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German Pages 322 Year 2014
Nadine Heymann Visual Kei
Queer Studies | Band 8
2014-07-24 10-51-36 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372608378470|(S.
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4) TIT2883.p 372608378478
Nadine Heymann forscht zu Subkulturen, Social Media, Geschlecht, Körper und Selbsttechnologien. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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Nadine Heymann
Visual Kei Körper und Geschlecht in einer translokalen Subkultur
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Gefördert mit Mitteln der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sara Scharff Korrektorat & Satz: Nadine Heymann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2883-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2883-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
1
Psychedelic Violence – Crime of Visual Shock | 7 Motivation und Begehren | 14 Zugänge und Aufbau | 17
2
Das Scheitern der Kategorien: Doing Research | 23 Europäische Ethnologie und Queer Theory | 26 Feldforschung als queere Forschungspraxis? | 31 Doing Research | 36 Situierte Wissen und Positionalität | 37 Multidimensionale Selbst | 42 Sprache und Repräsentation | 47 Das Scheitern der Kategorien | 50 Ethnografische Zugänge | 61 Dabeisein und Teilhaben | 70 Befragen und Nachfragen | 75 Etappen der Analyse und Interpretation | 79 Zusammenschau der Ergebnisse | 83
3
Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 87 Mediennutzung im Visual Kei: Bestandsaufnahme | 89 Working with Subculture | 94 Post-Subcultural-Studies | 97 Reworking Subculture | 99 Subjekte als Effekte der Praxis | 103 Die performative Hervorbringung des Subjekts | 106 Die Somatisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse | 114 Butler und Bourdieu: Ein komplementäres Verhältnis | 123 Visual Kei als subkulturelles Feld | 125 „Ich möcht’ mich auf euch verlassen können“ | 129 Beziehungsnetzwerke | 135 Visual Kei als translokale Subkultur | 138 Warum gerade Japan? Eine kulturelle Rückkopplung | 143 Zusammenschau der Ergebnisse | 148
4
Sedimentierungsprozesse: Subkulturelle Praxen | 151 Räume subkultureller Praxis: Mediale Repräsentationen | 154 Stilisierung und Vernetzung im Internet | 157 Die Bilder der Subkultur | 164 Fanart und fanfiction | 170 Soundtrack des Alltags | 186 Treffen und Veranstaltungen | 190 Modi subkultureller Praxis: Stilisierung | 196 „Die wechseln die Namen wie andere Leute Unterwäsche!“ | 196 Kleidung und Accessoires | 203 Cosplay | 209 In the flesh: Tattoos und Piercings | 212 Kleidung als Geschlechtsmarker | 217 Zusammenschau der Ergebnisse | 221
5
„Love is not about gender!“: Verortungen | 225 Formen subkultureller Praxis: Körper und Geschlecht | 227 „Man bräuchte die Bodymaße eines Japaners!“ | 228 Glokalisierte Körper | 236 Geschlechterpraxen und Geschlechterbilder | 239 Destabilisierung und Handlungsmacht | 254 Die Erfindungskunst des Habitus | 255 Konstitutive Instabilitäten: Performativität | 259 Abseits der Norm | 262 Zusammenschau der Ergebnisse | 270
6
Das Scheitern der Norm: Einsichten und Ausblicke | 275 Rückblick: Subkultur, Subjekt, Sediment und Scheitern | 276 Ausblick: Körper mit Zukunft | 285
Literatur | 289 Anhang A Schreiben: Erinnern und Imaginieren | 309 Anhang B Glossar | 315
1. Psychedelic Violence – Crime of Visual Shock
„Eine gute Dosis Dark Gothic, vermischt mit einem Schuss Chic, und so lange gemixt, bis es androgyn ist.“1 So wird die Visual-Kei-Band D’espairsRay im Fernsehbeitrag eines Musikmagazins beschrieben. Visual Kei ist eine Subkultur, die in Japan entstanden ist und sich mit der Jahrtausendwende auch in Deutschland etabliert hat. „Visual“ aus dem Englischen steht für optisch, sichtbar oder visuell, weil die äußere Erscheinung und das Styling von großer Bedeutung sind. „Kei“ ist das japanische Kanji-Zeichen für Herkunft oder System. So ließe sich Visual Kei erst einmal als so etwas wie „optisches oder visuelles System“ übersetzen. Doch wie sieht Visual Kei aus, was sind die Inhalte, Themen, Motive, Ideale und Motivationen der Protagonist_innen dieser Subkultur? Einer der Protagonist_innen der Forschung beschreibt Visual Kei so: Naja man kann eigentlich nicht sagen, dass Visual Kei ja ein Lifestyle ist, ich sehe es aber irgendwie als so was, weil man Freigeister ist, deswegen dieses ganze Schubladendenken, das finde ich auch nicht so toll. Aber was Visual Kei betrifft, das ist eine Schublade, die keine Schublade ist, wenn man so will.2
Obwohl in Japan schon seit 20 Jahren etabliert, war Visual Kei in Europa lange Zeit unbekannt. Mit dem seit einigen Jahren anhaltenden „globalen Japanpop-Boom“3 ist auch Visual Kei nach Europa gekommen. Im Verlauf dieses Kulturtransfers bereicherten Animes (japanische Trickfilme) und Mangas (japanische Comics) ebenso wie Gameboy und Playstation die Lingua franca der globalen Jugendkultur.4
1 | Tracks 2005. 2 | Interview mit Sato vom 25. Mai 2010. 3 | Manzenreiter 2007, S. 3. 4 | Hashimoto 2007; Leheny 2006; Manzenreiter 2007.
8 | Visual Kei
Die Abenteuer der Held_innen von Pokemon, Sailor Moon5 und Dragon Ball beschäftig(t)en die Vorstellungswelten von Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt und eben auch von zukünftigen Visus6 in Deutschland. Die weltweite Rezeption japanischer Popkultur wurde durch das spezielle Interesse subkultureller Gruppen eingeleitet.7 Die Digitalisierung der Unterhaltungsmedien und der Kommunikationstechnologien, in Kombination mit schnellen und günstigen Breitbandanschlüssen um die Jahrtausendwende, boten den eher fragmentierten und isolierten Fangemeinden neue Möglichkeiten zum Austausch. Das Internet wurde zur zentralen Plattform für die interne Kommunikation und Zirkulation von Mangas, Animes und Fernsehserien. Für Musik aus Japan und für Visual Kei haben vor allem die Möglichkeiten von Web 2.0 und Social-Media-Plattformen zur Vernetzung und Selbstdarstellung den Weg für eine Rezeption in Deutschland geebnet. Gemeinsam ist ihnen die Signatur der Globalisierung und Digitalisierung, und so ist es vielleicht das erste Mal, dass sich eine Subkultur weltweit virtuell verbreitet.8 So speziell Visual Kei auch ist, es lässt sich hier ablesen, wie sich Subkulturen in den letzten Jahrzehnten verändert haben, und die Geschichte der Verbreitung steht exemplarisch für das Zeitalter der Digitalisierung. Die grenzüberschreitende Verbreitung japanischer Kulturgüter bezeichnet Wolfram Manzenreiter gar als „Mangatisierung der Welt“9 . Damit meint er – analog zu Konzepten wie „Disneyfizierung“10 und „McDonaldisierung“11 – nicht allein die grenzüberschreitende Popularisierung japanischer Kulturindustriegüter, sondern auch eine Verschiebung im Kräftefeld der internationalen Kulturindustrien, die um die Aufmerksamkeit der Konsument_innen in aller Welt ringen. Mangatisierung stehe ferner nicht nur für die Verbreitung der Formen, wie sie sich im Wechselspiel zwischen Konsument_in und Produzent_in in Japan entwickelt haben, sondern auch für die Dif-
5 | Die Ästhetik der Anime-Serie mit den großen funkelnden Augen erinnert an den Trickfilm „Heidi“, der ebenfalls in Japan produziert wurde. Auf inhaltlicher Ebene war Sailor Moon jedoch neu: Die Kriegerin Bunny versucht mit Hilfe einer Reihe von Sailor-Kriegerinnen die Erde zu retten. Die Protagonistinnen sind durch tiefe Freundschaft verbunden, aber auch wie im Fall von Sailor Neptun und Sailor Uranus durch Liebe und Begehren. Sailor Moon lief ab 1995 im deutschen Fernsehen. 6 | „Visu“ ist eine von mehreren Selbstbezeichnungen der Protagonist_innen im Visual Kei. 7 | Vgl. Manzenreiter 2007, S. 8. 8 | Vgl. Heymann 2012, S. 410f. 9 | Manzenreiter 2007. 10 | Bryman 2004. 11 | Ritzer 2011.
1. Psychedelic Violence – Crime of Visual Shock | 9
fusion von Inhalten, die Denken, Wahrnehmung und Wertschätzung in einer mangatisierten Welt beeinflussen. Doch welchen Effekt hat diese Diffusion, führt diese „Mangatisierung“ tatsächlich zu Homogenisierung von Denken und Wahrnehmung? Mangas sind für die hier untersuchte Subkultur nicht irrelevant, stehen aber nicht im Zentrum, denn es ist auch hier die Musik, die ein wesentlicher Generator für viele Subkulturen ist. Im Kern des Visual Kei steht der J-Rock, der als Sammelbegriff für populäre japanische Musik steht und die verschiedensten Stile wie Pop, Rock und Metal umfasst. J-Rock entstand schon in den 1980er Jahren in Japan und wurde dort mit der Etablierung einiger Bands wie zum Beispiel X Japan, D’erlanger, Buck-Tick, oder Color erfolgreich. Der Begriff Visual Kei nimmt Bezug auf das Motto der Band X Japan: „Psychedelic violence – crime of visual shock“.12 Und schockiert haben die Bands der ersten Stunde zu dieser Zeit tatsächlich: Durch visuelle Zeichen wie hoch auftoupierte gefärbte Haare, viel Make-up, Musiker in Viktorianischen Kleidern, bunte Kontaktlinsen und schwarz lackierte Fingernägel. J-Rock-Bands wurden sowohl auf musikalischer als auch auf ästhetischer Ebene durch westliche Glam-Rock-Künstler_innen, wie Twisted Sister oder David Bowie, aber auch von Death Rock, New Wave oder Post-Punk inspiriert.13 Dies führte dazu, dass teilweise auf einem Album recht unterschiedliche musikalische Stile zu finden waren. Die Songs hörten sich zwar durch die japanische Sprache ungewohnt an, stellten jedoch musikalisch keine Neuerung dar.14 Neu und spektakulär war jedoch die visuelle Erscheinung der Musiker_innen, sie avancierte schnell zum stilprägenden Faktor: Die meist männlichen Musiker_innen15 sehen sehr „feminin“16 aus, tragen „extreme“ Frisuren, Make-up und Kostüme. Die
12 | Vgl. Heymann 2012, S. 412. 13 | Lesenswert dazu ist die Arbeit von Reynolds (2012), der zeigt wie der „Retro-Modus“ der Postmoderne auf japanische Popmusik wirkt. 14 | Inhaltlich geht es meist um Trauer, Wut, Schmerz und Entfremdung, wobei die meisten Texte allerdings recht vage und kryptisch sind. 15 | Es ist davon auszugehen, dass sich die meisten Musiker als männlich und heterosexuell verorten, obwohl nur wenig Privates von ihnen nach außen dringt und es stets bei vagen Vermutungen bleibt. Es gibt jedoch zahlreiche Anekdoten, wie beispielsweise die, dass sich der Musiker Mana mit seiner zukünftigen Frau darüber stritt, wer denn zur Hochzeit das Brautkleid tragen dürfe. 16 | „Feminin“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es hier um Eigenschaften und Äußerlichkeiten geht, die kulturell und gesellschaftlich Frauen zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen sind historisch veränderbar und hängen von geopolitischen und kulturellen Grenzen ab. (Vgl. Butler 2004c, S. 10).
10 | Visual Kei
Haare sind lang, gefärbt, toupiert, die Gesichter dramatisch geschminkt, mit Verzierungen bestückt, durch Tücher und Binden verdeckt, die Kleidung schwarz oder weiß, Leder und Spitze, Kleid oder Rock, Nieten und Glitzer, die Körper blass, schmal, unbehaart und mit wenig Muskeln. Im Visual Kei trifft die „Rotzigkeit“ von Punk auf das Glamouröse von New Romantic und lehnt sich an die Dramatik des japanischen Kabuki-Theaters17 an. Mit dem Kabuki teilt Visual Kei die Vorliebe für das Spiel mit den Geschlechtern und für aufreizende Posen. So gibt es bei Visual-Kei-Bands eine Praxis, die als „fanservice“ bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass sich die Musiker_innen – für ihre Fans – auf der Bühne küssen und sexuelle Handlungen andeuten. Auf dem Videoportal Youtube finden sich unzählige Videos zu diesem Stichwort, in denen Zärtlichkeiten zwischen den Musiker_innen ausgetauscht werden, mit der Zunge das Mikrofon umkreist wird, oder sie sich im Schritt streicheln. Einige der Musiker_innen, wie z.B. Mana18 , Gackt oder hide, sind mit dieser ästhetischen Inszenierung zu Superstars und Models geworden. Daran schließt auch die ästhetische Selbstinszenierung der Protagonist_innen aus Deutschland an: Beim Cosplay, abgeleitet von „costume“ und „play“, einem Element des Visual Kei, versucht man die Vorbilder der jeweiligen J-Rock-Band, seltener auch Figuren aus Mangas oder Animes, so getreu wie möglich nachzuahmen. Aber auch ohne ein Cosplay, im Alltag, orientieren sich die jugendlichen Protagonist_innen an ihren Vorbildern aus Japan. Sie tragen ebenfalls ungewöhnliche Frisuren, schminken sich, haben oft Piercings und Tattoos, ziehen ausgefallene Kleidung an, die aus Japan kommt oder selbst gemacht ist, und dies tun bemerkenswerter Weise alle Protagonist_innen des Visual Kei, egal ob sie sich als Junge, Mädchen oder ganz anders verorten. Die meisten verstehen sich jedoch als Mädchen, Jungen sind eher unterrepräsentiert, und das ist ziemlich bemerkenswert in einer Welt, in der die meisten Subkulturen zugleich auch
17 | Wichtige Merkmale des beliebten Kabuki-Theaters sind die charakteristischen Posen der Darsteller, die üppige, farbige Bühnenausstattung und die ebenfalls farbenfrohen Kostüme. Die ausschließlich männlichen Darsteller, die auch die Frauenrollen spielen, sind meist stark geschminkt. (Vgl. Ernst 2008). 18 | Mana hat sogar zur Etablierung der Gothic Lolitas beigetragen: In Minikleidern, die an das viktorianische England erinnern, puppenhaft, mit dunkel geschminkten Augen und ausgefeilten Accessoires präsentieren sich die Gothic Lolitas als düstere Frauen. Die passende Ausstattung dafür bietet Mana gleich selbst mit seinem eigenen – für Jugendliche allerdings recht teurem – Modelabel „Moi-même-Moitié“.
1. Psychedelic Violence – Crime of Visual Shock | 11
Jungenkulturen sind oder als solche wahrgenommen werden19 , wie es im folgenden Zitat aus dem Make Out Magazine sehr deutlich wird: Kürzlich war ich ganz aufgeregt, als ich zwei Teenager mit Skateboards sah. Einen Jungen UND ein Mädchen!!! Ich ließ mir viel Zeit beim Anschließen meines Fahrrads vor dem Supermarkt, um das Mädchen aus dem Augenwinkel zu beobachten. Sie telefonierte. Sie telefonierte noch immer, als ich zehn Minuten später wieder zurück kam. Dann aber hörte sie auf und fing an, seeehr zaghaft mit ihrem Skateboard zu üben. Daneben machte der Junge die dollsten Tricks, sprang über Treppen und war cool...20
Wer gilt eigentlich im Visual Kei als „cool“? Dies ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, denn die ästhetischen Inszenierungspraxen im Visual Kei führen zu einem bemerkenswertem Effekt: Das Geschlecht der Protagonist_innen ist für Außenstehende nicht mehr zu erkennen bzw. zu unterscheiden und Konzeptionen von Körper und Geschlecht erscheinen fluide. Die Akteur_innen spielen mit verschiedenen Selbstbildern und erfinden sich immer wieder neu. Die vertraute Geschlechtsbinarität wird überschritten, eine Zuordnung zu den Polen „männlich“ oder „weiblich“ wird erschwert. Körper erscheinen als unendlich form- und veränderbar und die Blicke der Betrachtenden werden immer wieder irritiert. Es war genau diese Irritation, die mein Interesse weckte, mich näher mit der Subkultur Visual Kei auseinanderzusetzen, ich wollte zunächst einfach wissen: Was machen die da eigentlich, warum, und mit welcher Wirkung? Zwar gibt es inzwischen einige ethnografisch angelegte Studien, die sich mit androgyn konnotierten Subkulturen, wie z.B. Gothic21 , befassen, aber es existiert noch keine wissenschaftliche Untersuchung, die sich aus einer kulturanthropologischen Perspektive mit Visual Kei auseinandersetzt. Der Soziologe Marco Höhn22 und die Medienpädagogin Friedericke von Gross23 vermitteln einen ersten Eindruck von Visual Kei und fokussieren dabei besonders die Translokalität der Subkultur und die Mediennutzung der jungen Protagonist_innen. Ihre Daten haben sie vor allem aus In-
19 | Eine Ausnahme sind hier die Riot Grrrls, die Anfang der 1990er Jahre den Punkethos wieder aufnahmen und Kritik an der patriarchalen Gesellschaft und an der patriarchalen Struktur von Subkulturen selbst übten. Von Beginn an stürzten sich jedoch die Medien auf die Subkultur, um deren Leitbild in der Folge als zwar selbstbewusstes, aber niedliches „Girlie“ zu verharmlosen. 20 | Juergensohn und Profus 2012, S. 4. 21 | Brill 2008; Hodkinson 2002. 22 | Höhn 2007, 2008. 23 | Gross 2010a,b.
12 | Visual Kei
terviews gewonnen. Dem möchte ich eine erste grundlegende ethnografische Arbeit über Visual Kei zur Seite stellen: Ich habe über einen Zeitraum von zwei Jahren am Leben der Protagonist_innen in Deutschland teilgenommen, ich besuchte Konzerte, Treffen, Veranstaltungen und verbrachte viel Zeit mit ihnen im Internet. Da folglich ein großer Teil der Daten den Repräsentationen, Stilisierungen und Interaktionen in einem digitalen Online-Alltag entsprungen ist, stellte sich mir die Frage, wie vor diesem Hintergrund heute ethnografisch geforscht wird? Welche Bedeutung hat es, dass Visual Kei in Japan entstanden ist und sich den Weg durch Online-Welten gebahnt hat? In Japan stieg Anfang bis Mitte der 1990er Jahre die Popularität von Visual Kei an und die Albumverkäufe einiger Visual-Kei-Bands begannen Rekordsummen einzuspielen. 1992 versuchte X Japan auch Einfluss auf den europäischen und amerikanischen Musikmarkt zu nehmen, aber es dauerte noch weitere acht Jahre, bis Visual Kei auch außerhalb Japans Popularität und Aufmerksamkeit erlangte.24 Mit dem kommerziellen Erfolg der Bands geht meist auch ein Wandel in der äußeren Erscheinung einher, um so ein breiteres Publikum zu erreichen. Die Musiker_innen von X Japan zum Beispiel waren bekannt für ihre sehr hohen Frisuren und ausgefallenen Kleider, haben sich jedoch mit wachsender Aufmerksamkeit für ein weniger schrilles Auftreten entschieden. X Japan war die erste Band in Japan, die – obwohl auf einem Independent-Label – Erfolge im Mainstream-Bereich erzielen konnte. Sie ist anerkannt für die Pionierarbeit, die sie für Visual Kei geleistet hat. Anfangs nur Anime-Fans aus Soundtracks bekannt, verbreiteten sich mit der Jahrtausendwende die ersten J-Rock-Stücke als MP3-Dateien in Internet-Foren. Dies war der einzige Weg für Interessierte aus Europa oder Nordamerika kostengünstig an Musik aus Japan zu kommen, da die Bands keine Lizenzverträge mit europäischen Plattenfirmen hatten. Als dann zur Musik die Bilder kamen, verbreitete sich Visual Kei über Peer-to-Peer-Tauschbörsen und Internet-Videos. Subkulturspezifische MP3s, Animes, Mangas und fanart wurden für eine größere Masse erhältlich.25 Bemerkenswerter Weise verbreitete sich so die Begeisterung für japanische Popkultur, nahezu ohne von den klassischen Printmedien begleitet zu werden. So war die Überraschung groß, als im Mai 2005 dreitausendfünfhundert Menschen zum kaum
24 | Als Visual Kei mit der Jahrtausendwende Deutschland erreichte, hatten sich die Bands der ersten Stunde bereits wieder aufgelöst. 25 | Für Animes funktioniert es bis heute so, dass User aus Japan die neuesten Folgen einer Serie ins Netz stellen und diese dann von Usern aus Europa bzw. Nordamerika übersetzt, untertitelt und sofort wieder ins Netz gestellt werden und damit dem gesamten Netzwerk zur Verfügung stehen.
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beworbenen Konzert von Dir en Grey in die Berliner Columbiahalle kamen – das Konzert war binnen 72 Stunden ausverkauft – ein Autor der Berliner Zeitung zeigte sich verblüfft: Am Sonnabend wurde in der Tempelhofer Columbiahalle das erstaunlichste, begeisterndste und bizarrste Rock’n’Roll-Konzert der Saison absolviert; ein wildes Fest, ein rasender Rave; ein Ereignis, von dem die, die dabei sein durften, noch ihren Enkelkindern erzählen werden. [. . .] Die Musik der Band erweist sich dann als grauenerregend; ein völlig unstrukturiertes Gemisch aus Prog-Rock und Metal, aus falsettierend gesungenem melodischen Pop und einer Art Grindcore-Hochgeschwindigkeitsgrunzen. Jede Metalband aus Mittelbaden bekommt das musikalisch schlüssiger hin.26
Unbemerkt von den Massenmedien oder der deutschen Musikindustrie27 hat sich die Subkultur Visual Kei ihren digitalen Weg von Japan nach Europa und Nordamerika gebahnt und in der Columbiahalle findet plötzlich „das erstaunlichste, begeisterndste und bizarrste“ Konzert des Jahres statt. Was fand der Autor dieses Zeitungsartikels so bizarr, was hat ihn so erstaunt? Woher kommt sein Unverständnis darüber, dass die Protagonist_innen diese Musik toll finden? Auch ich habe 2009 meine Feldforschung mit einem Konzertbesuch begonnen. Dies ist ein Ausschnitt aus dem zweiten – mir retrospektiv noch recht unbeholfen erscheinenden und viele Zuschreibungen enthaltenden – Eintrag aus meinem Forschungstagebuch: 13. Mai 2009 – Girugamesh-Konzert Pünktlich um 19 Uhr bin ich vor dem Columbia Fritz. Als ich ankomme, stelle ich mich erst einmal in eine Ecke, um in Ruhe die Lage zu sondieren: „Was mache ich eigentlich hier?“, geht mir durch den Kopf. Und vor allem: „Wie kann ich hier jemals Zugang finden?“ Ich besinne mich darauf diese Fragen zunächst beiseite zu lassen und meine erste Begegnung mit dem Feld professionell anzugehen, ich habe ja auch schon einiges beobachtet: Schon auf dem U-Bahnhof sind mir die ersten Visus aufgefallen. Vor der Halle stehen nun ca. 150, teils ziemlich auffallend gestylte, Jugendliche. Einige sind in Begleitung ihrer Eltern hier. Schwarz, hellblond, pink und grün sind die dominierenden Haarfarben. Die Klamotten sind im typischen
26 | Balzer 2005. 27 | Das Musiklabel „Universal“ dockte dann im Sommer 2005 mit Tokio Hotel an, einer Band in der sich vor allem der Sänger Bill mit seinen schwarz umrandeten Augen und toupierten Haaren offensichtlich am J-Rock orientierte. Von Protagonist_innen des Visual Kei wurde die Band jedoch abgelehnt.
14 | Visual Kei
Visu-Style: Jacketts, kurze Röcke, Ringel, Schwarz, Weiß, so ein bisschen Emo-extrem. [. . .]28
Blicke ich zurück, so wird deutlich, dass Forschung ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem Fragen, Perspektiven und Erkenntnisinteressen präzisiert werden und sich gar gänzlich verschieben können. Als ich viele Monate später bei Pierre Bourdieu las: „Der homo academicus liebt das Fertige. Wie die Salonmaler bringt er in seinen Arbeiten die Pinselspuren zum Verschwinden, die Touchen und Retouschen“29 , habe ich mich entschieden: Ich möchte keine Salonmalerin sein! Daher wird es in dieser Arbeit nicht nur um das Gelingen von Forschung, sondern auch um die Momente des Scheiterns gehen. Entwicklungen und Irrwege werden nicht unterschlagen, sondern sie dienen der Transparenz und Nachvollziehbarkeit – und meist sind gerade in diesen Irritationen und Brüchen wertvolle transgressive Momente und Verschiebungen zu erkennen. Die Darstellung von Forschung als Prozess – als doing research – bringt mit sich, dass diese Arbeit ein Weg durch Räume und durchaus auch Zeiten ist. Ein erster Zeitsprung führt mich zurück an die Ausgangspunkte der Forschung: Was waren meine Motivationen für diese Arbeit? Welche Fragen hat Visual Kei für mich aufgeworfen?
M OTIVATION
UND
B EGEHREN
Mein genuines Interesse an Visual Kei speiste sich aus zwei Quellen: Zum einen wollte ich mit meiner Arbeit in Debatten der Queer Theory30 und linker feministischer Politik eingreifen. Diese queer-feministische Perspektive bedeutete für mich jedoch nicht, dass ich in meiner Forschungsarbeit zwangsläufig Gruppen oder Personen in den Blick nehme, die sich selbst explizit als „queer“ oder „links“ begreifen. Mir ging es vielmehr allgemein darum, den Blick auf werdende, gewordene, abwesende und verworfene Existenzen zu richten. Ausgangspunkt meines Interesses war so zunächst mein Begehren nach lebbaren Subjektpositionen. Eine queer-feministische Perspektive bezieht sich folglich nicht so sehr auf das Forschungsfeld, sondern kennzeichnet vor allem meine Forschungshaltung und mein Erkenntnisinteresse. Welche Subjektpositionen sind überhaupt lebbar in einer Gesellschaft, in der Geschlecht nicht etwas ist,
28 | Forschungstagebuch vom 13. Mai 2009. 29 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 253. 30 | Butler 1993, 2004a; Jagose 2001; Sullivan 2010.
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was wir „haben“ oder „sind“, sondern etwas, was wir tun. Begleitend und verwoben mit unserem täglichen Handeln, unserem Umgang mit uns selbst und mit anderen, stellen wir – meist unbewußt und selbstverständlich, daher um so wirksamer – eine Ordnung der Geschlechtszugehörigkeit her.31
Welchen Anforderungen stehen folglich Subjekte in dieser Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit gegenüber? Welche Ordnungen sind anerkannt und welche nicht? Zum anderen habe ich als Referentin für politische Bildungsarbeit Kontakt zu Jugendlichen und bin so auf Visual Kei aufmerksam geworden. In den von mir angeleiteten Workshops gab es immer wieder Personen, die Visual Kei als ihre favorisierte Jugendkultur benannt haben. Dies war der Impuls zunächst explorativ zu fragen: Was ist eigentlich Visual Kei? Ich selbst bin nicht Teil der Subkultur Visual Kei, habe jedoch durchaus einen persönlichen Bezug zu anderen Subkulturen. Auch wenn ich bereits Anfang dreißig bin, gehe ich auf Konzerte, auf Festivals, zu Vorträgen, zu Filmreihen und organisiere auch selbst Veranstaltungen. Meine eigene Arbeit mit jungen Menschen bestimmt sicher meinen Fokus auf subkulturelle Praxen und erleichtert ein besseres Verständnis derselben. Währenddessen werden die Begriffe „Jugendkultur“ und „Subkultur“ immer undeutlicher und einige zweifeln gar an jeglichem kulturellen Kapital von Jugendlichen.32 Ich gehe jedoch davon aus, dass subkulturelle Strömungen auch immer ein Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse sind: „we must relate subcultures to the total society: for they do not exist in a vacuum, they are a product of or a reaction to social forces existing in the world outside.“33 Folglich könnte es eine Funktion von Subkulturen sein, als Seismograph für gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu fungieren. So sehe ich die Protagonist_innen des Visual Kei als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse, zu deren Dialektik sie durch Anpassung, Widerstand und innovative Transformationsstrategien beitragen. Damit wende ich mich gegen ältere Auffassungen, Jugendliche als bloß passiv Betroffene von gesellschaftlichen Hierarchien oder Klassenkonstellationen zu beschreiben, als auch gegen solche Analysen, die Jugend und Jugendkulturen ohne Rückbindung an gesellschaftliche Kontexte untersuchen.34 Aus diesem Grund möchte ich eine Sicht auf Jugendliche als kreative soziale Akteur_innen betonen, die ihre Lebensumstände selbst gestalten und ausfüllen, soweit ihnen dies die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erlauben.
31 | Hagemann-White 1993, S. 68 f. 32 | Vgl. Schneider 2007. 33 | J. Young 1997 [zuerst 1971], S. 71. 34 | Vgl. Luig und Seebode 2003.
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Entgegen einer häufigen Annahme richtet sich der Fokus der von der Queer Theory inspirierten Analysen und Politiken nicht nur auf Sexualität, sondern beinhaltet auch eine Gesellschaftskritik: die Reflexion politischer Praxen und Strategien weg von bloßer Identitätspolitik, hin zu Bündnisarbeit und dem Blick auf die Interdependezen von u.a. Geschlecht, Alter, Religion, race35 und Klasse. Diese Aspekte sind mir auch für meine eigene politische und alltägliche Praxis wichtig. Es geht mir darum, Herrschaftsstrukturen und die Selbstverständlichkeit heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit fortwährend zu hinterfragen. Queer Theory begreift Heteronormativität als machtvollen gesellschaftlichen Faktor, der sowohl Geschlechterordnungen und Biographien als auch Vorstellungen von Körpern und Identitäten, Familie, Nationenbildung oder Klasse durchzieht. Vertreter_innen der Queer Theory kritisieren, dass innerhalb heteronormativer Ordnung Geschlechter und Sexualitäten entlang der Linie Abnormalität – Normalität angeordnet werden.36 Die Ergebnisse meiner Forschung betrachte ich als situiertes Wissen, in dem Sinne wie Donna Haraway den Begriff geprägt hat.37 Meine Motivation und mein politischer Anspruch richten so auch immer wieder den Blick auf mich als Person, die aktiv an der akademischen Wissensproduktion teilhat und dabei in verschiedensten hegemonialen38 Strukturen eingewoben ist. Die Grundannahme einer Situiertheit von Wissen möchte ich daher zum Anlass nehmen, in einen Dialog über meinen Forschungsund Erkenntnisprozess zu treten. Ich bin mir bewusst, dass ich mit dem Schreiben dieser Arbeit das Phänomen Visual Kei und die Protagonist_innen darin zwangsläufig mitkonstruiere. Subkulturen existieren nicht einfach „irgendwo da draußen“, sie warten nicht darauf, dass ihre Strukturen von fleißigen Forscher_innen wahrgenommen werden.39 Visual Kei hier zu benennen, bedeutet auch immer, diese Subkultur zu rahmen, zu formen und abzugrenzen. Wer oder was gibt mir als Forscherin das Recht eine Gruppe zu reprä-
35 | Der englische Ausdruck „race“ lässt sich in vielen Fällen nicht angemessen mit dem deutschen Begriff „Rasse“ übersetzen. Da es mir an den Stellen, an denen ich ihn verwenden möchte, nicht um „Rassenideologien“, sondern um soziale und gesellschaftliche Ungleichheiten (basierend auf Herkunft) geht, benutze ich in der Arbeit durchgängig den Begriff „race“. 36 | Vgl. Butler 1991; Jagose 2001; Klesse 2007. 37 | Haraway 2007. 38 | Hegemonial ist dabei, im Sinne von Laclau und Mouffe (2001), eine machtvolle Formierung der Gesellschaft, in der ein scheinbar kollektiver und universalistischer Wille etabliert wird. 39 | Vgl. Thornton 1997.
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sentieren? Das Unbehagen, das sich in dieser Frage ankündigt, stellte sich während meiner Forschung immer wieder ein. Grundlage findet dieses Unbehagen vor allem in den feministischen und postkolonialen Debatten der letzten zwanzig Jahre, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass Repräsentationen auf vielfältige Weise durch Macht und Herrschaftsstrukturen durchsetzt sind.40 Insbesondere Formen der Repräsentation von subalternen oder anderweitig marginalisierten und unterdrückten Gruppen konstruieren diese oft als „Andere“ und basieren somit auf Prozessen des „Othering“. Das daraus resultierende Verständnis von „Differenz“ ist folglich nicht einfach eine „naturgegebene“ Tatsache. Sowohl gesellschaftliche Bedeutung als auch Wahrnehmbarkeit in Repräsentationen gründen auf kulturellen Prozessen und Konventionen. Schon Foucault41 hatte angemerkt, dass die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften Machtregime sind, die dazu beitragen die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten, indem sie Subjekte entlang autoritärer Kategorien normalisieren.42 Diese Vorannahmen und queer-feministischen Bezüge schlagen sich jedoch nicht nur in Forschungspraxis und Reflexionen nieder, sondern materialisieren sich letztendlich auch in den Fragen, die ich an Visual Kei als Forschungsfeld gestellt habe.
Z UGÄNGE
UND
AUFBAU
In seinem Text Subculture: The Meaning of Style bemerkte Dick Hebdige: „Subcultures represent ‘noise’ (as opposed to sound)“43 . Subkulturen sind ihm zufolge Störungen im geregelten Ablauf von gesellschaftlichen Ereignissen und Phänomenen bis hin zu deren Repräsentationen in den Medien. Man solle nicht die signifizierende Macht der Subkultur unterschätzen, nicht nur als eine Metapher für die potentielle „Anarchie da draußen“, sondern vor allem als einen effektiven Mechanismus semantischer Unordnung, eine Art temporärer Blockade im System der Repräsentation. Ist die Subkultur Visual Kei ein Rauschen, das eine Störung hervorruft, und wenn ja, mit welchen Mitteln? Inwiefern ist die Subkultur Visual Kei, als Verletzung autorisierter Codes, welche die soziale Welt organisieren und erfahrbar machen, in der Lage diese zu provozieren, zu stören und zu irritieren? Können Subkulturen heute
40 | Butler 1991; Irigaray 1991; Spivak 2008. 41 | Foucault 1991. 42 | Demzufolge möchte ich mein Unbehagen und die Umwege im Forschungsprozess nicht verschweigen, ich möchte sie öffentlich und sichtbar machen. 43 | Hebdige 1987 [zuerst 1979], S. 90.
18 | Visual Kei
– im Zeitalter der Globalisierung und Postmoderne – überhaupt noch „Unordnung“ hervorbringen? Um dem nachzugehen, habe ich mich für einen praxistheoretischen Zugang44 entschieden, mir die Praxen der Protagonist_innen im Visual Kei zugänglich gemacht – insbesondere Körper- und Geschlechterpraxen. Ein praxistheoretischer Zugang verweist zunächst auf die Organisation sozialer Ordnung. Doch Andreas Reckwitz zufolge lässt sich die Gesamtheit sozialer und kultureller Praxen auch danach befragen, welche Formen des Subjekts sich in diesen Praxen bilden.45 Die Fokussierung auf Subjektformen ermöglicht es mir, meine Frage nach werdenden, gewordenen und verworfenen Subjektpositionen zu präzisieren. Da anerkannte Subjekte immer auch vergeschlechtlichte sind, ist es sinnvoll nach den Praxen zu fragen, in denen sich das geschlechtlich markierte Subjekt konstituiert. Praxen können verstanden werden als „a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“46 . Das heißt, sie sind Ausdruck sozial geregelter, typisierter und routinisierter Formen körperlichen Handelns. Dieses umfasst spezifische Formen des Interpretierens, impliziten Wissens, der Motivationen, Emotionen und Intentionen und es lässt sich fragen, in welcher Richtung Praxen „subjektivieren, d.h. welche Dispositionen eines zugehörigen Subjekts sie nahe legen und über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens und einer Psyche gelingt.“47 Praxen setzen sich aus Körperbewegungen und den Formen des Umgangs mit Dingen zusammen, in denen das praktische Wissen aktiviert wird: Die Körperlichkeit von Praxis umfasst sowohl den Aspekt der Inkorporiertheit als auch den der Performativität.48 Strukturiert sind die Praxen wiederum durch kulturelle Codes, die definieren, welche Verhaltensweisen möglich und welche nicht möglich sind. Die strukturierten und strukturierenden Codes schlagen sich nieder in Klassifikationssystemen und Systemen von Unterscheidungen, die eine „Ordnung der Dinge“49 vermitteln, sich auf Pra-
44 | Hauptreferent für diesen praxistheoretischen Zugang ist Pierre Bourdieus Theorie der Praxis. (Siehe Bourdieu 1976). 45 | Vgl. Reckwitz 2010. 46 | Schatzki 1996, S. 89. 47 | Reckwitz 2010, S. 135. 48 | „Eine Praktik ist ein Set bestimmter Kriterien genügender Bewegungen, die von der Umwelt als eine solche Praktik perzipiert werden kann und intelligibel ist.“ (Reckwitz 2004, S. 45). 49 | Foucault 1991.
1. Psychedelic Violence – Crime of Visual Shock | 19
xen auswirken, in das implizite Wissen der sie tragenden Subjekte eingehen und so Subjektivierung regulieren.50 In der vorliegenden Arbeit geht es vor allem um die Alltagspraxen im Visual Kei. Ich frage, nach welcher kulturellen Logik die Subjektivierung im Visual Kei „funktioniert“. Ganz konkret betrachte ich, welche Codes, welche (Körper)Routinen sich die einzelnen Protagonist_innen im Visual Kei einverleiben, um zu intelligiblen, vor sich selbst und vor anderen anerkannten Subjekten zu werden. Wenn mir Visual Kei als Ausbruch aus gängigen Konventionen, als Irritation der oben beschriebenen Hegemonie erscheint, so stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, auf welche Art und Weise, aus hegemonialen Geschlechter- und Körperordnungen ausgebrochen werden kann. Denn Geschlecht und der entsprechend konstruierte Körper stellen eines der grundlegenden Organisationsprinzipien sozialer Wirklichkeit dar: Als grundlegende Differenzordnung und soziale Ungleichheitskategorie strukturiert es soziale Interaktionen, sowie alltägliche Praxis, Handeln und Denken.51 Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie kulturelle Bilder von Körper und Geschlecht auf handlungspraktischer Ebene verhandelt werden. Welche Möglichkeiten bietet die Subkultur Visual Kei für Thematisierungen und Verhandlungen gesellschaftlicher Geschlechtszuschreibungen, wenn wir davon ausgehen, dass erwartet wird, „eine zur heterosexuellen Bindung geeignete Geschlechtsidentität herauszubilden“52 , wie Hagemann-White konstatiert? Welchen geschlechtsbezogenen gesellschaftlichen Erwartungen stehen die Protagonist_innen im Visual Kei folglich gegenüber und wie werden normative Anforderungen verhandelt? Dabei soll die Analyse jedoch nicht stehen bleiben: Ich frage nicht nur nach den Praxen und Möglichkeiten performativer Widerständigkeit, sondern auch nach den subkulturellen Sinnhorizonten der Akteur_innen und den geschlechtlichen Möglichkeiten und Selbstverhältnissen, die mit diesen verbunden sein können. Es geht mir folglich nicht nur um Widerständigkeit oder Irritation im Sinne einer „Beschreibung“ der Performativität von Geschlecht. Es geht auch darum die produktiven Momente im Visual Kei wahrzunehmen und zu fragen, welche Alternativen hervorgebracht werden können und welche Ordnungen darin wirken. Wenn ich mich mit einer Subkultur beschäftige, die vor 20 Jahren in Japan entstanden ist, dann stellt sich auch die Frage, welchen Blick die Protagonist_innen auf Japan und die Musiker_innen aus Japan haben. Welche Rolle spielt das Ursprungsland in diesem Kontext, welche Orte und Räume werden im Visual Kei besetzt und
50 | Vgl. Reckwitz 2010, S. 135. 51 | Vgl. Bronner 2011, S. 11. 52 | Hagemann-White 1993, S. 76.
20 | Visual Kei
welchen Einfluss hat dies auf Beziehungsstrukturen? Welche subkulturellen Formen der Vernetzung, Kommunikation und Vergemeinschaftung entstehen hier? In Kapitel 2 erfolgt die Annäherung an diese Fragen mit der Überlegung, welches „Handwerkszeug“ ich benötige und wie das Forschungsvorhaben umgesetzt werden kann. Wenn zum Beispiel Beate Binder und Sabine Hess schreiben, „die theoretische Kontroverse [beginnt] erst dort wirklich, wo die Frage nach der Umsetzung gestellt wird“53 , kann ich dem nur zustimmen, denn aus meiner queer-feministischen Perspektive sind eine Reihe weiterer Fragen und Problematisierungen entstanden: Viele Forschungen im Kontext der Queer Theory beschäftigen sich mit der Analyse diskursiver Formationen. Den meisten der grundlegenden Arbeiten liegt eine Diskurskritik zugrunde, und auch kulturwissenschaftlich orientierte Studien beziehen sich meist auf kulturelle Repräsentationen – also Filme, Fotografien, Literatur oder Performances. Was passiert jedoch, wenn die Europäische Ethnologie mit ihren alltagsweltlich-orientierten ethnografischen Konzepten auf Annahmen der Queer Theory trifft? Welche Spannungen können entstehen, wenn die Queer Theory diesen „Schuss an Empirie“54 erhält? Demzufolge bin ich der Frage nachgegangen, wie dekonstruktivistischer Ansatz und ethnografisch-empirische Forschung miteinander vereinbar sind. Welche Anforderungen ergeben sich daraus für das Forschungsdesign und die Arbeit mit qualitativen ethnografischen Methoden? Innerhalb dekonstruktivistischer Ansätze queerfeministischer Prägung werden Subjekte und Identitäten als fluide, instabil und in einem fortwährenden Prozess begriffen. Wie können mit dieser Vorannahme Daten generiert werden und welche Ergebnisse entstehen dabei? Dass die Frage „queerer“ Methodologie zur Disposition steht, zeigt die wachsende Zahl – vor allem englischsprachiger – Veröffentlichungen zu diesem Thema in den letzten Jahren.55 So gehe ich, Beate Binder56 zustimmend, davon aus, dass durch die konsequente Verknüpfung von Theorie und Empirie ein Desiderat queer-feministischer Forschung bearbeitet werden kann. In meiner Arbeit begebe ich mich so immer wieder an die Schnittstelle zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Studies57 und versuche dieses Aufeinandertreffen für beide Seiten produktiv zu machen. Könnte zum Beispiel die Verbindung von Queer Theory mit ethnografischer Forschung die Relevanz ihrer Analyse erweitern,
53 | Hess und Binder 2011, S. 31. 54 | Degele 2005. 55 | Vgl. Boellstorff 2007, 2010; Browne und Nash 2010; Rooke 2009; Santillanes 2006. 56 | Amelang et al. 2010; Hess und Binder 2011. 57 | Hark 2005.
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sie stärker kontextualisieren und damit zu geäußerter Kritik58 Stellung beziehen? Oder andersherum: Könnte die Europäische Ethnologie zu weiteren theoretischen Debatten der ethnografischen Analyse von Körpern, Geschlechtern und Begehren in machtkritischer Perspektive angeregt werden? Welche Implikationen ergeben sich daraus für Forschungsdesign, Methoden und Forschungsethik? In Kapitel 3 führe ich anschließend mit einer Bestandsaufnahme der bisherigen Literatur über Visual Kei in das Feld ein. Wenn ich wissen möchte, nach welcher kulturellen Logik die Subjektivationen in der Subkultur Visual Kei „funktionieren“, dann gilt es auch zu klären, was eine Subkultur ist. Ist dieser Begriff – angesichts des „Mainstreams der Minderheiten“59 – überhaupt noch sinnvoll? Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Blickwinkel für einen praxistheoretischen Zugang passend sind. So habe ich versucht einer vielstimmigen Anregung60 nachzugehen, die vorschlägt, die Überlegungen von Judith Butler und Pierre Bourdieu aufeinander zu beziehen. Hier rahme ich folglich das Feld und setze mit den (Post)Subcultural Studies und den Überlegungen von Judith Butler und Pierre Bourdieu zur Konstitution von Subjekten in und durch Praxis einige theoretische Bezugspunkte. Diese werden dann mit einer Beschreibung des subkulturellen Feldes verknüpft, indem Zugangswege, Beziehungsstrukturen und Konstitutionsprozesse der Subkultur betrachtet werden. Das Kapitel 4 ist ganz den subkulturellen Praxen und Verortungen im Visual Kei gewidmet. Ich werfe hier den Blick auf verschiedene Praxisformen und versuche diese nachvollziehbar und verstehbar zu machen. In Anlehnung an Bourdieu61 gilt es nicht nur zu analysieren, was im Kontext eines bestimmten Lebensstils getan wird, sondern vor allem darum, wie es getan wird, welches Wissen und welche körperliche Kompetenz zum Einsatz kommen: nicht nur, was gegessen wird, sondern auch, wie gegessen wird, nicht nur welche Medienangebote genutzt werden, sondern auch, wie sie genutzt werden. Kurz: es geht um die Praxisformen. Im Zentrum stehen hier zum einen die „Räume subkultureller Praxis“: mediale Repräsentationen, Konzerte und Musik, sowie die subkulturspezifischen Treffen und Veranstaltungen. Zum anderen werden in der Analyse von stilistischen Mitteln, wie Selbstbezeichnung, Kleidung und Körperschmuck auch die „Modi subkultureller Praxis“ näher beleuchtet. Als analytischen Filter entwickle ich hier die Denkfigur der Sedimentierung, die helfen soll, die Konzepte von Performativität und Habitus in Beziehung zu setzen, ohne sie zu
58 | Duden 1993; Geller 2005; Hechenrieder 2012. 59 | Holert und Terkessidis 1996. 60 | Z.B. bei Reckwitz 2004; Redecker 2011; Villa 2006. 61 | Vgl. Bourdieu 1976.
22 | Visual Kei
verkürzen. Verstanden als Ablagerung in verschiedenen Schichten gelingt es so, die vielschichtigen Wirkungen und Effekte wiederholender Praxis herauszuarbeiten. Da sich Sedimente vor allem körperlich materialisieren, bündel ich in Kapitel 5 die Ausführungen zu den Praxisformen und stelle den vergeschlechtlichten Körper in den Mittelpunkt. Ich lege dar, welche „Gebrauchsweisen“ des Körpers im Visual Kei entfaltet werden und welche den Protagonist_innen möglich sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche Geschlechterbilder und Vorstellungen von sexueller Orientierung entworfen werden, und welche Wirkungen diese in den alltäglichen Praxen haben. Ich betrachte die Inkorporiertheit von Subjektpositionen und die Möglichkeit zu Selbstermächtigung und Destabilisierung, denn nicht nur das normativ-diskursiv hervorgebrachte Subjekt bei Butler62 , sondern auch das Konzept gesellschaftlicher Akteur_innen bei Bourdieu63 wirft die Frage nach der Möglichkeit von selbstbestimmtem Handeln auf. Welche Handlungsspielräume gibt es also für Subjekte, die ihrem gesellschaftlichen Ursprung nicht entkommen können? Gelingt es den Protagonist_innen im Visual Kei tatsächlich – das von Hebdige beschriebene Rauschen (noise) – hervorzurufen, das die hegemoniale Zweigeschlechtlichkeit stört? Wenn Normen die soziale Welt organisieren, wie lassen sich diese verletzen, provozieren oder irritieren? Kapitel 6 beinhaltet sowohl einen Rückblick auf den Forschungsprozess und die zentralen Erkenntnisse als auch einen Ausblick. Meine Auffassung von queerer Politik und mein politisches Engagement legten den Grundstein für das Interesse am Generieren verortbaren Wissens über subkulturelle Zusammenhänge und Praxen aus einer queer-feministischen Perspektive. Am Ende dieser Forschungsarbeit sollte folglich nicht nur eine beschreibende Analyse einer Subkultur stehen, sondern auch methodologischer und analytischer Wissensgewinn, der Handlungsoptionen aufzeigt, emanzipatorische Strategien auslotet und für die konkrete queer-feministische Arbeit mit jungen Menschen fruchtbar gemacht werden kann. In diesem Sinne schaue ich hier auch nach vorn und verweise auf Bezüge zur politischen Bildungsarbeit.
62 | Butler 1991, 2004a. 63 | Bourdieu 1976, 1982, 2001.
2. Das Scheitern der Kategorien: Doing Research
Alle wissenschaftlichen Methoden sind genau zugespitzt. Sie sind nicht die Zusammenfassungen von Gewohnheiten, die in der langen Praxis einer Wissenschaft erworben worden wären. Es handelt sich nicht um eine angeeignete intellektuelle Weisheit. Die Methode ist vielmehr die Vortäuschung einer Erwerbung, ein nützliches neues Strategem an der Grenze des Wissens. Mit anderen Worten, eine wissenschaftliche Methode ist eine Methode, die das Risiko sucht. Des Erworbenen sicher, begibt sie sich in die Gefahr der Erwerbung. Der Zweifel steht vor ihr und nicht hinter ihr wie im cartesischen Leben. Deswegen könnte ich, ohne bombastisch zu werden, sagen, das wissenschaftliche Denken sei ein engagiertes Denken. Es setzt unaufhörlich seine eigene Konstitution aufs Spiel.1
Was bedeutet es, wie der französische Wissenschaftsphilosoph Bachelard hier ausführt, an der „Grenze des Wissens“ zu arbeiten? Wie und wodurch ist akademische Wissensproduktion – hier in Form einer praxistheoretisch angelegten Ethnografie – zum einen begrenzt und zum anderen legitimiert? Wie gelange ich eigentlich zu meinem Wissen, in welchen theoretischen Kontexten verorte ich mich dabei und welche Methoden setze ich ein? Dient das Bezweifeln meiner wissenschaftlichen Methoden und Begriffe lediglich der akademischen Selbstvergewisserung? Oder liegt in dem „Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Konstitution“, dem Hinterfragen von Begriffen und Kategorien der Forschung, ein analytischer Wissensgewinn? Und was passiert, wenn der Zweifel so groß wird, dass ich lediglich ein Scheitern von Begriffen und Kategorien feststellen kann? Die Praxis ethnographischer Forschung ist dadurch bestimmt, dass es nicht die eine alles erfassende Methode gibt, sondern ein methodisches Spektrum, das je nach spezifischer Fragestellung ausgewählt werden kann. Sie hat meist eine starke Orien-
1 | Bachelard 1993, S. 146.
24 | Visual Kei
tierung am Alltagsgeschehen – am Alltagswissen der Akteur_innen in einem spezifischen Feld. Handlungsprozesse werden folglich in ihrem alltäglichen Kontext situiert. Daraus folgt, dass die qualitativen Erhebungs-, Analyse- und Interpretationsverfahren, die ich für meine Arbeit verwendet habe, dem Gedanken der Kontextualität verpflichtet sind. Für Bourdieu gilt für die Auswahl der Methoden und für das Abstecken des Forschungsfeldes das Credo: „Verbieten verboten“ [. . .] oder: Man hüte sich vor methodologischen Wachhunden. Natürlich hat die extreme Freiheit, die ich predige und für vernünftig halte, ihr Gegenstück in einer extremen Wachsamkeit. [. . .] Aber erstens ist die Objektkonstruktion [. . .] nichts, was sich mit einem Schlag, mit einer Art theoretischem Inauguralakt erledigen ließe, und zweitens ist das Beobachtungs- oder Analyseprogramm, mit dessen Hilfe sie durchgeführt wird, kein Plan, den man wie ein Ingenieur vorab entwerfen kann: Sie ist eine langwierige Arbeit, die allmählich vonstatten geht, über wiederholte Retouschen, ganze Serien von Korrekturen und Verbesserungen, getragen von dem, was man das „Handwerk“ nennen könnte, also von jenem Ensemble von praktischen Prinzipien, das als Richtschnur für all die ganz kleinen und zugleich doch ausschlaggebenden Wahlentscheidungen dient.2
Die Entscheidungen in meiner Forschung wurden geleitet durch mein grundlegendes Erkenntnisprinzip: dem Verstehen komplexer Zusammenhänge, im Sinne des Nachvollzuges der Perspektive der Protagonist_innen. Um dieser Perspektive den notwendigen Spielraum zu lassen, war vor allem meine Datenerhebung vom Prinzip der Offenheit geprägt – was nicht bedeutet, dass sie beliebig ist.3 Bei einer solchen Strategie steht zunächst nicht die Durchsetzung eines Forschungsplans, sondern die Sicherung und Gestaltung eines angemessenen situativen Kontextes für den Forschungsprozess im Vordergrund. Die methodologische Basis der Untersuchung ist im Sinne der Grounded Theory4 deduktiv-empirisch. Das heißt, der Zugang zum Feld erfolgte mit eine spezifischen theoretischen Perspektivierung, die dann aber auf der Grundlage der ersten Ergebnisse der Feldforschung korrigiert und weiterentwickelt wurde. Dies bedeutet, dass ich z.B. durch meine Auseinandersetzung mit Queer Theory, Subkulturforschung oder Kulturtheorien Vorstellungen über Praxis, Körper und Geschlecht mit in das Feld genommen habe – es folglich nicht als „unbeschriebenes Blatt“ be-
2 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 261. 3 | Denzin und Lincoln 2005; Wolff 2008. 4 | Die Forschungslogik der von Glaser und Strauss entwickelten Grounded Theory, folgt einem wechselseitigen Ineinandergreifen von theoriegeleiteter Fallauswahl, Kodierung, Hypothesenverifikation und fallübergreifender Typologie, und ermöglicht so eine empirisch begründete Theoriebildung. (Vgl. Glaser und Strauss 1998; Strauss 1991).
