caracas war noch großangelegter, aber scheiternder Versuch, sich als Homo faber zu bestätigen. Dagegen ist Faber in Kuba einfach da, schaut und erlebt — überwältigt, hingerissen, ekstatisch. Das Ekstatische seines erlebenden Schauens kann dabei im ursprünglichen Wortsinn verstanden werden. Faber tritt plötzlich aus seinem bis dahin verfestigten Zustand heraus. Diese Ek-stasis sprengt seine Manie, jederzeit alles beherrschen zu wollen. Jetzt ist er glücklich, sich den Schwingungen des Lebendigen, wie sie das pulsierende Straßenleben von Havanna entfaltet, soweit wie möglich auszusetzen. Ein überschäumender Lebensstrom von schönen, impulsiven, elektrisierenden Menschen, kreolischen Mischlingen mit schwungvollem Gang, fliegenden Röcken, wehenden Haaren und blinkendem Schmuck die Mädchen, die Faber fassungslos bestaunt, ist das eine, was den abendlichen „Corso der Lebenden" (S. 178) in Havanna ausmacht. Hinzu kommt der funkelnde Glamour an diesem (noch) amerikanisierten Ort, das buntleuchtende Flimmern der Lichtreklamen. Doch dieses wird auf einmal als fatales Blendwerk erkannt: Illumination, am andern Morgen sieht man die leeren Gerüste, Klimbim, infantil, Reklame für Optimismus als Neon-Tapete v o r der Nacht und v o r dem Tod — (S. 176 f.)
Der gerade erst in Caracas verfaßte Bericht hat zur bösen Überraschung seines Verfassers die lebenszerstörerische Sinnwidrigkeit eines bedingungslosen Anrennens gegen die natürliche Endlichkeit des Daseins deutlich gemacht. In Kuba wird dieser verzweifelten Anstrengung abgeschworen. Unter tosenden Tiraden tobt Faber gegen eine Lebensform, die ihn, wie er nun mit der Luzidität des Todgeweihten sieht, in der Verdrängung des Todes auch vom wirklichen Leben abgeschnitten hat (vgl. S. 175 ff.). Erschöpft von diesem Ausbruch kann er dann erstmals vorbehaltlos den eigenen, schon deutlich vom Tod gezeichneten Körper sogar noch in seiner offensichtlich gewordenen Ohnmacht als lustvoll empfinden. Nach der Blamage mit zwei Damen, die der außergewöhnlich weitgehende „,service' " eines Taxifahrers vermittelt hat, bekennt der Erledigte ohne Scheu und Hader: Ich habe gewußt, daß es einmal so kommen wird, später liege ich in meinem Hotel — schlaflos, aber gelassen, es ist eine heiße Nacht, ab und zu dusche in meinen Körper, der mich verläßt, aber ich nehme kein Schlafpulver, mein K ö r p e r taugt gerade noch, um den Ventilator-Wind zu genießen, der hin und her schwenkt, Wind auf Brust, Wind auf Beine, Wind auf Brust. (S. 178)
Es bestätigt sich, daß der Tod hier auf der tropischen Insel bewußter denn je wahrgenommen wird. Doch gerade damit einher geht die „Lust, jetzt und hier zu sein — " (S. 174). Unübersehbare Hinweise auf die
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unabänderliche Sterblichkeit des Fleisches sind nun nicht mehr so sehr Anlaß zu panischer Fluchthaltung als Folie glühendster Hinwendung zum körperlichen Leben mit Haut und Haaren und Zähnen. So fühlt sich Faber zu einem siebenjährigen Negerjungen hingezogen, obgleich dieser nach einem Platzregen, der die Straßen leergefegt hat, „wie eine ersoffene Katze" aussieht und seine Haare nicht schwarz sind, sondern „eher grau wie Asche" (S. 175). Aber Faber faßt danach, spürt den kindlichen Schädel darunter, warm, wie wenn man einen geschorenen Pudel greift. Er grinst nur und putzt weiter — Ich liebe ihn. Seine Zähne — Seine junge Haut - (ebd.)
Die Begegnung mit dem kleinen, schwarzen Schuhputzer verhält sich spiegelbildlich zur Begegnung mit der schwarzen Putzerin in Houston, an die auch explizit erinnert wird: Seine Augen erinnern mich an Houston, Texas, an die putzende Negerin, die in der Toilette, als ich meinen Schweißanfall mit Schwindel hatte, neben mir kniete, das Weiß ihrer großen Augen, die überhaupt anders sind, schön wie Tier-Augen. Überhaupt ihr Fleisch! (S. 1 7 5 f.)
In Houston schreckte Faber noch vor der warmen, ihm zugewandten Körperlichkeit der Negerin zurück, denn sie präsentierte ihm auch den Tod. Jetzt im Kontakt mit dem Negerjungen sucht er selbst die Nähe einer lebendigen Körperlichkeit, gleichwohl auch diese an den Tod gemahnt. Man könnte hier vielleicht im Sinn Nietzsches von einem dionysischen Durchbruch zur tragischen Bejahung des Lebens sprechen, von der ekstatischen Einsicht, daß „das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei" 45 . Mit der Vermittlung dieser Wahrheit .entlässt uns' nach Nietzsche „jede wahre Tragödie" 46 . Die Wahrheit, die Faber in Kuba erfahrt und bejaht, ist keine, die in langem Diskurs belegt werden müßte. Jäh ist sie da — unmittelbar einsichtig, total erhellend, und sei es jeweils nur für einen Augenblick. Es ist Wahrheit als plötzliche Lichtung mit krachendem Schlag wie die Blitze, die den Kuba-Aufenthalt durchzucken: Licht der Blitze; nachher ist man wie blind, einen Augenblick lang hat man gesehen: die schwefelgrüne Palme im Sturm, Wolken, violett mit der bläulichen Schweißbrenner-Glut, das Meer, das flatternde Wellblech; der Hall von diesem flatternden Wellblech, meine kindliche Freude daran, meine Wollust — ich singe. (S. 175)
45
46
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. III, Bd. 1, Berlin 1972, 3 - 1 5 2 , dort 52. Ebd. Zum Thema s. auch Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, in: Nietzsche. Werke, Abt. VI, Bd. 3, 2 5 3 - 3 7 2 , dort 309 f.
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Der gewöhnlich distanzierte und wortkarge Praktiker singt nun sogar. Entsprechend ist hier wie an keiner andern Stelle die typische Berichtform gesprengt. Der protokollarische Erzählfluß ist nun gänzlich aufgebrochen zu einem lyrischen Stakkato höchst konzentrierter Augenblicksimpressionen. Vorbei ist es mit dem unseligen Versuch, die bisherige Lebensgestaltung, die in die Katastrophe führte, als richtig zu erweisen — jetzt erfolgt der „Entschluß, anders zu leben — " (S. 175). Es kommt ihm aber auch die Einsicht, daß das zuvor Geschehene und Erlebte nicht mehr rückgängig zu machen ist: A m andern Tag fuhr ich hinaus an den Strand, es war wolkenlos und heiß, Mittag mit schwacher Brandung: die auslaufenden Wellen, dann das Klirren im Kies, jeder Strand erinnert mich an Theodohori. Ich weine. (S. 176)
Faber weint. Der Entschluß, anders zu leben, wechselt in die elegische Klage: „Wenn man nochmals leben könnte" (S. 176). Auch weiß Faber, daß der wundervollen Lebensintensität, wie sie ihm hier in rauschhaften Augenblickserfahrungen gewährt wird, keine Dauer verliehen sein kann. Aber sie kann in Erinnerung behalten, das Andenken an sie gewahrt werden. Und der feste Entschluß, dies zu tun, markiert dann auch den eigentlichen Aufbruch zu einem neuen Leben. So heißt es gegen Ende des Kuba-Aufenthalts: „Ich wußte, daß ich alles, was ich sehe, verlassen werde, aber nicht vergessen" (S. 180). Es folgt ein abschließender Hymnus auf das in Kuba Geschaute. Der in seinem Homo-faber-Wahn Widerlegte und zur Erfahrung des Lebens Aufgebrochene hebt an zu trunkenem Gesang: Ich schaukle und trinke einen Scotch, einen einzigen, ich vertrage nichts mehr, ich schaukle und singe. Stundenlang. Ich singe! Ich kann ja nicht singen, aber niemand hört mich, das Droschkenpferd auf dem leeren Pflaster, die letzten Mädchen in ihren fliegenden Röcken, ihre braunen Beine, wenn die Röcke fliegen, ihr schwarzes Haar, das ebenfalls fliegt, und die grüne Jalousie, die sich losgerissen hat, ihr weißes Gelächter im Staub, und wie sie über das Pflaster rutscht, die grüne Jalousie, hinaus zum Meer, das Himbeer-Licht im Staub über der weißen Stadt in der Nacht, die Hitze, die Fahne v o n Cuba — (S. 181)
Der synästhetisch alle einströmenden Eindrücke vereinigende Hymnus gipfelt in einem dionysischen Preis des Lebens. Zu unmittelbarer Gegenwart erweckt er noch einmal das hier miterlebte Fest eines alles mitreißenden Tanzes und einer alles durchstimmenden Musik. Alles hat sich eingeschwungen in den Blütenwirbel der Natur, den die Technik mit Flöten begleitet: Ich schaukle und singe, nichts weiter, das Schaukeln der leeren Sessel neben mir, das flötende Gußeisen, die Wirbel von Blüten. Ich preise das Leben! (S. 181)
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In einem gleichwohl modernen Setting wird hier der untergründige Rhythmus der alten Tragödie wieder spürbar, die in ihrer ursprünglichen Form auf die Lebensfeier des Dionysoskults zurückgeht. Dem Durchbruch in Kuba zur Offenheit eines ekstatischen Schauens und Erlebens entspricht, daß Faber hier auch seiner Filmmanie abschwört: Ich filme nichts mehr. Wozu! Hanna hat recht: nachher muß man es sich als Film ansehen, wenn es nicht mehr da ist, und es vergeht ja doch alles — (S. 182)
Mit dieser Einsicht ist bereits das erschütternde Filmerlebnis von Düsseldorf, Fabers nächster Reisestation, antizipiert. Wie paralysiert muß er sich dort ansehen, was unwiderruflich nicht mehr da ist: Ihr Gesicht, das nie wieder da sein wird — [...] ihr Körper, den es nicht mehr gibt — [...] ihre Augen, die es nicht mehr gibt — [...] ihre Hände, die es nirgends mehr gibt, sie streichelt den Maulesel, ihre Arme, die es nirgends mehr gibt — [...] ihr Lachen, das ich nie wieder hören werde — [...] ihr hüpfender Gang. [...] Ihr Gesicht, ihr Gesicht — [...] ihr atmender Körper — (S. 188ff.)
Über das sekundäre Kommunikationsmedium des Films kann Faber im Vorführraum des Hencke-Bosch-Hauses das Lebendige zwar voll erfassen, tragischerweise aber erst jetzt, w o er es mit dem gleichen Medium, nämlich im A k t der Aufnahme, in gewisser Weise schon getötet hat. Noch verschärft wird dieser Eindruck dadurch, daß bei der Vorführung der Filmaufnahmen das primäre Kommunikationsmedium, nämlich das Tönen der unmittelbaren Artikulation vom gesprochenen Wort über das Lachen bis hin zum Gesang verloren gegangen ist. Wie bereits die Studie „Das Kamera-Auge des Homo Faber" von Heima Hasters treffend beobachtet: Faber sieht beim Abrollen des Films zum erstenmal, daß er seinerseits den tödlich distanzierten Blick fast die ganze Zeit auf Sabeth gerichtet hatte. Die wohlartikulierte Sabeth auf optische Dimensionen zu reduzieren, wirkt wie eine Verstümmelung. Eine eindringlichere Metapher für die Tödlichkeit der Reproduktion ist kaum denkbar: Nicht nur Sabeths Worte, auch ihr Lachen, ihr Singen, der Ton der Brandung und ihr Singen gegen die Brandung sind tonlos. Im Kontrast zur Lebendigkeit des visuellen Eindrucks demonstriert der Stummfilmeffekt ihren Tod zum Zeitpunkt der Filmbetrachtung besonders brutal. Indem Faber reflektiert, was sein Kamera-Auge erfaßte, nimmt er wahr, wie verblendet er gewesen war. 47
Nach dem erschütternden Filmerlebnis in Düsseldorf kommt es auf der anschließenden Zugfahrt nach Zürich im „ H e l v e t i a - E x p r e ß oder Schauinsland-Expreß" (S. 191) zu einer Reaktion völliger Verzweiflung: Wozu auch zum Fenster hinausblicken? Ich habe nichts mehr zu sehen. Ihre zwei Hände, die es nirgends mehr gibt, ihre Bewegung, wenn sie das Haar in den Nacken 47
Heima Hasters, „Das Kamera-Auge des Homo Faber. Ein Beitrag auch zur Medienpädagogik", in: Diskussion Deutsch 9 (1978), 375 — 387, dort 385.
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wirft oder sich kämmt, ihre Zähne, ihre Lippen, ihre Augen, die es nirgends mehr gibt, ihre Stirn: wo soll ich sie suchen? Ich möchte bloß, ich wäre nie gewesen. Wozu eigentlich nach Zürich? Wozu nach Athen? Ich sitze im Speisewagen und denke: Warum nicht diese zwei Gabeln nehmen, sie aufrichten in meinen Fäusten und mein Gesicht fallen lassen, um die Augen loszuwerden? (S. 192)
Fabers verzweifelter Schluß, nunmehr ohne Verlust das Augenlicht verlieren zu können, weil es für ihn nichts mehr Beglückendes zu sehen oder zu finden gäbe, erinnert an die Worte, mit denen Ödipus seine Selbstblendung begründet: Was halfen die Augen? Nur Grauen Gab es zu sehen. [···] Was gab es noch Frohes zu schauen, Zu lieben, zu grüßen, zu hören? O führt mich hinweg, Führt mich schnell hinweg, O treibt dieses Greuel aus Theben, Den allerverfluchtesten Mann, Allen den Göttern verhaßt! (V. 1333 ff.; Buschor)
Natürlich besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Sturz des Ödipus und der vergleichbaren Situation Fabers. Mit der banalen Feststellung, daß jener sich tatsächlich blendet, während dieser es nur in Erwägung zieht 48 , ist allerdings noch wenig gesagt. Hingegen gilt es zu verdeutlichen, daß die Bedeutung der ursprünglichen Tragödienhandlung im Kultischen liegt. Dem entspricht, daß der Held sichtbare Zeichen setzt. Es soll eine Erschütterung bewirkt werden, die in einem ganz existentiellen Sinn Erkenntnis vermittelt, etwas offenbar macht. Eben darin ereignet sich die kathartische Wirkung der alten Tragödien49. Entsprechend reflektiert im antiken Werk der Chor in seiner Bestürzung und Ergriffenheit das Miterlebte als ein alle betreffendes Paradigma, als mahnendes Sinnbild für das dem Menschen schlechthin bestimmte Geschick: Menschengeschlechter, Ihr wandelt im Licht Und seid doch Ein Nichts!
