Max Frischs "Homo faber": Studien und Interpretationen 9783111381725, 9783110002089


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German Pages 100 [112] Year 1965

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Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung
Aufriß der Geschichte
Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang
Gefüge der Handlung
Bedeutung und Anordnung der Schauplätze
Erzähler, Erzählhaltung, Erzählspannung
Zeit
Erzählphasen und ihre Bedeutung
Einzelinterpretationen
Sprache und Stil
Tragischer Gehalt
Schicksalsmystik
Literatur
Namenregister
Titelregister
Verwendete Abkürzungen
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Max Frischs "Homo faber": Studien und Interpretationen
 9783111381725, 9783110002089

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GEULEN MAX FRISCHS „HOMO FABER"

QUELLEN UND FORSCHUNGEN Z U R SPRACH- U N D K U L T U R G E S C H I C H T E DER G E R M A N I S C H E N V Ö L K E R

BEGRÜNDET VON BERNHARD TEN BRINK UND WILHELM SCHERER

NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HERMANN KUNISCH 17 (141)

HANS G E U L E N MAX FRISCHS „HOMO FABER" STUDIEN UND INTERPRETATIONEN

WALTER DE G R U Y T E R & CO · B E R L I N VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

MAX FRISCHS „HOMO FABER" STUDIEN UND INTERPRETATIONEN

VON

HANS GEULEN

W A L T E R DE G R U Y T E R & C O · BERLIN VORMALS G. J. GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNER — VEIT & COMP.

Ardüv-Nr. 43 30 65/2 © Copyright 1965 by Walter de Gruyter Sc Co.,

vormals G. J. Göjdien'iche Verlagshandlung —

J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner

— Veit Sc Comp. —

Printed in Germany. — Alle Rechte des Nadidrudu, der photomechanisdien Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Drude: Thormann 8c Goetsch, Berlin 44

VORBEMERKUNG Wenn im Folgenden der Versudi gemacht wird, zur Erkenntnis der neueren Erzählkunst beizutragen, so geschieht dies anhand der Interpretation eines ausgewählten Beispiels. Die Beschreibung der Verfahrensweise und Technik des Erzählens im einzelnen, sowie die Frage, inwieweit sich Struktur und Bedeutung des Erzählganzen erkennen und darstellen lassen, stehen dabei im Vordergrund. Unsere Aufmerksamkeit galt dem Roman als artifiziellem Gebilde. Das Problem der Einordnung des Homer Faber in Gruppen und Entwicklungslinien einer Geschichte des modernen Romans überhaupt kann und soll hier nicht gelöst werden. Wenn einleitend der Versuch gemacht wird, bestimmte Möglichkeiten und Ansichten in diesem Zusammenhang vorzutragen, so geschieht es bereits im Hinblick auf die Interpretation dieses einen Beispiels. Das herausgestellte Problem (Wahrheitsversprechen und Wahrheitsfindung) ist demnach nur e i n Problem unter anderen, der Aufriß seines historischen Querschnitts hier lediglich eine Skizze. Die Anregung zu dieser Arbeit verdanke ich meinem sehr verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Günther Weydt*, dessen vielseitiges Interesse für Formen und Probleme der Erzählkunst und dichterischen Prosa sich mir mitteilte und meine eigenen Studien nachhaltig gefördert hat. — Für die freundliche Bereitwilligkeit, den hier vorliegenden Versuch in die „Quellen und Forschungen" aufzunehmen, danke ich dem Herausgeber der Reihe, Herrn Prof. Dr. Hermann Kunisdi. H . G.

* Die Arbeit hat der Philosophischen Fakultät der Rheinischen FriedridiWilhelms-Universität zu Bonn im Juli 1962 als Dissertation vorgelegen.

INHALT

Vorbemerkung Einleitung Aufriß der Geschichte Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang Gefüge der Handlung Bedeutung und Anordnung der Schauplätze Erzähler, Erzählhaltung, Erzählspannung Zeit Erzählphasen und ihre Bedeutung Einzelinterpretationen Palenque

V 1 20 26 33 38 47 57 63 65 65

Rom —Athen

69

Cuba

78

Tagebuchnotizen

83

Sprache und Stil Tragischer Gehalt Schicksalsmystik Literatur Namenregister Titelregister Verwendete Abkürzungen

86 93 96 99 101 102 103

MEINEN ELTERN IN MEMORIAM

EINLEITUNG Christoph Martin Wieland schrieb in seinem Vorbericht zur ersten Ausgabe des Agathon aus dem Jahre 1767: Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige ist, so wir den Liebhabern hiermit vorlegen, gefordert werden kann, besteht darin: daß Alles mit dem Laufe der Welt übereinstimme; daß die Charaktere ... aus dem unerschöpflichen Vorrate der Natur selbst hergenommen seien; ... daß alles so gedichtet sei, daß sich kein hinlänglicher Grund angeben lasse, warum es nicht gerade so, wie es erzählt wird, hätte geschehen können. Diese Wahrheit allein kann ein Buch, das den Menschen schildert, nützlich machen, und diese Wahrheit getraut sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathon zu versprechen1. Lessing bezeichnete dann den Agathon als den ersten und einzigen Roman für den denkenden Kopf, von klassischem Geschmack In der Tat dürfen wir Wieland den ersten großen deutschen Romancier nennen; er sorgte für Verbreitung und Ansehen der Gattung und pries den Roman als ein Kunstwerk von hohem Rang. So unter anderem gegenüber Reichardt, dessen „Bibliothek der Romane" eine Reihe älterer Werke vorsah, von denen jedoch lediglich der gehaltliche Extrakt übernommen werden sollte. Bei einem Roman, schreibt Wieland, wie bei allen anderen Gedichten, machen die eigene Art der Ausführung und Behandlung, die lebendige Darstellung, die Kraft und Wahrheit des Kolorits, die Schönheit des Details und der Effekt, den dies alles wieder im Ganzen zusammen tut, gerade den Wert des Werkes aus; der Geist lebt und webt in dem allen. Ihn davon abzuziehen, ist unmöglich, ihr würdet einen toten Leichnam übrigbehalten3. — Beide Wielandzitate sind aufschlußreich für unsere Untersuchung. Verwenden wir das erste als Folie, von der sich die roman1

1

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1

Wieland, Werke, hrsg. von Franz Muncker, Stuttgart o. J., Bd. 4, S. 9 f. — Vgl. allgemein zum Problem der Wahrheit in der Dichtung: Wolfgang Kayser, Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines Begriffes in der deutschen Literatur. Hamburg 1959. Lessing, Werke, hrsg. von Heinrich Kurz, Leipzig o. J., Bd. 3, S. 228. (Hamburgische Dramaturgie, 69. Stüds) Wieland, Werke, Bd. 22, Kleine Schriften II, hrsg. von Wilhelm Kurrelmeyer, Berlin 1954, S. 17 (Anzeige von: „Bibliothek der Romane" . . . 1778). Geolen, Max Frisch

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Einleitung

artigen Hervorbringungen unserer Epoche gut abheben werden, so lehrt uns das zweite die Grundregel, die Verfahren und Betrachtungsweise bestimmt. Daß im Roman Alles mit dem Laufe der Welt übereinstimme und sich kein hinlänglicher Grund angeben lasse, warum es nicht gerade so, wie es erzählt wird, hätte geschehen können, bedeutete — zumindest für den frühen Wieland — die Wahrheit, die ein Buch nützlich machen kann. Geschah dieser Hinweis einerseits zur Absicherung der „fiction" im Agathon selbst, dessen Abenteuerlichkeit leicht hätte unwahrscheinlich wirken können, so macht er andererseits deutlich, daß der Lauf der Welt, alle absehbaren und zu entdeckenden Möglichkeiten Inbegriffen, Maßstab und Raster der Fiktion blieb, die ihn allenfalls verklärte oder, wo er verdunkelt schien, aufhellte und freigab. Daß Wahrheit für Wieland nicht bloße Wahrscheinlichkeit, sondern Offenbarwerden des Menschenmöglichen bedeutete, das eine Skala vernünftigen Ausmaßes überspielt, beweist ein Blick in seine Romane, deren durchtriebene Erzählkunst das Mittel ist, die schillernde Vielfalt des Möglichen zu unterbreiten, ohne dabei je den Verdacht zu nähren, die Wahrheit könne verfehlt oder unabsehbar werden. — Freilich, Wielands Agathon erschien 1767, der Überblick seines Erzählers gelang mühelos, und er hielt das Versprechen, die Wahrheit zu erzählen. Ohne hier den außerordentlich vielschichtigen und verwickelten Prozeß einer Entwicklung des deutschen Romans und seiner Einschlüsse im Wielandschen Sinne bis in unsere Tage hinein aufzurollen, darf man sagen, daß sich Überblick und Gestaltung des Überblicks für den Erzähler in zunehmendem Maße kompliziert haben. Die Reaktion der künstlerischen Mittel und Möglichkeiten auf diese Komplikationen, etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in unsere Zeit, läßt den krisenhaften Verlauf der Gattung verständlich erscheinen. Bereits ein Hinweis wie der Herders: Die in uns wirkende, Vieles zu Einem schaffende Kraft ist der Grund des Traumes; sie werde auch Grund des Romans, des Märchens?, stellt vor Probleme. Der Traum, so heißt es weiter, zeichne im Mondlicht, so audi der Roman, das Märchen. Damit war die Position Wielands schon aufgegeben, ja alles reinliche und bündige Erzählen überhaupt, das Studierte, das Gefliessene, das Geordnete daran wurde unausstehlich (Hippel). Der Erzählgegenstand selbst, die vorgestellte Sache, traten in den Hintergrund des Interesses, da für das Hauptvergnügen an einem Kunstwerk am Ende immer das Herz und der Geist des Künstlers selbst (Heinse) verantwortlich seien. Die Meinungen (Sterne's Einfluß), Herz und Geist des Künstlers selbst, als der eigentliche Hauptgegenstand des Erzählens, schufen damit eine neue Spielart des 4

Herder, Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 23, S. 295.

Einleitung

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Romans, besser: eine Modifikation der Haltung seines Erzählers, der die Erzähl- und Längsspannung des Ganzen auflöste zugunsten eines höheren Amüsements, der witzig-ironischen oder empfindsamen, in jedem Falle umständlich-subjektiven Ausbreitung von Welt. Was der Feinstruktur des Romans dabei im einzelnen zugute kam (Wort- und Metaphernspiele, Einfallsreichtum auf engstem Raum), ging der Großstruktur — und das gilt bis zu einem gewissen Grade noch für Jean Paul — verloren. Bereits bei Wieland gab es die ausführliche Einschaltung des Erzählers, die Lokkerung des Erzählzusammenhangs zugunsten der Meinung, des glänzenden poetischen Kommentars. Nur: Wieland verwandte sie konstruktiv und integrierte sie stets im Hinblick auf das Erzählganze. Hinzu kommt, wie bereits an der Äußerung Hippels offensichtlich, die polemisierende Haltung gegenüber Regel und Gesetz: . . . denn bei der Beschreibung, die ίώ mir vorgenommen habe, so meinte ζ. B. Sterne, werde ich mich weder an seine (des Horaz) Regeln, noch an die Regeln von irgendeinem lebenden Wesen haltens. Entschieden gegen eine Aufweichung der Form und des Gegenstands, so wie er sie vorstellte, wandte sich dann Lichtenberg, der Goethe einen eingeschränkten Kopf oder einen icWec&fen Mann nannte, weil er den Werther zur Selbstbefreiung schrieb. Es ist ein Fehler, den der bloß witzige Schriftsteller mit dem ganz schlechten gemein hat, daß er gemeiniglich seinen Gegenstand eigentlid) nicht erleuchtet, sondern ihn nur dazu braucht, sich selbst zu zeigene. Die Richtigkeit des Romans beruht nach Lichtenberg darauf, daß man die ... Charaktere gleichsam wie die Steine im Schachspiel betrachtet und sein Spiel nicht durch Veränderung der Gesetze zu gewinnen sucht... auch sie nicht außer Aktivität setzt, mn seinen Endzweck zu erhalten, sondern lieber mit dir Wirksamkeit derselben gewinnt1. Vorzügliche Hinweise, aber Heinse, Goethe, Jacobi und Moritz entdeckten gerade das Vergleichslose und Verhältnislose der Charaktere, die sich dem Zugriff entzogen, deren Einheit und Wahrhaftigkeit sich ausschließlich dem Gefühl offenbarten, allerdings dann zu Lasten ihrer „Geschichte", ihrer Fabel, deren Konturen versanken im Strom der Reflexionen, geschachtelten Impressionen und Skizzen. Goethe endlich gab eine die Vielfalt der Erscheinungen lässig bündelnde Definition des Romans, indem er ihn eine subjektive Epopöe nannte, in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln, es frage sich nur, ob er eine Weise habe; das andere 5

β

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1*

Laurence Sterne, Tristam Shandy, in der Übersetzung von A. Seubert, H a m burg 1962, S. 10. G. Ch. Lichtenberg, Werke, hrsg. von Wilhelm Grenzmann, Frankfurt 1949, Bd. 1, S. 325. G. Ch. Lichtenberg, ebd. S. 350.

4

Einleitung

wird sich schon finden8. Was seinen eigenen Fund einer epischen Kontinuität, seine Weise anlangt, so demonstrierte und praktizierte er sie in den großen Romanen, die jedoch, selbst bereits das Äußerste innerhalb der gewonnenen Möglichkeiten, eine nicht immer richtungweisende Wirkung ausübten. Die Verlängerung und der Ausbau des hier geschaffenen epischen Systems beschäftigten Nachfolger und Epigonen mit fragwürdigem Gewinn, da sie in vielen Fällen bereits nicht mehr an den Grundvoraussetzungen dieses Systems partizipierten. Aber auch Mißtrauen gegenüber der Romanform als solcher, sowie Zweifel an ihrer idealen Bewältigung sind keineswegs selten. So nannte Schiller, von seinen Vorstellungen her völlig zurecht, den Roman einen Halbbruder der echten Didotung und Hölderlin sah in seinem so interessanten und beachtlichen Romanentwurf Hyperion mehr ein Gemengsei zufälliger Launen, als die überdachte Entwicklung eines festgefaßten CharaktersBegeisterte Zustimmung fand die Romanform dann bei Friedrich Schlegel, der ihre Möglichkeiten bedenkenlos strapazierte: Ich kann mir einen eigentlichen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen™. Der Roman ist das romantische Buch schlechthin, ein Individuum für sich und keiner Gattung angehörig. Das Beste in den besten Romanen ist nach Schlegel nichts anderes als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner Erfahrung, die Quintessenz seiner EigentümlichkeitDer Roman sei ein Kompendium, eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums12. Der Dichter könne infolgedessen nur e i n e n Roman schreiben, es sei denn, sein Leben erführe eine entscheidende Wendung. Man darf annehmen, daß diese und ähnliche Postulate, die den Roman vor nahezu unlösbare Aufgaben stellten, die weitere Entwicklung der Gattung in Deutschland zugleich belastet und befruchtet haben. Es hat lange gedauert, bis wir — hier vor allem verwirrt durch ausländische Hervorbringungen der gleichen Zeit — zu einer gemäßen Anschauung der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts gelangten. Die Romane des sogenannten „poetischen Realismus" von ihren artifiziellen und poetologisdien Voraussetzungen her auf eklatante Weise begreiflich gemacht zu haben, ist das Verdienst 8

Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 498 (Maximen und Reflexionen, 938). • Hölderlin, Werke, hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6, S. 87 (Brief an Neuffer zwischen dem 21. und 23. Juli 1793). 10 Schlegel, Werke, Bd. 3, Wien 1846, S. 222 („Brief über den Roman"). 11 Schlegel, ebd. S. 223. 11 Schlegel, Krit. Fr. 78, in: Kunstansdiauung der Frühromantik. Deutsche Literatur, Reihe Romantik, hrsg. von Paul Kludkhohn, Bd. 3, S. 139.

Einleitung

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Wolfgang Preisendanz 123 . „Will man", so formuliert Preisendanz im Hinblick auf die Bedenken der in- und ausländischen Kritik gerade diesen Romanen gegenüber, „ein anderes, positives Verhältnis zu diesen Erzählern gewinnen, so muß man . . . sich der Einsicht öffnen, wie diese Autoren in einer Zeit, da unermüdlich die Formel wiederholt wurde, man müsse die Wirklichkeit darstellen ,wie sie ist', eine eigentümlich poetische Sprachfähigkeit bewahrt und gewonnen haben; man muß sich dem Eindruck öffnen, daß es ihnen gelang..., durch diese spezifisch poptische Sprachfähigkeit den Spielraum der Dichtung zwischen Ideologie und vergegenständlichender Wissenschaftlichkeit sicherzustellen " 1 2 b . Indessen bleibt zu erwägen, ob wir die einer solchen Haltung entsprungenen Erzählgedichte dann noch „Romane" nennen dürfen, eine Erwägung freilich, die sich insgeheim abermals orientiert und verwirrt an den gattungsverwandten und gleichzeitigen Schöpfungen der ausländischen Literatur. Theorie und Praxis, so zeigt sich immer wieder, geben hier keine entscheidende Antwort, da sie jeweils bedingt formulieren, bedingt demonstrieren. Die Romanform als „Gattung", eindeutig bestimmbar, gewissermaßen als Disziplin, weil völlig anderen ästhetischen und literarhistorischen Bedingungen verpflichtet, gab es in der deutschen Literatur bislang nur einmal: im 17. Jahrhundert 13 . Seitdem aber scheint es unmöglich, eine verbindliche Formel oder Anschauung des Romans zu finden, will man die Fülle der Erscheinungen nicht vergewaltigen. Wenn Thomas Mann vom Roman des 20. Jahrhunderts befürchtete, es komme nur das in Betracht, „was kein Roman mehr ist", und hinzufügt: „Vielleicht war es immer so"14, so kann man dem zustimmen, wenn man daraus versteht, daß jeder Roman für seinen Schöpfer ein Neues, ein Ereignis, ein komplexes Unternehmen bedeutet, dessen Durchführung sich zwar einer geläufigen Technik, sie übernehmend oder modifizierend, bedient, dessen je eigentümlicher, einmaliger Wagnischarakter sich jedoch weit von dem zu entfernen scheint, was immer noch und immer wieder im landläufigen Sinne unter Roman begriffen wird. Im Hinblick auf diesen Wagnischarakter und 12a ψ . Preisendanz, Voraussetzungen des poetischen Realismus in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, in: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, Göttingen 1963. i2b Ebd. S. 209 f. 13

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Vgl. hierzu den sehr guten Uberblick in: R. Alewyn, Erzählformen des deutschen Barock, in: Formkräfte der deutschen Dichtung vom Barock bis zur Gegenwart, Göttingen 1963, S. 21—34. — Zur Geschichte des deutschen Romans bis zu Goethes Tod vgl. G. Weydt, Der deutsche Roman von der Renaissance und Reformation bis zu Goethes Tod, in: Dt. Phil. i. Aufr., Bd. 2, 2. Aufl., Sp. 1217—1355. Thomas Mann, Neue Studien, Berlin/Frankfurt a. M. 1948, S. 167.

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Einleitung

seiner Reflexion, die den Roman nicht selten durchzieht, ja ihn gelegentlich evoziert, glauben wir — gerade in Zusammenhang mit der Entwicklung und Geschichte des deutschsprachigen Romans — von seiner „Krise" sprechen zu dürfen. Eine Krise also nicht ausschließlich des 20. Jahrhunderts. Den Grund — wir haben es bereits angedeutet — für die zahlreichen Modifikationen der Romanform seit Wieland, ihrer Umschmelzung und vielfachen Bearbeitung, sehen wir vor allem in einer früh sich ankündigenden Unsicherheit des Uberblicks und des Wahrheitsversprechens im Wielandschen Sinne (vgl. unser erstes Zitat). In dem Maße, in dem die Reflexion dieses Wahrheitsversprechens notwendig wurde, geriet sie selbst immer mehr in den Prozeß des Erzählens und damit in den Vordergrund des Romans, der sie schlechterdings diskutieren, oder aber im besten Falle gestalten, zum Gleichnis verdichten kann. Auf die Problematik einer solchen Gestaltung hat, um gleidi ein Beispiel der jüngsten Entwicklung herauszugreifen, für unsere Zeit und im Hinblick auf ein akutes Problem Uwe Johnson in seinem Essay Berliner Stadtbahn aus dem Jahre 1961 aufmerksam gemacht15. Der Verfasser berichtet darin von den Schwierigkeiten, die ihn daran hinderten, einen Berliner Bahnhof zu beschreiben. Die Grenze, die ein Reisender, der von Ostberlin kommt und in einem Westberliner Bahnhof aussteigt, überfahren hat, ist nicht nur eine Grenze zwischen zwei Städten, sondern auch die Grenze der zweigeteilten Welt. Eine Grenze an dieser Stelle wirkt wie eine literarische Kategorie. Sie verlangt die epische Technik und Sprache zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden1β. Der Ausdruck Flüchtling ζ. B., als eine Bezeichnung für jenen Reisenden, ist schon bedenklich und hat propagandistischen Wert". Das zweiseitige Problem der Wahrheitsfindung in einem solchen Falle wirkt ... hinein in die Phase der Konzeption, es bestimmt die Auswahl der Einzelheiten, die den Text konstituieren sollen, wie sie die Realität konstituieren18. Die literarischen Konsequenzen, die sich für den Erzähler ergeben, der einen so beschaffenen epischen Text herstellt, lauten: Aufgabe der Allwissenheit des Erzählers, Aufgabe des Wahrheitsversprechens, Einweihung des Lesers in die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung. Grundsätzlicher und radikaler formulierte jüngst Helmut Heißenbüttel 19 das Problem des Wahrheitsversprechens. Es gibt, 15 14 17 18 19

U.Johnson, Berliner Stadtbahn, in: Merkur 1961, Heft 8, S. 722 ff. U. Johnson, ebd. U. Johnson, ebd. U. Johnson, ebd. H. Heißenbüttel, Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit 1964, in: Merkur 1964, Heft 3, S. 296 f.