2. Das Scheitern der Kategorien: Doing Research | 25
treten habe. Diese Vorstellungen lagern sich in meinem Blick auf den Gegenstand ab, bestimmen die Wahl der Methoden, aber sie werden auch im Forschungsprozess auf die Probe gestellt und überformt. Entscheidungen treffe ich jedoch nicht nur hinsichtlich des zugrunde liegenden „Handwerkzeugs“ – sie beziehen ebenso die Modi der Darstellung mit ein. So weicht die vorliegende Struktur etwas vom „klassischen“ Aufbau einer Qualifikationsarbeit ab. Meist dem Theorieteil nachgelagert, ziehe ich das „Methodenkapitel“ nach vorn, setze es an prominente Stelle. Dies hat zwei Gründe: Erstens möchte ich hier grundlegende epistemologische Fragen – wie das Verhältnis zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory – anreißen. Es hat folglich auch methodologischen Charakter. Zweitens werden schon hier zentrale Begriffe – z.B. die Kategorie Geschlecht – aufgegriffen, auf die Probe gestellt und diskutiert. Diese „Mischform“ des Kapitels begründet die prominente Stellung desselben, da ich hier meine Forschungsperspektive begründe und verdeutliche. Sie setzt den Maßstab, durch den ich die folgenden Analysen betrachtet wissen möchte und schlägt eine Perspektivierung vor. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass ich Forschung selbst als soziale Praxis, als spezifische Handlungen verstehe. Diese sind dabei ein routinisiert hervorgebrachter „temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings“.5 Zeit und Raum werden gebunden, d.h. Zusammenhänge werden über die Unbeständigkeit der Zeit und die Verschiedenheit räumlicher Orte hinweg immer wieder neu hervorgebracht. Forschungshandeln impliziert folglich ein „immer wieder neu Hervorbringen“6 und basiert auf einem kollektiven Wissen, das ein spezifisches Knowhow, spezifische Kenntnis und Können umfasst. Das beständige „Tun“ einer Forschungspraxis begreife ich als einen Hinweis auf das sehr spezifische, partikulare, lokal-temporal und situierte Wissen, das in der sozialen Praxis meiner Forschung und in meiner Beziehung zu den Protagonist_innen zum Ausdruck kommt. Mit der Verbalisierung als „doing research“ möchte ich den prozesshaften Charakter von Forschung herausstellen: die fortwährende Hinterfragung und Erneuerung akademischer, epistemologischer und methodischer Standpunkte. Was diese „langwierige Arbeit“ ausmacht, was es bedeutet Forschung zu tun, soll im Folgenden erläutert werden. In einer ethnografischen Forschungsarbeit, die queer-feministisch informiert ist, entsteht unweigerlich auch eine spezifische methodologische Fragestellung, denn „some methodologies and methods might not neatly fit the ‘queer’ conceptual fra-
5 | Schatzki 1996, S. 89. 6 | Reckwitz 2004, S. 44.
26 | Visual Kei
mes we use in our research.“7 Ein Anliegen dieser Forschungsarbeit ist es folglich queer-feministische Perspektiven mit Ansätzen der Europäischen Ethnologie zu konfrontieren.8 Demzufolge habe ich danach gefragt, wie empirische Forschung und dekonstruktivistische Ansätze queertheoretischer Prägung miteinander vereinbar sind. Letztere betrachten Subjekte und Identitäten als fluide, instabil und in einem fortwährenden Prozess befindlich. Wie können mit dieser Vorannahme Daten generiert werden und welche Ergebnisse entstehen, wenn die Daten nur eine Momentaufnahme abbilden? Welche Anforderungen ergeben sich daraus für das Forschungsdesign und die Anwendbarkeit qualitativer ethnografischer Methoden? Bevor ich also mein methodisches Vorgehen im engeren Sinne darlegen werde, begebe ich mich zunächst an die Schnittstellen zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory. Ich gehe der Frage nach, wie einerseits methodologische Debatten der Europäischen Ethnologie empirische Forschung unter queertheoretischer Perspektive bereichern können. Andererseits möchte ich zu weiteren Diskussionen und Theoretisierungen der ethnografischen Analyse von Körpern, Geschlecht und Begehren in machtkritischer9 Perspektive anregen.
E UROPÄISCHE E THNOLOGIE
UND
Q UEER T HEORY
Queer Theory ist meist mit dem Anspruch verbunden, gesellschaftspolitische Veränderungen durchzusetzen. Sie beschränkt sich weniger auf klassische schwul-lesbische Minderheitenpolitik, sondern strebt eine fundamentale Verunsicherung von Normalitätsregimen an. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Analyse der Dimensionen „heterosexuell begründeter und Heterosexualität begründender Herrschaft.“10 Obwohl sich Queer Theory an der Schnittstelle von queer-Bewegungen und Theoriebildung be-
7 | Browne und Nash 2010, S. 1. 8 | Dass die Frage „queerer“ Methodologie zur Disposition steht, zeigt die wachsende Zahl – vor allem englischsprachiger – Veröffentlichungen zu diesem Thema in den letzten Jahren. (Vgl. Boellstorff 2010; Prosser 1998; Rooke 2009; Santillanes 2006). 9 | Kritik verstehe ich im Sinne Isabell Loreys als eine Art der Verweigerung, als Entziehen und Entgehen. „In diesem Kontext bedeutet Kritik nicht Negation, nicht Rückzug in etwas ganz anderes, sondern die Konstituierung eines Vermögens zu handeln.“ (Lorey 2008). 10 | quaestio 2000, S. 13.
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wegt, ist die poststrukturalistische Theorie11 kaum in empirisch-ethnologischer Praxis verankert. Wenn Beate Binder sagt, Queer Theory reibe sich auch mit ethnografischer Forschung, so stellt sich die Frage, was genau diese Reibungsfläche ausmacht.12 Sind es vor allem die textbasierten, nicht-empirischen Analysen der Queer Theory? Ist der Gegenstand „queer“ in seinem radikal dekonstruktivistischen Sinne für einen empirischen Zugang ungeeignet? In welches Wechselverhältnis können Queer Theory und ethnografische Forschung treten?13 Entlang dieser Fragen möchte ich den Schnittmengen zwischen beiden Perspektiven nachspüren und darlegen, wie diese sich – im Sinne transdisziplinärer14 – Forschung, gegenseitig befruchten können. Ich gehe davon aus, dass diese Auseinandersetzung besonders auf methodologischer und forschungsethischer Ebene sowohl für die Europäische Ethnologie als auch für queertheoretische Forschung gewinnbringend sein kann. In der Queer Theory dominieren diskurstheoretische Modelle, den meisten der grundlegenden Arbeiten liegt eine Diskurskritik zugrunde, sie bedienen sich vor allem des von Jacques Derrida geprägten philosophischen Konzeptes der Dekonstruktion oder einer durch Michel Foucault angeregten kritischen Genealogie.15 Auch wenn einige argumentieren, „queer“ als theoretisches Konzept sollte unbestimmt und fluide bleiben16 , lehne ich mich in meinen Überlegungen vor allem an die Analysen Judith Butlers an, die sich in eine poststrukturalistische Subjektkritik einreiht, und mit ihrem Entwurf von Performativität ein Konzept an die Hand gibt, mit dem sich Stabilisierungs- und Destabilisierungsprozesse in der Konstitution des (vergeschlechtlichten) Subjekts beschreiben und erklären lassen. Gleichzeitig möchte ich feministische Grundlagen und Errungenschaften berücksichtigen, denn die Diskriminierung von Frauen als Frauen ist nicht damit beendet, dass die Kategorie „Geschlecht“ als Konstrukt entlarvt wird. Der Begriff queer-
11 | Poststrukturalismus bezeichnet die komplexe Neudefinition und Revision strukturalistischer Theorien. Auf diese Wende wird meist mit dem Begriff „linguistic turn“ rekuriert. (Nünning 2001, S. 523 f.). 12 | Vgl. Amelang et al. 2010, S. 13. 13 | Neben der Frage des Wie fragt Haritaworn (2008) gar, ob wir denn überhaupt Queer Studies betreiben sollten. 14 | Zum Unterschied zwischen Transdisziplinarität und Interdisziplinarität, siehe Dölling und Hark 2000. 15 | Butler 1991, 1997; Sedgwick 2008. 16 | Vgl. Browne und Nash 2010, S. 7.
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feministisch – der meine Perspektive kennzeichnet – impliziert dabei, dass zwischen hierarchischer Geschlechterdifferenz und normativer Heterosexualität ein gegenseitiges Konstitutionsverhältnis besteht, das jedoch nicht spannungsfrei ist17 . Daraus folgt für mich, dass sich politische Intervention gleichzeitig auf die verwobenen Machtverhältnisse der Hierarchisierung und der Normalisierung richten muss. Vor allem Forscher_innen, die sich auf die Erforschung von Bedeutungskonstruktionen in alltäglichen persönlichen Lebenswelten und intersubjektiven Begegnungen konzentrieren, werfen der Queer Theory einen realitätsfernen, abstrakten „Theoriefetischismus“ vor18 . So sehen zum Beispiel materialistische Ansätze einen Mangel diskursanalytischer Arbeiten darin, dass die Erforschung sozialer Praxen und gesellschaftlicher Strukturen zu kurz kommt. Es wird eine mangelnde ökonomische und systemische Kritik beklagt, eine mangelnde Auseinandersetzung mit Themen wie Nationalismus, Kolonialismus und neoliberaler Globalisierung19 . In ihrer Studie Kleidung und Geschlecht problematisiert die Kulturanthropologin Cordula Bachmann die Übersetzungsprobleme in die „Logik des Alltags“: Für die empirische Geschlechterforschung stellt die feministische Theorie und Begriffsbildung insofern ein Problem dar, als sie der „Logik des Alltags“ fern ist. Das führt dazu, daß die Frage nach den Bedingungen der Produktion der Geschlechterverhältnisse viel zu wenig in der Alltagspraxis aufgesucht, sondern vorwiegend als eine theoretische Angelegenheit behandelt oder die konkrete der theoretischen Praxis angeglichen und in theorieverwandten Feldern aufgesucht wird. Dabei werden die theoretischen Begriffe zu direkt und ungebrochen in die Alltagspraxis übernommen.20
In diesem Zitat wird eine zentrale Reibungsfläche zwischen Queer Theory und Europäischer Ethnologie thematisiert: Die Schwierigkeit der Übersetzung queertheoretischer Konzepte in die Alltagspraxis von konkreten Subjekten. In der Debatte um eine queere Methodologie scheint jedoch auf, dass gerade die Kulturanthropologie mit ihrer Orientierung an alltäglichen Lebenswelten einen guten Ansatzpunkt bietet, um diese Übersetzung zu leisten. So unterstreicht auch die Soziologin Alison Rooke, die in den letzten Jahren die Debatte um queere Methodologie mitbestimmt hat: Queer, postmodern, and poststructural theories of knowledge production and the self, combined with a commitment to ethnographic understanding, offer a productive space of praxis in which we can think through the ‘necessary trouble’ (Butler) of identity categories, theorize the complexity of
17 | Vgl. Butler 1997, S. 329. 18 | Stellvertretend Jackson 1999; Plummer 1998. 19 | Hennessy 1993; Jackson 1999. 20 | Bachmann 2008, S. 22.
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the ways in which contemporary sexual subjectivities are discursively produced while simultaneously doing justice to the ways in which identities, such as lesbian, are lived with intersubjective complexity.21
Dieser ethnografische Zugang, den Rooke hier vorschlägt, findet sich in den meisten der Überlegungen dieser Debatte wieder. Was bedeutet es aber, ethnografisch zu forschen, was ist „ethnographic understanding“? Die Europäische Ethnologie ist eine Kulturwissenschaft, die nach der Alltagskultur und ihren Ordnungen fragt, danach, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren und welche Verhältnisse sie darin eingehen. Die zentrale ethnografische Methode ist dabei die „teilnehmende Beobachtung“, die es ermöglicht, nahe an den sozialen Akteur_innen zu sein und über einen längeren Zeitraum aktiv an deren Lebensformen und Alltag teilzunehmen. Heraus kommt dabei ein ethnografischer Text, der möglichst dicht an die Akteur_innen, an deren Bilder und Erzählungen, an deren Handlungen und Rituale herankommen will. Diese Form der Repräsentation ist durchaus mit (ethischen) Widersprüchen und Problemen verbunden, und so verwundert es nicht, dass gerade in der Kulturanthropologie in den 1980er Jahren eine strittige Diskussion ihren Ausgangspunkt nahm, die Norman Denzin als die „Krise der Repräsentation und Legitimation“22 bezeichnet hat und die vor allem unter dem Stichwort der „writing culture“-Debatte verhandelt wurde. Gerade die Ethnologie ist eine akademische Disziplin, die in ihrer Geschichte hegemoniales Wissen und stereotype Repräsentationen von Menschen und Kulturen produziert hat. Diese Repräsentationen hatten oft das direkte Ziel koloniale Herrschaft zu legitimieren. Postkoloniale Kritiker_innen wiesen darauf hin, dass diese ethnologischen Imaginationen, die mit kolonialer Praxis und Herrschaft verbunden waren, sich im Wesentlichen auch in vielen der westlichen akademischen Diskursen widerspiegeln.23 Prozesse des „Othering“ erweisen sich als Herrschaftspraxis vor allem für diejenigen, die sich in einer Position befinden, in der Kontrolle über Diskurse ausgeübt werden kann. Die „writing culture“-Debatte hat das Fach vor allem zwischen Mitte der 1980er bis 1990er Jahre in Atem gehalten und tut dies immer noch. Dies hat die Disziplin in ihrem Selbstverständnis erschüttert und zu intensiven Debatten geführt.24 Diese Debatte hat sich vor allem an dem Blick auf „die Anderen“ und sich selbst abgearbeitet. Die Reflektionen über die Forscher_innen, ihre Wahrnehmung des Feldes und die Möglichkeiten Letztere zu repräsentieren, standen und stehen im Mittelpunkt.
21 | Rooke 2009, S. 151. 22 | Denzin 1997. 23 | Fabian 1983; Haritaworn 2008; Spivak 2008; R. J. Young 1994. 24 | Vgl. Clifford 1986; Geertz 1993; Rabinow 2007 [zuerst 1977].
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Dies führte zu einer Dekonstruktion der Grundlagen der traditionellen Kulturanthropologie, zur Berücksichtigung ethischer Fragestellungen und zur Suche nach neuen Formen der Validität.25 Denn die Krise der Repräsentation mündet zwangsläufig in eine Krise der Legitimation, da traditionelle Vorstellungen von Validität, die eine Forschung bezüglich ihrer Korrespondenz zur Wirklichkeit bewerten, infrage gestellt und verworfen werden. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Beobachtungen niemals objektiv sind, sondern vielmehr sozial in den Welten der Protagonist_innen und der Forscher_innen lokalisiert werden. Zudem ist die gelebte Erfahrung bereits durch Texte und Diskurse geprägt, so dass Forscher_innen lediglich eine Interpretation der Interpretation wiedergeben können. Sprache, Praxen, Diskurse und Texte spiegeln nicht Erfahrungen wider, sondern schaffen sie immer wieder neu.26 Diese Auffassung hatte weitreichende Folgen für die Praxis ethnografischer Forschung: Eine wesentliche Implikation ist, dass die Erfahrungen und Perspektiven, die in Forschungsarbeiten beschrieben und analysiert werden, keine unabhängige Wirklichkeit wiedergeben, sondern erst durch den Prozess des Schreibens und Forschens hervorgebracht werden. Diese Verschiedenheit der textuellen Repräsentation unterschiedlicher Erfahrungen und damit auch die Rolle der Forscher_innen im Feld, der Einfluss auf das untersuchte Feld, wird in ethnografischen Forschungsarbeiten seit längerem thematisiert, offengelegt und reflektiert. Die Frage der Reflexivität spielt auch in Pierre Bourdieus Werk eine zentrale Rolle: Wie in Homo academicus benutze ich die Werkzeuge, die mir die Reflexivität liefert, um zu versuchen, die bias zu kontrollieren, die durch die Unbewußtheit hineinkommen, und um in der Erkenntnis der Mechanismen Fortschritte zu machen, die die Reflexion beeinträchtigen können. Die Reflexivität ist ein Werkzeug, um mehr Wissenschaft zu produzieren, nicht um die Möglichkeit von Wissenschaft zu zerstören. Sie legt es nicht darauf an, den wissenschaftlichen Ehrgeiz zu beschneiden, sondern darauf ihn realistischer zu machen.27
Zum einen wird die Selbstreflexivität der Forscher_innen insofern mitgedacht, als dass die Ethnografien nicht länger als Beschreibung von Tatsachen, sondern als aktive Mitkonstruktion von Kultur auf der Ebene von Repräsentationen begriffen werden, in der auch die Akteur_innen der jeweiligen kulturellen Situation Mitwirkende am Kon-
25 | Kaschuba 1999. 26 | Denzin 1997; Denzin und Lincoln 2005. 27 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 230.
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struktionsprozess sind.28 Zum anderen sind daraus eine Reihe kreativer und experimenteller Ethnografien entstanden und es gibt Überlegungen, wie Forschungspraxis anders gestaltet werden kann – z.B. durch kollaborative Forschungen oder multi-sited Ethnografien.29 Was in diesen Debatten oft nicht zum Tragen kommt, ist die Tatsache, dass es nicht nur postkoloniale, sondern auch feministische Kritik an Repräsentationen war, die diese Wende in der Kulturanthropologie eingeläutet hat und ebenso die entstehenden Queer Studies30 mit beeinflusst hat. So stellt sich die Frage, ob in der Debatte um Repräsentation und Legitimation nicht auch eine Gemeinsamkeit von Europäischer Ethnologie und queer-feministischer Forschung zu finden ist?
F ELDFORSCHUNG
ALS QUEERE
F ORSCHUNGSPRAXIS ?
Die Gemeinsamkeiten von Europäischer Ethnologie und Geschlechterforschung – wobei Queer Studies hier sicher mitgemeint sind – in Bezug auf die Debatten um akademische Wissensproduktion fasst Beate Binder folgendermaßen zusammen: Tatsächlich trifft sich in meinen Augen das Anliegen der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie, Universalisierungen und Naturalisierungen sichtbar zu machen, mit dem wissenskritischen Anliegen der Geschlechterstudien, Macht- und Unterdrückungsverhältnisse in ihrer Wirkmächtigkeit für Subjektkonstitutionen zu beschreiben. Beiden gemeinsam ist in meinen Augen auch der Wunsch, durch ihre Wissensproduktion zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen oder auch Veränderungen beizutragen. Trotz dieser grundlegenden Übereinstimmung besteht – wird die wechselseitige Rezeption in der Breite betrachtet – eher ein misstrauisches oder ablehnendes Verhältnis zwischen den Wissensfeldern und ihren Akteur_innen.31
Ich möchte Beate Binder hier zustimmen und für eine Auswahl an Forschungen aus dem Fach – insbesondere aus der feministischen Kulturanthropologie – trifft dies si-
28 | Hier stellt sich die Frage, wie vor diesem Hintergrund Subjektivität in einer komplexen und dynamischen Kultur zu denken ist. Bourdieu stellt diese Frage – wie oben erläutert – in das Zentrum seiner Überlegungen: In welcher Weise und aufgrund welcher gesellschaftlicher Voraussetzungen ist das Subjekt der Moderne in der sozialen Realität zu einem Subjekt von Wissen und Handlung geworden? 29 | Fluehr-Lobban 2008; Low und Merry 2010; Marcus 1995. 30 | Hark 2005. 31 | Binder 2009, S. 240 f.
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cherlich auch zu.32 Jedoch: Viele formulieren die oben genannten Anliegen vielleicht gerade noch als Anspruch. Doch Forschungen, die Macht- und Unterdrückungsverhältnisse nicht nur beschreiben, sondern ernst nehmen und tatsächlich zu gesellschaftlichen Debatten anregen wollen, gibt es m.E. vor allem in der deutschsprachigen Kulturanthropologie noch viel zu wenige. Die Problematisierung von Repräsentation und Legitimation ist in beiden akademischen Feldern ähnlich, es gibt durchaus Parallelen, wie zum Beispiel ein (selbst)reflexives Moment im Forschungsprozess oder die Kritik an positivistischer Wissenschaft. Diese Parallelen betrachte ich vor allem als einen Hinweis auf mögliche Schnittstellen zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Studies. Es wäre jedoch verfehlt, beides gleichzusetzen: Bei der Frage der Repräsentation geht es vor allem um die Frage des Dialoges, im Sinne eines Verstehen der „Anderen“, und wie sich die Positionen der Forschenden auf dieses Verstehen im gesamten Forschungsprozess auswirkt. Die Debatten um Positionierung haben ihren Fokus auf einer Machtkritik und dem Sichtbarmachen des sozialen, politischen und gesellschaftlichen Standpunktes der Forschenden. Dies bedeutet, und hier stimme ich Beate Binder zu, dass die Positionierung der Kulturanthropolog_innen in der Interaktion mit den Forschungssubjekten thematisiert und auch im Sinne der writing culture-Debatte die Macht der Repräsentationen reflektiert [wird]. Aber in Hinblick auf die normativen oder politischen Überzeugungen, in deren Rahmen jeweils argumentiert wird, wird meist eine Perspektive des vermeintlich Außenstehenden betont, so als hätte man keine tatsächlich politische Haltung zu bestimmten Fragen – eine explizit politische Position zu haben wird jedenfalls eher als problematisch angesehen. Dagegen begibt sich die Geschlechterforschung, die ja auch aus einem explizit politischen Standpunkt heraus entstanden ist, immer wieder, etwa auch mit der queeren Intervention, in eine Auseinandersetzung mit politischen bzw. sozialen Bewegungen und muss das Spannungsverhältnis zwischen politischer und wissenschaftlicher Position immer wieder neu aushandeln. Das sollte in der Europäischen Ethnologie auch stärker geschehen. Gerade auch, weil, wie ich finde, viele Europäische und „klassische“ Ethnolog_innen bzw. Kulturanthropolog_innen in ihren Forschungen extrem politisch sind.33
Wie jedoch ist diese „queere Intervention“ in die Europäische Ethnologie zu leisten, wenn sie nicht lediglich als schmückender moralisierender Anspruch stehen bleiben soll, sondern tatsächlich eingreift und verändert? Wie ist mit den Reibungsflächen
32 | Beispielsweise Bachmann 2008; Becker 2001; Hess 2009. 33 | Amelang et al. 2010, S. 15.
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zwischen dem dekonstruktivistischen Subjektverständnis der Queer Theory und Annahmen interpretativer qualitativer Forschung umzugehen?34 Welche Nuancen kommen in dieser Reibung zum Ausdruck? Welche Problematiken zeigen sich und wie sind diese forschungspraktisch zu lösen? Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass empirische ethnografische Forschung nicht unvereinbar mit poststrukturalistischer Theorie queer-feministischer Prägung ist. Selbst Dekonstruktion und Diskursanalyse haben nicht zwingend eine Reduktion sozialer Praxen auf die Textebene zur Folge, wie Derrida deutlich macht: What is hastily called deconstruction is not [. . .] a specialised set of discursive procedures [. . .] [but] a way of taking a position, in its work of analysis, concerning the political and institutional structures that make possible and govern our practices [. . .] Precisely because it is never concerned only with signified content, deconstruction should not be separable from this politicoinstitutional problematic.35
Derrida argumentiert dahingehend, diskursive Deutungen mit ihren institutionellen Rahmungen zu verbinden und so dekonstruktive und institutionelle Kritik zusammenzuführen und sichtbar zu machen. Analog zur Denkfigur der Dekonstruktion, bedeutet dies für meine ethnografische Forschungsarbeit mit queer-feministischer Perspektive, die Brüche zwischen Theorie und Lebenspraxis sichtbar zu machen und so eine ethnografische und historische Kontextualisierung zu leisten.36 Die Implikationen der Queer Theory ermöglichen mir eine Distanzierung von „Innen“: Ein Blick auf die Europäische Ethnologie und deren Konzepte und Methoden, den ich in dem Sinne produktiv machen möchte, als dass er es erlaubt, Machtverhältnisse, disziplinäre Standards und Grenzen aufzuzeigen und zu reflektieren. Innerhalb dieser queer-feministischen Einbettung kann es gelingen, den Horizont des Faches zu erweitern, eine Forschung kritisch zu kontextualisieren, und normative, politische oder moralische Verankerungen zu reflektieren. Mit der vorliegenden Forschungsarbeit möchte ich an dieser Schnittstelle zwischen Europäischer Ethnologie und queerfeministischer Forschung ansetzen, um die Bedingungen und Machtpositionen, unter denen sich die ethnologische Stimme in der Vielstimmigkeit eines Feldes formt und auf Letzteres zurückwirkt, in den Fokus zu rücken. Der Versuch eines transdisziplinären Zugangs entspricht meinem Anspruch an eine engagierte Wissenschaft. Ich gehe davon aus, dass gerade das übergreifende Denken zwischen den Disziplinen an eine gewisse Selbstreflexivität gebunden ist.
34 | Degele 2005; Klesse 2007; Lorey 2008; Schwandt 1994. 35 | Derrida 2004, S. 110. 36 | Vgl. Heymann 2012, S. 415.
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Einzelne Fachrichtungen haben ihre je spezifischen blinden Flecken und Erkenntnisschranken, die als Hemmnisse wissenschaftlicher Praxis wirken. Der distanzierende Blick, der Unverständnis und Irritationen hervorrufen kann, ist hilfreich um fachspezifische internalisierte Eigenheiten aufzudecken und zu reflektieren. Alison Rooke argumentiert ähnlich, wenn sie sagt: queer ethnography is not merely ethnography that focuses on researching queer lives; it is also a matter of taking queer theory seriously in order to question the conventions of ethnographic research, specifically the stability and coherence of the ethnographic self and the performativity of this self in writing and doing research. To queer ethnography then, is to bend the established orientation of ethnography in its method, ethics, and reflexive philosophical principles.37
Dem möchte ich hinzufügen, dass in einer queertheoretischen Perspektivierung auch Fragen des Begehrens, der Sexualität und des Geschlechts einbezogen werden und verschiedenste geschlechtliche Identitäten in den Blick genommen werden. Diese Gewichtung wäre gewinnbringend für die Europäische Ethnologie, die in Geschlechterfragen meist recht (hetero)normativ vorgeht. Zum anderen möchte ich dazu beitragen, queertheoretische Ansätze in der Praxis zu erproben, ein „Verstehen“ der Protagonist_innen und ihrer Handlungen in den Fokus zu rücken. Obwohl text- und diskursanalytische Zugänge bisher den größten Anteil eines queertheoretischen Forschungsansatzes ausmachen, kann meiner Meinung nach gerade eine ethnografische Analyse besonders Inkohärenzen und Ambivalenzen – die zentral für ein queeres Verständnis sind – deutlich machen. Mir geht es folglich um eine Rückkopplung der Alltagspraxis konkreter Subjekte an queer-feministische Theorie. In der Feldforschung müssen sich Konzepte empirisch bewähren, denn „Empirie hat [. . .] eine eigene Dignität und vermag eine Dynamik zu entfalten, welche Theorien verändert oder auch veralten und absterben läßt.“38 Sowohl die Europäische Ethnologie als auch die Queer Studies können m.E. von einer Fokuserweiterung und Ausdehnung der Analyseperspektive profitieren. Unter forschungsethischen Gesichtspunkten geht es mir mit einer queertheoretischen Perspektive aber auch um mehr: Es geht hier um das Infragestellen von Sichtbarkeitsachsen. „Queer“ ermöglicht es zu zeigen, dass es Bereiche der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit gibt, und damit auf hegemoniale Ansprüche hinzuweisen und zu fragen: Was mache ich sichtbar, was blende ich aus? Welche Gefahren sind damit verbunden? Könnten Freiräume durch ein Sichtbarmachen zerstört werden? Domi-
37 | Rooke 2009, S. 150. 38 | Hagemann-White 1993, S. 78.
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nante Diskurse in einer Gesellschaft, die Machtressourcen mobilisieren und sich als universal ausgeben, können so infrage gestellt werden. Es geht mir folglich um eine Kritik normativer Ordnung aus queertheoretischer Perspektive, jedoch ohne die Subjekte als Träger_innen von Handlungsmacht auszuschließen. Faktoren wie Subjektivität, Selbstwahrnehmung, Motivation und Intention der Protagonist_innen sind Bestandteil meiner Auseinandersetzung. Hier greife ich auf die aktuelle Subkulturforschung zurück39 , die aus der Kritik an der Vernachlässigung subjektiver Faktoren theoretische und methodologische Konsequenzen gezogen hat: der Subjektivität subkultureller Handlungsträger_innen wird mehr Raum gegeben. An der in klassischer Subkulturtheorie üblichen Gegenüberstellung von dominanter Ordnung versus widerständiger Subkultur wird nicht mehr festgehalten, sondern vielmehr ein differenzierteres Konzept sozialer Schichtung bemüht, welches normalisierende Binaritäten von „dominant“ versus „subversiv“, von „angepasst“ versus „oppositionell“ vermeidet.40 Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass sich Methoden nicht in einem spezifischen – wie Bourdieu es bezeichnet – „Handwerk“ erschöpfen (sollten). Sie bedingen vielmehr auch eine theoretische Kontextualisierung, bis hin zu einer Verortung auf politischer Ebene.41 Daher haben sich gerade in den letzten Jahren – und ich meine gut begründet – einige Forscher_innen aufgemacht, nach einer „queeren Methode“ zu suchen. Fündig wurden sie dabei vor allem in der Kulturanthropologie und deren methodischem Herzstück – der Feldforschung.42 Folglich könnte gefragt werden, ob und warum sich Feldforschung besonders für eine Forschungspraxis mit queer-feministischer Perspektive eignet? Geeignet ist sie, weil mittels Feldforschung Alltagswirklichkeit und Alltagswissen von Subjekten in den Blick genommen werden. Abschließend beantworten lässt sich die Frage nach einer spezifisch „queeren Methode“ nicht. Aber um
39 | Ausführlich in Kapitel 3. 40 | Auch Saukko (2003, S. 5) weist darauf hin, dass Studien widerständiger Praxen marginalisierter Gruppen oftmals wenig über die Intentionen und Motivationen der Protagonist_innen aussagen, sondern meist ein Spiegelbild der politischen Fantasien oder Utopien der Forscher_innen sind. 41 | Klesse (2007, S. 39) argumentiert, dass sich ein poststrukturalistisches Theorieverständnis gegen „jeden Absolutismus in der Methodenfrage“ richtet. Demzufolge sind qualitative Interviews, Gruppeninterviews, teilnehmende Beobachtung, dokumentarische Forschung usw. durchaus mit einem Forschungsdesign vereinbar, das diskursanalytische Fragen in den Blick nimmt. 42 | Vgl. Boellstorff 2010; Browne und Nash 2010; Rooke 2009.
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zu zeigen, wie ich vorgegangen bin, möchte ich – aufbauend auf den obigen Ausführungen – einen Entwurf einer queeren Methodik vorstellen und der Frage nachgehen, wie queertheoretische Perspektiven die Feldforschung bereichert haben und Feldforschung damit das Potential einer queeren Forschungspraxis trägt.
D OING R ESEARCH Wenn es nicht darum geht, aus der Wissenschaft im Namen ich weiß nicht welcher utopischen Wertfreiheit die individuelle oder kollektive Motivation auszuschließen, die durch die Existenz einer politischen und intellektuellen Bewegung hervorgerufen wird [. . .] bleibt festzuhalten, daß die beste politische Bewegung dazu verurteilt ist, schlechte Wissenschaft zu treiben und am Ende schlechte Politik, wenn es ihr nicht gelingt, ihre subversiven Antriebe in kritische Inspiration umzusetzen, und das zuerst in Beziehung auf sich selbst.43
Bourdieu macht hier deutlich, dass sich ein praxeologischer Zugang nicht nur auf die Praxen des Feldes bezieht, sondern auch auf die wissenschaftliche Praxis, verstanden als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse, die sie untersucht. Meine eigene Motivation ist mir im Fortgang der Forschung aufgefallen, wenn ich – um ein Beispiel zu geben – durch mein eigenes Interesse an „queer“, teilweise versucht habe, Abweichungen in Bezug auf Geschlecht und Begehren zu „queeren“. Es ist mir aufgefallen, wie sehr der Zugang zu Visual Kei von meinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen von „queer“ geprägt ist. So ist es auch kein Zufall, dass ich gerade diese Subkultur für meine Forschung gewählt habe und hier die Themenfelder Geschlecht, Körper, Androgynie, Crossdressing, Transgender und Begehren im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Darauf lässt sich auch meine Empathie und Freude zurückführen, wenn sich jemand mir gegenüber als homosexuell oder bisexuell verortet hat: ich hatte mal einen freund, ja. aber das ist jetzt auch schon eine weile her und mittlerweile habe ich schon 7 monate eine freundin mit der ich über alles glücklich bin! (: ich richte mich in beziehungen nicht nach dem geschlecht, sondern mich interessiert viel mehr die person an sich [. . .] ist rar geworden in dieser zeit. deswegen würde ich mich als bisexuell und nicht homosexuell bezeichnen.44
43 | Bourdieu 1997a, S. 215. 44 | Facebook-Nachricht von Mero, 28. Februar 2011. Nachrichten der elektronischen Kommunikation enthalten häufig besondere Ausdrücke wie Smileys (siehe Glossar unter Emoticons).
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Den kleinen Hüpfer meines Herzens und das Lächeln auf meinen Lippen konnte ich in solchen Augenblicken einfach nicht ignorieren. Dennoch: Solche Momente der inhaltlichen, persönlichen oder politischen Nähe verstellen oftmals den Blick für das dahinter Liegende. Wie aber gelingt es, eigene Sympathien und Vorstellungen wahrzunehmen und in der Betrachtung offenzulegen?45 Wie gehe ich selbst mit Begriffen, wie z.B. bisexuell, um? In der vorliegenden Arbeit begegnen uns folglich immer zwei Praxen: Zum einen die Praxen des Feldes, die ich feldforschend begreifen will, und zum anderen meine eigene Forschungspraxis, die als Forschungsprozess – als doing research – zu kennzeichnen ist. Die Forschungspraxis selbst und wie ich darin mit den eben angerissenen Problematiken umgegangen bin, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Situierte Wissen und Positionalität Postkoloniale Theorien und die feministische Kritik eines androzentrischen Objektivitätskonzeptes haben – vor allem im anglophonen Raum – zu einem neuen Wissenschaftsparadigma geführt, innerhalb dessen ein historisierter, kontextualisierter, partikularisierter und pluralisierter Wahrheitsbegriff vertreten wird46 , auf den ich mich in meiner Wissensproduktion beziehe. Die damit einhergehende Politisierung erkenntnistheoretischer Problematiken hatte unmittelbare Konsequenzen für die Sprache und Konzeptionen, anhand derer Fragen der akademischen Wissensproduktion diskutiert werden. Zentral und bis heute aktuell sind die Überlegungen Donna Haraways in ihrem Artikel Situated Knowledges47 , in dem sie betont, dass Wissen immer partiell und von der jeweiligen Positionierung im gesellschaftlichen Kontext abhängig ist. (Akademisches) Wissen beschreibt Haraway allgemein als einen verdichteten „Knoten in
Zur besseren Lesbarkeit habe ich E-Mails, SMS und Facebook-posts in einer für das Internet typischen Schrift gesetzt. 45 | Meine eigenen Erfahrungen in Transgender-Kontexten haben mir jedoch auch einen sensiblen, fragenden, vorsichtigen Umgang mit den Protagonist_innen ermöglicht. So gehört eine geschlechtersensible Sprech- und Schreibweise zu meinem Alltag und ich bin mit einigen Schwierigkeiten der geschlechtlichen Verortung in einer heteronormativen Gesellschaft vertraut. 46 | Zum Beispiel hat Sandra Harding (1991) mit ihrem Ansatz der Strong Objectivity dargelegt, dass erst eine Selbstpositionierung der Forschenden es ermöglicht, Forschungstexte auf einer informierten Grundlage zu beurteilen. 47 | Haraway 1988.
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einem agonistischen Machtfeld“, der eingewoben ist in die Erzählungen der wissenschaftlichen Disziplinen, die ihre eigenen Regeln ausbilden. Wissenschaftler_innen sind autorisiert, diese Regeln zu definieren, in Erzählungen einzubetten und plausibel zu machen. In Haraways materiell-semiotischer Perspektive geht es nicht nur um plurale symbolische Konstruktionen der Welt. Vielmehr betrachtet sie Forschung als eine Kraft, die die Wirklichkeit in symbolischer und materieller Hinsicht transformiert. So zeigt etwa die Geschichte der Psychiatrie, wie Forschung und Wissenschaft problematische und repressive Welten schaffen können, die materiell in Praktiken und symbolisch in Diskursen verankert sind. In dieser Perspektive ist Forschung nie „objektiv“, sondern eine materiell-semiotische Kraft, die eine gesellschaftliche oder politische Agenda mit entsprechenden Dispositiven impliziert. Da Haraway in ihrer Konzeption von Wissenschaft als in Erzählung eingebettete soziale Konstruktionen von Wissensobjekten ausgeht, stellt sich die Frage, ob allein das Spiel rhetorischer, erzählerischer Strategien schon die Hervorbringung von Welten verbürgt. Um dieses Problem zu lösen, hebt Haraway die Verkörperung des Wissens hervor und erläutert, dass in diesen Welten Körper hervorgebracht werden, in denen ein spezifisches Wissen verankert ist: Mir würde eine Lehre der verkörperten Objektivität zusagen, die paradoxen und kritisch-feministischen Wissenschaftsprojekten Raum böte: Feministische Objektivität bedeutete dann ganz einfach situiertes Wissen.48
Mit diesem Kniff rückt Haraway die Partikularität und Verkörperung des Wissens – die Lokalisierbarkeit und Verortung von Erkenntnisansprüchen – ins Zentrum. In dieser kritisch poststrukturalistischen Richtung geht die Wirklichkeit nicht in Konstruktionen auf, sondern sie kann auch „zurückschlagen“. Die soziale und materielle Umgebung ermöglicht Forschung, kann sich ihr aber auch entziehen.49 Haraway geht es darum, dass „Sichtweisen einen Ort haben“, dass Wissenschaft Verantwortung übernimmt – was bedeutet, dass diese kritisierbar ist und zur Rechenschaft gezogen werden kann. Da dies nicht gewährleistet ist, wenn Wissenschaftler_innen aus dem „göttlichen Nichts“ sprechen, ist es notwendig die Position(en) der Forscher_innen zu markieren. Denn „Positionierung ist daher die entscheidende wissensbegründende Praktik [. . .] [sie] impliziert Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen.“50
48 | Haraway 2007, S. 310. 49 | Ebd. 50 | Ebd., S. 314.
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Dass die Forderung nach einer Selbstpositionierung der Forscher_innen durchaus auch Fallstricke bergen kann, deutet sich bei Bourdieu folgendermaßen an: Zu proklamieren: „Ich bin ein bürgerlicher Intellektueller!“, wie das Sartre gerne getan hat, hat wenig oder gar keine Folgen. Aber wenn ich sage: „Ich bin ein Assistent aus Grenoble, der mit einem Pariser Professor spricht“, dann zwingt mich das, mir die Frage zu stellen, wieviel vielleicht nicht Wahrheit, aber doch Wahrheit über diese Beziehung in dem steckt, was ich sage.51
Es hat tatsächlich kaum analytischen Gewinn sich so zu verorten, wie Sartre das getan hat. Es geht vielleicht viel weniger um ein Positionieren, als vielmehr ein beständiges In-Beziehung-Setzen, Kontextualisieren.52 Das heißt: Mit der Rede von der Situiertheit des Wissens und der Verortung als Forscher_in geht es mir nicht um die mittlerweile übliche Positionierung zu Beginn eines Forschungstextes als „weiß, christlich sozialisiert, heterosexuell etc.“. Diese ritualisierten Priviligierungsbekenntnisse, die sich häufig in Einleitungen zu wissenschaftlichen Texten finden, stehen als Symbol ohne Transformationspotential und gehen oftmals mit einer Annahme von Eindeutigkeit, der Reproduktion einer binären Logik oder der Ausblendung anderer Positionierungen einher. Eine solche Perspektive auf kritische Wissensproduktion greift meines Erachtens zu kurz. Ich könnte mich zum Beispiel hier als weiße, nicht-behinderte, in viele Richtungen liebende Person positionieren. Aber diese Aneinanderreihung sozialer Attribute wird meiner kontextspezifischen, sich entwickelnden Identität kaum gerecht. In Forschungsinteraktionen und -situationen wird durchaus deutlich, dass Positionierungen als sozial bedeutsame Differenzkategorien einen Einfluss auf meine Feldforschung und den Auswertungsprozess der Daten gehabt haben. So bin ich – in Deutschland geboren, mit einem deutschen Pass – unweigerlich in Herrschaftsverhältnisse verstrickt, produziere als Forscherin Wissen, beteilige mich an Debatten, kategorisiere, (co)konstruiere Visual Kei oder interveniere. Kurz: Ich bin nicht „nur“ Kritikerin, sondern „zugleich“ Kritisierte. Auf diese Problematik weist auch Hannah Meißner in Anlehnung an Judith Butlers Kritik des feministischen Subjekts hin:
51 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 231. 52 | Darauf weist auch die Kulturanthropologin J. Robertson (2002, S. 790) hin, wenn sie schreibt: „Family history, ethnicity, sexuality, disability, and religion, among other distinctions, can be usefully woven into an ethnographic narrative, but only if they are not left self-evident as essentialized qualities that are magically synonymous with self-consciousness, or, for that matter, with intellectual engagement and theoretical rigor. Their usefulness must be articulated and demonstrated because such distinctions are not fixed points but emerge and shift in the contiguous processes of doing and writing about fieldwork.“
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Es gibt keine Position, die außerhalb oder jenseits der Macht steht – also auch keine Kritiker_innen, die außerhalb der Macht stehen. Auch das Subjekt, das Kritik formuliert, das widerständige Subjekt, ist durch Ausschließungen konstituiert: Das feministische Subjekt wird im Rahmen der Machtund Herrschaftsmodelle konstituiert, gegen die der Feminismus antritt. Damit will Butler nicht jede feministische Kritik von vornherein als unmöglich verwerfen, vielmehr geht es ihr darum, die Grundlagen der Kritik sichtbar und somit hinterfragbar zu machen, indem sie den Blick darauf lenkt, welche Normen gesetzt werden und wer und was dadurch ausgeschlossen wird.53
Dem folgend könnte ich fragen, welche Normen durch mich und meine Forschung gesetzt, welche Ausschlüsse produziert werden? Als Akademikerin mit einem Stipendium, das mir den Lebensunterhalt sichert, habe ich Zugang zu verschiedenen Ressourcen in der akademischen Wissensproduktion – dies ist durchaus als Privileg zu verstehen. Aber: Es bleibt die Frage, welche Merkmale bedeutsam für den Forschungskontext sind, und welche Machtverhältnisse darin überhaupt relevant sind. Denn auf der anderen Seite erfahre ich als Nicht-Mann und Person mit einem bildungsfernen familiären Hintergrund auch Ausschlüsse im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft, die aber innerhalb der Feldforschung durchaus von Vorteil waren. Meine Position ist folglich nicht ungebrochen und es ist abhängig vom jeweiligen Kontext, welche Machtverhältnisse am Werke sind. Es besteht somit die Gefahr, die Fragen um Positionalität und Markierung – die Donna Haraway deutlich eingefordert hat – zu verkürzen und so lediglich zu einer Art „epistemologischer Elektroschocktherapie“54 zu gelangen. Doch warum ist es so gewinnbringend, mit Haraway auf ethnografische Forschung zu blicken? Für mich verweist Haraway beständig auf eine spezifische Forschungshaltung bzw. Forschungsperspektive: Die kritische Reflexion der Positionierung in Kontexten von Macht, Repräsentation, Legitimation und Interpretation. Diese Perspektive findet ihren Ausdruck im Forschungsansatz, in der Anlage des Forschungsdesigns, in den Begegnungen mit den Protagonist_innen im Visual Kei, in der Analyse bis hin zum eigentlichen Schreiben der Arbeit. Insbesondere die Arbeit mit ethnografischen Methoden, die mich in engen Kontakt mit Personen und Gruppen bringt, erfordert ein kritisches Bewusstsein darüber, wie ich den Protagonist_innen gegenüber diskursiv und materiell verortet bin. Soziale Unterscheidungen um die Kategorien Geschlecht, Klasse, Alter und Begehren waren konstitutiv für die Begegnung mit den Personen im Visual Kei, so wie sie konstitutiv für die meisten Lebens- und Beziehungspraxen sind. Das bedeutet für mich zu beden-
53 | Meißner 2010, S. 48. 54 | Haraway 2007, S. 307.
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ken, dass diese nicht erst im Akt der Repräsentation oder Darstellung eine Bedeutung erlangen. Sie strukturieren vielmehr als differenzierender Diskurs und materielle Differenz den gesamten Forschungsprozess. Die Offenlegung der subjektiven Positionierung der Forschenden zu gesellschaftlich relevanten Machtverhältnissen erweist sich so als wichtiger Bestandteil einer machtkritischen und reflexiven Forschungspraxis. Anders als Donna Haraways Kritik sind die Interventionen Pierre Bourdieus in die Debatte der Reflexivität in der Kulturanthropologie breit rezipiert. Doch werden sie auch ernst genommen? Es ist nämlich durchaus so, dass sich Bourdieus Haltung teilweise deutlich von anderen einflussreichen ethnografischen Ansätzen, wie z.B. denjenigen Rabinows in Reflections on Fieldwork55 unterscheidet. Bourdieu strebt Selbsterkenntnis nicht durch Introspektion im offenen und auch das eigene Vorverständnis zur Disposition stellenden Dialog mit dem von ihm untersuchten Feld an. Ihm geht es vielmehr darum, die sozialen Kategorien zu analysieren, denen er selbst angehört, ohne dabei über sich persönlich zu sprechen.56 Er setzt sich zum Ziel, „die eigene Position im Universum der kulturellen Produktion zu objektivieren, hier also im wissenschaftlichen oder akademischen Feld“.57 Auf diese Weise soll das „kollektive wissenschaftliche Unbewußte, das in die Theorien, Probleme und [. . .] Kategorien der akademischen Vernunft eingegangen ist“58 , unter Kontrolle gebracht und neutralisiert werden. Auch und vor allem innerhalb der Akademisierung feministischer Kämpfe war und ist es ein zentraler Aspekt, die Aufmerksamkeit auf die hegemonialen (Selbst -) Verhältnisse zu lenken und die eigene Position zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Wie aber kann ich darin der Vielschichtigkeit meiner Verortungen gerecht werden und aus dieser Positionierung analytischen Gewinn ziehen? Wie kann ich es vermeiden, lediglich in einen Forscher_innen-Narzissmus59 zu verfallen? Wie kann reflexive „Selbsterkenntnis“ erreicht werden?
55 | Rabinow 2007 [zuerst 1977]. 56 | Nur im posthum erschienenen Buch Ein soziologischer Selbstversuch spricht Bourdieu ausschließlich über die eigene Person, allerdings auch hier mit Blick auf die Felder und Aspekte, die seinen Habitus geprägt haben. (Vgl. Bourdieu 2002). 57 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 99. 58 | Ebd., S. 68. 59 | Vgl. ebd.
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Multidimensionale Selbst
Wir sind uns selbst nicht unmittelbar präsent. Selbsterkenntnis erfordert eine semiotisch-materielle Technologie, die Bedeutungen mit Körpern verknüpft. Selbstidentität ist ein schlechtes visuelles System, Verschmelzung eine schlechte Strategie der Positionierung.60
Mit ihrem Konzept des situierten Wissen hat Haraway wichtige Hinweise zur Verknüpfung von Körpern mit Bedeutungen und zur Performativität von Wissensobjekten gegeben. Wie aber können diese Überlegungen analytisch greifbarer gemacht werden? Shulamit Reinharz bezieht sich zwar nicht auf Haraway, gibt aber m.E. ein Werkzeug an die Hand, das hilft, diese Reflexionen ergiebiger zu machen und die unhinterfragte „Verschmelzung“ des Selbst zu vermeiden.61 Sie bietet einen Rahmen für die Analyse des „Selbst“ als zentrales Instrument (key fieldwork tool) der Feldforschung und fragt: „Why does the vast majority of fieldwork literature concern the research role in the field rather than the researcher’s self ?“62 Im Mittelpunkt zahlreicher methodologischer Überlegungen in der Kulturanthropologie – z.B. ethische Fragen verdeckter Forschungen, going native, Datenerhebung, Geschlechterfragen, Umgang mit illegalen Handlungen usw. – steht die Rolle der Forscher_innen im Feld. Was aber ist mit dem Selbst?63 Jerome Bruner betont in Acts of Meaning den Prozess des Narrativen in der Konstruktion und Kontinuität des Selbst: Freed of the shackles of ontological realism, a new set of concerns about the nature of the Self began to emerge, rather more ‘transactional’ concerns. Is not Self a transactional relationship between a speaker and an Other [. . .] Is it not a way of framing one’s consciousness, one’s position, one’s identity, one’s commitment with respect to another? Self in this dispensation, becomes „dialogue dependent“, designed as much for the recipient of our discourse as for intrapsychic purposes.64
60 | Haraway 2007, S. 312 f. 61 | Vgl. Reinharz 1997, 2011. 62 | Reinharz 1997, S. 3. 63 | Eine Ausnahme stellen die Überlegungen von Probyn (1993, S. 1) dar, die das feministische Selbst in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rückt: „as a concept, this self designates a combinatoire, a discoursive arrangement that holds together in tension the different lines of race and sexuality that form and re-form our senses of self. [. . .] The coherency of the self is opened up and its movement into theory creates the possibility of other positions.“ 64 | Bruner 1990, S. 101.
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Diesem folgend verstehe ich das Selbst als soziale Konstruktion, die während der Interaktion mit anderen hergestellt wird, bestimmte Narrative werden konstruiert.65 Diese narrativen Prozesse sind grundlegend für soziale Interaktionen, eingeschlossen denen, die während der Feldforschung passieren. Reinharz argumentiert, dass es nicht das eine kohärente Selbst im Forschungsprozess gibt, dass wir nicht nur „das Selbst ins Feld bringen [. . .] sondern das Selbst auch im Feld erschaffen“66 , es also abhängig von den Interaktionen und Handlungen im Feld ist. Aus der Untersuchung ihrer Feldnotizen aus einer Kibbuz-Studie generiert sie 20 verschiedene „Selbst“ und ordnet diese drei Grundmustern zu: ein forschungsbezogenes Selbst, ein mitgebrachtes Selbst und ein situiertes Selbst. Das forschungsbezogene Selbst ist Ausdruck des doing research, es ist das, was mich als Forscherin mit meinen Perspektiven und wissenschaftlichen Hintergründen ausmacht. Das mitgebrachte Selbst ist das Selbst, das historisch und sozial unsere persönlichen Standpunkte begründet. Das situierte Selbst, welches im Feld erschaffen wird, ist Produkt der Normen, des sozialen Settings und der Art und Weise, wie die Protagonist_innen des Feldes mit dem mitgebrachtem Selbst der Forscher_innen interagieren.67 Eine Wissenschaftlerin zu sein ist demzufolge nur ein Aspekt meines Selbst. Und auch wenn dieses forschungsbezogene Selbst für mich das zentrale Moment im Forschungsprozess darstellt, muss das von den Protagonist_innen nicht unbedingt so wahrgenommen werden. Damit übt Reinharz grundlegende Kritik an den Reflexivitätsübungen in der Kulturanthropologie, die eindimensional nach der Rolle der Forscher_innen im Feld fragen: Methodological literature currently overlooks the variety of attributes that researchers bring to the field; similarly, it minimizes the wide range of selves created in the field. Because these ‘brought’ and ‘created’ selves are those that are relevant to the people being studied, they shape or obstruct the relationships that the researcher can form and hence the knowledge that can be obtained. Thus, these selves affect the researcher’s ability to conduct research.68
65 | In ihren Überlegungen zur Trauer fasst Butler das „Selbst“ in einer ähnlichen Richtung: „The very ‘I’ is called into question by its relation to the one to whom I address myself. [. . .] We’re undone by each other. And if we’re not, we’re missing something.“ (Butler 2004c, S. 19). 66 | Reinharz 1997, S. 3, Übersetzung N.H. 67 | Vgl. Reinharz 1997, 2011. 68 | Reinharz 1997, S. 4.