48 49
Etwa bei Schmitz, 57. Vgl. Schadewaldt, 386: „Es geht darum, daß auch die Tragödie [wie der Kult, aus dem sie entstanden ist] geschieht, in das Leben der Menschen hinein geschieht und etwas in dieses Leben hinein offenbar macht (was man zu eng als .lehren' mißversteht). Die Tragödie führt den von Lebenszwecken und Konventionen eingehegten Menschen an die Wahrheit des Wirklichen heran, die Tragödie erschüttert."
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Wer, ja wer Unter euch Menschen trägt des Glücks Mehr davon als den Wahn, Als den Sturz aus dem Wahn? (V. 1 1 8 6 ff.; Buschor)
Das Schicksal des modernen Helden dagegen ist anonym. Keine miterlebende Gemeinschaft nimmt an ihm Anteil. Nur noch touristische Attraktion ist „das antike Theater in Nîmes", das als vorzeigbare Kulisse in Fabers Film Revue passiert (S. 189). Das gleiche gilt für „das Dionysos-Theater", auf das Faber von Hanna gleich als erstes auf der Fahrt mit ihr durch Athen hingewiesen wurde (S. 131). Längst vorbei ist die Zeit, in der das Theater als kulturtragende Institution der Polis eine erschütternde Wahrheit zelebrierte, die alle betrifft. Wenn der moderne Held auf den Weg tieferer Einsicht gelangt, wird er nicht mehr gesehen oder gehört. Er ist der öffentlichen Beachtung entzogen. Allein ist Faber auch, wenn er auf seinem Flug über die Alpen von Zürich nach Athen die Erde in einem neuen Licht sieht und sich poetisch zu ihr bekennt: Wunsch, Heu zu riechen! Nie wieder fliegen! Wunsch, auf der Erde zu gehen — dort unter den letzten Föhren, die in der Sonne stehen, ihr Harz riechen und das Wasser hören, vermutlich ein Tosen, Wasser trinken — (S. 195)
Es kommt tatsächlich einem Ereignis gleich, wenn der UNESCOIngenieur in seiner Super-Constellation schließlich noch dazu gebracht wird, sich nach einem Ergreifen des sinnlichen Daseins auf der Erde und nirgendwo sonst zu sehnen. Das überholte Ideal des Homo faber, sich eine eigene beherrschbare Welt zu erschaffen, weicht hier einem Sehen der kontrastreich herben Schönheit des Naturgegebenen und damit verbunden der Wahrnehmung des Aufgerufenseins, es zu hüten und zu bewahren. Um zu einer gesellschaftlichen Erneuerung beizutragen, fehlt der Hellsicht des untergehenden Helden in der Moderne jedoch der öffentliche Resonanzraum. Faber wird auf keiner Konferenz mehr gehört, wenn er spät noch Gespür entwickelt für die zerbrechlich dünne Zone, in der das Leben der Kreatur bis hinunter zum kleinsten Insekt nur möglich ist: Zone des Lebens, wie dünn sie eigentlich ist, ein paar hundert Meter, dann wird die Atmosphäre schon zu dünn, zu kalt, eine Oase eigentlich, was die Menschheit bewohnt, die grüne Talsohle, ihre schmalen Verzweigungen, dann Ende der Oase, die Wälder sind wie abgeschnitten (hierzulande auf 2000 m, in Mexico auf 4000 m), eine Zeit lang gibt es noch Herden, weidend am Rand des möglichen Lebens, Blumen — ich sehe sie nicht, aber weiß es — bunt und würzig aber winzig, Insekten, dann nur noch Geröll, dann Eis — (ebd.)
Zu einem sich bescheidenden und damit das Leben gewinnenden Menschsein fortgeschritten findet Faber nach der Landung zu einer
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Hanna, die zunächst noch wie eine Erinnye „in Schwarz" seiner wartet, dann aber den zurückhaltend, schuldbewußt und einsam Gewordenen wie eine Eumenide mit einer versöhnlichen Geste in Empfang nimmt: Hanna in Schwarz. Ich habe nur meine Mappe, meine Hermes-Baby, Mantel und Hut, so daß der Zoll sofort erledigt ist; ich komme als erster heraus, aber wage nicht einmal zu winken. K u r z v o r der Schranke bin ich einfach Stehengeblieben (sagt Hanna) und habe gewartet, bis Hanna auf mich zuging. Ich sah Hanna zum ersten Mal in Schwarz. Sie küßte mich auf die Stirn. (S. 197 f.)
Als Prüfstein für das richtige oder falsche Verhältnis zur naturgegebenen Ordnung erweist sich im „Homo faber" wie im antiken Mythos das Verhältnis zum geschlechtlichen Gegenüber. Dem entspricht, daß, wie Rhonda L. Blair in ihrer Untersuchung der mythischen Motive im „Homo faber" gezeigt hat, Hanna wie Demeter, eine Göttin der Erde, einerseits zürnende und fluchbringende Erinnye, andererseits aber auch versöhnte und segengewährende Eumenide sein kann 50 . Im nächsten Abschnitt soll nun verfolgt werden, unter welchen Voraussetzungen Hanna für Faber zum Schluß von einem „schwarzen Vogel" zur bräutlich gekleideten Frau, vom Fluchgeist zur weißen Eumenide wird 51 . Außerdem wird zu verdeutlichen sein, wie dieser Schluß auch den hintergründigen Bezug des „Homo faber" zu den großen Tragödien der Antike logisch zu Ende führt. d) Die Verwandlung von Erinnyen in Eumeniden als neue Fortschrittsutopie Wie nach dem Unglück mit Sabeth am Strand von Theodohori führt Fabers erneute Ankunft in Athen abermals ins Krankenhaus. Aber diesmal ist er es, der dort einbehalten wird. Alsbald nimmt er die Weiterführung seines Berichts auf, nun allerdings nicht mehr mit der Schreibmaschine, sondern handschriftlich: Sie haben meine Hermes-Baby genommen und in den weißen Schrank geschlossen, weil Mittag, weil Ruhestunde. Ich solle von Hand schreiben! Ich kann Handschrift nicht leiden, ich sitze mit nacktem Oberkörper auf dem Bett, und mein kleiner Ventilator (Geschenk von Hanna) saust von Morgen bis Abend; sonst Totenstille. Heute wieder vierzig Grad im Schatten! (S. 161)
Die einst so vertraute Maschinenwelt ist Faber zum geschilderten Zeitpunkt in keiner Weise mehr zugänglich. Sogar die Hermes-Baby, bislang treue Begleiterin auf all seinen Reisen, ist ihm entzogen. Denn 50 51
Vgl. Blair, 154 und 168 f. Vgl. auch den sich auf die Ergebnisse Blairs stützenden Kommentar zu „,Hanna in Weiß' " bei Klaus Müller-Salget (Hg.), Erläuterungen und Dokumente: Max Frisch. Homo faber, Stuttgart 1987, 102.
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es ist Mittag und Totenstille. Zu dieser hellen und sengenden Stunde ruht in der mediterranen Welt die Geschäftigkeit des menschlichen Alltags. Es ist die besondere Zeit, in der die Menschen der Antike auf den Einbruch des ganz Anderen, auf eine göttliche Epiphanie, gefaßt waren. Insbesondere galt der Mittag als die Stunde Pans, des gewaltigen Naturgotts, dessen Erscheinen die in freier Flur ruhenden Hirten mit überwältigender Macht treffen konnte. In gewisser Weise kann dies auch heute noch nachempfunden werden. Wie Karl Schlechta in seiner einschlägigen Studie zum .Antiken Mittag' dem modernen Menschen verständlich zu machen versucht: Noch immer teilt sich uns aus der in der sommerlichen Mittagsglut regungslosen und wie schlafenden Natur etwas Unheimliches machtvoll mit. Eine seltsame Spannung in uns korrespondiert der allgemeinen Stille in dem steil einstrahlenden Licht, und noch immer erwacht in uns ein Rest jener Erwartung, die einstens wirkliche Furcht vor der Erscheinung des Gottes gewesen ist. 5 2
In angstvoller Spannung war Faber auch, als er am einsamen Strand von Theodohori zur Mittagszeit plötzlich aus dem Schlaf aufschreckte. Ähnlich erschrickt er, wenn es hier in seinem Krankenzimmer an die Tür klopft und Hanna eintritt, als sei sie eine der schwarzen Erinnyen, Rache- und Todesgöttin 53 : „Mein Schreck jedesmal, wenn es an die weiße Doppeltür klopft, Hanna in Schwarz, ihr Eintreten in mein weißes Zimmer" (S. 161). Doch jetzt kommt es nicht mehr wie damals gegen Ende der .Ersten Station' zur panischen Fluchtreaktion mit den unseligen Folgen. Faber ist gefaßter geworden. Hier zu Beginn der .Zweiten Station' befindet er sich schon auf dem Weg zu dem vorbehaltlos das irdische und sterbliche Leben bejahenden Schluß: Standhalten dem Licht, der Freude (wie unser Kind, als es sang) im Wissen, daß ich erlösche über Ginster, Asphalt und Meer. 5 4
Und dieser Weg dahin besteht in der schreibenden Vergegenwärtigung seiner letzten Erlebnisse, was schon im Zeichen der relativ gelassenen Feststellung geschieht, daß ,ich nur noch wenig Zeit habe, um meinen Kalender nachzuführen' (S. 161). Entsprechend versucht Faber das Geschehene nun auch nicht mehr manipulativ zu bearbeiten, sondern berichtet es von vornherein vollständig, getreu der Chronologie. Das 52 53
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Schlechta, 44. Zur tragischen Bedeutung der Erinnyen s. etwa Aischylos, „ A g a m e m n o n " , V. 462 ff.: „Und praßt/ Ein Unwürdiger lang im Glück,/ Die schwarzen Erinyen wenden sein Los./ Ins Dunkel fällt er." (Staiger). S. 199. „Ginster, Asphalt und Meer" weisen im übrigen auch auf den Strand von Theodohori zurück. D o r t ist anläßlich Fabers Rückkehr zur Unglückstätte zusammen mit Hanna die „heiße Teerstraße" erwähnt sowie die gemeinsame Spurensuche „hinunter durch Ginster" (S. 156).
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so Berichtete befindet sich dann gewissermaßen in einem offenen Dialog mit der aktuellen Tagebuchführung, die mit ihm eine fortlaufend alternierende Erzählfolge bildet. Fabers neugewonnene Offenheit, sein Leben zu sehen, wie es ist, und nicht, wie es seinem früheren Wunschbild als Homo faber entspricht, öffnet auch den Weg zu Hanna. Er bekennt sich ihr gegenüber als schuldig, möchte im Rahmen seiner Möglichkeiten wiedergutmachen, wird sich bewußt, wie wenig er von ihr, die ihm von allen Menschen am nächsten steht, eigentlich weiß, und sorgt sich um ihr Leben nunmehr nicht minder als um das seine: Kann sie verzeihen? Kann ich wiedergutmachen? Ich weiß nicht einmal, was Hanna seither getan hat; kein Wort davon. Ich habe gefragt, warum Hanna sich nicht setzt. Ich verstehe Hanna überhaupt nicht, ihr Lächeln, wenn ich frage, ihr Blick an mir vorbei, manchmal habe ich Angst, sie wird noch verrückt. Heute sind es sechs Wochen. (S. 161)
Fabers neues Verhalten gegenüber Hanna bleibt auf deren Verhalten ihm gegenüber nicht ohne Folgen. Nachfolgend ist zu beobachten, wie sie sich ihrerseits Faber zu öffnen, mit ihm wirklich zu sprechen beginnt. In einem ersten Schritt geschieht dies in Form tiefgehender Kritik am Menschen der modernen Technik, an seiner „Manie [...], die Schöpfung nutzbar zu machen, weil er sie als Partner nicht aushält", an seinem hoffnungslosen Versuch, „ohne den Tod zu leben" (S. 169 f.). In diesem Zusammenhang erklärt sie auch Fabers „Irrtum mit Sabeth" mit vorwurfsfreier Sachlichkeit, wenn auch sehr abgekürzt: Hanna macht keine Vorwürfe, Hanna findet es nicht unbegreiflich, daß ich mich gegenüber Sabeth so verhalten habe; [...] Leben ist nicht Stoff, nicht mit Technik zu bewältigen. Mein Irrtum mit Sabeth: Repetition, ich habe mich so verhalten, als gebe es kein Alter, daher widernatürlich. Wir können nicht das Alter aufheben, indem wir weiter addieren, indem wir unsere eigenen Kinder heiraten. (S. 169 f.)