Einleitung

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neben anderen, eine dritte Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit, das ist eine des richtigen Schreibens überhaupt, dessen, wie man die Wörter und Sätze findet zu sagen, was zu sagen sich einem aufdrängt. Diese Schwierigkeit, so meint Heißenbüttel, habe es schon immer gegeben, und ihre Bewältigung sei von alters her das erste Kriterium gewesen für das, was geschrieben worden. Hier nun sei etwas Neues eingetreten: . . . das ist der Zweifel, ob überhaupt noch sagbar ist, was gesagt werden kann. Ein Zweifel, dem die Zuversicht auf den schließlich richtigen sprachlichen Ausdruck der Wahrheit verlorenzugehen droht . . . Ein Zweifel, der die Erfahrung den Möglichkeiten der Sprache entwachsen sieht.. ,20 Wir werden auf das Problem des Sagbaren und der Sprachlosigkeit im Zusammenhang mit den Romanen Max Frischs noch zurückkommen. Es ist jedoch offensichtlich, daß der vielschichtige Prozeß eines Versuchs der Wahrheitsfindung, mag er nun eingestanden werden oder nicht, Typen, Figuren und Systeme der epischen Darstellungsweise entwickelt, die im Hinblick auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Erzählung und Roman als artifiziellen Gebilden interessante und überraschend vielseitige Effekte erzielen. So wiederum bei Uwe Johnson in seinem ersten Roman Mutmaßungen über Jakob. Ein Blick in das erste Buch bereits genügt, um zu erkennen, was wir hier meinen. Wir unterscheiden dabei einmal die rekonstruierbare, chronologische Ereigniskette, zum anderen die Anordnung dieser Ereignisse im Erzählvorgang, den der Roman präsentiert. Ist Jakobs Tod innerhalb der chronologischen Ereignisreihe das letzte Glied, so wird er als Information und feststehende Gegebenheit im Erzählvorgang gleich zu Anfang mitgeteilt. Die Mutmaßungen, die über diesen Todesfall geäußert werden, reproduzieren die zur „Geschichte" sich zusammenschließenden Verhältnisse und Zusammenhänge des „Falls" Jakob, der der jüngsten Vergangenheit angehört. Hierzu entwirft der Autor 1. eine Erzählung, 2. einen immer wieder sich einschaltenden Dialog, von Leuten veranstaltet, die wir „Mutmaßer" nennen wollen, 3. eine Art „inneren Monolog", den er im ersten Buch abwechselnd Gesine und dem Agenten Rohlfs zur Verfügung stellt. Alle die eben genannten „Erzählermöglichkeiten" haben einunddenselben Stoff zum Gegenstand: die Geschichte Jakobs und ihre Hintergründe, von den Anfängen bis zu Jakobs Tod. Die Entwicklungslinie der „story", sowie die Informations- und Materialbereiche, die ihr zuwachsen, werden somit nicht nur auf verwickelte Weise organisiert und proportioniert, sondern erhalten auch, je nachdem durch welches der drei „Erzählmedien" sie sich bewegen, in ihrer Bedeutung und Aussage eine andere Färbung. Nicht so zu verstehen, daß der gleiche Erzählgegenstand ebenmäßig hinter- oder nacheinander von H. Heißenbüttel, ebd.

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Einleitung

allen Erzählermöglichkeiten aufgegriffen würde, sondern die Erzähler, so dürfen wir einmal sagen, fallen einander ins Wort und bauen so — sich gegenseitig wiederholend, widersprechend und ergänzend — gewissermaßen polyphon den Erzählvorgang auf, tragen ihn weiter, spinnen ihn fort. Das Wissen des Lesers um die fortschreitende „Geschichte" ist zugleich das Wissen um deren Fragwürdigkeit und Problematik; er erkennt die Schwierigkeiten ihrer epischen Bewältigung und partizipiert an den Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung. Die mit Hilfe mehrerer „Erzähler" geschaffene perspektivische Auffächerung des Geschehens gestaltet seine Problematik auf anschauliche Weise. Die „Schwierigkeit", die man dem Roman nach seinem Erscheinen zuschrieb, beruhte vor allem auf der Undurchsichtigkeit des Erzählvorgangs, auf der mangelhaften Kontur seiner Geschichte, seiner Fabel, deren Verlust, hier wie in vielen anderen Fällen, zum Inhalt eines der beliebtesten Argumente wider den „modernen" Roman geworden ist. Die Angriffe richten sich vor allem gegen die unverhältnismäßig breite Einarbeitung von Tatsachenmaterial, Gedanken, Erfahrungen, Reflexionen. Der französisdie Kritiker Wladimir Weidlö kommt in diesem Zusammenhang zu der Überlegung, daß die immer weiter sich öffnende Kluft zwischen Phantasievorstellung und Wissen im Zweifel an der Gültigkeit der Phantasiewelt begründet sei. Die hieraus resultierende „Verdrängung der Fabeln" begründe der moderne Romancier mit ihrer Unwahrheit. Die Fabel aber, so meint Weidl£, enthalte Wahrheit, solange sie ein Produkt der freien Einbildungskraft sei. „Die gesamte innere Welt des Menschen und seine Persönlichkeit selber leben von Gnaden der Phantasie, weil ihrem Dasein die Vernunft allein keinerlei Gewißheit zu geben vermag. Dagegen entspringt die Lüge einer Funktion des Intellekts und ist ebenso diskursiv wie das mathematische Denken. Darum — wenn er sich auf die Fabel verläßt, wenn er sich auf die Fabel stützt, gelangt der Dichter zu der ihm gemäßen Wahrheit, ja zur Wahrheit überhaupt. Wenn er hingegen auf die ,fiction' verzichtet, so entgeht ihm auch die Wahrheit" 21 . Darin erkennen wir im Grunde wieder das Wielandsche Schema, dessen Auflösung beklagt wird. Anstelle jeder weiteren Erörterung konfrontieren wir das Zitat des angesehenen französischen Kritikers mit einem Zitat aus Thomas Manns Dr. Faustus: Wir haben da einen Anspruch von Richtigkeit, den das Gebild an den Künstler stellt ... Ein unerbittlicher Imperativ der Dichtigkeit, der das Überflüssige verpönt, ... richtet sich gegen die zeitliche Ausbreitung, die Lebensform des Werkes. Werk, Zeit und Schein, sie sind eins, zusammen verfal11

W. Weidli, Die Sterblichkeit der Musen, in der Übersetzung von Karl August Horst, Stuttgart 1958, S.43.

Einleitung

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len sie der Kritik. Sie erträgt Schein und Spiel nicht mehr, die Fiktion, die Selbstherrlichkeit der Form ... Zulässig ist allein noch der nicht fiktive, der nicht verspielte, der unverstellte und unverklärte Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblicki2. Indessen wird auch diese Forderung, wenn wir sie auf den Roman beziehen, die Erzählkunst vor Aufgaben stellen, die ihr nicht gemäß sind, ja sie würde den Roman als Kunstform zum Scheitern bringen, da sie ihm entzieht, worauf er in beträchtlichem Maße angewiesen ist: seinen ernst und tief zu nehmenden Spielcharakter, der wiederum gerade für die Erzählkunst Thomas Manns so bezeichnend ist. Im Hinblick auf das Problem der Fabellosigkeit, das ohne Zweifel audi ein Problem des Uberblicks und des Wahrheitsversprechens ist, machen wir ja ebenfalls an den Romanen Thomas Manns wiederholt die Erfahrung, daß eine „Geschichte", als die fiktive Figuration eines mählich sich entwickelnden Geschehnisablaufs, nur schwer präparierbar scheint. Sie ist zwar vorhanden, wird aber im Zuge der ausführlichen Unterbreitung handlungsarmen Materials verschleppt und oftmals gänzlich verschüttet. Geschichte als Handlung versickert über weite Strecken in den erzählfremden Elementen der Reflexion und Erörterung. Nicht mehr der Gang der Geschichte allein macht das Erzählen aus. Episoden und Szenen gliedern sich nicht mehr zum anschaubaren Gleichnis der Welt und sind darin eigenständige Bauteile. Abenteuer, Entwicklungen, Konflikte wirken nicht mehr als selbständige Kräfte, die fraglos an der Schöpfung eines Menschenbildes beteiligt wären. All diese Momente sind vielmehr selbst der Gegenstand eines kritischen Erzählens und der kritischen Reflexion des Erzählers. Das heißt: die Phänomene stehen nicht für sich und als solche, sondern sie selbst werden befragt, beschrieben, relativiert. Die zahlreichen Einschübe reflektierender und erörternder Art geschehen jedoch nicht willkürlich, sondern konstituieren die inneren Verhältnisse einer Geschichte. Alles „äußere" Geschehen wird durch sie erst transparent und von seinem Wesen her gegenwärtig. Der Fluß der Handlung scheint zwar zu versiegen, Konturen und Wegweisungen verblassen, gerade dann aber, wenn die Erzählung bewußt desorientiert, ist sie in hohem Grade aktuell, weil sie die inneren Voraussetzungen des Geschehens zum Gegenstand ihrer Kunst macht. Die Erzählung von der alchimistischen Steigerung Hans Castorps, als eines geistigen Abenteuers ζ. B., ist die Erzählung menschlichen Daseins, dessen epische Vergegenwärtigung vor allem das Wie seiner Erscheinungen präsentiert. Dieses „Wie" jedoch, so zeigt sich, wird zum Problem, nicht nur des Erzählers, sondern auch und vor allem seines Gegenstands. So kommt es, daß äußere Vorfälle, Begebenheiten, Schauplätze, ebenso wie die Erscheinungen innermenschlidien Daseins, Liebe, "

Thomas Mann, Dr. Faustus, Berlin/Frankfurt a. M. 1947, S. 382.

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Einleitung

Furcht, Hoffnung usf., nicht mehr als solche, d. h. aber als überkommene, geglaubte, in die Handlung eingehen, sondern infolge ihrer unbeirrt kritisdi-ironischen Durchleuchtung gebrochen erscheinen und ihre Eindeutigkeit verlieren. Das ironische Spiel mit der Mannigfaltigkeit und Mehrdeutigkeit der Phänomene aber ist nicht Selbstzweck, sondern intendiert deren vielschichtigen und komplizierten Sinnzusammenhang innerhalb eines Werkganzen als Kunstschöpfung. Das Artistische des Erzählens überblendet in diesem Falle die reine Kontur seines Gegenstandes und vergegenwärtigt ihn neu durch die Vielfalt seiner Erscheinungsmöglichkeiten. Die sprachgetragene Realität ist obenhin noch eine vertraute, steht aber gleichzeitig für ein vielfältiges Dahinter, dessen ironisierende Darstellung sie verfremdet und unsicher erscheinen läßt. Auch für die Erzählkunst eines Robert Musil ist bezeichnend, daß der Gang der Geschichte, ihre Längsspannung, aus ähnlichen Gründen zurücktreten. — Das zu schildern, was ist, war ein Anliegen des Realismus. Die Poetik Musils aber fordert: Aufgabe der Dichtung ist es, zu schildern was sein soll; oder das, was sein könnte als eine Teillösung dessen, was sein soll*3. An die Stelle der Realität tritt die Utopie, nicht als Ziel oder Horizont einer idealen Konstruktion, sondern als Richtung, als das, was sein könnte. Dieser Vorgang ist begründet im Zweifel an der Verbürgtheit der Realität, und bei Ulrich, dem Helden des Romans Der Mann ohne Eigenscbaften**, nimmt er die spezifische Form des die Welt anders Denkens an". Für die erzählende Dichtung ergibt sich daraus, daß der Zweifel an der Verbürgtheit der Realität notwendig auch den Zweifel an der fiktionalen Realität der „Geschichte" nach sich zieht. Das anders denken verlangt ein anders erzählen: Nicht in Zeitreihe erzählen. Sondern hintereinander, zum Beispiel: ein Mensch denkt a, tut Wochen später das Gleiche, aber denkt b. Oder sieht anders aus. Oder tut das Gleiche in einer anderen Umwelt. Oder denkt das Gleiche, aber es hat eine andere Bedeutung und so weiter. Die Menschen sind Typen, ihre Gedanken, Gefühle sind Typen; nur das Kaleidoskop ändert sich. Dann aber so Zusammengehöriges in continue erzählen. Vorgreifend. Oder zurück- und nochmals aufgreifendSi. Damit erhalten wir ein wichtiges Stichwort, das uns die Eigenart dieses Erzählens leichter erschließt: das Kaleidoskop. Menschen, Gedanken, Gefühle sind zwar Typen, ihre Funktion aber ist eine veränderliche, da sie, in Abhängigkeit von den je möglichen Konstellationen 88 u

,s

*

R. Musil, Drei Frauen, hrsg. von Adolf Frisi, Hamburg 1952, S. 144. Vgl. jetzt eine erste, instruktive Interpretation des Romans von W. Rasch, in: Der deutsche Roman II, hrsg. von B. von Wiese, Düsseldorf 1963. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1960, S. 1592. Robert Musil, ebd. S. 1594.

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der Umwelt, in eine völlig andere Lage geraten können. Ihre so erfundenen, wandelbaren Verhältnisse zueinander sind der Gegenstand des Erzählens. Die Erzählung aber fängt demnach die Welt nicht mehr ein und enthält sie als intentionale Komposition, sondern prüft, befragt, analysiert, entdeckt. Das kritische Durchdenken und Bewußtmachen der Phänomene — nicht nur ihre Ironisierung im Unterschied zu Thomas Mann — führt zu ihrer progressiven Auflösung. Der Grundsatz Ulrichs jedoch, die Welt anders zu denken, Zustände und Erscheinungen als das schlechthin Offene, noch Unausgesdiöpfte zu entfalten in Richtung auf das, was sein könnte, ist ein schöpferisches Prinzip, das utopische Konstellationen anstrebt. Die Geschichte Ulrichs entwickelt sich erst aufgrund seines Möglichkeitssinnes, der sie zu dem macht, was sie ist: die vielschichtige Darstellung einer geistigen Expedition und Forschungsfahrt%1. Wie problematisch eine Romanform werden kann, der die vorgetragenen Strukturprinzipien zugrunde liegen, bedarf keiner weiteren Erörterung. Ebenso deutlich wird, wie weit wir uns inzwischen vom Wielandschen Vorbericht entfernt sehen, dessen Ansichten gerade im Hinblick auf den Roman Robert Musils ins Gegenteil verkehrt scheinen. Eine die Wielandschen Thesen jedoch völlig außer Kraft setzende, dabei in hohem Grade dichterische Erscheinung, ist Franz Kafka, dessen bekannte Erzählung von der Kaiserlichen Botschaft28 wir hier etwas eingehender untersuchen wollen. Wir lassen dabei die Tatsache, daß es sich nicht um einen Roman handelt, unberücksichtigt, da alle Symptome der für die Romane Kafkas typischen Erzählung an diesem Beispiel beobachtet werden können. Es geht in der kleinen Parabel um die gerüchtweise bestätigte Botschaft eines Kaisers an seinen Untertanen, die ihr Ziel nie erreicht, nie erreichen kann. — Die eigentümlichen temporalen und modalen Verhältnisse gleich zu Beginn der Erzählung 29 machen deutlich, daß wir den Fall einer epischen Komposition vor uns haben, deren sukzessiver Charakter zwar eindeutig, deren grammatikalische Behandlung der Zeit aber labil ist, da sie eine Beispiel- oder Gleichniserzählung vorstellt. Beispieloder Gleichniserzählung verzichten von vorne herein auf den Anspruch, ein reales, vergangenes Geschehen zu fingieren. Für sie ist ausschließlich die Menge der sinntragenden Fakten von Belang, deren Koordinierung eine Sinnfigur schafft. Was die Uberbringung der Botschaft anlangt, 27

Robert Musil, ebd. S. 1604. Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, in: Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes, Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod, S. Fischer Verlag, Lizenzausgabe von Schocken Books/New York, S. 78—79. 2 ® Vgl. hierzu die Interpretation von W. Zimmermann, in: Deutsche Prosadichtungen der Gegenwart, Düsseldorf 8 1956. 28

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so werden zwar ihre Schnelligkeit und mögliche Ankunft vom Erzähler erwogen, aber lediglich als Eventualitäten, die ihrerseits wieder nicht eintreten können. Bevor die Geschichte zu Ende erzählt ist, wird ihr Ausgang bereits vorweggenommen: die Überbringung der Botschaft wird als unmöglich bezeichnet. Möglichkeiten und Eventualitäten, ja die Vorstellung des äußersten Glücksfalles: . . . und stürzte er (der Bote) endlich aus dem äußersten Tor, münden in die indikativische Aussage: . . . niemals, niemals kann es geschehen. Du aber, so heißt es schließlich, sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt. Von hier aus wird die Erzählung vollends verständlich als Traum vom Möglichen, das in Wirklichkeit immer als das Unmögliche erscheint. Es handelt sich also um eine Geschichte, die sich nie abgespielt hat und sich nie abspielen wird. Dies ist zwar im Hinblick auf den fiktionalen Charakter allen Erzählens eine Binsenwahrheit, indessen zeigt sich der Erzähler in der Regel bemüht, mit allen Mitteln ein sich ereignetes, wirkliches Geschehen vorzutäuschen. In der Kaiserlichen Botschaft aber wird der fiktive Ansatz: Der Kaiser, so heißt es, hat Dir..., zwar aufrecht erhalten, seine Fortführung und Entwicklung aber im Folgenden als völlig unmöglich hingestellt. Wenn trotzdem die Erzählung beginnt: Der Kaiser, so heißt es..soll das bedeuten, daß ein Gerücht geht, eine unsichere Kunde. Setzen wir an die Stelle des 50 heißt es ein „gesetzt den Fall", das den hier vorliegenden Erzählansatz besser verdeutlicht, so lautet der dialektische Grundriß des Ganzen: Gesetzt den Fall, daß dieses oder jenes geschieht oder geschehen sollte, so kann es, selbst unter Einschluß der äußersten Eventualitäten, niemals geschehen. Das Ergebnis der Erzählung der Eventualität ist dann der sichere Nachweis der Unmöglichkeit ihrer angenommenen und möglichen Auswirkungen. Das angesprochene Du, der Leser also, wird gleichnisweise in den angenommenen Sachverhalt einbezogen und muß so die parabolischen Aussagen der Erzählung notwendig auf sich beziehen. Am Schluß der Erzählung sieht er sich dann aber wieder aus ihr entlassen, mit dem Bewußtsein, daß das, was an ihm gleichnisweise demonstriert werden sollte, nicht demonstriert werden konnte. Die Erfahrung der Paradoxie, die — wie wir nur unter großem Vorbehalt zu schließen wagen — besteht zwischen dem möglichen Vermächtnis und seinem für alle Zukunft unmöglichen Fruchtbarwerden, zwischen dem möglichen Sinn und der Unmöglichkeit, seiner inne zu werden, hat in der Erzählung von der Kaiserlichen Botschaft auf bedrückend anschauliche Weise Gestalt angenommen. Sie stellt das Mögliche als das Unmögliche, das Wirkliche als das Nichtwirkliche zugleich dar. Unter den Aufzeichnungen Kafkas aus dem Jahre 1920, die posthum unter dem Titel Er erschienen sind, findet sich unter anderem die

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folgende, erschreckende Notiz: Ick prüfte die "Wünsche, die id) für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen..., in der das Leben zwar sein natürliches Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun, und zwar nicht so, daß man sagen könnte: ,1hm ist das Hämmern ein Nichts', sondern ,1hm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts', wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre?0. — Eine schwer lösbare Paradoxie, die aber den epischen Vorgang unserer Geschichte genau charakterisiert. Wir schauen das Wirkliche eines erzählten Vorgangs zugleich als das Nichtwirkliche. Ebenso zwingend wie der dialektische Grundriß der Erzählung von der Kaiserlichen Botschaft ist ihre fugenlos mauernde Technik, die die Imagination einer Wirklichkeit ermöglicht, deren Struktur zwar rätselhaft scheint, aber in allen Einzelheiten erkannt werden kann. Im Zentrum der Welt die kaiserliche Sonne, an ihrer Peripherie der in die fernste Ferne geflüchtete Schatten des Untertan. Um den Mittelpunkt, den Sitz des Kaisers, legen sich die konzentrischen Kreise der Zwischenwelten. Das Bild des konzentrisch Verkapselten dieser fingierten Welt entsteht sehr deutlich anhand der genauen Beschreibung des Botenwegs, der zentrifugal verläuft. Sein Verhalten, seine Gebärden aber schaffen zusammen das Gleichnis einer Kraft, die zwar nicht ermüdet, aber letzten Endes vergeht in der Unendlichkeit der Zwischenwelten. Am Schnittpunkt beider Bauelemente, der konzentrisch anwachsenden Zwischenwelten mit der zentrifugalen (tatsächlichen oder möglichen) Bewegung des Boten, geschieht dann jeweils die Einschaltung des Erzählers, der apodiktisch erklärt: . . . niemals wird er sie überwinden ... niemals, niemals kann es geschehen. Der Gegensatz zwischen der bewußt herausgestellten Objektivität des Erzählens und der bestürzenden Bodenlosigkeit der Geschickte steht abermals für jenes fatale Paradoxon: Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts. Wir haben unsere Bemerkungen zur Erzählweise von Thomas Mann, Robert Musil und Franz Kafka nicht von ungefähr in dieser Reihenfolge vorgetragen. Ohne die herausgestellten Symptome im Hinblick auf das Gesamtwerk der betreffenden Autoren verallgemeinern zu wollen, darf man sagen, daß sie drei grundsätzliche Möglichkeiten modernen Erzäh10

Franz Kafka, aaO. S. 239.