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Hiermit lässt sich hervorragend an die Positionalisierungsdebatten poststrukturalistischer Forschung anschließen: Denn nur, wenn die Forschenden (und letztendlich auch die Leser_innen) wissen und offenlegen, welche Selbst(positionierungen) in der Forschung relevant waren und wie sich die Protagonist_innen dazu verhalten haben, kann das untersuchte Phänomen und die daraus entstandenen Ergebnisse verstanden werden. Dies schließt ebenso an Debatten um Intersektionalität an, in denen davon ausgegangen wird, dass Geschlecht nicht losgelöst von anderen sozialen Kategorien – wie race, Alter oder Klasse – diskutiert werden sollte: The notion of multiple selves is one way of operationalizing the popular theory of ‘intersectionality’, which is properly driving feminist theory away from essentialism and ethnocentrism to a much nuanced and broader understanding of social structure. [. . .] It is not only society that is organized in this way but also the person herself. I recommend that we understand the self in the field not as an accumulation but rather as an intersection of selves.69
Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass auch ich als Person in prozesshafte machtvolle Strukturen verwoben bin, und auch meine eigene Verortung im Forschungsprozess nicht fixiert und kohärent ist. Daher habe ich versucht, verschiedene, teilweise auch widerstreitende Beziehungen, Narrative und Positionen sichtbarer zu machen. Schon bei Malinowski sieht man – seit der der posthumen Veröffentlichung seiner Tagebücher70 – wie schwer es ist, verschiedene Positionen des „Ichs“ zu vereinbaren: Auf der einen Seite steht der verstehende Kosmopolit, der sich in jede beliebige Situation hineinversetzen kann, auf der anderen steht der disziplinierte, gründliche und leidenschaftslose Forscher, wie Clifford Geerts aufgezeigt hat.71 Dieser Befund wird auch durch andere Studien gestützt: So zeigt zum Beispiel Carol Ronai in dem (auto)ethnografisch angelegten Text über das Stripteasetanzen72 , wie gelebte Erfahrung von einer Reihe widersprüchlicher, sich verändernder, flüchtiger Bedeutungen geprägt ist. Sowohl die Selbstpositionen der Tänzerin als auch die der Forscherin ist nicht immer eindeutig bestimmbar. Ihre endgültige Signifikanz wird permanent aufgeschoben, kommt nicht im Jetzt an und lässt sich nicht fixieren. Sobald über sie nachgedacht wird, verschwinden sie in einem Strudel von Bedeutungen, Markierungen und Spuren. In ihrer Studie versucht Ronai daher, die beiden Positionen zueinander in Beziehung zu setzen und das binäre Konstrukt Tänzerin versus
69 | Reinharz 2011, S. 206. 70 | Malinowski 1999. 71 | Vgl. Geertz 1993. 72 | Ronai 1998.
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Forscherin zu durchkreuzen. Dabei wird die (endgültige) Bestimmung der Differenz zwischen den Positionen immer auf eine spätere Zeit verschoben. The meaning of being a researcher or a dancer is not inherently present in itself. These identities exist in the traces of the past and in the context of the unfolding situation as it dissolves into the future. The final meaning of what it means to be a dancer or a researcher is always deferred because there is no absolute starting point from which to triangulate these identities.73
Die Dekonstruktion ihrer Position als Forscherin und Tänzerin ist für Ronai die Voraussetzung für das Erleben von Vieldeutigkeit, die zu neuen Erfahrungen führt. Ihre Studie verdeutlicht, dass es in einer poststrukturalistisch orientierten Ethnografie weniger um Beschreibung als um Momente der Einschreibung geht, in denen Forscher_innen eine situierte Version der untersuchten Welt schaffen. Die Erkenntnis, dass ich verschiedene Dimensionen des Selbst habe, und diese im Feld verändert oder gar erst geschaffen werden können, kann zu einer differenzierten Reflexion der Forschungsbeziehungen beitragen, und dies ohne in eine Befindlichkeitsliteratur74 abzugleiten. So habe ich – diesen Gedanken aufgreifend – in die Analyse meiner Interviews und Feldnotizen eine Betrachtung der Chronologie meines Selbst einbezogen. Ich stellte fest, dass ich mich in der Feldforschung auf verschiedene Weise auf mich selbst bezogen habe, wie verschiedene Aspekte meines Selbst im Verlauf der Forschung in den Mittelpunkt gerückt sind. Zu Beginn habe ich mich noch oft als Forscherin mit ihren Unsicherheiten beschrieben und auch als Forscherin agiert. Im Verlauf der zweijährigen Feldforschungsphase sticht jedoch meine queer-feministische Position heraus, die sich in der Sensibilität für „versteckte“ und wenig beachtete Stimmen und „Identitäten“ niederschlägt und mich nah an die Protagonist_innen herangeführt hat. Wie sehr verschiedene Positionen des Selbst, aber auch gesellschaftliche Machtverhältnisse, die intersubjektive Dynamik in meiner Forschung, in den Begegnungen mit den Protagonist_innen, geprägt haben, zeigte sich vor allem dann, wenn sich der Gesprächsverlauf änderte, nachdem ich mich in den Gesprächen selbst positioniert habe: Bei meinen Gesprächen mit cis-Frauen75 und transgeschlechtlich verorteten Personen zu Fragen des Begehrens schwebte nach meiner Wahrnehmung immer eine eigenartige Spannung des Unaussprechbaren im Raum, die sich meist dann löste, wenn ich mich dazu „bekannte“ (neben anderen Geschlechtern) auch Frauen zu
73 | Ebd., S. 419. 74 | Bourdieu 1992, S. 366. 75 | Cis-geschlechtlich bezieht sich auf Personen, bei denen Geschlechtsidentität und körperliches Geschlecht zusammenfallen. (Vgl. Serano 2007).
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begehren. Solange, wie ich den Protagonist_innen lediglich mit meinem forschungsbezogenen Selbst gegenübertrat, waren Antworten zurückhaltend, ausweichend und zögerlich. Doch sobald ich mein mitgebrachtes Selbst ins Spiel brachte, war es für die Protagonist_innen einfacher sich zu mir in Beziehung zu setzen und teilweise bekam ich danach, wenn nicht gänzlich andere, so zumindest komplexere Antworten auf meine Fragen. Ich nehme an, dass ich dann meist als „lesbisch“ gelesen wurde, aber nach dieser Verortung gewann das Gespräch meist an Tiefe; Distanz und Unsicherheiten wurden abgebaut. In Gesprächen mit den wenigen heterosexuellen cis-Männern gab es selten diese Momente, in denen ich mich so deutlich als „anders liebend“ positioniert habe. Diese Gespräche waren viel direkter, weniger tastend und nach einer gemeinsamen Basis suchend. Ich gehe davon aus, dass hier eine heterosexuelle Struktur als selbstverständlich gesetzt wurde. Es gab gar keinen Bedarf meines Gegenübers, sich mit mir zu solidarisieren, vorsichtig meine Position zu Homosexualität zu erfragen, um so überhaupt in einem geschützten Rahmen über nicht-normatives Begehren, Geschlechtlichkeiten und Körper reden zu können. Dies verweist mich erneut an Haraway, denn das gespaltene und widersprüchliche Selbst kann Positionierungen in Frage stellen und zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist in der Lage, auf eine geschichtsverändernde Weise rationale Debatten und Imaginationen zu konstruieren und zu verbinden. Aufspaltung, nicht Sein, ist das bevorzugte Bild für feministische Epistemologien wissenschaftlichen Wissens.76
Meine Positionen des Selbst waren also situationsspezifisch und teilweise veränderbar: In Begegnungen mit jungen Protagonist_innen war ich meist die ältere, erfahrenere Frau, bei den Treffen mit Miku die bisexuelle Freundin, bei den Interviews mit den heterosexuellen cis-Männern einfach irgendeine heterosexuelle Frau und in Interaktionen mit Universität oder Stiftung antwortete ich als queer-feministisch engagierte Person.77 Diese Art der Analyse führt zu dem Schluss, dass es nicht das eine vage Selbst gibt, sondern vielmehr mit dem Verlauf der Zeit eine Reihe wichtiger Selbst erkennbar werden, die alles andere als arbiträr sind.
76 | Haraway 2007, S. 313. 77 | Doch nicht nur meine Positionen des Selbst haben sich als vielschichtig dargestellt: Insbesondere Forschungen zu Ethnizität zeigen, dass „people’s conceptions of themselves along ethnic lines, especially their ethnic identity, [are] situational and changeable“ (Nagel 1994, S. 154). In Analogie dazu kann davon ausgegangen werden, dass auch die Protagonist_innen im Visual Kei über multidimensionale Selbst verfügen.
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Sprache und Repräsentation Eine wichtige Dimension meines mitgebrachten Selbst war die Beherrschung verschiedener Sprachen. Damit meine ich nicht Fremdsprachen, sondern die Fähigkeit unterschiedliche Facetten der deutschen Sprache zu beherrschen: Wenn Personen aus Berlin und Umland Dialekt gesprochen haben, habe auch ich mich dem angepasst und „berlinert“. Wenn sehr einfach oder auch sehr komplex gesprochen wurde, habe ich das ebenso aufgegriffen. Wenn bestimmte Begriffe fielen, die unter Jugendlichen gerade en vogue sind – z.B. „mäcces“ für McDonalds – konnte ich diese recht schnell übersetzen. Anfangs eher unbewusst geschehen – denn ich fühle mich in all diesen Sprachen „zu Hause“ – habe ich später realisiert, dass mir dieses Vorgehen und diese Fähigkeit an einigen Stellen den Zugang erleichtert haben. Der Facettenreichtum der Sprache hat es mir ermöglicht, als vielschichtige Person im Feld zu sein und mich auch immer wieder in einer „gemeinsamen“ Sprache mit den Protagonist_innen zu verständigen. In der Kommunikation und auch beim Schreiben dieser Arbeit wurde deutlich, wie wichtig es ist, eine angemessene sprachliche Ebene zu finden. Wenn Sprache Wirklichkeit hervorbringen kann, so erfordert gerade eine Übertragung queertheoretischer Perspektiven in die ethnografische Forschungspraxis einen spezifischen Umgang mit Sprache: In der Kommunikation mit den Protagonist_innen und beim Schreiben des Textes war es mir wichtig, auch Sprache als Machtmittel zu reflektieren, das eine Co-Produktion und Aushandlung von verschiedenen Interpretationen ermöglichen oder verhindern kann. Ganz anders argumentiert zum Beispiel Bourdieu, der zwar sagt: „Die Soziologie wäre keine Stunde der Mühe wert, sollte sie bloß ein Wissen von Experten für Experten sein.“78 Und dennoch zeichnet sich sein wissenschaftliches Werk durch einen komplexen Satzbau und eine oft beklagte Kompliziertheit der Sprache aus. Und er streicht immer wieder deutlich heraus, dass „jedes unserer Worte eine soziale Konstruktion [ist], die bereits sozial konstruierte Konstruktionsinstrumente benutzt. Die einfache Tatsache des Sprechens ist ein sozialer Konstruktionsakt, der präkonstruierte Worte verwendet.“79 Es geht Bourdieu durchaus darum, Sprache als Erkenntniswerkzeug zum Erkenntnisgegenstand zu machen und damit die Grenzen der Erkenntnis aufzudecken. Und so begründet er seinen kompromisslos komplexen Stil mit der komplexen Struktur der sozialen Welt, von der eine angemessene Vorstellung zu ver-
78 | Bourdieu 1993, S. 7. 79 | Bourdieu 1997b, S. 220 f.
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mitteln sei. Eine Vorstellung, die nicht nur die soziale Wirklichkeit theoretisch und empirisch valide abbildet, sondern zugleich auch die spezifische Stellung der Forschenden zu dieser Wirklichkeit.80 Dennoch: Grundsätzlich mag es sein, dass nur ein gewisser Abstraktionsgrad gesellschaftliche Phänomene erklärbar macht und der Komplexität von Wirklichkeit gerecht wird. Hier stellt sich jedoch die Frage, wie gerade mit einem politischem Anspruch die Theoretisierungen in konkrete Alltagswelten übersetzt werden können? Wie kann der Forschungsprozess und die Ergebnisse für die Protagonist_innen zugänglich und nachvollziehbar gemacht werden? In einem kürzlich erschienenen Interview über Sprache, Herrschaft und Diskriminierung macht Lann Hornscheidt deutlich, wie eng Sprache und gesellschaftliche Veränderungen zusammenhängen. Hornscheidt betont, „dass Sprachpolitik immer ein ganz wichtiger Teil von politischen Bewegungen ist und war. Immer wenn sich neue Bewegungen herausgebildet haben, waren zentrale Fragen: Wie benennen wir uns, wie reden wir über andere und welche Sprachformen benutzen wir?“81 Ich gehe zwar davon aus, dass Sprache der Komplexität des Gegenstandes gerecht werden muss, sie muss jedoch auch ermöglichen (abseits von wissenschaftlichen Debatten) in einen Dialog mit den Leser_innen und Protagonist_innen zu gehen. Gerade in einer ethnografischen Analyse sind auch die Protagonist_innen des Feldes als Expert_innen ihrer Sache zu betrachten. Hier zeigt sich, wie erneut Haraway mit ihren Überlegungen zu Übersetzung die empirische Arbeit inspirieren kann: Wie können unterschiedlich verortete Wissensformen – vermittelt über Sprache – in Kontakt treten, sich aufeinander beziehen und dabei neue Verbindungen und neues Wissen ermöglichen? Welche Rolle spielen Verkörperungen dabei? Was oftmals unbeachtet bleibt: Der Text Situiertes Wissen heißt auf Englisch Situated Knowledges – also Wissen im Plural. So wird schon im Titel angedeutet, dass es um vielfältige und heterogene Wissensformen geht. Haraway schlägt vor, dieses Wissen zu übersetzen und in andere Kontexte zu überführen. Übersetzungen sind dabei „immer interpretativ, kritisch und partiell, [. . .] [sie sind] eine Basis für Konversation“82 und somit unabdingbar für die Konstitution neuer partialer Verbindungen. So gehe ich zum Beispiel davon aus, dass es wichtig ist, die abstrakte Sprache der Queer Theory greifbarer zu machen. Denn nur wenn die Sprache der Forschenden den erforschten Subjekten zugänglich und verständlich ist, können diese sich sinnvoll auf sie beziehen und in Aushandlungsprozesse eintreten. In der wechselsei-
80 | Vgl. Bourdieu 1992. 81 | Hornscheidt 2012. 82 | Haraway 2007, S. 316.
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tigen Bezugnahme von queertheoretischen und ethnografischen Ansätzen gilt es also, die oft sehr abstrakte, theoretische – und damit auch exklusive – Sprache der Queer Theory zu übersetzen und anschlussfähig zu machen.83 Übersetzungen finden jedoch nicht nur auf sprachlicher Ebene statt, sie sind ebenso auf inhaltlicher als auch auf ganz praktischer Ebene relevant. Academia, zwei Visus und ich Um ein Beispiel für eine solche Übersetzungsleistung zu geben, möchte ich einen Eintrag aus meinem Forschungstagebuch aufgreifen, der ein Erlebnis bei einem meiner Vorträge über meine Forschungsarbeit zusammenfasst. Zu diesem Vortrag wurde öffentlich eingeladen und so kam es, dass zwei Protagonist_innen des Feldes gleich in der ersten Reihe Platz nahmen und schon vor Vortragsbeginn die von mir an die Wand geworfenen Fotos kommentierten. Der Saal der Glockenbachwerkstatt in München füllt sich zügig und es sind ca. 70 Personen anwesend (größtenteils Publikum aus den Gender Studies und der Japanologie). Zwei Protagonist_innen des Visual Kei, die ich nicht kenne, setzen sich direkt in die erste Reihe und erkannten sogleich Takiyuki auf den Bildern an der Wand und kommentieren meine Musikauswahl, was ich mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis nehme. Als sich die beiden direkt vor mir postieren, bekomme ich Herzrasen, habe große Sorge, dass die beiden meinen Vortrag torpedieren könnten, mich bloßstellen könnten. Andererseits bin ich auch gespannt, wie die beiden wohl auf meine Interpretationsansätze reagieren werden. Auch hier die Angst der Forscherin vor dem Feld, die Angst vor dem Scheitern. Ich überlege mir schnell, dass ich besonders vorsichtig argumentieren sollte und wie ich im Falle eines Schiefgehens vorgehen könnte. Doch keine Zeit für lange Überlegungen: Ich muss anfangen. Der Vortrag verläuft sehr gut, sehr lebendig und hin und wieder nicken die beiden zustimmend. Sogar kurze Kommentare zu Bands, Musik oder Stil tauschen wir während des Vortrags aus, und ich beginne durch Rückfragen immer mehr mit den beiden zu kommunizieren. Trotz dieser schwierigen, mehrdimensionalen Situation werde ich gelassener und freue mich darüber, erste Ergebnisse so direkt rausgeben und diskutieren zu können. Wir drei haben eine Ebene gefunden, auf der wir uns verständigen können. In der Diskussion werden die beiden noch aktiver, antworten teils selbst auf Nachfragen. Ich habe ein wenig Sorge, dass die beiden „exotisiert“ werden und ich hier als Wissenschaftlerin mit den Subjekten der Forschung sitze und diese in einem akademisch geprägten Rahmen vorführe. Die beiden sind allerdings so souverän und sicher in dem was sie tun, dass diese Sorge
83 | Vgl. Heymann 2012, S. 419.
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wohl unbegründet ist. Sie solidarisieren sich quasi mit mir und bestätigen meine Ausführungen, machen diese lebendiger. Das hat sich angefühlt wie Feldforschung „at its best!“ Im Anschluss an die Veranstaltung tauschen wir kurz Facebook-Adressen aus, ich bedanke mich bei ihnen und wir unterhalten uns über den Vortrag. Beide sagen mir, wie „erhellend“ und interessant sie diesen fanden. Ich bin so erleichtert, dass es mir gelungen ist meine Forschung so darzustellen, dass beide damit etwas anfangen konnten, sie sich darin wiederfinden. Einige Tage später schreibt mir eine_r der beiden auf Facebook, dass ihn der Vortrag dazu angeregt hat, sich mit seiner Position in der Subkultur auseinanderzusetzen, es hat ihn berührt und ihm ein neues Nachdenken darüber ermöglicht. Besonders gefallen hat ihm die Idee des „Möglichkeitsraums“, auf den er sich in seinen Kommentaren in der Vortragsdiskussion ebenfalls mehrmals bezog. Die theoretische Einbettung und Interpretation vor dem Hintergrund von Subjekt- und Praxistheorie schien ihm sehr abstrakt zu sein und er betonte, dass er diesen „ethnologischen“ Input nicht in Gänze verstanden hat. Die Übersetzung ist so nicht gänzlich gelungen, doch es ist ein Austausch in Gang gekommen, der über meine bisherige Forschungserfahrung hinausgeht.84
Aus dem bisher Gesagten folgt für mich, dass es möglich ist, Begriffe gemeinsam zu verhandeln, eine gemeinsame Sprache zu finden, die trotz der befremdenden Wirkung theoretischer Konzepte dazu beiträgt, partiale Verbindungen einzugehen. Die Feldforschungserfahrungen zeigten jedoch auch, dass es notwendig ist, meinen Umgang mit Begriffen und Kategorien, die der Arbeit zugrunde liegen, zu reflektieren. Wenn allein Sprache einen großen Vorrat an naturalisierten – als solche nicht erkannten – Präkonstruktionen, die unbewusste Konstruktionswerkzeuge darstellen, bereithält, wie kann ich dann Formen des Begehrens, der Sexualität, Körper und Geschlecht sprachlich greifbar machen ohne spezifische Positionen auszublenden, zu normalisieren oder zu reifizieren? Das Scheitern der Kategorien
We might ask ourselves, as ethnographers of queer lives, while we are busy deconstructing the discourses and categories that produce our informants subjectivities, to what extent are we willing to be ‘pulled apart’ or undone? Are we willing to risk relinquishing our often unspoken attachment to the categories that offer us a sense of ontological security?85
84 | Vortrag im Gender Salon; Forschungstagebuch vom 29. Januar 2012. 85 | Rooke 2009, S. 154.
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Diese „Aushandlung von Begriffen“ sehe ich jedoch nicht als Problem der Übersetzung oder Störung meiner Beziehung zu den Protagonist_innen, sondern vor allem als wichtige Quelle über meine und deren Vorstellungen bestimmter Kategorien und Zuschreibungen. Sie sind ein wichtiger Anlass um zu klären, woher die Begriffe und Kategorien der Forschung kommen und warum ich diese setze.86 Wie (re)produziere ich in meiner ethnografischen Forschung Kategorien, wenn gerade queere Epistemologien mich auf die Instabilität, Fluidität, Kontingenz und Prozesshaftigkeit von Subjektivierungen, Identitäten und Verkörperungen hinweisen? Meine Forschungspraxis war bestimmt von einem Nebeneinanderstellen meiner Erfahrungen und Narrative neben die der Protagonist_innen des Visual Kei, einem fortwährendem Abgleich der Positionen. In Gesprächen, E-Mails und Interviews habe ich versucht, meine Fragen so offen wie möglich zu halten und einen Raum für viele verschiedene Selbstpositionierungen zu öffnen und offen zu halten, da sich über den langen Zeitraum der Feldforschung die Verortung einzelner Protagonist_innen auch ändern kann. Über die Zeit der Feldforschung hinweg ist jedoch ein Unbehagen an Kategorisierungen und viele Fragen dahingehend aufgetaucht, wie ich diese setze. Dazu gebe ich im Folgenden einige Beispiele. Geschlecht als Analysekategorie Im Verlauf von Feldforschung und begleitender Analyse wurde immer deutlicher, dass Geschlecht bzw. geschlechtlich codiertes Handeln eine der zentralen Kategorien ist, die im empirischen Material angelegt ist. Andere Häufungen betreffen den Bezug auf Japan, Authentizität, Alter, Körper und Begehren. Da vor allem Verkörperungen und sexuelle Orientierungen eng mit Fragen des Geschlechts verbunden sind, habe ich mich aus analytischen Gründen dazu entschieden, die Kategorie Geschlecht zentral zu setzen und die anderen Begriffe relational dazu in Beziehung zu setzen. Die Problematisierung von Körpern und Verkörperung läuft in einer praxistheoretisch angelegten Arbeit ohnehin immer mit. Doch war diese Setzung richtig, wenn Isabell Lorey aus Sicht der Geschlechterforschung konstatiert: Dass Gender als Analysekategorie zu gelten hat, ist mittlerweile zum kaum noch hinterfragten „erkenntnisleitenden Paradigma“ (Hornscheidt 2007)
86 | Dies weist ebenso darauf hin, dass meine Beziehung zu den Protagonist_innen und zu meinem Forschungsthema an sich schon eine wichtige und interessante Datenquelle ist. Die Akteur_innen im Feld sind nicht rohe, prätheoretische Quellen der Praxis, sondern vielmehr aktive Produzent_innen ihrer eigenen Interpretationen, die mit den meinen konkurrieren. Ich habe sozusagen die Rolle der Mittlerin zwischen zwei kulturellen Welten, zwischen meiner Position und den Positionen der Protagonist_innen des Visual Kei.
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deutschsprachiger Geschlechterforschung avanciert. Die hegemoniale Perspektive ist gekennzeichnet durch kategoriale Einordnung und Festlegung, ohne dass deren konstitutives Scheitern im Erfassen heterogener Praxen und Erfahrungen systematisch mitgedacht würde.87
In der deutschsprachigen Europäischen Ethnologie sind es jedoch immer noch wenige Forschungen88 , für die Geschlecht als Kategorie der Analyse zum „erkenntnisleitenden Paradigma“ gehört – und dies gilt insbesondere für queer-feministische Perspektiven. Doch was meint Isabell Lorey hier mit dem „konstitutiven Scheitern“ der Kategorien? Drückt sich im Scheitern der Kategorien mein Unbehagen an den Zuordnungen zu „Mann“, „Frau“, „maskulin“ oder „feminin“ aus? Über Geschlecht und empirische Forschung ist bei Carol Hagemann-White in einem Grundlagentext zu lesen: Ähnlich verhält es sich in der Interviewsituation. Hier muß ich die Geschlechtszugehörigkeit meines Gegenübers von Anfang an als Naturtatsache, als Selbstverständlichkeit anerkennen, denn es würde den notwendigen Rapport schwer stören, wenn die Interviewerin Zweifel andeutete oder auch nur nachfragte. Ich begebe mich beim Interview (gleiches gilt z.B. für die teilnehmende Beobachtung) in die Alltagswirklichkeit, in der die Konstruktion des Geschlechts real unsichtbar ist. Bin ich jedoch erst einmal „innen drin“ im gemeinsamen interaktiven Vollzug, verschwinden die Kriterien dafür, welche Äußerungen oder Verhaltenselemente zur Geschlechtskonstruktion beitragen oder durch die Notwendigkeit hervorgerufen werden, das Geschlecht besser kenntlich zu machen. Die „Geschlechterrelevanz“ dessen, was meine „Forschungsobjekte“ tun und lassen, müßte ich vorgängig identifiziert haben, um meine Aufmerksamkeit im Untersuchungsprozeß selbst darauf lenken zu können.89
Ich würde Hagemann-White hier nur eingeschränkt zustimmen. Es ist zunächst richtig, dass ich die geschlechtliche Selbstverortung der in die Forschung involvierten Personen uneingeschränkt anerkennen muss. Ebenso richtig ist es, dass Geschlecht so sehr in die Alltagspraxen von Subjekten eingelassen ist, dass es schwierig sein kann, ihnen auf die Spur zu kommen. Aber gerade hier, so möchte ich argumentieren, kann ein praxeologischer Zugang hilfreich sein, denn darin werden Geschlechterpraxen betrachtet. Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass es möglich und sinnvoll ist, die Felder der Konstruktion „vorgängig“ zu identifizieren. In meiner Forschung sind erst in der abschließenden Analyse mit ihren verschiedenen Reflexionsstufen und oben beschriebenen Distanzierungen Bereiche der Alltagspraxis als geschlechtlich markiert
87 | Lorey 2008. 88 | Wie beispielsweise Hess 2009; Lipp 2001. 89 | Hagemann-White 1993, S. 74.
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und geschlechtlich relevant zu Tage getreten. Und ist es tatsächlich verallgemeinerbar, dass Subjekte ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht reflektieren, nichts dazu zu sagen haben? Was ist, wenn ich als Forscher_in gar nicht nachfragen muss, sondern vielmehr aus dem Feld heraus Fragen von Vergeschlechtlichung und Begehren thematisiert werden? Und selbst wenn die Protagonist_innen ihre ganz persönliche „Geschlechterrelevanz“ ausdrücken können, kann es passieren, dass uns der normativ geschulte Blick, das Denken in binären Kategorien in die Irre führt: Denn obwohl sich die Protagonist_innen im Visual Kei sich mir gegenüber mutig und offen als „Mann, Frau, Junge, Mädchen, irgendetwas dazwischen, Visu, Kerl, androgyn, heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder ich möchte als ‚er‘ adressiert werden“90 verortet haben und obwohl ich beladen mit meiner queer-feministischen Perspektive ins Feld gegangen bin, habe ich insbesondere in den ersten Wochen feststellen müssen, wie oft nicht schon z.B. das äußere Erscheinungsbild anderer dazu führte, dass ich eine Person ganz „natürlich“ zunächst in eine Kategorie steckte und mit deren Stereotypen beladen wahrnahm. Darauf verweisen zum Beispiel frühe Einträge in meinem Forschungstagebuch, in denen ich Personen anhand äußerer Merkmale in die Kategorien männlich und weiblich einordne. Und es gab auch Situationen, in denen gerade meine queer-feministische Perspektive zu Irritationen geführt hat. So habe ich zum Beispiel einmal Mero mit der Annahme angesprochen er sei als „Mädchen“ sozialisiert worden, möchte aber heute als männlich gelesen werden. Und ich bekam prompt die Antwort: tut mir leid dich enttäuschen zu müssen und ich weiß auch nicht von von wem diese information kommt, aber ich bin von geburt an ein junge ^^91
Ich hatte nicht nur Angst, Mero mit meiner Annahme verletzt zu haben, diese voreilige Ein- und Zuordnung hat ebenso meinem queer-feministischen Herzen einen Stich versetzt. Glücklicherweise hatte ich nach einer Entschuldigung noch weitere tolle Gespräche und E-Mails mit Mero, so dass der Kontakt dadurch nicht gefährdet war. Diese Episode zeigt, dass in der Kommunikation mit den Protagonist_innen verschiedene Verständnisse von Geschlecht und Begehren aufeinander prallen können, und meine Annahme des „als Mädchen sozialisiert“ für Mero missverständlich war. Jedoch hat diese Irritation meine Aufmerksamkeit vermehrt auf meine Wahrnehmungen, meine Bilder gelenkt, von denen ganz wesentlich auch die Darstellung und der
90 | Vgl. Forschungstagebuch vom 27. Oktober 2010 91 | Facebook-Nachricht von Mero, 28. Februar 2010.
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Verlauf der Forschungsarbeit abhängen. Im Kontakt mit den Protagonist_innen hat dies dazu geführt, dass ich fortwährend reflektiert habe: Wie sehe ich diese Person? An welchen Stellen ist mein Blick offen, an welchen normierend? Gehe ich gerade von heteronormativen Annahmen aus? Wie sehr prägt meine eigene Konzeption von „queer“ meinen Blick auf das Forschungsfeld? Ist zum Beispiel die Vorstellung einer Irritation der hegemonialen Geschlechtsdichotomien vor allem meine Imagination und weniger die der Visus selbst?92 Mittlerweile nimmt Mero Testosteron, strebt eine Personenstandsänderung nach dem „Transsexuellengesetz“ an und möchte eine Mastektomie (Entfernung der Brust) durchführen lassen. Seine Transition dokumentiert er mit einem Videotagebuch bei Youtube. Doch halten wir kurz inne – wie war das mit den Kategorien? Sind die hier klar? Ich denke nicht. Es zeigt sich hier zwar, dass Kategorisierungen und Zuschreibungen situativ gebunden, und damit auch veränderbar sind. Und es ist auch hilfreich, dass die queertheoretische Perspektive Gelegenheit gibt „noch mal viel radikaler Kategorienbildungen und die Vielzahl der Ordnungen, die sich in Alltag und Wissenschaft eingeschrieben haben“93 zu problematisieren. Doch wie finde ich eine Sprache für Meros Standpunkt, denn die Kategorie „Junge“ greift hier zu kurz, wenn ich das Dahinterliegende erfassen möchte. Gerade geschlechtliche und sexuelle Bezeichnungen und Kategorien haben mich mit ihrem notwendigerweise abstrahierenden, grenzziehenden und homogenisierenden Charakter an ein von Gamson als „queer dilemma“ identifizierten Konflikt geführt: Einerseits sind feste Identitätskategorien die Basis für Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse, andererseits können sie auch die Basis politischer Macht sein. Die Problematik, die in solchen Kategorien steckt, zeigt sich in den Spannungsverhältnissen politischen Handelns, wie Gamson anhand der Diskussion um die San Francisco Freedom Day Parade von 1993 verdeutlicht. Queerness in its most distinctive forms shakes the ground on which gay and lesbian politics has been built, taking apart the ideas of a “sexual minority” and a “gay comunity”, indeed of “gay” and “lesbian” and even “man” and “woman.” [. . .] The logic and political utility of deconstructing collective categories vie with that of shoring them up; each logic is true, and neither is fully tenable. [. . .] The challenge for analysts, I argue, is not to determine
92 | Der Einwand von Prosser (1998) gegen ein „queering from above“ gewinnt an dieser Stelle Bedeutung. 93 | Amelang et al. 2010, S. 13.
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which position is accurate, but to cope with the fact that both logics make sense.94
Angesichts gelebter Vielfalt und Widersprüchlichkeit sind Bezeichnungs- und Kategorisierungspraxen nicht nur zum Scheitern verurteilt, sie gelten durch den Fokus auf hierarchisierende Prozesse der Unterscheidung auch als Teil der zu problematisierenden Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich dann aber die Schwierigkeit, Subjektivitäten in ihrer Spezifik zu ermöglichen und Einspruch gegen homogenisierende Verallgemeinerungen zu erheben.95 Der Wunsch nach Inklusion von unterschiedlichsten Erfahrungen und Subjektivitäten resultiert oftmals in einem Verlust von Sprache und der Unfähigkeit, spezifische Lebenslagen zu benennen. Ich brauche also eine Sprache und eine Form, in der ich über Geschlecht und geschlechtliches Handeln schreiben und reden kann und dies im Angesicht des festgestellten Scheiterns der Kategorie Geschlecht. Hilfestellung kommt in dieser Frage von Judith Butler und ihren Ausführungen zu feministischer Bündnispolitik96 , die grundsätzlich von einer definitorischen Offenheit von Kategorien ausgeht, die keiner zwanghaften Einschränkung folgen und damit durchaus brüchig und divergent sein können: Das Argument, die Kategorie des „biologischen Geschlechts“ sei das Werkzeug oder die Wirkung des „Sexismus“ oder dessen anrufendes Moment, [. . .] das „soziale Geschlecht“ existiere nur im Dienste des Heterosexismus, zieht in diesem Sinne nicht nach sich, daß wir von derartigen Begriffen niemals Gebrauch machen dürfen, so als könnten diese Begriffe immer nur die unterdrückerischen Machtregime, von denen sie hervorgetrieben werden, aufs neue festigen. Weil jedoch genau diese Begriffe in derartigen Regimen hervorgebracht und eingeengt wurden, sollten sie in Richtungen wiederholt werden, die ihre ursprünglichen Ziele umkehren und verschieben.97
Butlers Konzeption von Performativität geht immer auch mit einer dezidierten Kritik an den Begriffen und Imaginationen einher, mit denen die infrage stehenden Phänomene beschrieben werden. Kategorien selbst sind als prozessuale Bezeichnungen zu fassen, ihnen liegt ein beständiges Werden und Konstruieren zugrunde und dieser Prozess ist als diskursive Praxis offen für Bedeutungsverschiebungen.98
94 | Gamson 1995, S. 390 f. 95 | Vgl. Engel 2002, S. 43. 96 | Butler 1991, S. 35. 97 | Butler 1997, S. 175 f. 98 | Butler (ebd., S. 303) spricht in diesem Sinne von einer „doppelten Bewegung“, bei der es darum geht, „die Kategorie anzuführen und dementsprechend eine Identität vorläufig zu stiften
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Demzufolge greife ich auf manchen Ebenen auf eine Benennung und Kategorisierung zurück, um bestimmte Sachverhalte überhaupt greifbar zu machen, versuche aber Ansprüche auf Stabilität und Eindeutigkeit zu vermeiden. Geschlechtliche Adressierungen habe ich zum Beispiel im Fortgang der Forschung erst verwendet, wenn die Forschungspartner_innen sich selbst mir gegenüber verortet haben. Wenn sich eine Person mir gegenüber als weiblich und bisexuell verortet hat, habe ich sie im Folgenden mit genau diesen Begrifflichkeiten angesprochen und konnte dann auch genauer fragen, was sie denn mit „weiblich“ oder „bisexuell“ genau meint, was sie darunter versteht, wie diese Kategorien auf ihren Alltag einwirken. Dennoch habe ich mich beständig gefragt, ob ich mit der Adressierung der Protagonist_innen als „Mädchen/Frauen“, „Jungen/Männer“ oder „heterosexuell/bisexuell/homosexuell“ – auch wenn diese Begriffe von ihnen selbst gesetzt sind – zu einer Normalisierung beitrage und bestimmte Kategorien verfestige. Diese Problematik im Blick, war es mir schon in der Anlage des Forschungsdesigns wichtig, eine nicht-normative Frage nach Geschlecht zu stellen und mit meinem Verhalten, meiner Adressierung der Protagonist_innen, die Möglichkeit für alle Positionierungen möglichst offenzuhalten. Dies führte zu zahlreichen Überlegungen schon im Vorfeld der teilnehmenden Beobachtung: Wie spreche ich die Leute eigentlich an? Wie kann ich über Geschlecht, Begehren, Körper und Sexualität reden, ohne dabei mit normativen Begrifflichkeiten Grenzen zu schaffen, wie unnötige Kategorisierungen vermeiden? Welche Rolle spielt dabei meine eigene Verortung und Körperlichkeit, wie positioniere ich mich in intersubjektiven Begegnungen? Welche Facetten meines Selbst werden in den Begegnungen mit den Protagonist_innen transportiert und wie wirken sich diese aus? Geschlecht begreife ich daher als eine kulturelle und zeitgeschichtliche Zuschreibung und damit als relationale, prozessuale Kategorie, die ich hier vor allem als „Arbeitsbegriff“ verwende. Stets im Hinterkopf habe ich dabei die Anregung Isabell Loreys, „das, was als unzuordenbar, als unzurechenbar gilt, in seiner Potenz wahrzunehmen, das heißt für Praxen offen zu sein, die keine Vorbilder haben und gleichsam durch das Raster fallen, für Praxen, die den Mut haben, sich zu verweigern und Neues zu erfinden.“99 Dass einige Praxen innerhalb des Feldes keine Vorbilder haben und sie damit als unzuordenbar erscheinen wurde in der Forschungspraxis sehr deutlich, wenn es um mein eigenes Ringen mit dem Begriff „Trans*“ ging. Für Einige war vielleicht sofort klar: Mero ist trans*. Doch stimmt das?
und die Kategorie gleichzeitig als einen Ort der dauernden politischen Auseinandersetzung zu öffnen.“ 99 | Lorey 2008.
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Der Begriff Trans*
Alison Bechdel, The Essential Dykes to Watch Out For, 2008
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Was möchte ich mit dem Trans*-Begriff fassen, wenn ich diesen in der vorliegenden Arbeit verwende und warum brauche ich ihn?100 Ich benutze den Begriff Trans* hier als Oberbegriff, der die Personen meint, „die nicht in dem Geschlecht leben können oder wollen, welchem sie bei ihrer Geburt zugeordnet wurden. Hierzu zählen Transsexuelle, Drags, Transidenten, Crossdresser und viele mehr.“101 Trans* ist eine Geschlechtlichkeit, die aus der normativen Zweigeschlechtlichkeit herausfällt und daher diskriminiert und marginalisiert wird.102 Transgendered and transsexual people are subjected to pathologization and violence that is, once again, heightened in the case of trans persons from communities of color. The harassment suffered by those who are ‘read’ as trans or discovered to be trans cannot be underestimated.103
Obwohl der Trans*-Begriff das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt, wird in dem Ausschnitt des Comics deutlich, wie schwierig der Umgang mit dem Begriff sein kann, wenn sich die Figuren in teilweise widerstreitende Aussagen verstricken. Letztendlich bleibt nur noch die Feststellung: „Skip fluid. Press ‘liquefy.’“ Hier wird das Scheitern auch der Kategorie Trans* sehr deutlich, und eine perfekte Welt ohne Kategorisierungen imaginiert. Obwohl es eine schöne Vorstellung ist, dass geschlechtliche und sexuelle Kategorien fluide sind, stoßen die Figuren an eben jene Grenzen hegemonialer Zweigeschlechtlichkeit und anatomischer Essentialismen, die auch der Trans*-Begriff nicht aufzufangen vermag. Nur sehr wenige Protagonist_innen im Visual Kei benutzen Begriffe wie Trans*, transgeschlechtlich oder transsexuell als Selbstbeschreibung, um sich geschlechtlich zu verorten. Die meisten können sich kaum etwas darunter vorstellen und beschreiben sich eher als „kerlig, männlich, androgyn“ oder „im falschen Körper geboren“. Wenn ich also in dieser Arbeit von Trans* oder Transgeschlechtlichkeit spreche, ist dies ein Begriff, den ich an das Feld herantrage, um zusammenzufassen und zuzuordnen. Der Begriff ist ein Weg der Übersetzung, um die Praxen und Selbstpositionierungen der Protagonist_innen zu beschreiben, die sich heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit entziehen. Der Begriff Trans* ist dabei lediglich eine Hilfskonstruktion, da das
100 | Die Debatten um Trans* hier ausführlich vorzustellen, würde zu sehr in Kontexte hineinführen, die nicht unmittelbar Gegenstand meiner Arbeit sind. Verweisen möchte ich daher auf die Texte von Hark (1998); Schirmer (2010); Stryker und Whittle (2006). 101 | TransInterQueer e.V. 2012. 102 | Der Begriff Transgeschlechtlichkeit ist jedoch auch nicht unproblematisch, da er selbst wiederum Ausschlüsse produziert und ebenso wie der Begriff Transsexualität einer pathologisierenden Sicht entstammt. 103 | Butler 2004c, S. 6.
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Scheitern für diesen ohnehin konstitutiv ist. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Mero sich ausschließlich als „Junge“ begreift und es ihm nicht darum geht Zweigeschlechtlichkeit grundlegend in Frage zu stellen. Im Comic wird deutlich, dass der Wunsch eine Frau oder ein Mann zu werden, nicht einfach mit dem Bestreben gleichgesetzt werden kann, hegemonialen Geschlechtskategorien zu entsprechen. Vielmehr kann dahinter ebenso der Wunsch nach Transformation stehen – „a pursuit of identity exercise“104 – als beispielhafte Veränderung. Und wenn Trans*-Personen nach anerkannten und stabilen Identitätskategorien verlangen, so ist gerade im Hinblick auf das intelligible Subjekt daran zu denken, dass „a livable life does require various degrees of stability“105 . Der Begriff Visu Eine etwas andere Art des Scheiterns begegnete mir direkt im Feld, also nicht an meinem Schreibtisch und in meinen Reflexionen. Zusammen mit den Protagonist_innen bin ich auf ein kategoriales Problem gestoßen und habe um Begriffe und Kategorien gerungen, wie folgendes Beispiel zeigen soll: Mit meinen Informationen aus dem Text von Marco Höhn106 und der medialen Berichterstattung über Visual Kei ging ich zu Beginn der Forschung davon aus, dass der Begriff „Visu“ die gängige und angemessene (Selbst)Bezeichnung der Protagonist_innen ist. Doch so einfach wollte es das Feld mir nicht machen: Ja, das ist halt schwierig. Weil man brauch ja irgendwie schon so einen Begriff, wo man die ganzen Leute reinpacken kann, und eigentlich, sind Visus ja schon die Leute, die sich halt so aufstylen und J-Musik hören und so was. Mh ja, aber halt dadurch, dass dieser Begriff halt auch so in den Medien verwendet wird, sagen halt einige „Ja, J-Rock-Fan, aber nicht Visu!“ aber im Grunde ist es schon das Gleiche eigentlich. Es ist halt nur, dass einige das nicht wollen dann, weil das mit irgendwas Schlechtem dann verbunden wird vielleicht. Bisschen kompliziert [lacht].107
Im Verlauf der Forschung ist deutlich geworden, dass sich nicht alle Protagonist_innen unter den Begriff „Visu“ subsumieren lassen (wollen). Hauptbeweggrund dafür sind Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der medialen Berichterstattung und jüngeren „Bravo-Visus“.
104 | Ebd., S. 8. 105 | Ebd., S. 8. 106 | Höhn 2007, 2008. 107 | Interview mit Miho vom 31. Mai 2010.
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Also da gibt es viele, viele Abstufungen, muss ich sagen. Also zum Beispiel Visu, ist ja ein Begriff, der stammt aus Deutschland, und das mögen viele nicht, weil viele sind so true [mit Ironie in der Stimme], also falls dir das was sagt, die sind so unglaublich cool und so unglaublich japanisch, dass man sie gar nicht mit einem deutschen Begriff anreden darf, man muss sagen Visual-Kei-Fan oder J-Rocker oder sie einfach als Individuum betrachten und man darf sie nicht in eine Schublade stecken und so. Meiner Meinung nach ist das ziemlich großer Bullshit, weil keine Ahnung, irgendwann steckt jeder einen sofort in eine Schublade, wenn man einen sieht. Das kann man gar nicht vermeiden meiner Meinung nach und Visu, klar ist das ein deutscher Begriff, meine Güte, aber es ist einfach nun mal kürzer als Visual-Kei-Fan. Und Leute die sich da so unglaublich drüber abfucken, dass da so eine große Unterscheidung, so eine krasse Linie zwischen Visu und Visual-Kei-Fan oder was auch immer ziehen, das ist meiner Meinung nach völlig übertrieben und völlig, völlig unsinnig, weil doch jeder weiß was gemeint ist. Jeder weiß doch so „Oah du magst J-Rock und Visual-Kei-Style, bist du nicht abgeneigt.“ Das heißt das doch eigentlich. Ob ich jetzt sage Visu oder Visual-Kei-Fan, das hat dieselbe Bedeutung.108
Hier wird deutlich, dass es auch innerhalb der Subkultur keine einheitlichen Begriffe gibt, diese auch hier verhandelt und diskutiert werden. Allerdings wurde der Begriff „Visu“ für mich erst im Prozess des Schreibens zum Problem. In der alltäglichen Kommunikation mit den Protagonist_innen taucht dieser nämlich kaum auf. Als ich jedoch die ersten Sätze aufs Papier brachte musste ich mir überlegen: Wie schreibe ich eigentlich über „die Protagonist_innen im Visual Kei“? Vielleicht erinnern Sie sich an das Zitat aus der Einleitung, wo Sato sagt, „Aber was Visual Kei betrifft, das ist eine Schublade, die keine Schublade ist [. . .] .“109 Scheitert hier also mein Wunsch nach begrifflicher Fassung, weil Visual Kei selbst einfach keine Schublade ist? Ganz so einfach ist es sicherlich nicht, wie wir bald sehen werden, doch gibt es zumindest einen Hinweis darauf, wie die Protagonist_innen gesehen werden möchten: individuell, besonders und in keine Schublade passend. Dies möchte ich gern in meiner Darstellung berücksichtigen und werde vor allem von den „Protagonist_innen im Visual Kei“ sprechen, da sich unter diesem Schirm recht viele einfinden können. Sollte dieser Begriff an manchen Stellen zu sperrig sein, werde ich auch von „Visus“ sprechen – in dem Bewusstsein, dass dies einerseits eine Vereinfachung und Verkürzung darstellt. Der Begriff scheitert, da es mit ihm nicht gelingt möglichst viele der Protagonist_innen sprachlich zu fassen.
108 | Interview mit Hisashi vom 31. Juli 2010. 109 | Interview mit Sato vom 25. Mai 2010.
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Andererseits liegt genau im Scheitern der Begriffe „Visu“, „Trans*“, „Mann“ und „Frau“ der Hinweis von Isabell Lorey versteckt, das Unzuordenbare, Unberechenbare wahrzunhemen und „für Praxen offen zu sein, die keine Vorbilder haben und gleichsam durch das Raster fallen“110 . Damit wäre nicht nur das Wissen situiert, sondern ebenso die Kategorien selbst. Sie sind partikular, situativ und kontextspezifisch. Die Metapher des Scheiterns – nicht nur der Kategorien – wird uns folglich noch weiter begleiten.111 Das Scheitern der Kategorien ist lediglich ein „stellvertretendes“ Scheitern – es bewegte sich in meiner Forschung vor allem auf der Ebene der Reflexion und Interpretation. Erst in der tatsächlichen Feldforschungssituation bin ich so nah an den Interaktionen dran, dass auch ich – vor allem in meinem forschungsbezogenen Selbst – scheitern kann. Das heißt: Während ich bis hier vor allem meine Position zum Feld dargestellt habe, wird es im Folgenden vermehrt um meine Position im Feld gehen.
E THNOGRAFISCHE Z UGÄNGE Geschichten über das Scheitern in der Feldforschung gibt es viele. Die wohl bekannteste ist Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte von Nigel Barley.112 „Barleys Berichte über seine Feldforschungen sind meist auch Berichte von Pannen, von Mißverständnissen, vom Scheitern im Felde.“113 Missverständnisse und Pannen gab es in der hier durchgeführten Feldforschung tatsächlich – über die „Fehlkommunikation“ mit Mero habe ich bereits berichtet. Meistens gelang es mir jedoch diese Pannen und die Momente des Scheiterns produktiv zu nutzen und es zeigte sich, dass gerade in ihnen viel analytisches „Futter“ lag.114 So würde ich die Feldforschung rückblickend als gelungen bezeichnen und dafür argumentieren diese Momente der
110 | Lorey 2008. 111 | Auch in Judith Butlers Werk ist die Möglichkeit des Scheiterns angelegt: „Die Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. Und von dieser Bedingung, vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her, entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier kein Diskurs angemessen ist oder dass unsere Diskurse in eine Sackgasse geführt haben.“ (Butler 2002, S. 253). 112 | Es waren jedoch vor allem auch Interventionen der feministischen Kulturanthropologie, die aufforderten auch das „Schiefgehen“ der Forschung zu thematisieren. 113 | Kaschuba 1999, S. 212. 114 | Eine Betrachtungsweise, die in der Kulturanthropologie durchaus Tradition hat.
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Irritation, Sprachlosigkeit, Transgression oder des „Schiefgehens“ als queere Momente der Feldforschung zu lesen. Innerhalb der Feldforschung habe ich eine teilnehmende Beobachtung und Interviews durchgeführt, daneben Fotos, fanart, Animes und Mangas angesehen, gechatted, auf den Social-Media-Seiten der Protagonist_innen geschrieben und gelesen und mir eine schier unendliche Zahl japanischer Musikvideos angeschaut. In der teilnehmenden Beobachtung sind vor allem Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle, aber auch mind-maps und Wahrnehmungsprotokolle (auf Konzerten) entstanden. Von 2009 bis 2010 – das heißt für zwei Jahre – habe ich intensiv am Leben der Protagonist_innen teilgenommen und sie vor allem auf Veranstaltungen, Treffen und Shopping-Touren begleitet. In dieser Zeit habe ich mich gelegentlich auch etwas zurückgezogen, um Daten zu sichten, mein Vorgehen zu überprüfen und erste Einsichten zu überdenken. Aber bis heute – im Moment des Schreibens – begleiten mich die Protagonist_innen des Visual Kei. Wir sind via Facebook verbunden und mit manchen sind lose Freundschaften entstanden – denen ich mich auch verpflichtet fühle – so dass wir uns gelegentlich treffen. Mit zweien von ihnen stand ich in engerem Kontakt, da diese mir ihre Fotografien für diese Arbeit und auch für meine Vorträge zur Verfügung gestellt haben. Beide versuchen sich als Fotograf_innen zu etablieren, haben folglich auch ein Interesse daran mit ihren Arbeiten in einer Öffentlichkeit vertreten zu sein. In den ersten Wochen der Feldforschung habe ich noch selbst begeistert fotografiert – mich jedoch, als ich der vielen (semi)professionellen Fotograf_innen im Visual Kei gewahr wurde, dazu entschieden ihnen diesen Bereich zu überlassen und mich auf ihren fotografischen Blick auf Visual Kei zu verlassen.115 Die an einigen Stellen der Arbeit verwendeten Fotografien werde ich nicht im einzelnen analysieren, sie konkretisieren meist etwas, dass ich gerade theoretisch abgehandelt habe. Darüber hinaus sind sie Objektivationen, die aus dem Feld kommen, d.h. sie wurden von und für Protagonist_innen gemacht. Damit sollen sie auch dem Anspruch des Visuellen – der ja schon im Namen „Visual Kei“ steckt – gerecht werden, ihn hervorheben und einen Teil dieser Subkultur hier verbildlicht auf das Papier bringen. Die Feldforschung ist eine empirische Forschungsmethode, unter der die systematische Erforschung von Kulturen oder Gruppen in deren Lebensraum verstanden wird. Sie ist primär deskriptiv. Darüber hinaus wird bei der Feldforschung darauf geachtet, den Blickwinkel der Untersuchung auf die Gesamtheit der Lebensverhältnisse
115 | Dieses „Verlassen“ auf Repräsentationen aus dem Feld kann durchaus kritisiert werden. Da ich hier jedoch keine Bildanalyse vornehme, habe ich diesen Punkt vernachlässigt und eher die Praxis des Fotografierens, des Posierens vor der Kamera und der Repräsentation beobachtet.