Im nächsten Schritt erzählt Hanna ausführlich von ihrem eigenen Leben. Denn in einem gewissen Sinn hat Faber sie spät noch als Braut gewonnen, wie ihm in symbolischer Andeutung zu verstehen gegeben wird. Freudig berichtet er die Neuigkeit: Hanna ist dagewesen. Ich sagte ihr, sie sehe aus wie eine Braut. Hanna in Weiß! Sie kommt plötzlich nicht mehr in ihrem Trauerkleid; ihre Ausrede: es sei zu heiß draußen. Ich habe ihr soviel von Zopiloten geredet, jetzt will sie nicht als schwarzer Vogel neben meinem Bett sitzen — und meint, ich merke ihre liebe Rücksicht nicht, weil ich früher (noch vor wenigen Wochen) soviel nicht gemerkt habe. Hanna hat viel erzählt. (S. 182)
Im Prozeß wechselseitiger Wahrnehmung und Mitteilung arbeiten Faber und Hanna die schicksalhafte Verstrickung ihrer beider Leben miteinander auf. Dabei wird auch deutlich, in welchem Ausmaß Hannas
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bisherige Lebensführung im Prinzip derjenigen Fabers entsprochen hat. Immer wieder kommt sie auf eine Figur zu sprechen, von der sie seit ihrer frühesten Jugend in ähnlicher Weise gefesselt ist, wie schon der junge Faber von der Technik. Diese Figur bleibt merkwürdig schemenhaft: ein alter Blinder, mit dem sich die Gymnasiastin regelmäßig auf einer Parkbank traf, von dem sie aber nicht zu sagen weiß, „wo er wohnte und wie" (S. 184). Bei ihren Zusammenkünften las sie diesem Mann dann immer aus ihren Griechischbüchern vor. Und der nahm das von ihr Vorgelesene ganz in sich auf, lernte es auswendig und pflanzte ihr seinerseits die Liebe zu den alten Griechen ein. Auch träumte man von einer gemeinsamen Griechenlandreise: Und niemand in der Welt wußte v o n ihrer Vereinbarung, daß sie zusammen nach Griechenland fahren, Armin und sie, sobald sie erwachsen ist und frei, und Hanna wird ihm die griechischen Tempel zeigen. (S. 184)
Wie bei Faber und seinem ausgesprochen erotischen Verhältnis zur Technik ist es auch bei Hanna zu einer frühen und ausgeprägten Platonisierung des Eros gekommen. Die Tendenz zu einem körperlosen Ideal, ein hervorstechender Zug der abendländischen Denktradition, bekam Faber, der leidenschaftliche Techniker, in ihrer letzten Phase, Hanna in ihrem enthusiastischen Griechischstudium bei der Wurzel zu fassen. Dies ist ein, aber auch der einzige Unterschied. Hatte Faber seiner Technikerkarriere zuliebe Frau und Kind preisgegeben, so fühlte er sich selbst zuvor schon von Hanna und ihrem „besseren" Geliebten ausgegrenzt. Denn der mysteriöse Armin kam sie auch in Zürich besuchen und traf sich mit ihr im Café Odèon, das Faber „eigentlich gehaßt" hat (S. 184). Mit uneingestandener Eifersucht verfolgte er, wie Hanna den alten Herrn zu dessen Pension geleitete: „Ich wartete dann in einer kleinen Anlage, (versteckt) an der Gloriastraße, bis Hanna ihren alten Onkel abgeliefert hatte" (S. 184). Wie für Faber die moderne Technik immer mehr zur Superfrau wurde, so für Hanna der alte Armin zum Supermann. Zwar war er blind, doch schien er eigentlich alles besser wahrnehmen zu können als die Sehenden. Und das Schönste an diesem blinden Seher war, daß er für Hanna gleichzeitig auch völlig verfügkir schien. Ihr größtes Glück war es, Armin durch die Welt zu führen. Für Hanna war er die Welt. Wie die Technik für Faber, so schien er für sie den menschlichen Wunsch nach einer einheitsvollen Totalität von Ich und Welt in Erfüllung gehen zu lassen: Sie trafen sich bei jedem Wetter, sie führte ihn und zeigte ihm die Schaufenster. Armin war vollkommen blind, aber er konnte sich alles vorstellen, wenn man es ihm sagte. Hanna sagt: es war einfach wunderbar, mit ihm durch die Welt zu gehen. (S. 183)
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Ein letztes Mal traf Hanna Armin 1943 in London, von wo er auswandern wollte: Hanna hat ihn noch auf das Schiff geführt, da er nicht sehen konnte und das wahrscheinlich von einem deutschen U-Boot versenkt wurde; jedenfalls ist es nie angekommen. (S. 185)
Aber für Hanna ist Armin noch nicht gestorben. Im Glanz ihrer abgöttischen Liebe ist er immer noch da, alles wissend und alles sehend: Hanna liebt ihn noch, obschon er längst gestorben, beziehungsweise verschollen ist. (S. 183) Hanna redet heute noch von Armin, als lebe er, als sehe er alles. (S. 184)
Armin ist für Hanna der Inbegriff reiner, intelligenter und allumfassender Präsenz geblieben — auch noch nachdem er von ihr gegangen ist. Was sie für ihren Lebenshalt hielt, war kein wirkliches Gegenüber 55 . Vielmehr pflegte Hanna „ihren" Armin wie Faber „seine" Technik als Projektionsfläche unerfüllbarer Wünsche. Doch hier im entstehenden Dialog lösen sich die schillernden Projektionen einer bis dahin im Grund beidseitig einsam gebliebenen Lebensangst allmählich auf. Wie Faber nachfragt, warum es zu der doch so sehnsuchtsvoll ins Auge gefaßten Griechenlandreise mit Armin nicht gekommen ist, kann Hanna schließlich darüber lachen, „als wäre alles nur ein Scherz gewesen, Kinderei" (S. 184). Es war auch nur Kinderei, vergleichbar der infantilen Weise, in der Faber für die längste Zeit seines Lebens an technischem Blendwerk hing. Davon war in der unmittelbar vorausgegangenen Vergegenwärtigung des ersten Durchbruchs zu einem vollständigen Sehen die Rede: „Illumination, am andern Morgen sieht man die leeren Gerüste, Klimbim, infantil" (S. 176 f.). Doch tragischerweise erst, nachdem sich das schreckliche Unglück, der jähe Tod des wie keines seiner Eltern lebensoffenen Kindes, ereignet hat, erfolgt das erlösende Zur-Sprache-Kommen von Faber und Hanna. Aber es reicht noch für einen wirklichen Austausch, für eine echte Teilhabe am Leben des Anderen, für den Gewinn einer unbedingten menschlichen Verbundenheit, die hilft, dem, was nun nicht mehr zu verdrängen ist, gelassener entgegenzusehen: Ich werde hoffen, obschon ich weiß, daß ich verloren bin. Aber ich bin nicht allein, Hanna ist mein Freund, und ich bin nicht allein. (S. 198)
Auch reicht es noch für eine letzte und definitiv lebensaffirmative Botschaft, die Faber, der nun klar sein Ende vor Augen hat, als die Wahrheit einzig bewahrt wissen möchte: Verfügung für Todesfall: alle Zeugnisse v o n mir wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts. A u f der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo
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Vgl. auch Kiernan, 125.
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(wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! — aber vor allem: standhalten dem Licht, der Freude (wie unser Kind, als es sang) im Wissen, daß ich erlösche im Licht über Ginster, Asphalt und Meer, standhalten der Zeit, beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein: gewesen sein. (S. 199)
An dieser Stelle ereignet sich, wie die Interpretation von Michael Butler zu Recht bemerkt, Fabers „true anagnorisis"56. Seine Alltagswelt, ja sich selbst hat er in diesem Moment verlassen. Hier ist er — entsprechend dem kathartischen Effekt einer wahren Anagnorisis 57 — vom wirklich Anderen, dem Ewigen, das sein Leben auf der Welt und im Licht ermöglicht wie begrenzt, elementar angesprochen, erschüttert und überwältigt. Dem entspricht, daß Faber nunmehr auch nicht mehr von sich selbst spricht, sondern nur noch von Hanna, die sich ihm öffnete, wie er sich ihr zu öffnen begann. Im übertragenen Sinn wurde sie ihm damit noch zur Braut beziehungsweise zur versöhnten und segengewährenden Eumenide. Ausführlich trägt Faber nach, was Hanna ihn noch alles gefragt und was sie ihm noch alles erzählt hat. Dabei wird enthüllt, daß sie immer schon nur ein vaterloses Kind wünschte (vgl. S. 200 ff.), für das sie 56
Michael Butler, The Novels of Max Frisch, London 1976, 119. Es kann im übrigen darauf hingewiesen werden, daß in Fabers Anagnorisis auch das Fazit von Frischs Lebenswerk gesehen werden kann. Zu Recht gibt Blair, 170, Anm. 49, zu bedenken, daß sie auch im autobiographischen „ .Montauk' zitiert wird (VI, 685), wo sie auf die Bemerkung folgt, daß die Literatur ein Thema habe, das alle angeht (vielleicht Montaignes .Philosophieren heißt sterben lernen')". Auch das von Blair in Klammern Angemerkte kann zwischenzeitlich bestätigt werden. Denn in seiner Rede über den Tod von 1984 zitiert Frisch Fabers abschließende Einsicht ebenfalls und zwar ausdrücklich als „Stenogramm, das ich nach drei Jahrzehnten nicht widerrufen möchte" (VII, 92). Von daher gesehen müßte auch das „Esel treiben, unser Beruf!", wie bereits Müller-Salget, 111 f. klarstellt, „nicht — wie des öfteren geschehen — als ironische Einschränkung, sondern als positives Sinnbild verstanden werden". In solch positivem Sinn wird dies Sinnbild von Kiernan, 168, interpretiert. Dort ist es mit dem Verständnis vom Menschen als „Hirt des Seins" in Verbindung gebracht, welches Heidegger dem herkömmlichen humanistischen Verständnis vom Menschen als „Herr des Seienden" entgegenhält; vgl. Martin Heidegger, Über den Humanismus, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, 32 f. Diese These erscheint diskussionswürdig: nicht nur, weil die letztgültige Einsicht des gestürzten Helden auffallige begriffliche Anklänge an Heidegger enthält, sondern auch, weil Fabers technischer Humanismus spätestens seit dem Flug über die Alpen das fragwürdig gewordene Ideal von Machen und Herrschen in den sich neu abzeichnenden Willen, zu hüten und zu bewahren, verwandelt (vgl. hier S. 215).
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Zum kathartischen Effekt der Anagnorisis, der plötzlichen Erkenntnis, die gleichzeitig einen jähen Umschlag der Handlung bewirken soll, vgl. Aristoteles, Poetik, Buch 11. Daß hier ein Ereignis gemeint ist, das den Menschen im Grund seines Daseins ergreift und erschüttert, kann seit Schadewaldts „Furcht und Mitleid?" als gesichert gelten; s. bereits Anm. 49.
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„die einzige und letzte Instanz" sein konnte 58 . Von daher bestätigt sich noch einmal, daß von ihr, wie bereits Kaiser betont, das versäumte „Wagnis einer Gemeinschaft, die jeden der Partner wesentlich verändern muß", nicht minder zu verantworten ist als von Faber 59 . Entsprechend bittet sie diesen am Ende ihrer eigenen Lebensbeichte mit einer aufsehenerregenden Geste um Verzeihung 60 . 58
S. 201. Es konnte daraufhingewiesen werden, daß sich Fabers Frevel gegenüber Frau und Kind in der Grundstruktur auf ein männliches Fehlverhalten beziehen läßt, wie es in den Mythen der griechischen Antike häufig dargestellt wird und daß im „Homo faber" in Form von Ortsnamensymbolik darauf deutlich angespielt ist (s. Anm. 37). Analog kann nun darauf hingewiesen werden, daß Hannas Neigung, „sich in allem, was Kinder betrifft, als die einzige und letzte Instanz" zu betrachten, eine Schuld bezeichnet, wie sie die Mythen der griechischen Antike als spezifisch weibliches Fehlverhalten zur Sprache bringen. Zunächst wäre hier wieder auf den Mythos von Demeter, Hades und Persephone hinzuweisen, dessen hintergründige Präsenz im „Homo faber" erstmals Blair hervorhebt. Allerdings findet der „Wille zur Macht" in der Gestalt eines kindervereinnahmenden .mütterlichen Eros' (Blair, 157) nicht nur in Demeter sein mythisches Urbild. Vielmehr ist das mutteregoistische Verhalten noch in den besten olympischen Kreisen zu finden. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen I: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, 4. Aufl., München 1979, 100 f. berichtet, daß Athene einst ein Kind (Erichthonios) großziehen wollte und dies vor allen anderen Göttern verborgen hielt. Als sie jedoch unterwegs war, um einen stattlichen Felsen zur Befestigung der späteren Akropolis zu holen, wurde das Geheimnis entdeckt, wobei das Kind in der Gestalt einer Schlange entwich. Vor Zorn ließ Athene den der Akropolis zugedachten Felsen fallen, der heute der Berg Lykabettos ist. Auch auf diesen Mythos ist im „Homo faber" wiederum in Form von Ortsnamensymbolik — unter dem Stichwort „Hanna als Mutter" streitet diese mit Faber um „Akropolis" und „Lykabettos" (S. 133) — dezent angespielt. Und bezeichnenderweise ist es gerade Sabeths Zimmer, dessen Fenster ganz auf den Lykabettos ausgerichtet ist (vgl. S. 148). Besondere Erwähnung verdient schließlich noch, wie das „vaterlose" und eifersüchtig gehütete Kind Athenes gezeugt wurde (vgl. Kerényi, 98): Athene war Hephaistos, dem Schmiedgott (faber: lat. der Schmied!) als Braut zugedacht, entwand sich ihm aber in der Hochzeitsnacht, so daß sein Samen auf die Erde fiel. Davon gebar Gaia (die Erde) den Erichthonios und übergab das Neugeborene der Pallas Athene, sozusagen seiner „rein" gebliebenen Mutter, die die Verbindung mit dem Vater des Kindes nicht, wohl aber das Kind selbst wollte, es gleichwohl aber verlieren mußte.