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lens aufzeigen. Thomas Mann bedient sich zwar souverän der gesamten, im großen Roman des 19. Jahrhunderts angefallenen Formmaterialien, parodiert sie jedoch gleichzeitig, indem er sie in den Dienst einer ironischkritischen Erzählhaltung stellt, deren Spiel mit den Gegebenheiten einer fiktiven Welt ihre angenommenen Konstanten durchschaut, relativiert und aufzulösen beginnt. Zwar vermag der Autor der idellen Komposition, die er entwirft, noch zu steuern, auf die Wahrheit jedoch, die sein Buch nützlich machen könnte, muß er verzichten. Man hat auf die Frage der armen Katja: ,Was soll ich tun?' nur die Antwort: ,Auf Ehre und Gewissen, ich weiß es nicht'31. — Der Intention des die Welt anders Denkens bei Robert Musil entspricht auch ein anderes Erzählen. Die fortschreitende Analyse der fiktiven Gegebenheiten und ihre Entfaltung in Richtung auf das, was sein könnte, verlangt die überlieferte Verfahrensweise und Anordnung der erzählerischen Mittel zu sprengen und bedingt ihre Umgruppierung von Fall zu Fall. Zum anderen erfordert die Umdenkung der Verhältnisse im Sinne Ulrichs ihre Vergegenwärtigung und Bewältigung als Denkaufgabe. So ist denn der Anteil des Essayistischen, besser: die Einarbeitung kalkulierter Komplexe des Verstandes und des Gefühls in diesem Roman unbestreitbar groß. Schreiben wir der Reflexion, der Erörterung für gewöhnlich einen diskursiven Charakter zu, der sie in die Nähe der wissenschaftlichen Abhandlung rückt, so zeigt das Beispiel Musils, in welchem Maße die Reflexion „erzählerisch" wirken kann, da die Verbildlichung abstrakter Zusammenhänge, ihre Festigung zu anschaulichen Sinnträgern gestalthafte Einheiten schafft, die dem Erzählvorgang mühelos einpassen. Erkennen wir also im Erzählen Thomas Manns und Robert Musils die Möglichkeiten der Parodie und des experimentellen Erzählens als Folge des experimentellen Denkens, so demonstriert die Erzählkunst Franz Kafkas eine dritte Möglichkeit: der Entwurf einer fiktiven Welt, deren rätselhafte Gegebenheiten scheinbar nichts mehr mit denjenigen der nicht fiktiven, wirklichen Welt gemein haben. Die übliche Aufforderung an den Leser, die Konstellationen der Fiktion als wirkliche zu imaginieren, muß damit entfallen. Trotzdem scheint diese fiktive Welt auf eigenartige Weise imaginierbar, erinnerbar. Imaginierbar, weil ihre Darstellung mit den entsprechenden Mitteln verfährt: detaillierte Beschreibung. Erinnerbar, weil ihre erzählten Vorgänge und beschriebenen Einschlüsse, zwar nicht an Vorgänge und Begebenheiten der wirklichen Welt erinnern, aber an deren Bedeutung und Hintergrund, die sie nicht zeigen, aber an sich haben, deren Wirkung wir spüren, im äußersten Falle zu beschreiben sudien, nie aberschauen. Die Erzählung Kafkas nun verkörpert sie, läßt sie anschau51

Thomas Mann, Versuch über Tschechow, in: Thomas Mann, Nachlese, 1956, S. 55 f.

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bar werden, verdichtet sie zu einer Realität, die vergleichbar scheint nur auf der Ebene der Erinnerung an das für gewöhnlich Unsichtbare: Hintergrund und Bedeutung der wirklichen Welt. — Alle drei Möglichkeiten der Erzählweise aber sind beteiligt an dem umfassenden Unternehmen der Diagnostizierung und Ausdeutung des Lebens in der geschichtlichen Welt. Sie charakterisieren den Versuch der Wahrheitsfindung in unserer Epoche und dürfen als Grundmuster modernen Erzählens angesehen werden. Zwar wurden diese Muster bis in die jüngste Zeit hinein modifiziert, ihre technische Bewältigung vor allem aufgrund ausländischer Einflüsse und Vorbilder mehrfach variiert, ihre Grundstruktur aber blieb die gleiche. Indessen bleibt im Zusammenhang mit dem Versuch der Wahrheitsfindung und des Wahrheitsversprechens im modernen Roman noch ein wesentlicher Sachverhalt zu erwähnen, der, nicht nur im deutschen Roman, sondern im Roman der letzten 30 bis 40 Jahre überhaupt zu beachten ist: das Überhandnehmen des Ich-Romans. Thomas Mann, Robert Musil und, von seinen Erzählungen abgesehen, ebenfalls Franz Kafka — um nur wieder diese Drei zu nennen — wählten allerdings nodi die Er-Form. Sie konzipierten die Problematik und Fragwürdigkeit in gewissem Sinne noch als das Objektive, als das Gegebene. Aufgrund ihrer zeitlichen Nähe, einerseits zum Beginn der Entwertung und zunehmenden Umwertung der Tradition, andererseits zur verbleibenden Tradition selbst, deren letzte Wirkungen sie prägten, fanden sie gelegentlich noch zum Entwurf einer bestimmenden und wertenden Aussage. So bei Thomas Mann, dessen desillusionierende und kritische Diagnose im Zauberberg vor dem Hintergrund eines scheinbar Umfassenden und Unaufhebbaren geschah: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Dieser Entwurf einer allgemein bestimmenden Aussage wirkt jedoch hier bereits isoliert, hervorgehoben wie eine Gravur, eine Inschrift, ganz im Gegensatz zum Roman des 19. Jahrhunderts, der sich versuchte an der totalen Integration einer Idee, deren Widerschein auf dem kleinsten seiner Bauteile (Stifters Nachsommer) lag. Wir stehen nicht an, zu behaupten, der Ich-Roman der letzten Jahrzehnte verzichte nun auf eine Aussage, ermangele der Vorstellungen dessen, was sein könnte; nur, so scheint es, liegen sie als das Unaussprechliche am Grunde der Erfahrungen eines Ich-Erzählers, an denen wir teilnehmen, oder aber, wagt er den Entwurf, so handelt es sich um den unverbindlichen, subjektiven Entwurf eines Einzelnen. Die Möglichkeiten des Wahrheitversprechens und der Wahrheitsfindung sind damit zwar uneingeschränkter, zugleich aber auch unverbindlicher, weil privater. Wir sehen darin eine gute Chance des modernen Romans, seinen Leser anzu-

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sprechen. Zwar gibt der Autor den vieles ermöglichenden Gamma-Punkt (Sartre) auf, der noch für Thomas Mann eine relativ große Bedeutung hatte, einen Gamma-Punkt übrigens, auf den auch der Er-Roman verzichtet (vgl. das Johnsonsche Beispiel und die interessante Vorspiegelung dieses Problems in G. Grass* Blechtrommel). Auf der anderen Seite aber gewinnt er an Glaubwürdigkeit, die dem Leser die sinnlose Imagination einer fiktiven Welt erspart, die offenbar nichts mit der seinigen, wirklichen gemein hat. Beklage man die Krise des Romans, die sich darin zeige, meint Karl August Horst, so erkenne man offensichtlich nicht, „daß sidi beim Romandichter Imagination und Wirklichkeitsglauben in demselben Maße geschieden haben wie dem Leser die Fähigkeit, Fiktives als wirklich zu imaginieren, abhanden gekommen" sei32. Sonderfall allerdings, wie wir zu zeigen versucht haben: Kafkas Erzählkunst. So werden denn auch im Homo Faber Max Frischs Vorgänge und Begebenheiten erzählt, deren fiktive Realität sich mit der unsrigen deckt. Aber — und das verantwortet der subjektive Entwurf, dessen künstlerische Verwirklichung uns noch beschäftigen wird — sie werden hintergründig und deuten über sich hinaus. Erlebnisse und Ereignisse, die der „Held" dieses Romans vergaß, die er für zufällig hielt, werden rückblickend zu schicksalhaften Erlebnissen, zu Zeichen der Fügung und haben ihren Stellenwert innerhalb der schwer überschaubaren Vielfalt gelebten Lebens. Um nun Bedeutung und Hintergründigkeit allen Daseins erkennbar zu machen, bedient sich Frisch zwar der vertrauten und üblichen Gegebenheiten unserer Wirklichkeit, aber — so im Homo Faber — er verfremdet sie in zunehmenden Maße durch die Einschaltung von fiktiven Dämonen und Mächten, die die schicksalhafte Bedingtheit des Lebens erkennen lassen. Wir werden zu erklären suchen, was es mit diesen Dämonen und Mächten auf sich hat, welche erzähltechnische Funktion ihnen im einzelnen zukommt, daß sie also keineswegs die Repräsentanten einer Schicksalsmystik darstellen, die im Roman zur Anschauung käme. Was uns an einem solchen Beispiel bemerkenswert scheint, ist die Tatsache, daß hier durch Darstellung gedeutet wird. Grundsätzlich gesehen, geht es im Homo Faber um den Widerpart von Ratio und Seele, von Erklärbarem und Unerklärbarem, von menschlichem Planen und der Verknüpfung unseres Tuns und Handelns in ganz anderen Bereichen, von Leben als Addition und Leben als Gestalt. Ein anspruchsvolles Thema also; seine Bearbeitung scheint vorerst nicht möglich ohne die Berücksichtigung der Ergebnisse von Naturwissenschaft, Philosophie, Psychologie. Nichts von alledem jedoch erscheint im Roman. Die Erzählung bleibt verständlich, SI

Karl August Horst, Das Spektrum des modernen Romans, 1960, S. 21 f.

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ohne dabei je das Problem zu vernachlässigen, geschweige denn zu verwässern. Ihr entschiedener Vorteil: der Verzicht auf jede verbindliche Auseinandersetzung mit dem Thema, dessen Voraussetzungen allein aufgrund der geschickten Einblendung verfremdender Handlungsmomente durchschaubar werden. Wir erkennen den Irrtum des Walter Faber und die damit zusammenhängende Problematik ohne Kommentar. Ein anderes, hervorragendes Beispiel der unmittelbaren Darstellung eines umfassenden existentiellen Problems ist der Stiller-Roman des gleichen Autors. Auch hier wieder verzichtet er auf die verbindliche Auseinandersetzung, indem er den ganzen Komplex des Erzählgegenstandes perspektivistisch auffächert. Für den Entwurf einer jeden Perspektive ist jeweils eine der fiktiven Figuren und Personen des Romans verantwortlich. In beiden Fällen, im Homo Faber sowie im Stiller, kann somit gut, anschaulich, flüssig und — wie es scheint — mühelos erzählt werden. Bau und Anlage beider Romane sind überdies dem Problem, das sie darstellen, entsprechend strukturiert, was die überwiegende Tendenz, die Probleme selbst anschaulich werden zu lassen, auch von der Form her wahrscheinlich und glaubwürdig macht. Konfrontiert Max Frisch am Beispiel des Homo Faber die Ansidit von der völligen Erklärbarkeit der Welt mit ihrem Irrtum, so geschieht diese Konfrontation notwendig vor dem Hintergrund eines Absoluten. Im Stiller ist das Absolute identisch mit dem Ziel des Helden, zu sich selbst zu kommen, er selbst zu sein und zur Orientierung in sich selbst zu gelangen. Im Homo Faber scheint es aus der Gnade allen Daseins zu sprechen, das sich einerseits begreift aus der Angst vor dem Tod, andererseits aus der Schuld, die wiederum Schuld des Daseins schlechthin ist. Das Absolute richtet die Schuld, und der Mensch ahnt im tragischen Innewerden dieser Schuld die Offenbarkeit des Absoluten. Beide Helden jedoch gelangen nicht zu eindeutiger Gewißheit, beide befinden sich auf der Suche nach ihr. Diese Suche aber steht in ständiger Anfechtung, ist rückfällig und ohne Gewähr, da sie sich skeptisch verhält, nicht so sehr dem Ziel, als sich selbst gegenüber. Alle Definitionen des Ziels und der Sudie jedoch sind subjektiv. Die Geschichte des Walter Faber ist eine private Geschichte. Homo Faber und Stiller sind Tagebuchromane. Sie enthalten das Material persönlicher Aufzeichnungen ihres jeweiligen Helden, der sich durch sie dem letztlich Unaussprechlichen seiner Erfahrungen anzunähern sucht. Im Falle des Homo Faber wird dieser tagebuchartige Charakter der Aufzeichnungen zwar eingeschränkt, indem der Autor das Ganze einen Bericht nennt, aber die Mehrschichtigkeit dieses Berichts ist offenbar. Faber macht an verschiedenen Orten zusammenhängende Aufzeichnungen, mit deren Hilfe er das vergangene Geschehen noch einmal 2 Geulen, Max Frisch

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überprüft. Audi Stiller versucht mit Hilfe der Aufzeichnungen, sich aus vergangenem und gegenwärtigem Leben heraus zu begreifen. Beide jedoch sdieitern, da ihr Versuch, sich selbst auszusagen (Stiller), oder die Schicksalhaftigkeit ihres Daseins zu erkennen (Faber), ein Versuch, eine Annäherung bleibt. Beide Gestalten stehen damit sinnbildlich für das Unaussprechliche eines Daseins überhaupt. Faber kommt zu dem Schluß: ... alle Zeugnisse von mir wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts. Auf der Welt sein: im Licht sein.. .M, und Stiller erfährt: Das ist es: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit. Ich liege auf meiner Pritsche, schlaflos von Stundenschlag zu Stundenschlag, versuche zu denken, ... Das ist die erschreckende Erfahrung dieser Untersuchungshaft: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit. — Die Wahrheit, die in solchen Versuchen, das Unsagbare auszusprechen, zum Ausdruck kommt, ist fragmentarisch, skizzenhaft. Schon das Erzählen Thomas Manns und Musils bedeutete nicht mehr die progressive Entfaltung von Welt und nahm bereits bei Robert Musil die Form des kreisenden Erzählens an, das auf die Reihung des „Und dann" zugunsten einer mehr flächenhaften Darstellungsweise verzichtete. Hier aber enthält die Erzählung jeweils nur Teile der Welt, als Skizze, als Entwurf, als Geschichte, die in einem umfassenden Sinne kein Ende findet. Die Skizze, sagt Max Frisch, hat eine Richtung, aber kein Ende; die Skizze als Ausdruck eines Weltbildes, das sich nicht mehr schließt oder noch nicht schließt; als Scheu vor einer förmlichen Ganzheit, die der geistigen vorauseilt und nur Entlehnung sein kann; als Mißtrauen gegen eine Festigkeit, die verhindert, daβ unsere Zeit jemals eine eigene Vollendung erreicht,5. — Damit stehen wir am Ende unserer einleitenden Bemerkungen zum modernen Roman. Die progressive Entfernung vom Wielandschen Wahrheitsversprechen und die Konsequenzen, die sich daraus für den Romandichter ergeben, haben wir an wenigen Beispielen nachzuweisen versucht. Max Frisch ist das letzte Glied in einer Reihe, auf deren Vollständigkeit wir an dieser Stelle verzichten mußten, da wir nur diesen einen Gesichtspunkt, das Problem des Überblicks und des Wahrheitsversprechens als ss

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Max Frisch, H o m o Faber, Frankfurt 1959, S. 282. — Wir zitieren im Folgenden nach dieser Ausgabe. Max Frisch, Stiller, Frankfurt 1958, S. 109. — Wir zitieren im Folgenden nach dieser Ausgabe. — Zu Max Frischs Stiller-Roman vgl. die vorzügliche Dissertation von Karlheinz Braun, Die epische Technik in Max Frischs Roman „Stiller" als ein Beitrag zur Formfrage des modernen Romans, Frankfurt 1959. Max Frisch, Tagebuch 1946—1949, Frankfurt 1958, S. 118 f. — Wir zitieren im Folgenden nach dieser Ausgabe.

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möglichen Anhalt zur Erörterung der modernen Erzählweise und -technik herausgegriffen haben. Die hier besprochenen Phänomene sind demnach Phänomene unter anderen, ebenso wie die genannten Erzähler. In welchem Maße jedoch das Problem der Wahrheitsfindung gestaltet werden kann, welche Techniken und artistischen Mittel einem Diditer hierbei zur Verfügung stehen, das soll anhand der Interpretation des Homo Faber aufgezeigt werden.

AUFRISS DER G E S C H I C H T E 1 Wir unterscheiden die „Geschichte" und die „Fabel" einer Erzählung. Die Rekonstruktion der „Geschichte" durch den Interpreten fordert die Auflösung der mehrdimensionalen Fabel zur einsinnigen Chronologie der Geschehnisse, ihres zeitgerechten Nacheinanders. Die angelsächsische Literaturwissenschaft fand hierzu die entsprechenden Begriffe „story" und „plot" 2 . „Story" bedeutet die einfache Chronologie der Geschehnisse und „plot" die schon gegliederte und beziehungsreiche Anordnung der „story" im Erzählvorgang. Die monotone Reihung des Stoffs aber ist selbst schon eine Art Kunstprodukt, die potentielle Basis nämlich, deren bewußte Auflösung zum intentionalen Zusammenschluß der Teile führt. Die „story" also bildet die Primitivstufe der künftigen Erzählung und fügt sich bereits unter dem ersten Griff der epischen Einbildungskraft, die aus der Fülle des Vorhandenen jene Konstellation der Geschehnisse auswählt, die im Hinblick auf ihre intentionale Ausgestaltung im Erzählwerk fruchtbar werden kann. „Story" oder „Geschichte" aber sind wiederum reduzierbar auf ihren Keim, den Einfall oder auf das, was ihrem Entdecker an bereits Vorgeprägtem, Erzähltem, Erlebtem zufiel. Um diesen Keim erst kristallisiert sich die „Geschichte", der Stoff, das Material. Auf die kürzeste Formel gebracht, ließe sich der Einfall zur Faber-Geschichte etwa so rekonstruieren: ein alternder, alleinstehender Mann trifft auf seine Tochter, von deren Existenz er keine Ahnung hat und gerät in ein Verhältnis zu ihr. Das Mädchen verunglückt in seinem Beisein auf tragische Weise, und Vater und Mutter begegnen sich an ihrem Sterbebett. Es ist müßig, Vermutungen darüber anzustellen, wie der Dichter an diesen Einfall gelangte; es ist darüber hinaus mehr als fraglich, ob der Einfall genau so, wie wir ihn zu rekonstruieren versucht haben, sich abhob. Die Unter-

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Wichtigste Anregungen für die methodische Behandlung des Stoffs verdanke ich E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, 1955, ein Buch, das die Ergebnisse der Günther-Müller-Schule noch einmal zusammenfaßt und um ein beträchtliches vermehrt. Vgl. hierzu E. Muir, The structure of the novel, London 1928, sowie: Dictinary of World Literature, Criticism, Forms, Technique, hrsg. von J. T. Shipley, London 1945.

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Scheidung v o n E i n f a l l und Geschichte ist ja eine rein arbeits-hypothetische,

die voneinander trennen muß, was im schöpferischen Vorgang zusammenfällt und sich sehr schnell erweitert. Wir dürfen sogar vermuten, daß im Augenblick des Einfalls sich ebenfalls wesentliche Teile der Geschichte angliedern, daß erzähltechnische Entscheidungen fallen und nicht zuletzt schon Möglichkeiten der intentionalen Eigenart und Konjunktion des Ganzen erwogen werden 8 . Wir möchten im Folgenden versuchen,· das Material des FaberRomans chronologisch zu ordnen, indem wir von den zahlreich im Werk verstreuten Daten und Angaben auf den zeitgerechten Verlauf seiner Geschidite schließen: Der Schweizer Ingenieur Walter Faber ist in den Jahren 1933—35 Assistent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich und arbeitet an seiner Dissertation. Er lernt ein Mädchen kennen, Hanna Landsberg, Halbjüdin, aus München, die bei Professor Wölfflin Kunstgeschichte studiert. Als Faber ein Angebot von einer Firma nach Bagdad erhält, beschließt er, Hanna, die ein Kind von ihm erwartet, zu heiraten. Kurz vor der Trauung jedoch weigert sich Hanna, in diese Heirat einzuwilligen. Faber fährt daraufhin alleine nach Bagdad, nachdem zuvor zwischen beiden vereinbart worden war, daß ihr Kind nie geboren werden sollte. Fabers Freund, Joachim Hencke aus Düsseldorf, Mediziner im Staatsexamen, hatte hierzu seine Hilfe angeboten. Faber und Hanna trennten sich im Jahre 1936. Einige Zeit später heiratete Hanna Landsberg Fabers Freund, Joachim, und gebar ihr Kind, eine Tochter, deren Vater Faber ist. Die Ehe mit Joachim wird bald geschieden, und Hanna arbeitet für sich und ihr Kind in Paris an einem Verlag. Nach dem Einzug der Deutschen flieht sie nach England, wo sie als deutsche Sprecherin bei der BBC tätig ist. Sie wird britische Staatsbürgerin. Nach dem Kriege heiratet sie einen deutschen Kommunisten namens Piper, aber auch diese Ehe wird 1953 wieder geschieden. Nach der Scheidung geht Hanna mit ihrer Tochter nach Griechenland, wo sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem archäologischen Institut wird. Ihre Tochter Elisabeth (später von Faber Sabeth genannt) geht im Jahre 1956 für ein Jahr nach Yale, USA (scholarship). Walter Faber (von Hanna damals in Zürich Homo Faber genannt) lebt seit 1946 in Manhattan und ist als Ingenieur bei der UNESCO tätig: technische Hilfe für die Entwicklungsländer. Am Abend des 1. 4. 1957 verabschiedet er sich in La Guardia, New York, von seiner Bekannten Ivy (amerikanisches Mannequin) und startet mit einiger Verspätung zum Flug nach Caracas, wo er am 3. 4. eine Turbinenmontage leiten soll. 8

Vgl. hierzu M. Frisch, Tagebuch, S. 267 f.