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zu richten und den Gesamtzusammenhang bzw. die bestehenden Beziehungen zu betrachten.116 Ganz am Anfang stand so die einfache Frage: „What the hell is going on there?“117 Um dies herauszufinden habe ich mich zunächst auf die Suche ins Internet begeben und bin ziemlich schnell auf die Seite Animexx gestoßen, die eine wichtige Plattform für Visus ist, um sich über Veranstaltungen, Treffen, Konzerte und Conventions118 zu informieren, aber auch um sich auf ihrer Nutzer_innen-Seite selbst darzustellen und zu inszenieren. Nachdem ich mich über mögliche Treffen und Veranstaltungen informiert hatte, begab ich mich ins Feld und war im Mai 2009 auf dem ersten J-Rock-Konzert: Ganz pünktlich um acht fing die japanische Band Girugamesh zu spielen an und vom ersten Lied an tobte sich die ganze Halle zu hartem Metal aus. Als ich beim zweiten Song meine Kamera rausholte, um ein Foto von der Band und dem Publikum zu machen, war das Konzert für mich leider schon beendet, da ich sofort von der Security abgeführt wurde. Viele Bands aus Japan mögen es nicht besonders, wenn man unautorisiert Fotos von ihnen macht, das wusste ich da natürlich noch nicht. Nachdem ich dann fast zwei Stunden vor der Halle gewartet habe, habe ich dann nach dem Konzert den Versuch unternommen einige Leute anzuspechen, es aber entmutigt wieder aufgegeben, da die meisten zu sehr mit ihrem Konzerterleben beschäftigt waren oder ich einfach nicht wusste, welche Leute denn eigentlich Visus sein könnten. So habe ich zum Beispiel drei Mädchen gefragt, die meinten, sie sind eher Gothic-Lolitas. Ohje, ich habe scheinbar noch einen weiten Weg vor mir, kann ich doch die Personen meines Interesses nicht eindeutig identifizieren.119
Wie sollte ich die Personen meines Interesses eigentlich „erkennen“, wenn dies auf einem J-Rock-Konzert nicht möglich ist? Um diese Schwierigkeit zu umgehen, habe ich versucht mich mit Visus im Internet zu verabreden. So habe ich eine der Organisator_innen des Berliner Visual Kei Treffens, kurz Bevit, kennengelernt, die mich dann auch mit zu Treffen, Veranstaltungen und Konzerten genommen hat. Sie war es auch, die mich darauf aufmerksam machte, dass ich unbedingt einen Account auf
116 | Überblick bei Denzin und Lincoln 2005; Lüders 2008. 117 | Clifford Geertz; ohne Quellenangabe zitiert bei Hirschauer und Amann 1997, S. 20. 118 | Conventions, von lat. convenire „zusammenkommen“, sind zum Teil recht große Veranstaltungen bei denen Fans von Anime und Manga sich über diese austauschen. Oftmals sind diese Veranstaltungen mit Cosplay-Wettbewerben, einem Bühnenprogramm, Signierstunden, Vorstellung von Computerspielen oder Vorführungen von Animes verknüpft. Manchmal treten am Abend auch Visual-Kei-Bands oder andere Bands aus Japan auf. 119 | Forschungstagebuch vom 13. Mai 2009.
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Animexx bräuchte, um den Personen Nachrichten schreiben zu können. Die ersten Unklarheiten waren damit beseitigt und ich konnte mich weiter meinem Einstieg ins Feld widmen. Die Schnelllebigkeit des Internets hat mir nach diesem ersten Animexx-Account einen zweiten bei Myspace beschert, während im Moment des Schreibens die meisten der Visus bei Facebook verortet sind, und die Myspace- und Animexx-Accounts eher verwaisen: Hallo nadine *.* du ich hab mich schon gefragt wie ich dich erreichen soll, ich hatte irgendwie nichts mehr von dir gehört und myspace und animexx is nicht mehr so dolle120
Die Nutzung von sogenannten Social-Media-Netzwerken ist jedoch nicht ausschließlich als Spezifikum von Visual Kei zu betrachten: „Der Computer und das Internet nehmen eine zentrale Stelle in der Lebenswelt von Jugendlichen ein. [. . .] Das Internet ist also fest in den Alltag von Heranwachsenden eingebunden. Es stellt das Hauptmedium für Jugendliche dar [. . .].“121 In einer hochmediatisierten Kultur, in der das Internet immer mehr Bedeutung für das berufliche und alltägliche Leben, für Beziehungen, ja sogar für das Gefühlsleben gewinnt, ist es erforderlich, neue Instrumente zu seiner Erforschung und angemessene Methoden für seine Analyse zu entwickeln, um die Daten bewältigen zu können, die es uns anbietet. Was es bedeutet feldforschend im Internet präsent zu sein, wird aktuell zunehmend diskutiert: So kam es im Jahr 2011 zur Gründung der DGV-Kommission Digitalisierung im Alltag und kürzlich erschien der Sammelband Ethnography and Virtual Worlds: A Handbook of Method122 , in dem es um ethnografische Forschung in virtuellen Welten geht. In meiner Forschung habe ich einen sehr pragmatischen Zugang zu den Praxen und Verortungen im Internet gewählt – dies vielleicht, weil diese Techniken so sehr Teil meines eigenen Alltagshandelns sind, dass sie mich nicht sonderlich überrascht oder vor Hürden gestellt haben. In den Kommunikationen im Internet habe ich mich immer als Forscherin mit meinem Anliegen zu erkennen gegeben und die ersten beiden Accounts ausschließlich für die Dissertation angelegt. Nachdem der Trend in meinem eigenen Freund_innen-Kreis nach einem Facebook-Account verlangte und mich einige der mir bekannten Protagonist_innen dort fanden, oder ich sie, haben sich die Ebenen etwas angenähert: ich bewege mich dort mit meinem mitgebrachtem
120 | Facebook-Nachricht von Takiyuki, 28. September 2010. 121 | Friedrichs und Sander 2010, S. 30. 122 | Boellstorff et al. 2012.
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Selbst mit meinen Interessen, aber auch in einem forschungsbezogenen Selbst, wenn ich mich mit Protagonist_innen des Feldes austausche. Dennoch haben sich die Ebenen nicht verwischt: Es ist eine deutliche, nicht unbedingt beabsichtigte Trennung zwischen dem, was ich dort als Privatperson tue, und meinen Interessen als Forscherin zu erkennen. Aber die mit mir vernetzten Protagonist_innen haben Einblick in eine Seite von mir als Privatperson, und es trägt meines Erachtens auch zu einer offenen Forschungsatmosphäre bei, wenn ich nicht nur als Forscherin erscheine. Nach den ersten Kontakten im Internet folgte zumeist das Treffen im „Real-Life“ und von da ausgehend habe ich auch immer mehr Leute kennengelernt. In der folgenden Zeit war ich auf weiteren J-Rock-Konzerten, habe mit den Protagonist_innen oft bei Starbucks, McDonalds oder bei ihnen zu Hause gesessen, bin mit ihnen einkaufen gegangen und zu Conventions gefahren. Zum Ende der Feldforschung – die teilnehmende Beobachtung war „gesättigt“ – habe ich mit zehn Personen ein längeres Interview geführt. Schon zu Beginn der Feldforschung zeigte sich, dass nicht alle Felder, die ich eigentlich einer genaueren Beobachtung unterziehen wollte, für die zu untersuchende Subkultur relevant sind. So hatte ich zum Beispiel vor, auch Medien und vor allem Fanzines in meine Analyse einzubeziehen. Zur Zeit als ich mein Exposé schrieb, gab es einige Ausgaben des Fanzines Cho2 , welches sowohl in gedruckter Form vorliegt als auch eine Internetpräsenz mit Forum hat123 . Ich nahm an, dass sich in diesem Bereich mit Visual Kei als Subkultur, die sich in Deutschland gerade entwickelt, noch viel in Richtung einer Ausdifferenzierung auch der gedruckten Medien tun würde. Damit lag ich jedoch falsch und musste im Fortgang der Arbeit feststellen, dass Printmedien – abseits von Mangas – fast gar keine Rolle für die Protagonist_innen spielen. Die letzte Ausgabe des Cho2 ist im Mai 2007 erschienen und seither ruht die Tätigkeit der Macher_innen. Darüber hinaus gibt es noch einige Hochglanzmagazine, wie J*beat, Jrock, Peach oder Cure, aber auch diese sind eher zu vernachlässigen und werden von den Protagonist_innen meist nur durchgeblättert – was nicht zuletzt
123 | Cho2 ist die Fortsetzung des Fanzines Visual Graden, das von zehn Jugendlichen gemeinsam herausgegeben und auch selbst vertrieben wurde. Ein Fanzine ist ein Magazin, das von Fans für Fans gemacht wird. Fanzines werden oft fotokopiert oder im Offsetdruck vervielfältigt. Neben diesen Papierformen hat sich insbesondere mit der Verbreitung des Internets auch die elektronische Form als „E-Zines“ etabliert. Die Macher_innen der Fanzines sind engagierte Mitglieder der entsprechenden Szene/Subkultur und betreiben das Schreiben und Vervielfältigen der Hefte auf eigene Kosten in ihrer Freizeit. Es gibt die verschiedensten Fanzines: Fanzines für Fußballfans, Subkulturen, Comics, verschiedene Musikrichtungen und -szenen, Rollenspiele usw.
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auch an den recht hohen Preisen von bis zu neun Euro liegt. So führte mich dieser Strang anfangs in die Irre und ich habe mein Interesse in Richtung Manga verlagert, da dies ein Medium ist, das alle Protagonist_innen nutzen oder in der Vergangenheit sehr intensiv genutzt haben, und meist auch selbst Bilder zeichnen (fanart) und eigene Geschichten (fanfiction) entwickeln. Die Ergebnisse der Feldforschung habe ich in einem Forschungstagebuch protokolliert, denn das Aufschreiben und die Darstellung des Beobachteten, Gehörten und Erlebten stellt ein konstitutives Moment von Feldforschungen dar. Das Tagebuch ist einerseits ein „Werkstattbericht“ des Forschungsverlaufs und andererseits ein wichtiges Mittel meiner Selbstverständigung, in dem ich meine kulturellen Irritationen und Positionierungen festhalten kann.124 Die dabei entstandenen Protokolle sind keine Eins-zu-eins-Repräsentationen von Wirklichkeit, sondern in sich schon Ergebnis komplexer Sinnstiftungsprozesse und Interpretationen. Zu interessanten Passagen und wichtigen Beobachtungen habe ich schon bei der schriftlichen Fixierung erste Gedanken und Reflexionsansätze notiert.125 Zusätzlich zu den Forschungstagebüchern liegen noch zehn Transkripte der von mir geführten Interviews und einige Nachrichten, Kommentare und Spuren vor, die ich in der digitalen Welt hinterlassen habe und aufgrund der Fülle nicht alle dokumentiert habe. Medienhype und „Bravo-Visus“ Die Phase der Feldforschung fiel in eine Zeit, in der es ein reges Interesse der Medien an Visual Kei gab. So war es nicht ungewöhnlich, dass bei Veranstaltungen auch mal ein Fernsehteam auftauchte und Interviews führte. Und auch ich geriet in die Rolle der „Visual-Kei-Expertin“ und erhielt Anfragen für Radio- und Zeitungsinterviews. Diese habe ich meist abgelehnt, um nicht während der Feldforschung in diese machtvolle Position einer Wissenden gedrängt zu werden und so meine Beziehung zu den Protagonist_innen zu irritieren. Mittlerweile ist dieses Interesse wieder etwas abgeflaut und nur zu den großen Buchmessen und Conventions flammt es kurzzeitig wieder auf. Das große mediale Interesse an Visual Kei wirkte sich auch auf meinen Zugang zum Feld aus: Die von Rolf Lindner so eindringlich beschriebene Angst der Forscher_innen vor dem Feld – die auch als Ausdruck der Möglichkeit des Scheiterns gelesen werden kann – wehte mir insbesondere beim Kennenlernen neuer Protagonist_innen um die Ohren. Ich vermutete eine Skepsis mir gegenüber, weil die Protagonist_innen mich für eine Journalistin halten könnten, die einen weiteren reißerischen
124 | Kaschuba 1999; Lüders 2008. 125 | Bohnsack et al. 1995, S. 442.
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Artikel über Visual Kei schreiben würde, in dem sich die Protagonist_innen völlig falsch dargestellt sehen. Sie kritisieren beispielsweise, dass sie von den Mainstreammedien als Außenseiter_innen dargestellt würden, die erst in der Szene Freundschaften schließen konnten, erst dort ein „erfülltes“ Leben führen würden.126 Dies geht einher mit der Annahme autoaggressiven Verhaltens – ähnlich den Vorwürfen die oftmals an Emos gerichtet werden: „Die ritzen ja alle.“ Hinzu kommt noch die inhaltlich fehlerhafte Darstellung von Bands, Entwicklungsgeschichte und Praxen der Subkultur. Nachdem sich Visual Kei in den ersten Jahren in Deutschland, von der Presse relativ unbehelligt, nur über subkulturelle Kanäle entwickeln konnte, gab es in den letzten Jahren einen regelrechten Medienhype um Visual Kei. Dieser hat zu zwei verschiedenen Entwicklungen geführt: Zunächst wurden auch Jugendliche auf diese Subkuktur aufmerksam, die sonst nicht den Weg dahin gefunden hätten. Meist liefen diese Informationen über popkulturelle Kanäle, weshalb diese Jugendlichen innerhalb der Subkultur als „Bravo-Visus“ bezeichnet werden. Als „Bravo-Visus“, „Pseudo-Visus“ oder „Bravo-Visels“ werden meist sehr junge Protagonist_innen bezeichnet, die durch einen Artikel in der Bravo, oder anderen Medien, auf Visual Kei aufmerksam geworden sind. Ihnen wird nachgesagt, sie hätten keinen Stil und nur wenig Wissen über die Geschichte der Subkultur, kennen meist nicht mal X Japan: Man kann eigentlich schnell unterscheiden in der Szene, ob man es mit Leuten zu tun hat, die sich mehr damit beschäftigen oder mit solchen, die eigentlich keinen Plan davon haben und nur die momentan angesagte Musik hören. Das erkennt man immer schon auf einen Blick. Verschiedene Ringelsocken, übertriebene Schminke oder merkwürdige Frisuren, die eher aussehen wie gewollt aber nicht gekonnt. Oder auch die Leute die sich in ein Kostüm hineinzwängen und mit Bildern bestückte Taschen mitschleppen um damit dann, ohne dass i-eine Convention stattfindet, durch die Gegend rennen, sodass sie von den normalen Leuten angeglubscht werden wie Geisteskranke. Sowas findet man alles XD Dann gibt es noch Leute, die erkannt haben, dass weniger oft mehr ist und sich durch einen eher lässigen Stil der Gruppe zugehörig machen. Da hat man manchmal eher das Gefühl man wäre auf einer Fashionshow zwischen D&G und Vivienne Westwood, gemixt mit an Musikern orientierten Frisuren und immer explizit zum Outfit passenden Schuhen und Taschen. Kleiner Nachteil, es sind meist nur dünne oder sehr dünne Leute
126 | Z.B. bei Aigner 2009; Balzer 2005; Bravo 2005; Distler 2011; Fischer 2009; Raab 2007.
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Und dann gibt es noch lebendige Kunstwerke, denen man eigentlich nur mit offenem Mund hinterher schauen kann XD127
Diese Abgrenzungen sind jedoch nicht außergewöhnlich, denn „the distinction between originals and hangers-on is always a significant one in subculture“128 . Das große Interesse der Mainstream-Medien hat zu einer inneren Ausdifferenzierung von Visual Kei geführt. Entlang welcher Linien diese Ausdifferenzierung, die auch immer mit Ausschließungen verbunden ist, verläuft, wie in den Prozessen der Abgrenzung und Verhandlung über die subkulturelle Identität – „contests over membership and over naming“129 , also der Frage, wie sich das subkulturelle „Wir“ konstituiert – geführt werden, wird in den Kapiteln 4 und 5 erläutert. Es verwundert vielleicht nicht, dass ich nie „Bravo-Visus“ getroffen habe – niemand möchte sich selbst so bezeichnen. In dieser medialen Auseinandersetzung kommt es auch dazu, dass einige der Protagonist_innen im Umgang mit Medien erfahren sind: finde es auch besser wenn man mich interviewt als viele dieser kleinen neulinge. Visels die so rum rennen weil die eigendlich gar nicht bescheid wissen. mir is es dann nur wichtig das meine aussagen nicht verdreht werden, wie es das Fernsehn so gern tut, sprich wärs echt nett wenn ich vielleicht eine abschrift dann bekommen könnte oder so zumindest mit meinem Teil. aber das können wa ja dann noch bequatschen ^^130
Diese Skepsis gegenüber Medienvertreter_innen hatte auch Einfluss auf meine Forschungsarbeit. Von einer bekannten Journalistin, die – wie sollte es auch anders sein – gerade einen Artikel über Visual Kei für eine große deutsche Monatszeitschrift geschrieben hatte, erhielt ich einige Informationen über ihre Begegnungen mit Protagonist_innen der Subkultur. Sie sagte mir, dass dies die schwierigsten Jugendlichen waren, über die sie bisher etwas geschrieben hat. Sie seien nicht besonders aufgeschlossen und auskunftsfreudig gewesen und wollten mitentscheiden, wie die Fotos aussehen und was geschrieben wird. Eigentlich war mir das ganz sympathisch, ich hatte den Eindruck, dass diese Jugendlichen ziemlich selbstbewusst sind und wissen, was sie wollen, sich auch gegen den kommerziellen und popkulturellen Ausverkauf „ihrer“ Subkultur wehren. Auf der anderen Seite machte mir diese Information auch
127 | E-Mail von Tiki_chan, 15. Juni 2009. 128 | Hebdige 1987 [zuerst 1979], S. 122. 129 | Gamson 1995, S. 393. 130 | E-Mail von Sato, 12. Mai 2010.
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Sorge, ich fragte mich, wie mir unter diesen Umständen der Zugang zu dieser ja doch recht kleinen Subkultur gelingen kann.131 Und so waren die Jugendlichen in den ersten Phasen des Zugangs tatsächlich teils eher zurückhaltend mir gegenüber, da sie vermuteten ich würde einen Artikel für eine Zeitung schreiben wollen. An dieser Stelle habe ich dann immer versucht zu erklären, dass ich nicht ein oder zwei Interviews führe und dann wieder weg bin, sondern wirklich längerfristig mit ihnen sein möchte. Schon in den ersten Sätzen, die ich mit ihnen gewechselt habe, habe ich offensiv das Thema angesprochen, um gleich deutlich zu machen, dass es mir nicht um eine reißerische Darstellung à la RTL und Co. geht, sondern um eine tiefere und längerfristige Auseinandersetzung.132 Ich habe auch betont, dass es mir vor allem um ihre Perspektive auf und im Visual Kei geht und ich eben keinen journalistischen Text schreibe, den ich an eine Zeitung verkaufen muss. Dies hatte zum einen den Effekt, dass die meisten Visus sehr schnell mir gegenüber offener wurden und eigentlich recht kontaktfreudig waren, wobei meine dauernde Präsenz meine Argumentation untermauerte und ich zu einigen Protagonist_innen eine recht enge Beziehung knüpfen konnte.133 Eine der Protagonist_innen antwortete mir auf meine E-Mail, in der ich den Medienhype und meine Position dazu angesprochen hatte: „Wieso sollte ich nicht antworten? Ich lerne gerne neue Leute kennen.“134 Als einmal ein Treffen zwischen mir und Takiyuki geplatzt ist, hatte ich kurz darauf folgende E-Mail in meinem Postfach: ach jeh hab dank ^^ ey tut mir wirklich leid ich hatte schon angst du redest mit mir jetzt kein wort mehr :-) gut zu wissen ich werds hoffe hinbekommen
131 | Forschungstagebuch vom 15. Juni 2009. 132 | Die meisten der von mir kontaktierten Protagonist_innen gingen in unseren ersten E-Mails und Gesprächen auch von sich aus auf „die falsche Darstellung der Szene durch die Medien“ und die sogenannten „Bravo-Visus“ ein und distanzierten sich davon. Die mediale Berichterstattung ist also ein viel beachtetes und diskutiertes Thema innerhalb der Subkultur, und die meisten Protagonist_innen halten so eine kritische Distanz zu Presse und Fernsehen. 133 | Ich würde also dem Urteil der Journalistin ein anderes entgegensetzen. Ich habe nämlich die meisten der Protagonist_innen als freundlich und mir gegenüber sehr offen erlebt. Ich hatte oft das Gefühl, dass es ihnen Spaß macht, mit mir über Visual Kei zu reden. Manchmal kam nach längeren Gesprächen oder Interviews sogar das Feedback, dass es „richtig gut getan hat mal mit jemandem darüber zu quatschen.“ (Forschungstagebuch vom 20. September 2010). 134 | E-Mail von Tiki_chan, 15. Juni 2009.
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muss meine kollegin vertreten die nächsten 2 wochen , mein plan is total voll aber ich werd alles versuchen ums wieder gut zu machen, versprochen ^^ danke dir135
Durch die Betonung einer Innenperspektive, dem Interesse an den ganz eigenen Motivationen und Vorstellungen der Protagonist_innen im Visual Kei konnte ich klarstellen, dass ich nicht die allwissende Forscherin von der Universität bin, sondern dass sie diejenigen mit dem Expert_innenwissen sind.136 Dies führte zumindest dazu, dass sich viele der Protagonist_innen in einem gewissen Sinne „verantwortlich“ für die Forschung fühlten, was sich hier in Takiyukis nachdrücklicher Entschuldigung zeigt. Dabeisein und Teilhaben Das Herzstück meiner Feldforschung war die teilnehmende Beobachtung, die sich über zwei Jahre erstreckte. Teilnehmende Beobachtung verstehe ich im weit gefassten Sinn als eine flexible, methodenplurale und kontextspezifische Strategie.137 Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die situative Praxis und das lokale Wissen der Protagonist_innen im Visual Kei nur durch eine länger dauernde Teilnahme – „durch anhaltende Kopräsenz von Beobachter und Geschehen“138 – der Analyse zugänglich gemacht werden konnten. Gerade weil sich Konstruktionsprozesse kultureller Annahmen über Geschlecht in Praxen und Handlungen höchst unbewusst und selbstverständlich vollziehen, erweist sich die teilnehmende Beobachtung als besonders geeignet für den Nachvollzug alltäglicher Praxis mit queer-feministischer Perspektive. Mein Interesse an den subjektiven Erfahrungen, an einer „Insiderperspektive“ zwang mich dazu, mich den jeweiligen situativen Ordnungen und Praxen gleichsam auszusetzen und anzupassen. Während der teilnehmenden Beobachtung ging es mir also vor allem um den Mitvollzug und die Teilnahme an gegenwärtigen kulturellen Ereignissen. Der Begründer der Chicagoer Schule, Robert E. Park, versteht sie als eine der wichtigsten Metho-
135 | E-Mail von Takiyuki, 26. Juli 2009. 136 | Diesen Aspekt halte ich im Hinblick auf ein ausgewogeneres Machtverhältnis zwischen mir und den Protagonist_innen für wichtig, da es mir ein Anliegen ist, eine dialogische Forschungspraxis zu entwickeln und keinen allzu paternalistischen Zugang zu den Protagonist_innen zu haben, auch wenn ich es am Ende bin, die diese Arbeit schreibt und das Geschehen interpretiert. 137 | Überblick bei Denzin und Lincoln 2005; Lüders 2008. 138 | Hirschauer und Amann 1997, S. 21.
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den, um „the customs, beliefs, social practices and general conceptions of life and manners“139 sozialer Gruppen zu erforschen. Ereignisse oder Erlebnisse der alltäglichen Handlungspraxis, die den Beteiligten untereinander bekannt und selbstverständlich, in der Regel jedoch nicht detailliert erzählt werden, können so erhoben werden. Mit der teilnehmenden Beobachtung werden auch sprachlich nicht repräsentierte und nicht repräsentierbare Elemente der Handlungspraxis (z.b. körpergebundene Ausdrucksformen) unmittelbar zugänglich. Eine möglichst detaillierte Kenntnis der Handlungspraxis der Protagonist_innen ermöglicht darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit den in Diskursen (z.B. in Interviews, Forendiskussionen usw.) entfalteten Orientierungen und Regeln.140 Wenn nun das Forschungsfeld, in dem man teilnehmende Beobachtung durchführen möchte, abgesteckt ist, steht schon die erste große Hürde bevor, die es zu überwinden gilt: Wie bekomme ich eigentlich Zugang zu dieser Subkultur und wie bringe ich die Leute dazu, mich an ihrem Alltag teilhaben zu lassen? In der klassischen ethnografischen Literatur findet man viele „Held_innen-Geschichten“ über die Mühen, Irritationen und Strapazen der Phasen des Zugangs, nach denen man letztendlich doch das angestrebte „Herz der Finsternis“141 erreicht. Dies ist m.E. ein recht romantisierender Blick auf ethnografische Forschung, in dem vieles ausgeblendet wird. Ich begreife den Zugang zum Feld vielmehr als einen Prozess, eine nie ganz abgeschlossene Arbeitsaufgabe, die gemeinsam mit den Protagonist_innen der Forschung entwickelt werden muss.142 Ich hatte immer das Gefühl, dass ich ein Netz spinne, und jedes Mal, wenn eine neue Verknüpfung hinzukam, habe ich mich dem Feld ein Stückchen näher gefühlt. Dieses Netz gibt es zum einen auf einer personellen Ebene mit den Protagonist_innen im Visual Kei, und zum anderen auf thematischer Ebene mit den verschiedenen Praxen und situativen Ordnungen. Von Berlin ausgehend habe ich dieses Netz durch ganz Deutschland geknüpft. Dennoch hatte ich nie diesen „magic moment“ des „Ankommens“, der in der Forschungsliteratur so oft beschworen wird.143 Ich denke, dass sich mir das Forschungs-
139 | Park 1997 [zuerst 1915], S. 16. 140 | Die dabei entstandenen Beobachtungsprotokolle beruhen bereits auf meinen Interpretationsleistungen. Bei der Technik des Protokollierens bin ich den Hinweisen von Bohnsack et al. (1995, S. 442) gefolgt, die eine reflektierende Interpretation vorschlagen, in der schon beim Erstellen des Protokolls verschiedene Reflexionsebenen kenntlich gemacht werden. 141 | Conrad 2005. 142 | Vgl. Denzin und Lincoln 2005; Wolff 2008. 143 | Besonders kunstvoll bei Geertz 1986, S. 289 ff.
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feld mit den verschiedenen Individuen, mit dem Prozess der Ausdifferenzierung, als so breit und vielfältig dargestellt hat, dass ich nie das Gefühl hatte, alle Facetten wirklich zu verstehen oder erfragen zu können. Da sich auch das Feld beständig verändert, haben sich immer wieder interessante Fragestellungen in mein Blickfeld geschoben, die zu bearbeiten eine eigenständige Studie erfordern würden.144 Die Angst vor dem Scheitern Die psychischen Abwehrtendenzen der Forscher_in und die Widerstände des Feldes, die zu Infragestellung und Irritationen führen, werden meist für die Zugangsphase der Forschung beschrieben. Rolf Lindner geht dabei sehr plastisch auf die berühmt gewordenen Ängste der Forscher_innen vor dem Feld ein: Sie sind, mit anderen Worten, Ausdruck von dem Bild, das sich der Forscher von dem Bild macht, das sich die designierten Forschungsobjekte vom Forscher machen. [. . .] Diese Angst, dieses Allen-Mut-zusammennehmenund-an-der-Tür-klingeln kennt sicherlich jeder Novize der Zeitschriftenwerberbranche, bevor er sich zum ausgefuchsten Drücker häutet. Aber dessen Angst scheint berechtigt, weiß er doch, daß er den Leuten etwas andrehen will, und tendiert daher dazu, sein Selbstbild auf den prospektiven Kunden als das Bild zu projizieren, das dieser von ihm hat. Aber warum soll der Forscher Angst haben? Welches Bild macht sich der Forscher von dem Bild, das sich die zukünftigen Interaktionspartner im Forschungsprozeß von ihm machen könnten? [. . .] In der Tat befindet sich der Wissenschaftler, der sich als ‚Sonderbeauftragter der Wissenschaftlerkultur‘ (Weidmann) ins ungesicherte Terrain der ‚Untersuchungskultur‘ begibt, um von dort Bericht zu erstatten, in einem Dilemma. Er verhält sich, in bezug auf den situationalen Kontext, womöglich völlig unnormal, was die Anwesenden recht schnell bemerken, wenn sie auch womöglich dieses Verhalten nicht so recht einzuordnen wissen. Seine Anstrengungen z.B., natürlich zu wirken, werden als Anstrengungen, natürlich wirken zu wollen, sichtbar [. . .] und diese sichtbaren Anstrengungen (vom situationsspezifischen Mithaltenwollen bis zur kumpelhaften Anbiederei) rufen bei jenen, für die der situationale Kontext tatsächlich ‚natürlich‘ ist, erst Unbehagen oder gar Mißtrauen gegenüber der (noch nicht als Forscher identifizierten) Person hervor (je nach situativem Kontext ist auch eine ganz andere Reaktion der ‚Probanden‘ denkbar; daß sie sich nämlich einen Spaß mit dem ‚komischen Kauz‘ machen, der mithalten will).145 .
An einigen Stellen meiner Forschung sind die von Lindner beschriebenen Gefühle von Abwehr und Irritation immer wieder aufgetaucht, weshalb sich wahrscheinlich
144 | Z.B. die Frage nach der Rezeption von Boys’-Love-Mangas in der Subkultur. 145 | Lindner 1981, S. 54 f.
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auch nie dieses Gefühl des „Ankommens“ bei mir eingestellt hat. Es wäre demnach zu kurz gegriffen, den Blick nur auf die Zugangsphase zu legen. Irritation und Abwehr sind Gefühle, die Forscher_innen bis zum Abschluss der Forschungsarbeit begleiten (können). Diese „Angst der Forscher_innen vor dem Feld“ lässt sich während der gesamten Forschung als gewinnbringender Hinweis lesen, die eigene Position fortwährend zu hinterfragen. Sie ist Ausdruck der typischen Feldforschungssituation: der Begegnung von Menschen in einer für beide Seiten ungewohnten und manchmal auch unangenehmen Situation, in der bestehende Selbstbilder thematisiert, offengelegt, hinterfragt und manchmal auch abgewiesen werden.146 Feldforschung ruft Verunsicherungen und Zweifel hervor, die sich als Angst vor dem Scheitern begreifen lassen. Und selbst im Schreibprozess nistet sich die Angst der Forscherin wieder ein: Wie werden die Protagonist_innen im Visual Kei auf meine Arbeit reagieren, wenn sie sie lesen? Die Angst, wen meine Ausführungen verletzen könnten, wie meine Ergebnisse instrumentalisiert werden könnten und so wiederum zu Verletzungen führen, beschäftigt mich vor allem. Gerade wenn es hier nicht um den Musikgeschmack der Protagonist_innen geht, sondern um so sensible Bereiche wie Geschlecht, Körper und Begehren. Aber das ist wohl die Schwierigkeit, Selbstverständnisse, Lebensweisen und Identitäten anderer zu analysieren, ohne „normative, moralisierende oder zensorische Netze“147 aufzuspannen. Und es setzt mich zusätzlich unter Zugzwang: Ich habe das Gefühl, dass ich aufgrund der Kooperationsbereitschaft, aufgrund der Bemühungen der Protagonist_innen, fertig werden muss, die Arbeit auf keinen Fall abbrechen oder noch länger hinauszögern kann.148 Diese Ängste und Befürchtungen möchte ich jedoch vor allem produktiv nutzen, um so die Machtverhältnisse in meinen Forschungsbeziehungen reflektieren zu können. Weiterhin kommt durch sie die
146 | Was oft übersehen wird ist, dass die Lindnerschen Beschreibungen schon 1981 eine kritische Betrachtung akademischer Wissensproduktion und hierarchischer Forschungsbeziehungen anregten: „Die Sinnfrage nach unserem Tun braucht sich gar nicht mal auf die brisante Frage nach der möglichen sozialtechnischen Handhabung empirischer Forschung beziehen. Allein schon der Zweifel über die praktische Funktion eines Buches, das in der Regel als Ziel eines Forschungsprojektes angegeben wird [. . .] sollte von uns nicht vorschnell als Unverständnis für wissenschaftliche Tätigkeit abgetan, sondern als Problematisierung von Kopfarbeit ernstgenommen werden.“ (ebd., S. 59). 147 | Engel 2000, S. 71. 148 | So erhielt ich beispielsweise eine Woche vor Abgabe dieser Arbeit eine FacebookNachricht, in der eine der Protagonist_innen nach dem Fortgang der Arbeit fragt.
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von Rolf Lindner beschriebene „Symmetrie der Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem als wechselseitige Beobachtung“149 zum Ausdruck. Das Moment der wechselseitigen Beobachtung kam insbesondere an einem Tag der Feldforschung zum Tragen, als ich mit zwei Protagonist_innen in einem Einkaufszentrum verabredet war. Nach einem Plausch bei Kaffee zogen wir los, um für die beiden ein Shirt zu kaufen. Obwohl ich Einkaufen nicht mag und es wenn, dann auch nur für mich allein tue, bin ich mit ihnen mitgegangen. Eine Situation, in der mein forschungsbezogenes und mein mitgebrachtes Selbst im Widerstreit lagen. Wir bummelten an den Geschäften vorbei und ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber ich sagte plötzlich, dass ich ja auch mal wieder ein neues schwarzes T-Shirt gebrauchen könnte. Die anderen zwei waren sofort begeistert, und so zogen wir los, um ein T-Shirt für mich zu suchen. Mit diesem Moment änderte sich schlagartig meine Position, denn ich war jetzt nicht mehr die Forscherin, die beobachtet und dabei ist, sondern ich war die Forscherin, die beim T-Shirt-Kauf von den anderen beiden beobachtet wird. In Anbetracht dessen, dass ich nie „Shoppen“ gehe, und es auch nicht mag, lief ich also ziellos durch die Reihen und wusste nicht so recht, was nun zu tun sei. Ich wählte hier und da ein T-Shirt aus, tat so als begutachte ich es und lief weiter zum nächsten Ständer. Dabei fragte ich mich die ganze Zeit, ob die anderen beiden mein Unbehagen bemerkten und sich schon köstlich über die Witzfigur von der Universität amüsierten. Aber ich hatte auch Angst, mich für weitere Shopping-Touren – eine beliebte Beschäftigung der Protagonist_innen – zu disqualifizieren und damit den Forschungsfortgang zu gefährden. Also Zähne zusammenbeißen, T-Shirt kaufen, und durch. Nach einiger Zeit wurde mir immer unbehaglicher, ich fühlte mich hilflos und auch die Tipps meiner Begleiter_innen mir doch mal dies oder jenes anzusehen, konnten mir nicht weiterhelfen. Irgendwann hatte ich einen Ständer mit schwarzen T-Shirts gefunden, die nicht zu teuer waren, habe mir eines gegriffen, bin zur Kasse gelaufen und habe gezahlt. Ich war froh, aus dieser Position des Beobachtet-Werdens heraus zu sein und wieder zurück in meine „sichere“ Forscherinnenrolle zu schlüpfen. Das T-Shirt habe ich übrigens noch nie getragen, da es viel zu weit ausgeschnitten ist, und werde es wohl irgendwann zu meinen Forschungstagebüchern legen, als Andenken an diese interessante Episode. Doch warum erzähle ich diese – für mich etwas peinliche – Geschichte hier? Sie gibt m.E. wichtige Hinweise für den Umgang mit den Protagonist_innen. Ich konnte für einen Moment in ihre Rolle schlüpfen, konnte sehen wie unangenehm es sein kann, bei einer Aktivität beobachtet und begleitet zu werden. Es
149 | Lindner 1981, S. 54.
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ist eben nicht alltäglich, wenn man plötzlich bei seinen Unternehmungen eine Person zur Seite hat, die nicht unbedingt zum besten Freund_innenkreis gehört. Es hat mir ein größeres Verständnis eröffnet für ihre Positionen und Reaktionen im Umgang mit mir. Ich habe gesehen, wie viel Unsicherheit diese Machtverhältnisse mit sich bringen können und habe mir vorgenommen, mich während meiner Forschung immer wieder an diesen T-Shirt-Kauf zu erinnern und das Machtgefälle, das zwischen mir und den Protagonist_innen steht, beständig zu reflektieren. Trotz meiner Abneigung gegen Einkaufszentren bin ich in der Folge noch oft mit verschiedenen Protagonist_innen „shoppen“ gegangen, habe es jedoch vermieden mir irgendetwas selbst kaufen zu wollen, über das ich noch nicht ganz entschieden war. Ich habe viel Geld bei Starbucks gelassen, einige Euro in Apfeltaschen und Pommes bei McDonalds investiert, bin stundenlang ICE gefahren und habe auf Konzerten geschwitzt. Aber ich habe auch einige nette japanische Restaurants, japanisches Essen kennengelernt und viel über die japanische Gesellschaft und Architektur erfahren. An dieser Stelle wird deutlich, dass der ethnografische Prozess selbst unterschiedliche Praxen umfasst: Es ist nicht nur das Beobachten, sondern auch das Sprechen, Hören, Mitmachen und Zusammen-(Aus)Handeln. Feldforschung ist also meist auch eine zutiefst sinnliche, körperliche und auch performative Art der Erkenntnis. Befragen und Nachfragen Um die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung zu ergänzen und die Gültigkeit erster Annahmen zu überprüfen, habe ich in einer zweiten Feldforschungsphase Interviews geführt. Diese besondere Kommunikationssituation „Interview“, die oftmals eher einem vertrauten Gespräch glich, hat einige meiner Forschungsbeziehungen in eine positive Richtung verändert. So fiel es meiner Wahrnehmung nach vielen Protagonist_innen leichter in einem Zwiegespräch über Fragen des Begehrens, über sensible Bereiche des Körpers, über Verletzungen und Liebeskummer zu reden als in den größeren Gruppensituationen. Diese Gespräche führten dann zu einer größeren Nähe zwischen mir und den Protagonist_innen. Nachdem ich zwei Testinterviews auch mit jüngeren Protagonist_innen (14 Jahre alt) geführt hatte, die nur wenige Informationen zu den für mich interessanten Bereichen enthielten, habe ich mich dazu entschlossen nur Ältere zu befragen. Von den jüngeren Protagonist_innen wurde ich als deutlich ältere Frau gesehen und die Gespräche über Sexualität, Körper, Geschlecht und Begehren erschienen mir immer sehr schambesetzt, stockend und von einigem Kichern begleitet. Dies mag sowohl am Altersunterschied liegen, an der ungenügenden Vertrautheit zwischen mir und den ganz jungen Befragten, als auch daran, dass sie noch mitten in der Pubertät steckten und
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noch zu unsicher in Bezug auf ihre Selbstpositionierungen sind.150 Es war schwierig, greifbare Aussagen von ihnen hinsichtlich Körper, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität zu bekommen, da sie sich in Bezug auf diese Themen selbst noch zu unklar waren. Hier zeigte sich ganz deutlich ein Suchen und Ausprobieren und demzufolge auch eine gewisse Sprachlosigkeit in Bezug auf diese Themenkomplexe. Diese Beobachtung korrespondiert mit den Ergebnissen von Bettina Fritzsche, die in ihrer Studie über Pop-Fans berichtet, dass eine Gruppe von zwölfjährigen Mädchen einerseits mit der „Eingangsfrage nicht viel anfangen [konnten], andererseits waren sie offensichtlich weniger als die Älteren daran gewöhnt, über ihre eigenen Erfahrungen zu reden.“151 Eine sinnvolle und sensible ethnografische Forschung mit sehr jungen Akteur_innen kann – da der sprachlich vermittelte Zugang unwegsam erscheint – wahrscheinlich am ehesten in einer praxeologischen Zugangsweise mit Teilnehmender Beobachtung umgesetzt werden. In Gesprächen mit jüngeren Protagonist_innen habe ich mich auch schnell in einer „Sozialarbeiter_innen-Rolle“ wiedergefunden, die der Rolle einer älteren erfahrenen Freundin ähnelte und eher meinem mitgebrachten Selbst entspringt. Wenn unsere Gespräche um Körper oder Geschlechter kreisten, dann waren wir meist schnell bei der Problematisierung von Körpermaßen bis hin zu autoaggressivem Verhalten. An diesen Stellen habe ich immer meinem Impuls, zu intervenieren nachgegeben: Heute habe ich Jyou getroffen [. . .] und sie hat mir erzählt, dass sie gerade wieder eine Diät macht, weil sie sich zu dick findet. Sie ernährt sich fast nur noch von Miso-Suppe. Ich habe ihr dann gesagt, dass ich sie so schön finde, wie sie ist und das Diäten eigentlich auch nur Frust erzeugen, dass sie wirklich nicht einem Schönheitsideal hinterherrennen sollte usw. In diesem Moment ging es mir auch ganz klar darum, sie als junges Mädchen in ihrer Position zu bestärken.152
In den Beziehungen zu jüngeren Protagonist_innen habe ich ganz klar eine Altersbarriere wahrgenommen. Ich habe jedoch nicht versucht, diese zu negieren, mich gleichzumachen, ich habe vielmehr Partei ergriffen und mich mit ihnen solidarisiert.153 Recht deutlich habe ich mir hier meine Erfahrungen aus der politischen Bildungsarbeit – mein mitgebrachtes Selbst – zunutze gemacht und versucht die Jugendlichen in ihrem Weg zu bestärken. Zudem hatte ich das Gefühl, dass dieses „Empowerment“ in
150 | Zu Entwicklungsprozessen im Jugendalter, vgl. Scherr 2009, S. 75 ff. 151 | Fritzsche 2003, S. 191. 152 | Forschungstagebuch vom 25. Januar 2010. 153 | Hier wird deutlich, dass es keine objektive Forscherin gibt, Forschung ist immer parteiisch.
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Situationen, in denen die Protagonist_innen mir ihre Sorgen offenbarten, die von mir erwartete und gewünschte Reaktion war. Während es zwischen mir und den jüngeren Protagonist_innen ein ganz deutliches Machtgefälle gab, habe ich die Älteren eher „auf Augenhöhe“ getroffen. Neben der Altersdifferenz waren auch andere Aspekte für das Verhältnis zwischen mir und den Protagonist_innen konstitutiv und wurden in jedem Interview als mehr oder weniger bedeutsam empfunden: Geschlechtsgleichheit bzw. -unterschied, Zugehörigkeit zu einer anderen oder ähnlichen sozialen Schicht, Verschiedenheit von Schüler_innen und Doktorandin gegenüber dem gemeinsamen Status von Lernenden oder auch Positionen des Begehrens. Meine Versuche, das Engagiert- und Verbundensein mit einer kritischen Außenperspektive zu verknüpfen, nahmen dabei vielfältige Formen an, d.h. der in der ethnografischen Forschung notwendige Balanceakt zwischen Nähe und Distanz verlief in jeder Interaktion anders. Da ich die meisten der Protagonist_innen schon vorher gut kannte, viel es mir leichter zu Beginn des Interviews eine entspannte und offene Atmosphäre herzustellen, so dass die Protagonist_innen in der Situation unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebenswelt zeigen konnten. Hätte ich die Befragten vorher nicht gekannt, wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, so sensible Themen wie Sexualität, Körper, Begehren und Selbstdefinition anzusprechen bzw. ausführliche Antworten dazu zu erhalten. Auch in meiner Rolle als „Fragende“ hatte ich so keine Angst vor Peinlichkeiten oder Intimitätsverletzungen, da ich ja schon eine informelle vertrauenswürdige Basis mit den Befragten hatte. Dies hat natürlich auch mein Frageverhalten beeinflusst. So hatte ich z.B. keine Scheu davor Tiki_chan zum Ritzen zu befragen, da wir uns vorher schon einmal darüber unterhalten hatten. Die Interviews selbst folgten einem Leitfaden, der jedoch sehr offen gehalten war, damit ein hohes Maß an Offenheit und Nicht-Direktivität mit einem hohen Niveau der Konkretion und der Erfassung detaillierter Informationen vereinbart werden konnte.154 Ich habe mich an einem Interview-Leitfaden orientiert, der viel Spielraum in den Frageformulierungen, Nachfragestrategien und in der Abfolge der Fragen lässt. Je nach situativ und persönlich unterschiedlich ausgeprägter Vertrautheit in der Gesprächsbeziehung habe ich entweder Breite oder Tiefe betont, und es wurden eher themenbezogene Geschichten oder biographisch bedeutsame Episoden erzählt. Manche Passagen entsprachen dabei weitgehend einer alltäglichen Unterhaltung, in der ich auch Rückfragen beantwortete und mich auf eine Diskussion über bestimmte Fra-
154 | Vgl. C. Hopf 2008.
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gen einließ, andere ähnelten wiederum einer halbstandardisierten Befragung entlang des offenen Leitfadens.155 Auch die äußere Gestaltung kann nicht als einheitlich bezeichnet werden: Die Interviews wurden an unterschiedlichen Orten durchgeführt. Einige Interviews fanden bei den Protagonist_innen zu Hause statt, die anderen in einem Café. Die Gesprächsdauer betrug bei den meisten Interviews eineinhalb bis zwei Stunden. Meine Position war die einer interessiert Fragenden, die die Protagonist_innen als Expert_innen für ihre eigenen Umgangsweisen und Wahrnehmungen – als Subjekte der kommunikativen Situation – anerkennt und betrachtet, ihnen im Gespräch aber auch beweisen musste, dass ich die erhaltenen Informationen in ein Grundwissen über Visual Kei und J-Rock einzuordnen wusste. Um Transparenz zu gewährleisten und Hierarchien abzubauen, erläuterte ich vor dem Interview noch einmal meine Forschungsziele und den Sinn meiner Dissertation. Dass ich dabei auch an dem Themenkomplex „Geschlecht und Körper“ interessiert bin, habe ich am Anfang nicht explizit gesagt, um meine Perspektive nicht von vornherein in den Mittelpunkt zu stellen und eine Ontologisierung oder Reifizierung von geschlechtlichen Kategorien zu vermeiden. Im Gespräch selbst kamen wir jedoch „wie von selbst“ auf die für mich interessanten Felder, so dass ich an diesen Stellen in mehrere Richtungen nachfragen konnte, und mir sicher sein konnte, dass die aus meiner Perspektive interessanten Themen, auch Gegenstand der subkulturinternen Diskurse sind. Vor dem Interview sicherte ich meinen Gesprächspartner_innen Vertraulichkeit und Anonymisierung zu, was insbesondere in dieser kleinen Subkultur, in der ich auch mehrere Personen des gleichen Freundeskreises befragt habe, wichtig ist. Alle Gespräche wurden mit Erlaubnis der Befragten aufgezeichnet. Der von mir verwendete Leitfaden umfasste folgende Themenbereiche: • • • • • • •
Biographische Daten und Erzählungen Mediennutzung Positionierungen im Visual Kei Rituale Geschlechtliche Verortung Körper Beziehungsgeflechte
155 | Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit habe ich hier ein Unbehagen mit dem Begriff des Interviews zu operieren, lasse ihn aber so stehen, da er einer gewissen Tradition entspringt. Wenn aber davon ausgegangen wird, dass Interviews einheitlich sein und Objektivierung suggerieren sollten, so scheitert für diese aufgezeichneten Gespräche der Begriff Interview.
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Nach Beendigung der Aufnahme fragte ich die Protagonist_innen, wie ihnen das Gespräch gefallen hat, und ob sie Hinweise für meine weitere Arbeit hätten. Diese Informationen hielt ich – wie auch meine eigenen Assoziationen und Reflexionen zum Gespräch – direkt im Anschluss an das Interview in meinem Forschungstagebuch fest. Fast alle Befragten hatten mich um eine Zusendung des Transkripts gebeten, das ich dann wiederum mit Anmerkungen versehen von ihnen zurückerhielt.
E TAPPEN
DER
A NALYSE
UND I NTERPRETATION
In einer ethnografischen Forschungsarbeit sind es die (materiellen) Praxen der Repräsentation, die die Welt und die Erfahrungen zugänglich machen und uns auf diese Weise auch eine Kenntnis von „den Anderen“ vermitteln: „These practices transform the world. They turn the world into a series of representations, including field notes, interviews, conversations, photographs, recordings, and memos of the self“.156 Die ethnografische Forschungs- und Schreibpraxis macht die Lebenswelt der Protagonist_innen als textuelle Repräsentationen in einer ganz besonderen Weise sichtbar. Bisher habe ich dargelegt, dass Forschungspraxis und akademische Wissensproduktion unweigerlich in gesellschaftliche Machtstrukturen eingebunden sind. Damit werden auch Fragen der Forschungsethik berührt: Eine ethisch verantwortungsvolle Forschung kann nur gewährleistet werden, wenn hegemoniale Machtverhältnisse nicht verstärkt werden und wir die Macht, die wir in bestimmten Kontexten haben, nicht missbrauchen.157 Dies erfordert wiederum eine wohlweisliche und kritische Reflexion des sozio-kulturellen und politischen Kontextes, unserer eigenen Beziehungen im Feld und einen sensiblen, vorsichtigen und vertraulichen Umgang mit den Protagonist_innen.158 Im Zentrum forschungsethischer Überlegungen steht meist die Frage nach möglichen Auswirkungen der Forschung auf die unmittelbar beteiligten Protagonist_innen, um das Risiko ungewollter Folgen für diese so weit wie nur möglich auszuschließen. In seiner „Einführung in die Europäische Ethnologie“ tritt Wolfgang Kaschuba
156 | Denzin und Lincoln 2005, S. 3. 157 | Denzin 1997; Klesse 2007. 158 | Zu diskutieren wäre hier jedoch, was passiert, wenn man in stark umkämpften Feldern arbeitet und z.T. auch mit Personen, deren Standpunkt man kategorisch ablehnt. Stichwort: Neonazis, Abtreibungsgegner_innen, Antisemit_innen usw. Kann man dann noch wohlwollend, sensibel, ehrlich und vorsichtig sein? Könnte eine Forschung unter den hier benannten Voraussetzungen in einem solchen Feld überhaupt zustande kommen?
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für die Respektierung eines „Recht[s] auf Nicht-Erforscht-Werden“159 ein. Dieses Recht liegt zum einen in der Achtung von Persönlichkeitsrechten und zum anderen im Umgang mit einem entsprechenden Interesse von Einzelpersonen oder Gruppen. Eine der Grundvoraussetzungen zur Inanspruchnahme dieses Rechts liegt darin, potentielle Forschungspartner_innen über das Projekt, seine Zielsetzung und eventuelle Publikationen aufzuklären, um ihnen auf informierter Grundlage eine Zustimmung zu der Mitwirkung am Forschungsprojekt zu ermöglichen. Christian Klesse argumentiert jedoch, dass die Sicherstellung einer Forschung auf informierter Grundlage weit mehr bedeuten muss als der formelle Akt einer Einverständniserklärung zu Beginn der Forschung.160 Denn eigentlich können sich Forscher_innen eines solchen Konsenses nur sicher sein, wenn sie auch während der Forschung in kontinuierlichem Austausch mit den Protagonist_innen stehen und sich deren Meinung über sich abzeichnende Ergebnisse einholen. Dies kann jedoch zu Interpretationskonflikten führen, insbesondere dann, wenn Forscher_innen sich nicht zu unkritischen Fürsprechenden der Forschungspartner_innen machen wollen. Ich halte es hier für sinnvoll in einen Dialog über die Interpretationsergebnisse zu treten und die dabei auftauchenden Konflikte oder Abweichungen im Text deutlich zu machen. Auch wenn die Interpretationsgewalt dann letztendlich bei mir liegt, kann so die Bedingtheit des Interpretationsergebnisses nachvollzogen werden. Dadurch vermeide ich es auch, mich zum lediglich wiedergebenden Sprachrohr des Feldes zu machen. Vielmehr versuche ich, durch eine „diskutierende Darstellung“161 zu schlüssigen Ergebnissen zu kommen, die ich in theoretische Diskussionen und Debatten einbette. Der Prozess der Interpretation ist sehr eng mit Fragen der Repräsentation, Legitimation und Machtkritik verbunden. So haben Diane Millen zufolge, Forscher_innen in der Regel ein Interesse, eine spezifische Form akademischen Wissens zu produzieren, welches nicht unbedingt von den Protagonist_innen der Forschung geteilt wird.162 Die in der Interpretation angewandten Theorien oder Techniken und deren „Angleichung“ an andere Logiken oder theoretische Systeme, führen zum Teil sogar dazu, dass sich die Forschungspartner_innen in den fertigen Arbeiten nicht mehr wiedererkennen.163 Wie ich oben in den Ausführungen zu Sprache angemerkt habe, möchte ich diese Problematik mittels kontinuierlicher Übersetzung angehen. Und auch auf der Ebene von Analyse und Interpretation wird diese Übersetzungsleistung evident.
159 | Kaschuba 1999, S. 207. 160 | Vgl. Klesse 2007. 161 | Kaschuba 1999, S. 212. 162 | Vgl. Millen 1997. 163 | Klesse 2007.