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Kaiser, 210. — Überzeichnet ist die Schuld Hannas allerdings bei Gerhard Friedrich, „Die Rolle der Hanna Piper. Ein Beitrag zur Interpretation von Max Frischs Roman ,Homo f a b e r ' " , in: Studia Neophilologica 49 (1977), 1 0 1 - 1 1 7 . Vgl. S. 202f. Dessen ungeachtet meint Mona Knapp, „,Tempus fugit irreparabile': The Use of Existential vs. Chronological Time in Frisch's ,Homo Faber' ", in: World Literature Today 60 (1986), 570—574, dort 572, daß Hanna am Ende ungebrochen sei und im Gegensatz zu Faber eine Zukunft habe. Damit wiederholt Knapp aber lediglich die überholte Position, die Faber noch am Ende der ,Ersten Station' vertritt, bevor er in der ,Zweiten Station' auf den Weg besserer Einsicht gelangt: „Ich sehe nicht ein, wieso ihr Leben verpfuscht sein sollte. Im Gegenteil. Ich finde es allerhand, wenn jemand ungefähr so lebt, wie er's sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Ich
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Aber zum Schluß hat Faber — wiederum in spiegelbildlicher Schuldentsprechung zu Hanna — das Kind als mutterlos zu vereinnahmen versucht. Daß es ihn ständig an Hanna erinnerte, schlug er in den Wind. In einer für alle Omina blinden Hybris versuchte er, in der ihm kommunikations- und verkehrstechnisch zugespielten und instinktsicher herausgefundenen Tochter lediglich den Idealspiegel seines väterlichen Geistes zu sehen. Doch gerade damit ließ er die im gleichwohl unbeabsichtigten elterlichen Komplott längst in die Wege geleitete Katastrophe in Erfüllung gehen. So nimmt Faber nun Hanna gegen deren eigenes Schuldbekenntnis in Schutz und bekennt sich seinerseits als Vater, der alles zerstört hat: Es ist Hanna schon schwer genug gefallen, das Mädchen allein auf die Reise zu lassen, wenn auch nur für ein halbes Jahr. Hanna hat immer schon gewußt, daß ihr Kind sie einmal verlassen wird; aber auch Hanna hat nicht ahnen können, daß Sabeth auf dieser Reise gerade ihrem Vater begegnet, der alles zerstört — (S. 203)
Das Schreckliche, die tragische Verunmöglichung neuen Lebens ausgerechnet von selten der Eltern, ist am Ende nicht aufgehoben. Dennoch klingt das Werk versöhnlich aus. Seinen Schlußakkord bildet das beidseitige Schuldbekenntnis, die gegenseitige Bitte um Verzeihung. In diesem Zusammenhang ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß in der Welt der antiken Tragödie nur dem, der bereit ist, seine Grenzen zu erkennen und seine Schuld auf sich zu nehmen, die Erinnyen in Eumeniden verwandelt werden. Dies läßt sich, wie abschließend kurz umrissen werden soll, besonders an jenen Tragödien verdeutlichen, auf die im „Homo faber" so beziehungsreich angespielt ist: also an der „Orestie" des Aischylos („Agamemnon", „Die Coephoren", „Die Eumeniden") und am Sophokleischen Ödipus („König Ödipus", „Ödipus auf Kolonos"). bewundere sie." (S. 143). Ihrer prinzipiellen Übereinstimmung mit Faber ist sich die Interpretin allerdings nicht bewußt, weil dieser ja nach den Ausführungen in ihrem vorausgegangenen Aufsatz „Moderner Ödipus oder blinder Anpasser? Anmerkungen zum ,Homo faber' aus feministischer Sicht", in: Frischs „Homo faber", hg. Schmitz, 188 — 207, dort 204 f. im Gegensatz zum wirklichen Helden Ödipus, der sich aufgrund besserer Einsicht blendet, der unverbesserliche „Durchschnittsvertreter der männlichen Technokratie der fünfziger Jahre" sein soll. Diesem trete als vorbildliche Vorkämpferin der .feministischen Agitation' (ebd., 192) späterer Jahrzehnte Hanna entgegen. K n a p p verkennt, daß die geschäftsmäßige Sachlichkeit, die Faber bei seiner Wiederbegegnung mit Hanna feststellt, diesem durchaus entgegenkommt. Knapps Aussage, daß Faber hier verblüfft zugeben muß, sie sei so sachlich „wie ,ein Mann' " (ebd., 197), stellt den wahren Sachverhalt auf den K o p f . Denn Faber ist einigermaßen erleichtert, feststellen zu können, daß ,ein Mann, ein Freund, nicht sachlicher hätte fragen können' (S. 127).
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Der Erbfluch der Tantaliden löst sich, wenn Orest, der als Mensch ,aus eigener Kraft nicht aus dem Ringe treten kann, den Schuld und Schicksal um ihn schließen', die Huld der Götter sucht 61 . Mit dem Beistand Athenes, die den mißachteten Erdgöttinnen ein Heiligtum weiht, verwandeln sich diese von den fluchbringenden Erinnyen in die segengewährenden Eumeniden. Und es ist der heilige Hain der Eumeniden, an dem Ödipus schließlich seinen Frieden findet. Dort, am geweihten Ort der „Töchter [...] der Erde und der Nacht" (V. 40; Buschor), wird dieser Heros am Ende von „Ödipus auf Kolonos" von einer geheimnisvollen Stimme gerufen und entrückt (vgl. V. 1623 ff.). Dies geschieht, nachdem er sich in dieser Tragödie von Anfang an nicht mehr wie selbst noch am Schluß von „König Ödipus" als alles regelnder Herrscher zu behaupten versuchte (vgl. dort V. 1521 ff.), sondern sich als blind umherirrender Bettler zu seinem Angewiesensein auf Hilfe bekannt hat. Vom Eumenidenhain wird Ödipus segensreich weiterwirken für die Polis Athens. Denn unter der Führung ihres Königs Theseus überwand diese ihre Scheu, den Fluchbeladenen, doch mitmenschliche wie göttliche Hilfe Suchenden aufzunehmen 62 . Daß Frisch in seiner Kompositionsskizze zum „Homo faber" den zweiten Teil mit „Die Eumeniden" überschreibt 63 , erhält auf dem hier umrissenen Hintergrund seinen Sinn und ist ein Zeichen von Hoffnung 6 4 .
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Lesky, Die griechische Tragödie, 114. Die Ödipus-Söhne Polyneikes und Eteokles hingegen, die sich der Vertreibung ihres Vaters aus Theben nicht entgegengestellt hatten, wird der Fluch des gegenseitigen Brudermords treffen. s. Müller-Salget, 115; zuvor bereits Walter Schmitz, „Die Entstehung von ,Homo faber. Ein Bericht'", in: Frischs „ H o m o faber", hg. Schmitz, 63 — 75, dort 65. Anderer Meinung ist Schmitz. In seinem Beitrag „Die Entstehung von ,Homo faber. Ein Bericht' ", 71 glaubt er zu dem Schluß kommen zu müssen, daß es auch am Ende des zweiten Berichtteils „,keine Räume der Hoffnung' " geben könne und daß sich Frisch „ ,in eine Ecke geschrieben' " habe.
IV. Vom modernen Ge-stell zur tragischen poiesis Im Interpretationsgang des vorangegangenen Kapitels wurde eine merkwürdige Stelle unberücksichtigt gelassen, die eingehend zu reflektieren in einem eigenen und abschließenden Kapitel Gelegenheit sein soll. Gemeint ist die Stelle, da Faber auf seinem letzten Flug folgendes bekennt: Seit meiner Notlandung in Tamaulipas habe ich mich stets so gesetzt, daß ich das Fahrgestell sehe, wenn sie es ausschwenken, gespannt, ob die Piste sich im letzten Augenblick wenn die Pneus aufsetzen, nicht doch in Wüste verwandelt — [...] Es ist nicht einzusehen, wieso ein solches Fahrgestell, bestehend aus zwei Pneu-Paaren mit Federung im Rohrgestell und mit Schmieröl auf dem blanken Metall, wie es sich gehört, sich plötzlich wie ein Dämon benehmen soll, wenn es den Boden berührt, wie ein Dämon, der die Piste plötzlich in Wüste verwandelt — (S. 196 f.)
1. Gestell und Ge-stell Offensichtlich erlebt Faber die Super-Constellation seit der Notlandung, auch wenn er es selbst noch nicht ganz fassen will, in einer völlig veränderten Weise. Lohnend erscheint hier ein Hinweis auf Heideggers „Die Frage nach der Technik", wo beklagt wird, „daß wir das Wesende der Technik vor lauter Technik noch nicht erfahren" 1 . Denn es könnte sein, daß dem Faber, der nunmehr in der Super-Constellation das Walten eines Dämons zu sehen beginnt, vom ,Wesenden der Technik' schon mehr aufgegangen ist, als sein im nachhinein rationalisierendes „Es ist nicht einzusehen, wieso..." wahrhaben möchte. Nahegelegt wird diese Überlegung zunächst von der auffalligen, nämlich dreimaligen Nennung von ,,-gestell", das somit seine neue Weise, die Technik zu sehen, als Leitwort durchzieht. Denn der zentrale Begriff in Heideggers .Frage nach der Technik' ist das „Ge-stell". Zu bedenken ist allerdings, daß für Heidegger das Ge-stell „die Weise des Entbergens" bezeichnet, „die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist" 2 . Das Ge-stell ist also selbst 1 2
Heidegger, 39. Ebd., 24.
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nichts Technisches, nichts Maschinenartiges, sondern die besondere Weise, in der das hintergründige Zusammenspiel der Maschinenwelt dem zeitgenössischen Menschen die „Konstellation der Wahrheit" 3 entbirgt. Damit aber scheint die Fabersche Rede vom ,,-gestell" zunächst völlig unvereinbar. Das Gestell, von dem er spricht, ist das Fahrgestell seiner Maschine und besteht „aus zwei Pneu-Paaren mit Federung im Rohrgestell und mit Schmieröl auf dem blanken Metall, wie es sich gehört". Im Gegensatz zu Heidegger meint Faber eine technische Vorrichtung zu dem präzis angebbaren Zweck, den Flugreisenden abgefedert und sicher wieder auf dem Erdboden landen und ausrollen zu lassen. Doch das fragliche Gestell so zu sehen, ist von selten Fabers nur ein allerletzter Versuch, sich noch einmal darüber hinwegzutäuschen, daß es einmal schon gerade nicht funktionierte, „wie es sich gehört". Entgegen der ihm vom Techniker zugedachten Bestimmung schwenkte es seinerzeit eben nicht aus und ließ damit auch ihn, den vermeintlich alles beherrschenden Techniker, unsanft in die Wüste fallen. Das Ding verhielt sich dabei wie ein Dämon, insofern es die Erwartung, die an ein Fahrgestell normalerweise geknüpft ist, unverhofft destruierte. War diese Destruktion aber auch ein Entbergungsgeschehen, ein Ereignis von Wahrheit im Sinne des Ge-stells? Ja, insofern das Versagen des Fahrgestells damals im Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren der entscheidende Auftakt gewesen ist, Faber den verdrängten Bedingungen und Bezügen seines ureigensten Lebens zuzuführen! Unter der Heideggerschen Neuprägung des Begriffs Ge-stell ist, wie hier in Kapitel II bereits dargelegt, der nach Heidegger geschickhafte Zusammenhang zu verstehen, der im Zeitalter der Technik das Verhältnis zwischen dem Sein von Natur und Welt auf der einen und dem von ihm angesprochenen Dasein des Menschen auf der anderen Seite strukturiert. Dem Wesen der modernen Technik als seinsgeschichtlichem Geschick entspricht es dabei, daß der Mensch es gleich jedem anderen Geschick einerseits nicht beherrschen, ihm andererseits aber auf die eine oder andere Weise entsprechen kann. Die erste Möglichkeit, ihm zu entsprechen, ist, vom Anspruch des Ge-stells so aufgesogen zu sein, daß man ihn als solchen gar nicht mehr wahrnimmt und damit auch sich selbst als geschickhaft Angesprochenen übersieht. Als die andere Möglichkeit ergibt sich, eigens mitzubedenken, daß ich in meinem Wesen als Mensch je schon in einen geschickhaften Zusammenhang eingelassen bin. Diesbezüglich wird von Friedrich-Wilhelm von Herr3
Ebd., 39.
Die Dämonie der Technik und der Götter
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mann in seinem Heidegger-Beitrag „Kunst und Technik" 4 hervorgehoben: Man sieht unschwer, daß in diesen beiden Möglichkeiten das weitergedacht worden ist, was in „Sein und Zeit" als die beiden Grundmodi der uneigentlichen, verfallenden, und der eigentlichen Existenz erfahren ist. Sofern es zum Wesen einer jeden Schickung gehört, zwischen diese beiden Möglichkeiten und damit v o r die erste Möglichkeit gebracht zu sein, der gemäß der Entborgenheitscharakter des Seienden sich verschließt, „ist der Mensch aus dem Geschick her gefährdet". 5
Im Hinblick auf die hier zur Diskussion stehende Stelle im „Homo faber" liegt es nahe, den Riickverweis auf „Sein und Zeit" noch weiterzuführen. Denn dort wird darauf abgehoben, daß das übliche Verfallensein an das Seiende aufhört, wenn dieses nicht wie gewohnt verfügbar ist 6 . Entsprechend wird im „Homo faber" der Techniker von einem Seienden (hier nun speziell von einem der modernen Technik), das nicht wie gewohnt funktioniert, auf den Weg gebracht, den verdrängten Bedingungen und Bezügen seines Lebens nachzugehen. So ist die Dämonie eines Fahrgestells, das unvorhergesehenerweise den vertrauten Dienst versagt, gleichzeitig ein Entbergungsgeschehen im Sinn des Ge-stells.
2. Die Dämonie der Technik und der Götter In seiner ,Frage nach der Technik' gibt Heidegger zu bedenken: „Es gibt keine Dämonie der Technik, wohl dagegen das Geheimnis ihres Wesens" 7 . Das Geheimnis des technischen Wesens aber, wie es sich im „Homo faber" enthüllt, ist, daß es sich gegenüber dem Techniker wie der göttliche Daimon gegenüber dem Helden der Tragödie verhält. Denn jener verführt diesen zum falschen Bewußtsein der Hybris, um ihn daraus dann in eine vernichtende Einsicht zu stürzen 8 . Analog läßt sich Faber von seiner technischen Super-Constellation gern in den schönen Traum einer nach eigener Vorstellung funktionierenden Welt 4
5 6 7 8
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, „Kunst und Technik", in: Heidegger Studies 1 (1985), 2 5 - 6 2 . Ebd., 37. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 73 ff. Heidegger, 31 f. A u f den Ursprung dieser spezifisch griechischen Gottesvorstellung bei Homer weisen Otto und v o r allem Deichgräber hin; als konstitutiv f ü r die ältere attische Tragödie betrachten sie insb. Lesky und Schadewaldt; um eine eingehende Klärung des Weltund Selbstverständnisses, das sich in ihr vermittelt, bemüht sich Stallmach: vgl. hier S. 1 0 3 - 1 0 7 , i n s b . S. 104, Anm. 20.