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Während des Fluges macht er die Bekanntschaft eines Deutschten aus Düsseldorf, Vertreter der Hencke-Bosch A G , die eine Tabakplantage in Guatemala aufbaut. A m 2. 4., morgens, Zwischenlandung in Houston, Texas. Faber, seit einiger Zeit magenkrank, erleidet in der Toilette des Flughafen-Restaurant einen Ohnmachtsanfall und beschließt, trotz mehrmaligen Aufrufs über Lautsprecher, nicht weiter zu fliegen. Er wird jedoch von der Stewardeß entdeckt und setzt seine Reise fort. Im Laufe des Vormittags muß die Maschine wegen Motorschaden in der Wüste von Tamaulipas notlanden, was auch gelingt. Der Aufenthalt in der Wüste von Tamaulipas dauert vom 2. 4.—5. 4. gegen Mitternacht. In diesen Tagen stellt sich heraus, daß Fabers Reisebekanntschaft, Herbert Hencke, der Bruder von Joachim Hencke ist, der sich zur Zeit in Guatemala befindet und den Aufbau der Tabakplantage leitet. Faber erfährt weiter, daß Joachim H a n n a Landsberg geheiratet habe, daß sie ein Kind hätten, aber wieder geschieden wären. A m 6. 4. beschließt Faber auf dem Flugplatz von Mexico City, Herbert Hencke nach Guatemala zu begleiten. Sie fliegen gemeinsam bis Campeche und warten hier auf den Zug nadi Palenque. A m 9. 4., gegen Abend, reisen sie weiter und erreichen Palenque am 10. 4. Dort warten sie fünf Tage auf ein Fahrzeug und setzen schließlich in einem Landrover, begleitet von einem amerikanischen Musiker, die Fahrt in Richtung Plantage fort. Als sie nadi einigen Tagen die Plantage erreichen, hat Joachim sich erhängt. Herbert übernimmt die Leitung der Plantage. Faber kehrt nadi Palenque zurück und fährt über Campeche—Mexico City nach Caracas zur Turbinenmontage. D a die Turbinen noch im H a f e n verpackt liegen, fliegt er am 20. 4. zurück nach N e w York, wo er am 21. 4. eintrifft. Bei der Ankunft erwartet ihn Ivy, obwohl Faber ihr brieflich (von Tamaulipas aus) mitgeteilt hatte, daß er sich endgültig von ihr trennen wolle. Um der Möglichkeit einer erneuten Festigung des Verhältnisses zu Ivy auszuweichen, entschließt sich Faber, statt des Flugzeugs in einer Woche, den anderen T a g schon ein Schiff nach Europa zu nehmen, wo er an Konferenzen in Paris teilnehmen soll. Den 22. 4., morgens gegen 11 Uhr, befindet sich Faber auf dem Schiff nach Le Havre. Die Fahrt dauert fünf Tage, und er lernt in dieser Zeit die bald einundzwanzigjährige Studentin Sabeth Piper kennen, die von Amerika nach Griechenland zu ihrer Mutter unterwegs ist und von Paris aus per Autostop über R o m nach Athen weiter will. Faber feiert auf dem Schiff seinen fünfzigsten Geburtstag und macht Sabeth bei dieser Gelegenheit einen Heiratsantrag. Nach der Ankunft in Le H a v r e fährt Faber allein weiter nach Paris. Dort nimmt er an Konferenzen teil, besucht den Louvre und sieht

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Sabeth wieder. Er nimmt einige Wochen Urlaub und fährt gemeinsam mit ihr in dem Wagen eines Freundes über Avignon, Pisa, Florenz nach Rom. In Rom, auf einem Grabhügel an der Via Appia ausruhend, erfährt er von Sabeth, daß sie die Tochter seiner ehemaligen Geliebten Hanna ist. Nach einigem Nachdenken überzeugt er sich davon, daß Sabeth Joachims Kind sein muß. Sie fahren gemeinsam weiter durch Italien und gelangen über Patras nach Korinth. Da sie dort keine Unterkunft mehr finden, beschließen sie, eine Nacht im Freien zu verbringen. Sie nächtigen auf Akrokorinth in der Nähe des Meeres und erwarten gemeinsam den Sonnenaufgang. Als Faber am Vormittag die schlafende Sabeth zurückgelassen hat und im Meer ein Bad nimmt, wird das Mädchen von einer Schlange gebissen und fällt, als Faber ihr zu Hilfe kommen will, rücklings über eine Böschung. Er bringt die Bewußtlose unter großen Schwierigkeiten nach Athen in ein Hospital. Dort kommt es zu einem Wiedersehen zwischen Hanna und Faber. Er wohnt in Hannas Haus und gelangt in der Nacht zur sicheren Gewißheit, daß er seine eigene Tochter geliebt hat. Den anderen Tag fährt er zusammen mit Hanna nach Akrokorinth, um seine zurückgelassenen Sachen zu holen. Als sie nach Athen zurückkehren und im Krankenhaus vorsprechen, erfahren sie, daß ihr Kind gestorben ist, und zwar, wie sich später erst herausstellte, nicht an dem Schlangenbiß, sondern an einer nicht diagnostizierten Fraktur der Schädelbasis. Am 8. 6. befindet sich Faber wieder in New York und am 9. 6. auf der Weiterreise nach Caracas zur Montage. In M6rida muß er den Flug wegen Magenbeschwerden unterbrechen und fährt von da aus nochmals über Campeche nach Palenque und weiter zur Plantage, um Herbert Hencke aufzusuchen. Am 20. 6. kommt er in Caracas an. Hier leidet er erneut unter Magenbeschwerden, und die Montage muß ohne ihn stattfinden. Während seines Aufenthaltes in Caracas (21. 6.—8. 7.) verfaßt er den ersten Teil eines Berichtes an Hanna. Am 9. 7. ist er in Cuba und bleibt dort vier Tage. Am 15. 7. trifft er in Düsseldorf ein und spricht bei der Hencke-Bosdi AG vor. Er berichtet vom Tod seines Freundes Joachim und bietet sein Filmmaterial an, um die Firma vom Entwicklungsstand ihrer Plantage zu unterrichten. Bei der Probe jedoch stellt sich heraus, daß die Filmrollen in Unordnung geraten sind. Um den Streifen über Guatemala herauszufinden, ist Faber gezwungen, sämtliche Filme, die er in den beiden letzten Monaten machte, durchzuspielen. Nach Anschauen der Filme verläßt er das Haus der Hencke-Bosdi AG, nimmt einen Zug nach Zürich und trifft dort am 16. 7. ein. Von Zürich aus fliegt er weiter nach Mailand, wo er eine Depesche an Hanna absendet, daß er nach Athen unterwegs sei. Bei der Zwischenlandung in Rom schickt er eine Depesche

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an die UNESCO, in der er um Kündigung nachsucht. Bei seiner Ankunft in Athen erwartet ihn Hanna. Faber muß im Hotel wohnen, da Hanna inzwischen ebenfalls ihren Dienst gekündigt und ihre Wohnung aufgegeben hat, um Athen endgültig zu verlassen. Ab 19. 7. befindet sich Faber in einem Athener Krankenhaus und soll sich dort einer Magenoperation (wahrscheinlich krebskrank) unterziehen. H a n n a besucht ihn täglich. Während dieser Zeit schreibt er den zweiten Teil seines Berichtes. Hinzu kommen handschriftliche Aufzeichnungen, die in dem Moment abbrechen, da man ihn zur Operation abholt. Soweit die „Geschichte" des Faber-Romans, eine chronologisch geordnete Ereigniskette, die wir mit Hilfe der im Roman gegebenen Zeitangaben zu rekonstruieren versucht haben. Es darf darauf hingewiesen werden, daß diese Angaben nidit immer ausdrücklich durch den „Bericht" belegt sind, sondern aufgrund von versteckten Hinweisen im Text erschlossen wurden. Vor allem für den Bereich der Guatemala-Episode sind die Zeitangaben, die der „Bericht" selbst zugrunde legt, bezeichnenderweise nicht korrekt 3 ". An der grundsätzlichen Zuverlässigkeit der hier nachgewiesenen chronologischen Ereigniskette ändert sich damit jedoch nichts. Wir charakterisierten eingangs die Geschichte als eine Primitivstufe der künftigen Erzählung, als potentielle Basis, deren be wußte Zertrümmerung oder Auflösung zum intentionalen Zusammensdiluß der Teile führt. Wiederum muß die Interpretation analytisch verfahren, Zusammengehöriges trennen und nacheinander durchschauen, will sie zu weiterführenden Ergebnissen gelangen. Der nun folgende Nachweis der Organisation der Geschichte im Erzählvorgang geschieht deshalb unabhängig von der notwendig mit ihr verknüpften Bedingung des Erzählers und seiner Erzählsituation. Vergegenwärtigen wir uns nachdrücklich die so selbstverständlich erscheinende Tatsache der conditio sine qua non alles Erzählens, so erkennen wir, daß sie in jedem Punkte der Erzählung das Geschehen bis in seine unscheinbarsten Verästelungen hinein konstituiert. Diese Bedingung des Erzählens, der Erzähler, ist wiederum bedingt durch seine Erzählsituation — im vorliegenden Falle die des Ich-Erzählers — deren Möglichkeiten über Erzählerperspektive und Erzähleinsicht entscheiden. Die mähliche Erschließung des Materials durch den Erzähler, grädlinig oder auf Umwegen, kontinuierlich oder mit Unterbrechungen, straff und aussparend oder abschweifend, der Geschichte hörig oder sie vernachlässigend bis zur Unkenntlichkeit, das alles charakterisiert Tempo und Typus einer Erzählung, deren Eigenart wiederum abhängig ist von Vgl. hierzu unsere Interpretation der inhaltlichen Voraussetzungen S. 66 ff.

Aufriß der Geschichte

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einer bestimmten Erzählabsicht. Die Verteilung des Materials auf mehrere Handlungsträger, die die „Geschichte" unter sich austragen, der Wechsel der Schauplätze sowie die Färbung und Markierung des Geschehens durch sinnverbindende Motive, Symbole und Bilder, charakterisieren die Wirkungsweise und Perzeption des Ganzen. Eine jede Form oder Erscheinung der Werkoberfläche aber erfordert zu ihrem Verständnis die Untersuchung ihrer endogenen Bedingungen. Wenn wir im Nachstehenden aber von diesen Bedingungen absehen, so tun wir es nur vorläufig, da wir zunächst die Formen beschreiben (analytisch verfahrende Betrachtungsweise) und im Anschluß daran weiter vordringen zu ihrer Deutung (synthetisch schließende Betrachtungsweise).

A N O R D N U N G DER GESCHICHTE IM ERZÄHL V O R G A N G Das Interesse der Untersuchung konzentriert sich zunächst auf folgende Hauptfragen: welches ist die Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang? und: wie gliedern sich ihre zeitlichen Verhältnisse? SKIZZE Erste Station MATERIAL DER GESCHICHTE

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

ANORDNUNG

Zürich Hanna (und Sabeth) nach 1936 Start und Flug nach Caracas Zwischenlandung Notlandung Nach Palenque Aufenthalt Zur Plantage Aufenthalt Rückkehr Caracas New York Überfahrt Paris Avignon Rom Akrokorinth Athen

(2) (2)

(2)

(2) (2)

Zweite 19 New York 20 Plantage 21 Caracas

3 Start und Flug nadi Caracas 4 "Zwischenlandung 5 Notlandung 1 Zürich 6 Nach Palenque 7 Aufenthalt 1 Zürich 8 Zur Plantage 9 Aufenthalt 1 Zürich 11 Caracas 12 New York 10 Rückkehr 13 Überfahrt 14 Paris 16 Rom 15 Avignon 18 Athen 17 Akrokorinth 18 Athen 17 Akrokorinth 18 Athen 17 Akrokorinth 18 Athen

Station 25 Athen (Krankenhaus) 19 New York 25 Athen (Krankenhaus)

Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang 22 23 24 25

Habana Düsseldorf Zürich—Athen Athen

20 25 21 25 22 (2) 25 23 25 24 (1) (2) 25

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Plantage Athen (Krankenhaus) Caracas Athen (Krankenhaus) Habana Athen (Krankenhaus) Düsseldorf Athen (Krankenhaus) Züridi—Athen Athen (usque ad finem)

Die gelegentlich in Klammern vorgesetzten Ziffern (1) und (2) weisen darauf hin, daß in der angeführten Episode jeweils das entsprechende Material (1 oder 2) zusätzlich erschlossen wird. Es geschieht dies meist in Gesprächen mit Herbert, Sabeth oder Hanna. Die Bezifferung der Episoden in dieser Skizze dient nur zur Veranschaulichung des Sachverhalts und geschieht unabhängig von anderen Versuchen, das erzählte Geschehen aufzugliedern. Wir untersuchen als erstes die Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang, d. h. wir verfolgen zunächst die Handlung, wie sie im Roman erscheint. (Vgl. hierzu unsere Skizze zum ersten Teil des Berichts.) Der Roman beginnt mit der Erzählung der jüngsten Vergangenheit des Helden. Daten und Ereignisse einer ferneren Vergangenheit werden gelegentlich eingeschaltet, ebenso wie die in der Skizze nidit festgehaltenen Vorausdeutungen, die den Ausgang der Geschichte ζ. T. vorwegnehmen. V o n beidem wird nodi die Rede sein.

Erste

Station

1. Verabschiedung von Ivy in New York; verspäteter Start der Maschine wegen Schneetreiben; Reisebekanntschaft mit einem jungen Deutschen aus Düsseldorf. 2. Zwischenlandung in Houston; der Schweißanfall Fabers und sein vergeblicher Versuch, die Reise zu unterbrechen. 3. Weiterflug und Ausbau der Bekanntschaft mit dem jungen Deutschen; Faber erfährt von der Plantage in Guatemala; Notlandung in der Wüste von Tamaulipas. 4. Aufenthalt in der Wüste; Faber schreibt einen Brief an Ivy; es stellt sich heraus, daß er in dem jungen Deutschen aus Düsseldorf den Bruder seines ehemaligen Freundes Joachim Hencke vor sich hat, der zur Zeit die Plantage in Guatemala leitet; er erfährt weiter von der Ehe Joachims mit Hanna Lansberg, von einem Kind und der Scheidung. Das erzählte Geschehen in der Wüste von Tamaulipas wird eingeleitet durch eine Vorausdeutung des Erzählers, die das zukünftige Geschehen in einigen wesentlichen Punkten vorwegnimmt: das Wiedersehen mit Hanna, die Gewißheit, daß er, Faber, ein Kind hat und der Tod des Mädchens (oder einer Frau) Sabeth. Abgeschlossen wird die Erzählung vom Aufenthalt in der Wüste durch eine

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Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang Rüdtwendung, die einige Ereignisse der bislang unerwähnt gebliebenen ferneren Vergangenheit mitteilt: Faber war in den Jahren 1933—35 Assistent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule; seine Bekanntschaft mit Hanna Landsberg und die Unmöglichkeit einer Heirat, einmal der wirtschaftlichen Verhältnisse wegen, zum anderen Hannas wegen, die damals nidit heiraten wollte.

5. Fabers Entsdiluß, seine Dienstreise zu unterbrechen und Herbert zur Plantage zu begleiten; der kurzfristige Aufenthalt in Campeche; die Weiterfahrt nach Palenque; der Aufenthalt in Palenque, da kein Fahrzeug zur Verfügung steht; Bekanntschaft mit Marcel, einem amerikanischen Musiker, der schließlich einen Wagen auftreibt und die beiden zur Plantage begleitet. Am Ende der Schilderung vom Aufenthalt in Palenque wird wiederum eine Rückwendung eingeschaltet. Knapper Bericht von den Ereignissen der Züricher Jahre: Hanna hatte Deutschland verlassen müssen und studierte in Zürich. Dort lernte Faber sie kennen. Er beschließt, Hanna zu heiraten, für den Fall, daß ihr die Aufenthaltsgenehmigung entzogen werden sollte. Zur selben Zeit, da Faber als junger Ingenieur ein Angebot von Escher-Wyss nach Bagdad gemacht wird, eröffnet ihm Hanna, daß sie ein Kind von ihm erwartet. Faber möchte sie heiraten, Hanna aber verhält sich unbestimmt. Joachim Hencke, Mediziner und Fabers Freund, bietet seine Hilfe an für den Fall, daß das Kind nicht zur Welt kommen soll. 6. Weiterfahrt zur Plantage; Ankunft und Joachims Begräbnis; Faber und Marcel kehren zurück, und Herbert übernimmt die Leitung der Plantage. Im Anschluß daran wieder eine kurze Vorausdeutung: Faber fragt sich, wieso Joachim und Hanna ihn, den Vater des Kindes, nie davon unterrichtet haben, daß jenes Kind zur Welt gekommen ist. Hieran sdiließt sich eine Rüdtwendung an; zur Zeit der Annullierung der jüdischen Pässe beschließt Faber, Hanna zu heiraten. Die Heirat wird vorbereitet, aber Hanna sagt ab. Beide trennen sich, nachdem fest verabredet worden war, daß ihr Kind nie zur Welt kommen soll. Faber fährt alleine nach Bagdad. 7. Flug nach Caracas und kurzer Aufenthalt; Rückflug nadi New York; Begegnung mit Ivy; Entsdiluß Fabers, vorzeitig mit dem Schiff nadi Europa zu reisen. Eingeschobene Vorausdeutung:.hätte ihn, Faber, nicht ein Zufall (schadhafter Elektrorasierer) in seiner Wohnung zurückgehalten, so daß ihn der Anruf der CGT, seine Schiffskarte noch desselbigen Tages abzuholen (da sonst Verfall), noch erreichen konnte, wäre es weder zu einer Schiffsreise gekommen, noch wäre er seiner Tochter begegnet. Ivy und Faber abends unter Freunden und Gästen; anderentags Abfahrt nadi Europa. Eingesdiobene Nachholung: die Schilderung von Fabers und Marcels Rückfahrt nach Palenque bei Nacht. 8. Auf dem Schiff; erster Anblick des Mädchens mit dem Roßscbwanz; weitere Beobachtung des Mädchens. Vorausdeutung: Faber hat das Leben seines Kindes vernichtet. Wozu ein Bericht? Er konnte nicht ahnen, daß es seine eigene Toditer war, die er kennen lernte. Faber und Sabeth lernen sich beim Tischtennisspiel kennen; näheres Kennenlernen und gemeinsame Unternehmungen an Bord; Faber erfährt, daß

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Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang

Sabeth von Paris aus per Autostop über Rom nach Athen zu ihrer Mutter will; Fabers fünfzigster Geburtstag an Bord und sein Heiratsantrag; Abschied vor der Landung in Le Havre. 9. Aufenthalt in Paris; Konferenzen und Wiedersehen mit Sabeth; Faber nimmt einige Wochen Urlaub und beschließt, mit Sabeth zusammen nadi Süden weiterzureisen. 10. Die Reise durch Italien; Besichtigungen; zunehmende Neigung Fabers; Faber erfährt, daß Sabeths Mutter an einem Archäologischen Institut in Athen arbeitet, daß ihre Ehe mit Piper geschieden ist, daß Piper nicht Sabeths Vater ist; Fahrt zur Via Appia; Ausruhen auf einem Grabhügel; Faber erkennt, daß er die Tochter Hannas liebt; er überzeugt sich davon, daß es die Tochter Joachims sein muß. Eingeschobene Rekapitulation der Bekanntschaft mit Sabeth und Nachholen der wichtigsten Ereignisse seit Paris, vor allem die gemeinsame Nacht in Avignon nach der Mondfinsternis. 11. Wiedersehen mit Hanna im Athener Krankenhaus; Gespräch über Sabeths Unfall in Korinth. Rückschritt: die Ereignisse auf Akrokorinth. Sabeth wird von einer Schlange gebissen; Faber saugt die Wunde aus und bringt das Mädchen unter großen Schwierigkeiten nach Athen. Faber wohnt in Athen bei Hanna; sichere Gewißheit, daß er Sabeths Vater ist. Rückschritt: nochmals die Ereignisse auf Akrokorinth. Da Faber und Sabeth kein Zimmer finden, beschließen sie, im Freien zu übernachten. Gegen Morgen beobachten sie gemeinsam den Sonnenaufgang. Faber und Hanna in Athen; fahren zusammen zur Unglücksstelle, um Fabers zurückgelassene Sachen zu holen. Rückschritt: die Ereignisse auf Akrokorinth. Faber hat die schlafende Sabeth verlassen und badet im Meer; er hört Sabeths Schrei und sieht, wie sie aufspringt und wegläuft; er eilt ihr zu Hilfe, und die Erschreckte stürzt eine kleine Böschung hinab. Hanna und Faber auf Akrokorinth; Rückkehr nach Athen und die Nachricht, daß ihr Kind gestorben ist. Schluß des ersten Berichts, der von Faber in den Tagen vom 21. 6.—8. 7. in Caracas abgefaßt wurde.

Zweite Station (Vgl. hierzu unsere Skizze zum zweiten Teil des Berichtes.) Im Athener Krankenhaus schreibt Faber ab 19. Juli den zweiten Teil seines Berichtes, der die Ereignisse seit Sabeths Tod verzeichnet. Zwischenher gehen zahlreiche Tagebuchnotizen, die seinen derzeitigen Aufenthalt betreifen oder Ergänzungen zum Lebensweg Hannas nach 1936 darstellen. 1. Tagebuch: Faber

wegen

Magenbeschwerden

(wahrscheinlich

Krebs)

im

Athener Krankenhaus; Hanna besucht ihn täglidi. 2. Bericht:

Faber wieder in New York; unter Freunden.

3. Tagebuch: Zur bevorstehenden Operation; Beschluß, Hanna zu heiraten. 4. Bericht:

Flug nadi Caracas zur Turbinenmontage; Unterbrechung wegen

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Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang Magenbeschwerden; Abstecher zur Plantage; Aufenthalt bei Herbert Hencke.

5. Tagebuch: Gespräch mit Hanna. 6. Bericht:

Ankunft in Caracas; erneute Magenbeschwerden; Faber liegt im Hotel zu Bett und verfaßt den ersten Teil seines Berichts an Hanna.