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Sollte meine Übersetzung nicht mit der Interpretation der Protagonist_innen zusammenfallen – es kommt zu einem Interpretationskonflikt – ist die entscheidende Frage, wer letztendlich die Macht hat durchzusetzen, was in einem Forschungstext gesagt und publiziert wird. In der ersten Auswertung meiner Forschungstagebücher und Interviews trat ganz deutlich eine Narration hervor, von der ich wusste, dass sie den Protagonist_innen Unbehagen bereitet und ich mit einer leichtfertigen Interpretation einige verärgern und auch verletzen würde. Es ist die Erzählung des Zugangs, in der die Protagonist_innen darstellen, dass sie, bevor sie Visual Kei für sich entdeckt hätten, einsam, unglücklich und in einer Außenseiter_innen-Position gewesen wären. Innerhalb der Subkultur finden sie Akzeptanz, Offenheit und Empathie für ihre Positionen, so dass sich der Weg in die Subkultur für mich auf den ersten Blick als „Erlösungsgeschichte“ darstellte. Mit dieser Narration vor Augen, mit meinen Zweifeln und Bedenken habe ich zu einigen Protagonist_innen Kontakt aufgenommen, ihnen meinen Konflikt geschildert, sie um ihre Meinung dazu gebeten. An dieser Stelle wurde mir sehr deutlich, wie machtvoll und wenig egalitär meine Beziehung zu den Protagonist_innen ist. Wie viel ich durch diese Dissertation gewinnen kann – z.B. kulturelles, symbolisches und ökonomisches Kapital – und wie verletzbar die Protagonist_innen durch meine Darstellung werden können. Zum einen wurde hier die von Haraway eingeforderte „Übersetzungsleistung“ in besonderem Maße relevant und ob diese Übersetzung gelungen ist, davon können Sie sich im Unterkapitel „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein!“ selbst ein Bild machen. Zum anderen treten ganz deutlich die Grenzen einer dialogischen Forschung hervor, denn: Prozesse der Interpretation gründen sich meist auf Auswahl, Hervorhebung, Auslassung oder Rekontextualisierung, welche in der Regel in der Entscheidungsgewalt von Forscher_innen liegen. Die Substanz dieser Entscheidungen ist wiederum eng mit Standpunkten, Interessen, politischer Verortung und Werten verbunden. Interpretation ist also eine aktive Produktion von Narrativen, die geprägt ist von der Subjektivität der Forscher_innen und den intersubjektiven und diskursiven Beziehungsgeflechten im Feld. Denzin zufolge sind ethnografische Texte nichts weniger als Interpretationen von Interpretationen und haben damit fiktiven Charakter.164 Dies betont auch die Bedingtheit und die unvermeidliche Lückenhaftigkeit jeglicher Interpretation. Und die partielle und situierte Disposition solcher Interpretationen wird dann besonders offensichtlich, wenn ich mich als Forscherin selbst aktiv in meinem Forschungstext positioniere. Hinter allen Ebenen meiner Arbeit, sei es auf theore-
164 | Vgl. Denzin 1997.
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tischer, epistemologischer, analytischer oder methodologischer, steht immer meine Person als Forscherin mit ihrer ganz eigenen Biographie. Ich spreche aus einer bestimmten klassen- und sozialspezifischen Position heraus, die die Auswahl meines Gegenstandes, die Auswahl der Fragen, also des gesamten Forschungsdesigns beeinflusst hat. Ganz konkret – und dies betrifft das „Handwerkszeug“ – habe ich die Bedeutungszuweisungen und Praxen der Protagonist_innen in einem mehrstufigen Verfahren sukzessive rekonstruiert. Dabei orientierte ich mich vor allem am dreistufigen Kodierprozess (offenes, axiales und selektives Kodieren) von Anselm Strauss und Juliet Corbin165 , die Kodieren als prozesshafte Entwicklung von Konzepten in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material verstehen.166 Offenes Kodieren beginnt mit „scrutinizing the fieldnote, interview, or other document very closely; line by line, or even word by word. The aim is to produce concepts that seem to fit the data“167 . Der zweite fortgeschrittene Prozess, das axiale Kodieren, „consists of intense analysis done around one category at a time in terms of the paradigm items“168 . Die Kategorien formen die „Achse“, um die herum weiter kodiert wird und Kategorien gebildet werden. Im Prozess des Kodierens169 haben sich vier zentrale Themenfelder – Körper, Geschlecht, Japanbezüge und Begehren – herauskristallisiert. Wie oben erläutert, war es eine pragmatische Entscheidung die Kategorie Geschlecht zentralzusetzen und an ihr das Material selektiv zu kodieren. Das heißt, ich habe Geschlecht als zentrales Konzept bestimmt und alle anderen erarbeiteten Kategorien dazu in Beziehung gesetzt. Dabei habe ich nach dem Kontext, den Bedingungen, den Handlungsstrategien und den Konsequenzen der Kategorie Geschlecht gefragt.
165 | Strauss und Corbin 1990. 166 | Zur Entwicklung von Kategorien und den unterschiedlichen Vorgehensweisen von Glaser und Strauss, vgl. Kelle 2007. 167 | Strauss 1987, S. 32. 168 | Ebd., S. 32. 169 | Dabei hat sich das „Memoing“, das begleitende Schreiben zu einzelnen Aspekten während des Kodierprozesses, als ein zentrales Arbeitsinstrument während der Analyse bewährt. (Strübing 2004, S. 33 f.).
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Z USAMMENSCHAU
DER
E RGEBNISSE
In diesem Kapitel ging es nicht nur darum darzulegen, wie ich methodisch gearbeitet habe. Es ging mir vor allem auch um eine „Positionsbestimmung“, denn ähnlich wie bei einem Kaleidoskop werden durch Veränderung der Position – durch eine Bewegung – neue Muster hervorgebracht und einzelne Bestandteile fügen sich anders zusammen. Ich habe zunächst die methodologische Frage nach dem Verhältnis zwischen Europäischer Ethnologie und Queer Theory aufgeworfen. Hier war es notwendig zu klären, was die Besonderheit der jeweiligen Perspektiven ausmacht, auf welche Konzepte ich mich darin beziehe. Es wurde deutlich, dass die Europäische Ethnologie – in ihrer Orientierung am Alltagsgeschehen – in einem Spannungsverhältnis mit einem dekonstruktivistischen queertheoretischen Subjektverständnis steht. Ich gehe jedoch davon aus, dass gerade darin die Möglichkeit der „inneren“ Distanzierung liegt, als Blick auf die Europäische Ethnologie und deren Konzepte und Methoden, den ich in dem Sinne produktiv machen möchte, als dass er es erlaubt, Machtverhältnisse, disziplinäre Standards und Grenzen aufzuzeigen und zu reflektieren. Innerhalb einer queer-feministischen Einbettung kann es gelingen, den Horizont des Faches zu erweitern, eine Forschung kritisch zu kontextualisieren und normative, politische oder moralische Verankerungen zu reflektieren. Zudem werden in einer queertheoretischen Perspektivierung auch Fragen des Begehrens, der Sexualität und des Geschlechts fokussiert. Die Methoden der Europäischen Ethnologie ermöglichen – in der Rückkopplung an Alltagspraxis – wiederum das Verdeutlichen von Inkohärenzen und Ambivalenzen, die als „queere Momente“ im Forschungsprozess deutlich werden. Dabei halte ich vor allem die herrschaftskritischen Implikationen queertheoretischer Perspektiven als gewinnbringend für die Europäische Ethnologie. Von einer Kritik andro- und heterozentristischer Konzepte kann die Europäische Ethnologie auf methodologischer, auf forschungsethischer und auf der Ebene der Wissensproduktion profitieren. Für die Queer Theory bedeutet dies wiederum, dass, wenn sie die Ebene abstrakter Kritik verlässt, um ihre Erkenntnisse in spezifischen kulturellen und sozialen Kontexten zu entwickeln, sie die Relevanz ihrer Analyse und die politische Reichweite ihrer Kritik erweitern könnte. Den Prozess der Forschung kennzeichne ich dabei als doing research, in dessen beständigem „Tun“ ein spezifisches, partikulares, lokal-temporales, kurz ein situiertes Wissen entsteht. Diese Situiertheit des Wissens verweist im Sinne Donna Haraways auf die Lokalisierbarkeit und Verortung von Erkenntnisansprüchen. Um die Lokalisierbarkeit zu gewährleisten ist es notwendig, sich als Forscher_in sozial und materiell zu verorten. Damit diese Positionierung nicht als ritualisierendes, morali-
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sierendes Privilegierungsbekenntnis ohne analytischen Gewinn wirkt, entwerfe ich in Anlehnung an Shulamit Reinharz das Konzept des multidimensionalen Selbst. Dieses hilft nicht nur die „Rolle“ von Forscher_innen im Feld zu reflektieren, sondern auch zu beachten, dass wir nicht nur „das Selbst ins Feld bringen [. . .] sondern das Selbst auch im Feld erschaffen“170 , es also abhängig von den Interaktionen und Handlungen im Feld ist. Dieser Blick auf die Person der Forscher_in vermeidet es Identitätskategorien zu fixieren und Stabilität zu suggerieren. Stattdessen wird der Fokus auf Veränderungen, Destabilisierungen, Verflechtungen und Verbindungen gerichtet. Nur wenn Forscher_innen wissen und offenlegen, welche Selbst(positionierungen) in der Forschung relevant waren, kann das untersuchte Phänomen und die daraus entstandenen Ergebnisse verstanden werden. Analog zur Denkfigur der Dekonstruktion, geht es mir in meiner Forschungspraxis darum, die Brüche zwischen Theorie und Alltag sichtbar zu machen und zu kontextualisieren. Dabei wurde deutlich, dass Begriffe und Kategorien, die ich auf Feld und Daten anlege, immer auch Ausschlüsse produzieren, dass sie scheitern. Es stand die Frage im Mittelpunkt, wie ich in ethnografischer Forschung Kategorien (re)produziere, wenn gerade queere Epistemologien mich auf die Instabilität, Fluidität, Kontingenz und Prozesshaftigkeit von Subjektivierungen, Identitäten und Verkörperungen hinweisen. Das Scheitern von Kategorien hat Isabell Lorey als konstitutiv beschrieben, denn die „hegemoniale Perspektive ist gekennzeichnet durch kategoriale Einordnung und Festlegung, ohne dass deren konstitutives Scheitern im Erfassen heterogener Praxen und Erfahrungen systematisch mitgedacht würde.“171 Diesem Gedanken folgend, habe ich anhand der Begriffe Geschlecht, Trans* und Visu das Scheitern von Kategorien in meiner Forschung exemplarisch aufgezeigt. Im Verlauf der Arbeit werden uns auch andere Begriffe begegnen, die scheitern. Im Moment des Scheitern ist dabei vor allem der Hinweis auf Ausgeschlossenes, Unzuordenbares und Ambivalentes versteckt. Der erste Teil des Kapitels war bestimmt durch meine Positionierung zum Feld, während es im zweiten Teil um die Position(en) im Feld ging. Hier wurde das Vorgehen in der Feldforschung erläutert und dargelegt, wie ich geforscht habe und wie ich zu meinen Daten gekommen bin. Darin zeigt sich ebenso, wie sich meine Fragestellung entwickelt hat. Es wurde deutlich, dass die Frage von Feldforschung im und mit dem Internet zunehmend relevant wird, denn auch ein Teil meiner Daten entspringt der internetbasierten Kommunikation und Repräsentation. Es hat sich gezeigt,
170 | Reinharz 1997, S. 3, Übersetzung N.H. 171 | Lorey 2008.
2. Das Scheitern der Kategorien: Doing Research | 85
dass „doing research“ unterschiedliche Praxen umfasst. Feldforschung bedeutet nicht, dass Forscher_innen nur Beobachten und Sehen. In der Feldforschung geht es auch um das Sprechen, Hören und Zusammen-(Aus)Handeln. Daher ist Feldforschung ist eine sinnliche, körperliche und auch performative Art der Erkenntnis.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld
Aus dem bisher Gesagtem ist deutlich geworden, dass es mir um die Frage geht, wie in den Praxen der Subkultur les- und lebbare Subjekte hervorgebracht werden. Das „Subjekt“ markiert folglich ein spezifisches Forschungsinteresse, welches queerfeministisch informiert ist. Welche Art von Wissen würde eine Subjektanalyse ermöglichen? Ich habe dargelegt, mit welcher Perspektive und welchem Zugang ich mich Visual Kei genähert habe. Doch wie lässt sich der Blick auf Visual Kei auch theoretisch schärfen? Welches theoretische „Handwerkszeug“ ist hier sinnvoll bzw. kommt in Betracht? Zunächst lässt sich festhalten, dass die kulturwissenschaftliche Subjektanalyse1 , nach der spezifischen kulturellen Form fragt, welche Personen in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigem, kompetenten und anerkanntem Wesen zu werden. Sie wendet sich dem Prozess der Subjektivierung zu, in dem das Subjekt unter spezifischen sozio-kulturellen Bedingungen zu einem solchen gemacht wird. Die Subjektanalyse fragt danach, welches Wissen, welche somatischen Routinen und Bezugspunkte, welche Abgrenzungsformen, welche psychisch-affektiven Orientierungen ausgebildet werden, um jener „Mensch“ zu
1 | Subjekt verstehe ich dabei als die gesamte kulturelle Form, in welcher Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praxen und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen werden. Während Identität wiederum einen spezifischen Aspekt dieser Subjektform bezeichnet, nämlich die Art und Weise, in der in diese Subjektivation ein spezifisches Selbstverständnis, eine Selbstinterpretation integriert ist, wobei diese Identität immer direkt oder indirekt mit dem Markieren von Differenzen zu einem kulturell Anderen verbunden ist. (Vgl. Reckwitz 2010, S. 17).
88 | Visual Kei
werden, den die jeweilige gesellschaftliche Ordnung voraussetzt. In ihr werden einerseits jene Diskurse betrachtet, in denen diese Subjektformen repräsentiert, reproduziert und aufgebrochen werden. Gleichzeitig wird den alltäglichen sozialen Praxen – Körperlichkeiten, Formen der Kommunikation – nachgegangen, und gefragt, wie diese subjektivierend wirken. Diskurse und Praxen werden folglich immer unter dem Aspekt behandelt, dass sie zugleich auch Subjektivierungsweisen darstellen – Gegenstand der Analyse sind also Subjektformen.2 In der vorliegenden Arbeit geht es vor allem um die Alltagspraxen im Visual Kei. Ich frage danach, wie die kulturelle Logik der Subjektivierung im Visual Kei „funktioniert“. Ganz konkret betrachte ich, welche Codes, welche (Körper)Routinen – kurz welche Praxen – sich die einzelnen Protagonist_innen im Visual Kei einverleiben, um zu intelligiblen, von sich selbst und von anderen anerkannten Subjekten zu werden. In Anlehnung an Andreas Reckwitz dient der Subjektbegriff in meiner Arbeit als Referenzpunkt einer analytischen Strategie, die darauf verweist, dass gesellschaftliche und kulturelle Ordnungen, Praxen und Diskurse vor der Frage zu betrachten sind, welche Formen des Subjekts, seines Körpers und seines Geschlechts sie produzieren.3 Doch an dieser Stelle soll die Analyse nicht stehen bleiben – fortführend gilt es zu fragen, welche Möglichkeiten Subjekte zur Irritation gesellschaftlicher Ordnung haben und wie diese umgesetzt werden. Ich gehe davon aus, dass Subjekte gegenüber den Wirkungsweisen kultureller Annahmen über Geschlecht handlungsfähig sind und durchaus Möglichkeiten des Durchbrechens und der Veränderbarkeit bestehen. Um dieser These nachzugehen, ist es naheliegend zunächst die Subkulturforschung nach deren Konzeptionen von Subjekt und Praxis, von Körper und Geschlecht zu befragen. So begann meine Suche nach einem analytisch tragfähigen Modell, das zwischen den internen Strukturen einerseits – der Subjektivität der Protagonist_innen – und den externen Strukturen andererseits – den Normen und Regeln der gesellschaftlichen Welt – vermitteln kann. Dem vorgelagert ist eine Bestandsaufnahme der bestehenden Forschungsliteratur über Visual Kei. Diese Bestandsaufnahme kann relativ kurz ausfallen, da es lediglich drei Autor_innen gibt, die bisher zu Visual Kei im deutschsprachigen Raum geforscht haben. Da Visual Kei von diesen Autor_innen meist als Jugendmedienszene beschrieben wird, geht es daran anschließend um die Frage, was eigentlich eine Subkultur ausmacht. Ist Visual Kei überhaupt eine Subkultur? Ist das Konzept der Subkultur für die hier aufgeworfenen Fragen tragfähig?
2 | Reckwitz 2010, S. 9 f. 3 | Reckwitz 2004, 2010.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 89
Dieser Bestandsaufnahme folgend, frage ich weiter, wie sich das subkulturelle Subjekt konstituiert. Mit den Arbeiten von Judith Butler und Pierre Bourdieu greife ich darin zwei Ansätze auf, die sich mit den Möglichkeiten politischer Intervention, der Subjektkonstitution und den Möglichkeiten des Selbstentwurfs von Subjekten befassen. Dabei geht es vor allem um die Frage, unter welcher Prämisse die Konzepte von Performativität und Habitus sinnvoll aufeinander bezogen werden können und zum Verständnis der Konstitution eines subkulturellen Subjekts in und durch Praxis beitragen können. Da Habitus und Feld nicht getrennt voneinander zu denken sind, wird es im letzten Teil des Kapitels darum gehen, Visual Kei als Feld einzuführen. Hier geht es einerseits um die „Rahmenbedingungen“ und Zugänge, die die Subkultur konturieren und andererseits um die Intentionen und Motivationen der Protagonist_innen sich dieser Subkultur zuzuwenden. Um Visual Kei darin als Ausdruck einer emotionalen, imaginativen, intellektuellen und politischen Ressource für die Protagonist_innen zu begreifen, schlage ich vor, einen modifizierten Feldbegriff zu verwenden und von einem subkulturellen Feld auszugehen.4
M EDIENNUTZUNG
IM
V ISUAL K EI : B ESTANDSAUFNAHME
Der Soziologe Marco Höhn beschäftigt sich in zwei Texten5 mit der „exotischen und merkwürdigen“6 Subkultur Visual Kei. Ihn interessiert vor allem die Medienrezeption und -aneignung der Protagonist_innen in Deutschland und er drückt schon im Titel der Einleitung „Visual kei, Cosplay, Otaku – ein verwirrend fremdartiger Wandel in der Welt der Jugendmedienkulturen wirft seine Schatten voraus“7 seine Ratlosigkeit und Konfusion aus. Seine Texte waren ein guter Einstieg in die Forschung, aber ich kann die Ausführungen von Höhn heute nicht mehr in vollem Umfang teilen. Die empirische Grundlage seiner Texte besteht scheinbar aus einigen Interviews, die jedoch nicht weiter kontextualisiert werden. Es geht ihm darum zu zeigen, „wie die Mediatisierung von Kultur den Wandel sozialer Beziehungen in Gemeinschaften hin zu translokalen Jugendmedienszenen wie Visual Kei beschleunigt, welche den Zyklus von Produktion, Repräsentation und An-
4 | Das Herausarbeiten der konstituiven Züge der Subkultur, zieht sich jedoch durch den gesamten Text und wird erst in der Auseinandersetzung mit den konkreten Praxen und Gegenständen in dem Maße erkennbar, dass sie sich einer tiefgehenden Interpretation erschließen. 5 | Höhn 2007, 2008. 6 | Höhn 2007, S. 46. 7 | Höhn 2008, S. 193.
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eignung zur ständigen kommunikativen Neukonstituierung virtuos einsetzen.“8 Das Kultur gegenwärtig mediatisiert wird, sich damit Formen von Gemeinschaft verändern und die „Jugendmedienszene“ Visual Kei beständige kommunikative Neukonstituierung betreibt, steht für ihn scheinbar außer Frage. Er begreift Visual Kei als translokale Medienkultur, die „sicherlich keine Nationalkultur [ist] – vielmehr lassen sich darunter eine Vielfalt von Vergemeinschaftungsformen verstehen, deren Sinn und Bedeutung weit über lokale Bezüge hinausweisen und in deterritorialer kommunikativer Konnektivität ausgehandelt werden, deren Relevanz für den Einzelnen aber weiterhin auf lokaler Ebene zu suchen ist.“9 Das Moment der Deterritorialität begründet Höhn mit Globalisierungsvorgängen. Was aber das Lokale ist und welche Relevanz dies für die Akteur_innen hat, wird in seinem Text nicht näher benannt. Implizit wird deutlich, dass das Lokale bei ihm einen nationalen Bezug hat, nämlich wenn in seinen Ausführungen Deutschland als „lokal“ gesetzt wird und Japan das „trans“ repräsentiert.10 Höhn bringt Visual Kei wiederholt in Verbindung mit „Otaku“11 und konstatiert, dass „etliche ‚Otaku‘ auch in deutschen Szenezusammenhängen“12 zu finden seien. Diese Verbindung, die hier eröffnet wird, verwundert allerdings: Während meiner langen Feldforschung ist dieser Begriff nie von den Protagonist_innen verwendet oder verhandelt worden. Sie wissen durchaus, was dieser Begriff bedeutet und kennen ihn auch, es ist jedoch wahrscheinlicher, dass sie sich in der Alltagskommunikation als „Nerd“ bezeichnen. Der Begriff „Otaku“ hat vielleicht in der Manga- und Animeszene größere Relevanz. Weiterhin beschreibt Höhn Visual Kei als „internetbasiertes, globalisiertes Exportprodukt, [. . .] [dass] ausschließlich als visuell-ästhetisches Phänomen funktioniert.“13 Er reduziert Visual Kei damit auf den ästhetischen Ausdruck, in dem er keine gemeinsamen Wertvorstellungen, Lebensentwürfe oder Intentionen zu erkennen vermag. In seinem ersten Text, der in einem Sammelband über Mädchen in Jugendkulturen erschienen ist, beschreibt Marco Höhn Visual Kei als translokale, mädchendominierte Jugendkultur. Sexualität im Visual Kei ist für Höhn vor allem eine „weit verbreitete
8 | Höhn 2008, S. 194. 9 | Ebd., S. 195. 10 | Ich werde Höhns Argumentation wiederholt aufgreifen und seine Position ergänzen oder korrigieren. 11 | Der negativ gefärbte Begriff Otaku bezeichnet Personen, die sich intensiv mit Japanischer Popkultur beschäftigen. 12 | Höhn 2008, S. 201. 13 | Ebd., S. 205.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 91
Inszenierung“14 , denn die Bisexualität, die ihm hier auffällt, könne nicht als „reale[s] Ausleben“15 gelten. An diesem Punkt endet seine Analyse bereits, indem er feststellt: „Visual Kei ist eine eindeutig mädchendominierte Szene“16 . Das Holzschnittartige seiner Argumentation wird untermauert, wenn er in diesem Text Visual Kei mit Gothic Lolita vermengt. Gothic Lolita hat zwar enge Verbindungen zum Visual Kei – wurde auch von einigen Protagonist_innen meiner Forschung gelegentlich verfolgt – aber es stellt ein anderes, eigenständiges Genre dar. Zu Beginn meiner Forschung fiel es auch mir schwer, Visual Kei und Gothic Lolita zu trennen, da subkulturelle Treffen von beiden Gruppen gleichermaßen besucht werden: Es fällt mir immer noch schwer die Visus zu erkennen – das muss noch besser werden. Ich laufe an zwei Mädchen? vorbei, die auf einer Mauer sitzen und sich unterhalten. Sie haben die Haare zu Zöpfen geflochten, rot geschminkte Lippen und tragen dunkle kurzgeschnittene Rüschenkleider und Spangenschuhe. Ich spreche sie an und frage, ob sie denn Visus seien. Nein, damit haben sie nichts zu tun. Sie sind Gothic-Lolitas! Dies ist ihrer Meinung nach eine eigenständige Kategorie. Von nun an werde ich mich vor allem an den Band-T-Shirts und an den Schuhen orientieren. [. . .] Also woran erkenne ich eigentlich Visus?17
Das Gothic Lolita etwas anderes ist als Visual Kei, war so eine der ersten Lektionen, die ich während der Feldforschung gelernt habe. Friedericke von Gross geht in ihren Texten18 aus einer medienpädagogischen Perspektive der Mediennutzung der Protagonist_innen im Visual Kei nach, erkennt in ihrer Beschreibung von Visual Kei jedoch – anders als Höhn – die Bedeutung der Musik und bezeichnet Visual Kei als „Jugendmusikkultur“19 . Bei von Gross steht vor allem die Nutzung des Internets im Fokus, denn „vor allem für Mitglieder von Spezialkulturen, denen im lokalen Umfeld die kritische Masse fehlt, ist das Internet somit ein Medium sozialer Integration und kann zumindest vorübergehend eine substituierende Funktion übernehmen“20 .
14 | Höhn 2007, S. 50. 15 | Ebd., S. 50. 16 | Ebd., S. 53. 17 | Forschungstagebuch vom 1. August 2009. 18 | Gross 2007, 2010a,b. 19 | Gross 2010a, S. 54. 20 | Gross 2010b, S. 156.
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Sie fragt nicht nur danach, wie das Internet genutzt wird, sondern auch, welche „informellen Kompetenzen“21 dabei angeeignet werden. Empirische Grundlage ihrer Texte sind qualitative leitfadengestütze Interviews mit Protagonist_innen der Subkultur.22 Nach einer kurzen Einführung zu Visual Kei kommt sie hier zu dem Schluss: Durch das Interesse am Thema werden Motivationen geweckt, gesuchte Informationen zu filtern, aufzubereiten und umzuschreiben. Diese Fähigkeiten sind Schlüsselkompetenzen, die sich in vielen Berufsbereichen einsetzen lassen.23
Zwar aus einem anderen Interesse heraus als dem meinen – nämlich eher an einer ökonomischen Verwertungslogik orientiert –, hat von Gross durchaus das produktive Potential aufgespürt, das Visual Kei inhärent ist. In einem ähnlichen Text schreibt sie dazu: „Die Jugendlichen weben sich ein Kompetenznetzwerk, welches geschickt die subjektiven Interessen und die gesellschaftlich inhärenten Anforderungen und Erwartungen miteinander verknüpft“24 . Diese Ausführungen suggerieren eine bewusste Entscheidung für dieses Handeln und diesen Kompetenzerwerb. Ob allerdings Subjekte so autonom handeln können, wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu klären sein. Ähnlich wie Höhn spricht auch von Gross von einer „Szene-Elite“25 in Deutschland und fasst darunter vor allem Personen mit organisatorischen Funktionen, wie Label-Betreiber_innen, DJs, Veranstalter_innen usw. Ich stimme ihnen grundsätzlich darin zu, dass es eine interne Differenzierung und Hierarchisierung gibt, habe jedoch in meiner Forschung erfahren, dass diese Differenzierung entlang gänzlich anders gelagerter Linien verläuft. Welche diese sind, wird im Fortgang der Arbeit herausgearbeitet werden. Die dritte der Autor_innen, die zu Visual Kei im deutschsprachigen Raum geforscht haben26 , ist Miyuki Hashimoto. In ihrem Text Visual Kei Otaku Identity—An Intercultural Analysis beschäftigt sich die Japanologin mit Visual Kei in Japan und
21 | Gross 2010a, S. 54. 22 | Auch bei von Gross ist es auffällig, dass die Protagonist_innen durchgängig mit ihrem Geburtsnamen zitiert werden. Warum das irritierend ist, kann in Kapitel 4 nachgelesen werden. 23 | Gross 2010a, S. 56. 24 | Gross 2007, S. 199. 25 | Gross 2010b, S. 163. 26 | Neben denen von Großmann, Hashimoto und Höhn gibt es einige Texte, in denen Visual Kei am Rande erwähnt wird – meist als ein Phänomen unter vielen. Manchmal in Zusammenhang mit Cosplay, Manga oder Boys’ Love. (Beispielsweise Hitzler und Niederbacher 2010; Okabe 2012).
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 93
Österreich. Grundlage dieser Studie sind qualitative Interviews und Meinungsumfragen in Österreich und Japan, mit dem Ziel eins Vergleichs zwischen Fans in beiden Ländern. Schon zu Beginn und im Titel macht Miyuki Hashimoto deutlich, dass Visual Kei für sie „a specific Otaku subculture“27 ist: Visual-Kei is a genre of Japanese popular culture and refers to a movement in J-Rock (music) that became popular in the early 1990’s. This is not so much characterised as a musical genre, but rather by its emphasis on visual expression. Band members often wear cross-gender makeup and clothing inspired by the visual design of Gothic, Punk and Glam Rock as well as by Japanese computer games and anime. Drawing on fetishistic elements, VisualKei exhibits the essence of otakism. Both Japanese and Austrian Visual-Kei fans like to wear makeup and costumes, thereby emulating their stars and expressing their tendency toward fetishistic behavior.28
Hashimoto erkennt im Visual Kei eine fetischistische Tendenz29 und versucht, diese mit ihren Daten zu belegen. Zunächst gibt sie einen Überblick zur Begriffsgeschichte von Otaku – auch hier wieder, ohne die positivistischen, essentialisierenden und pathologisierenden Beschreibungen zu kritisieren. Schlussendlich stellt sie jedoch fest, dass nicht alle Personen im Visual Kei eine Tendenz zum Fetisch haben, Visual Kei jedoch sehr „otakisch“ ist. Darin gäbe es keine Unterschiede zwischen Fans in Japan und Österreich. Sie konstatiert, dass Visual Kei in beiden Ländern, durch die aktive Teilnahme und der Kreativität, das Gefühl von Selbstbewusstsein vermittle.30 Warum das so sein soll und wie die Personen im Visual Kei durch die Teilhabe an der Subkultur gestärkt werden, wird lediglich mit der Befriedigung des fetischistischen Begehrens erklärt. Auffällig ist, dass in allen hier genannten Texten Visual Kei vor allem als mediales Phänomen beschrieben wird, und die Protagonist_innen der Subkultur als obsessive Nutzer_innen von Medien dargestellt werden. Darüber hinaus arbeiten die hier vorgestellten Autor_innen zwar qualitativ, es sind jedoch keine ethnografisch angelegten Studien, die tiefgehend den Alltag von Protagonist_innen im Visual Kei betrachten. Auffällig ist ebenso, dass in allen Texten die Frage nach Geschlecht, Sexualität und Begehren mehr oder weniger explizit mitschwingt, diese jedoch nicht zentral gesetzt wird. Festzustellen, dass Visual Kei eine mädchendominierte Subkultur ist, in der
27 | Hashimoto 2007, S. 87. 28 | Ebd., S. 87. 29 | Den Begriff des Fetisch entlehnt sie der psychoanalytischen Konzeptualisierung. 30 | Hashimoto 2007, S. 98.
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sich die meisten als bisexuell verorten, weil sie, in Anlehnung an japanische Bands und Popkultur, „Männer imitieren, die Frauen imitieren“31 , greift m.E. zu kurz. Darüber hinaus ist es irritierend, dass mit den Begriffen Szene, Subkultur, Popkultur, Jugendkultur oder Fans recht beliebig umgegangen wird. Ist es sinnvoll, Visual Kei als „Medienkultur“, „Jugendkultur“ oder „Jugendmedienszene“ zu kennzeichnen?32 Wenn ich hier von Visual Kei als Subkultur spreche, stellt sich die Frage, welche Paradigmen das Konzept impliziert und welchen analytischen Nutzen es hat. „Subkultur“ als Begriff hat fast jegliche Konturen verloren. Entweder der Subkulturbegriff wird vollends abgelehnt – es gibt nur noch einen heterogenen Mainstream – oder er beschreibt vage alle Szenarien in denen junge – oder oft gar nicht mehr so junge – Leute zusammentreffen, wo Musik und Stil ein Rolle spielen und wo eventuell Referenzen zu traditionellen Jugendkulturen vorhanden sind. Als Anfang des 21. Jahrhunderts der Subkulturbegriff in einer Reihe von Publikationen verabschiedet wurde, war innovative Subkulturforschung bereits zur Seltenheit geworden. Auch die zeitgleich aufgekommenen, vermeintlich weniger essentialistischen und einen dynamischeren Kulturbegriff gebrauchenden Forschungen, die den Begriff der Subkultur durch „Szene“, „neo-tribe“ oder „Bund“ ersetzten, konnten das Versprechen, eine Subkulturforschung neuen Stils hervorzubringen, nicht erfüllen.33 Demzufolge stecken möglicherweise zwar nicht die Subkulturen selbst, mit Sicherheit aber ihre wissenschaftlichen Beschreibungen seit Jahren in der Krise.
W ORKING
WITH
S UBCULTURE
The word ‘subculture’ is loaded down with mystery. It suggests secrecy, masonic oaths, an Underworld. It also invokes the larger and no less difficult concept ‘culture’. So it is with the idea of culture that we should begin.34
Wenn man über Subkulturen sprechen möchte, kommt man am Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), dem „Kindergarten“ der Britischen Cul-
31 | Nettingsmeier 2012. 32 | Um dieses Begriffschaos zu entwirren, was an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde, verweise ich auf Scherr (2009). 33 | Zur Kritik an Begriffen wie „neo-tribe“, „Bund“, „Lifestyle“ o.ä.: Vgl. Hodkinson (2002, S. 19 ff.), welcher sich auch dafür entscheidet am Subkulturbegriff festzuhalten. 34 | Hebdige 1987 [zuerst 1979], S. 4.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 95
tural Studies, nicht vorbei:35 Die Subkulturforschung des CCCS, unter der Leitung von Stuart Hall, war bahnbrechend, da sie Subkulturen erstmals einen sozialen und kulturellen Ort zuweist und betrachtet, wie sie sozial und semiotisch situiert sind. Zu den wichtigsten Arbeiten des CCCS zählen die Sammelbände Resistance Through Rituals (1976), Working Class Youth Culture (1976), Women Take Issue (1978), Culture, Media, Language (1980) oder The Empire Strikes Back (1982).36 Untersucht wurde hier die breite Palette britischer Nachkriegs-Subkulturen: Teddy Boys, Skinheads, Mods, Rastas, Motorrad-Rocker und Hippies.37 Die Arbeiten rund um das CCCS haben Subkulturen vor allem mit Gruppen assoziiert, die einen auffälligen Stil haben – das heißt, Mode, Musik und Sprache standen im Fokus der Betrachtung. Es waren weniger individuelle Intentionen und Motivationen, die hier als relevant gesehen wurden: Das CCCS orientierte sich besonders in den Anfängen – aus einer neo-marxistischen Perspektive – stark an einem Klassenmodell. Die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen für die Bildung von Subkulturen steht dabei an zentraler Stelle, besonders von strukturell bedingter Unterdrückung. Wie wird der Entmächtigung und Unterdrückung symbolisch widerstanden? Subkulturen wurden als Antwort auf die Positionen vor allem von working-class Jugendlichen auf ihre gesellschaftliche Situation in den 1960er und 1970er Jahren in Großbritannien verstanden.38 Subkulturen, so eine These vieler der Arbeiten am CCCS, sind als soziale Widerstandsformen zu begreifen, sowohl aktive als auch passive Kampfansagen an die jeweils normgebende Gesellschaft.39 Als zentral wurde der Gegensatz zwischen einer dominanten Kultur und subkulturellen Praxen verstanden:
35 | Die Geburtsstunden der Subkulturforschung werden jedoch meist mit der Chicago School in Verbindung gebracht, die Subkulturen vor allem als deviante Gruppen auffasst. Besonders gut zusammengefasst in Albert Cohen’s theoretischer Einführung zu Delinquent Boys. (Cohen 1955). 36 | Vgl. Schulman 1993. 37 | Der konzeptuelle Rahmen des CCCS ist folglich an die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse eines bestimmten historischen Abschnitts in Großbritannien gebunden. 38 | Hall, Jefferson et al. 2006 [zuerst 1976]; Hebdige 1987 [zuerst 1979]; Willis 1977. 39 | Dem CCCS ging es dabei auch darum den Zusammenhang zwischen Kultur und Macht zu verstehen, die „questions about the political valency of ‘resistance through rituals’ – the relationship of highly-stylised and culturally-elaborated social movements to class cultures and of cultural politics to other forms of social contestation.“ (Hall 2006, S. ix).
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youth culture must be understood as a response to the problems posed by a framework of bourgeois institutions but that response is the response from a working class experience of those institutions.40
Doch ist diese klare Trennung zwischen dominanter Kultur und Subkultur heute noch aufrecht zu erhalten? Die Medien dieser Auseinandersetzung – so die zweite zentrale These – generieren sich in den symbolischen Instrumenten von „Stil“ oder „StilRitualen“. Im Vordergrund stand so die Analyse signifizierender, stilistischer Praxen und symbolischer Bedeutungen: 1979 erschien Dick Hebdiges Subculture: The Meaning of Style, eine Arbeit, die auch abseits akademischer Kreise auf großes Interesse stieß. In diesem Klassiker der Subkulturforschung analysiert Hebdige den Kleidungsstil der Punk-Szene Großbritanniens, der auf radikaler Neukombination und Cut Up bestehender Stilelemente basiert. Durch Aneignung und Rekontextualisierung von Waren, die innerhalb eines unterdrückerischen kapitalistischen Systems produziert und durch konventionellen Gebrauch normiert wurden, sei somit die Produktion oppositioneller Bedeutungen möglich: „meanings which express, in code, a form of resistance to the dominant order [. . .] interrupting the process of ‘normalisation’“41 Die semiologische Interpretation übergreifender Stile und der damit homolog verbundenen subkulturellen Normen implizieren, dass diese auf „magische“ Weise Widersprüche lösen und symbolisch dominante Bedeutungen der Konsumkultur unterwandern können.42 Dieses Verständnis wird im folgenden Ausschnitt über britische Mods schön zusammengefasst: Thus the scooter, a formerly ultra-respectable means of transport was appropriated and converted into a weapon and a symbol of solidarity. Thus pills, medically diagnosed for the treatment of neurosis, were appropriated and used as an end-in-themselves [. . .] The style they created, therefore, constituted a parody of the consumer society in which they were situated. The mod dealt his blows by inverting and distorting the images (of neatness, short hair) so cherished by his employers and parents [. . .] The mod triumphed with symbolic victories [. . .].43
Es geht Hebdige vor allem um einen symbolischen Widerstand, in dem die Opposition zwischen Subkultur und dominanter Kultur betont wird. Diese Herangehensweise führte auch dazu, dass das CCCS – im Gegensatz zur Chicagoer Schule, die das „de-
40 | Corrigan und Frith 2006 [zuerst 1976], S. 199. 41 | Hebdige 1987 [zuerst 1979], S. 18. 42 | Ebd. 43 | Hebdige 2006 [zuerst 1976], S. 76.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 97
ep hanging-out“ etablierte – vorwiegend eine Textanalyse betrieb, mit dem Ziel einer semiotischen Dechiffrierung von Oberflächen, wie z.B. Mode. Die Subkultur und entsprechende „mythische“ Identitäten bieten aber nur „imaginäre“ Lösungen zu materiellen Problemen. Subkulturen stellen für die Forschungen rund um das CCCS, wie auch in der Chicago School, einen transformativen Raum zur Selbstverwirklichung, aber nur vorläufig und ohne Garantie bereit: Bestehenden Verhältnissen kann man darin nur bedingt und kurzfristig entkommen. Obwohl Hebdige höchstpersönlich schon 1988 konstatierte: Theoretical models are as tied to their own times as the human bodies that produce them. The idea of subculture-as-negation grew up alongside punk, remained inextricably linked into it, and died when it died44 ,
sollte es noch einige Jahre dauern, bis die Subkulturforschung, die sowohl inhaltlich als auch theoretisch sehr eng mit einer spezifischen Zeit im Großbritannien der 1960er und 1970er Jahre verbunden ist, weitergedacht wurde.45 Post-Subcultural-Studies Im Lichte des postmodernen Wandels, in dem sich eine Reihe binär gesetzter Oppositionen auflösen, im Zuge der fortschreitenden „Kulturalisierung der Ökonomie“46 , der transnationalen Ströme von Kultur und Kapital und der Ausweitung von Informations- und Kommunikationsnetzwerken werden die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Underground und Mainstream, Widerstand und Konformität porös.47 Aus dieser Entwicklung heraus haben sich in den letzten Jahren die Post-Subcultural-Studies entwickelt, materialisiert vor allem in dem 2003 erschienenen The Post-Subcultures Reader von David Muggleton und Rupert Weinzierl. Die PostSubcultural-Studies gehen vor allem der Frage nach, wie
44 | Hebdige 1988, S. 8. 45 | Beeinflusst wurde die Subkulturforschung vor allem durch die theoretischen Konzepte von Gramsci, Althusser, Barthes und Levi-Strauss. (Vgl. Hall 2006). 46 | Die postmoderne Verbreitung von Stilen in verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen schafft eine kulturelle Sphäre, die sich stark vom homogenen Massenkulturmodell der Frankfurter Schule unterscheidet. So heben zum Beispiel Holert und Terkessidis (1996, S. 9) gerade heraus, dass sich der Mainstream immer „minderheitlicher“ organisiert – und eben nicht als simple Monokultur. Sie sprechen von einem segmentierten Markt und einem Mainstream, der sich „vehement um das symbolische Kapital von ‚Minderheiten‘“ bemüht. 47 | Vgl. Jameson 1991.
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we might retheorize and reconceptualize youth (sub)cultural phenomena on the shifting social terrain of the new millenium, where global mainstreams and local substreams rearticulate and restructure in complex and uneven ways to produce new, hybrid cultural constellations.48
Dabei geht es vor allem um die Frage, ob sich Subkulturen und die soziale Welt so fundamental verändert haben, dass der Subkulturbegriff seine Erklärungskraft verloren hat. Kritik hat vor allem das starre Festhalten an Klassengegensätzen und das Verbleiben auf einer semiotischen Analyseebene der Forschungen des CCCS hervorgerufen. Es wurde kritisiert, dass für die CCCS-Subkulturforschung Formen des Widerstands rein auf Zeichenebene, d.h. in Form einer symbolischen, imaginären Beziehung existieren. Da sich demzufolge Widerstand in erster Linie auf der Ebene von „Stil“ ausdrückt, also durch die Konstruktion einer Auswahl an Objekten, Waren oder Handlungen zu einem Stil, werden Kleidung, Musik, Rituale und Sprache zu einem Moment des Widerstandes stilisiert, in dem sie als Antwort auf materielle Bedingungen von Beherrschten und Marginalisierten lesbar sind. In der Beharrung auf Differenz und Abgrenzung erscheint die Überwindung von Klassenschranken als utopisches Ziel, das jedoch nur symbolisch realisiert werden kann.49 Dies geht einher mit einer Naturalisierungstendenz, der Zementierung von Klassenverhältnissen, die eine Gesellschaftskritik ausblende und keine Alternativen aufzeigt: das CCCS spricht von einer recht starren Opposition zwischen Subkultur und hegemonialer Kultur. Das widerständige Moment liegt allein in der Aneignung eines spezifischen Stils durch proletarische Jugendliche.50 Den Post-Subcultural-Studies ist es jedoch in meinen Augen nicht gelungen, über diese Kritik hinauszuweisen und ein Modell anzubieten, wie heute sinnvoll zu Subkulturen geforscht werden kann. Vielfach wird auch vergessen, dass die Konzepte der Subkulturforschung vor mehreren Jahrzehnten entwickelt wurden und sicherlich den Verhältnissen in postmodernen Gesellschaften nicht mehr gerecht werden.51 Dies
48 | Muggleton 2003, S. 3. 49 | Überblick der Kritik bei Hall 2006. 50 | Damit bleibt in den klassischen Subkulturstudien auch unklar, welche Rolle der Handlungsfähigkeit (oder auch Wahlmöglichkeit und Vielfalt) von Subjekten zukommt. Diese ist in diesen Konzepten nicht verankert, da subkulturelle Praxen hier eher als „spontane“ Reaktion auf strukturelle Widersprüche verstanden werden. 51 | Dem Kulturanthropologen Bonz (2008, S. 147) scheint die „Verabschiedung des Subkulturbegriffs voreilig“. Er ist „stattdessen dafür, die Skepsis gegenüber dem Subkulturbegriff als einen Hinweis darauf zu verstehen, dass sich die Form der Subkultur seit den Siebzigerjahren enorm verändert hat“. Auch er plädiert dafür, am Subkulturbegriff festzuhalten.
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erkennt auch Stuart Hall in der überblicksartigen Einleitung zur Neuauflage von Resistance Through Rituals von 2006: Contemporary post-industrial societies have certainly become much more individualistic, socially fragmented and pluralistic since the since the 1960s and 70s with the result that class and culture are much more disarticulated than they were, and the whole subcultural field has become much more diffuse than it once was. [. . .] Class can no longer be predicted as primary in the production or explanation of stylistic ‘solutions’.52
Hall zufolge ist es weiterhin wichtig, Subkulturen nicht nur ethnografisch zu beschreiben, sondern ebenso die „großen Fragen“ nach der Reproduktion sozialer und kultureller Ordnung zu stellen, was viele Subkulturstudien innerhalb der Post-SubculturalStudies versäumen. Doch auch hier gibt es einige Ausnahmen, Autor_innen die zwar die Subkulturforschung des CCCS kritisieren, aber dennoch einige Aspekte aufgreifen und darüber hinausweisen. Reworking Subculture Eine der einflussreichsten Kritiken kam von Angela McRobbie – selbst am CCCS tätig – und entzündete die Debatte über die Legitimität konzeptioneller Grenzen zwischen Subkulturen und anderen „taste-based“ Gruppierungen. Aus einer feministischen Perspektive heraus hat ihre Kritik die Hauptargumente antizipiert, die dann zum Standard innerhalb der Britischen Cultural Studies wurden: The old model which divided the subculture from the contaminated outside world, eager to transform anything it could get its hands on into a sellable item, has collapsed, even though there still remains an ideology of authenticity which provides young people in youth cultures with a way of achieving social subjectivity and therefore identity through the subcultural experience.53
McRobbie stellte somit die starre Trennung zwischen hegemonialer Konsumkultur und Subkultur in Frage. Sie kritisierte aber vor allem die lang währende Ausblendung und Marginalisierung von Mädchen in der frühen Subkulturforschung, bei gleichzeitiger Fokussierung auf Männlichkeit: Very little seems to have been written about the role of girls in youth cultural groupings. They are absent from the classic subcultural ethnographic
52 | Hall 2006, S. xv f. 53 | McRobbie 1994, S. 161.
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studies, the pop histories, the personal accounts and the journalistic surveys of the field. When girls do appear, it is either in ways which uncritically reinforce the stereotypical image of woman with which we are now so familiar [. . .] or else they are fleetingly and marginally presented.54
Der Mythos subkultureller Subversion war/ist meist auch ein männlicher. Frauen, Lesben, Trans* oder Queers kommen darin nur selten vor, wenn überhaupt, dann nur in eigens gesetzten Diskursen und Historisierungen – wie z.B. die Riot Grrrls. Ich möchte daher behaupten, dass die Beobachtung McRobbies auch heute noch aktuell ist. Subkulturen sind auch heute noch häufig Jungenkulturen – oder werden als solche beschrieben und wahrgenommen.55 Visual Kei ist insofern eine Ausnahme, als das sich die meisten Protagonist_innen hier als Mädchen begreifen, es einige transgeschlechtliche Jungen gibt, und nur sehr wenige Personen als cis-männlich positioniert sind. Die Frage, welche Rolle Mädchen in Subkulturen spielen – das Thema der Männlichkeit wird breiter diskutiert – bleibt weiterhin bestehen. Auch Sarah Thornton gehört zu den postmodernen Kritiker_innen des SubkulturKonzeptes, hält jedoch einige Verbindungslinien zur CCCS-Forschung aufrecht. Immer wieder kommt sie auf die Subkulturforschung des CCCS zurück (insbesondere auf Hebdiges Subculture: The Meaning of Style), versteht sich jedoch selbst als „post-Birmingham“. Mit ihrer 1995 erschienenen Studie Club Cultures verschiebt Thornton den Blickwinkel der Subkulturforschung von dominanten Ideologien auf der einen und widerständischen, subversiven Subkulturen auf der anderen Seite, zu „subkulturellen Ideologien“56 . Den Subkulturbegriff verwendet sie, to identify those taste cultures which are labelled by media as subcultures and the word ‘subcultural’ as a synonym for those practices that clubbers call ‘underground’57 .
Thornton begreift die Aussagen der Protagonist_innen einer Subkultur als „Ideologien“58 , die bestimmte Zwecke erfüllen. Vor allem dienen sie dem Zweck der Abgrenzung und Unterscheidung. Dieser Prozess findet im Artikulieren von bestimm-
54 | McRobbie und Garber 1997 [zuerst 1975], S. 112. 55 | Es gibt zwar eine Reihe guter Studien über Mädchen in Subkulturen, diese sind aber weiterhin marginal. (Vgl. Driver 2007; Fritzsche 2003; Nayak und Kehily 2008). 56 | Thornton 1995. 57 | Ebd., S. 8. 58 | „Subcultural ideologies are a means by which youth imagine their own and other social groups, assert their distinctive character and affirm that they are not anonymous members of an undifferentiated mass.“ (ebd., S. 10).
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ten Werten und Geschmäckern statt, denn „club cultures are taste cultures“59 . Aber Disktinktion ist nicht einfach nur urteilsfreies Verkünden von Differenz: Während um Autorität und Authentizität gerungen wird, wird gleichzeitig die Minderwertigkeit anderer ausgedrückt. Innerhalb von Subkulturen werden eigene Hierarchien sichtbar60 , in denen verhandelt wird, „what is authentic and legitimate in popular culture – embodied understanding of which can make one ‘hip’“.61 Diese „Hipness“, als Ausdruck von Status und hierarchisch angeordneten Werten, deren Gegenseite der Mainstream ist, funktioniert durch „subkulturelles Kapital“. Der von Bourdieu entlehnte Begriff beschreibt Wissensformen, Kenntnisse und Kompetenzen, die einen gewissen Geschmack hervorrufen und dadurch Status suggerieren. Subkulturelles Kapital „confers status on its owner in the eyes of the relevant beholder“62 und ist damit entscheidend für die Legitimation und Stellung im Feld. Diese Form der Anerkennung verhält sich ähnlich wie kulturelles Kapital, ist jedoch weniger abhängig von Habitus, Klasse oder dem familiären Hintergrund, und verwandelt sich auch nicht unbedingt in ökonomisches Kapital. Stärker als Thornton verbleibt Paul Hodkinson in seiner Studie Goth. Identity, Subculture and Style im Subkulturkonzept und begreift Subkulturen als eine „relative substantive, clearly bounded form taken by certain elective cultural groupings“63 . Anders als bei Club Cultures, wo die Zugehörigkeit zur Subkultur lose und unverbindlich ist, lässt sich beim Gothic tatsächlich recht leicht feststellen, welche Personen dazu gehören. Ähnlich wie Gothic, kann auch Visual Kei als „bounded form“ beschrieben werden, wie wir später noch sehen werden.64 In seinem Versuch die Goth-Szene zu charakterisieren schlägt Hodkinson eine Neu-Definition des Subkulturbegriffes vor und kristallisiert dabei vier Kriterien heraus: identity, commitment, consistent distinctivness und autonomy.65 Diese sollen jedoch nicht als feststehendes Raster begriffen werden, sondern als Komponenten, die kumulativ den Subkulturbegriff schärfen sollen. „Subcultures then, can be seen as distinguishable from more fluid elective collectivities by their level of substance, so-
59 | Ebd., S. 3. 60 | Thornton kritisiert an der CCCS-Subkulturforschung, dass diese den Hierarchien innerhalb von Subkulturen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. 61 | Thornton 1995, S. 3. 62 | Ebd., S. 11. 63 | Hodkinson 2002, S. 9. 64 | Im Visual Kei lassen sich auch zahlreiche stilistische Anleihen aus dem Gothic finden. 65 | Hodkinson 2002, S. 29.