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wiegen, um dann eines Tages von der gleichen Super-Constellation aus allen Wolken gestürzt und auf die elementaren Bindungen seines menschlichen Daseins zurückgeworfen zu werden. Die hier angesprochene Grundanalogie zwischen dem modernen Techniker und seiner modernen Technik einerseits und dem antiken Tragödienhelden und seinem Daimon andererseits soll ein abschließender strukturaler Vergleich zwischen dem „König Ödipus" und dem „Homo faber" nochmals verdeutlichen. In der Krisensituation zu Beginn seiner Tragödie glaubt Ödipus noch mit Apollons bewährter Hilfe auch dieser neuen Herausforderung an ihn Herr zu werden 9 . Analog hält Faber bei der Niederschrift des ersten Teils seines Berichts noch am epochalen Programm des „Homo faber" fest, mit der modernen Technik Beherrscher der Natur zu sein. Dabei hat diese Technik längst alle Erwartungen, die er in sie setzte, enttäuscht. Am nachhaltigsten ist dies bezeichnenderweise bei jenem Ereignis geschehen, das Faber am Ende die Technik ansatzweise als „Dämon" begreifen läßt: bei der Notlandung von Tamaulipas und ihren Folgen. Analog zu diesem ersten gravierenden Einschnitt in Fabers Leben wiederum bekommt auch Ödipus schon lange, bevor er dies wiederspruchslos hinnehmen kann, bedeutet, daß Apollon nicht eigentlich der sein kann, den er in ihm zu sehen gewohnt ist. Der zu Beginn seiner Untersuchung eilends beizitierte Teiresias, das Sprachrohr Apollons, offenbart bereits die ganze erschütternde Wahrheit über Ödipus. Aber dieser schlägt alle Prophezeiungen des Sehers in den Wind, bezichtigt ihn hinterhältiger Machenschaften und vertraut auf die eigene Geisteskraft. Die Folge ist, daß er selbst den Seherspruch und damit auch Apollon bestätigen wird, indem er sich mit seinem eigenen Handeln widerlegt. Entsprechend wird er sich am Ende dem Chor erklären. Auf dessen bestürzte Frage „Wie konntest so / Du dein Gesicht auslöschen? welcher der Daimonen trieb dich?", antwortet Ödipus: Apollon war's, der diese —, Apollon, Freunde! Der diese meine schlimmen, schlimmen Vollbracht hat, diese meine Leiden! Geschlagen aber eigenhändig Hat sie kein anderer als ich Armer! (1327 ff.; Schadewaldt)
Am Ende der Tragödie ist die vermeintliche Spiegelbeziehung zwischen dem Helden und seinem Daimon widerlegt und in eine neue Einheit übergegangen, in der die unaufhebbare Differenz zwischen 9
Ähnlich Bröcker, 31: „Der berühmte Oidipus (v. 8), der stärkste und beste der Männer, der Kampfgenosse des Gottes — so sieht Oidipus sich selbst. Er meint zu wissen, daß dies sein Wesen und sein bleibendes Verhältnis zu G o t t ist".
Die Dämonie der Technik und der Götter
175
Apollon als Gott und Ödipus als Mensch geklärt ist. Am Anfang glaubt sich Ödipus mit Apollon noch in dem Sinn eins, daß er dessen Gebot und seinen eigenen Vorteil als ein und dasselbe ansieht. Die aus Delphi eingeholte Weisung des Gottes, der noch ungestellte Mörder des alten Königs Laios müsse gefunden und bestraft werden, leuchtet Ödipus ein, weil ja auch seiner eigenen Herrschaft von jenem gefahrlichen Unbekannten ein Anschlag drohen könnte (V. 137 ff.). A m Ende signalisiert Ödipus in dem Sinn Einigkeit mit Apollon, als er selbst nochmals bestätigt, was dieser ihm gefügt hat: Wie er sieht, daß er von Apollon zunächst in die Verblendung, dann in die Vernichtung geführt wurde, blendet er sich 10 . Dazwischen liegt der tragische Prozeß, w o die ganze Wahrheit an sich schon bekundet ist, der Held in seinem hybriden Selbstbewußtsein aber noch über sie hinwegsieht 11 . Und ganz ähnlich, wie sich Ödipus den Omina des göttlichen Verhängnisses so lange als nur möglich verschließt, verschließt sich Faber beharrlich einer Technik, die plötzlich ganz andere Zeichen als gewohnt sendet. Dies wurde im Verlauf des vorangegangenen Kapitels ausführlich dargelegt. Daß sich der Gott der Tragödie gegenüber dem Helden plötzlich ganz anders als gewohnt verhält, ermöglicht den Schluß, in diesem Gott eine figürliche Darstellung der Zeit zu sehen. Darauf hat bereits In Übereinstimmung mit der Ödipus-Interpretation von Lefèvre bin ich der Meinung, daß die physische Selbstblendung als Konsequenz der zuletzt erlangten Einsicht in die eigene geistige Blindheit verstanden werden kann, für die Ödipus damit sehr ausdrucksvoll die Verantwortung übernimmt (vgl. Lefèvre, 47 f.). Die Beteiligung des Göttlichen an diesem Akt tragischer Wahrheitsfindung (Betonung etwa auch bei Schadewaldt, 280: „Sowohl der Mensch Ödipus wie der Gott Apollon sind in gleicher Weise an diesem Geschehen der Wahrheit beteiligt") scheint mir bei Lefèvre jedoch zu Unrecht nicht mehr weiter beachtet. Auch wenn überzeugend dargelegt werden kann, daß Ödipus schon früher hätte Nachforschungen anstellen können und müssen (vgl. Lefèvre 48 f.), daß er allzu rasch, allzu unbedacht die Herrschaft in Theben angetreten hat (als Ausdruck seiner Hybris), möchte ich nicht ausschließen, daß eben auch dies als Teil einer hintergründigen göttlichen Fügung, die es nach frühgriechischer Überzeugung stets mitzuveranschlagen gilt, zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang sei auf ein Urteil Ottos hingewiesen, das dieser zwar hinsichtlich einer Homer-Stelle trifft, das aber mit nicht weniger Recht auch noch für Sophokles Gültigkeit beanspruchen kann: „Daß ein Mensch lange einem Trug nachläuft, ist dem Leben der Kämpfe und Stürme bekannt genug. Hier aber geschieht es, daß der Trug den Verführten in der Einsamkeit plötzlich ein ewiges Gesicht zeigt und ihn erkennen läßt, daß sein rasender Wille nur der Weg eines höheren Waltens war." (Otto, 198). " s. hierzu auch Bröcker, 31: „Es ist seine selbstbewußte Natur, die ihn mit der Möglichkeit einer falschen Meinung über sich selbst so wenig rechnen läßt, daß er in dem Augenblick, als lokaste die Wahrheit erkennt (v. 1055), immer noch so blind bleibt wie zuvor, bis endlich (v. 1083), alles ausgesprochen ist und ein Nichtsehen der Wahrheit schlechterdings nicht mehr möglich ist."
10
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Vom modernen Ge-stell zur tragischen poiesis
die Ödipus-Interpretation von Hölderlin aufmerksam gemacht. Wie Walter Bröcker in seinem Beitrag „Zu Hölderlins Ödipus-Deutung" schreibt: Der Gott, sagt Hölderlin, ist „nichts als Zeit", — es gibt keinen besonderen Zeitinhalt mehr, mit dem das Göttliche identifiziert werden könnte. Das Inhaltliche, das als Werk Gottes gelten könnte, ist hernach das Gegenteil wie zuvor. 1 2
Ohne eigens auf Hölderlin einzugehen, bestätigt eine neuere und sehr ausführliche Studie zum Thema diese Sicht. Das Buch „Time in Greek Tragedy" von Jacqueline de Romilly geht von folgender Grundfeststellung aus: Time shows through change; and in that respect it is obvious that tragedy deals with time. Its subject matter is always one great event, which overthrows all that existed before: it means death, destruction, reversal of fortune; its strength rests on a contrast between before and after; and the deeper the contrast, the more tragic the event. 1 3
Im Kapitel „The personification of time in Greek tragedy" vermag de Romilly dann zu zeigen, daß schon bei Aischylos, vor allem aber bei Sophokles die Zeit mit all jenen Apostrophierungen bedacht wird, die sonst nur Zeus in seiner Eigenschaft als höchste Schicksalsmacht zukommen 14 . Ähnlich ist auch im „Homo faber" die Zeit das, was als die höchste Schicksalsmacht angesehen werden kann, wie sich sogar auf dem Hintergrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigen läßt. Daß diese von Faber somit zu Unrecht als Widerlegung der alten Schicksalsvorstellung zitiert wird, wurde im vorangegangenen Kapitel an entsprechender Stelle dargelegt. Gegen Fabers Absicht zeigt der von ihm verfaßte Bericht, wie er im und durch das Netzwerk der sich immer engmaschiger miteinander verknüpfenden technischen Systeme schicksalhaft von einer Vergangenheit eingeholt wird, die er in seiner vermeintlich geschichtslosen Techniker-Existenz „abgelegt" zu haben schien. Und wenn sich im „König Ödipus" das göttliche Verhängnis gegen die Absicht des Helden bestätigt hat, fällt der vielzitierte Spruch: „Entdeckt hat gegen deinen Willen dich/ Die alles sehende Zeit" (V. 1211; Schadewaldt). Letztlich ist es in der alten Tragödie und im modernen „Homo faber" die Zeit, die das Verborgene ans Licht bringt und der Sühne zuführt. Bei jener wirkt sie hinter dem Rücken des Helden in der Gestalt eines Gottes oder von Göttern, bei diesem in der Gestalt einer super-konstellierten Technik. Dabei läßt diese im persönlichen Schicksal des Helden sym12
13 14
Bröcker, „Zu Hölderlins Ödipus-Deutung", in: Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. Festschrift, hg. Günther Neske, Pfullingen 1959, 1 9 - 2 3 , dort 21 f. De Romilly, 5 f. Vgl. ebd., 53 ff.
Die Hermes-Baby
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bolisch auch seinsgeschichtliche Zusammenhänge anklingen. Gerade die Super-Technik, die vom modernen H o m o faber geschaffen wurde, den Bedingungen des irdischen Lebens zu entkommen, läßt schließlich auch den leidenschaftlichsten Befürworter dieses epochalen Programms gewahr werden, daß allein die Erde der tragende Grund allen, also auch des menschlichen Lebens ist. So ist es bezeichnenderweise Fabers letzter Flug in der Super-Constellation, der ihm das Licht des Lebens auf Erden als begrenzt, doch in dieser Begrenzung im besten Sinn des Wortes auch als schön, begehrens- und bewahrenswert vorführt. Entsprechend endet das Leben des Menschen, der zuvor noch als im Sinn Heideggers vollendeter Metaphysiker betrachtet werden konnte, in einem Hymnus auf die Erde. Tragischerweise lernt er von der SuperConstellation aus, die ihn gemäß dem epochalen Programm des H o m o faber der Erde entrückt, diese erst eigentlich sehen und ersehnen: Täler im Schräglicht des späten Nachmittags, Schattenhänge, Schattenschluchten, die weißen Bäche drin, Weiden im Schräglicht, Heustadel, von der Sonne gerötet, einmal eine Herde in einer Mulde voll Geröll über der Waldgrenze [...] Wunsch, Heu zu riechen! Nie wieder fliegen! Wunsch, auf der Erde zu gehen — dort unter den letzten Föhren, die in der Sonne stehen, ihr Harz riechen und das Wasser hören, vermutlich ein Tosen, Wasser trinken — Alles geht vorbei wie im Film! Wunsch, die Erde zu greifen — Stattdessen steigen wir immer höher. (S. 195)
Sowohl in persönlicher als auch in symbolisch seinsgeschichtlicher Hinsicht läßt sich sagen, daß es die „Super-Constellation" der moderntechnischen Systemvernetzung ist, die die Funktion des geschickhaften Waltens der alten Daimonen übernommen hat. Dem entspricht auch, daß die Namen, die einst der Bezeichnung der göttlichen Gewalten galten, nun auf technische Entwürfe, Verkehrs- und Kommunikationsmittel übergegangen sind. Hierfür beispielhaft sind der Maxwell'sche Dämon, der Opel -Olympia (S. 159), die //¿r/rar-Baby (Hervorhebungen von mir). Die Schlüsselstellung insbesondere auch der Hermes-Baby für Fabers Schicksal soll im folgenden Abschnitt noch näher vorgestellt werden.
3. Die Hermes-Baby Wenn Faber in seinem Bericht von seiner Hermes-Baby spricht, so ist stets auch eine affektive Aufladung spürbar. Mit ihr verleiht er diesem Namen besondere Ausdruckskraft. Es handelt sich dabei um einen Marken- und Modellnamen, der die Reiseschreibmaschine der Schweizer Firma Hermes bezeichnet. Als solch eine Reiseschreibmaschine ist Fabers Hermes-Baby zunächst ein Gerät der modernen Technik. Alsdann
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Vom modernen Ge-stell zur tragischen poiesis
ist sie ein ganz besonderes modern-technisches Gerät. Es ist nämlich das, mit dem auch Faber, der zunächst mehr als alles andere ein sprachloses Dasein schätzt — „Ich genieße es, allein zu erwachen, kein Wort sprechen zu müssen. Wo ist die Frau, die das begreift?" (S. 91) — noch zur Sprache kommen kann. Es ist dann auch die Hermes-Baby, unter deren Führung Faber von einem Super-Techniker zum tragischen Dichter wird 15 . Wie Faber von seiner Reiseschreibmaschine tatsächlich wie von Hermes, der unter anderem der Gott der Reisenden, aber auch der Schrift ist, geführt wird, ist noch eigens zu zeigen. Daß die Super-Constellation eines Tages, statt wie gewohnt das Fahrgestell auszuschwenken, Faber in der Wüste bauchlanden läßt, hat auch die erste Erwähnung der Hermes-Baby zur Folge. Faber holt sie sich hervor, denn man mußte fast schreiben, bloß damit die lieben Leute nicht fragten, ob man denn keine Frau habe, keine Mutter, keine Kinder, — ich holte meine Hermes-Baby (sie ist heute noch voll Sand) und spannte einen Bogen ein, Bogen mit Durchschlag, da ich annahm, ich würde an Williams schreiben, tippte das Datum und schob — Platz für Anrede: „My Dear!" (S. 29 f.)
Daß die anderen Reisegäste an Frau, Mutter oder Kinder schreiben, ist für Faber eine peinliche Erinnerung an das System der alten menschlichen Bindungen, an dessen Stelle für den Mann von heute das System der modernen, makrofamilial strukturierten Geschäfts- und Arbeitswelt getreten ist. Im Sinn dieses Paradigmawechsels hat Herbert, der sich auf dem Weg zum Tochterunternehmen der Hencke-Bosch-GmbH in Guatemala befindet, sofort an die Leitung der Muttergesellschaft in Düsseldorf geschrieben (vgl. S. 29). Nach seinem Beispiel dachte nun auch Faber, seinem Chef, den er vertraulich beim Vornamen Williams nennt, zu schreiben. Doch dann wird er von seiner Schreibmaschine mit einem „My Dear!" überrascht. Insofern er mit ihr eine andere Anrede zu Papier bringt als er dachte, läßt sich von einer Fehlleistung sprechen. Nach Freud, der diesen Begriff prägte, enthüllen Fehlleistungen einen verborgenen Sinn 16 . Was aber ist der verborgene Sinn des 15
16
Manfred Jurgensen, Max Frisch. Die Romane. Interpretationen, Bern 1972, 143, betont, daß der künstlerisch nicht ambitionierte Faber, indem er „in seinem Leben die klassische Tragödie der Hybris" verwirklicht, ironischerweise ein .Kunstwerk [...] mit seinem eigenen Blute lebt'. Hierbei bleibt allerdings unberücksichtigt, daß Faber, indem er sein Leben zur Sprache bringt, dann doch auch eine Tragödie im Sinn eines poetischen Gebildes schafft. — Daß Faber am Ende dichterische Qualitäten zu entfalten beginnt, wird auch von Lubich betont. Dort wird dies vor allem in stilistischer Hinsicht gesehen (vgl. Lubich, 314). Im übrigen wird von Lubich allerdings — u. a. in Anlehnung an Bauer (s. hier Kap. I, Anm. 43) — ein sehr verharmlosendes Verständnis von Inzest und Tod vertreten. s. Sigmund Freud. Studienausgabe, Bd. I, Frankfurt a. M. 1969, 50 ff.