7. Tagebuch: Faber betrachtet sich in einem Spiegel. 8. Bericht:

Faber in Cuba: Vier Tage nichts als Schauen.

9. Tagebuch: Hanna erzählt von ihrer Kindheit; ihr Leben nach 1936. 10. Bericht:

Besuch bei Hencke-Bosch in Düsseldorf; Anschauen der Filme; Fahrt nach Zürich.

11. Tagebuch: Uber Hanna. 12. Bericht:

Aufenthalt in Zürich und Weiterfahrt nach Mailand, Rom, Athen.

13. Tagebuch: Zur bevorstehenden Operation. 14. Bericht: Sabeths Grab. 15. Tagebuch: Sie haben meine Hermes-Baby genommen. Ende des Berichts. Von nun an handschriftliche Aufzeichnungen: Befürchtungen, daß er an Krebs leide: Verfügung, daß alle Berichte, Briefe, Ringheftchen verbrannt werden; Notierung von Hannas Erlebnissen nach dem Unglück sowie weitere Einzelheiten zu ihrem Leben nach 1936. Letzte Eintragung: Sie kommen.

Überblicken wir die Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang, so beobachten wir, abgesehen von ihrer Aufspaltung in zwei Berichtteile, von der noch die Rede sein wird, eine ganz andere Aufgliederung des Geschehens. Trotzdem hebt sich das Hauptgeschehen, die Erlebnisse Fabers seit dem 1. 4. 1957 bis zum Zeitpunkt seiner letzten Eintragung im Juli 1957, als chronologisch dargebotener Erzählstrang deutlich ab. Zwar sind auch hier gelegentliche Umstellungen zu beobachten (ζ. B. die nachgeholte Schilderung der Ereignisse auf Akrokorinth). Diese jedoch haben einen erzähltechnischen Grund, der uns bei der durchgehenden Interpretation des Ganzen beschäftigen wird. Im ersten Teil des Berichtes setzt die Handlung mit der Erzählung der Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit ein. Diese Erzählung jedoch wird an bestimmten Stellen durch Rückwendungen und Vorausdeutungen unterbrochen. Die Rückwendungen erschließen allmählich das Geschehen einer ferneren Vergangenheit (Züricher Jahre); die Vorausdeutungen erwähnen wesentliche Momente des zukünftigen Geschehens, wie es sich in der Folge entwickeln wird, sowie Ansichten und Einsichten des Helden im Hinblick auf das „gegenwärtige" Geschehen, d. h. auf ein Geschehen, das ihm im Zeitpunkt der Erinnerung und Niederschrift wieder als gegenwärtiges erscheint. Vorausdeutung und Rückwendung beobachten wir nur

Anordnung der Gesdiichte im Erzählvorgang

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innerhalb eines bestimmten Erzählbereichs des ersten Beriditteils; sie durchbrechen die Erzählung hier gewissermaßen an ihren Gelenkstellen und erscheinen in der Regel vor bzw. nach einer Episode: Notlandung in der Wüste — Vorausdeutung — Aufenthalt in der Wüste — Rückwendung — Palenque — Rückwendung — Plantage — Vorausdeutung und Rückwendung — New York — Vorausdeutung — auf dem Schiff — Vorausdeutung. Was die Rückwendungen anbetrifft, so werden sie, erzähltechnisch gesehen, nicht als Rückblende oder Schnitt eingearbeitet, sondern stellen protokollarische Zwischenbemerkungen dar, die ein vergangenes Geschehen in wesentlichen Punkten verdeutlichen. Wir werden das noch in einem anderen Zusammenhang zu untersuchen haben. Beide, Rückwendungen und Vorausdeutungen, sind nun, wie wir gesehen haben, innerhalb eines bestimmten Erzählbereidis ziemlich gleichmäßig verteilt und vermitteln das Geschehen einer ferneren Vergangenheit bzw. Zukunft allmählich. Dabei kommt dem vergangenen Geschehen, nach Abschluß der letzten Rückwendung, eine relative, d. h. von Wissen und Gedächtnis des Erzählers abhängige Geschlossenheit zu, die Vorausdeutungen aber enthalten nur einige wesentliche Hinweise, die das zukünftige Geschehen zwar nicht vorwegnehmen, wohl aber in seinen wichtigsten Punkten andeuten. Die Rückwendungen enthalten das, was Faber zum Zeitpunkt der Erinnerung (Begegnung mit Herbert Hencke) an die Ereignisse der Züricher Jahre von ihnen wußte, die Vorausdeutungen dagegen sind zukunfts- und vergangenheitsgewiß zugleich, weil Faber zur Zeit der Niederschrift den größten und wichtigsten Teil der Informationen besitzt. Da aber Rüdewendung und Vorausdeutung innerhalb des genannten Erzählbereidis einander abwechseln, stehen sie für den Leser in einem (auch strukturell sichtbaren) Spannungsverhältnis zueinander, das beruht auf der Konfrontation des vergangenen Geschehens mit den zukunftsgewissen Hinweisen des Erzählers. Einen gewissen Höhepunkt erreicht diese Spannung in dem Moment, wenn Vorausdeutung und Rückwendung im Ansdiluß an die Plantagen-Episode dicht aufeinander folgen: Es ist mir heute noch ein Rätsel, wieso Hanna und Joachim geheiratet haben und wieso sie mich, Vater des Kindes, nie haben wissen lassen, daß dieses Kind zur Welt gekommen ist. Ich kann nur berichten, was ich weiß. (Zum Zeitpunkt

der Niederschrift.) Es war die Zeit, als ...

Der Ort der Erzählung von Homo Faber liegt nun im Spannungsfeld, das besteht zwischen Vergangenheitsbericht und zukunftsgewissen Hinweisen, in der „historischen Gegenwart" also, deren Ereignisse im ersten Teil des Berichts den Sinnzusammenhang transparent werden lassen, der einerseits zwischen Vergangenheit und Zukunft, andererseits aber zwischen Zeit und Leben besteht.

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Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang

Überblicken wir die Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang des zweiten Teils, so beobachten wir ein Miteinander von Gegenwartsund Vergangenheitsbericht. Der Bericht von den Erlebnissen Fabers nach Sabeths Tod wird regelmäßig unterbrochen durch die Aufzeichnungen Fabers zur gegenwärtigen Situation im Athener Krankenhaus. Die Notizen enthalten Reflexionen, geben Aufschlüsse über Gespräche mit Hanna und bringen Ergänzungen zum Lebenslauf Hannas nach 1936. Beide Erzählstränge sind miteinander verflochten, verlaufen aber in sich chronologisch, ohne jede Umstellung. Daß sie nicht jeder geschlossen für sich im Nacheinander erscheinen, sondern einander durchbrechen, hat mehrere Gründe. Wesentlich für Faber ist vor allem sein Bericht, die Rekapitulation der Ereignisse, die Fixierung gelebten Lebens innerhalb des in Frage kommenden Zeitraumes, soweit er es überhaupt zu fassen vermag. Da sich aber diese Rekapitulation der Ereignisse als Bericht gibt, d. h. Datierung des Geschehens und Beschreibung seines Verlaufs (daß es trotzdem für den Leser auf eine eigene Weise transparent wird, soll später gezeigt werden) und sich, abgesehen von wenigen positivistischen Einwendungen, jeder echten Reflexion und Deutung enthält, muß die Deutung oder der Deutungsversuch auf einem anderen Wege geschehen. Dabei ist es von Wichtigkeit, daß Deutungsversuch und Reflexion nicht nachgestellt werden, sondern daß sie jenes eigenartige Erleben und Leiden Fabers, das der zweite Teil des Berichtes auf eine frappante Weise transparent werden läßt, durchsetzen und somit von innen her ergänzen, was der Bericht verschweigt. Hierzu dienen die Aufzeichnungen Fabers in der Mittagsruhe, die er handschriftlich abfassen muß, und die, neben eigenen Reflexionsansätzen, vor allem die Hinweise und Bemerkungen Hannas zum Leben Fabers enthalten. Schließlich erklärt sich das Nebeneinander von Bericht und Notizen aus der Erzählsituation Fabers, der im Athener Krankenhaus zu einer gewissen äußeren Ruhe gelangt ist (vgl. die Tage der Bettruhe in Caracas: 1. Station) und seinen Bericht fortsetzt. Da er aber für die Zeit der Mittagsruhe nicht Maschine schreiben darf, sieht er sich in der Zwischenzeit zu verschiedenen handschriftlichen Aufzeichnungen gezwungen, die schließlich in dem Moment den Bericht vollkommen ablösen, da man ihm seine Schreibmaschine genommen hat. Wir werden im Erzählerkapitel noch einmal Gelegenheit haben, diesen Sachverhalt in einem anderen Zusammenhang zu erörtern. Wir wollen nun die Frage nach der Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang weiter differenzieren, indem wir untersuchen, wie die Handlung sich gliedert und knüpft und auf welchen Schauplätzen sie spielt.

GEFÜGE DER

HANDLUNG

Personen und Personengruppen sind die Handlungsträger im Roman. Ihre vielfältigen Verhältnisse zueinander konstituieren das Gefüge der Handlung. Im vorliegenden Falle ist der Träger der Haupthandlung Walter Faber, ein Ingenieur, dem sich bei fortscheitender Erzählung an den verschiedensten Schauplätzen andere Handlungsträger verbinden. Als wesentliche Handlungsträger im Faber-Roman können neben dem Helden noch Hanna, Sabeth, Joachim, Herbert und Ivy angesehen werden. Als Trägergruppen kommen in Frage: Fabers Freunde und Kollegen in New York, sowie die Gesellschaft der Reisenden auf dem Schiff. Hinzu treten noch zahlreiche Nebenfiguren, denen trotz ihres bescheidenen Aktionsradius eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtgeschehens zukommt, da sie nicht ausschließlich Hilfskonstruktionen sind, sondern je nach Ort oder Zeitpunkt ihres Auftretens, forcierende und Bedeutung schaffende Elemente der Handlung darstellen (so ζ. B. der Eseltreiber in Griechenland, oder Juana in Habana etc.). Die Faber-Handlung setzt sich zunächst zusammen aus den Gegebenheiten seines Berufs und den damit verbundenen Tätigkeiten und Unternehmungen. Sie ist zudem, weit vor ihrem zeitlich und räumlich genau fixierten Einsatz zu Beginn der Erzählung (1.4. 57), in der Vergangenheit verankert. Es besteht ein erst mählich sichtbar werdender Zusammenhang zwischen der Person Fabers und Geschehnissen, die zwei Jahrzehnte zurückliegen. Infolge der eingestreuten Rückwendungen konfiguriert sich dieses Vorzeitgeschehen zu einer Art Ursituation oder Ausgangsbasis. Die Handlung der Züricher Jahre (1933—36) wird von Faber, Hanna und Joachim getragen. Wir erfahren von der Strukturierung und dem Bruch dieses Handlungsgefüges zu einem Zeitpunkt, da die jahrelang verschütteten und für Faber in Vergessenheit geratenen Ereignisse der Züricher Jahre, zunädist auf indirekte Weise (Begegnung Fabers mit Herbert), dann auf „direkte" Weise (Begegnung Fabers mit Sabeth) zu einer rätselhaften Wirkung gelangen. Die Faber-Handlung zeigt sich zunächst flüchtig verknüpft mit der des amerikanischen Mannequins Ivy. Diese Verbindung bricht jedoch ab und bleibt, von gelegentlichen Erwähnungen abgesehen, bis zur Not3

Geulen, Max Frisch

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Gefüge der Handlung

landung in der Wüste von Tamaulipas verdeckt. Dann aber wird sie, gleichsam als kontrastierendes Moment zu der von Faber erinnerten Hanna-Episode in Zürich, wieder aufgedeckt: der Brief Fabers an Ivy gibt einigen Aufschluß über die Eigenart dieser Verbindung. Danadi gerät sie wieder in Vergessenheit und wird erst nach der Erzählung der Ereignisse in Guatemala neu aufgegriffen und bis zur endgültigen Trennung Fabers von Ivy durchgestaltet. An zweiter Stelle verknüpft sich die Faber-Handlung mit der Herbert Henckes. Vom Zeitpunkt der Entdeckung an (Herbert ist Joachims Bruder) konfiguriert sich das Vorzeitgeschehen. Die Fäden der FaberHandlung werden nach rückwärts hin freigelegt, d. h. die Erinnerung des Helden erhellt eine frühere Lebenssituation, nennt die Personen, die ihr verhaftet waren und erläutert ihre Verhältnisse zueinander. Das geschieht allmählich und parallel zur fortschreitenden Erzählung der gegenwärtigen Ereignisse, die wiederum selbst (infolge der Mitteilungen Herberts) die Erinnerung ins Spiel setzen. In dem Augenblick, als Faber sich entschließt, seinen Freund auf der Plantage in Guatemala zu besuchen, scheint eine direkte Fortsetzung der Vorzeithandlung bevorzustehen. Aber Joachim Hencke ist tot. Die Verbindung Faber—Joachim ist endgültig abgerissen. Auch die Verknüpfung der Faber-Handlung mit der Herberts wird vorläufig unterbrochen. An dritter Stelle verbindet sich die Faber-Handlung mit der Sabeths, praktisch ein direkter Anschluß an das Vorzeitgeschehen. Die Fäden, die die Faber-Handlung mit der Vorzeithandlung verbinden, liegen nun, auf Grund der bisher geschehenen Rückwendungen und Vorausdeutungen, für den Leser offen zu Tage. Er besitzt überdies — im Unterschied zu Faber, der zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Sabeth nur weiß, daß Hanna und Joachim geheiratet haben, daß sie ein Kind haben und wieder geschieden sind — noch jene alles entscheidende Information: Faber ist der Vater des Mädchens. So kommt es, daß er die Neigung des völlig unwissenden Faber zu seiner Tochter als das Gewaltsame und Entsetzliche, das sie ist, begreift. Die falsche und gewissermaßen blinde Verknüpfung der FaberHandlung mit dem Vorzeitgeschehen entsetzt um so mehr, da auch gewisse Gegebenheiten im Verhältnis Fabers zu Sabeth (Fabers Alter ζ. B.) den Eindruck erwecken, daß Zwischenzeit und Zwischengeschehen, Entwicklungen und Entfaltungen in der Zeit für Faber überhaupt nicht zu existieren scheinen. Er erkennt die Ähnlichkeit Sabeths mit Hanna und faßt eine Neigung zu ihr unter dem Zwang dieser Ähnlichkeit, läßt aber den Altersunterschied völlig unberücksichtigt. Er liebt Hanna in der Gestalt Sabeths da weiter, wo er einst aufhören mußte, sie zu lieben. Trotzdem ist der Anschluß an Sabeth nur scheinbar gewaltsam, da das In-

Gefüge der Handlung

35

zwischen, das nicht-Bedachte, der Irrtum, bis in den Geschmack, die Tönung und Färbung dieser Neigung vordringen, und somit nur der höchst zerbrechliche Schein einer erotischen Beziehung sichtbar wird, deren eigentlicher Inhalt die Liebe zu dem Geschöpf Sabeth ist, das scheue Verwundern des Älteren, seine Sorgfalt, die Liebe des Vaters zur Tochter, — dem Vater, der Tochter unbewußt. Sind während der Zeit eines Zusammenseins von Faber und Sabeth die Fäden der Faber-und-Hanna-Handlung schon indirekt miteinander verknüpft, so laufen sie im Moment des Wiedersehens in Athen zusammen. Nach Sabeths Tod bricht das Handlungsgefüge, das vorübergehend zwischen Faber, Sabeth, und Hanna bestanden hatte, auseinander. Uberblicken wir das Gefüge der Handlung, wie es im ersten Teil des Berichtes erscheint, so zeigt sich, daß die Handlung des Helden — berücksichtigen wir die Zeit, die sie durchläuft — eine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit und Dichte des Erlebens umfaßt. Das Erleben aber orientierte sich vorwiegend an der Begegnung mit Personen und Umständen, die auf eine verwirrend zufällige Art und Weise verknüpft waren mit Ereignissen, die zwei Jahrzehnte zurückliegen. Die protokollarischen Anmerkungen zu diesen Ereignissen geben uns folgenden Aufschluß. Faber, Hanna und Joachim bilden zusammen eine Gruppe, die eine gemeinsame Handlung trägt: das Geschehen der Züricher Jahre. Es kommt zum ersten Scheitern dieser Gruppe, als Faber ausscheidet, bzw. Hanna sich weigert, in eine Heirat mit Faber einzuwilligen. Die mähliche Entwicklung der verbleibenden Glieder und ihrer Handlungsfolgen führt zu einem weiteren Ausscheiden Joachims. Inzwischen vergehen zwanzig Jahre, und die Fäden laufen auseinander. Die Handlungsfolgen sind nur als einzelne und überdies nicht vollständig faßbar. Ein Glied der Gruppe aber, Faber, bringt — abgesehen von Joachim, der durch den Tod ausscheidet — ihren erneuten Zusammenschluß auf verhängnisvolle Weise zustande, indem er, ein Magnet der unseligsten Zufälle, die jahrelang im Verborgenen laufenden Fäden neu aufzunehmen und miteinander zu vereinigen gezwungen ist. Diese zweite Gruppe wird gebildet von Hanna, Sabeth und Faber, die eine gemeinsame Handlung tragen: das unaufhaltsame Scheitern auch dieser Gruppe, das jeden einzelnen auf besondere Weise ergreift. — Alle übrigen Teil- oder Nebenhandlungen sind nun am Aufbau dieser schicksalhaft umgreifenden Handlung beteiligt. Die Verknüpfung der Faber-Handlung mit der Herbert Henckes führt vor die Leiche Joachims, d. h. aber, sie verhindert eine sichere Information (Faber ist Sabeths Vater) und ermöglicht damit die Katastrophe. Die Verbindung Faber—Ivy führt ebenfalls zur Katastrophe, da gewisse Umstände dieser Verbindung eindeutig jene schicksalhafte Begegnung Fabers mit Sabeth 3*

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Gefüge der Handlung

ermöglichen. Wir werden uns noch in einem anderen Zusammenhang mit der hier schon auffälligen Struktur des Zufalls, will sagen: Schicksals im vorliegenden Roman zu beschäftigen haben. Das Gefüge der Handlung im zweiten Teil des Berichtes gestaltet sich auf den ersten Blick hin nur insofern komplizierter, als zwei Handlungsebenen einander überspielen: die Faber-Hanna-Handlung im Athener Krankenhaus und die Faber-Handlung, die nach Sabeths Tod über Amerika wieder zurück nach Athen führt. Vorübergehend verknüpft sich diese Handlung noch einmal mit der Herbert Henckes, verläuft aber sonst eingleisig. Zwar verbindet sie sich sporadisch mit „fremden" Handlungsträgern — die Menschen in Habana ζ. B. — aber diese Verbindungen führen nicht mehr zu weitertreibenden Wendungen des äußeren Geschehens und stehen in einem anderen Sinnzusammenhang, von dem noch die Rede sein wird. Die wieder aufgenommene Verbindung Hanna— Faber stellt schließlich den dritten Zusammenschluß einer Gruppe dar, deren erneutes Scheitern abzusehen ist: Faber scheidet aus durch den Tod. Wenn wir die Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang, sowie die Struktur des Handlungszusammenhangs rückblickend noch einmal überschauen, so tun wir es diesmal unter besonderer Berücksichtigung der markanten Aufspaltung des Romanberichts in zwei Teile. Der erste Berichtteil umfaßt das schicksalhafte Geschehen, der zweite die Auswirkungen dieses Geschehens nach der Katastrophe. Was im ersten Teil Handlung, Geschehen, Geschichte war und sich in ungewöhnlicher Ereignisdichte bis zur Katastrophe hin entwickelte, das schlägt im zweiten Teil „nach innen" um und bringt die Situation des vom Geschehenen bis zum Schatten und Unwirklichen entstellten Faber zur Anschauung. Der zweite Teil erschließt vor allem die Selbstfindung Fabers, nicht als Meditation, als intellektuelle Zerknirschung, sondern durch die unvergleichliche Darstellung des plötzlichen Durchbruchs des Lebens in ihm (Habana), als die grundlose Freude, der vollkommene Genuß seiner selbst als Dasein ihm ein namenloses Bewußtsein verschaffen: Ich preise das Leben! (S. 258). So gesehen ergänzt der zweite Berichtteil den ersten von innen her, und die Aufspaltung des Gesamtgeschehens entspricht der unterschiedlichen Intention des Autors, der in der ersten Hälfte den handelnden, in der zweiten den leidenden Helden vorführt. Zum anderen konnten wir bereits feststellen, daß im ersten Berichtteil das vergangene Geschehen für Faber im Moment seiner Wiedererinnerung (Begegnung mit Herbert) auf eine fatale Art und Weise aktuell wird. Eine Anzahl von „Zufällen" bringt den Helden zunächst auf dem Umweg über einen Toten (Joachim), sodann über seine eigene Tochter mit einem Hauptträger vergangenen Geschehens (Hanna) in Verbindung. Die

Gefüge der Handlung

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Kontakte Fabers mit Personen und Umständen, die in das vergangene Geschehen zurückreichen, bilden gleichsam die Gelenkstellen der Handlung. Solche Gelenkstellen sind: die Begegnung Fabers mit Herbert Hencke und der daraus resultierende Abstecher zur Plantage, die Begegnung Fabers mit Sabeth und die daraus resultierende Reise nach Griechenland, bzw. nach Athen und schließlich — zur Zeit von Sabeths Ausscheiden — die Begegnung mit Hanna. Gegen Ende der Ersten Station hat also das Gesamtgeschehen des ersten Teils eine gewisse Abgeschlossenheit erreicht. Audi der zweite Teil, der die Auswirkungen der Katastrophe sowie das verschiedenartige Schuld- und Schicksalsbewußtsein der verbleibenden Hauptpersonen bis zum Ausscheiden Fabers veranschaulicht, präsentiert eine innere Geschlossenheit. Wir können also sagen, daß die äußere Bucheinteilung mit der inneren Struktur des erzählten Geschehens zusammenfällt. Wenn innerhalb des zweiten Berichtteils noch einmal eine Aufspaltung in Bericht und Aufzeichnung vorgenommen ist, so vermag das die in sich geschlossene Gesamtperzeption der Zweiten Station nicht zu stören. Wir haben bereits bei der Beobachtung der Geschichte im Erzählvorgang auf die Notwendigkeit des Miteinanders beider Darstellungsweisen aufmerksam gemacht.