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mething indicated by the relative satisfaction by a given criteria outlined.“66 Trotz der relativen Gebundenheit bleibt jedoch auch eine gewisse Vielfalt bestehen, wenn z.B. Personen subkulturelle Werte teilen ohne jedoch mit vollem Engagement dabei zu sein, oder wenn besonders engagierte Personen auch andere Interessen oder Prioritäten haben. Hodkinson hat damit den Blickwinkel von den äußerlich beobachtbaren Faktoren, wie Stil, Artefakten oder Aktivitäten hin zu den Motivationen, Intentionen und Verortungen der Protagonist_innen einer Subkultur verschoben. In dieser Arbeit möchte ich nun nach einer doppelten Strategie verfahren und in Anlehnung an Hodkinson und Thornton eine konstruktive Neujustierung der Subkulturforschung versuchen: „acknowledging the new without losing what may still be serviceable in the old.“67 In beiden Studien wird deutlich, dass sich Subkulturen ins Verhältnis zu „basaler Kultur“68 setzen, und damit eine Notwendigkeit der Bezeichnung hervorrufen. Obwohl gerade Visual Kei auf den ersten Blick als oberflächliches, rein stilistisches Phänomen erscheinen kann, reicht es nicht aus, ausschließlich auf der Zeichen- und Stilebene zu bleiben. Auf einige Betrachter_innen wirkt Visual Kei inhaltsleer, selbstverliebt und oberflächlich: eine unverbindliche Stilgemeinde. Ich möchte jedoch in Anlehung an die neuere Subkulturforschung argumentieren, dass die fehlende Anbindung an eine spezifische Schicht oder eine politische Bewegung nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel in Bezug auf Subkulturen darstellt.69 Spätestens mit Techno wurde deutlich: Subkulturen entspringen nicht zwangsweise einer spezifischen sozialen Schicht und richten sich ebenso wenig ausschließlich gegen hegemoniale Gesellschaftsstrukturen. Während dies bei den britischen Mods, Teds und Skinheads, die der Arbeiterklasse zugerechnet wurden, noch relativ deutlich war, stellte sich schon Punk zu Beginn der 1970er Jahre als durchlässiger dar, da hier ebenso Arbeiter_innen wie auch Kunststudent_innen involviert waren. Die Grundkonstante, auf die man sich hier einigen konnte, war der Do-It-Yourself-Gedanke, der sich mittlerweile in fast allen Subkulturen finden lässt. Subkulturen hängen so nicht nur mit musik- oder stilmäßiger Distinktion zusammen, sondern immer auch mit alltäglichen Dingen, wie Geschlechterrollen, Körperpraxen, Lebensentwürfen, Karriereplanung und Beziehungsgeflechten. Und vielleicht sind es gerade diese alltäglichen
66 | Hodkinson 2002, S. 33. 67 | Hall 2006, S. xii. 68 | Bonz 2008, S. 58. 69 | Dennoch zeigen einzelne Studien, wie die von Ege (2011), dass in bestimmten Kontexten Klasse oder soziale Schicht wichtige Momente von Zugehörigkeit erzeugen. Diese Kategorien möchte ich daher nicht verwerfen, ihnen vielmehr weitere Ungleichheitskategorien zur Seite stellen.
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Dinge, die die damit verbundenen (politischen) Ideen und Strategien zu mehr als nur Stilelementen und Zeichenfetischismen machen. Die Subkulturforschung des CCCS wird damit jedoch nicht unbedeutend, denn sie weist beständig auf die Frage hin, warum Gesellschaft und Kultur heute als fragmentiert verstanden werden, warum Kategorien scheitern, und wie diese Verschiebungen passieren, zu welchen sozialen und kulturellen Prozessen sie in Beziehung stehen. So gilt es auch herauszufinden, „what is the postmodernism in subcultures symptomatic of?“70
S UBJEKTE
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In einem einführenden Band zu den Cultural Studies – die vor allem auch von Akteur_innen rund um das CCCS beeinflusst wurden – stellt McRobbie die Konzepte von Butler und Bourdieu als bedeutend für die Cultural Studies vor.71 Butler setzt sie in Beziehung zu den feministischen Cultural Studies72 , denn ihre Konzepte erlauben es innerhalb von Subkulturen zu verstehen, wie die heterosexuelle Matrix ihre Dominanz aufrecht erhält, aber auch, wie Subkultur Geschlechtergrenzen definiert und neu-interpretiert.73 Obwohl sich Bourdieu wiederholt skeptisch gegenüber den Cultural Studies zeigte, hält McRobbie die Konzepte von Habitus und Feld besonders geeignet, der Romantisierung von Subkulturen, als per se subversiv und emanzipativ, Einhalt zu gebieten: Bourdieu goes to great lenghts to differentiate his model of social action (practical sense), from those cultural studies models of active, expressive, ‘working-class’ culture. Bourdieu’s work can be characterised as theorising action more expansively, so as to all the better understand its limits, its reinscription within the forces or fields of constraint.74
70 | Hall 2006, S. xii. 71 | McRobbie 2005. 72 | „Butler’s work is absolutely necessary to feminist media and cultural studies, that we cannot do without it.“ (Ebd., S. 70). 73 | In Butlers Bezug auf Althusser wird die Verbindung zu den Cultural Studies besonders deutlich, da Interpellation als Konzept und die Frage, wie Ideologien Subjekte konstituieren, zentrale Gegenstände des CCCS waren. 74 | McRobbie 2005, S. 123.
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Darüber hinaus geht McRobbie davon aus, dass die Subkulturforschung vor allem die Auseinandersetzung mit Subjekttheorien vernachlässigt hat.75 In Bezug auf die Konstitution von Subjekten weist sie die Leser_innen explizit darauf hin, „how close Bourdieu is to Butler in this respect. [. . .] They both must be thought together, because they are so deeply entangled.“76 Wie aber kommt das Subjekt in die Subkultur? Wie nah sind Butler und Bourdieu in ihrem Denken, wie können sie zusammengebracht werden, wie ist ihr Denken verknüpft und wo gibt es Unterschiede? Während sich Bourdieu von der Philosophie abwandte, um sozialwissenschaftlich zu arbeiten, gab Butler das philosophische Feld nie auf. Während Bourdieu an den Strukturalismus anknüpft, ist Butler dem Poststrukturalismus77 zuzurechnen. Kann es dennoch sinnvoll sein, beide Denker_innen unter einer leitenden These aufeinander zu beziehen? Hat nicht Bourdieu selbst immer wieder auf seine Differenzen zu Poststrukturalist_innen wie z.B. Foucault hingewiesen?78 Kritisiert nicht Butler die bourdieusche Auffassung der Sprechakttheorie?79 Trotz aller Unterschiede zwischen Butler und Bourdieu zeigen sich Parallelen, die es erlauben, ihre theoretischen Ansätze zueinander ins Verhältnis zu setzen. Verschiedene Verknüpfungen sind denkbar: ihre Vorstellungen von Macht, ihre Betrachtungen zur Sprechakttheorie, ihre Äußerungen zu den Möglichkeiten politischer Intervention, ihr Bezug auf die Tradition der Wissenschaftsphilosophie oder zur Konstruktion von Körper und Geschlecht. Auffällig ist auch die ähnliche Rolle, die Praxis in beiden Ansätzen spielt. Auf dieser Beobachtung gründe ich folgende These: Butler und Bourdieu beziehen sich auf Praxis, um zu erklären, wie Subjektivität generiert wird. Beide Ansätze sind in der Weise vergleichbar, in der sie Praxis in ihr Denken einbeziehen und mit Prozessen der Entstehung von Subjekten und Körpern in Beziehung setzen. Obgleich sie unterschiedliche Gegenstandsbereiche betrachten, sehe
75 | „That spectrum of interest in (feminist) cultural and media studies which runs from texts to youth culture and audiences has been lacking in sustained engagement with theories of the subject in favour of more sociological accounts of active audiences or subcultural resistance and this absence in turn accounts for a tendency to generalisation and lack of attention to the micrological interfaces between text and subject.“ (McRobbie 2005, S. 85). 76 | Ebd., S. 125. 77 | Der Begriff „Poststrukturalismus“ – mit der ihm eigenen Doppeldeutigkeit des Präfixes „post“ – ist in zeitlicher Nachfolge als auf dem Strukturalismus aufbauende und diesen verändernde Theorierichtung zu verstehen. Der Fokus liegt hier stärker auf der Veränderbarkeit und den Dynamiken von Strukturen und Zeichensystemen. (Vgl. Müller 2009, S. 13). 78 | Vgl. Bourdieu 2002; Callewaert 2006. 79 | Butler 1999, 2006.
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ich eine grundlegende Gemeinsamkeit darin, dass beide Konzeptionen weder hermetisch noch deterministisch sind, sondern vielmehr von einer inhärenten Dynamik der Strukturzusammenhänge ausgehen. Gemeinsam ist ihnen auch das Verständnis von der Materialität sozialer Praxen. Dies ist durchaus eine These die Widerspruch hervorrufen mag: Ist es nicht so, dass Butler und Bourdieu sich dem Individuum mit ganz verschiedenen Ansätzen nähern? Beschäftigt sich Butler nicht mit dem Subjekt auf philosophische Weise, während es Bourdieu, aufbauend auf seinen ethnografischen Analysen, um den „gesellschaftlichen Akteur“ geht? Das ist richtig, widerspricht aber nicht dem eben Gesagten. Terminologisch gesehen gibt es tatsächlich kein Subjekt bei Bourdieu. Doch auch wenn er sich stattdessen auf den „Akteur“ (acteur) bezieht, verwirft er die Subjektkategorie nicht vollständig, sondern verabschiedet diese Idee in ihrer transzendentalen Bedeutung kantischer Tradition. Im Habituskonzept erscheint Subjektivität als Ergebnis gesellschaftlicher Praxis, sie wird in Abhängigkeit von kulturellen Voraussetzungen gedacht: „Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.“80 Die Arbeiten von Butler und Bourdieu sind bereits vielfach diskutiert worden – auch im Hinblick auf die in ihnen enthaltene Subjekttheorie.81 Daher möchte ich diese in ihren jeweiligen Besonderheiten aufeinander beziehen und in queer-feministischer, ethnologischer Perspektive den subjekttheoretischen Gehalt ausreizen und an die jeweilige Grenze führen. Ich möchte deutlich machen, dass sowohl für die Europäische Ethnologie als auch die queer-feministische Forschung wichtige Erkenntnisgewinne gerade dadurch ermöglicht werden, dass die beiden Perspektiven in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer analytischen Unabhängigkeit bewahrt bleiben. So ist es möglich, die Momente symbolischer Ordnung in ihrer konstitutiven Bedeutsamkeit für Subjektivität und Handlungsfähigkeit aufeinander zu beziehen, ohne sie zu verkürzen. Analyseleitend ist dabei das Bild der „Sedimentierung“, welches ich in Kapitel 4 entwickeln werde. Zentral für den Subjektivierungsprozess – sowohl bei Butler als auch bei Bourdieu – ist die Verbindung, die Praxis und Körper miteinander eingehen. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Ähnlichkeiten: in der Vorstellung von durch gesellschaftliche Praxis erzeugten Subjekten bzw. Akteur_innen – und zwar durch eine Praxis, die sich auf den Körper bezieht. Der Geist wird erst durch die Inanspruchnahme der körperlichen Dimension erreicht. Wird Subjektivität als wesentlich praktisches Verhältnis bestimmt, so liegt hierin die Zurückweisung der Gleichsetzung von Sub-
80 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 159. 81 | McNay 1999; Meißner 2010; Redecker 2011.
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jektivität und Selbstbewusstsein (Descartes) sowie derjenigen von Subjektivität und Selbstbestimmung (Sartre). Die Vorstellung, dass Subjektivierungsprozesse wesentlich praktisch ablaufen, bezieht die Gesellschaft mit ein und besitzt somit politische Implikationen und Konsequenzen: Verlegen Ansätze, die ihren Fokus auf den freien Willen richten, die Herausbildung von Subjektivität auf die Ebene eines von äußeren Bedingungen weitgehend unabhängigen mentalen Prozesses, so begreifen Butler und Bourdieu die subjektbildende Praxis als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Diese Grundannahme soll im Folgenden plausibel gemacht werden; es soll erläutert werden, wie die subjektbildende Praxis als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen von Butler und Bourdieu theoretisch gefasst wird. Wie markiert die Konstitution von Subjekten in der Subkultur Visual Kei in und durch Praxis einen Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung? Wie konstituieren sich lebbare Subjekte, warum werden andere verworfen oder verunmöglicht? Die performative Hervorbringung des Subjekts Als eine wichtige Theoretikerin eines queeren Programms geht Judith Butler den Fragen nach, wie Subjekte konstituiert und möglich werden. Butler verwahrt sich schon in der Einleitung zu Körper von Gewicht – gerade auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Debatte um Das Unbehagen der Geschlechter – gegen die Festlegung auf eine rein konstruktivistische Lesart theoretischer Konzepte und favorisiert etwas, was man eine diskursanalytische Dekonstruktion nennen könnte. Darin liegt m.E. eine ihrer Stärken, wenn sie verschiedene, als disparat angesehene, im poststrukturalistischen Kontext situierte Theorien zusammendenkt, und für die Queer Studies fruchtbar macht.82 Die Grundhaltung der Dekonstruktion, dass auch wenn normative Ordnung eng geknüpft ist, immer noch die Chance besteht die gegebenen Formen auf raffinierte Weise gegeneinander auszuspielen, nutzt Butler für ihr Verständnis sozialer Ordnung. Sie arbeitet in ihrem Werk komplex die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen von sozialen Normen und deren Verhältnis zur Subjektkonstitution aus: Die Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. Und von dieser Bedingung, vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her, entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier
82 | Dies ist vor allem die Diskursanalyse Michel Foucaults, die Dekonstruktion nach Jacques Derrida und die Psychoanalyse nach Jacques Lacan.
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kein Diskurs angemessen ist oder dass unsere Diskurse in eine Sackgasse geführt haben.83
Ziel ihrer Lesart ist weder eine „Entkörperung“ noch eine „Entmachtung des Subjekts“84 wenn zunächst einmal nachvollzogen werden soll, wie sich die Rede von Subjektivität, Identität und Körper konstituiert. Butler stellt vielmehr die Frage danach, wie der Prozess der Subjektivierung aussieht, in dem Geschlechterdifferenz in die Ausstattung des Subjekts mit sozialer Identität und mit einer Integrität des Körpers verbunden ist. Geschlecht Vor allem im letzten Teil von Das Unbehagen der Geschlechter entwickelt Butler ihre Theorie der Performativität von Geschlecht und setzt sich mit den Funktionsund Zwangsmechanismen der Heterosexualität auseinander.85 Wenn Butler hier von einer heterosexuellen Matrix spricht, dann meint sie damit in Anlehnung an Monique Wittigs Terminus des „heterosexuellen Vertrags“ – ein „Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das Körper, Geschlechtsidentitäten86 und Begehren naturalisiert werden“87 . Innerhalb eines hegemonialen epistemischen Diskurses sind Körper nur lesbar und „sinnvoll“, wenn sie mit einem festen Geschlecht verbunden sind, das sich in einer deutlichen Geschlechtsidentität ausdrückt. Innerhalb der „Praxis der Heterosexualität“ wird die Geschlechtsidentität als binär und hierarchisch festgelegt. Mit dieser Praxis sind auch die Protagonist_innen im Visual Kei konfrontiert und müssen sich dazu in Beziehung setzen und verhalten. Doch die zwingende, gewaltsame Pra-
83 | Butler 2002, S. 253. 84 | „Das Subjekt weist nicht erst eine intakte ontologische Reflexivität auf und ist dann in einem zweiten Schritt in einem kulturellen Kontext situiert. Vielmehr ist dieser kulturelle Kontext sozusagen immer schon da als der disartikulierte Prozess der Konstruktion des Subjekts.“ (Butler 1993, S. 44). 85 | Der erste Teil interveniert in Anlehnung an Foucault und Derrida in die bestehende feministische Theoriebildung, und im zweiten Teil finden sich Überlegungen zur Verkörperung geschlechtlicher Normen über melancholische Identifikation. 86 | Der Begriff Geschlechtsidentität steht bei Butler für „gender“ und bezieht sich auf kulturelle und gesellschaftliche Identitätskonzepte, kennzeichnet folglich das soziale oder psychologische Geschlecht eines Subjekts. Der Begriff „gender“ wurde als terminus technicus aus der englischsprachigen Geschlechterforschung übernommen, um so eine Unterscheidung zwischen sozialem (gender) und biologischem (sex) Geschlecht treffen zu können, da das deutsche Wort Geschlecht in beiden Bedeutungen verwendet wird. 87 | Butler 1991, S. 21.
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xis, die geschlechtliche Norm zu verkörpern, ist eine „Anweisung, die niemals ganz erwartungsgemäß ausgeführt wird, deren Adressat das Ideal niemals völlig ausfüllt, dem sie/er sich gezwungenermaßen annähert.“88 Butlers Kritik setzt vor allem an der rigiden sex–gender–Unterscheidung an: Mit der ausschließlichen Konzentration auf gender, transportiert diese kategorieale Trennung unhinterfagte und unausgesprochene Grundannahmen über die Natürlichkeit der Geschlechtskategorien mit. Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.89
Die Wahrnehmung von Geschlecht als ontologischer Konstante bedeutet, dass eine auf einer asymmetrischen Opposition der Geschlechter basierende Gesellschaftsordnung als immer schon vorgegebene und selbstverständliche erscheint. Zum anderen wird auch in der Rede vom sozialen Geschlecht als Geschlechtsidentität schon eine spezifische Morphologie von Geschlechtskörpern suggeriert. Butler stellt fest, dass die spezielle soziokulturelle Konstruktion von Geschlechtskategorien Geschlecht nicht einfach als etwas Naturgegebenes konstruiert, sondern als etwas Vordiskursives, biologisch Manifestiertes. Sex erlange seinen Effekt des Naturalisierten als sedimentierte Wirkung einer repetitiven rituellen Praxis: Von entscheidender Bedeutung ist demnach, dass die Konstruktion weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozess ist, der von einem Subjekt ausgeht und in einer Auswahl festgelegter Wirkungen endet. Konstruktion findet nicht nur in der Zeit statt, sondern ist selbst ein zeitlicher Prozess, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert90 .
Butler hat nicht nur aufgezeigt, dass die starre Trennung der Kategorien sex und gender theoretisch problematisch ist, sondern dass auch eine dritte Kategorie, das sexuelle Begehren, in die theoretische Reflexion über die Bedeutung von Geschlechterdifferenz einbezogen werden muss: Sexualität ist immer durch Diskurs und Machtverhältnisse konstruiert. Damit erweist sich die Vorstellung einer ontologischen, „naturgegebenen“ Sexualität „vor der Macht“ als „kulturelle Unmöglichkeit und politisch unrealisierbarer Traum.“91 Nach der kritischen Genealogie von Geschlecht zeigt Butler anhand von drag, wie genau Geschlecht „funktioniert“:
88 | Butler 1997, S. 317. 89 | Butler 1991, S. 24. 90 | Butler 1997, S. 32. 91 | Butler 1991, S. 56.
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Wenn die Travestie ein einheitliches Bild der ‚Frau‘ erzeugt (wie ihr die Kritik entgegengehalten hat), offenbart sie mindestens ebenso umgekehrt die Unterschiedenheit dieser Aspekte der geschlechtlich bestimmten Erfahrung (gendered experience), die durch die regulierende Fiktion der heterosexuellen Kohärenz fälschlich als eine natürliche Einheit hingestellt wird. Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz.92
In der Imitation von Geschlecht offenbart drag die imitative Struktur von Geschlecht an sich, und damit eben auch die Kontingenz der vorherrschenden Formen. Folglich ist auch das vermeintliche Original abgeleitet – ist vielmehr eine Kopie eines spezifischen Ideals. Die Imitationen von Normen, die sich in Gesten, Körperhaltungen, Kleidung oder Verhalten finden, bilden die Grundlage der Geschlechtsidentität, und damit nicht ein innerer Kern des Subjekts, von dem sich ein spezifisches Auftreten ableiten ließe. Butler fragt danach, wie Identität93 und innere Kohärenz eines Subjekts durch Regulierungsverfahren in der Konstitution von Geschlechtern überhaupt erst gebildet wird. Wie beherrschen diese Regulierungsverfahren, die die Geschlechtsidentität bestimmen, auch die kulturell anerkannten und lesbaren Identitätsbegriffe? Da Identitäten durch das stabilisierende Dreigestirn von „sex“, „gender“ und „desire“ abgesichert werden, „sieht sich umgekehrt der Begriff der ‚Person‘ selbst in Frage gestellt, sobald in der Kultur ‚inkohärent‘ oder ‚diskontinuierlich‘ geschlechtlich bestimmte Wesen auftauchen, die Personen zu sein scheinen, ohne den gesellschaftlich hervorgebrachten Geschlechter-Normen (gendered norms) kultureller Intelligibilität zu entsprechen, durch die die Person definiert ist.“94 Wenn es der Person nicht gelingt, eine Dauerhaftigkeit und Stimmigkeit zwischen sex, gender und desire darzustellen, erscheint sie nicht intelligibel und gesellschaftlich anerkannt. Dies schließt an meine Forschungsfrage nach den möglichen geschlechtlichen Verortungen der Protagonist_innen im Visual Kei an: Welche geschlechtlichen Äußerungen sind innerhalb der heterosexuellen Matrix möglich? Daher wird im folgenden Kapitel (Kapitel 4) auch zu klären sein, wie Normen in Gesten, Körperhaltungen, Stilisierungen oder Handlungen imitiert und produziert werden.
92 | Ebd., S. 202. 93 | Sie begreift „Identität“ als Effekt diskursiver Praxen, als Effekt einer regulativen Praxis, manifestiert in der heterosexuellen Matrix. (Vgl. dazu auch Hark 1999). 94 | Butler 1991, S. 38.
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Performativität Die Geschlechtsidentität erweist sich als performativ, d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht. [. . .] Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ‚Äußerungen‘ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.95
Performativität ist das verbindende Element in der Theorie Butlers, unter dem die Konzepte von Sprache, Macht und Subjekt zusammengeführt werden.96 Es steht vor allem für die praxeologische Seite der Kulturtheorie Butlers, da es ihr dazu dient, gesellschaftliches Handeln zu erklären. Ihren Performativitätsbegriff entwickelt Butler vor allem mit Blick auf die sex/gender-Unterscheidung, die sprachphilosophischen Diskussionen zwischen Austin und Derrida und ihre Analyse von „hatespeech“. Der Ausdruck „performativ“ ist eine Wortprägung des Oxforder Sprachphilosophen John L. Austin. Während konstative Äußerungen einen bestehenden Sachverhalt beschreiben oder Tatsachen behaupten und folglich gelingen oder nicht-gelingen, vollziehen performative Äußerungen eine Handlung, die sie benennen. Mit performativen Sprechakten werden Handlungen vollzogen, Tatsachen geschaffen und Identitäten gesetzt. Butler geht jedoch über die Austin’sche Sprechakttheorie hinaus und macht den ursprünglich sprachwissenschaftlichen Begriff für eine Theorie gesellschaftlichen Handelns anwendbar. Die in ein Geflecht aus Autorisierung und Bestrafung miteinbezogenen performativen Äußerungen neigen dazu, juristische Urteile, Taufen, Inaugurationen, Eigentumserklärungen einzuschließen, Erklärungen also, die nicht allein eine Handlung vollziehen, sondern der vollzogenen Handlung eine bindende Kraft verleihen.97
Dabei macht Butler deutlich, dass diese Handlungen kein Subjekt voraussetzen, dass sich dieses vielmehr darin konstituiert. Die Handlungen sind nicht als ein einzelner, vorsätzlicher „Akt“ zu verstehen, sondern entfalten ihre Wirksamkeit erst in der repetitiven Nachahmung.
95 | Butler 1991, S. 49. 96 | Das heißt jedoch nicht, dass die Elemente als unabhängig voneinander zu denken sind, sie bilden vielmehr das Gerüst für Butlers Kulturtheorie. 97 | Butler 1997, S. 309.
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Demzufolge zitiert der Richter, der die Situation autorisiert und einsetzt, die er benennt, ausnahmslos das Gesetz, das er anwendet, und es ist die Macht dieses Zitats, die der performativen Äußerung ihre bindende oder verleihende Kraft gibt.98
Für poststrukturalistische Positionen entscheidend ist die Differenzierung zwischen Performanz, „performance“ und Performativität. Während Performanz verstanden als Aufführung oder Vollzug einer Handlung ein handelndes Subjekt vorauszusetzen scheint, bestreitet der Terminus Performativität gerade die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts. Performanz, als darstellerische Realisierung, verweist auf einen begrenzten „Akt“, während Performativität „in einer ständigen Wiederholung von Normen besteht, welche dem Ausführenden vorhergehen“.99 Die Performativität einer Äußerung unterstreicht deren Kraft, das Äußerungssubjekt und die Handlung, die sie bezeichnet, in und durch diesen Äußerungsakt allererst hervorzubringen. In Anlehnung an Derrida akzentuiert Butler darüber hinaus die Iterabilität und Zitathaftigkeit performativer Äußerungen. Damit eine performative Äußerung gelingen kann, muss sie als zitathafte oder ritualhafte Form in einem System gesellschaftlich anerkannter Konventionen und Normen erkennbar und wiederholbar sein. Das heißt auch, dass die Möglichkeit des Scheiterns und des Fehlschlagens performativer Äußerungen dem Sprechen und der Sprache nicht äußerlich, sondern inhärent ist, denn die beständigen Wiederholungen sind „niemals einfach Ausfertigungen desselben“100 . Performative Hervorbringung des Subjekts Knapp zusammengefasst hat Butler kürzlich ihr Verständnis von Subjekt im Interview mit Sabine Hark und Paula-Irene Villa: If we think about subject formation, the social is already at work, which means that individuals are formed through social categories that include gender and nation, among others. So the ‘group’ is neither a simple collection of individuals, nor is it is [sic!] a different kind of subject. It is already there as part of the social condition of subject formation, orchestrating the primary field of infancy, including language acquisition, modes of identification and dis-identification, and even somatic self-understanding.101
98 | Ebd., S. 309. 99 | Ebd., S. 321. 100 | Ebd., S. 311. 101 | Butler 2011, S. 202.
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Die Vorstellung einer unvergänglichen Substanz des Subjekts arbeitet Butler beständig als reine Fiktion heraus, die performativ hervorgebracht und erzwungen wird. Meine Überlegungen gründen vor allem auf der ausführlichen Arbeit von Hanna Meißner Jenseits des autonomen Subjekts, in der sie Butlers Überlegungen zur Konstitution von Subjekten und Handlungsfähigkeit denen von Marx und Foucault gegenüber stellt.102 Sie geht davon aus, dass Butler einen genuin gesellschaftstheoretischen Beitrag zum Verständnis der Konstruktion und Kontextualität von Geschlecht [leistet]. Sie macht einen Vorschlag, wie Geschlecht als Strukturkategorie gedacht werden kann, ohne die prinzipielle Binarität dieser Konstruktion einfach als gegeben vorauszusetzen oder als geschlossene Struktur zu reproduzieren. Verbunden ist damit auch eine spezifische Perspektive der Gesellschaftskritik: Kann sich diese nicht auf vorgängige Subjekte berufen, dann stehen ihr auch keine allgemeinen normativen Grundlagen zur Verfügung.103
Daran anschließend möchte ich argumentieren, dass Butler mit ihrem Konzept der Performativität ganz explizit auf das Zusammenspiel von Handlung und Struktur eingeht und ihre Thesen historisch situiert.104 Ähnlich wie Bourdieu geht sie davon aus, dass das Subjekt nicht einfach situiert ist (als Arbeiter_in, Wissenschaftler_in usw.), sondern dass es vielmehr erst durch diese strukturelle Position hervorgebracht wird. Butler geht davon aus, dass es keine ontologische Konstante von Subjekten gibt. Folglich fassen sowohl Butler als auch Bourdieu den Prozess der Subjektivierung als gesellschaftlich und kulturell hervorgebracht: „Die Bereiche der politischen und sprachlichen ‚Repräsentation‘ legen nämlich vorab die Kriterien fest, nach denen die Subjekte selbst gebildet werden, so daß nur das repräsentiert werden kann, was als Subjekt gelten kann.“105 Butler zufolge sind Subjekte Machtregimen unterworfen, sie werden durch diese reguliert und kongruent zu hegemonialen Strukturen überhaupt erst hervorgebracht, bestimmt und reproduziert. Diesem Prozess gilt es sich zu unterziehen, um überhaupt Subjekt zu sein. Damit ist die Konstitution des Subjekts auch mit spezifischen Legitimations- und Ausschlusszielen verknüpft, die jedoch von der
102 | Meißner 2010. 103 | Ebd., S. 24. 104 | Meißner (ebd., S. 23) gibt hier den wichtigen Hinweis, dass Butlers Feststellung, dass die Identität von Subjekten durch die stabilisierenden Konzepte von gender, sex und Sexualität gesichert wird, zu einem von Butler nicht gewünschtem Universalismus führen kann. Ohne genauere Kontextualisierung des abendländischen Konzepts von gender, sex und Sexualität erscheint dieses als universelle Struktur. 105 | Butler 1991, S. 16.
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scheinbaren „Natürlichkeit“ machtvoller Strukturen verdeckt werden. Es gibt kein Subjekt, das „vor dem Gesetzt steht“106 . Die Unmöglichkeit eines völligen Wiedererkennens, d.h., die Unmöglichkeit, den Namen, von dem jemandes soziale Identität inauguriert und mobilisiert wird, jemals ganz auszufüllen, impliziert überdies die Instabilität und Unvollständigkeit der Subjektbildung.107
Durch die diskursive Zuweisung von Subjektpositionen und in Diskursen stattfindenden Benennungen werden Individuen über die Subjektivation zu intelligiblen Subjekten und können folgend innerhalb von Gesellschaften bedeutungsvoll handeln. Sprache ist ein zentrales Element der Subjekttheorie Butlers: Subjekte konstituieren sich in unmittelbarer Abhängigkeit von Sprache und sind Butler zufolge ohne diese Beziehung nicht zu denken. Butler geht davon aus, dass auch Körper von Sprache abhängig sind. Denn nur was benannt wird, ist der Anerkennung zugänglich und wird Teil der sozialen Wirklichkeit: Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinn ins Dasein bringt oder ernährt. Vielmehr wird eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch möglich, daß er sprachlich angerufen wird. [. . .] Die Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung oder umgekehrt, außerhalb dieses Kreislaufs, in der Verworfenheit.108
Um überhaupt anerkennbar zu sein, müssen folglich Körper und Subjekte zuvor benannt worden sein. Eva von Redecker macht deutlich, dass Normen nicht nur Bedeutungen in Körper einschreiben, sondern auch die Gestalt von Körpern beeinflussen können: Ein bestimmter Fitnessdiskurs und Vorstellungen idealtypischer Bodybuilder erzeugen tatsächlich ‚Materie‘, und zwar, indem sie zu bestimmten repetitiven Praktiken anstiften, die Muskelmasse hervorrufen. Und genauso schlägt sich die ‚Zeichenkette‘ weiblicher Schlankheitsideale materiell nieder, die eine_n schon bei einer 20minütigen U-Bahnfahrt, von den Titelseiten der Frauenzeitschriften am Kiosk und den H&M Plakaten am Bahnsteig über die Boulevard-News des Berliner Fensters zur Mode und Selbststilisierung der Mitreisenden mit unzähligen ihrer Instanzen konfrontiert.109
106 | Ebd., S. 17. 107 | Butler 1997, S. 310. 108 | Butler 2006, S. 15. 109 | Redecker 2011, S. 71 f.
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Daran anschließend wäre zu fragen, wie durch bestimmte Vorstellungen und Diskurse im Visual Kei, wiederholende Praxen „angestiftet“ werden und sich darin ein subkulturelles Subjekt konstituiert. Wie schlagen sich spezifische subkulturelle Normbezüge in der Gestalt der Körper nieder, wie schreiben sich subkulturelle Normen in die Körper ein? Welche Kreisläufe der Anerkennung sind hier am Werke? Wie sind die Subjekte im Feld der Anerkennung aufgestellt? Die Somatisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse Ähnlich wie bei Butler erscheint das Subjekt – in Bourdieus Terminologie: der Akteur – in seinem Werk als Größe, die im Zuge gesellschaftlicher Praxis generiert wird.110 Subjektivität kann nur als gesellschaftliches Produkt gedacht werden.111 Die Einflüsse, die das Individuum im Zuge seiner Vergesellschaftung prägen, besetzen eine somatische Ebene. Praxen und Wahrnehmungsweisen entstehen nicht auf kognitiver Ebene, sondern resultieren aus der Ordnung und Zurichtung der körperlichen Reflexe durch die sozio-kulturelle Umgebung. Bourdieu systematisiert diesen Ansatz der Inkorporiertheit, der mit Butlers Vorstellung vergleichbar ist, mit dem Begriff des Habitus112 . Praxeologische Erkenntnisweise Bourdieu entwickelt in Entwurf einer Theorie der Praxis seine praxeologische Erkenntnistheorie, die dieser Auffassung Rechnung trägt.113 Bourdieu vermittelt in der für ihn künstlichen und falschen Opposition zwischen einerseits wissenschaftlicher
110 | Die sozialen Akteur_innen sind das Produkt der Geschichte, der Geschichte des ganzen sozialen Feldes und der im Laufe eines bestimmten Lebenswegs in einem bestimmten Umfeld akkumulierten Erfahrung. (Vgl. Wacquant und Bourdieu 1996, S. 170). 111 | In punktueller Anlehnung an die Phänomenologien Heideggers, Husserls, Wittgensteins und Merleau-Pontys verwirft Bourdieu die cartesianischen Dualismen, wie Körper und Geist, Verstehen und Empfinden oder Subjekt und Objekt. (Vgl. ebd.). 112 | Habitus ist ein Begriff den Bourdieu der philosophischen Tradition entlehnt und mit eigener Prägung versieht. Die Tradition des Habitusbegriffs lässt sich bis hin zu Aristoteles zurückverfolgen. Einen Abriss der Begriffsgeschichte des Habitus in der Philosophie geben Krais und Gebauer (2010, S. 26 ff.). 113 | Bourdieu bezeichnet seine Position als „strukturalistischen Konstruktivismus“ oder auch als „konstruktivistischen Strukturalismus“, um die dialektische Verknüpfung von Strukturalismus und Konstruktivismus herauszustellen. Harker, Mahar und Wilkes verwenden die Bezeichnung „generativer Strukturalismus“. (Vgl. Wacquant und Bourdieu 1996, S. 29).
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„theoretischer“ Erkenntnis und andererseits „praktischer“ Erkenntnis, die für Akteur_innen im Vollzug ihrer alltäglichen Praxis charakteristisch ist, und führt ihre relativen Wahrheiten systematisch zusammen.114 Der Bruch mit Vorbegriffen und phänomenologischen Erkenntnissen präkonstruierter Repräsentationen stellt jedoch für Bourdieu nur einen ersten Schritt dar. Ihm zufolge gilt es, die richtige Einsicht des Subjektivismus – die Anerkennung der primären Erfahrung sozialer Akteur_innen – zu bewahren und sie nicht durch eine ausschließlich objektivistische Betrachtung zu relativieren bzw. zu negieren.115 Bourdieu schlägt mit der praxeologischen Erkenntnisweise vor, die beiden komplementären Einseitigkeiten von Subjektivismus und Objektivismus zu vermeiden: Gegenstand der Erkenntnisweise, die wir praxeologisch nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten. [. . .] Diese Erkenntnisweise setzt den Bruch mit der objektivistischen Erkenntnis, setzt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und darin nach den Grenzen des objektiven und objektivierten Standpunkts voraus, der, statt aus den verschiedenen Praxisformen das generative Prinzip zu entwickeln, indem er sich auf deren Wirkungen selbst einläßt, sie nur von außen, als faits accomplis, erfaßt. [. . .] Die praxeologische Erkenntnis annulliert nicht die Ergebnisse des objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie.116
Die Methode der Praxeologie umfasst für Bourdieu zwei Schritte, einen „doppelten Bruch“ mit dem Objektivismus durch Integration subjektiver Erkenntnisleistungen, um eine Theorie der Praxis als Praxis zu entwerfen, die die genuine Eigenart gesellschaftlicher Praxis- und Erkenntnisformen rekonstruiert: Zunächst gilt es mit der Primärerfahrung der Akteur_innen zu brechen, indem Begriffe, Kategorien und Klassifikationen der Alltagserfahrung als Erkenntnishindernisse entlarvt werden. Diese vorwissenschaftlichen Repräsentationen werden durch Hervorhebung des Objekts der Wissenschaft gegen die Evidenz des Alltagswissens mittels eines Konstruktionsver-
114 | „Soziologie [ist] die Kunst, phänomenologisch unterschiedliche Dinge als in ihrer Struktur und Funktionsweise ähnliche zu Denken und Befunde, die an einem spezifischen, konstruierten Gegenstand, etwa dem religiösem Feld, gewonnen wurden, auf eine ganze Reihe neuer Gegenstände: das künstlerische, politische Feld usw., zu übertragen.“ (Bourdieu 1985, S. 70 f.). 115 | Vgl. Schwingel 2009, S. 47. 116 | Bourdieu 1976, S. 147 f.
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fahrens überwunden. So soll ein „System der objektiven Relationen“ entwickelt werden, das der Wirklichkeit als Gerüst zugrunde liegt.117 Einen zweiten Bruch stellt die Relativierung der beobachtenden Perspektive dar: In der Analyse wird auf die Erfahrungen der Akteur_innen zurückgegriffen, indem die Prozesse, in denen die vergesellschafteten Subjekte ihre Sicht auf die Welt ausbilden, untersucht werden. So kann die praktische Erkenntnis der Welt theoretisch nachvollzogen werden.118 Bourdieu grenzt sich kritisch von Subjektivismus und Objektivismus vor allem dadurch ab, dass er die besondere Eigenart der praktischen Erkenntnis und deren grundsätzliche Nicht-Reduzierbarkeit auf irgendeine Form theoretischer Erkenntnis betont. Er hebt die spezifische Logik praktischen Erkennens, die grundsätzliche Inkommensurabilität theoretischer und praktischer Logik hervor. Damit soll weder außerwissenschaftliche, alltägliche Praxis idealisiert, noch wissenschaftliche Bemühungen abgewertet werden. Stattdessen geht es um die Analyse der Eigenlogik sozialer Praxis im Gegensatz zur wissenschaftlichen Theoriebildung, die einem ganz anderen logischen Typus unterliegt. Die Theorie der Praxis stellt jedoch nur ein erstes theoretisches Werkzeug dar – notwendig zur Überwindung des Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus – jedoch keinesfalls hinreichend zur Klärung der Genese von Praxis und der „doxischen“ Gewissheit, mit der sie von den Akteur_innen erlebt wird.119 Um dies zu meistern, entwickelte Bourdieu das Habitus-Konzept, das Kernstück seines theoretischen Gesamtgebäudes. Jenseits von Autonomie und Automatismus: Habitualisierte Akteur_innen Formal gesehen ist das Habitus-Konzept ein weiteres Instrument, das auf theoretischer Ebene zwischen Subjektivismus und Objektivismus vermittelt. Auf inhaltlicher Ebene kommt in der Habitustheorie Bourdieus Konzeptualisierung dessen zum Tragen, was an Individuen in ihrer Eigenschaft als soziale Akteur_innen relevant ist. Da Bourdieu das Konzept zum einen aus empirischen Forschungsfragen heraus entwickelt hat und es zum anderen in allen seinen ethnologischen und soziologischen Ar-
117 | Bourdieu 1976, S. 149. 118 | Ein Beispiel, wie eine solche praxeologische Analyse aufgebaut sein könnte, liefern Bourdieu et al. (1997) mit ihrer Studie Das Elend der Welt. 119 | Die Theorie der Praxis ist allerdings nicht nur theoretisch: ihr liegt auch ein wesentlicher methodischer Zugang zugrunde, mit dessen Hilfe der Nachvollzug von Praxis geleistet werden kann.
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beiten präsent ist, ist es als relativ Offenes angelegt und kann je nach Forschungsund Argumentationszusammenhang unterschiedliche Akzente haben. An der Entwicklung des Habitus-Konzepts zeigt sich sehr deutlich das Ineinandergreifen von Theorie und Praxis bei Bourdieu. Zum einen reagiert er mit seinem Entwurf unmittelbar auf Probleme, die sich aus der empirischen Forschung heraus stellen. Zum anderen entwickelt Bourdieu seinen Ansatz mit Hilfe theoriegeschichtlicher Bausteine verschiedener Disziplinen. Die Habitustheorie führt die Theorie der Praxis insofern fort – oder ist Bestandteil derselben – als sie eine „Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen“120 darstellt. Ihr wesentlicher Gegenstand ist also die konstitutionstheoretische Problematik, wie soziale Praxis generiert wird. Damit verbunden ist die erkenntnistheoretische Frage, wie Akteur_innen die gesellschaftliche Praxis wahrnehmen, erfahren, erkennen. Im Hinblick auf diese Fragestellung fungiert die Habitustheorie als „Theorie der praktischen Erkenntnis der sozialen Welt“121 . Wenn sich zum Beispiel die Protagonist_innen im Visual Kei japanische Vornamen122 geben und innerhalb, teils auch außerhalb der Subkultur mit diesen Namen angesprochen werden und der Geburtsname nicht mehr bekannt gemacht wird, kann ich danach fragen, wie hier soziale Praxis entsteht, und wie die Protagonist_innen diese Praxis erfahren und ihr Sinn verleihen. Sehr allgemein definiert Bourdieu Habitusformen als „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im Geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein“.123 Der gesellschaftlich geprägte „Akteur“ steht im Mittelpunkt des Ansatzes und die Habitustheorie stellt den Sachverhalt ins Zentrum, dass Akteur_innen gesellschaftlich prädeterminiert sind. Folglich ist ein Habitus gesellschaftlich – und damit auch historisch – bedingt. Er ist nicht angeboren, sondern beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen, „gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“.124 Der Habitus integriert erstens Wahrnehmungsschemata als rezeptive Seite des men-
120 | Vgl. Bourdieu 1976, S. 149. 121 | Ebd., S. 148. 122 | So zum Beispiel: Toto, Sano_chan, Miku, Byou oder Hiro. 123 | Bourdieu 1976, S. 165. 124 | Bourdieu 1987, S. 101.
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talen Geschehens, die die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren. Zweitens integriert er die Denkschemata, die „Alltagstheorien“ und Klassifikationen umfassen, mit denen Akteur_innen aktiv die Welt interpretieren und kognitiv ordnen. Sie umfassen ebenso geltende ethische Normen (Ethos) und ästhetische Bewertungsmaßstäbe (Geschmack). Und schließlich integriert er drittens die Handlungsschemata, die die individuellen oder kollektiven Praxen der Akteur_innen hervorbringen. Die drei Aspekte sind im Vollzug der Praxis miteinander verbunden und wirken stets gemeinsam. Es kommt also zu einer Homologie objektiver gesellschaftlicher und subjektiver mentaler, kognitiver Strukturen. Für alle gilt, dass sie meist unterhalb der bewussten Ebene angesiedelt sind. Sie werden nicht gezielt kognitiv eingesetzt und sind allenfalls fragmentarisch im „Geist“ der Handelnden präsent. Das habituelle Dispositionssystem stellt damit Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata zur Verfügung, die zur Orientierung in der sozialen Welt und zur Hervorbringung angemessener Praxen dienen. Es stellt die Grundlage dessen dar, was Bourdieu als den „praktischen Sinn“ (le sens pratique) bezeichnet. Dieser konstituiert die Welt als signifikant, indem er spontan ihre immanenten Tendenzen antizipiert, so wie ein Fußballspieler mit seinem umfassenden Überblick über das Spiel noch im hitzigsten Gefecht die Spielzüge seiner Gegner oder Mitspieler augenblicklich intuitiv erfaßt und ohne Innehalten oder Berechnung ‚inspiriert‘ agiert und reagiert. [. . .] Der praktische Sinn weiß voraus; künftig mögliche Zustände, deren Träger das Feld ist, liest er aus dem gegenwärtigen Zustand heraus. Im Habitus nämlich durchdringen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.125
Der im Habitus angelegte praktische Sinn erkennt und wählt folglich, was wichtig und richtig in einer spezifischen Situation ist, in diesem Auswahlvorgang ordnet sich die Wirklichkeit. Um zu betrachten, welche differenziellen gesellschaftlichen Bedingungen auf welche Weise für die Habitusprägung konstitutiv sind, hebt Bourdieu vor allem auf die Determiniertheit durch die spezifische Position, die Akteur_innen innerhalb gesellschaftlicher Strukturen besetzen, ab. Denn jede Habitusform ist Bourdieu zufolge auch durch klassenspezifische Faktoren bestimmt:126
125 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 43. 126 | Die moderne Gesellschaft ist für Bourdieu eine Klassengesellschaft. Er schließt darin an Marx an, kritisiert ihn jedoch und erweitert das Verständnis von sozialen Klassen um wesentliche Punkte. Bourdieu geht von einem sozialen Raum aus, einem Raum von Unterschieden, und entwickelt damit einen mehrschichtigen Klassenbegriff. Die Unterschiede zum marxistischen Klassenbegriff sind umfassend dargestellt bei Eder (1989).
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In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch.127
Bourdieu hebt hier die klassenspezifische Determination des Habitus hervor: Ihren sozialen Sinn erhalten die verschiedenen Praxen, Besitztümer und Meinungsäußerungen also dadurch, dass sie soziale Unterschiede anzeigen, nämlich die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen Gruppe oder Klasse. Doch hier ist Vorsicht geboten: Ist es tatsächlich so, dass der Habitus klassenspezifisch festgelegt ist? Ich würde Bourdieu hier weniger deterministisch lesen, sonder eher das „Tendenzielle“ im obigen Zitat betonen. Was sich in der Konzeption des Habitus als Lücke darstellt, ist m.E. das Fehlen eines Hinweises darauf, dass der Habitus nicht nur klassenspezifische Teilungsprinzipien reproduzieren kann. Wenn diese Teilungsprinzipien grundlegende gesellschaftliche Maßstäbe sind, anhand derer die Akteur_innen eine Positionszuweisung im sozialen Raum erhalten, dann fallen zum Beispiel auch Geschlecht, Alter, race oder Bildung darunter und müssen im Einzelnen Beachtung finden. Das dies möglich ist wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der Habitus nicht nur Produkt, sondern ebenso Produzent ist: Er bringt Praxen und Klassifikationen hervor, die auf seine strukturelle Umgebung zurückwirken. In dieser Hinsicht funktioniert er als strukturierende Struktur. Um den Prozess zu beschreiben, der das Produkt zum Produzenten macht, verwendet Bourdieu die Begriffe modus operandi und opus operatum. Der Habitus ist modus operandi, weil er Praxisformen, Wahrnehmungs- und Denkschemata hervorbringt, die sich als opus operatum, als Produkt, manifestieren. Der Habitus funktioniert als vermittelndes Scharnier zwischen Struktur und Praxis. Er verhält sich gegenüber den äußeren Einflüssen nicht passiv, sondern wandelt die erfahrene soziale Strukturierung in eine strukturierende Struktur um, das heißt, er bringt selbst Gestaltungsprinzipien hervor. Durch diese Fähigkeit wird er zum modus operandi, zu einem Erzeugungsprinzip.128
127 | Bourdieu 1982, S. 279, Hervorhebung N.H. 128 | Vgl. Bourdieu 1976, S. 209.
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Geschlecht Die frühesten veröffentlichten Arbeiten Bourdieus sind Untersuchungen über Algerien und schon hier beschäftigte sich Bourdieu mit dem Geschlechterverhältnis, einem Thema, das er auch in späteren Arbeiten immer wieder aufgegriffen hat.129 Geschlechtsblindheit ist den Arbeiten Bourdieus nicht vorzuwerfen; er gehört vielmehr zu den ganz wenigen Soziologen, die nicht nur in ihren empirischen Arbeiten immer berücksichtigt haben, dass die sozialen Akteure als Frauen und Männer existieren, sondern die auch das Geschlechterverhältnis als zentralen Gegenstand der Soziologie thematisiert haben.130
Wie in Bourdieus Arbeiten zur Reproduktion der Klassenstruktur geht es ihm auch in Bezug auf Geschlecht darum zu zeigen, wie Subjekte in ihrer Praxis, in ihrem Denken und Handeln eine dichotome Geschlechterordnung mit den ihr inhärenten Machtstrukturen reproduzieren, modifizieren und weiterentwickeln. Und auch hier ist der Habitus der Operator, das generative Prinzip, das zwischen sozialer Struktur und dem Handeln der Individuen vermittelt. In der ‚Natur der Dinge‘ – wie man bisweilen sagt, wenn man von dem reden will, was normal, natürlich, also auch unvermeidlich ist – scheint diese Einteilung deshalb zu liegen, weil sie – objektiviert – in der sozialen Welt und – inkorporiert – in den Habitus präsent ist, wo sie als ein universelles Prinzip des Sehens und Einteilens, als ein System von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien wirkt. Dieser Einklang zwischen der Verfassung des Seins und den Formen des Erkennens, zwischen den inneren Erwartungen und dem äußeren Lauf der Welt begründet die doxische Erfahrung.131
Männliche Herrschaft und damit auch Geschlechterverhältnisse brauchen Bourdieu zufolge keine Rechtfertigung, sie schlagen sich scheinbar „natürlich“ in Praxen und Diskursen nieder – sie sind hinreichend abgesichert. Ähnlich wie Butler beschreibt Bourdieu die willkürliche Einteilung der Geschlechter als gesellschaftlich konstruiert. Die Dinge erscheinen also als „natürlich“, da sie objektiviert und inkorporiert im Habitus präsent sind. Es kommt zu einem Einklang zwischen der Verfassung des Seins und den Formen des Erkennens, worauf sich wiederum die doxische Erfahrung gründet. Der Habitus ist zutiefst geprägt durch eine Praxis der Klassifikation, die männlich und weiblich als polare Gegensätze konstruiert. Und es ist zugleich der Habitus, der dem Handeln die ständige Anwendung jener Klassifikation aufzwingt: „Das Geschlecht ist eine ganz fundamentale Dimension des Habitus, die, wie in der Musik
129 | Bourdieu 1976, 1997a,b. 130 | Krais und Gebauer 2010, S. 8. 131 | Bourdieu 1997a, S. 159.
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die Kreuze oder die Schlüssel, alle mit den fundamentalen sozialen Faktoren zusammenhängenden sozialen Eigenschaften modifiziert“.132 Hier wird deutlich, dass die Dispositionen des Habitus nicht allein auf soziale Schicht oder Klasse zurückzuführen sind, sondern auch andere Ungleichheitskategorien, wie Geschlecht fundamental sein können. Am Beispiel der kabylischen Gesellschaft verdeutlicht Bourdieu, dass die hegemoniale Geschlechterordnung nicht notwendigerweise mit unmittelbarem Zwang und Nötigung durchgesetzt werden muss. Aus diesen Überlegungen entwickelt er das Konzept der symbolischen Gewalt: Symbolische Gewalt übt einen Zwang aus, der durch eine abgepreßte Anerkennung vermittelt ist, die der Beherrschte dem Herrschenden zu zollen nicht umhinkann. [. . .] Alle Macht hat eine symbolische Dimension: Sie muß von den Beherrschten eine Form von Zustimmung erhalten, die nicht auf der freiwilligen Entscheidung eines aufgeklärten Bewußtseins beruht, sondern auf der unmittelbaren und vorreflexiven Unterwerfung der sozialisierten Körper. [. . .] Und noch die Sprache der Kategorien verbirgt aufgrund ihrer intellektualistischen Konnotationen nur allzu leicht, daß symbolische Herrschaft ihre Wirkung nicht in der reinen Logik des erkennenden Bewußtseins, sondern im Dunkel der praktischen Schemata des Habitus entfaltet, wo, dem Zugriff der Selbstreflexion und der Willenskontrolle oftmals entzogen, die Herrschaftsbeziehung verankert ist.133
Die Illustrationen aus der Welt des Geschlechterverhältnisses haben Bourdieu geholfen, sein Konzept der symbolischen Gewalt zu präzisieren. Später erklärt er im Interview anlässlich der deutschen Übersetzung seines Aufsatzes zur Männlichen Herrschaft, dass Letztere der am besten geeignete Gegenstand sei, um Formen symbolischer Gewalt und Herrschaft begreifen zu lernen.134 Das Geschlechterverhältnis ist, wie Bourdieu schreibt, somatisiert. Die Unterscheidung in männlich und weiblich bewirkt auch eine entsprechende Formung und Gestaltung des Körpers, prägt die Körperwahrnehmung, die Ausdrucksmöglichkeiten und die Gewohnheiten des Körpers. Im Prozess der Vergeschlechtlichung zeigt sich die Körpergebundenheit gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse besonders deutlich. Die soziale Ordnung lässt den biologischen Unterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Körper und ganz besonders den anatomischen Unterschied zwischen
132 | Bourdieu 1997b, S. 222. 133 | Bourdieu 1997a, S. 164 f. 134 | Bourdieu 1997b, S. 220.