Die Hermes-Baby
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„My Dear!", das die Hermes-Baby ihrem Bediener wider Erwarten auf das eingespannte Papier schreibt? Wird Fabers familiäres, ja geradezu herzliches Verhältnis zu seiner technischen Berufswelt berücksichtigt, ist zunächst einmal nicht auszuschließen, daß er mit „My Dear!" durchaus jenen Williams gemeint haben kann, von dem er annahm, daß er an ihn schreiben würde. In der verständlichen Verunsicherung und Anspannung nach der Notlandung würde er diesen damit spontan in dessen Image als großer, schützender Bruder innerhalb der homoerotisch durchstimmten Makrofamilie ansprechen. Gegen diese Möglichkeit spricht allerdings, daß Faber nur „annahm", er würde an Williams schreiben. Die Automatik, mit der sein neuer Freund Herbert ,sofort nach Düsseldorf schrieb' (S. 29), teilt er schon nicht mehr. Die Wortwahl „annahm" spielt von vornherein mit der Möglichkeit, daß die Bahn des an sich Naheliegenden — in seinem Fall die umgehende Verständigung seines U N E S C O Chefs Williams — auch verlassen werden könnte. In einem ersten Ansatz, wenn auch nur für einen Moment, handelt es sich hier um eine bewußte Entscheidung, den effektiven Verlauf seines Schreibens seiner Hermes-Baby zu überlassen. Diese schreibt dann „My Dear!", und Faber folgert: „Ich schrieb also an I v y " (S. 30). Ist mit dem überraschend zustandegekommenen „My Dear!" also Ivy gemeint? Wohl kaum. Zwar wird der Brief am Ende an Ivy abgeschickt, doch was dem „My Dear!" folgt, ist alles andere als ein Liebesbrief: Lange schon hatte ich das Bedürfnis, einmal sauberen Tisch zu machen. Endlich einmal hatte ich die Ruhe und Zeit, die Ruhe einer ganzen Wüste. „My Dear — " (S. 30)
Daß es für Faber Zeit geworden ist, sich von Ivy zu trennen, scheint auch den Beifall seiner Hermes-Baby zu finden. Zu Fabers Erleichterung rattert sie bei diesem Teil seines Briefes — es ist der Schlußteil — nur so drauf los: Sowieso hatten wir in letzter Zeit nur noch Krach, schien mir, Krach um jede Kleinigkeit. Krach wegen Studebaker-oder-Nash! Ich brauchte nur daran zu denken — und es tippte plötzlich wie von selbst, im Gegenteil, ich mußte auf die Uhr sehen, damit mein Brief noch fertig wird, bis der Helikopter startet. (S. 30, Hervorhebung von mir)
Von Ivy, dem letztlichen Adressaten des Briefs, sieht und hört sich Faber von seiner Schreibmaschine also losgesprochen. Damit ist gleichzeitig aber auch klar, daß dieser Adressat nicht mit dem anfänglich dahingeschriebenen „My Dear!" identisch sein kann. Wer aber ist für Faber „My Dear!"? Am Tag zuvor hat Faber von Herbert erstmals seit 21 Jahren wieder von Hanna gehört. Allerdings verkniff er sich dabei jedes weitere Nachfragen „— vielleicht aus Angst, er würde mir sagen,
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Hanna sei nach Theresienstadt gekommen" (S. 29). Doch im Un- und Vorbewußten beschäftigt ihn nur noch Hanna. In der Nacht hat er von ihr geträumt: „ H a n n a a l s Krankenschwester zu Pferd!" (ebd.). Nun hat er erstmals Gelegenheit, sich über seine Hermes-Baby mit dem Erfahrenen auseinanderzusetzen. Dabei stellt er folgende Überlegung an: „Ich habe Hanna nicht geheiratet, die ich liebte, und wieso soll ich Ivy heiraten?" (S. 30). Bedeutet die nun erfolgende Lossagung von Ivy vielleicht nur den ersten Schritt für ein erneutes Freiwerden für Hanna? Dafür spricht nicht zuletzt das bohrende Fragen nach Hanna, zu dem es Faber nach dem Brief an Ivy drängt: Einmal fragte ich doch: „Lebt sie eigentlich noch?" [...] „Wo lebt sie denn heute?" [...] „Aber sie lebt noch?" [...] „Du weißt es nicht?" [...] „Hat sie denn noch emigrieren können?" [...] „Wann?" [...] „Wohin?" (S. 31 f.)
Mit der überraschenden Anrede „My Dear!", die die Hermes-Baby Faber vorschreibt, muß also, auch wenn er es selbst noch nicht zugeben kann, die unverhofft erinnerte Hanna gemeint sein. Mit ihr ist dabei noch ein zweites mitzudenken, das er in ihr seinerzeit mit verlassen hat: das damals nicht gewollte Baby, sein eigentliches, auf das nun die Hermes-Baby, sein technisches Ersatzbaby, somit auch zurück- und vorverweist. Daß in ihm nunmehr tatsächlich eine vage Sehnsucht nach dem aufbricht, wogegen er sich einst sträubte, wird er später beim Museumsbesuch in Rom noch selbst artikulieren: Ein italienisches Paar, das durch den großen Kreuzgang ging, interessierte mich mehr als alle Statuen, v o r allem der Vater, der ihr schlafendes Kind auf den Armen trug — (S. 110)
Hatte sich Faber in der Wüste hinter seine Schreibmaschine gesetzt, damit „die lieben Leute nicht fragten, ob man denn keine Frau, keine Mutter, keine Kinder" habe, so hat ihn diese — gleich einem Dämon, der die in ihn gesetzten Erwartungen destruiert — im Grunde doch auch an Frau und Kind schreiben lassen. Denn diese sind es, die in dem unbeabsichtigt dahingeschriebenen „My Dear!" eigentlich angesprochen sind. So verhält sich auch die Hermes-Baby wie ein göttlicher Daimon. Den vermeintlichen Macher und Beherrscher der Natur, der in seiner Hybris noch glaubt, seine Reiseschreibmaschine wie gewohnt als handliches Gerät instrumentalisieren zu können, zwingt diese auf den Weg einer hingebungsvollen Anerkennung der natürlich gegebenen Lebensordnung. Fortan sucht auch er, auch wenn er es tragischerweise noch lange nicht wahrhaben will, die, die ihm natürlicherweise die Nächsten sind: Frau und Kind. Indem die Hermes-Baby Faber das „My Dear!" vor Augen führt, sagt sie ihm bereits, wohin für ihn die weitere Reise eigentlich geht: zu
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den gekappten Elementarbindungen seines Lebens, d. h. zu seinem einst nicht gewollten Kind und zu seiner damals verlassenen Braut, die ihn im Traum der vorangegangenen Nacht hoch zu Roß gleich einer herbeistürmenden Rachegöttin verfolgt hat. In der Ankündigung seiner Hermes-Baby ist somit gleichzeitig mitgesagt, daß die bevorstehende Reise zu den verdrängten Liebsten gleichzeitig zu einer Reise in die Sühne und in den Untergang wird. Auch in dieser Hinsicht wird die Hermes-Baby ihrem göttlichen Namen ganz und gar gerecht. Zuletzt ist Hermes ja auch der, der die Todgeweihten holt und in die Unterwelt geleitet. Später in Caracas, wo sich gemäß dem frühen Wink der HermesBaby schon fast alles erfüllt hat, wird der UNESCO-Ingenieur krank. Die vorgesehene Montage kann er nicht mehr leiten. Dafür läßt er sich mehr denn je selbst führen — bezeichnenderweise wieder von seiner Hermes-Baby, mit der er nun den ersten Teil seines großen Berichts zuwege bringt. Wohl mag er sich von diesem Unternehmen ein letztes Mal erhofft haben, sein fraglich gewordenes Bild von der wissenschaftlich durchschau- und technisch beherrschbaren Welt wieder zurechtrücken zu können. Aber faktisch bekommt er von seiner Hermes-Baby wieder etwas vor Augen geführt, worauf er nicht gefaßt war: sein Leben, „das, auch wenn er es lange nicht erkannt, nichts anderes als eine antike Tragödie ist" (aus dem eingangs zitierten Kommentar Frischs). Im engeren Sinn der Gattungspoetik ist der Bericht, in dem die Tragödie von Fabers Leben zur Sprache kommt, zwar keine Tragödie. Doch die Struktur, die in ihm transparent wird, ist, wie hier dargelegt werden konnte, die Struktur einer tragischen Handlung im Sinn der griechischen Antike. Des weiteren kann festgestellt werden, daß der Ingenieur, der in seinen späten Tagen die Tragödie seines Lebens noch zur Sprache bringt, auf eine Technik rekurriert, die einst auch die alten Tragödien hervorbrachte. Denn die sprachliche Hervorbringung einer Tragödie gehört in den ursprünglichen Bereich der téchne. Als Teil der schönen Künste, die am Beginn der abendländischen Geschichte mit unter den Begriff der téchne gefaßt wurden und nach Heidegger dabei ,in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens' stiegen 17 , war die Tragödie eine, wenn nicht sogar die allerausgezeichnetste Hervorbringung der ursprünglichen poiesis. So kann mit einem gewissen Recht gesagt werden, daß Faber über seine Hermes-Baby vom herausfordernden Entbergen des Ge-stells zum her-vor-bringenden der poiesis zurückgelangt ist. Fabers letztes Vermächtnis ist demnach nicht das eines 17
Heidegger, 38.
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Montage-Leiters, der sogenannten Unterentwickelten die moderne Technik gebracht, sondern das eines Autors, der mit einer ungewöhnlichen Bericht-Montage einer hochtechnisierten Welt Poesie zurückgegeben hat. Daß es sich hierbei um eine Gabe handelt, die nur auf dem Hintergrund moderner Sprachvergessenheit neu zu entfalten war, wird sehr pointiert von Max Frisch hervorgehoben. Frisch kommt in einem Interview auf den Vorteil zu sprechen, den der sprachunbeholfene Faber gegenüber ihm und anderen Sprachbewußten gerade auch hinsichtlich einer neu zu schaffenden Poesie hat: Hier geht es um eine Sprachunbeholfenheit, die manchmal soweit getrieben wird, daß er [Faber] bis in die Gegend der Poesie kommt, weil er nämlich das literarische Klischee nicht hat, so daß er dann plötzlich zu Abbreviaturen kommen kann, an denen wir verhindert sind durch Sprachbewußtsein. 18
„Hermes ist ein freundlicher Gott, den Menschen näher als die anderen Götter", heißt es in Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein" (V, 146). Freundlicher als die Dämonie anderer technischer Geräte erweist sich in der Götter-Technik-Analogie des „Homo faber" auch die Dämonie der Hermes-Baby. Wohl hat sie gegen die Absicht ihres Bedieners dessen Leben als Tragödie enthüllt. Indem sie ihm dabei gleichzeitig aber seine gelebte Tragödie in ein poetisches Gebilde verwandelt hat, ermöglicht sie ihm aber auch die reinigende Erfahrung der Katharsis. So birgt die erschütternde Anschauung, zu der die in Caracas erfolgte poiesis zwingt, gleichzeitig ein Moment der Befreiung.
4. Das Befreiende der tragischen poiesis „Die Befreiung geschieht durch den Eintritt in die Anschauung des Tragischen als solchen, das vermöge der Erhellung selbst reinigend wirkt", schreibt Karl Jaspers in den Ausführungen zur Tragödie in seinem Buch „Von der Wahrheit" 19 . Im Sinn solch einer kathartischen Befreiung erleben wir auch Faber, nachdem er in Caracas mit seiner Hermes-Baby die Tragödie seines Lebens anschaulich gemacht hat. Auf Caracas folgt Cuba. Erstmals dort ereignet sich, was Frisch in der eingangs zitierten Einführung zu seinem „Homo faber" in Aussicht gestellt hat: ,Angesichts der Katastrophe entdeckt er seine TechnikerBlindheit, sterbend preist er das Leben'. In der Schlußvision am Ende 18
19
Peter André Bloch (Hg.), Der Schriftsteller und sein Verhältnis zur Sprache dargestellt am Beispiel der Tempuswahl. Eine Dokumentation zur Sprache und Literatur der Gegenwart, Bern 1971, 80. Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947, 926.
Das Befreiende der tragischen poiesis
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des Schreibprozesses der Zweiten Station findet dieses Ereignis eine überwältigende Bestätigung und Überhöhung. Als ,literarisches Stenogramm, das ich nach drei Jahrzehnten nicht widerrufen möchte', ist die Stelle von Max Frisch vor wenigen Jahren am Ende einer Rede über den Tod erneut zitiert worden: „ A u f der Welt sein: Im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Eseltreiben, unser Beruf! — Aber vor allem: Standhalten dem Licht, der Freude im Wissen, daß ich erlösche im Licht über Ginster, Asphalt und Meer, Standhalten der Zeit, der Ewigkeit im Augenblick. E w i g sein: Gewesen sein." (VII, 92)
Das Fazit des religionsphilosophischen Standardwerks zur frühgriechischen Antike „Die Götter Griechenlands" von Walter F. Otto spricht vom Meteor einer Religion, die nicht bloß den Glanz des Lebendigen leuchtender sehen durfte als je ein Menschenauge, sondern auch darin einzig ist, daß ihr klarer Blick dem ewig unauflösbaren Widerstreit des Lebens offenstand und aus seinem schrecklichsten Dunkel die majestätische Gestalt der Tragödie empfangen hat. 2 0
Aber vielleicht bedarf es gerade der betroffenen Anschauung des Dunklen, das die Tragödie vermittelt, um genau damit auch das Lebendige am leuchtendsten zum Vorschein kommen zu lassen. Vielleicht muß man sich zuerst rückhaltlos der nach- oder vormetaphysischen, in jedem Fall aber tragischen Wahrheit stellen, daß, um mit Heidegger zu reden, im Sein des Seienden immer auch schon das Nichten des Nichts geschieht. Erst damit könnte es gelingen, wieder für „das Wunder aller Wunder" offen zu werden, „ d a ß Seiendes λγ/"21. Vergleichbar äußert sich auch Frisch in der oben zitierten Rede über den Tod: Vom Tod war hier die Rede, weil nur aus unserem Todesbewußtsein sich das Leben als Wunder offenbart. Ich brauche kein anderes Wunder (VII, 92)
Dieses Bekenntnis setzt Frisch ausdrücklich der metaphysischen Denktradition entgegen, wie sie im letzten auf Piaton zurückgeht. Wie er im „Homo faber" und auch in seiner späteren Rede betont, heißt „ewig sein: gewesen sein". Das Leben findet seinen Sinn also nicht darin, in einem geschichtslosen Zustand der Unveränderlichkeit zu verharren, wie dies Faber mit Hilfe seiner Technik immer anzustreben bemüht war. Vielmehr ist es das begrenzte Leben im Wandel, dem bleibender Wert zukommt, da es in seiner Begrenzung erst der Erfahrung und einem positiven Erleben zugänglich wird. Zu dieser Einsicht gelangt Faber, nachdem er die Tragödie seines Lebens zu einer — dabei nicht nur für ihn selbst — kathartisch nachvollziehbaren Anschauung gebracht hat. 20 21
Otto, 282. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 13. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, 47.