BEDEUTUNG UND ANORDNUNG DER SCHAUPLÄTZE Eine nicht geringe Bedeutung kommt nun der ungewöhnlichen Vielfalt der Schauplätze im Faber-Roman zu. Die Handlung überspielt mehrere Länder, Klimate und Erdteile. Schon für den Stiller-Roman war diese Vielfalt der Schauplätze charakteristisch; sie suggerierte hier das Erlebnis der fernen, fremden Welt (Wüste, Mexico-Skizzen etc.) als ein echtes Abenteuer, dessen Exzentrizität und Unwahrscheinlichkeit im Gegensatz stand zur gedrängten Anschaulichkeit und Absehbarkeit des heimatlichen Schauplatzes (Schweiz). Der weltweite Rahmen aber, in den das Geschehen des Faber-Romans gespannt ist, gelangt diesmal auf Grund einer anderen Perspektive zur Anschauung, der des „homo faber" nämlich, der die Welt nicht zu erleben scheint, sondern als bloße Gegenständlichkeit hinnimmt, deren Zusammenhang er beschreibt und erklärt. Untersuchen wir jedoch zunächst, wie diese Fülle und Vielseitigkeit von Welt im Roman sich aufbaut und welche eigentümliche Bedeutung den einzelnen Schauplätzen im Hinblick auf das Gesamtgeschehen zukommt. Bis zu dem Augenblick, da Faber und Herbert Hencke in Campeche ankommen, ist der umgreifende Schauplatz des Geschehens eine SuperConstellation. Alle übrigen Orte der Handlung sind innerhalb des genannten Erzählbereichs diesem Schauplatz untergeordnet. Es sind dies in der Hauptsache: Flugplatz und Restaurant des Flughafens von Houston und die Wüste von Tamaulipas. Ab Campeche ist der umgreifende Schauplatz das tropische Guatemala: Palenque und seine Umgebung, die Plantage. Die anschließende Zwischenstation Caracas wird nur dem Namen nach erwähnt. Nach dem Flug Caracas—New York gliedert sich der nächste Schauplatz an: die Wohnung Fabers in Manhattan. Danach spielt die Handlung auf dem umgreifenden Schauplatz des Schiffs und führt nach Europa, wo zunächst Paris, dann Italien und hier schließlich Rom (Via Appia) die Schauplätze sind. In Griechenland, als einem weiteren umgreifenden Schauplatz, trägt sich das Geschehen zunächst auf Akrokorinth, dann in Athen und hier vor allem in Hannas Wohnung zu. Im zweiten Teil des Romans, in dem zwei Handlungsebenen einander überspielen, bleibt der eine Schauplatz (Athener Krankenhaus)

Bedeutung und Anordnung der Schauplätze

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unverändert. Die Schauplätze der Faber-Handlung nach Sabeths Tod aber wechseln in ähnlicher Reihenfolge wie vordem im ersten Berichtteil. Erster Schauplatz der Handlung im zweiten Teil ist New York, der zweite (infolge der Unterbrechung der Flugreise nach Caracas) die Plantage in Guatemala, der dritte Caracas und schließlich, als bisher unbekannter, umgreifender Schauplatz: Habana. Danach führt die Handlung wieder nach Europa, wo zunächst Düsseldorf (Haus der Hencke-Bosch AG) und dann Zürich Schauplätze darstellen. Bis zur Ankunft Fabers in Athen ist wieder ein Flugzeug der umgreifende Schauplatz des Geschehens. Eine Anzahl kleinerer Schauplätze, die die Handlung berührt, sind in dieser Zusammenstellung noch nicht aufgeführt, da der Text sie lediglich im „Vorübergehen" erwähnt. Es sind Orte und Gegenden, die der Erzähler nur dem Namen nach aufzählt oder skizzenhaft andeutet. Zu einer völlig anderen Art von „Schauplatz" aber gliedern sich die optischen Eindrücke Fabers, die er vor allem während des Fliegens fixiert: knappe, farbige Topographien der Landschaften, die die Maschine überfliegt. Wir haben bereits darauf hinweisen können, daß sich die FaberHandlung vorerst zusammensetzt aus den Gegebenheiten seines Berufs und der damit verbundenen Unternehmungen als Ingenieur der UNESCO. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß ihn diese weltweite Tätigkeit in die verschiedensten Orte und Gegenden führt. Sein Beruf, vergegenwärtigen wir uns auch das, besteht, abgesehen von seiner eigentlichen Berufsarbeit an Ort und Stelle, aus Hin- und Wiederreisen. Das, was sich ihm aufdrängt und schließlich zur Gewohnheit wird, ist die Geschwindigkeit, d. h. die selbstverständliche Tatsache, daß riesige Areale Land und Wasser für ihn zusammenschrumpfen, daß er binnen weniger Stunden aus dem einen Klimabereich in den anderen gelangt, daß sich die gegensätzlichsten Erscheinungen von Welt als ein Nacheinander aufdrängen und nicht mehr als ein gestalthaft miteinander Verbundenes empfunden werden, sondern als bloße Addition von Tatsachen, deren Vorhandensein erklärbar und deren Funktionszusammenhang absehbar ist. Befangen und scheinbar geborgen in dieser erklärbaren Welt, erreicht ihn nun das Unerklärbare, Unabsehbare, das, was er nicht erklären kann und was ganz entschieden in seine Gewohnheiten einbricht. Ich gelte in beruflichen Dingen als äußerst gewissenhaft, geradezu pedantisch, jedenfalls ist es noch nicht vorgekommen, daß ich eine Dienstreise aus purer Laune verzögerte, geschweige denn änderte — eine Stunde später flog ich mit Herbert. „Du", sagte er, „das ist flott von dir'. Ich weiß nicht, was es wirklich war. (S. 46)

Von jetzt ab gleitet die Handlung auf den Schauplatz von Guatemala über, und es ist interessant zu beobachten, wie sie sich verzögert,

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d. h. die Möglichkeiten einer schnellen Weiterbeförderung werden immer seltener. Der Zug Campeche—Palenque fährt (mit Unterbrechungen) um die dreißig Stundenkilometer, und in Palenque scheint jedes Weiterkommen vorerst überhaupt unmöglich. Audi der Entschluß Fabers zur Schiffsreise (obwohl Dienstreise) bedeutet ja einen Verzicht auf sein übliches Reisetempo. Einen krassen Fall von „reduzierter Geschwindigkeit" stellt der Transport Sabeths von Korinth nach Athen dar, da Faber die Bewußtlose zunächst trägt, dann auf einen Eselkarren lädt und schließlich mit Hilfe eines Lastwagens (Dreißig Stundenkilometer!) auf Umwegen nach Athen bringt. Wir sehen also, daß sich neben den üblichen, berufsbedingten Schauplätzen der Faber-Handlung andere, schicksalsbedingte angliedern. Die Richtung, die vergessene und wieder erinnerte Ereignisse seinem Dasein auferlegen, zwingt ihn, von der absehbaren Basis der berufsmäßigen Gewohnheiten abzubiegen. Das Unabsehbare und Fremde, das in sein Dasein einbricht, scheint sich zunächst auf dem Umweg über bestimmte äußere Umstände gleich zu Beginn der Erzählung anzukündigen: Wartezeit und Schneetreiben. ... und was mich nervös machte, so daß ich nicht sogleich schlief, war... einzig und allein diese Vibration in der stehenden Maschine mit laufenden Motoren — ..." (S. 9) Ich habe einen Start bei solchem Schneetreiben noch nie erlebt..., man kam sich wie ein Blinder vor. (S. 10)

Die Umstände während des Aufenthalts in Houston deuten auf eine weitere Erschütterung des Üblichen und Gewohnheitsmäßigen in Fabers Leben: sein Schwächeanfall. Wir werden weiter unten noch zu prüfen haben, wie diese Begebenheiten im einzelnen zusammenhängen, hier aber schon kann gesagt werden, daß es das aus dem Verborgenen heraus Wirksame ist, was Faber völlig verwirrt, derart, daß er sich entschließt, nicht weiterzufliegen. Auch die vorübergehende Todesgefahr und Todesangst bei der Notlandung in der Wüste weisen auf das Außerordentliche hin. Die Wüste und das improvisierte Leben der Reisenden im Schatten der Super-Constellation bilden dann den Raum, innerhalb dessen das folgenschwere Bekanntwerden Fabers mit Herbert sich abspielt. Die Entdeckung (Herbert ist Joachims Bruder) und weitere Mitteilungen Herberts rufen die Erinnerung an die Ereignisse einer ferneren Vergangenheit hervor. Kurz danach entschließt sich Faber, seinen Kurs zu ändern. Schneetreiben, Warten, der Anfall in Houston, die Notlandung, wiederum Warten in der Wüste und schließlich die Mitteilungen Herberts, all das hat die Einförmigkeit des Üblichen (Dienstreise New York—Caracas) unterbrochen, hinausgezögert, „verstellt", verfremdet. Geschah diese Verstellung des Üblichen und Vertrauten bis hierher innerhalb einer zivilisiert-technischen Umgebung, die sich (Wüste von Tamaulipas) gewissermaßen nur auf Ab-

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ruf ins Bizarre und Exzentrische verzerrte, so gewinnt das Geschehen beim Ubergang der Handlung ins tropische Guatemala einen abenteuerlichen Charakter. Z w a r stehen dem Helden keine sichtbaren Gefahren irgendwelcher Art entgegen, aber das Ungewohnte des Klimas und seiner Einwirkungen auf das Befinden, das Fremdartige der Landschaft, die Undurchsichtigkeit ihrer Bewohner, das Zusammenwirken einer Vielzahl eigentümlicher Erscheinungen, optische, akustische, Geruch, Geschmack, die Reaktion der Haut, der Organe usf. schaffen (berücksichtigen wir Sinn und Zweck der Exkursion) den spezifischen Schauplatz eines Abenteuers, das im vorliegenden Fall weniger seinen Niederschlag in faßbaren Ereignissen, als vielmehr in der Mannigfaltigkeit der klimatologisch-landschaftlich bedingten Erscheinungen und ihrer Wirkungen findet. Andererseits aber steht die Landschaft unter inneren Voraussetzungen, deren latent vorhandenen Sinnzusammenhang wir noch zu befragen haben. Es versteht sich jedoch, daß Faber zur Zeit seines Guatemalaaufenthalts diesen Sinnzusammenhang nicht vermuten konnte, wenn auch sein Bericht ihn an vielen Stellen freizulegen scheint. Audi f ü r das erzählte Geschehen in Guatemala ist wiederum charakteristisch: das Warten, die Verzögerung bis zur völligen Lethargie. Dem Motiv der Wartezeit und Verzögerung entspricht das Motiv der Verschleierung: das Blindsein während des Schneetreibens, die Unterbrechung des Bewußtseins in Houston, der Sturz ins Bewußtlose bei der Notlandung, die Einschläferung der Sinne in Guatemala. Wir erwähnen diese Motivzusammenhänge bereits jetzt, weil sie aufs engste mit den Schauplätzen verknüpft sind. Fabers Wohnung in Manhattan steht als Schauplatz schon rein äußerlich im Gegensatz zur Welt des tropischen Guatemala. Wir erleben Faber jedoch nicht eigentlich als heimisch in diesem anonymen Appartement, vielmehr in ständiger Spannung zu sich selbst, zu I v y , den Freunden und zu seiner amerikanischen Umgebung überhaupt. Seine, innerhalb dieses Gereiztseins und Gespanntseins, überraschende Fröhlichkeit in einer Bar am Hudson (nach Abholen der Schiff karte) vergegenwärtigt sehr deutlich den labilen Zustand, in den er seit Houston verfallen ist. Was ihn verwirrt, ist das Bewußtsein einer seit dem Start in La Guardia anhaltenden inneren und äußeren Verbindung zu Menschen und ihrem Dasein in den verschiedensten Spielarten: Herbert Hencke und die Erinnerung an Hanna und Joachim, die Fahrt zur Plantage und Joachims Tod, das Abschiednehmen von I v y . Daher auch sein Bestreben, diesen Verbindungen und unmerklich sich aufdrängenden Verflechtungen (vor allem mit I v y ) durch eine längere Schiffsreise zu entgehen, sein Wunsch, allein zu sein. Die Bar am Hudson wird zum inselartigen Schauplatz (vgl. Habana) einer sehr einsamen Freude, da Faber sich für Augenblicke erlöst

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weiß von der anstrengenden Verflechtung mit Menschen und menschlicher U n b e r e c h e n b a r k e i t . Die gelegentlichen Erwähnungen Fabers, daß Menschen eine Anstrengung für ihn bedeuten, daß er die glücklichsten Minuten erlebe, wenn er eine Gesellschaft verlassen habe und endlich allein sei (S. 130), haben einen ähnlichen Sinn. Andererseits ist sein Bedürfnis nach Einsamkeit keine feindselige Schwäche, sondern das Ergebnis einer Erfahrung des Unverhältnismäßigen menschlicher Beziehungen, ihrer Vagheit und wiederum: ihrer Unabsehbarkeit. In eurer Gesellschaft könnte man sterben, sage ich, man könnte sterben, ohne daß ihr es merkt, von Freundschaft keine Spur, sterben könnte man in eurer Gesellschaft! (S. 94) Es gab nichts zu sehen, Wasser ringsum, ich stand und genoß es, unerreichbar zu sein — . . . (S. 100) Gerade hier aber, auf dem Schiff, erreicht ihn sein Schicksal. Das Schiff stellt den umgreifenden Schauplatz der Begegnung Fabers mit Sabeth dar, eine sehr schmale Basis, auf der die Geschichte der verhängnisvollsten Verstrickung zweier Menschen sich abspielt. Der Ausfall alles Landschaftlichen, (Faber filmt lediglich Sonnenuntergänge) die einförmige Umgebung des Wassers, der monotone Verlauf der Tage, das nach allen Seiten hin offene Deck etc. führen den Reisenden zwar unmerklich in ein Verhältnis zu sich selbst, das aber dauernd überspielt wird von der Neugierde für seine menschliche Umgebung. Im vorliegenden Falle tritt die Gesellschaft der Reisenden, die für die Zeit ihres Beisammenseins immer den eigentümlichen Fall einer Schicksalsgemeinschaft darstellt, kaum in den Vordergrund, und die Erzählung konzentriert sich vorwiegend auf das Miteinander von Sabeth und Faber. Trotzdem erweckt es den Eindruck, als ob sie einander suchten und anzögen durch die aufdringliche Mannigfaltigkeit eines zwischengeschalteten Schiffs- und Reisebetriebs, der nur an bestimmten Punkten Kontakte zuläßt (der Pingpongtisch, die Reling usf.). Diese Kontakte währen nur kurze Zeit, und beide kommen jeweils „auf einen Sprung" zueinander. In den Zwischenzeiten sind sie allein oder in anderer Gesellschaft. Das unmerkliche Verhältnis zu sich selbst, in das Faber gerät, basiert zunächst auf den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit: die Erlebnisse in Guatemala und die Erinnerung an Hanna. Das, was dieses Verhältnis jedoch ständig überspielt, ist die Erscheinung Sabeths, die in wesentlichen Punkten zusammenfällt mit der erinnerten Erscheinung Hannas, so daß beide in der Vorstellung Fabers in eine verwirrende Beziehung zueinander geraten. Das Schiff ist nun der immer gegenwärtige Schauplatz dieses verhängnisvollen Spiels der Ahnungen und Annäherungen, die, wie wir hier schon vorausschicken dürfen, den Leser auf eine eigene Art fesseln, da er über den wahren Sachverhalt bereits informiert

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ist, die Spannung sich also ausschließlich auf das Wie der weiteren Entwicklung richtet. Der Schauplatz Europa, und hier vor allem Italien, steht in bewußtem Gegensatz zum amerikanischen Schauplatz. Die Zeichen und Ankündigungen des Schicksals, des Unabsehbaren, das bisher seinen Ausdruck fand in den Motiven der Verschleierung, Unterbrechung und Verzögerung, werden hier auf eine andere Weise deutlich. Das Verhängnis ist bereits angebrochen, und in den überkommenen Bruchstücken entleerter Mythen und Bilder, vor dem Hintergrund der durch Tourismus und Besichtigungsbetrieb verdeckten Antike, kündigen sich die Zeichen des Unheils und der Rache (Kopf einer schlafenden Erinnye) an. Wir kennen das InzestMotiv aus der griechischen Tragödie, und wir sehen, daß die Handlung später in Griechenland spielt, das aber bedeutet keineswegs: Fabers Schicksal findet hier seinen gemäßen Hintergrund. Wir können nicht einfach behaupten, daß die Handlung sich eindeutig von den Symbolen antiker Schicksalsmystik her verstehe, vielmehr erscheint, wie wir gesehen haben, die Macht, die Fügung, die hintergründige Ordnung, die unser Dasein bestimmt, in unterschiedlichen Gestalten (Kopf einer schlafenden Erinnye — Alfa Romeo, S. 174). Alle Gestalten und Formen (zeitnahe, zeitferne), in denen das Unabsehbare auftritt, verstehen sich somit als Zeichen eines Absoluten, von dessen Glaubwürdigkeit der Roman durch die epische Unterbreitung einer tragischen Entwicklung zu überzeugen sucht. Wir werden jedoch der endgültigen Interpretation nicht vorgreifen und kommen zur Betrachtung des Schauplatzes auf Akrokorinth. Die Ereignisse auf Akrokorinth werden mehrfach geschildert, so daß erst allmählich eine vollständige Vorstellung des hier Geschehenen möglich wird. Zunächst erfahren wir von dem Transport Sabeths in ein Athener Hospital, dann von der Übernachtung Fabers und Sabeths im Freien (in der Nacht vor dem Unglück) und schließlich von den Umständen des Unglücksfalls selbst. Wir untersuchen in diesem Zusammenhang nur den nächtlichen Schauplatz auf Akrokorinth. (S. 212 ff.) Faber und Sabeth haben beschlossen, die Nacht im Freien zuzubringen. Das Gebell von Hirtenhunden hat die beiden umhergetrieben, und sie befinden sich in einem einsamen Gelände. Was dem Leser die Erscheinungen und Eigentümlichkeiten der Landschaft zunächst vor Augen führt, ist das Vergleich-Spiel zwischen Sabeth und Faber. Ein Weg im Mondlicht ζ. B. ist so weiß wie Gips, wie Schnee, wie Joghurt (S. 212). Bezeichnend sind die Vergleiche Sabeths, die in den meisten Fällen poetisch ausfallen, während die Fabers aus dem Bereich des Technischen stammen oder einer mehr sachlichen Vergegenwärtigung der zu vergleichenden Gegenstände dienen. Die hierdurch erreichte Anschaulichkeit der Landschaft aber ist nur eine scheinbare, da die benann-

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ten Gegenständlichkeiten infolge ihrer mannigfachen Brechung durch den Vergleich unübersehbar und mehrdeutig werden. Paradoxerweise aber soll das Spiel mit den Vergleichen gerade ihre Faßlichkeit und Eindeutigkeit bezwecken. Die Vergleiche sollen den unheimlichen Charakter der Landschaft verdecken, indem sie die eigentümlichen Erscheinungen des Ringsum vertraut und in einem gewissen Sinne erklärbar machen. Die weißen Hütten von Korinth: Wie wenn man eine Dose mit Würfelzucker ausgeleert hat! Ich finde etwas anderes, bloß um unser Spiel weiterzumachen. ... Wir sind die ganze Nacht gewandert. Ohne einen Menschen zu treffen. Einmal erschreckt uns Gebimmel einer Ziege, dann wieder Stille über schwarzen Hängen, die nach Pfefferminz duften, Stille mit Herzklopfen und Durst, nichts als Wind in trockenen Gräsern: Wie wenn man Seide reißt! findet Sabeth, . . . (S. 213). Es sind lauter Bildnisse, die die Furcht entwirft, Götzen, die das Unheimliche, das sie beide erfaßt hat, verharmlosen. Athen als letzter Schauplatz des ersten Berichtteils wird infolge der Gespräche zwischen Faber und Hanna kaum sichtbar. Was von der Athener Kulisse deutlich wird, wirkt skizzenhaft:... Kleinstadt, teilweise sogar Dorf, levantinisch, Gewimmel von Leuten mitten auf der Straße, dann wieder Einöde, Ruinen, dazwischen Imitation von Großstadt, gräßlich . . . (S. 187). Die für das Verständnis des Romans wesentlichen und aufschlußreichen Gespräche zwischen Hanna und Faber stehen im Vordergrund. Die gelegentlichen Hinweise Fabers auf Hannas wissenschaftliche Tätigkeit als Archäologe fungieren als inhaltliche Anspielung und machen die bestürzende Ähnlichkeit seines Falls mit gewissen Mythen und Sagen der Antike deutlich, deren Zeichen und Bilder als überkommener kostbarer Schutt zur täglichen Umgebung Hannas gehören. Die Schauplätze des zweiten Berichtteils sind, abgesehen von Habana, bereits aus dem ersten Teil bekannt: New York, die Tabakplantage in Guatemala und Caracas. Dabei fällt auf, daß Caracas, ähnlich wie im ersten Teil, als Schauplatz kaum faßbar wird. Im ersten Teil erfahren wir von zwei Tagen Aufenthalt und schneller Abreise, da die Turbinen noch nicht zur Montage bereit sind. Im zweiten Teil wird uns berichtet, daß sie jetzt zwar bereit sind, Faber jedoch wegen Magenbeschwerden ausfällt, im Hotel liegen muß und seinen Bericht schreibt. Das heißt aber: das Unternehmen Caracas hat für Faber nicht stattgefunden. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Ereignisse den Helden dazu zwingen, von der absehbaren Basis seiner gewohnten Lebensweise abzubiegen. Bereits seit der Zwischenlandung in Houston ist Faber in zunehmendem Maße aus dem Bereich seiner berufsmäßigen Tätigkeit ausgeschieden. Es ist daher bezeichnend, daß er am Ort des Unternehmens, das für ihn nicht statt-

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gefunden hat, in Caracas nämlich, den ersten Teil seines Berichts abfaßt, ein Versuch, das Erlebte auszusprechen und damit in Distanz zu bringen. Die übrigen Schauplätze, New York und Guatemala sind unverändert. Faber tritt ihnen jedoch als der Gezeichnete gegenüber. Die Erfahrungen der vergangenen Wochen, sowie sein Verdacht, daß er an Krebs erkrankt sei, überschatten das Erleben. In New York erlebt er den grotesken Fall, daß sich auf Anrufen seiner eigenen Nummer die Stimme eines Fremden meldet. Es scheint Faber überhaupt nicht mehr zu geben. Diese Episode symbolisiert die krasse Unsicherheit und Fragwürdigkeit seiner Existenz, deren Wirklichkeit in ähnlicher Weise erschüttert zu sein scheint wie die des Anatol Ludwig Stiller. Das unveränderte Palenque und dessen Umgebung stehen im Gegensatz zur furchtbaren Veränderung, die Fabers Leben ergriffen hat und lassen ihn wünschen, daß es noch einmal so sein möchte wie vor zwei Monaten. Nur Herbert hat sich verändert und scheint in völlige Lethargie verfallen zu sein. Die passive Haltung Herberts jedoch treibt Faber wiederum in die Tätigkeit. Sein Drang, sich zu beschäftigen, deutet auf den Versuch einer erneuten Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung, auf eine letzte Anstrengung, zu verhindern, daß das Geschick ihn vor der Zeit auslöscht. Dann aber führt die Handlung über Caracas auf den Schauplatz von Habana, der für Faber eine kaum zu überschätzende Bedeutung hat. Wir werden Gelegenheit haben, die Habana-Episode ausführlich zu interpretieren, da sie uns eine Meisterleistung moderner deutscher Prosa zu sein scheint. Der Schauplatz von Habana hat innerhalb der übrigen Schauplätze, die auf vielfältige Art einander bedingen und miteinander verknüpft sind, inselartigen Charakter. Was ich in Ηab ana zu tun hatte: — das Flugzeug wechseln, weil ich keinesfalls über New York fliegen wollte.. .ich blieb vier Tage. Vier Tage nichts als Schauen — . . . (S. 245).