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den Sexualorganen, der, wie jedes andere Ding in der Welt auch, für mehrere Konstruktionsarten (in bestimmten Grenzen) offen ist, als unanfechtbare Rechtfertigung des gesellschaftlich konstruierten Unterschieds zwischen den Geschlechtern erscheinen.135
Durch und über den Körper dringt Bourdieu zufolge die Gesellschaft in das Individuum ein, strukturiert Motorik und besetzt den ihm inhärenten Geist. Die Denkformen und Wahrnehmungsschemata werden durch Einschreibung des Sozialen in das Somatische erzeugt. Durch eine permanente Formierungs-, eine Bildungsarbeit, konstruiert die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und in eins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper in seiner biologischen Realität angewendet werden.136
Bourdieu bezieht sich häufig auf Blaise Pascal, um die Bedeutung des Körpers für die Herausbildung gesellschaftlicher Akteur_innen – also für die Konstitution von Subjekten – zu betonen. Für Pascal ist der Körper eine Gedächtnisstütze, ein Automat, der durch Gewöhnung programmiert wird. Durch andauernde Wiederholungen werden dem Körper Dispositionen eingelagert, die die gesellschaftliche Ordnung durch tägliche Reproduktion anerkennen, ohne dabei Bewusstsein oder Kalkül zu bemühen. Damit hat der Körper die Funktion eines unbewussten Speichers gesellschaftlicher Ordnung, er zieht den Geist mit, „ohne daß dieser daran denkt“137 . Folglich funktioniert auch der Habitus als unmittelbares körperliches Prinzip: Er entsteht nicht in bewusster Nachahmung einer Art sich zu halten, zu sprechen, zu empfinden, ist kein Resultat kognitiver Prozesse. Die Mimikry ist eine vorbewusste Strategie138 des praktischen Sinns, die einem gesetzlosen Zwang folgt: Die Alternative wäre der soziale Untergang. Hier zeigt sich wiederum Bourdieus Setzung, dass jedes Individuum nach Bewährung in der Gesellschaft strebt. Worin genau diese Bewährung besteht, wird von Bourdieu nicht eindeutig geklärt. Ökonomischer Erfolg? Anerkennung durch andere Akteur_innen? Eine solche Interpretation liegt nahe. Bourdieu vernachlässigt meines
135 | Bourdieu 1997a, S. 169. 136 | Ebd., S. 167. 137 | Bourdieu 1987, S. 127. 138 | Bourdieus Begriff der Strategie meint nicht die planvolle Verfolgung bewusster Zwecke, sondern vielmehr die aktive Entfaltung objektiv gerichteter Handlungsverläufe, die keiner bewussten Regel folgen und dennoch Regelmäßigkeiten und kohärente sozial intelligible Figurationen herausbilden. (Wacquant und Bourdieu 1996, S. 48).
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Erachtens den Umstand, dass es „Aussteiger_innen“ gibt oder Menschen, die „Anerkennung“, „Bewährung“ und „Erfolg“ in einer alternativen, radikal anderen Weise interpretieren. Dieses Versäumnis, das Bourdieu in meinen Augen begeht, hat sicher auch damit zu tun, dass ihn vor allem umtreibt, warum Menschen nicht gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aufbegehren, warum diese so stabil sind. Ob das Aufbegehren gegen und die Destabilisierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen mit Bourdieu gedacht werden kann, ist eine Frage, die uns ganz am Ende – mit den Fragen, die das empirische Material aufgeworfen hat – in Kapitel 5 noch einmal beschäftigen wird. Zunächst lässt sich festhalten, dass der Habitus als unmittelbares körperliches Prinzip wirkt, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verkörpert sind und damit auch in den Praxen zum Ausdruck kommen. Wenn der Habitus vergeschlechtlichte Konstruktionen von Körpern hervorbringt, gilt es dieses Erzeugungsprinzip, den vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Habitus, herauszuarbeiten. Schaffen sich die Protagonist_innen im und mit Visual Kei ein anderes System der Anerkennung? Und wenn ja, wie tun sie das, wie kann der Habitus transformiert werden? Butler und Bourdieu: Ein komplementäres Verhältnis Wie in den Ausführungen deutlich geworden ist, gründen sowohl Butler als auch Bourdieu ihre Praxistheorie auf einerseits körpertheoretischen und andererseits schematheoretischen Überlegungen. „Das körpertheoretische Argument lautet bei Butler, dass Praktiken nichts anderes sind als leibliche Hervorbringungen.“139 Es existieren keine mentalen Strukturen, die diesen leiblichen Akten vorausgehen. Diese wirken performativ, da man in der Wiederholung scheinbar auf den vorgeblichen Identitätskern des tragenden Subjekts schließen kann. Dies ist jedoch eine reine Zuschreibung.140 Die schematheoretischen Überlegungen Butlers machen deutlich, dass kulturelle Codes keine eindeutigen, sondern mehrdeutige Anweisungen enthalten. Mit Butler lässt sich begreifen, wie die Handlungsfähigkeit der Subjekte durch symbolisch strukturierte Formen der Identität bedingt und konfiguriert ist. Allerdings ist Butlers Blick insofern begrenzt, als dass die normativ-symbolische Konstitution vergeschlechtlichter Subjekte letztendlich relativ abstrakt bleibt, so dass Subjekte und deren Handlungsfähigkeit nicht hinreichend historisch und gesellschaftlich situiert werden können. Zum Beispiel könnte ich mit Blick auf Butler sagen, dass
139 | Reckwitz 2004, S. 47. 140 | Butler 1991, S. 200.
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es innerhalb einer Subkultur „Kreisläufe der Anerkennung“ gibt. Ich könnte darstellen, wie machtvoll diese sind, welche Subjektpositionen sie ermöglichen oder verunmöglichen. Mit Bourdieus Konzepten ist es wiederum möglich, diesen Logiken der Anerkennung, den Effekten und dem Einsetzen von Differenz zu folgen. Stellt man Bourdieus Praxistheorie komplementär zur Seite, gelingt es, die subkulturellen Praxisformen und damit möglichen Stellungnahmen sehr genau herauszuarbeiten.141 Ich denke, dass eine historische und gesellschaftliche Situierung mit Bourdieu besonders gut gelingt, weil er ethnografisch arbeitet. Seine Analysen haben ein solides empirisches Fundament, was u.a. in seinen Studien zur Fotografie142 zum Tragen kommt und dazu beiträgt meine Analysen zu vertiefen. In dem Artikel Performativity’s Social Magic143 wirft Butler selbst die Frage auf, wie und ob der Habitus auch performativ strukturiert ist. Sie fragt danach, inwieweit Performativität als inkorporierte Praxis gedacht werden kann. Inkorporiert deshalb, weil „the body does not merely act in accordance with certain regularized or ritualized practices, but it is this sedimented ritual activity“144 . Sie kritisiert vor allem die strikte Trennung zwischen Habitus (subjektiv) und Feld (objektiv), die Bourdieu vornimmt. Sie fragt, ob nicht auch das Feld durch den Habitus verändert werden könnte, und damit keine unveränderliche Konstante wäre. Damit plädiert sie dafür, auch das Scheitern in der Generativität des Habitus aufzugreifen. Bourdieu gehe davon aus, dass nur der „offizielle Diskurs“ – die symbolische Ordnung – Anerkennung verleiht und darin die „soziale Magie“ wirksam wird. Butler setzt dem entgegen, dass gerade nicht-autorisierte Sprechakte die Möglichkeit zu subversiver Resignifizierung eröffnen. Auch nicht-autorisierte Äußerungen können „soziale Magie“ entfalten. Schon in Haß spricht145 folgt Butler dieser Argumentation und entwirft in der Betrachtung von Sprechakten bei Bourdieu und Derrida ihre Auffassung von der gesellschaftlichen Macht der Sprechakte.146 Butler betont hier, dass Bourdieus theoretische Konzepte eine Erklärung dafür an die Hand geben, „wie Normen verkörpert
141 | Wie und warum Bourdieu und Butler, trotz gleicher Überlegungen zu solch unterschiedlichen Aussagen gekommen sind, ist anschaulich dargestellt bei Reckwitz (2004). 142 | Bourdieu 1981. 143 | Butler 1999. 144 | Ebd., S. 115. 145 | Butler 2006. 146 | „Performative Äußerungen mißlingen entweder (für Derrida), weil sie als Bedingungen ihrer Iterierbarkeit mißlingen müssen, oder sie werden (für Bourdieu) nicht von geeigneten Formen des Ausdrucks gesellschaftlicher Macht gestützt.“ (Ebd., S. 235).
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 125
werden“147 . Sie führt aus, dass „Bourdieu eine vielversprechende Erklärung dafür anbietet, wie die nicht beabsichtigte und nicht vorsätzliche Verkörperung von Normen vonstatten geht“148 . In seiner „Theorie des Körperwissens“ vernachlässige Bourdieu jedoch die performativen Aspekte des Habitus und es gelingt ihm so nicht, Widerstände, Irritationen und Brüche entgegen dem „offiziellen Diskurs“ nachvollziehbar zu machen. Seine Theorie vermag es nicht zu berücksichtigen „daß eine gewisse performative Kraft aus der Wiedergabe konventioneller Formeln in nicht-konventionellen Formen resultiert“149 . Während Butler die Instabilität performativer Möglichkeiten der Subjektkonstitution betont, hebt Bourdieus Theorie die Starre und Trägheit symbolischer Ordnung hervor. Wie subkulturelle Subjekte in und durch Praxis hervorgebracht werden können, ist deutlich geworden. In meiner Arbeit geht es folglich auch darum die erhobenen Daten und die Ergebnisse der Analyse zum Anlass zu nehmen, komplementäre theoretische Ansätze auf einer empirischen Folie zusammenzuführen, und damit ein analytisches Instrumentarium zu erarbeiten, das es erlaubt, die Praxen in der Subkultur Visual Kei nachvollziehbar zu machen. Die Frage, welche Konzepte geeignet sind, habe ich als Trockenübung beantwortet. Nun heißt es noch ins Wasser zu springen um zu sehen, ob das theoretische Rüstzeug auch trägt.
V ISUAL K EI
ALS SUBKULTURELLES
F ELD
Where is the field and what does it look like?150
Der Begriff des Feldes nimmt einen zentralen Platz in der Praxistheorie Bourdieus ein. Ich möchte hier der Frage nachgehen, ob Visual Kei als subkulturelles Feld verstanden werden kann, ähnlich wie Thornton Bourdieus Konzept des Kapitals auf das „subkulturelle Kapital“ übertragen hat. Bourdieus Konzept des Feldes151 macht vor allem darauf aufmerksam, dass die vom Habitus generierte Praxis nicht in einem neutralen Raum, einem unorganisierten Vakuum stattfindet. Sie bewegt sich vielmehr
147 | Ebd., S. 222. 148 | Ebd., S. 222. 149 | Ebd., S. 229. 150 | McRobbie 2005, S. 133. 151 | Obwohl in Bourdieus Analysen sozialen Feldern einige Bedeutung zukommt, bleibt sein Feldbegriff theoretisch eher unterbestimmt. Zur Kritik an der Offenheit der Bourdieuschen Begriffe, siehe Lamont und Lareau (1988).
126 | Visual Kei
in einem durch Machtverhältnisse bestimmten strukturiertem Rahmen, den Bourdieu mit dem Begriff des Feldes belegt. Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potentielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem Spiel stehenden spezifischen Profiten entscheidet, und damit auch durch ihre objektiven Relationen zu anderen Positionen (herrschend, abhängig, homolog usw.).152
Felder sind als intelligible Orte sozialer Praxisformen aufzufassen, die auch als Praxisfelder bezeichnet werden können. Die Praxis innerhalb der verschiedenen Felder ist bedingt durch die Verfügungsgewalt über spezifische Ressourcen, die Bourdieu als „Kapital“ bezeichnet. Als Kapital bezeichnet Bourdieu die Ressourcen, die in einem bestimmten Feld den Subjekten, die über sie verfügen, erlauben Einfluss oder Macht auszuüben. Die Grenzen eines Feldes hängen eng mit den im Feld wirksamen Kapitalsorten zusammen. Bourdieu geht dabei von drei Grundsorten – dem ökonomischen, kulturellen und dem sozialen Kapital – aus, die jeweils auch zu einem symbolischem Kapital werden können, wenn ihnen die Wahrnehmungskategorie der Anerkennung zugrunde liegt.153 Thornton hat deutlich gemacht, dass die umkämpfte Kapitalsorte innerhalb von Subkulturen, das subkulturelle Kapital ist. Dieses drückt sich sowohl in Artefakten als auch in Verkörperungen aus: Just as books and paintings display cultural capital in the family home, so subcultural capital is objectified in the form of fashionable haircuts and wellassembled record collections. [. . .] Just as cultural capital it is personified in ‘good’ manners and urbane conversation, so subcultural capital is embodied in the form of being ‘in the know’154 .
Doch nicht alle Akteur_innen sind in den verschiedenen Feldern gleichermaßen engagiert. Eine der notwendigen Voraussetzungen für das persönliche und direkte Engagement innerhalb eines spezifischen Feldes besteht darin, dass man sich für genau dieses Feld und die dortigen Einsätze „interessiert“. Es muss also eine affektive und
152 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 127. 153 | Ebd. 154 | Thornton 1995, S. 11.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 127
motivationale Bindung an dieses spezifische Feld und damit einen Glauben an den Wert des dortigen „Spiels“ entwickelt werden. Daher gibt es auch keine absolut interessenlose Praxis.155 Bei diesen Kämpfen in einem sozialen Feld geht es letztlich um Macht und Prestige, d.h. um die Akkumulation spezifischer Kapitalien, die als Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes fungieren, um die Legitimierung (bzw. Delegitimierung) der in einem Feld gültigen Spielregeln, um den aus der sozialen Anerkennung eines Akteurs resultierenden symbolischen Mehrwert an Prestige und schließlich, als Konsequenz aus alldem, um die Position der Akteure im Feld sozialer Klassen.156
Bourdieu zufolge müssen Habitus und Feld theoretisch immer zusammen gedacht werden und in der empirischen Analyse aufeinander bezogen werden. Es sind zwei Theoriekomponenten, die die Opposition zwischen Individuum und Gesellschaft überwinden sollen.157 Das Komplementärverhältnis von Leib gewordener Gesellschaft und Ding gewordener Gesellschaft, von Habitus und Feld, tritt bei Bourdieu in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wenn jedoch die mit der Primärerfahrung einhergehenden Wahrnehmungs- und Denkschemata immer wieder auf Praxisverhältnisse treffen, die denen ihrer Genese gleich sind, besteht für Akteur_innen überhaupt kein Anlass, ihre bewährten alltäglichen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen infrage zu stellen. Vom Standpunkt der Akteur_innen aus liegt die entscheidende praxisrelevante Eigenschaft von Wissen und Denken nicht in deren „Objektivität“ oder „Wahrheit“, sondern in ihrer Ökonomie und Praktikabilität. Diese Problematik greift auch Butler in ihrer Kritik an Bourdieu auf, denn bei Bourdieu setzt der Habitus ein spezifisches soziales Feld als Bedingung seiner Möglichkeit voraus.158 Das Feld wird bei Bourdieu als ein externer objektiver Kontext konzeptualisiert. Butler geht davon aus, dass diese Vorstellung eines objektiven Feldes „runs the risk of enshrining the social field as an inalterable positivity“159 , denn die Praxis selbst weist diesen intellektualistischen Dualismus zurück. Butler fragt daher, ob das Feld nicht auch durch den Habitus verändert werden könnte, denn sie geht davon aus, dass das Subjekt
155 | Vgl. Bourdieu 1985, S. 98. 156 | Ebd., S. 98. 157 | Dieser Bezug stellt eine weitere Variante des Antagonismus von Subjektivismus und Objektivismus dar. 158 | Butler 1999. 159 | Ebd., S. 117.
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insofar as it is necessarily embodied, and the body is itself the site of ‘incorporated history’, is not set over and against an ‘objective’ domain, but has that very ‘objectivity’ incorporated as the formative condition of its very being160 .
Ohne die generative und doxische Gewissheit des Habitus kann in Butlers Lesart auch das Feld nicht reproduziert werden. Habitus und Feld bedingen sich folglich gegenseitig und auch der Habitus hat eine inkorporierte objektive Struktur. Der Habitus bedingt das Feld „and is itself composed of sedimented rituals framed and impelled by the structuring force of that field“161 . Butler schlägt vor, die temporären Dimensionen von Habitus und sozialer Praxis als Ritual, auch auf das Feld anzulegen und dieses damit als zeitlich reproduzierten Effekt zu begreifen, der der Logik der Iterabilität unterworfen und abhängig von den instabilen Formen der Wiederholung ist. Die Vorstellung eines performativ konstituierten und bestätigten Feldes, in dem die Kongruenz zwischen Habitus und Feld auch erschüttert werden kann, ist insbesondere im Hinblick auf ein subkulturelles Feld fruchtbar zu machen. Werden Habitus und Feld als performativ gedacht, können sie nicht nur als zentraler Punkt der Konstitution von Subjekten betrachtet werden, sondern ebenso als Ausdruck der beständigen politischen Anfechtung und Neuformulierung von Subjekten. Eine Frage, die auch im Hinblick auf die Subkulturforschung von Bedeutung ist. Die Betrachtung von Visual Kei als Feld ist folglich nur als Momentaufnahme zu verstehen, da sämtliche Praxisformen und Schemata permanent „auf dem Spiel stehen“. Das Feld als „Ding gewordene Geschichte“ bedeutet nicht Stillstand und Unveränderbarkeit, seine Verfassung bildet vielmehr den gegenwärtigen Stand kultureller Auseinandersetzungen ab. Um Visual Kei folglich vor allem als Ausdruck einer emotionalen, imaginativen, intellektuellen und politischen Ressource für die Protagonist_innen zu begreifen, halte ich es für sinnvoll einen modifizierten Feldbegriff zu verwenden und vielmehr von einem subkulturellen Feld auszugehen. Dieses Feld ist physisch und zeitlich nicht gebunden und hat fluktuierende Grenzen. In dieser Rahmung können Dynamiken von Wertvorstellungen, Geschmack und Vergemeinschaftung sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden, ohne die „Position der Akteure im Feld sozialer Klassen“162 einzuschreiben. Wie wirkt ein subkultureller Zusammenhang auf die Dialektik von Habitus und Feld? Solange die doxische Erfahrung der sozialen Welt und die ihr zugrunde liegenden habituellen Schemata nicht durch neue Erfahrungen infrage gestellt werden, kann
160 | Butler 1999, S. 119. 161 | Ebd., S. 119. 162 | Bourdieu 1985, S. 98.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 129
sich die Alltagsvernunft in ihrer Abgestimmtheit auf die momentanen Zustände und Erfordernisse der Praxis unhinterfragt einrichten. In der Analyse des empirischen Materials gilt es folglich Visual Kei als subkulturelles Feld zu fassen, das einen neuen Spielraum eröffnet. Wie verändern sich Feld und Habitus, welche neuen Erfahrungen wirken darin auf Wahrnehmungs- und Denkschemata ein? Vielleicht ist Visual Kei für die Protagonist_innen aus Deutschland ein Impuls, eine Störung gewohnter Erfahrungs- und Denkräume, es kommt zum Hinterfragen, zum Ausprobieren von etwas Neuem, die Alltagsvernunft wird irritiert und es wird versucht, neue Wege zu gehen, neue Praxisformen werden ausprobiert. Bevor ich zu den Praxisformen komme, werde ich im Folgenden versuchen Visual Kei als subkulturelles Feld einzuführen, um die „Rahmenbedingungen“, in denen sich die Praxen entfalten, zu kontextualisieren. In einem ersten Schritt geht es darum, die Protagonist_innen als Teil eines spezifischen subkulturellen Feldes zu verorten: Wer sind die Protagonist_innen der Subkultur? „Ich möcht’ mich auf euch verlassen können“ Mit Bourdieu würde ich in einem ersten Schritt nach der sozialen Position der Protagonist_innen fragen und so versuchen das Feld einzugrenzen. Es ist jedoch schwierig kohärente Aussagen über die soziale Herkunft der Protagonist_innen zu treffen, das Feld stellt sich als heterogen dar. Manche kommen aus Akademiker_innen-Familen, manche eher aus Arbeiter_innen-Familien. Die Protagonist_innen gehen zur Schule, arbeiten in Dienstleistungsberufen, beziehen Sozialleistungen oder haben begonnen zu studieren. Das Interesse für Visual Kei ist folglich nicht milieugebunden. Eine Studentin wie Miho kann sich ebenso dafür begeistern, wie der arbeitslose Sato, der Gymnasiast Mero ebenso wie die Hauptschülerin Hikaru. Visual Kei ist folglich nicht deutlich einem sozialen Feld im Sinne Bourdieus, oder einer Klasse, im Sinne der CCCS-Subkulturforschung zuzuordnen. Auch Thornton bezieht sich auf diese Problematik und geht davon aus, dass „having loosened ties with family but not settled with a partner nor established themselves in an occupation, youth are not as anchored in their social place as those younger and older than themselves.“163 Dass der Feldbegriff für postmoderne Subkulturen Schwierigkeiten aufwirft, hat auch McRobbie gezeigt, denn „flows, networks, movements and processes of individualisation do not sit comfortably with the terms of the field“164 .
163 | Thornton 1995, S. 102. 164 | McRobbie 2005, S. 133.
130 | Visual Kei
Und auch die Vorbilder, die J-Rock-Bands, transportieren keine milieu- oder schichtspezifischen Bedeutungen, oder zumindest sind diese in deutschen Kontexten nicht lesbar. Dies bedeutet nicht, dass Klasse und sozialer Hintergrund in der Forschung gänzlich unsichtbar blieben: Wenn z.B. der Gymnasiast Sano perfekt klassische Klavierstücke spielt und fließend Englisch spricht und sich die Hauptschülerin Hikaru dagegen sehnlichst eine E-Gitarre wünscht, sich diese aber nicht leisten kann, dann lässt sich dies auf einen milleubezogenen Kontext rückbeziehen. Aber: Für die Teilhabe an der Subkultur Visual Kei ist dies kein Kriterium, denn Visual Kei stellt keine soziale Frage, es wird keine bestimmte soziale Schicht angesprochen.165 Hall greift diesen Punkt in seinem Vorwort zur Neuauflage von Resistance Through Rituals auf, und kommt zu dem Schluss, dass die Kategorie Klasse als generatives Merkmal an Kraft verloren hat.166 Was sind jedoch die Referenzpunkte der Protagonist_innen und auf welcher Ebene bildet sich hier Gemeinschaft? Ich gehe davon aus, dass sich hier ein spezifisch subkulturelles Feld konstituiert, in dem die Kategorie der Klasse nicht greift, dagegen andere Kategoriesysteme relevanter sind. Das empirische Material wirft die Frage auf, ob Klasse und soziale Herkunft als Organisationsmuster von Gesellschaft in ihrer Bedeutung abgenommen haben und andere Ungleichheitskategorien, wie Geschlecht, Alter oder Begehren die Distinktionspraxis bestimmen. Was hält jedoch die Protagonist_innen im Visual Kei zusammen und wie sind sie eigentlich zu dieser Subkultur gekommen? Viele der Protagonist_innen sind entweder über die äußere Erscheinung der JRock-Bands oder über die Musik zum Visual Kei gekommen: Und eine Freundin von mir hatte dann irgendwann, das war ganz lustig, einen Avatar, also in Foren hat man ja so ein kleines Benutzerbildchen, hatte sie einen japanischen Künstler, also Musiker, namens Miyavi, ähm und ich habe den Avatar gesehen, dachte „Naja, sieht ja cool aus, außerdem ist die ganz hübsch!“ dachte ich mir [lacht] und dann sagt sie mir so „Äh nee, das ist eigentlich ein Mann!“ und ich so „Oh Gott! Was zum Teufel!“ ähm und war erst mal ziemlich verwirrt und fand das aber total freaky und habe gedacht „Was zum Teufel ist das, das muss ich mir näher angucken.“ So und habe mir erst mal angeguckt so was das überhaupt für eine Szene ist, und habe mir so ein paar Infos eingeholt, habe mir die Musik von diesem Miyavi angehört und fand die eigentlich sehr interessant, fand die sehr cool, ist dann auch so unmittelbar danach schon mein absoluter Lieblingskünstler, also im musikalischem Bereich, geworden und irgendwie hab ich dann
165 | Ege (2011) zeigt in seiner Dissertation hingegen, dass Klasse weiterhin ein wichtiges Strukturierungsprinzip von Subkulturen sein kann. 166 | Vgl. Hall 2006.
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auch ziemlich schnell Gefallen an diesem Style gefunden, weil es halt was anderes war, war ja sagen wir mal, ging ja auf jeden Fall schon sehr stark in diese androgyne Richtung, und so das mag ich jetzt eigentlich.167
Bei allen Protagonist_innen gibt es recht konkrete Erzählungen über den Zugangsweg, die einem ähnlichen Muster folgen: Einerseits wurde Visual Kei über die Bilder transportiert, andererseits über die Musik. Der Moment der „Entdeckung“ geht einher mit einer großen Begeisterung von Visual Kei bzw. J-Rock – Erzählungen über Unsicherheiten, Suchbewegungen oder verschlungene Wege des Zugangs sind mir nicht bekannt. Der Zugang erscheint als geschlossenes und kongruentes Ereignis. Damit einher geht ein rascher Einstieg, eine große Intensität, mit der die Subkultur in den Alltag eingreift. Dies hat vor allem mit der umfassenden Verfügbarkeit von Bildern und Musik im Internet zu tun. Während z.B. frühe Punks in Deutschland ihre Platten und Magazine noch in Großbritannien kaufen oder sich mitbringen lassen mussten, genügen heute einige Klicks im Internet, um sich ein Thema zumindest oberflächlich zu erschließen, Bilder zu betrachten und Musik zu hören. Die Intensität und Faszination beschreibt Miku so: Tja, es hat mich überfallen, und gepackt und fasziniert und seitdem bin ich das. Ich frag mich das auch oft. [. . .] Ja, gerade weil ich dann so sehe: Warum kann ich nicht aufhören japanische Musik zu hören? Es geht einfach nicht. Das gehört irgendwie zu meinem Leben, ich kann nicht so mit normaler Musik; das ist mir schon fast peinlich so ein Lied aus dem Radio gut zu finden. [. . .] Ja, das [Mainstream-Rock-Musik] höre ich dann still zu Hause, oder dann freu’ ich mich, wenn es im Radio läuft auf Arbeit. Aber ich würde mir nie eine CD kaufen. Oder wenn, dann lade ich halt ein Lied mal im Internet runter, aber nie das ganze Album. Ich hab schon jahrelang mir auch keine Musik mehr gebrannt, oder so was.168
Ohne die Möglichkeiten des Internets würde es Visual Kei, so wie es sich im Moment darstellt, in Deutschland nicht geben. Im folgenden Ausschnitt stellt auch Hiroko die Rolle des Internets heraus. Darüber hinaus wird deutlich, dass viele der Protagonist_innen von ihren Freund_innen auf Visual Kei aufmerksam gemacht wurden: Jetzt muss ich überlegen. So, ich glaub, ich hab von ganz früher halt diese ganzen Manga-Serien geguckt im TV, und mich dann auch für Japan interessiert, aber noch als Kind nur so: „Oh, schönes Land, oh die sehen ja
167 | Interview mit Mi vom 31. Juli 2010. 168 | Interview mit Miku vom 15. Dezember 2009.
132 | Visual Kei
toll aus und so. So bunt.“ Ich weiß es nicht mehr so genau. Ich weiß auch nicht wie alt ich da war, ich glaub so mit 10 oder 12 hat es angefangen, ich hab auch Mangas gezeichnet, schon ziemlich früh, also ich hab schon das ganze, mein ganzes Leben lang gezeichnet. Jetzt nicht mehr. Aber dann hat es mit Mangas angefangen, haben wir uns so Zeichenbücher gekauft, und ich weiß nicht mehr genau, wann und wie, aber ich hab dann ein Bild von D’espairsRay gesehen – fand ich ganz toll [lacht], und dann hab ich irgendwann mal mit meiner besten Freundin im Internet danach gesucht, und ich glaube, ich hab dann auch ein Lied davon bekommen und dann ging das so langsam los. Also, man erinnert sich jetzt gar nicht mehr so genau daran, aber dann halt alle Bands so langsam zusammen bekommen, so dann irgendwann gemerkt „Oah, da gibt’s ja richtige Videos über die!“, und da gibt’s ja das und das, und da ist ja viel mehr im Internet als man gedacht hatte, ja, vorher dachte ich ja, es gibt kaum was, also ich war richtig überrascht früher, was ich da alles dann auf einmal gefunden hab. So bei jedem Video „Wahnsinn!“ und total begeistert. Und dann auch so ganz früher war ich auch immer schon so’n bisschen anders so, also ich hab mich immer so’n bisschen ausgefallen gekleidet, hat dann immer geschwankt so’n bisschen, so zwischen mal ganz extrem, so richtig metalmäßig, würd’ ich sogar sagen, ja achte Klasse, neunte Klasse, und dann mal wieder blond, das hat so’n bisschen geschwankt, und dann ging’s wieder los, und dann hab ich so die ganze Verwandlung durchgemacht zu jetzt. Also ja, das würde ich sagen, ist so die Geschichte. Und durch Internet dann alles, das meiste.169
Wie wahrscheinlich viele Jugendliche waren auch die Protagonist_innen bereits mit Japanischer Popkultur vertraut: Sailormoon, Dragon Ball, Pokemon, Tamagotchi und Hello Kitty sind für die meisten Menschen, die in den 1990er Jahren in Deutschland aufgewachsen sind, bekannt. So erscheint es plausibel, dieses Interesse auch im musikalischen Bereich zu verfolgen – zumal sogar einige J-Rock-Bands die Soundtracks zu Animes geliefert haben.170 Der geradlinige Zugang korreliert mit den Erzählungen über die Motivation des Zugangs und der Teilhabe an Visual Kei. Was ist es, das die Protagonist_innen motiviert, Teil einer Subkultur zu sein? Die Musik ist ein bisschen, ich finde, die ist ein bisschen anders als diese amerikanische Musik, die Sprache macht das bestimmt auch, und der Stil, damit kann ich mich gut identifizieren, also das ist ja relativ frei, man kann
169 | Interview mit Hiroko vom 10. Mai 2010. 170 | Zum Beispiel stammt der Titelsong des Animes Z-Gundam vom dem Künstler Gackt (bis 1999 Sänger bei der J-Rock-Band Malice Mizer). Gackt hat darüber hinaus auch Charakteren in Animes seine Stimme gegeben oder auch Songs und Synchronisation zu Videospielen beigesteuert.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 133
ja machen, was man will eigentlich, ich mach auch was ich will, ich richte mich jetzt nicht unbedingt nach irgendwas, also vielleicht so die Sänger oder von den Bands, ich finde meistens Sänger gut [lacht], da orientiere ich mich ein bisschen dran, aber ich sehe trotzdem nicht so aus wie irgendjemand, den ich gut finde, ich mach so wie ich möchte. Aber, ja, weiß nicht, ich fühle mich damit wohl, auch mit den Leuten und alles, also, ja.171
Sicher ist es auch die Musik und die Ästhetik, die das Interesse für die Subkultur weckt. Was jedoch in den vielen Gesprächen betont wurde, was in Gesprächsthemen, der Stimmung bei Treffen, der Verbindlichkeit untereinander deutlich wurde: Es sind vor allem affektive Momente – Gefühle von Zugehörigkeit, Anerkennung und Aufgehobensein – die hier angesprochen und verhandelt werden. Dies erinnert an ein bekanntes Lied der Hamburger Band Tocotronic, die singen Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Ich möcht’ mich auf euch verlassen können. Und jede unserer Handbewegungen hat einen besonderen Sinn Weil wir eine Bewegung sind [. . .]
Es ist auch hier nicht vordergründig eine gemeinsame politische Idee, eine politische Zielsetzung, die von der durchaus politischen Band besungen wird. Es ist ein Begehren nach Verlässlichkeit und Sinnhaftigkeit, das aus diesen Zeilen spricht, und sich ebenso bei den Protagonist_innen der Forschung wiederfindet:172 sie fühlen sich im Visual Kei anerkannt und sicher, die Praxen der Subkultur verleihen ihrem Alltag Stabilität und einen spezifischen Sinn, bis hinein in kleinste Körperbewegungen. Ähm ja, eigentlich dass man halt so eine Gruppe von Leuten halt immer wieder sieht und halt mit denen wird man dann natürlich auch richtig dicke, und versteht sich gut und die sieht man halt immer auf diesen Treffen und alles so. [. . .] Man kann so sein, wie man halt wirklich sein will auch.173
Viele berichten davon, wie sie sich „vorher“ als Außenseiter_innen gefühlt haben. Ganz im Sinne einer „Erlösungsgeschichte“ sind diese Sorgen mit der Teilhabe an Visual Kei vergessen, sie haben für sich einen passenden Ort gefunden, an dem sie so sein können, wie sie wollen:
171 | Interview mit Hiroko vom 10. Mai 2010. 172 | Mit diesem Vergleich möchte ich allerdings Visual Kei nicht als Jugendbewegung verstanden wissen. 173 | Interview mit Miho vom 31. Mai 2010.
134 | Visual Kei
Ich war früher ziemlich schüchtern, total zurückhaltend, jaaa sehr, also ich konnte noch nicht mal wegfahren, ich hatte Heimweh wie Sau, ich bin auch mal ganz lange nicht zur Schule gegangen, weil ich irgendwie davon nicht mehr los gekommen bin. Also das ist eine lange Geschichte, aber da war ich echt total anders als jetzt und durch ihn [den Stiefvater] irgendwie, hat das auch glaub ich so was dazu beigeholfen und dann natürlich auch durch Szene. Als ich so aufgetreten bin, und dann gelernt hab halt auch mit Kritik, das zu ignorieren und dann einfach weiter zu machen, also war immer egal dann. Nadine: Die Kritik von wem? Von Leuten von der Straße, ich mein früher sah ich ja ziemlich krass aus, nee also wenn ich jetzt Bilder sehe, denk ich auch so [hält sich die Augen zu], unglaublich, unglaublich was du getan hast, aber es gehört ja dazu, zur Entwicklung würde ich sagen, und wenn man dann natürlich hier längs läuft, so in der Klasse, hier auf der Straße kriegt man entweder blöde Sprüche ab, blöde Blicke ab, in der Klasse kann das sein, dass du Freunde verlierst, ich hab auch gehört, von meinen Freunden „Ja, wenn mir mal mit dir in die Stadt gehen, dann kaufst du dir mal vernünftige Sachen, dann geben wir uns auch wieder mit dir ab!“ Und da hab ich gesagt „Ja, dann tschüss!“ [lacht] Aber dafür hatte ich ja die anderen [Visus], also es soll sich jetzt nicht so emo oder traurig anhören, aber es ist halt so gewesen und auf die Leute kann ich auch verzichten, wenn die so denken. Aber ja, das hat mich dann so gemacht, wie ich jetzt bin. Und das ist auch ganz gut so, denke ich, ja!174
Schüchtern oder zurückhaltend ist Hiroko heute tatsächlich nicht mehr, doch vielleicht ist der Begriff „Erlösungsgeschichte“ etwas zu überspitzt. Was in allen Zugangserzählungen mitschwingt ist das Moment der Erholung. Erholsam deshalb, weil die Protagonist_innen einen Ort gefunden haben, an dem sie „so sein können, wie sie wollen“. Was dies genau bedeutet, warum Visual Kei für die Protagonist_innen diese Funktion erfüllt und wie die Protagonist_innen ihrem Handeln Sinn verleihen, wird in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt. Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Grad von Gemeinschaft und Zugehörigkeit bei den Protagonist_innen im Visual Kei recht hoch ist, was sich vor allem in der guten Vernetzung und der Beteiligung an Treffen zeigt. Die Wertvorstellungen sind relativ homogen – es gibt zwar keine nach außen gerichtete „Ideologie“ – es ist jedoch Grundannahme, dass Visual Kei offen, tolerant und vielfältig ist. Ebenso ist es Konsens, dass Visual Kei keinen Platz für Neonazis und andere diskriminierende Personen bietet. Die Angebote zur Teilhabe an der Subkultur sind – gemessen an ihrer kleine Größe – zahlreich und werden von den Protagonist_innen, sei es durch Vernetzung im Internet, durch den Besuch von Konzerten, Treffen oder Conventions, in
174 | Interview mit Hiroko vom 10. Mai 2010.
3. Die Subjekte der Subkultur: Subkulturelles Feld | 135
unterschiedlicher Intensität genutzt. Neben der sich überschneidenden Ansammlung von geteilten Interessen, Normen, Werten, Artefakten und Orten, gibt es folglich organisierende Strukturen innerhalb dieser Gemeinschaft, die zusammen ein spezifisches subkulturelles Feld eröffnen. Dies zeigt sich auch auf der Ebene von persönlichen Beziehungen. Beziehungsnetzwerke Freundschaften und persönliche Beziehungen unterhalten die Protagonist_innen vor allem mit Gleichgesinnten. Visual Kei und das Interesse daran dient als wichtiger Bezugspunkt für das Entstehen von Beziehungsnetzwerken. Ja beim Visual Kei kann man eigentlich kein Einzelgänger sein. Man hat immer Freunde da, man ist immer mit Leuten unterwegs.175
Mit dem Zugang zum Visual Kei zerbrechen oftmals ältere Freundschaften oder treten in den Hintergrund, wie Miku hier erläutert: Also so viele Freunde außerhalb der Szene habe ich gar nicht, aber die akzeptieren das. Ich hab einen Kumpel, den kenne ich seitdem ich zwei bin ungefähr, und wir sehen uns halt ab und zu, und für den ist es halt immer wieder erstaunlich, dass ich schon so lange da dran hänge [am Visual Kei]. Aber er hat mich halt auch eine Zeit lang für so einen Freak gehalten.176
Wie oben erläutert, führt die digitale Vermittlung des Visual Kei dazu, dass auch Beziehungen im Internet, also online gepflegt werden. Es entstehen klar erkennbare Freundschaftsnetzwerke und Kommunikation findet im Internet statt: weil man da viele Leute kennenlernt und es ist halt echt so, dass die meisten aus der Szene halt das haben, und dafür diese Plattform ist, wo sich echt alle treffen, also im Internet halt. [. . .] Aber das Problem ist halt, die meisten wohnen sehr weit weg, also grade wie Hiroko, ist halt meine beste Freundin, aber sie wohnt in Kiel, und das sind einfach mal 400km oder ein bisschen mehr sogar und dann können wir uns halt nur in den Ferien treffen oder wenn beide Zeit haben und unter der Woche lohnt sich schon meistens gar nicht wegen dem Geld dann auch, was du ausgeben musst. Das ist echt teuer. Und ja also mit den meisten, die weit weg wohnen kann man sich halt nur in den Ferien treffen, ist halt schade
175 | Interview mit Sato vom 25. Mai 2010. 176 | Interview mit Miku vom 15. Dezember 2009.
136 | Visual Kei
dann, weil man würde die natürlich gerne mal so „Ja, lass uns mal heute Abend was machen.“ und so. Aber deswegen beschränkt sich das auf das Internet und ich denke, deswegen hocken auch echt viele superlange davor [lacht]. Also mein Rechner läuft auch einfach den ganzen Tag, mh das ist schon schlimm [lacht].177
Die Beziehungsnetzwerke im Visual Kei verdeutlichen, dass nicht soziale Schicht oder Klasse Grundlage der subkulturellen Konstitution ist, sondern dass das gemeinsame Interesse am Visual Kei – welches eben nicht klassenspezifisch determiniert ist – wichtigster Referenzpunkt ist, der so stark ist, dass er auch eine Distanz von 400km überbrücken kann. Selbst Liebesbeziehungen werden online gepflegt, meist auch, um die große Distanz der Wohnorte zu überbrücken. Liebesbeziehungen werden – in der Regel als Zweierbeziehung – innerhalb der Subkultur geführt: Und die ist mit ihrer Freundin, mit der bin ich auch recht gut befreundet, die sind auch schon seit drei Jahren zusammen. Und die sind super glücklich miteinander, also es kommt vor. Also bei uns ist das noch normaler, als wenn man einen Freund hat. Also einen festen Freund, der nicht in die Szene gehört, das ist bei uns eigentlich sehr unüblich, ja.178
Beziehungsebenen werden jedoch nicht nur innerhalb von Freundschaften oder Paarbeziehungen verhandelt. Die Protagonist_innen eignen sich darüber hinaus Begriffe von Verwandtschaft an: aus Freundschaften werden Familien. Ohne sich von ihrer Herkunftsfamilie gänzlich loszusagen, bauen sich die Protagonist_innen ein familienähnliches Netzwerk auf und bezeichnen dieses auch so: Also so wie gestern mein Bruder, nicht mein richtiger Bruder, aber mein Bruder, also er möchte ja auch gerne, er hat auch die passenden Haare dafür, das ist auch wunderwunderschön seine Haare.179
In der Gesprächssituation habe ich diese Richtigstellung von Tiki_chan, es sei nicht ihr „richtiger“ Bruder, nicht wahrgenommen und konnte so nicht genauer nachfragen, was sie damit meint. Erst viel später, als Thoru mir in einem Facebook-Chat schreibt, wird mir bewusst, dass die Begriffe Familie, Bruder und Schwester tatsächlich von den Protagonist_innen zur Bezeichnung der engsten Personen um sie herum verwendet werden.180
177 | Interview mit Miho vom 31. Mai 2010. 178 | Interview mit Miku vom 15. Dezember 2009. 179 | Interview mit Tiki_chan vom 12. Dezember 2009. 180 | Dieses „Bewusstwerden“ stellt einen der queeren Momente der Forschung dar. Hier ging ich zunächst, ohne diese Annahme zu hinterfragen, davon aus, dass mir die Protagonist_innen
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Viele freundschaften die entstehen, führen zu richtig engen, fast familienähnlichen beziehungen. Nur das diese familie eben nichts mit der allgemeinen Familie zu tun hat, sondern einfach nur für sehr, sehr enge freunde steht, die mit einem wirklich durch dick und dünn gehen würden.181
Die Idee, sich als Brüder oder Schwestern zu bezeichnen, entspringt zunächst der Möglichkeit, bei Facebook familiäre Kontakte zu markieren. Die Protagonist_innen tragen hier nur gelegentlich ihre Brüder oder Schwestern aus den Herkunftsfamilien ein, der Verweis auf Brüder oder Schwestern aus der Subkultur fehlt jedoch nie. Doch nicht nur Facebook könnte hier als Inspiration gedient haben: Die Bezeichnung als Brüder und Schwestern ist zum einen aus religiösen Kontexten bekannt. Zum anderen bezeichnen sich auch Personen in afro-amerikanischen oder feministischen gemeinschaftlichen Zusammenhängen als „brothers and sisters“. Anhand der Eintragungen bei Facebook ist sehr schnell zu erkennen, welche Personen sich besonders nahe und wichtig sind. Aus diesen Personen setzt sich die „neue“ oder „zweite“ Familie zusammen und enge Freundschaften werden als Familie imaginiert. Ähnlich wie in der queeren Subkultur, wo es darum geht, ein anderes Bild von Familie zu schaffen – abseits heterosexistischer Rollenklischees – haben auch die Vorstellungen der Protagonist_innen über Familie einen besonderen Effekt: sie zeigen zumindest auf, wie das Ideal der heterosexuellen vierköpfigen Kleinfamilie außer Kraft gesetzt werden könnte. Doch anders als in queeren Subkulturen182 ist diese Praxis der Protagonist_innen nicht politisch, moralisch oder ethisch motiviert. Darüber wird auch nicht sprachlich-diskursiv verhandelt, sondern es wird einfach entlang den internalisierten habituellen Dispositionen gehandelt. Solche „Neuformulierung von Verwandtschaft“ kennzeichnet Butler in ihrer Betrachtung des Films Paris Is Burning als „Resignifikation der Familie“. Diese ist nicht „eine vergebliche oder nutzlose Nachahmung, sondern der soziale und diskursive Aufbau einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die bindet, Sorge trägt und lehrt, Unterschlupf gewährt und Möglichkeiten eröffnet.“183 Die Resignifizierung der Begriffe von Verwandtschaft im Visual Kei zeigt, dass die scheinbar statische Schicht
jeweils von den Brüdern und Schwestern ihrer Herkunftsfamilien erzählten. Die Erkenntnis, dass die Begriffe hier mit einer anderen Konnotation benutzt werden, die sich abseits heterosexueller Annahmen von Verwandtschaft bewegt, eröffnete eine neue Sichtweise auf die Beziehungsnetzwerke im Visual Kei. 181 | Facebook-Nachricht von Thoru, 9. Februar 2012. 182 | Butler 2004c; Carrington 2002. 183 | Butler 1997, S. 192 f.
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der symbolischen Ordnung durchaus Risse aufweist, die auf „eine Zukunft hinlenkt, die mehr ermöglicht“184 . Das Moment der Gemeinschaft, der Sorge und des Einstehens füreinander, wird auch von Hodkinson in seiner Neujustierung des Subkulturbegriffs eingeführt. Hodkinson geht davon aus, dass sich Subkulturen entlang der Kriterien identity, commitment, consistent distinctivness und autonomy185 beschreiben lassen. Ein wesentlicher gemeinschaftsstiftender Bezugspunkt der Protagonist_innen ist der Bezug auf Japan. Visual Kei als translokale Subkultur Hodkinsons Kritik an der CCCS-Subkulturforschung bezieht sich auch auf die Begrenzung vieler Subkulturstudien auf einen spezifischen lokalen Raum, in denen ansonsten fluide subkulturelle Ausdrücke an den spezifischen geographischen und ökonomischen Raum einer Stadt oder Region rückgebunden werden. Er stellt heraus, dass „local identities and traditions interact with relatively coherent translocal frames of reference“186 . Seine Auffassung von translokaler Subkultur geht über die Grenzen der lokalspezifischen Gemeinschaften hinweg, die traditionell im Fokus der Subkulturforschung gestanden haben. Visual Kei in Japan – entstanden in den 1980er Jahren – ist nicht nur vom japanischem Kabuki-Theater187 , sondern vor allem auch von Künstler_innen aus Westeuropa und Nordamerika inspiriert. Entscheidend war nicht nur die Musik des Glam Rock, des New Romantik oder Goth, sondern auch die ästhetische Inszenierung von Künstler_innen wie David Bowie, Kiss oder Twisted Sister. Über viele Jahre hinweg hat sich aus dieser Inspiration Visual Kei in Japan entwickelt. Die Musiker_innen der J-Rock-Bands – der Großteil sind cis-Männer – betonen einen Stil, der von herkömmlichen Vorstellungen von Männlichkeit abweicht. Besonders in den Anfangsjahren bis zum Ende der 1990er Jahre tragen alle lange Haare, dickes Make-up oder am Barock orientierte Kleider mit Spitze. In den letzten Jahren ist der Stil einiger Bands – vor allem um im MainstreamBereich und im Ausland mehr Erfolg zu haben – dezenter geworden und eine Reihe von Bands werden mittlerweile von den Protagonist_innen nicht mehr zum Visual
184 | Butler 1997, S. 193. 185 | Hodkinson 2002, S. 29. 186 | Ebd., S. 27. 187 | Kabuki ist das traditionelle japanische Theater des Bürgertums, in dem die männlichen Darsteller farbenfrohe Kostüme und viel Make-up tragen und auch Frauenrollen ausschließlich von Männern gespielt werden. (Ernst 2008).
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Kei zugehörig betrachtet. Doch nicht nur die Aufmachung – Männer tragen feminin codierte Kleidung – ist interessant: Auf und hinter der Bühne tauschen die Musiker_innen gelegentlich Zärtlichkeiten aus. Diese Praxis wird als „fanservice“ bezeichnet. Dieser „Service für die Fans“ ist sehr beliebt – im Internet gibt es zahlreiche Videos und Fanpages aus Zusammenschnitten dieser Szenen. Ob die Musiker_innen tatsächlich homosexuell sind, ist oftmals nicht genau geklärt – das Spiel mit diesem Bild gehört zumindest zur Inszenierung. Da über die Musiker_innen – auf Deutsch oder Englisch – nur wenig bekannt oder zugänglich ist, eröffnet sich der Raum für weitere, vielfältige Projektionen und Zuschreibungen. Die Protagonist_innen füllen diese Folie mit ihren eigenen Bildern und Vorstellungen von Japan und J-Rock, Geschlecht und Sexualität. Mit dem Mitte der 1990er Jahre aufkommenden Manga und Anime-Boom in Westeuropa und Deutschland und der folgenden Technisierung und Digitalisierung des Alltags um die Jahrtausendwende begann der Transfer von Visual Kei Richtung Westeuropa. Dieser Transfer hat bei den Protagonist_innen der Forschung jedoch nicht nur eine Begeisterung für die Musik und die ästhetische Inszenierung hervorgerufen, er ist gleichermaßen verknüpft mit einem großen Interesse an Japan und Japanischer (Pop)Kultur insgesamt.188 Die Technisierung und Digitalisierung geht Höhn zufolge einher mit einer Mediatisierung des Alltags, also einer wachsenden Zahl von Medien aller Typen, verbunden mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Bedeutung dieser Medienangebote für sämtliche Lebensbereiche.189 Er beschreibt Visual Kei als „de-territorialisierte“ Medienkultur, „da Kultur außerhalb von medialen Bezügen vermittelt kaum noch vorstellbar ist“190 . Diese Entwicklung hin zu medial vermittelter Kultur könne nicht losgelöst von Globalisierungsmechanismen betrachtet werden: Im Rahmen der Globalisierung kommt zur territorialen, lokalen Kultur eine de-territoriale, translokale Medien-Kultur hinzu, die den direkten Bezug zu bestimmten geografischen oder sozialen Territorien verloren hat. Was Höhn genau unter Globalisierung fasst bleibt allerdings unklar, und auch sein Begriff der Medien-Kultur vermag hier – aufgrund der engen Grenzziehungen – nicht zu überzeugen. Ich stimme ihm darin zu, dass die Verbreitung einer Subkultur aus Japan in Deutschland ein Effekt der Digitalisierung von Medien ist, gehe jedoch nicht davon aus, dass ausschließlich die Mediatisierung die Verbreitung von Visual Kei
188 | Seit dem Jahr 2011 weitet sich dieses Interesse auch auf Musik aus Südkorea aus, die „K-Pop“ genannt wird. 189 | Höhn 2008. 190 | Ebd., S. 194.
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möglich gemacht hat. Darüber hinaus mag Visual Kei zwar translokal sein, doch die Subkultur als „de-territorialisiert“ zu bezeichnen, leuchtet ebenso wenig ein, da es in den letzten Jahrzehnten wohl keine Subkultur gab, die so stark auf ein Land fokussiert ist. Darüber hinaus war Visual Kei in Japan – durch die Einflüsse aus Westeuropa und Nordamerika, kombiniert mit Einflüssen aus dem Kabuki – in diesem Sinne schon immer translokal. Und Visual Kei ist nicht erst durch den Transfer nach Deutschland translokal geworden.191 Das Interesse an Japan unter den Protagonist_innen in Deutschland ist so groß, dass viele von ihnen Japanisch lernen und ihr Erspartes192 vor allem für den Besuch von Konzerten japanischer Bands und für Reisen nach Japan verwenden. Die Auseinandersetzung mit Japan – sei es beim Sushi-Essen, im Sprachkurs, beim Hören und Übersetzen der japanischen Songtexte – durchzieht folglich den gesamten Alltag aller Protagonist_innen. Die subkulturelle Vernetzung findet – trotz persönlicher Kontakte nach Japan – eher im Lokalen statt und verbleibt meist im deutschsprachigen Raum. Obwohl einige der Protagonist_innen Japanisch lernen, reicht dies oftmals (noch) nicht für flüssige Kommunikation. Auch Facebook-Seiten und Blogs werden auf Deutsch geschrieben, so dass sich zwar auf den Ursprungsmythos „Japan“ bezogen wird, der Grad der subkulturellen Vernetzung mit japanischen Visus oder auch das Wissen über Visual Kei in Japan weniger hoch ist, als es z.B. von Höhn beschrieben wird. N: Ach krass, ich dachte, in Japan können auch ganz viele Englisch. M: Mh ja vielleicht. Also ich weiß ja, dass sie ungern Englisch reden, weil die halt alle sich nicht so richtig trauen auch. Weil die haben ja auch so eine krasse Kultur, so von wegen keine Fehler zugeben und lieber nichts sagen als nachfragen. Und also es ist ja schon alles sehr geordnet da und die werden ja auch von klein auf so erzogen, ja. Also vielleicht können das manche, aber es ist schon schwierig. [. . .] N: Ach so was ich noch spannend fand: Ist es denn in Japan auch so? M: Mit den Beziehungen? N: Zum Beispiel, genau.
191 | Selbst populäre Erscheinungen, wie Hello Kitty und kawaii (süß) kommen nicht ohne den Bezug auf Europa oder Nordamerika aus: „Importantly, kawaii style more generally is not seen as originally stemming from traditional Japanese culture, but rather was influenced by Japanese perceptions of Europe and America.“ (Decatur 2012). 192 | Eine Konzertkarte kostet meist zwischen 30 bis 40 Euro.