Ausblick: Die Geschichte tragischer Dichtung in neuer Sicht Mit der hier vorgelegten Interpretation des „Homo faber" ist auch eine neue Sicht der Geschichte tragischer Dichtung nahegelegt. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst die herkömmliche Sicht dieser Geschichte darzulegen. Ausgehend von der griechischen Tragödie analysiert der hier bereits in der Einleitung zitierte gattungsgeschichtliche Aufriß von Söring als bestimmende Tendenz der weiteren Gattungsentwicklung eine „Dekomposition des tragischen Prozesses". Diese sei „als eine Bewegung — cum grano salis — von Notwendigkeit zu Kontigenz, von Sinn zu Widersinn, von Logik zu Paradoxie" zu begreifen. Ihre letztliche Auflösung finde diese Entwicklung im „sogenannten absurden Theater als einer Nichtigkeits-Erklärung aller metaphysischen, geschichtsphilosophischen oder auch historisch-materialistischen Substruktionsversuche". 1 Geht man von dieser Analyse aus, erweist sich das Tragische geradezu prädestiniert, auch zu einer ausgesprochen epischen Angelegenheit zu werden. Denn daß die dichterisch dargestellte Wirklichkeit immer weniger auf einen letzten Sinn transparent wird, ist ja gewissermaßen auch die Tragik des Romans als ,der Epopöe der gottverlassenen Welt', wie Lukács sie versteht 2 . Auf diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn beide Entwicklungen — die der Tragödie einerseits und die des Romans andererseits — schließlich zur Formation einer Mischgattung zusammenfinden. Geschehen ist dies mit der Entstehung des tragischen Romans in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts 3 . Als Paradigma hierfür kann das Romanschaffen von Thomas Hardy angesehen werden, das ganz dezidiert zur Darstellung moderner Erfahrungen auf Muster der griechischen Tragödie rekurriert. Am deutlich1 2 3
Söring, 12. Lukács, 77. Dabei wurde vor allem im viktorianischen England in literarischen Zirkeln darüber diskutiert, ob, inwiefern und mit welchem Recht der Roman das Erbe der Tragödie angetreten hat (vgl. Jeannette King, Tragedy in the Victorian Novel. Theory and Practice in the Novels of George Eliot, Thomas Hardy and Henry James, Cambridge 1978, 1 ff.).
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Ausblick: Die Geschichte tragischer Dichtung in neuer Sicht
sten ist dies in Hardys „The Mayor of Casterbridge" greifbar. Eine prägnante Zusammenfassung der Parallelen dieses Romans zum „König Ödipus" findet sich in der Studie „,The Mayor of Casterbridge' und ,Tess of the D'Urbervilles': Zwei Formen des Tragischen bei Thomas Hardy" von Willi Erzgräber 4 . Des weiteren wird dort auch der entscheidende Aspekt hervorgehoben, der die Titelfigur von ,The Mayor' von einem antiken Tragödienhelden unterscheidet, den er aber mit anderen tragischen Helden der Moderne gemeinsam hat: Mit ihrem Sterben ist nicht mehr — wie in der antiken Tragödie — die Einsicht in den letzten und wahren Grund der Welt gekoppelt; es gibt für die modernen Helden keine letzte und höchste Erkenntnis, es gibt keine Harmonie zwischen Individuum und Weltordnung, sondern nur Disharmonie; es ist dies die Disharmonie zwischen einer Welt, die in der Sicht der Sterbenden absurd zu sein scheint, und deren Sehnsucht nach Wahrheit, deren Willen, als Mensch, wenn nicht würdig zu leben, so doch mit einer Gebärde prometheischer Selbstbehauptung sterben zu können. 5
In Hardys späterem Roman „Tess of the D'Urbervilles" findet sich das Mißverhältnis zwischen dem Selbstbehauptungswillen des Subjekts und einer ihn konterkarierenden, aber auf Sinn nicht mehr transparenten Wirklichkeit noch weiter zugespitzt. Gehört ,The Mayor' noch zu den „tragedies of rebellion and aspiration, of the desire to change life", wie Jeannette King in „Tragedy in the Victorian Novel" hervorhebt, so muß in Bezug auf die Heldin des späteren Hardy-Romans festgestellt werden: Tess desires merely to maintain her integrity. The novel is the most horrifying statement of Hardy's tragic vision because of the modesty of her desires. 6
Das Phänomen des Tragischen wird hier zum Synonym für ein sich ausweglos verdüsterndes Weltbild. Es unterscheidet sich damit vom tragischen Geschehen der älteren griechischen Tragödien, wo der Sturz des Helden gleichzeitig „die paradigmatische Bewährung einer höheren Ordnung" bedeutete 7 . Andererseits befindet es sich in Übereinstimmung mit einer gesamtliterarischen Tendenz der Moderne, die letztlich im existentialistischen Bekenntnis zur Sinnlosigkeit gipfelt. So lautet dann auch Erzgräbers Fazit zu Hardys ,Tess': Der Roman rückt insgesamt in die Nachbarschaft moderner Kunstwerke, insofern die Welt nicht mehr als ein auf Sinn angelegter K o s m o s erscheint, sondern als ein absurdes Gebilde. E s ist daher nicht überraschend, wenn in einer — 1974 publizierten —
4
5 6 7
Willi Erzgräber, „ , T h e Mayor of Casterbridge' und ,Tess of the D'Urbervilles': Zwei Formen des Tragischen bei T h o m a s Hardy", in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N . F. 25 (1984), 2 1 5 - 2 4 5 , dort 2 2 0 f f . Ebd., 226. K i n g , 120. Lesky, Die griechische Tragödie, 175.
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Abhandlung von Jean R. Brooks, „Tess of the D'Urbervilles: The Move towards Existentialism"8 eine Verbindungslinie zu Camus hergestellt wird. 9
Einer Zusammenfassung der Geschichte tragischer Dichtung von ihren Anfangen bis zu ihrem vorläufigen Ende im absurden Theater und im existentialistischen Roman muß sich die Frage stellen, in welcher Weise dieser Tradition der „Homo faber" zugeordnet werden kann. Wohl liegen von Heia Michot-Dietrich vergleichende Studien zwischen dem „Homo faber" und Camus' „L'Etranger" vor 10 . Doch diese gehen über den entscheidenden Unterschied hinweg, daß bei Faber, wie bereits Kaiser hervorgehoben hat, „Sinnstruktur und Notwendigkeit seines Schicksals" zu erschließen sind 11 . Demgegenüber ist das Schicksal von Camus' Held, gleichwohl auch dieser sich am Ende vorbehaltlos zu ihm bekennt, in der Tat eher zufällig zustande gekommen und verweigert jegliche Sinnstruktur. Aus dem gleichen Grund verbietet es sich, Faber mit den Romanhelden Hardys auf eine Ebene zu stellen. Denn schon dort schwindet der Sinnhorizont der ursprünglichen Tragödie, der dann bei Camus — ganz im Gegensatz zum „Homo faber" — völlig verloren ist. Der „Homo faber" steht der griechischen Tragödie somit nicht nur näher als Camus' existentialistischer Roman, sondern auch näher als das weit ältere tragische Romanwerk von Hardy. Der Rückweg zur griechischen Tragödie, den der „Homo faber" in einer Art Hinterschreitung der gesamten bisherigen Romangeschichte angetreten hat (vgl. Kap. I), scheint allerdings seinerseits schon wieder Romangeschichte gemacht zu haben. Der Maxwell'sche Dämon, der sich, wie hier gezeigt, durchaus mit dem Daimon der griechischen Tragödie vergleichen läßt, taucht als zentrales Motiv in Thomas Pynchons „The Crying of Lot 49" wieder auf (s. Kap. III, Anm. 31). Auch in diesem Roman, der mittlerweile als ein Klassiker der literarischen Postmoderne gilt, wird deutlich auf die griechische Tragödie angespielt. Denn der Name der Heldin lautet „Oedipa". Daß dabei an die griechische Tragödie in ihrer ganzen Bedeutungsweite zu denken ist und nicht nur an das, was Freud aus ihr herausgelesen hat, findet sich in der Pynchon-Forschung bereits 8
9 10
11
Jean R. Brooks, „ ,Tess of the D'Urbervilles': The Move towards Existentialism", in: Ε Β. Pinion (ed.), Thomas Hardy and the Modern World, Dorchester 1974, 4 8 - 5 9 . Erzgräber, 244. s. insb. Hela Michot-Dietrich, „Meursault und Faber: Sieger oder Besiegte? Ein Vergleich zwischen Camus' ,Der Fremde' und Frischs ,Homo faber' ", in: Frischs „Homo faber", hg. Schmitz, 171 — 187. Kaiser, 202.
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Ausblick: Die Geschichte tragischer Dichtung in neuer Sicht
vermerkt 12 . Insbesondere wird dort auch darauf abgehoben, daß der Fortgang der Handlung in „The Crying of Lot 49", in der dem handelnden Subjekt zunächst alles immer undurchsichtiger und sinnwidriger zu werden scheint, auf die Entfaltung einer versteckten Ordnung angelegt sei, die ein entschlossenes Bekenntnis zu ihr verlange: A hidden order reinfuses Pynchon's world with energy, adds to the world's complexity and demands not acquiescence but conscious choice. 1 3
Die transformationsreiche Geschichte tragischer Dichtung scheint doch noch nicht an ein Ende gekommen zu sein. Hinsichtlich der prinzipiellen Welterfahrung, die in der griechischen Tragödie zur Sprache kommt, hat die weitere Gattungsgeschichte vielleicht sogar gerade erst begonnen, auf ihren eigentlichen Ursprung zurückzukommen.
12
13
s. insb. Edward Mendelson, „The Sacred, the Profane, and ,The Crying of Lot 49' ", in: ders. (ed.), Pynchon: A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1978, 1 1 2 - 1 4 6 , dort 118. Ebd., 1 1 7 .
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Personenregister Adorno, Theodor W., 14 f., 29 Aischylos, aischyleisch, 22, 90, 106, 162 Anm. 53, 168, 176 Anders, Günther, 35 f., 43, 45, 48, 53 ff. Aristoteles, aristotelisch, 3, 42, 90, 166 Anm. 57 Bauer, Conny, 23 Anm. 43, 178 Anm. 15 Bertalanffy, Ludwig von, 109 Blair, Rhonda L., 20 Anm. 42, 161, 166 Anm. 56, 167 Anm. 58 Bloch, Peter André, 182 Anm. 18 Böschenstein, Hermann, 46 f., 144 Bradley, Brigitte L., 45, 56 Anm. 77 Brillouin, Leon, 108, 110 Broch, Hermann, 17 Bröcker, Walter, 4 Anm. 9, 174 Anm. 9, 175 Anm. 11, 176 Brooks, Jean R., 187 Butler, Michael, 166 Camus, Albert, 187 Dahms, Erna, 70 Anm. 87 Defoe, Daniel, 19, 26 Deichgräber, Karl, 4 Anm. 9, 104 Anm. 20, 173 Anm. 8 Diller, Hans, 4 Anm. 8 Eliot, T. S., 16 Ellmann, Richard, 17 Anm. 29 Erzgräber, Willi, 18, 186 Esch, Arno, 17 Freud, Sigmund, 178, 187 Freyer, Hans, 33 ff., 37, 43, 45, 48, 50, 57 Friedrich, Gerhard, 167 Anm. 59 Frisch, Max, 1 ff., 5, 19, 27, 44, 48, 66, 100, 166 Anm. 56, 169, 182 f. Gehlen, Arnold, 31 f., 34 f., 37, 43 ff., 48, 52, 54, 57
Geulen, Hans, 18 ff., 22, 24 f., 153 Anm. 43 Gilbert, Stuart, 16 Anm. 25 Glaser, Herrmann, 30 Goethe, Johann Wolfgang von, 103 Halder, Alois, 113 Hardy, Thomas, 185 ff. Hasters, Heima, 158 Hegel, G. W. F., 9, 12 f. Heidegger, Martin, 37 ff., 48, 65, 88, 92 f. Anm. 13, 107, 166 Anm. 56. 171 ff., 177, 181, 183 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von, 172 f. Hesiod, 68 ff. Homer, 16 f., 104 Anm. 19, 104 Anm. 20, 173 Anm. 8 Hölderlin, Johann Christian Friedrich, 176 Ingen, Ferdinand van, 20 Anm. 42 Joyce, James, 16, 18 Jurgensen, Manfred, 178 Anm. 15 Kaiser, Gerhard, 23 Anm. 44, 26,43 f., 106, 167, 187 Kayser, Wolfgang, 9 f. Kerényi, Karl, 167 Anm. 58 Kiernan, Doris, 48, 92 Anm. 13, 165 Anm. 55, 166 Anm. 56 Kieser, Rolf, 20 Anm. 42 King, Jeannette, 185 Anm. 3, 186 Knapp, Mona, 167 f. Anm. 60 Kranzbühler, Bettina, 20 Anm. 42 Kreibich, Rolf, 30, 45, 81 Anm. 5, 102 Lefèvre, Eckard, 91 Anm. 12, 175 Anm. 10 Lehmann, Werner R., 20 Anm. 42 Lesky, Albin, 68, 90, 106, 169 Anm. 61, 173 Anm. 8, 186 Anm. 7 Litt, Theodor, 36 f., 43, 46 ff., 57 f.