Inselartiger Charakter will sagen: Habana ist für Faber, im Unterschied zu allen anderen Schauplätzen, ein Ausnahmefall, eine Halluzination, ein Traum. War bislang die Umwelt eine Anstrengung für ihn, ein Widerstand, eine Verzögerung, die es möglichst bald und schnell zu überwinden galt, so ist sie hier ein Entgegenkommen, eine vielfache Freude. Der Schauplatz wird, ähnlich dem auf Akrokorinth, als Sabeth beim Anblick der aufgehenden Sonne zu singen anfängt, zu einem vergänglichen Paradies. Die nächsten Stationen, Düsseldorf und Zürich, verblassen dagegen und haben, von wesentlichen Momenten abgesehen, die wir noch erläutern werden, als Schauplätze wenig Bedeutung. Auch Fabers Zimmer im Athener Krankenhaus bleibt begreiflicherweise ohne Eindruck für den

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Bedeutung und Anordnung der Sdiauplätze

Leser, da gerade hier die Gespräche zwischen Hanna und Faber, Reflexionen und Selbstdeutungen im Vordergrund stehen. Wir haben versucht, die Bedeutung, die den einzelnen Schauplätzen im Hinblick auf den Träger der Haupthandlung sowie innerhalb des Gesamtgeschehens zukommt, zu erläutern. Dabei ließ es sich nicht vermeiden, daß wir gelegentlich auf andere, noch bevorstehende Teile der Untersuchung vorgegriffen haben. Indessen suggerieren die Sdiauplätze im vorliegenden Roman, unserer Auffassung nach, nicht allein das Erlebnis der Fülle und Vielseitigkeit von Welt, sondern sie sind als Sdiauplätze aufs engste verknüpft mit den inneren Voraussetzungen der Handlung, deren Spiegel sie sind. Zudem fällt ihre Ausdehnung, wie wir noch sehen werden, jeweils mit bestimmten Phasen des erzählten Geschehens zusammen, so daß sie von daher eine plastisch-anschauliche Wirkung erlangen. Die Vorstellung vergangener Lebenszeit, die Erinnerung an eine bestimmte Erlebniskonstellation in der Vergangenheit, wird von der Eigenart des Erlebnisraumes nicht absehen können. Damalige Landschaft und Lichtverhältnisse etc., damalige Bedingungen und Umstände mannigfacher Art werden zu gestalthaften Teilen, die am Aufbau jener erinnerten Erlebniskonstellation mitwirken. So aber erscheint die erinnerte Phase vergangener Lebenszeit als ein Gestaltmoment, das sich mit vielen anderen zur umfassenden Gestalt eines Lebens gliedert. Das Sichtbarwerden der umfassenden Gestalt jedoch ist eine menschliche Erwartung, die sich nicht erfüllt. Faber, als der Rückblickende, sieht nur das Nacheinander bestimmter Erlebnisfelder, deren zeit-räumliche Koordinaten er festlegt. Der gestalthafte Zusammenhang, in dem sie erscheinen, wird nur für den Leser sichtbar, da er zusammenschaut, was für Faber nur eine Summe von Einzelheiten darstellt, da er schließt und verknüpft, wo Faber beobachtet und feststellt. In diesem Sinne kommt den Schauplätzen eine intentionale Funktion zu, da sämtliche Erscheinungen ihrer sprachgetragenen Wirklichkeit über sich hinausweisen und Bedeutung schaffende Elemente darstellen. Die Besinnung auf Faber als Rückblickenden, der vom vergangenen Geschehen berichtet, leitet über auf das Problem des Erzählers und der Erzählhaltung. Wir stellen somit die noch unbeantwortete Frage nach den zeitlichen Verhältnissen des Romans vorerst zurück, da uns die Diskussion von Erzählerfunktion und Erzählspannung die entscheidenden Maßstäbe für die Untersuchung des Zeitgerüstes liefern wird.

ERZÄHLER,

ERZÄHLHALTUNG,

ERZÄHLSPANNUNG Ebenso wie der Stiller-Roman ist auch der Faber-Roman eine IchErzählung. Der Roman, als soldien sprechen wir ihn an, gibt sich laut Untertitel als Bericht. Ein Bericht, so können wir vermuten, der nach dem Tode Fabers posthum herausgegeben wurde. Im Unterschied zum StillerRoman, der ja auch die spätere, wenn auch nicht posthume, Veröffentlichung einer Niederschrift (Aufzeichnungen im Gefängnis) darstellt, folgt dem Faber-Roman weder ein Nachwort noch irgendein Hinweis. Es ist überflüssig, ausdrücklich zu bemerken, daß dieser Roman, inhaltlich gesehen, nichts mit seinem Autor zu tun hat. Max Frisch ist der Urheber der story von Walter Faber, der Initiator ihrer inneren und äußeren Bedingungen. Er entwirft die fiktive Figur eines Berichterstatters, durch den ein Schicksal, ein Verhängnis zum Ausbruch gelangt und sich bis zur Katastrophe hin entfaltet. Er spielt diese Rolle des Berichterstatters Faber, eines schnell urteilenden Technikers, der an die Universalität eines mathematisch-naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes glaubt und an nichts anderes, der aber den Fall eines antik anmutenden Schicksals an sich erlebt, demgegenüber er nichts auszurichten vermag, und das ihn fast zu Grunde richtet. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick lang die Lage des Romanschöpfers, der diesen Fall des Schicksals aus eigener Erfahrung nicht kennt, der vom „homo faber" unserer Zeit nicht viel mehr oder weniger weiß als wir selbst, so ist es erstaunlich, daß er weder in dem einen noch anderen Sinne ein Οίάιέ aufgriff, so gewagt und, auf den ersten Blick hin, grob auch die Antithese von Schicksal und völliger Erklärbarkeit der Welt sich ausnehmen mag. Daß es erstaunlich ist, gehört zur selbstverständlichen Erwartung eines jeden Lesers, obwohl es durchaus nicht selbstverständlich ist, daß der Autor nicht irrt oder die Form verfehlt. Denn: welch ein philosophisches Abenteuer hätte der Roman werden können, wäre der Autor den gegensätzlichen Auffassungen analytisch nachgegangen, welch umfassende Integration aller Denkrichtungen und Denkweisen der Zeit wäre möglich gewesen, würde er der in der Romanliteratur weit verbreiteten Annexion von Essay und wissenschaftlicher Abhandlung gefolgt sein. So aber versucht der Roman ein modernes

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Erzähler, Erzählhaltung, Erzählspannung

Problem mit modernen Mitteln (vor allem im Hinblick auf seine Sprache und seinen Stil), zwar nicht zu lösen, aber auf eine erschütternd anschauliche Weise Gestalt werden zu lassen. Die Menschen selbst sind das Problem, seine Inkarnation. Der „homo faber" ist nicht das Sprachrohr einer Weltanschauung oder Lehre, sondern ihr leibhaftiges Opfer. Die Antithese von Schicksal und völliger Erklärbarkeit der Welt ist zudem, wie wir noch sehen werden, nicht die einzige des Romans; in allen Fällen aber rangiert die epische Unterbreitung, die Veranschaulichung vor der Auseinandersetzung. Was uns für die bisher vorliegenden Romanwerke des Schweizer Dichters bezeichnend scheint: ihre Anschaulichkeit. Wir sehen in der Habana-Episode ein hervorstechendes Beispiel für diese Art epischer Anschaulichkeit. Die Welt in Habana und Faber, der diese Welt und das Leben preist, deuten sich selbst, indem sie geschehen, sich ereignen und da sind. Versuchen wir vorab die Frage zu beantworten, warum der Autor seinen Roman einen Bericht nennt, so lassen sich hierzu drei Gründe angeben. 1. Trägt es zur Glaubwürdigkeit des Geschehens bei, wenn der Hauptbetroffene einen Bericht abfaßt und keine Erzählung. Es steht zu erwarten, daß er sich weitgehend an die Tatsachen halten und jede phantasiebedingte Ausschmückung des Erlebten vermeiden wird. 2. Ist der fiktive Berichterstatter ein Techniker, ein Naturwissenschaftler also. Es liegt nahe, daß er die ihm geläufige Art der Fixierung und Mitteilung von Vorgängen auf den Bereich seines persönlichen Lebens überträgt. Wie weit das von ihm Berichtete dann noch tatsächlich Bericht ist, wird sich zeigen. 3. Wirken gewisse Ereignisse und Zufälle der story auf den ersten Blick hin derart unwahrscheinlich, daß der Leser von vorne herein zu bedenken geben mag, dergleichen komme nur in Romanen vor und entbehre jeder Glaubwürdigkeit. Der Autor jedoch provoziert den Leser, indem er die Mitteilung des Unwahrscheinlichen eben nicht Roman nennt, sondern Bericht. Durch die Einschaltung eines persönlichen Berichterstatters nehmen die Mitteilungen den Charakter von Lebensdokumenten an. Walter Faber schreibt in Caracas die erste Hälfte des Berichtes, der die Ereignisse vom Start in La Guardia bis zu Sabeths Tod verzeichnet. Die Aufzeichnungen sind Hanna zugedacht, wurden aber nicht abgeschickt oder später überreicht, sondern fielen Hanna zusammen mit dem zweiten Berichtteil und den Tagebuchnotizen vermutlich erst nach dem Tode Fabers in die Hände. Zu der Zeit, da Faber in Caracas seinen ersten Bericht abfaßt, ist einiges mehr geschehen als der Bericht enthält: die Rückkehr nach New York, der zweite Aufenthalt auf der Plantage und die Montage in Caracas, an der er nicht teilnehmen kann wegen Magenbeschwerden. Der zweite Teil der Aufzeichnungen enthält den Zeitpunkt der Niederschrift und das, was darauf folgte (Cuba, Düsseldorf, Zürich, Athen) wiederum

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als Bericht. Der dritte Teil, die Tagebuchnotizen im Athener Krankenhaus, fällt bis zu einem gewissen Grade mit der Abfassung des zweiten Berichtteils zusammen, bis zu dem Zeitpunkt nämlich, da man Faber seine Hermes-Baby wegnimmt. Nach dem endgültigen Entzug der Schreibmaschine schreibt Faber nur noch an seinem Tagebuch. Der zweite Berichtteil jedoch hat indessen einen markanten Punkt erreicht: Fabers letzter Tag vor dem Krankenhausaufenthalt in Athen und sein Besuch an Sabeths Grab. Wir sehen, daß die Niederschrift der Aufzeichnungen jeweils an bestimmten „Stationen" erfolgt und immer dann, wenn über das Berichtete hinaus ein weiterer Teil des Geschehens, die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, bereits abgelaufen ist. Das liegt zwar in der Natur der Sache, wird aber hier wesentlich, da die Zeit der Niederschrift, ihre inneren und äußeren Umstände, in den folgenden Aufzeichnungeir mit einbezogen ist. Die großen Berich tschübe und Tagebuchnotizen sind ineinander geschachtelt. Der zweite Teil der Aufzeichnungen informiert über die „Erzählsituation" des ersten, der dritte über die des zweiten und die gegenwärtige „Erzählsituation". Dadurch, daß nichts in der Berichterstattung ausfällt, auch nicht der für gewöhnlich vernachlässigte Zeitpunkt der Niederschrift, wird ein hohes Maß an Genauigkeit erreicht. Im Strom der Zeit und der Geschehnisse, die ihn ständig weiter entfalten, schreibt der Berichterstatter gegen sie und zurück, bis er in dem Augenblick, da die Zeit „erreicht" ist (Athener Krankenhaus), mit der Zeit schreibt, was wiederum seinen Niederschlag findet in den Notizen zum Augenblick, zu Gesprächen und Reflexionen in gegenwärtiger Zeit, die bis zum Zeitpunkt der Operation hin anhalten und den Anschein von letzten Meldungen erwecken: 8.05 Uhr. Sie kommen (S. 289). Fabers Bemühen, das Erlebte zu fixieren, zeugt von der Absicht, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, obwohl nur der dritte Teil der Aufzeichnungen wirkliche Ansatzpunkte einer Auseinandersetzung liefert. Echte Deutungsversuche und Hinweise zu einem Selbstverständnis werden zudem nicht von Faber selbst, sondern von Hanna gewonnen, deren Andeutungen er nicht versteht: Was Hanna damit meint, weiß ich nicht (S. 247). Einige Versuche Fabers während der Niederschrift, anhand der Zusammenhänge zu einem Selbstverständnis zu gelangen, haben ausgesprochen positivistischen Charakter und gehen meist an der Sache vorbei. Wir vertreten jedoch trotzdem die Auffassung, daß Fabers Bericht eine Auseinandersetzung darstellt. Hierzu unterscheiden wir Folgendes: einmal das, was Faber zustößt und geschieht, zum anderen seine Art, das Geschehene schriftlich zu fixieren. Das, was ihm geschieht, das Schicksal, die 4 Geulcn, Max F r i s i

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Erzähler, Erzählhaltung, Erzählspannung

Konstellation der Ereignisse, sein Lebensgang während der vergangenen Wochen, das alles hat der Autor im plot entworfen und vorhergesehen. Es erscheint aber erst durch den Bericht des Walter Faber, den der Autor als fiktiven „Erzähler" eingeschaltet hat. Somit präsentiert der Roman zwei Weltmöglichkeiten: die vom Schöpfer entworfene Welt, ihre latent vorhandene Schidksalhaftigkeit, ihre Bedeutung, die sich niederschlägt in Motiven, Hinweisen, Andeutungen, ihr beredtes Schweigen, ihre Transparenz allerorten, und die Welt in den Vorstellungen Fabers, eine Welt der hintergrundlosen Tatsachen, der Vordergründigkeiten und Erklärbarkeiten. Faber versucht nun: das Geschehen zu „orten", indem er den Tatsachenzusammenhang rekonstruiert. Er verfaßt einen Beridit, — und der Bericht enthält auf eine frappante Weise jene Welt der Bedeutungen und Hintergründe, die er vermeiden und an die er nicht glauben wollte. Es ist fraglich, ob er sich dessen bewußt wurde, soviel jedoch steht fest: der Leser erfährt durch Fabers Bericht, durdi den Bericht eines Technikers, die offenbare Sinnbezogenheit menschlichen Daseins, seine Abhängigkeit von Mächten und Kräften, die es bestimmen und leiten. So geschehen, stellt der Bericht eine konkrete Auseinandersetzung dar, da das Ereignis an die Stelle der Diskussion tritt. Befassen wir uns nun mit dem Beridit selbst und versuchen wir, seine Struktur deutlich zu machen. Faber ist Naturwissenschaftler. Die Naturwissenschaften gehören zu den empirischen Wissenschaften. Alle Aussagen der empirischen Wissenschaften über die Phänomene sind zunächst Protokollaussagen. Die Protokollaussagen bilden die Basis des gesamten Systems. Phänomene sind mit den Sinnen faßbare Ereignisse, also das, was man sehen, hören, riechen, schmecken, betasten kann. Es kommen für die Beobachtung nur jene Erscheinungen in Betracht, die äußerlich, d. h. sinnlich faßbar sind. Solche Vorgänge und Erscheinungen sind ζ. B.: das Fallen der Körper, das Leuchten einer Lampe, Erhöhung der Temperatur usf. Was aber keinesfalls unter den Begriff des Phänomens fällt, sind Ereignisse, wie das Fließen des elektrischen Stromes durch eine Leitung, oder eine Krankheit. Die beobachtbaren Auswirkungen dieser Ereignisse erst sind wieder Phänomene: der Strom bringt die Lampe zum Leuchten, die Krankheit hat bestimmte Symptome. Die Protokollaussagen verzeichnen das Auftreten solcher Phänomene und enthalten jederzeit folgende Angaben: Zeitkoordinaten, Raumkoordinaten, Umstände, Beschreibungen des Phänomens. Die Erklärung der Protokollaussagen geschieht nun mit Hilfe der logischen Gesetze und der bereits bestehenden Theorien. Solange sie nicht verifiziert sind, heißen sie Hypothesen; nach der Verifikation werden sie zu naturwissenschaftlichen Gesetzen. Hierauf erfolgt eine Erklärung der Gesetze selbst, und diese Erklärungen schließen sich wieder

Erzähler, £rzählhaltung, Erzählspannung

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zu Aussagen zusammen, die, nach hinreichender Prüfung, Theorien genannt werden4. Was zunächst am Faber-Bericht auffällt, sind eben jene Protokollaussagen, die regelmäßig folgende Angaben enthalten: Zeitkoordinaten, Raumkoordinaten, Umstände, Beschreibung des Phänomens. Der Bericht ist angefüllt mit Fakten. Nur an wenigen Stellen wird ein Fortschritt über die erste Stufe der Protokollaussagen hinaus vorgenommen. Die Erklärung der Aussagen findet nicht statt, da die logisdien Gesetze versagen. Die intentionale Folge und Anordnung der Fakten fällt zudem nicht in den Bereidi der Phänomene und bleibt den Sinnen verschlossen wie das Fließen des elektrischen Stroms in der Leitung. Faber, der es gewohnt ist, nichts hinter den Phänomenen zu vermuten, sondern ausschließlich sie selbst anzusehen und ihren sichtbaren Zusammenhang darzulegen, sieht an ihrem inneren Zusammenhang vorbei, wenngleich er während der Niederschrift gewissermaßen unter seinen Händen entsteht. Auch im Stiller-Kom&n handelt es sich um eine Niederschrift: Die Aufzeichnungen im Gefängnis. Hier jedoch umkreisen noch zahlreiche Reflexionen und Gespräche das Kernproblem. Für Stiller stand ja auch eine ganz andere Lebensfrage im Vordergrund: die Frage nach seiner eigenen Wirklichkeit. Wir können hier nur andeuten, daß der Roman selbst eine entsprechende Technik verfolgt, indem diese Wirklichkeit Stillers von verschiedenen Perspektiven aus „versucht" wird. Jede dieser Perspektiven jedoch entwirft nicht nur ein Bild Stillers, sondern ermöglicht gleichzeitig den Blick auf eine bestimmte Schicht gelebten Lebens. Das „geologische" Moment spielt im Stiller-Roman eine große Rolle: das sich-fassen- und begreifen-Wollen von Sdiicht zu Schidit. Wie kann der Held sich unabhängig von den anderen, deren Bildnis er sprengen möchte, verstehen und erkennen, wer er in Wirklichkeit ist? Welches ist die Sprache für diese Wirklichkeit, die ihm als das Unaussprechliche erscheint, das er nicht beweisen kann? Von diesen Fragen aus betrachtet, versteht sich der Roman unter anderem als der Versuch einer Morphologie gelebten Lebens, die Lebensniederschrift als ein Versuch zur Gestalt gelebten Lebens. Es ist der Versuch Stillers, zu sich selbst vorzudringen, sich selbst anzunehmen, sich selbst zur Aufgabe zu werden und jene Orientierung des Individuums in sich selbst zu finden, von der Kierkegaard spricht. Ganz anders, und doch in gewisser Hinsicht ähnlich, lautet die Frage des „homo faber". Faber überschaut rückblickend nur eine absehbare Reihe von Geschehnissen, die jedoch verknüpft sind mit Ereignissen und Vorfällen, die zwei Jahrzehnte zurückliegen. Es geht um die Vergegenwärti4

4*

Vgl. I. M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, bücher 304, 1954, S. 104 ff.