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M: Ähm, ich weiß es gar nicht, ich habe mich das auch schon sehr oft gefragt, ob die das auch so locker sehen, oder ob die diesen fanservice, ob die das auch so toll finden, oder ob die sich auch sagen „Nee, lieber nicht.“ Aber scheinbar, muss es ja, weil sonst würden die das glaube ich nicht machen, also... N: Ich habe auch mal geguckt, ob ich dazu was finde, weil mich würde ja schon auch interessieren: Warum präsentieren sich die Musiker so? Aber ich habe nichts gefunden irgendwie. M: Das ist auch, also ich frage mich das auch selber total oft, also [lacht] warum, aber scheinbar, es kommt echt gut an und es ist halt so dieses aus der Masse herausstechen. Und das schaffen sie ja damit ziemlich gut, ja. Aber ob das da [in Japan] auch so gut ankommt, oder ob die Fans untereinander dann auch sagen, sie sind lesbisch oder keine Ahnung, phh keine Ahnung, aber es wär halt echt interessant mal zu wissen.193
Visual Kei in Japan dient so vor allem als Folie, die mit eigenen lokal verankerten Inhalten und Vorstellungen gefüllt wird. Das Interesse an Japan und Visual Kei bleibt jedoch nicht bei subkulturellen Aushandlungen stehen: es zieht sich für die meisten der Protagonist_innen bis hinein in die Wahl des Studiengangs und des Berufs: Wenn sie studieren oder sich für eine Ausbildung entscheiden, dann sind es vor allem Fächer, wie Design, Fotografie und vor allem Japanologie. Der Bezug auf Japan ist fester Bestandteil des Alltags der Protagonist_innen. Viele von ihnen waren schon dort – vor allem in Tokio – oder wollen unbedingt einmal hin. Die Reisen nach Japan dienen der Bestätigung subkultureller Authentizität. Hier werden Kleidungsstücke und Accessoires erworben, die – weil in Japan gekauft und in Europa nur schwer erhältlich – automatisch die Note des Echten haben. Das „wirkliche“ Visual Kei-Lebensgefühl materialisiert in Kleidungsstücken. Die Reisen nach Japan und die Erzählungen darüber gleichen einem Initiationsritus, einem: „Ich war da, und habe es mit eigenen Augen gesehen!“. Die Harajuku-Brücke wird besucht und die Protagonist_innen versuchen, so viele J-Rock-Konzerte wie möglich zu sehen. Hiroko, die demnächst nach Japan fliegen möchte, erzählt: H: Also alleine wäre ich jetzt noch nicht geflogen, ich dachte ich muss jetzt ewig sparen, aber ich hab zu meinem 18ten Geburtstag relativ viel gekriegt und ich hab nichts ausgegeben, ganz eisern. Ich hab auf jeden Fall das Geld für den Flug und fürs Hotel und dann noch natürlich sparen, sparen, sparen, ja. Aber wenn das jetzt klappt, wir haben uns schon ein Datum festgelegt, so und jetzt müssen wir noch gucken, wie das sonst so klappt. Von mir ja, ich darf mir frei nehmen von der Schule, das ist kein Problem, weil die sagen naja „Viel Spaß und mach schöne Fotos!“, und das ist nicht
193 | Interview mit Miho vom 31. Mai 2010.
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so schlimm. Ja und ich hoffe, dass alles klappt, Also mir ist schon wichtig das mal zu sehen, wovon ich andauernd so, was heißt schwärme, es ist jetzt nicht so dass ich total drauf besessen bin, ich hätte auch noch ein bisschen warten können, aber wenn sich jetzt die Chance ergibt, dann ja. Ich mag das Land schon mal sehen. Ob es so ist, wie ich es mir vorstelle. Wahrscheinlich ist es total anders, aber genau das will ich ja sehen [lacht]. Mal sehen, wie es halt wirklich ist, nicht wie man nur hört. N: Und was hast du für eine Idee; was interessiert dich da besonders? H: Also auf jeden Fall die, ich will den Eindruck haben, wenn ich da stehe wie groß das ist, die ganzen, ich seh’s immer nur auf Bildern und denk so „Oh, das ist so geil, wenn du da mal stehen würdest!“ weil es einfach so, ich mag große Städte erstens total, und allein so wie es aussieht, ich mach ja gerne Bilder, das ist für mich einfach so, für mich ist das gleich so eine Verbindung, ich kann da Bilder machen, ich finde die Stadt toll, ich mag das einfach und natürlich auch die Läden. Shoppen, das ist natürlich auch wichtig. Ich hoffe ich kann da auf ein zwei Konzerte in der Woche, wenn nicht, dann hab ich Pech, aber vielleicht ist da ja eins, von einer Band, die ich noch nicht gesehen habe. Ich will einfach mal hin.194
Die Protagonist_innen sind sich bewusst, dass sie viele Bilder über Japan im Kopf haben, die teilweise verkürzt oder romantisiert sind. Auch deshalb – und dies verweist wiederum auf Authentizität – wollen sie den „reality check“. Ist diese Reflexion im „reality check“ vollzogen, kommen viele der Protagonist_innen zum Ergebnis, dass die Faszination für sie weiter besteht, sie sich jedoch selbst nicht in diesem Kontext sehen: Mein Bezug auf Japan. . . ich finde die Sprache, die Musik, die Legenden, Mythology, Geschichte und das Land selbst extrem cool und interessant aber ich weiß genau deswegen z.b. das ich da nur zum Urlaub bzw. shoppen hin reisen würde. . . 195
Da Japan selbst recht weit von Deutschland entfernt ist, und auch Treffen oder Konzerte im ganzen Bundesgebiet verstreut stattfinden, aber auch Freundschafts- und Beziehungsnetzwerke durch das ganze Land geknüpft werden, entfalten die Protagonist_innen eine große Mobilität. Auch innerhalb Deutschlands werden lokale Kontexte aufgebrochen. Für diejenigen, die schon allein reisen dürfen und können – also ab ca. 16 Jahren – ist es nicht ungewöhnlich ein bis zweimal im Monat weite Strecken zurückzulegen, um Konzerte, Treffen oder einfach nur Freund_innen zu besuchen. Nicht nur die Subkultur hat sich bewegt, auch die Protagonist_innen selbst sind in Bewegung.
194 | Interview mit Hiroko vom 10. Mai 2010. 195 | E-Mail von Sato, 27. Juli 2010.
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Diese Bewegung bedeutet allerdings nicht, dass es zwangsweise zu einer Homogenisierung oder kulturellen Nähe (zwischen Japan und Deutschland) kommt. Denn in den Gruppen und Netzwerken bleibt die Lokalität bestehen.196 Die kommunikativen Räume im Visual Kei entfalten sich zwar über lokale und nationale Grenzen hinweg, doch bleibt Lokalität ein wichtiger Referenzpunkt, vor allem im Alltag.197 Warum gerade Japan? Eine kulturelle Rückkopplung Also Japan ist schon echt so Hauptbestandteil irgendwie meines Lebens. Also es klingt zwar ein bisschen erbärmlich das jetzt so zu sagen, aber es ist schon so: Ich guck Anime, ich zock gern japanische Spiele, ich hör gern japanische Musik, ich mag japanischen Style, also irgendwie kommt man schon gar nicht davon los, selbst wenn man will.198
Wie in vorhergehenden Beispielen deutlich wurde, ist der Hauptreferenzpunkt im Visual Kei „Japan“. Für Fragen von Mode, Stil und Geschmack sind vor allem die Trends aus Harajuku in Tokio und die Ästhetisierungen der Musiker_innen vorbildhaft. In den wenigen mir zugänglichen Texten über Visual Kei in Japan wird die Subkultur meist als Gegenbewegung gegen einen starren reglementierten Alltag dargestellt. Es seien fast ausschließlich Mädchen, die hier involviert sind. Während unter der Woche die Schuluniform zu tragen ist, und auch im Berufsleben enge Kleidungskonventionen gelten, kleiden sich junge Menschen am Wochenende und nach der Schule bunt und auffällig.199 Die Linguistin Keiko Tanaka vermutet: „Perhaps this is because most Japanese high schools impose upon their pupils a school uniform and detailed and stringent rules concerning hair styles and accessoires, such as bags and shoes.“200 In Japan fiel das Aufkommen des J-Rock mit seiner schillernden Visualität immer schon mit den Bedürfnissen japanischer Jugendlicher zusammen, Möglichkeiten zum Ausbruch aus einengenden Alltagsstrukturen zu finden. Aus westeuropäischer Sicht sei die Erziehung in Schule und Elternhaus sehr streng und es gebe eine große Zahl von gesellschaftlichen Schranken und Tabus, auch im Hinblick auf Geschlechterrollen und Sexualität. Mit der ästhetischen Selbstinszenierung im Visual
196 | Hepp (2004) zufolge kann es gar zu reterritorialen Reaktionen kommen, indem innerhalb der verstärkten kommunikativen Konnektivität zwischen den Lokalitäten, lokale Bezüge besonders betont werden. 197 | Vgl. Heymann 2012. 198 | Interview mit Mi vom 31. Juli 2010. 199 | Pfeifle 2011. 200 | Tanaka 1998, S. 128.
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Kei entwickele sich ein stiller aber schriller Protest, an Wochenenden, zu Konzerten und vor allem auf der Harajuku-Brücke in Tokio.201 Über die Musiker_innen hinausgehend, kursieren zahlreiche Bilder über Japan bei den Protagonist_innen in Deutschland. Sie verfügen folglich nicht nur über JRock-spezifisches Wissen, sondern informieren und interessieren sich auch für Gesellschaft, Geschichte, Architektur und Alltagsleben in Japan. In einer E-Mail antwortet mir Sato auf meine Frage, wie er sich das Leben in Japan vorstellt und was ihn an Sprache und Musik fasziniert: Hi, Naja ich habe an dem Technischen selbst so kein Interesse, ich finde nur wahnsinnig interessant, dass die Japaner ja noch gar nicht so lange aus ihrem Mittelalter raus sind und schon alles voll von Computern ist und sie im Grunde mitunter das beste Verständnis dafür haben. Naja was mich an Sprache und Musik begeistert ist genau das selbe: es klingt geil 0.o Ich meine, was findet man an Sprache oder Musik im allgemeinen denn sonst toll? Der klang, wie sehr es einem nah geht, vllt sogar die Geschichte hinter der Sprache oder deren Entwicklung... und Musik ist genau das gleiche! Das Leben in Japan... naja als offensichtlicher Ausländer weiss ich, dass das Leben dort recht schwierig is, außerdem sehr beengt, einsam trotz der vielen menschen, weil es unheimlich schwer sein soll dort Freundschaften zu knüpfen, außerdem is es sehr stressig und teuer für den Geschmack eines Deutschen (ich rede von essen und sowas ^^) Früchte und Milchprodukte z.b. sind recht teuer, man muss seine Ernährung schon recht groß umstellen, um da billig leben zu können. Naja das VisualKei aus Japan kommt und ich schlecht aufhören kann das zu sein, wäre ich das da drüben genauso wie hier, mit dem einzigen Unterschied das ich drüben mehr Klamotten für mich finden würde. Was ich nicht so gut finde hab ich ja dann schon geschrieben ^^zumal für mich persönlich japanisch lernen glaub ich eine Qual wird, weil ich furchbar schlecht bin im sprachen lernen... ^^und japanisch ist für deutsche nun auch nicht sonderlich leicht. fein dass ich helfen kann ^^ mfg Sato-kun202
201 | Vgl. Fukuzawa und LeTendre 2001; Kreitz-Sandberg 1994; Pfeifle 2011. 202 | E-Mail von Sato, 27. Juli 2010.
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Japan wird meist als hochtechnisiertes Land beschrieben und den Japaner_innen die Kompetenz zugeschrieben diese Techniken zu beherrschen. In ihren Schilderungen von Japan entwerfen die Protagonist_innen ein sehr urbanes Bild: Technisierung, Vereinsamung und Konsumgüter bestimmen den Alltag. Dieses Bild spiegelt sich ebenso in den Wahrnehmungen über Visual Kei: Autos, Smartphones, Kopfhörer, Harajuku, Street-Style, Starbucks und McDonalds sind oft gesetzte Referenzpunkte. Sie sind als Insignien der Urbanität, als Sedimente großstädtischer Einflüsse zu betrachten. Großstadt und Technik bilden die Kulissen des Visual Kei. Und damit möchte ich wiederum Höhn widersprechen, der konstatierte: Visual Kei ist die erste Subkultur, die nicht in einer Großstadt entstanden ist.203 Jutebeutel, Naturstrom und schöne Landschaften bestimmen nicht den Wertekanon der Protagonist_innen. Und auch wenn einige von ihnen in ländlichen Gegenden wohnen, rekurriert Visual Kei auf Urbanität und die Protagonist_innen können sich über Social-Media-Plattformen ein Stück davon nach Hause holen. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen globalen Bildwelten und der Verankerung im Lokalen, welches Hisashi im folgenden Ausschnitt anspricht: Ich finde, so mit diesem ganzen, mit diesen ganzen Szenen [in Japan] verbinde ich auch so einen speziellen Charakter. So eine spezielle Wesenseigenart, wie man es auch immer formulieren will. Und ich finde viele Deutsche oder westliche Menschen, die versuchen das zu kopieren, also ich habe mich gar nicht erst darum bemüht. Ich bin einfach so wie ich bin. Aber viele versuchen das zu kopieren und so ein bisschen, dieses, ja ich weiß gar nicht, wie man diese Charakterzüge beschreiben soll. Einerseits ist es so ein bisschen unnahbar, andererseits ist es so pseudo-cool, also es ist so eine Mischung aus vielen Faktoren. Und viele versuchen das so ein bisschen zu imitieren. Klappt meiner Meinung nach einfach nicht immer oder selten und, weiß ich nicht. Also man kann sich ja so anziehen, aber man muss ja nicht unbedingt so sein, oder versuchen so zu sein, wie eben ein cooler Typ der in Tokyo an einer U-Bahn-Station rumlungert und die Ladies auscheckt, muss ja nicht unbedingt sein, keine Ahnung. Man ist hier immerhin nicht in Tokyo an der U-Bahn-Station.204
Eine direkte Übertragung von Visual Kei auf den deutschen Kontext kann in Hisashis Augen nur scheitern. Man kann sich also durchaus auf Visual Kei beziehen, der lokale Kontext in Deutschland ist jedoch ein anderer und Bonn ist eben nicht Tokio. All die Bilder über Japan kursieren jedoch nicht nur innerhalb des Visual Kei. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass die Vorstellungen Teil eines größeren Diskurses über japani-
203 | Höhn 2007. 204 | Interview mit Hisashi vom 31. Juli 2010.
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sche (Pop)Kultur sind.205 Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss bereiste mehrfach das Land und spricht in seinen Schriften über Japan von dem Zauber, den Japan und seine Kultur auf ihn ausübt. Er fragt nach dem Platz der japanischen Kultur in der Welt und stellt fest: „Die japanische Kultur besitzt also eine erstaunliche Fähigkeit, zwischen extremen Positionen zu oszillieren. [. . .] Im Abendland folgen Lebensstile und Produktionsweisen einander. Man könnte meinen, daß sie in Japan koexistieren.“206 Japan wird als hochentwickeltes, „hypermodernes“ Industrieland beschrieben, dem es dennoch gelinge, jahrhundertealte Mythen und Traditionen gegenwärtigzuhalten. Auch in dem Begriff „J-Rock“ schwingen diese Bilder mit. Das „J“ aus dem Englischen steht für Japan, es wird nicht das japanische „Nihon“ oder „Nippon“ verwendet. Das „J“ signalisiert dabei zweierlei: Es charakterisiert die Musik als spezifisch japanisch und evoziert gleichzeitig mit der englischen Aussprache ein Bild von Japan, das modern und international zugänglich ist. In Bezug auf den bekannteren Begriff J-Pop beschreibt die Japanologin Anja Hopf: Die Botschaft von J-Pop mit seinen Assoziationen von „bilingual“ und „international“ und somit von Weltgewandheit und Kosmopolitismus waren gewissermaßen das Tüpfelchen auf dem i. Japanisch und das international wirkende Englisch fröhlich vermischt – gesampelt – symbolisierte eine von vielen Bemühungen, dem Westen ebenbürtig zu sein, und doch angeblich etwas ganz Eigenständiges zu verkörpern: daher der Bezug zu „J“!207
J-Rock ist daher nicht das einzige „J“-Wort, im öffentlichen Raum Japans. So gibt es neben dem bekannteren J-Pop eine Umweltfachhochschule, die sich J-eco nennt, ein Elektrizitätsunternehmen, das sich 2002 in J-Power umbenannt hat oder etwa auch das Fernsehprogramm Supa J channeru.208 „Doch was in Japan als Mainstream hergestellt und verkauft wird, wird im deutschsprachigen Raum von einigen wenigen Subkulturen rezipiert.“209 J-Rock ist in Deutschland nur Personen bekannt, die sich für Manga und Anime oder auch für die Musikrichtung Metal interessieren. Anders sieht dies mit Begriffen wie Origami, Sushi, Kirschblüte, Geisha, Bonsai oder Sumo aus, dazu fällt vielen Personen in Deutschland etwas ein, auch wenn sie
205 | „Der Japanische Archipel [. . .] wirkt auf Besucher noch immer mysteriös. Ein kurioser Mix aus Alt und Modern prägt die Städte: futuristische Wolkenkratzer und laute Karaoke-Bars, daneben uralte Tempel und Teehäuser.“ (Ledig und Liesendahl 2012, S. 10). 206 | Lévi-Strauss 2012, S. 32 f. 207 | A. Hopf 2008, S. 18. 208 | Weitere Beispiele siehe ebd. 209 | Ebd., S. 11.
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noch nie in Japan waren oder sich nicht sonderlich dafür interessieren. Der Bekanntheitsgrad japanischer Kultur hängt mit den engen Beziehungen zusammen, die Japan zu Deutschland und auch den USA unterhält. Die dritthäufigste Fremdsprache, die in Japan gelehrt wird, ist Deutsch. Im Jahr 2011 gab es anlässlich der Unterzeichnung des Preußisch-Japanischen Handels- und Freundschaftsvertrages eine ganze Reihe von Veranstaltungen unter dem Motto: „150 Jahre Freundschaft zwischen Deutschland und Japan“. Zur Eröffnung der Feierlichkeiten erklärte die Staatsministerin des Auswärtigen Amtes, Cornelia Pieper: Japan und Deutschland sind Hochtechnologienationen. Die Wissenschaft hat in unseren bilateralen Beziehungen immer eine Vorreiterrolle gespielt und ist auch heute noch zentrale Säule der Zusammenarbeit. Mit dem Jubiläum wollen wir bestehende Netzwerke stärken und die Jugend in unseren beiden Ländern füreinander neu begeistern.210
Japan und Deutschland stehen also auch außerhalb pop- und subkultureller Bezüge in einem engen Verhältnis. So gab es im Jahr 2011 eine Japan-Tournee der Bayrischen Staatsoper, eine Retrospektive des japanischen Künstlers Hokusai im Berliner Martin-Gropius-Bau oder die Ausstellung „Ferne Gefährten“ zu den deutschjapanischen Beziehungen im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim im Jahr 2012, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen. Auch die Band Tokio Hotel stellte nicht nur über den Bandnamen einen Bezug zu Japan her, sogar ihren Hit „Durch den Monsun“ hat die Band auf Japanisch vertont und war in den Jahren 2010 und 2011 mehrfach in Japan auf Promo-Tour.211 Wie oben deutlich gemacht wurde, kann die globale Verbreitung kultureller Praxisformen und Körpertechniken nur da erfolgreich sein, wo sie lokal auf Akteur_innen treffen, die dazu dispositioniert sind, sich diese kreativ anzueignen, sie zu inkorporieren und damit auch lokalspezifisch zu modifizieren. Modifiziert und kreativ angeeignet insofern, als das die Aneignung gemäß dem habituellen Dispositionssystem der Protagonist_innen geschieht: die Praxisformen und Körpertechniken werden entlang den kulturellen Codes des eigenen Habitus kreativ einverleibt, umgedeutet und eingebettet. So ist anzunehmen, dass der Strom Japanischer (Pop)Kultur in die Lebenswelten der Protagonist_innen in Deutschland Spuren hinterlässt, die – durch mehrfache Wiederholung – eine neue Schicht entstehen lassen, die bedeutend ist für die Konstitution der Subjekte im Visual Kei.
210 | Auswärtiges Amt 2011. 211 | Allerdings ist Tokio Hotel unter den Protagonist_innen im Visual Kei nicht gut gelitten, ihnen wird vorgeworfen, den Stil auszubeuten.
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Z USAMMENSCHAU
DER
E RGEBNISSE
In diesem Kapitel ging es in einem ersten Schritt darum, den Blick auf die Praxen im Visual Kei auch theoretisch zu schärfen. Betrachten wir die Praxen in einer Subkultur, so lässt sich immer auch fragen, welche Formen des Subjekts darin entstehen. Wenn eines meiner zentralen Forschungsanliegen die Frage der Möglichkeit, Unmöglichkeit oder Verworfenheit von Existenzen ist, so ist es sinnvoll einen Subjekt- und Praxisbegriff als zentralen theoretischen Referenzpunkt der Arbeit zu wählen. Die Subjektanalyse versucht festzustellen, welches Wissen, welche somatischen Routinen und Bezugspunkte, welche Abgrenzungsformen, welche psychisch-affektiven Orientierungen ausgebildet werden, um jener „Mensch“ zu werden, den die jeweilige gesellschaftliche Ordnung voraussetzt.212 Mit der älteren semiotisch-orientierten CCCS-Subkulturforschung ist diese Frage nur unzureichend zu beantworten. Daher greife ich mit den theoretischen Konzepten von Butler und Bourdieu zwei Ansätze auf, die sich mit der Konstitution von Subjekten in und durch Praxis beschäftigen. Ich habe dargelegt, dass es trotz der Unterschiede zwischen beiden Denker_innen möglich ist, ihre Konzepte unter einer analyseleitenden Fragestellung komplementär aufeinander zu beziehen. Beide beziehen sich auf Praxis, um zu erklären, welcher kulturellen Logik Subjektivationen folgen und welche Effekte diese hervorbringt. Beide Ansätze sind in der Weise vergleichbar, in der sie Praxis in ihr Denken einbeziehen und mit Prozessen der Entstehung von Subjekten und Körpern in Beziehung setzen. Obgleich sie unterschiedliche Gegenstandsbereiche betrachten, sehe ich eine grundlegende Gemeinsamkeit in dem Verständnis von der Materialität sozialer Praxen. Mit Butler und Bourdieu gelingt es zu zeigen, wie Normen verkörpert werden und welche Stellungnahmen den Subjekten darin möglich sind. Während Butler die Instabilität performativer Praxen betont, hebt das Habituskonzept die Trägheit symbolischer Ordnung hervor und zeigt, wie Normen beständig reproduziert und einverleibt werden. Mit der Bezugnahme auf Butler und Bourdieu geht es mir jedoch nicht darum, den Subkulturbegriff vollends zu verabschieden. Vielmehr ist es so, dass das Denken mit Butler und Bourdieu, in Bezug auf das Gebiet der Subkulturen, es ermöglicht den Subkulturbegriff neu zu justieren. Es ist deutlich geworden, dass es so gelingen kann, ein tragfähiges Analysemodell für die Erforschung postmoderner Subkulturen abzuleiten, welches das Wechselspiel von Stabilisierung und Destabilisierung kultureller Formationen, von Subjekt und Gesellschaft nachvollziehbar macht. Damit können ak-
212 | Reckwitz 2004, 2010.
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tuelle Widersprüche, multidimensionale und instabile Subjektivitäten innerhalb von Subkulturen erklärbar werden. Das Zusammendenken des Performativitäts- und Habituskonzepts generiert einen spezifischen analytischen Rahmen, in dem gegenwärtige subkulturelle Formationen neu gedacht werden können. Dieser Rahmen setzt da an, wo „Widerstand“ als Hauptreferent in Zeiten von subkultureller Popularisierung und Kommerzialisierung nicht mehr tragbar scheint. Ähnlich wie Thornton Bourdieus Konzept des Kapitals auf das „subkulturelle Kapital“ übertragen hat, fasse ich Visual Kei als subkulturelles Feld. Hintergrund dieser Überlegung ist Butlers Kritik an der Konzeptualisierung des Feldes als objektiver, statischer und externer Kontext, als ein spezifisch sozialer Raum, der auf den Habitus einwirkt.213 Butler geht vielmehr davon aus, dass auch der Habitus das Feld bedingen kann, „and is itself composed of sedimented rituals framed and impelled by the structuring force of that field“214 . Butler schlägt vor, die temporären Dimensionen von Habitus und sozialer Praxis als Ritual, auch auf das Feld anzulegen und dieses damit als zeitlich reproduzierten Effekt zu begreifen. Das Feld wäre damit ebenfalls der Logik der Iterabilität unterworfen und abhängig von den instabilen Formen der Wiederholung. Die Vorstellung eines performativ konstituierten und bestätigten Feldes, in dem die Kongruenz zwischen Habitus und Feld auch erschüttert werden kann, ist insbesondere im Hinblick auf ein subkulturelles Feld fruchtbar zu machen. Werden Habitus und Feld als performativ gedacht, können sie nicht nur als zentraler Punkt der Konstitution von Subjekten betrachtet werden, sondern ebenso als Ausdruck der beständigen politischen Anfechtung und Neuformulierung von Subjekten. Eine Frage, die im Hinblick auf die Subkulturforschung von Bedeutung ist. Es ist deutlich geworden, dass ich in dieser Arbeit nach einer doppelten Strategie verfahre und in Anlehnung an die Subkulturstudien von Hodkinson und Thornton eine konstruktive Neujustierung der Subkulturforschung versuche. In beiden Studien wird deutlich, dass sich Subkulturen ins Verhältnis zum „Mainstream“, zu „basaler Kultur“215 setzen, und damit eine Notwendigkeit der Bezeichnung hervorrufen. Obwohl gerade Visual Kei auf den ersten Blick als oberflächliches, rein stilistisches Phänomen erscheinen kann, reicht es nicht aus, ausschließlich auf der Zeichen- und Stilebene zu bleiben. Auf einige Betrachter_innen wirkt Visual Kei inhaltsleer, selbstverliebt und oberflächlich: eine unverbindliche Stilgemeinde. Ich argumentiere jedoch in Anlehung an die neuere Subkulturforschung, dass die fehlende Anbindung an eine spezifische Schicht oder eine politische Bewegung nicht die Ausnahme, son-
213 | Butler 1999. 214 | Ebd., S. 119. 215 | Bonz 2008, S. 58.
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dern vielmehr die Regel in Bezug auf Subkulturen darstellt. Subkulturen entspringen nicht zwangsweise einer spezifischen sozialen Schicht und richten sich ebenso wenig ausschließlich gegen hegemoniale Gesellschaftsstrukturen. Dies wird insbesondere bei dem Versuch deutlich, Visual Kei im zweiten Teil des Kapitels als Feld einzugrenzen. Die soziale Position der Protagonist_innen bleibt zwar nicht unbestimmt, sie ist jedoch nicht grundlegend für die Teilhabe an der Subkultur. Gemeinschaft wird hier vor allem über ein affektives Moment transportiert: Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der sich die Protagonist_innen sicher und anerkannt fühlen und ihr Handeln einen bestimmten Sinn erhält. Der Zugang zur Subkultur wird über Musik und Bilder vermittelt, vorangetrieben und verbunden mit der Digitalisierung und globalen Verfügbarkeit von Medien. Mit dem Mitte der 1990er Jahre aufkommenden Manga und Anime-Boom in Westeuropa, verbunden mit der Technisierung und Digitalisierung des Alltags um die Jahrtausendwende, begann der Transfer von Visual Kei Richtung Deutschland. Dieser Transfer hat – als kulturelle Rückkopplung – bei den Protagonist_innen der Forschung jedoch nicht nur eine Begeisterung für die Musik und die ästhetische Inszenierung hervorgerufen, er ist gleichermaßen verknüpft mit einem großen Interesse an Japan und Japanischer (Pop)Kultur insgesamt. Doch der Bezug auf Japan ist kein Zufall: Wie wahrscheinlich viele Jugendliche waren auch die Protagonist_innen bereits mit Japanischer Popkultur vertraut: Sailormoon, Pokemon und Hello Kitty sind den meisten Menschen, die in den 1990er Jahren in Deutschland aufgewachsen sind, bekannt. Die Auseinandersetzung mit Japan – sei es beim Sushi-Essen, im Sprachkurs, beim Hören und Übersetzen der japanischen Songtexte – durchzieht den gesamten Alltag der Protagonist_innen im Visual Kei. Es ist deutlich geworden, dass sich Visual Kei nicht an einen einzigen lokalen Raum rückbinden lässt, sondern lokale Bezüge vielmehr in einem translokalen Rahmen verortet sind. Die damit mögliche Vielfalt an subkulturellen Ausdrücken wirft die Frage auf, ob die doxische Erfahrung der sozialen Welt im Visual Kei durch das Moment des Translokalen infrage gestellt wird, ob die Alltagsvernunft in ihrer Abgestimmtheit auf die herrschenden Zustände irritiert wird.
4. Sedimentierungsprozesse: Subkulturelle Praxen
Als die sedimentierte Wirkung einer andauernden wiederholenden oder rituellen Praxis erlangt das biologische Geschlecht seinen Effekt des Naturalisierten; und doch tun sich in diesen ständigen Wiederholungen auch Brüche und feine Risse auf als die konstitutiven Instabilitäten in solchen Konstruktionen, dasjenige, was der Norm entgeht oder über sie hinausschießt [. . .].1
Ich verwende in meiner Arbeit die Denkfigur der Sedimentierung, um nachzuvollziehen, wie sich der subkulturelle Ausdruck materialisiert und sich darin lebbare und lesbare Subjekte konstituieren. Die Denkfigur der Sedimentierung ermöglicht es, die Konzepte von Performativität und Habitus in Beziehung zu setzen, ohne sie zu verkürzen: Wenn sowohl Bourdieus Konzept des Habitus als auch Butlers Verständnis von Performativität Praxis als Ausdruck von Prozessen der Subjektivierung fassen, so lässt sich mit beiden Praxis als (körperliches) Sediment kollektiver und individueller Erfahrungen innerhalb spezifischer kultureller Felder beschreiben. Sedimente verstehe ich dabei als Ablagerungen, als Schichten aus unterschiedlichen Materialien. Die Figur des Sediments ist abgeleitet aus der Geologie, wo, vereinfacht ausgedrückt, Sedimentierung als Ablagerung von Teilchen unter dem Einfluss der Schwerkraft verstanden wird. Zunächst könnte man denken, Ablagerungen seien fest und unveränderlich, doch sie können sich heben und senken, sie fließen, entziehen und verwerfen sich oder sie halten inne. Sedimente, eine Anhäufung von Steinchen, Schlamm und Sand, geben uns die Möglichkeit, Geschichte zu lesen. Sedimente sind – in der Geologie wie auch in ihrer metaphorischen Verwendung – zunächst Ergebnis exogener Prozesse und
1 | Butler 1997, S. 32 f.
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können dabei verschiedene Formen annehmen: Schichten treten in vielfacher Folge auf, es gibt sehr feste uralte Ablagerungen, aber auch fragilere Schichtungen neueren Datums. Sie reflektieren die Vergangenheit und sind gleichzeitig Teil eines Prozesses ständiger Bewegung: Schlamm, der abgetragen wird, Gesteine, die geformt und gehoben werden, manchmal gewaltvoll, auseinander fallend und fortgespült. Dies wird in den alltäglichen Praxen der Protagonist_innen deutlich und Sedimentierungsprozesse lassen kulturelle und geschichtliche Handlungen, Zu- und Einschreibungen besser verstehen. Bedeutungen können folglich sowohl fixiert als auch verworfen werden. Sedimente lagern sich nicht in oder durch eine einzelne Handlung ab, sie entstehen im Prozess der Wiederholung, werden sichtbar im Moment der Differenzierungen. Und vielleicht ist es genau jener Prozess der Wiederholung, der es verhindert, dass sich Sedimente ein für alle Mal verfestigen können. Bei Bourdieu ist es der Habitus, den er als sedimentierten Handlungseffekt begreift, der wiederum seine eigenen Handlungsgrundlagen modifiziert. Der Habitus, als das „Körper gewordene Soziale“2 , ist das körperliche Sediment von Erfahrungen innerhalb sozialer Felder, das Sediment von Prozessen der Vergesellschaftung. In Sozialer Sinn beschreibt Bourdieu die doxische Gewissheit des Habitus, das Wissen, das sich wie ein „Sediment in den Leibern“3 ablagert. Wir haben es hier folglich nicht nur mit situierten Wissen, sondern vielmehr auch mit sedimentierten Wissen zu tun. Auch Butler formuliert an mehreren Stellen, dass materielle Strukturen Sedimente ritualisierter Wiederholungen sind. In Anlehnung an Derridas Konzept der Iteration begreift sie Verkörperung als Sediment der wiederholenden Praxis: Es ist nicht einfach eine Sache der Auslegung von Performativität als einer Wiederholung von „Handlungen“, so als ob „Handlungen“ unangetastet und mit sich selbst identisch bleiben würden, wenn sie in der Zeit wiederholt werden, wobei „Zeit“ als den „Handlungen“ selbst äußerlich verstanden wird. Vielmehr ist eine Handlung selbst eine Wiederholung, ein Sedimentieren und Gerinnen der Vergangenheit [. . .].4
In dieser Wiederholung von Handlungen generiert sich soziale Ordnung, die Butler ebenso als „sedimentation of social practices“5 versteht.6
2 | Wacquant und Bourdieu 1996, S. 161. 3 | Bourdieu 1987, S. 101. 4 | Butler 1997, S. 37. 5 | Butler 2004a, S. 44. 6 | Der Begriff des Sediments schließt ebenso an Butlers Verständnis von Materie an, die sie weniger als Ort oder Oberfläche, sondern vielmehr als „ein Prozess der Materialisierung [be-
4. Sedimentierungsprozesse: Subkulturelle Praxen | 153
Wenn ich in der vorliegenden Arbeit von Sedimentierungsprozessen spreche, meine ich damit weniger die bereits vorhandenen, sichtbaren Ablagerungen, das Sediment als Nomen. Mir geht es vor allem um den Vorgang der Sedimentierung, sedimentieren als Verb und als Prozess: Wie konstituieren sich lebbare Existenzen, welche Schichten lagern sich in ihnen ab? Welche Schichten von Wissen entstehen, welche werden sichtbar? Wie konstituiert sich Praxis und wie konstituieren sich Subjekte? Diese Fragen versprechen nuancierte Einblicke in die Alltagspraxen im Visual Kei und helfen, die Logiken der subkulturellen Subjektkonstitution zu verstehen. Die Komplexität der vielfältigen Schichten von Bedeutung, die in den Praxen der Subkultur entstehen, können so greifbarer werden. Darüber hinaus wird das Prinzip der fortwährenden langsamen Bewegung und Unbeständigkeit, aber auch das Gewicht – das „mattering“ – und die Dichte sedimentierter kultureller Normen sichtbar. Aber, auch wenn ich so eine ganze Reihe von Ablagerungen und Schichten näher betrachten kann, ist es unmöglich, alle Sedimentierungsprozesse im Visual Kei in diesem Rahmen einzufangen. Der Generator für die Sedimentierungsprozesse im Visual Kei ist der Bezug auf Japan. Dieser ist zunächst diskursiv zu denken, zieht dann jedoch konkrete Handlungseffekte nach sich, um sich in Selbstrepräsentationen, in Geschlechterbildern, im Begehren und auch in den Körpern niederzuschlagen. Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden nicht nur analysieren, was im Kontext der Selbstrepräsentationen im Visual Kei getan wird, sondern vor allem, wie es getan wird, welches Wissen und welche körperliche Kompetenz zum Einsatz kommen: nicht nur, was die subkulturellen Inhalte sind, sondern auch, wie sie rezipiert und produziert werden, nicht nur welche Medienangebote genutzt werden, sondern auch, wie sie genutzt werden. Kurz: es geht um die Praxisformen. Damit verbunden ist die erkenntnistheoretische Frage, wie Akteur_innen die gesellschaftliche Praxis wahrnehmen, erfahren, erkennen. Die Praxen stehen darin nicht nur für sich, sie sind miteinander verwoben, sie durchdringen und bedingen sich gegenseitig. Sie sind Ausdruck spezifischer habitueller Dispositionen, die inkorporiert auch die Praxis der Protagonist_innen mitbestimmen und konstituieren. Um die Praxisformen im Visual Kei zugänglich zu machen, werde ich im ersten Teil des Kapitels die Kontexte betrachten, in denen diese stattfinden: die Räume subkultureller Praxis: Wo wird gehandelt? Dies können ganz verschiedene Räume sein: im Internet, beim Fotografieren, auf dem Körper, in den Grenzbereichen des Körpers, oder in der Phantasie. Dies zielt auch auf die spezifische, schon im Namen angelegte, Visualität der Subkultur: Was sind also die
greift], der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen.“ (Butler 1997, S. 32, Herv. i.O.).
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„Räume“ des Visual Kei? Wie werden diese gestaltet und welche Bezugnahmen auf Visualität und Ästhetik gibt es darin? Welche Sedimentierungsprozesse werden hier sichtbar? Im zweiten Teil des Kapitels werden Praxisformen exemplarisch danach befragt, wie die Protagonist_innen etwas tun: die Modi subkultureller Praxis. Dabei geht es vor allem um die Selbstrepräsentationen im Visual Kei, in denen die Sammlung sedimentierter kultureller Normen zum Ausdruck kommt. Wie kleiden sich die Protagonist_innen? Wie wirkt darin Geschlecht als Sediment? Wie konstituiert sich das subkulturelle Subjekt? Wie funktioniert die kulturelle Logik der Subjektivierungen?
R ÄUME SUBKULTURELLER P RAXIS : M EDIALE R EPRÄSENTATIONEN Die subkulturelle Praxis der Protagonist_innen im Visual Kei ist vor allem durch, in und über Medien vermittelt. Der Umgang mit Medien – hier verstanden als Sammelbegriff für audiovisuelle Mittel und Verfahren zur Verbreitung von Informationen, Bildern, Aussagen oder Nachrichten7 – bestimmt den Alltag der Protagonist_innen und ist wichtiger Bestandteil subkultureller Auseinandersetzung. So machen die Protagonist_innen z.B. zahlreiche Fotos, die sie dann auf Social-Media-Plattformen8 posten. Auf dem Weg zur Schule haben sie ihren Lieblings-J-Rock auf den Ohren, sie setzen Statusmeldungen, wie „Heute färbe ich mir die Haare endlich wieder blau!“9 von unterwegs auf Facebook, sie schreiben gemeinsam Geschichten im Internet oder füllen in Schule und Freizeit ganze Skizzenhefte mit ihren Zeichnungen. Folglich hat die Mediennutzung der Protagonist_innen meist auch einen subkulturellen Bezug. Radio, Fernsehen oder Zeitungen – also die klassischen Massenmedien – werden kaum zur Kenntnis genommen.10 Durch digitale Fotografie, internetfähige Handys usw. sind Medien ständig verfügbar und in dieser täglichen Auseinandersetzung, dem Umgang mit und Zugang zu einer technisierten Welt, generieren die Protagonist_innen ein spezifisches Wissen: multimediales Wissen. Sie wissen, wie man Fotos digital bearbei-
7 | Schubert und M. Klein 2011. 8 | Dencik 2012; Schrape 2011. 9 | Forschungstagebuch vom 22. September 2010. 10 | Thornton (1995, S. 122) unterteilt in ihrer Studie Medien in drei Ebenen: Die Mikro-Ebene mit den selbst produzierten Formen, die Nischen-Ebene mit themenzentrierten Inhalten und die Massen-Ebene, die für ein breites Publikum verfügbar ist. Im Hinblick auf die Mediennutzung im Visual Kei ist vor allem die Mikro-Ebene von Bedeutung.
4. Sedimentierungsprozesse: Subkulturelle Praxen | 155
tet, wie man das Internet unterwegs am besten nutzt, welche Plattformen gerade am angesagtesten sind oder wo man die deutschen Untertitel für japanische Filme herbekommt. Ein Schlagwort der letzten Jahre für diese Generation, die mit dem Internet groß geworden ist, lautet: digital natives. Als digital native wird meist die Generation der nach 1980 Geborenen bezeichnet, die in einer digitalisierten Welt aufgewachsen sind, und so mit neuen Techniken bestens vertraut seien und gar ihre Denkstrukturen und Strukturen der Informationsverarbeitung angepasst haben sollen.11 Der Jugend- und Mediensoziologe Waldemar Vogelgesang schreibt: „Jugendzeit ist Medienzeit und Jugendszenen sind vermehrt Medienszenen.“12 Und auch der Philosoph und Jugendforscher Douglas Kellner sprach schon 1997 von einer „Cybergeneration“: Die heutige Jugend ist die erste Cybergeneration, die erste Gruppe, die von Beginn an Kultur als Medien- und Computerkultur kennengelernt hat. Jugendliche spielen Computer- und Videospiele, ihnen steht ein Überangebot an Fernsehkanälen zur Verfügung, sie surfen durch das Internet, schaffen Gemeinschaften, soziale Beziehungen, Gegenstände und Identitäten in einem ganz und gar neuen und originären kulturellen Raum.13
Aber was ist mit den Personen, die vielleicht sehr jung sind, aber dennoch nie Computerspiele spielen oder in Social-Media-Netzwerken angemeldet sind? Warum diese altersbezogene Trennung? Warum ein gänzlich neuer kultureller Raum? Waren Kulturen nicht schon immer mediatisiert? Und welchen analytischen Zweck erfüllt diese Feststellung, wenn ich nicht gleichzeitig auch nach den Effekten – den Prozessen der Sedimentierung – dieser mediatisierten und technisierten Praxen frage? Ein weiterer Begriff, der gelegentlich in Zusammenhang mit Visual Kei gebracht wird, ist Otaku: Mitte der 1990er Jahre kam mit der Manga- und Animewelle auch die Debatte um japanische Otakus14 in Europa an. Vielfach werden Otakus dabei als obsessive Mediennutzer_innen charakterisiert und der Otakismus in einem problematischen Umfeld verortet, in dem die Auswüchse einer mediatisierten Gesellschaft hervortreten und eskalieren:
11 | Günther 2007; Palfrey und Gasser 2008; Prensky 2001. 12 | Vogelgesang 1997, S. 13. 13 | Kellner 1997, S. 311. 14 | Das japanische Wort Otaku bedeutet „zu Hause“ und wird unter anderem als sehr höfliche Form der Anrede benutzt. Es findet aber auch Anwendung, um Personen zu bezeichnen, die von etwas derartig fasziniert sind, dass sie den Großteil ihrer Zeit ihrer Leidenschaft widmen und kaum persönliche Bindungen eingehen.
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Otakus sitzen vor ihren Bildschirmen, sammeln Comics, Zeichentrickfilme, Plastikmonster oder Puppen von ihren Idolen. Aber vor allem: Sie kümmern sich nicht um die Außenwelt. Nicht zuletzt im Ignorieren der Außenwelt manifestiert sich auch eine Abgrenzung zum Fan.15
Hashimoto und Höhn assoziieren in ihren Texten Visual Kei mit Otaku, ohne jedoch genau zu begründen wie diese beiden Phänomene miteinander verbunden sein könnten. Bei Hashimoto steht Otaku für die obsessive preoccupation with Japanese popular culture. Otaku, as members of this fan culture are called, usually invest substantial amounts of personal resources into consuming and (re)creating Japanese popular culture.16
Da aber weder das Konzept „Otaku“ noch das Konzept „digital natives“ in meiner Forschung und in meinen Daten relevant wurden und auch die Protagonist_innen sich in ihrem Handeln darin nicht abbilden lassen, sind beide Begriffe irrelevant für meine Arbeit. Darüber hinaus bleibt in diesen Erläuterungen unklar, was der Begriff der „Jugend“, als auch der Begriff der „Medien“ genau umfasst. Auch der Begriff der „Mediennutzung“, den Höhn und von Gross in Bezug auf Visual Kei verwenden ist m.E. zu eng gefasst:17 Sicher nutzen die Protagonist_innen eine große Anzahl an digitalen Medien – die klassischen Massenmedien allerdings eher weniger – und in dieser Nutzung sind sie auch Konsument_innen, was der Begriff der Nutzung nahelegt. Doch hier ist Vorsicht geboten: die Protagonist_innen konsumieren nicht nur – sie bringen auch hervor. In der kreativen Auseinandersetzung mit, und Bemächtigung und Durchdringung von Medien entstehen, ganz im Sinne des DIY, Artefakte der Subkultur. Die große Anzahl von Fotografien (die keine Schnappschüsse sind), Zeichnungen, Geschichten bis hin zu eigenen Songs zeugen davon. So halte ich es für sinnvoller, vom Umgang mit Medien oder medial vermittelten Praxisformen zu sprechen, um so nicht nur die Nutzung, sondern auch das Moment der Aneignung und das kreative Potential zu fassen, das einer subkulturellen Praxis inhärent ist. Die einfache Zuordnung der Protagonist_innen als Mediennutzer_innen verkennt, dass diese in ihrem Handeln Kultur nicht nur reproduzieren, sondern auch hervorbringen.
15 | Manfé 2005, S. 17. 16 | Hashimoto 2007, S. 87. 17 | Höhn (2008, S. 198) schreibt: „Der Umgang Jugendlicher mit Medien aller Arten war und ist seit jeher nicht etwa nur von passiver Rezeption geprägt, sondern vor allem von aktiver Aneignung.“ Jugendliche eignen sich zwar „Medien aller Art“ an, wie das jedoch passiert, und wie in dieser Aneignung Neues hervorgebracht wird, darauf gehen sowohl Höhn als auch von Gross nicht ein.
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Dies bestätigt auch die Auffassung Appadurais, der in Modernity at Large darüber schreibt, wie elektronische Medien die Welt verändert haben: „electronic media decisively change the wider field of mass media and other traditional media. [. . .] Such media transform the field of mass mediation because they offer new resources and new disciplines for the construction of imagined selves and imagined worlds. [They] tend to interrogate, subvert, and transform other contextual literacies“18 . Er begreift elektronische Medien als Ressourcen des Experimentierens in der Konstitution des Selbst: „self-imagining as an everyday social project“19 . Um diesen Umgang mit Medien und die damit entfalteten Praxen näher zu analysieren, werden im Folgenden einige zentrale Aktivitäten der Protagonist_innen und Orte subkultureller Praxis vorgestellt. Dabei möchte ich zeigen, wie in der repetitiven, rituellen Praxis sedimentierte Handlungseffekte entstehen. Stilisierung und Vernetzung im Internet Wie oben erläutert, waren es technische Entwicklungen, die den Transfer von Visual Kei aus Japan in Richtung Deutschland beschleunigt und in dieser Form erst ermöglicht haben. Und so ist es auch naheliegend, dass das Internet im Allgemeinen eine große Rolle im Alltag der Protagonist_innen spielt. Dies hat sich in den letzten Jahren mit dem Aufkommen internetfähiger Handys nochmals verstärkt, da nun auch von unterwegs nahezu ständig auf das Internet zugegriffen werden kann. Dies wird vor allem genutzt, um kurze Nachrichten – Statusmeldungen – auf Facebook zu posten, die etwa so aussehen können: Takiyuki, November 1, 2011, via Nokia es hat geklappt O.....O kurzfristig mitte november nach tokyo. Wegen dem film bei dem ich mitgemacht habe über die freundschaft zwischen berlin und tokyo. Ich vertrete bei dem festival dort deuschland. Ich gebe mein bestes. Mein drittes mal. Ich danke so dafür...boah *wein*
Hier wird deutlich, dass die Protagonist_innen nicht nur Informationen, Nachrichten oder Musik im Internet erhalten, auch ein großer Teil subkultureller Kommunikation findet im Internet statt. Anders als z.B. Höhn dies konstatiert20 , nutzen die Protagonist_innen meiner Forschung das Internet vor allem zum Austausch zwischen Gleich-
18 | Appadurai 2010, S. 3. 19 | Ebd., S. 4. 20 | In Bezug auf Myspace schreibt er: „Deutsche Szenemitglieder haben hier die Gelegenheit, mit Jugendlichen in Japan, mit der japanischen Szeneelite und mit Bands in Kontakt zu kom-
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gesinnten in Deutschland, also in lokalen Kontexten.21 Der Austausch mit Menschen, die in Japan leben, spielt eine eher untergeordnete Rolle. Digitale soziale Netzwerke und Plattformen sind von großer Bedeutung für die interne subkulturelle Kommunikation und Repräsentation, einige der Protagonist_innen haben auch private Blogs. Sie beherrschen den Umgang mit verschiedensten Medienformen. In kurzen Videos bei Youtube zeigen sie sich meist mit Freund_innen in ihren Zimmern, wie sie herumalbern, die Videos haben oft komödiantischen Charakter. Aber es gibt auch ernsthaftere Videos zu Fragen des Stylings und Make-ups – sogenannte „Tutorials“ – und seit kurzem dokumentiert eine Person ihre Transition und damit einhergehende Testosterongaben22 in kurzen Videoclips.23 Auch im virtuellen Raum sind die Protagonist_innen recht mobil: Nachdem ich zu Beginn der Feldforschung immer wieder danach gefragt wurde, ob ich schon bei Animexx angemeldet sei, besorgte ich mir dort einen Zugang. Danach zog ich zusammen mit den Protagonist_innen weiter zu Myspace und von dort im Jahr 2010 zu Facebook24 , das sich mittlerweile zur wichtigsten Plattform entwickelt hat. Was sind jedoch diese Plattformen? Wodurch zeichnen sie sich aus? Und vor allem: Was machen die Protagonist_innen dort? Warum sind sie von Bedeutung? Animexx Die erste Phase der Feldforschung führte mich wie gesagt zu Animexx. Für den deutschsprachigen Raum ist Animexx das wichtigste Szeneportal und war (zumindest
men, um heiß begehrte Informationen darüber zu erhalten, was gerade in Japan ‚en vogue‘ ist. [. . .] Auch das Alltagsleben in Japan wie in Deutschland sind Themen, über die man sich austauscht, hier vor allem über die ‚üblichen‘ Probleme Jugendlicher mit Eltern, Schule, Freundeskreis und Liebesbeziehungen – allerdings doch eher in kurzer, oberflächlicher Art und Weise.“ (Höhn 2008, S. 202). 21 | Das Lokale ist dabei jedoch nicht auf einen spezifischen Ort beschränkt, Lokalitat ist im Sinne Appadurais „primarily relational and contextual rather than as scalar or spatial.“ (Appadurai 2010, S. 178). 22 | Diese Person strebt eine „Geschlechtsangleichung“ und Personenstandsänderung im Sinne des Transsexuellengesetz an, und dazu gehört es für Transmänner auch, das Hormon Testosteron zu nehmen. 23 | Forschungstagebuch vom 22. Mai 2012. 24 | In den Texten von Höhn und Großmann taucht Facebook noch nicht auf.
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bis zum Siegeszug von Facebook ab 2010) zugleich auch das bedeutendste Medium für Visual Kei in Deutschland.25 Angefangen als Portal vor allem für Manga– und Anime–Liebhaber_innen ist Animexx um 2010 mit über 120.000 registrierten Nutzer_innen zum Treffpunkt für Fans japanischer Popkultur geworden.26 Da es hauptsächlich in den Großstädten größere Gruppen von Protagonist_innen des Visual Kei gibt, fungiert Animexx als virtueller Treffpunkt, um sich auszutauschen und Kontakte zu pflegen. Daneben gibt es Informationen zu allen für die Protagonist_innen relevanten Veranstaltungen und auf den Profilseiten gibt es die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Nachdem man sich registriert und einen Benutzer_innen-Namen ausgesucht hat, kann man das eigene Profil bearbeiten, einen sogenannten „Steckbrief“ erstellen. Dieser Steckbrief ist nicht für alle einsehbar – man kann ihn so einrichten, dass er nur für ausgesuchte Personen sichtbar ist. Auf der ersten Seite des Steckbriefes stehen Informationen über die Person, wie Alter, Interessen, Lieblingszitate oder musikalische Vorlieben. Auf Unterseiten haben die Protagonist_innen Fotos, Geschichten oder Zeichnungen von sich hochgeladen – mittels einer Kommentarfunktion können Meinungen, Lob und Kritik zu den Bildern und Geschichten kundgetan werden. Eine Funktion bei Animexx ist das Schreiben von sogenannten RPGs (RolePlayingGame). Dies sind Rollenspiele, in denen die Beteiligten zusammen eine Geschichte entwickeln. Manchmal dienen als Vorlage Charaktere aus Animes oder Mangas, häufiger bekannte Musiker_innen oder erfundene Charaktere. Diese Geschichten werden meist zu zweit27 entwickelt – ähnlich einem Chat werden nach und nach Sätze aneinander gefügt. Persönliche Kommentare, die nichts mit der Geschichte zu tun haben, werden gekennzeichnet: Charakter 1: (gut XDDD ich lege zurück!!! ^^kriegste dann auf der ani *knuddel*)28 *ihn an sich drückt*
25 | So schreibt Friederike von Gross noch 2010: „Animexx ist für viele Anhänger von solcher Wichtigkeit, dass sie keine weiteren ausgewiesenen Szene-Seiten nutzen. Die Seite vereint als Web-Portal und Online-Community alles, was sich ein VK-Fan von einem guten Web-Angebot verspricht.“ (Gross 2010b, S. 156). 26 | Vgl. Animexx 2010. 27 | Es ist eher selten, dass viele Personen gemeinsam an einem RPG schreiben. 28 | Persönliche Kommentare, die nicht zur Geschichte gehören, werden in runde Klammern gesetzt. Zwischen den Sternchen stehen Handlungen – *ihn an sich drückt* – dies findet sich auch häufig in E-Mails, SMS etc. der Protagonist_innen wieder. Zum Beispiel im oben
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*sanft über seine lippen leckt* *ihn schmecken will* *leicht an seinen weichen lippen knabbert* Charakter 2: (*___* danke >w