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Personenregister
Lubich, Frederick Alfred, 20 Anm. 42, 178 Anm. 15 Lukács, Georg, 2, 9, 11 f., 85 MacBride, Sean, 59 Anm. 78, 60 Mangel, Anne, 108 Anm. 31, Anm. 32 Mauser, Wolfram, 23 Anm. 43 Maxwell, James Clerk, 103, 108 Mendelson, Edward, 188 Anm. 12 Mertelsmann, Gunda, 23 Anm. 43 Meurer, Reinhard, 24 Anm. 45 Michot-Dietrich, Heia, 187 Migner, Karl, 13 Müller, Max, 113 Müller-Salget, Klaus, 161 Anm. 51, 169 Anm. 63 Neis, Edgar, 18 f. Nietzsche, Friedrich 156 Nowak, Herbert, 104 Anm. 19 O'Stark, John 108 Anm. 31 Otto, Walter F., 104 Anm. 20, 173 Anm. 8, 175 Anm. 10, 183 Piaton, platonisch, 65, 67 ff., 71, 164, 183 Pütz, Peter 74 f. Pynchon, Thomas, 108 Anm. 31, 187 f.
Ritter, Joachim 10 Roisch, Ursula 44 ff. Romilly, Jacqueline de, 101 Anm. 14, 154 Anm. 44, 176 Schadewaldt, Wolfgang, 2 Anm. 3, 104ff., 110, 159 Anm. 49, 166 Anm. 57, 173 Anm. 8, 175 Anm. 10 Schiller, Friedrich, 5, 105 Schlechta, Karl, 145 Anm. 41,162 Anm. 52 Schlegel, Friedrich, 9 Schramke, Jürgen, 14 Schmitz, Walter, 3 Anm. 7, 20 Anm. 42, 45 f., 159 Anm. 48, 169 Anm. 64 Schuhmacher, Klaus, 20 Anm. 42 Seubold, Günter, 38, 65 Sophokles, sophokleisch, 4 Anm. 8, 5 f., 105 f., 110, 152, 168, 175 Anm. 10, 176 Söring, Jürgen, 5, 185 Stallmach, Josef, 104 Anm. 20, 173 Anm. 8 Stanzel, Franz, 25 Anm. 46 Szondi, Peter, 90 Viehoff, Reinhold, 1 Anm. 1 Weidmann, Brigitte, 70 Weizsäcker, Carl Friedrich von, 87 f. Wiener, Norbert 29, 64
Sachregister Technik und Natur werden wegen ihres häufigen Vorkommens im Text nicht mehr eigens aufgeführt. Agamemnon, 20, 22, 162 Anm. 53, 168 Akropolis, 167 Anm. 58 Anagnorisis, 3, 166 Aphrodite, 69 ff. Apollon, 4, 141 Anm. 37, 174 f. Ate, 23, 104 Anm. 20, 105 f. Athene, 102, 167 Anm. 58, 169 Bad, Badewanne, 20 ff. Bericht, 2, 19, 24f., 30, 43, 59, 62, 73 ff. 77, 125, 135, 143, 151 ff., 157, 161, 163, 165, 169, 174, 176 f., 181 f. Blindheit, blind, 1, 4, 27, 41 f., 89, 93, 112, 164, 175 Anm. 10, 183 Daimon, Dämon, Dämonie, 7, 19, 27, 102, 1 0 3 - 1 0 7 , 108 ff., 113, 127, 135, 171 f., 1 7 3 - 1 7 7 , 180, 182, 187 Daphni, Daphne, 141 Anm. 37 Demeter, 20 Anm. 42, 141 Anm. 37, 161, 167 Anm. 58 Dionysos, dionysisch, 2, 156 f., 158, 160 Don Juan, 66 f. Eleusis, 141 Anm. 37 Entfremdung, entfremdend, entfremdet, 6, 15, 29, 34, 44, 48, 60, 147 Entropie, 107 ff., 114, 116,119f„ 122, 124, 126, 128, 132, 150 Entwicklungsroman, s. Roman Erde, 70, 126 f., 137 f., 160, 169, 177 Erichthonios, 167 Anm. 58 Erinys,. Erinnye, 23, 70 f., 102, 161, 162 Anm. 53, 168 f. Erlebnis, erleben, 112 ff., 122, 132, 139, 144, 155, 157 ff., 171, 184
Eros, erotisch, 6 5 - 7 1 , 130, 133, 135, 164, 167 Anm. 58 Eumenide, 102, 161, 168 f. Fluch, 70 f., 113, 161, 169 Gaia, 69, 141, Anm. 37, 167 Anm. 58 Genie, 12, 54 Gesetz, Satzung, 92 f. Anm. 13, 102, 106 f., 114, 117 Ge-stell, 40 ff., 48, 171 ff., 182 Gott, Götter, das Göttliche, 1, 4ff., 22 f., 47, 56, 69 ff., 88, 90, 102, 104 ff., 122, 141, 145, 159, 161 f., 167 Anm. 58, 169, 1 7 3 - 1 7 7 , 181 ff. Hades, 20 Anm. 42, 141 Anm. 37, 167 Anm. 58 Hephaistos, 167 Anm. 58 Hermes, 178, 181 f. Hermes-Baby, 7, 44, 153, 161, 1 7 7 - 1 8 2 Humanismus, Humanität, 36 f., 48, 57—65, 81, 166 Anm. 56 Hybris, 1, 3 f., 41 f., 69, 90, 104 ff., 109, 135, 146, 168, 173, 175, 180 Ich-Roman, s. Roman Innerlichkeit, 10, 12 ff., 37 Inzest, inzestuös, 1, 3 ff., 7, 21, 26, 42 f., 46 f., 73 f., 125, 1 3 4 - 1 3 8 , 140 Iphigenie, 23 Kamera, 44, 60, 83 f., 95, 158 Kassandra, 20 Anm. 42, 23 Katharsis, kathartisch, 3, 22, 27, 43, 105, 159, 166, 182, 184 Kind-Frau, 135 Klytaimnestra, 22 f.
200
Sachregister
Kommunikation, 6, 29, 32, 44, 53, 57, 59 ff., 80ff., 85, 88, 100, 129,148 f., 158, 168, 177 Körper, Körperlichkeit, 68, 84 f., 125ff., 129, 135 ff., 142, 145, 155 f., 158, 161 Kreislauf, 80f., 85, 107, 118f., 125, 128, 130, 135, 151 Kronos, 69 ff. Kybernetik, kybernetisch, 29 f., 32 f., 41, 64, 73, 80 f., 89, 124, 132
poiesis, 39 f., 171, 182 Polis, 160, 169 Prometheus, prometheisch, 1, 35 f., 45, 5 3 - 5 7 , 123, 186 Rasierapparat, 44, 67, 80, 117, 128 ff. Rhea, 70 f. Roman, Iff., 5f., 9 - 2 7 , 29 f., 34f., 38, 43 ff., 50, 55, 73, 95, 148, 153 f., 182, 185 ff. Romanheld, s. Roman
Lykabettos, 167 Anm. 58 Makrofamilie, makrofamilial, 62 f., 147 f., 150, 178 f. Maxwell'scher Dämon, 103,107-111,114, 128 f., 132, 177, 187 Maya, 49, 119, 1 2 0 - 1 2 4 , 150 Megara, 141 Anm. 37 Metaphysik, 42, 64 f., 177, 183 Mittag, 21, 144 f., 157, 161 f. Mondfinsternis, 21, 137 f. Mythos, Mythologie, 16, 18 ff., 23 f., 45, 75, 88, 101 f., 141 Anm. 37, 148, 161, 167 Anm. 58 Nemesis, 84 Notwendigkeit, 3, 25, 79, 88, 96, 99 f., 143, 185, 187 Ödipus, Oidipus, 3 f., 42, 47, 48 Anm. 71, 90, 91 Anm. 12, 101 f., 152, 154, 159, 168 f., 174 ff., 186 Omen, 77, 135, 140, 168, 175 Opel-Olympia, 177 Ordnung, natürliche (übergreifende, universale, mythische) bzw. technische (vermeintlich regulier- und beherrschbare), 2, 4, 6 f., 16 ff., 24 ff., 73, 75 f., 78, 81 f., 89, 91, 96,101 f., 106 f., 109 ff., 115,117, 119, 121 f., 124 f., 150, 154, 180, 186, 188, s. auch offenes bzw. geschlossenes System Orest, 169 Paradoxie, paradox, 3, 5, 12, 14, 81, 138, 185 Peripetie, 3, 90 Persephone, 20 Anm. 42, 141 Anm. 37, 167 Anm. 58 physis, 39 Anm. 39, 125 Anm. 35
Schauen, s. Sehen Schicksal, Geschick, 1 f., 4 f., 25, 40 ff., 48, 70, 75, 90, 92 f. Anm. 13, 9 9 - 1 0 1 , 103 ff., 110, 141, 153, 159 f., 169, 172f., 176 f., 187 Schlange, 21, 140ff., 145f., 167 Anm. 58 Schreiberfahrung, 154 Schreibsituation, 27, 152 Schreibprozeß, 1 5 1 - 1 5 4 , 183 Schöpfung, 1, 4, 41 f., 86, 123, 144, 163 Schuld, 21 f., 25, 69, 90, 92 f. Anm. 13, 103 ff., 135 f., 140, 167 Anm. 58, 168 f. Sehen, wahrnehmen, schauen, 74, 79, 101, 112 ff., 118, 138, 143 f., 146, 154 ff., 160, 163 ff., 171 f. Sinn, 4ff., 12, 14, 16 f., 106, 110, 183, 185 ff. Sphinx, 47, 102, 152 Statistik, 25, 101, s. auch Wahrscheinlichkeitslehre Strom, 38, 41, 44, 67, 80, 117f., 125, 128f., 131, 155 Subjekt, Subjektivität, 10, 12f., 15 f., 18, 25, 38, 52, 65, 186, 188 Super-Constellation, 44, 5 1 - 5 3 , 76, 83, 92, 96 ff., 100, 111 ff., 125, 160, 171, 173 f., 177 Superstruktur, 31, 50, 54, 57, 93, 147 System, offenes bzw. geschlossenes, 6, 81, 88, 8 9 - 9 3 , 94, 97, 99 f., 107f., 110, 115, 119, 123 f., 127 ff., 131 f., 136, 146 System, sekundäres bzw. primäres, 33 f., 43f., 4 8 - 5 1 , 92, 95f., 98 téchne, 7, 181 Teiresias, 174 Thermodynamik, 107, 110, 1 1 1 - 1 1 6 Totalität, 6, 11 f., 27, 2 9 - 7 1 , 73, 7 5 - 8 0 , 86, 89, 96, 111 f., 124, 131 ff., 135, 147
Sachregister Tragik, 4, 90 Tragödie, 1 ff., 9, 26 f., 40 ff., 48, 74, 89f., 92 f. Anm. 13, 103 ff., 135, 152 ff., 156, 158 f., 168 f., 173 f., 176, 181 ff. Tragödienheld s. Tragödie Trug, Verführung (durch den Gott), 4, 89 f., 104, 127, 133, 135, 175 Anm. 10 UNESCO, 44, 47, 49, 55, 58 ff., 63, 68, 77, 80 ff., 94, 117, 124, 147, 152 f., 160, 179, 181 Uranos, 69 ff. Venus, 71 Verblendung, 5, 24, 43, 103, 139, 143, 146, 154, s. auch Hybris Vergangenheit, 79, 83, 98 f., 113 f., 154,176 Verkehr, verkehrstechnisch, 33, 49, 60, 62, 75 f., 94, 100, 151, 168, 177
201
Wahrnehmen s. Sehen Wahrscheinlichkeitslehre, Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1, 99 ff., 124, 176 Wärmesatz, 102, 1 0 7 - 1 1 1 , 124 Wärmetod, 107, 115 Wahrheit, 2ff., 25 ff., 41, 91, 1 0 1 - 1 0 3 , 127, 140, 143, 148 f., 156, 160, 165, 172, 174 f., 183, 186 Weltgesellschaft, 55, 62 f., 68 Zeit (als Schicksalsmacht), 176 Zigarre, 49, 93 f., 97 Zopilote, 57, 118 f., 163 Zweck, Zwecksetzung, 33 87 f., 107, 121, 159 Anm. Zeus, 70, 106, 110, 176 Zufall, zufallig, 5, 25 ff., 75,
82, 101, 145,
ff., 37 f., 82, 49 9 9 - 1 0 1 , 153
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER
ROSWITHA BURWICK
Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim Groß-Oktav. X, 352 Seiten, Frontispiz. 1989. Ganzleinen DM 164,— ISBN 3 11 011826 2 (N.F. Band 91/215) Arnims poetologische Integration von Natur- und kunsttheoretischen Grundbegriffen. Sein Verhältnis zu zeitgenössischen Künstlern, Kunstvereinen, Akademien und Museen als Teil seines Kulturprogramms. Analyse der ikonographischen Sinnschicht in Arnims literarischem Werk und Interpretation der Kronenwächter, „Raphael und seine Nachbarinnen" und anderer Schriften.
URSULA REGENER
Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung von Johann Christian Günthers „Verliebten Gedichten" Groß-Oktav. X, 208 Seiten. 1989. Ganzleinen DM 1 0 8 , ISBN 3 11 011218 X (N.F. Band 94/218) Günthers Liebesgedichte werden aus ihrer immer noch biographisch orientierten Lesart herausgelöst. Ihre Traditionsgebundenheit wird als produktiver Dialog mit bestehenden, bis in die Antike zurückreichenden literarischen Vorbildern erkennbar.
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QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER INKA BACH /H E L M U T
GALLE
Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung Groß-Oktav. X , 461 Seiten. 1989. Ganzleinen DM 2 1 0 , ISBN 3 11 012162 X (N.F. Band 95/219) Das Phänomen zahlreicher Psalmengedichte in der Lyrik der Moderne (u. a. von Berthold Brecht und Paul Celan) erfordert zu seinem Verständnis eine genauere Bestimmung des literarischen Gattungscharakters sowohl der biblischen Psalmen als auch der vielgestaltigen Tradition deutschsprachiger Psalmen von Luther bis Klopstock. Der Verlauf dieser Geschichte wird in Einzelinterpretationen aufgezeigt.
in Vorbereitung: K A T R I N M. K O H L
Rhetorik, the Bible, and the Origins of Free Verse The Early " H y m n s " of Friedrich Gottlieb Klopstock Large-octavo. Approx. 290 pages. 1990. Cloth approx. DM 136, — ISBN 3 11 011999 4 (N.F. Band 92/216) First comprehensive study of Klopstock's free-verse "hymns" of 1758/59 (Die Frühlingsfeier et al.). Klopstock's formal innovation is placed in the context of his work on Der Messias and his church hymns, and examined in the light of the biblical and classical traditions (Psalms, classical metres). An Analysis of the poems shows their rhetorical structure and the biblical foundation of language, imagery and free-verse form.
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