Dalp-Taschen-

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gung einer Lebenssituation, in der allem Anschein nach die Schuld und somit das Scheitern eines ganzen Lebens zum Ausbruch gelangen. Faber versucht durch einen Bericht den Nachweis seiner völligen „Unschuld" zu erbringen, was allerdings nicht im Vordergrund steht, solange wir die Schuldfrage von äußeren Gegebenheiten herleiten. Zum anderen aber versucht er mit Hilfe der Protokollaussagen die genaue Rekonstruktion des Faktenzusammenhangs, um Hanna zu beweisen, daß es jene hintergründige Verknüpfung und offenbare Transparenz des Geschehens nicht gibt. Fabers Frage lautet also: wie konnte das alles geschehen, und was an diesem Geschehen deutet auf ein Schicksal, auf eine Fügung? Auch Faber unternimmt damit den Versuch, auf seine Weise zu einem Selbstverständnis vorzustoßen, nur konzentriert sich sein Interesse allein auf den sichtbaren Zusammenhang. Indem er aber diesen sichtbaren Zusammenhang im Bericht wiederherstellt, erscheint für den Leser der schicksalhafte und „wirkliche" Zusammenhang; denn die Inszenierung des Geschehens durch den Autor ist in dieser Hinsicht derart demonstrativ, daß der Leser die schicksalhafte Verknüpfung der Ereignisse erkennen muß. Der Berichterstatter hingegen kann nichts anderes tun, als vom so beschaffenen Geschehen berichten, ohne jedoch jenen Einblick zu haben, da er das einmal gewonnene „Bildnis" einer absehbaren und erklärbaren Welt nicht aufgeben mag. Der Leser sieht sich so in die seltene Lage versetzt, Schicksal und Opfer, Schuld und Scheitern zugleich zu überschauen und aufeinander zu beziehen, obwohl er nur die eine Informationsquelle, den Bericht Fabers, besitzt. Dies will jedoch nicht sagen, daß er über ein ungleidi größeres Maß an Einsicht verfügt, daß er gewissermaßen klüger ist als der Held und aus dem sicheren Wissen um die wahren Verhältnisse heraus zu urteilen vermöchte. Vielmehr überredet der Bericht selbst zu dieser Einsicht, da er — abgesehen von seiner demonstrativen Ausgestaltung durch den Autor — dem Leser von einem gewissen Zeitpunkt an jenen schicksalhaften Zusammenhang offenbart und den Irrtum, das Blindsein des Helden aufzeigt. Das aber hängt zusammen mit einer bestimmten Intention des Autors, die wir anschließend im Hinblick auf die Erzählspannung im Roman erörtern wollen. Fabers Bericht entspricht in seiner Anlage — von wenigen Ausnahmen abgesehen — der zeitlichen Reihenfolge der Geschehnisse, die sich während der letzten Wochen und Monate zugetragen haben. Wir konnten bereits darauf hinweisen, daß die Einblendung der zeitlich weiter zurückliegenden Züricher Ereignisse keine Rückblenden sind, sondern protokollarische Zwischenbemerkungen darstellen, deren Einschaltung an charakteristischen Punkten des jüngst vergangenen Geschehens erfolgt, immer dann nämlich, wenn dieses Geschehen (die Begegnung mit Herbert Hencke) eine

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solche Zwischenbemerkung erforderlich macht. Die Einschaltungen dienen natürlich in der Hauptsache der Information des Lesers. Da aber Faber sich nicht ausdrücklich an einen solchen Leser wendet — es sei denn an Hanna, die jedoch um die Zusammenhänge weiß — dienen sie audi zu Fabers eigener Information: die Vergegenwärtigung der Züricher Lage. Hauptzweck der Zwischenbemerkungen aber bleibt die Information des Lesers. Zu diesen Informationen, die das vergangene Geschehen von Mal zu Mal unterbreiten, stehen nun — wie schon angedeutet — die regelmäßig eingestreuten Vorausdeutungen in einem Spannungsverhältnis, das in dem Moment seinen Höhepunkt erreicht, als Faber das Schiff nach Europa bestiegen und zum erstenmal das Mädchen Sabeth erblickt hat. Was ändert es, daß ich meine Ahnungslosigkeit beweise, mein Nichtwissen-können! Ich habe das Leben meines Kindes vernichtet und ich kann es nicht •wiedergutmachen. Wozu nod) ein Berichtf Ich war nicht verliebt in das Mädchen mit dem rötlichen Roßschwanz, sie war mir aufgefallen, nichts weiter, ich konnte nicht ahnen, daß sie meine eigene Tochter ist, ich wußte ja nicht einmal, daß ich Vater bin. Wieso Fügung.? Ich war nicht verliebt, im Gegenteil, sie war mir fremder als je ein Mädchen, sobald wir ins Gespräch kamen, und es war ein unwahrscheinlicher Zufall, daß wir überhaupt ins Gespräch kamen, meine Tochtei und ich. Es hätte ebensogut sein können, daß wir einfach aneinander vorbeigegangen wären. Wieso Fügung! Es hätte auch ganz anders kommen können (S. 102).

Von jetzt ab ist der Leser zwar hinreichend informiert, die Spannung jedoch ist deshalb nicht aufgehoben, sie nimmt einen anderen Charakter an. Wir beobachten einerseits die verhängnisvolle Entwicklung jener Neigung Fabers zu Sabeth, andererseits sehen wir mit Schrecken der Begegnung Fabers mit Hanna entgegen, auf die die Handlung, vor allem seit Paris, unmerklich zuführt. Bezeichnend ist indessen, daß Faber von dieser Begegnung ohne Ubergang berichtet, indem er dem Geschehen auf Akrokorinth (Sabeths Unfall) vorgreift und es erst nachträglich in drei Spiegeln rüdkblendet, die den Vorfall lückenlos abbilden. Sehen wir einen Augenblick auf den Autor, der die Rolle des fiktiven Berichterstatters spielt, so dürfen wir auf Grund der bisher gewonnenen Einsichten annehmen, daß er auf alle Spannung — in einem äußeren Sinne — verzichtet, um das Geschehen vom Grundsätzlichen her begreiflich zu machen. Lesen wir ζ. B. die Szene an der Via Appia, als Faber erfährt, daß Sabeth die Tochter Hannas ist, so stellen wir fest, daß sich unser Interesse weniger auf diese längst bekannte Tatsache konzentriert, als vielmehr auf die Weise ihres Bekanntwerdens für Faber, als demjenigen, der rückblickend davon berichtet. Es kommt dem Autor nicht so sehr darauf an, das Geschehen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu suggerieren, sondern in allen Einzelheiten zu demonstrieren.

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Was Brecht in seinem Organon schreibt über den „Verfremdungseffekt', nämlich: die theatralische Verfremdung solle den gesellschaftlich beeinftußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt — ferner: der Zuschauer soll sich nicht einfühlen, es soll verhindert werden, daß das Spiel ihn in Trance versetzt, sein Vergnügen soll vielmehr darin bestehen, daß ihm im Spiel gewisse Vorgänge, die ihm vertraut sind und geläufig, verfremdet werden, damit er ihnen nicht als Hingerissener, sondern als Erkennender gegenüber sitzt, erkennend die besondere Bedingtheit einer Handlung, genießen das höhere Vergnügen, daß wir eingreifen können, produzierend in der leichtesten Weise, denn die leichteste Weise der Existenz (sagt Brecht) ist in der Kunst... Es wäre verlockend, all diese Gedanken auch auf den erzählenden Schriftsteller anzuwenden; Verfremdungseffekt mit sprachlichen Mitteln, das Spielbewußtsein in der Erzählung, das Offen-Artistische, das von den meisten Deutschlesenden als „befremdend" empfunden und rundweg abgelehnt wird, weil es „zu artistisch" ist, weil es die Einfühlung verhindert, das Hingerissensein nicht herstellt, die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte" „wirklich" passiert sei usw. (Tagebuch, S. 293 f.)

Wir sind der Meinung, daß der Faber-Roman einen solchen Versuch der Anwendung von Verfremdung und Desillusionierung darstellt. Die Einfühlung des Lesers wird durch den Berichterstatter in mehr als einer Beziehung verhindert. Überall da, wo er gewohnt ist, sich hinreißen zu lassen, wird er enttäuscht oder herausgefordert; denn Faber berichtet ja unter Ausklammerung jener Vorgänge, die nicht beobachtbar sind. Der Roman wird zum Bericht verfremdet, das Gewohnte zum Ungewohnten, das Erwartete zum Unerwarteten. Andererseits aber verhilft dieser Bericht infolge der Aufhebung oder Umfunktionierung von Spannung dazu, das Geschehen rein, will sagen: unabhängig von einer subjektiven Verzerrung anzuschauen. Ein subjektiver, dem Erlebten emotional hingegebener Erzähler hätte dasjenige, worauf es ankommt, nur getrübt und verschleiert mitteilen können. Die offene Darstellung seines eigenen Leidens, seiner Schuld, seines Scheiterns, hätte dem Leser genau jene Illusion verschafft, die den Blick für das hier wesentliche verstellt: der Fall eines „homo faber" unserer Zeit, dessen Schicksal uns nicht in die Mitleidenschaft ziehen, wohl aber aufklären soll. Das hinweisende und „zeigende" Erzählen vermeidet jede Suggestion und setzt an ihre Stelle die Demonstration! Wir stehen dem Geschehen als Erkennende gegenüber und durchschauen die Zusammenhänge. Darüber hinaus wird alles getan, dieses Durchschauen noch zu erleichtern, vor allem durch das hinweisende Arrangement der Umwelt des Helden, durch die Einschaltung von Motiven usf. Der zweite Berichtteil gibt nun dem Leser die Möglichkeit, das im ersten Teil erlernte interessierte Anschauen von Vorgängen noch zu vervollkommnen. Wir konnten bereits darauf hinweisen, daß hier eine gewisse Verdünnung und Herabminderung des rein Handlungsmäßigen eintritt. Zwar ist der Held unterwegs und reist wiederum um die halbe

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Welt, aber das Geschehen bleibt — abgesehen von den Erlebnissen Fabers in Habana — auf eigentümliche Weise leer und wirkungslos, d. h. es führt nicht mehr zu überraschenden Wendungen der Geschichte. Audi hier stehen die Tagebuchnotizen Fabers zu den Berichtstücken in einem ähnlichen Spannungsverhältnis wie vordem im ersten Teil die Rüdewendungen zu den Vorausdeutungen. Der Leser entnimmt zwar dem Hinweis: Athen, Krankenhaus. Beginn der Aufzeichnungen 19. Juli (S. 228) Ort und Zeit ihrer Niederschrift, weiß jedoch noch nicht um den näheren Zusammenhang. Erst auf S. 234: Meine Operation wird mich von sämtlichen Beschwerden für immer erlösen ... darf er vermuten, daß Faber im Anschluß an seinen Amerikaaufenthalt, über den ja die Berichtstücke informieren, nach Athen zurückgekehrt ist und sich zur Magenoperation in ein Krankenhaus begeben hat. Wir haben bereits mehrmals das Miteinander von Tagebuch und Bericht zu deuten versucht und können hier nur hinzufügen, daß dieses Miteinander schließlich eine Spannung hervorruft, die beruht auf der anfänglichen Unvereinbarkeit und Unabsehbarkeit beider Handlungsebenen. Indessen löst sich auch diese Spannung sehr bald, nachdem der Leser den Zusammenhang erkannt hat. Die Geschichte erfährt also keine nennenswerte Steigerung, und alles Wesentliche, den ersten Teil von innen her Ergänzende, findet seinen Niederschlag, einmal in den Reflexionen und Gesprächen, soweit sie das Tagebuch verzeichnet, zum anderen aber in der eigentümlichen Perzeption der Erlebnisse Fabers nach Sabeths Tod. Nun haben wir oben behauptet, daß diesen Erlebnissen eine gewisse Leere und Wirkungslosigkeit anhafte, die nicht mehr zu überraschenden Wendungen der Geschidite führten; das Geschehen ist steril und zeigt keine Zuspitzung auf ihrendeine Pointe der Handlung hin, die es forciert. Wir würden jedoch grundsätzlich am zweiten Berichtteil „vorbeilesen", wenn wir eine solche Pointe erwarten. Das, was man eine Pointe nennen könnte, ist ja längst eingetreten, und der zweite Teil vergegenwärtigt auf eindringliche Weise die Auswirkungen und Folgen einer solchen Pointe. Fabers Bericht von seinen Erlebnissen nach Sabeths Tod demonstriert die völlige Unberatenheit eines Menschen, dessen Verzweiflung sich kaum einen Ausdruck zu verschaffen weiß. Die Technik der epischen Darstellung geht wiederum darauf aus, das W i e der Ereignisse zu veranschaulichen und verhilft auf diesem Wege zu eindrucksvollen Ansichten eines menschlichen Daseins, das allein von der Art und Weise seiner Erscheinungen her deutlich wird. Es wird nichts getan, dieses menschliche Dasein, sein Leben und Leiden nach der Katastrophe zu reflektieren oder von der Basis eines bestimmten Weltbegreifens aus zu motivieren und zu analysieren. Der leidende Held wird in den verschiedensten Erlebniskonstellationen als Erscheinung gezeigt, deren Fragwürdigkeit und Ge-

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brochenheit spontan beeindruckt und einleuchtet, ohne daß Erklärungen oder Hinweise diese Gebrochenheit ausdrücklich betonten. Da es sich im vorliegenden Roman um eine Ich-Erzählung handelt, könnten Hinweise und Erklärungen auf dem Weg über Bekenntnisse, Selbstdeutungen und Reflexionen erfolgen. Nichts dergleichen aber geschieht. Die Reflexionsansätze, die das Tagebuch verzeichnet, sowie die Gespräche mit Hanna, betreffen Fabers Leben, seine Haltung, sein Weltbegreifen ganz allgemein (was in einem anderen Zusammenhang von höchster Wichtigkeit sein wird), charakterisieren jedoch kaum jene Situation, in der Faber sich unmittelbar nach dem Tode Sabeths befindet. Der Anruf Fabers in New York, das „Stoßverkehr"-Spielen mit Herbert auf der Plantage, die vier Tage „Schauen" in Habana, die Rekapitulation des Geschehens in Großaufnahme auf der Leinwand im Sitzungssaal der Henckel-Bosch AG usf., jede dieser Erlebniskonstellationen spricht für sich und als solche und versteht sich als umgreifende Chiffre für die innere Lage. Das dargestellte Geschehen selbst ist der Ausdruck für den radikalen Niedergang und die innere Gebrochenheit des Helden. Faber verzichtet nicht etwa aus Scheu oder Härte auf die Einflechtung von Geständnissen oder Selbstdeutungen irgendwelcher Art; er ist vielmehr gezwungen, darauf zu verzichten, da er nicht anders kann und weiß. Um so verblüffender wirkt dann der Bericht vom Habana-Erlebnis, dessen Interpretation wir hier nicht vorgreifen möditen, da sie uns im Zusammenhang mit der Frage nach der Erscheinung des Tragischen im Faber-Roman beschäftigen wird.

ZEIT Wenden wir uns nun den zeitlichen Verhältnissen des Geschehens zu und versuchen wir, ihre hier vorliegende Eigenart zu charakterisieren. Hierzu vorab wiederum einige Daten. Der Roman nennt sich Bericht und ist in zwei Stationen aufgeteilt. Der erste Teil des Berichtes wird von Faber im Ansdiluß an die Ereignisse auf dem griechischen Schauplatz in der Zeit vom 21. 6. bis 8. 7. 1957 in Caracas niedergeschrieben und tragt die Überschrift Erste Station. Dieser Berichtteil rekapituliert die Geschehnisse, die sich in der Zeit vom 1. 4. bis zum 7. 6. 1957 zugetragen haben; er unterrichtet gleichzeitig über die Ereignisse der Züridier Jahre (1933 bis 1936) und gelegentlich auch über Hannas (und Sabeths) Leben nach 1936. Der zweite Teil des Berichtes wird von Faber ab 19. 7. 1957 im Athener Krankenhaus abgefaßt und trägt die Uberschrift Zweite Station. Dieser Teil berichtet von den Ereignissen, die sich vom 8. 6. bis zum 19. 7. 1957 zugetragen haben, also bis zu dem Zeitpunkt, da Faber sich zur Operation in ein Athener Krankenhaus begibt. Parallel zum Bericht führt Faber ab 19. 7., zu Anfang noch während der Mittagsruhe, später aber (nach Entzug der Schreibmaschine) auch tagsüber und nachts, eine Art Tagebudi, das den Inhalt der Gespräche mit Hanna, eigene Bemerkungen und Gedanken, sowie weitere Ergänzungen zum Lebensweg Hannas nach 1936 enthält. Demnach lassen sich von vorne herein zwei Großphasen des erzählten Geschehens herauslösen: 1. die Ereignisse vom 1. 4. bis 7. 6. 1957 (Erste Station) und 2. die Ereignisse vom 8. 6. bis 19. 7. (Zweite Station). Obwohl die Tagebuchnotizen dem zweiten Teil des Berichtes untermischt sind, ergeben sie, zusammengenommen, die dritte Großphase, die das Geschehen im Athener Krankenhaus bis zum Zeitpunkt der Operation umfaßt. Wir können hier schon sagen, daß die Großphasen mit der äußeren Bucheinteilung in Erste — und Zweite Station zusammenfallen, wie wir ja auch anhand der Untersuchung des Handlungsgefüges feststellen konnten, daß die äußere Bucheinteilung mit der inneren Struktur des erzählten Geschehens zusammenfällt. Jedoch haben wir oben von der in sidi geschlossenen Gesamtperzeption der Zweiten Station gesprochen, d. h. wir haben das Nebeneinander von Bericht und Tagebuchnotiz als Zusammen-

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gehöriges betrachtet, dessen inhaltliche Notwendigkeit wir mehrfach zu begründen versuchten. Für die Untersuchung der Zeitstruktur des Romans ist es jedoch erforderlich, der Aufspaltung der Zweiten Station in Bericht und Tagebuchnotiz durch die Herausarbeitung einer dritten Großphase (Tagebuch ab 19. 7.) gerecht zu werden, da der Bericht (Ereignisse vom 8. 6. bis 19. 7.) und Tagebuch — berücksichtigen wir das in der Zeit ablaufende Geschehen, von dem sie erzählen — im zeitlichen Nacheinander stehen. Zudem ist die dritte Großphase in der äußeren Bucheinteilung insofern sichtbar, als die Tagebuchnotizen (Handschrift) in Kursive gedruckt sind. Daß die Niederschriften von Bericht und Notizen bis zum Abschluß des Berichtes (Entzug der Hermes-Baby) zeitlich fast zusammenfallen (morgens Bericht und nachmittags Tagebuch), deutet allerdings auf einen Zusammenhang, den wir schon im Erzählerkapitel aufweisen konnten. Wir haben gesehen, daß die Niederschrift jeweils an bestimmten „Stationen" erfolgt und immer dann, wenn über das Berichtete hinaus ein weiterer Teil des Geschehens, die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, bereits abgelaufen ist. So verzeichnet der erste Berichtteil (in Caracas niedergeschrieben) die Ereignisse bis zu Sabeths Tod, nicht aber Fabers Rückkehr nach New York, seinen erneuten Abstecher zur Plantage und die Montage in Caracas, an der er nicht teilnehmen kann. Der zweite Berichtteil (niedergeschrieben im Athener Krankenhaus) enthält dann die Geschehnisse nach Sabeths Tod (New York, die Plantage, Caracas, Cuba, Europa, Athen), wird aber gleichzeitig durchbrochen oder überlagert von Tagebuchnotizen zur gegenwärtigen Situation. Gleich zu Beginn des zweiten Berichtteils steht eine Tagebuchnotiz: Sie haben meine Hermes-Baby genommen und in den weißen Schrank geschlossen, weil Mittag, weil Ruhestunde. Ich solle von Hand schreiben! Ich kann Handschrift nicht leiden, ich sitze mit nacktem Oberkörper auf dem Bett, und mein kleiner Ventilator (Geschenk von Hanna) saust von Morgen bis Abend; sonst Totenstille. (S. 229) Im Ansdiluß daran erfolgt dann das erste Stück des zweiten Berichtteils: 8. 6. New York. Die übliche Saturday-party draußen bei Williams, ich wollte nicht gehen, aber ich mußte, das heißt: eigentlich konnte mich niemand zwingen, aber ich ging (S. 230). So wechseln Tagebuchnotiz und Bericht in der zweiten Hälfte des Romans regelmäßig bis zum endgültigen Entzug der Schreibmaschine. Zu diesem Zeitpunkt aber hat der Bericht einen gewissen Abschluß erreicht: Fabers letzter Tag vor dem Krankenhausaufenthalt. Betrachten wir nun den ersten und zweiten Berichtteil, sowie die Tagebuchnotizen als drei aufeinander folgende Großphasen, so dürfen wir sagen, daß sie einander überlagern und teilweise durchsetzen: die zweite Phase überlagert die erste und die dritte durchsetzt die zweite bis zu dem Moment, da Faber nur noch „mit der Zeit"

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schreibt. Wir wiesen bereits darauf hin: im Strom der Zeit und der Geschehnisse, die ihn ständig weiter entwickeln, schreibt der Berichterstatter gegen die Zeit und zurück, bis er in dem Augenblick, da die Zeit „erreicht" ist, mit der Zeit schreibt, 18.00 Uhr Sie haben meine Hermes-Baby genommen. 19.30 Uhr Hanna ist nochmals dagewesen. 24.00 Uhr Ich habe noch keine Minute geschlafen ... 02.40 Uhr Brief an Hanna geschrieben. 04.00 Uhr Verfügung für Todesfall:... 04.15 Uhr Auch Hanna hat keine Wohnung mehr,... 06.00 Uhr Brief an Hanna nochmals geschrieben. 06.45 Uhr Ich weiß es nicht, warum Joachim sich erhängt hat,... 08.05 Uhr Sie kommen. (S. 281 ff.) Das Problem der Zeit spielt eine bedeutende Rolle im F